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Plenarprotokoll 16/63

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

63. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Innovation forcieren – Sicherheit im


neten Dr. Max Lehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . 6097 A Wandel fördern – Deutsche Einheit
vollenden
Wahl der Abgeordneten Dr. Michael Meister (Drucksache 16/313) . . . . . . . . . . . . . . . . 6099 A
und Ludwig Stiegler in den Verwaltungsrat
der Kreditanstalt für Wiederaufbau . . . . . 6097 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
Wahl der Abgeordneten Angelika Krüger- entwicklung:
Leißner als ordentliches Mitglied und der
Abgeordneten Dorothee Bär als stellvertre- – zu der Unterrichtung durch die Bun-
tendes Mitglied der Vergabekommission der desregierung: Jahresbericht der Bun-
Filmförderanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6097 B desregierung zum Stand der deut-
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- schen Einheit 2005
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6097 C
– zu dem Entschließungsantrag der Ab-
Absetzung der Tagesordnungspunkte 14, 22, geordneten Arnold Vaatz, Ulrich
26 und 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6098 C Adam, Peter Albach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/
Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 6098 D CSU sowie der Abgeordneten Stephan
Hilsberg, Andrea Wicklein, Ernst Bahr
(Neuruppin), weiterer Abgeordneter
Tagesordnungspunkt 3: und der Fraktion der SPD zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregie-
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
rung: Jahresbericht der Bundesre-
Jahresbericht der Bundesregierung
gierung zum Stand der deutschen
zum Stand der deutschen Einheit 2006
Einheit 2005
(Drucksache 16/2870) . . . . . . . . . . . . . . . . 6098 D
b) Antrag der Abgeordneten Michael – zu dem Entschließungsantrag der Ab-
Kretschmer, Ilse Aigner, Katherina Reiche geordneten Joachim Günther (Plauen),
(Potsdam), weiterer Abgeordneter und der Cornelia Pieper, Jens Ackermann, wei-
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- terer Abgeordneter und der Fraktion
ordneten Swen Schulz (Spandau), Jörg der FDP zu der Unterrichtung durch
Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeord- die Bundesregierung: Jahresbericht
neter und der Fraktion der SPD: Mit In- der Bundesregierung zum Stand der
novationsförderung den Aufbau Ost deutschen Einheit 2005
weiter voranbringen
(Drucksache 16/3294) . . . . . . . . . . . . . . . . 6099 A – zu dem Entschließungsantrag der Ab-
geordneten Dr. Gesine Lötzsch,
c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch,
Nationales Reformprogramm Deutsch- Dr. Lothar Bisky und der Fraktion der
land LINKEN zu der Unterrichtung durch
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

die Bundesregierung: Jahresbericht c) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch,


der Bundesregierung zum Stand der Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer Ab-
deutschen Einheit 2005 geordneter und der Fraktion der FDP: Ein-
richtung eines Parlamentarischen Bei-
(Drucksachen 15/6000, 16/650, 16/693, rats für Bio- und Medizinethik
16/692, 16/1200) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6099 B (Drucksache 16/3289) . . . . . . . . . . . . . . . 6121 A
d) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert,
in Verbindung mit Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN: Einsetzung eines Ethik-
Zusatztagesordnungspunkt 2: Komitees des Deutschen Bundestages
Antrag der Abgeordneten Roland Claus, (Drucksache 16/3277) . . . . . . . . . . . . . . . 6121 A
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, wei- Dr. Annette Schavan, Bundesministerin
terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6121 B
KEN: Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-
Gesetz Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6123 A
(Drucksache 16/3284) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6099 C Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6124 A
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6125 C
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6099 D
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/
Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . . 6161 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6126 C
Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6102 D Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU) . . . . . . . . 6129 C
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6104 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6130 A
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6106 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6131 D
Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6107 C Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6132 B
Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6108 D Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6133 A
Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6110 A Ulla Burchardt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6134 A
Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6110 B Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6135 D
Katherina Reiche (Potsdam) Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6137 A
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6110 B
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 6138 A
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6111 D
Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6139 B
Rainer Fornahl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6112 C
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 39:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6113 D
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6115 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 6116 B zes zur Änderung des Anerkennungs-
und Vollstreckungsausführungsgesetzes
Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6117 C (Drucksache 16/2857) . . . . . . . . . . . . . . . . 6140 B
Stephan Hilsberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6119 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Budapester Übereinkom-
Tagesordnungspunkt 4: men vom 22. Juni 2001 über den
Vertrag über die Güterbeförderung in
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
der Binnenschifffahrt (CMNI)
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
(Drucksache 16/3225) . . . . . . . . . . . . . . . 6140 C
zes zur Einrichtung des Deutschen Ethik-
rats (Ethikratgesetz – EthRG) c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Drucksache 16/2856) . . . . . . . . . . . . . . . . 6120 D rung eingebrachten Entwurfs eines Drit-
ten Gesetzes zur Änderung des Weinge-
b) Antrag der Fraktion des BÜNDNIS-
setzes
SES 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung eines
(Drucksache 16/3226) . . . . . . . . . . . . . . . 6140 C
Ethik-Komitees des Deutschen Bundes-
tages d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Drucksache 16/3199) . . . . . . . . . . . . . . . . 6120 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 III

zes zu dem Haager Übereinkommen d) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper,


vom 13. Januar 2000 über den interna- Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
tionalen Schutz von Erwachsenen Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
(Drucksache 16/3250) . . . . . . . . . . . . . . . . 6140 C Wissenschaftssystem zukunftsfähig ge-
stalten – wissenschaftsadäquate Ar-
e) Erste Beratung des von der Bundesregie- beitsbedingungen schaffen
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 16/3286) . . . . . . . . . . . . . . . 6141 B
zes zur Umsetzung des Haager Überein-
kommens vom 13. Januar 2000 über
den internationalen Schutz von Er- Tagesordnungspunkt 40:
wachsenen
(Drucksache 16/3251) . . . . . . . . . . . . . . . . 6140 D a) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
f) Antrag der Abgeordneten Reinhard eines Gesetzes zur Neuordnung des
Grindel, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Tierzuchtrechts sowie zur Änderung
Peter Albach, weiterer Abgeordneter und des Tierseuchengesetzes und des Tier-
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- schutzgesetzes
geordneten Jörg Tauss, Monika Griefahn, (Drucksachen 16/2292, 16/3299) . . . . . . . 6141 C
Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Die Schaffung b) Zweite und dritte Beratung des von der
eines kohärenten europäischen Rechts- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
rahmens für audiovisuelle Dienste zu ei- eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
nem Schwerpunkt deutscher Medien- Versorgungsrücklagegesetzes
(Drucksachen 16/2855, 16/3319, 16/3323) 6141 D
und Kommunikationspolitik in Europa
machen c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
(Drucksache 16/3297) . . . . . . . . . . . . . . . . 6140 D des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 14. März 2006 zwischen
Zusatztagesordnungspunkt 3: der Bundesrepublik Deutschland und
der Französischen Republik über den
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Bau einer Eisenbahnbrücke über den
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LIN- Rhein bei Kehl
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksachen 16/2860, 16/3224) . . . . . . . 6142 B
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Vierten Gesetzes zur Änderung des Ge- d) – Zweite Beratung und Schlussabstim-
setzes zur Errichtung einer Stiftung mung des von der Bundesregierung
„Erinnerung, Verantwortung und Zu- eingebrachten Entwurfs eines Geset-
kunft“ (EVZ-StiftG) zes zu dem Vertrag vom
(Drucksache 16/3270) . . . . . . . . . . . . . . . . 2. März 2005 zwischen der Bundes-
6141 A
republik Deutschland und der Re-
b) Erste Beratung des von dem Abgeordne- publik Jemen über die Förderung
ten Jerzy Montag und der Fraktion des und den gegenseitigen Schutz von
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Kapitalanlagen
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Drucksachen 16/2861, 16/3304) . . . . 6142 C
Verlängerung von Befristungsregelun- – Zweite Beratung und Schlussabstim-
gen im Gesetz zur Entlastung der mung des von der Bundesregierung
Rechtspflege und im Einführungs- eingebrachten Entwurfs eines Geset-
gesetz zur Zivilprozessordnung zes zu dem Abkommen vom
(Justizmodernisierungsauskopplungsge- 16. Juni 2005 zwischen der Bundes-
setz) republik Deutschland und der Ara-
(Drucksache 16/3282) . . . . . . . . . . . . . . . . 6141 A bischen Republik Ägypten über die
Förderung und den gegenseitigen
c) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig,
Schutz von Kapitalanlagen
Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich
(Drucksachen 16/2862, 16/3304) . . . . 6142 C
(Hof), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- – Zweite Beratung und Schlussabstim-
ordneten Annette Faße, Reinhold Hemker, mung des von der Bundesregierung
Renate Gradistanac, weiterer Abgeordne- eingebrachten Entwurfs eines Geset-
ter und der Fraktion der SPD: Nationale zes zu dem Vertrag vom 19. und
Naturlandschaften – Chancen für Na- 20. April 2005 zwischen der Bundes-
turschutz, Tourismus, Umweltbildung republik Deutschland und der Isla-
und nachhaltige Regionalentwicklung mischen Republik Afghanistan über
(Drucksache 16/3298) . . . . . . . . . . . . . . . . 6141 A die Förderung und den gegenseiti-
IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

gen Schutz von Kapitalanlagen Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . 6148 D
(Drucksachen 16/2863, 16/3304). . . . . 6142 C
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
– Zweite Beratung und Schlussabstim- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6150 B
mung des von der Bundesregierung Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6151 B
eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Vertrag vom Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6152 A
10. August 2005 zwischen der Bun-
Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6153 D
desrepublik Deutschland und der
Demokratischen Republik Timor- Franz Romer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6155 A
Leste über die Förderung und den
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6156 B
gegenseitigen Schutz von Kapitalan-
lagen Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6157 B
(Drucksachen 16/2864, 16/3304) . . . . 6142 D
Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 6158 A
e) Zweite und dritte Beratung des von der
Andreas Steppuhn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6159 A
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Eich-
gesetzes
Tagesordnungspunkt 5:
(Drucksachen 16/2920, 16/3305) . . . . . . . 6143 A
Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi,
f) Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, weite-
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
eines Dritten Gesetzes zur Änderung KEN: Steuerflucht wirksam bekämpfen
von Verbrauchsteuergesetzen (Drucksache 16/2524) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6160 B
(Drucksachen 16/2951, 16/3285, 16/3306,
16/3317) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6143 B Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6160 C
g) Zweite und dritte Beratung des von der Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6161 C
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6163 D
eines Gesetzes zur Änderung des Trans-
parenzrichtlinie-Gesetzes Simone Violka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6165 A
(Drucksachen 16/2952, 16/3261) . . . . . . . 6143 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
h) – o) DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6167 A
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6167 C
schusses: Sammelübersichten 118, 119,
120, 121, 122, 123, 124 und 125 zu Peti-
tionen Tagesordnungspunkt 7:
(Drucksachen 16/3127, 16/3128, 16/3129,
16/3130, 16/3131, 16/3132, 16/3133, – Zweite und dritte Beratung des von der
16/3134) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6143 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Vorläufigen Tabakgesetzes
Tagesordnungspunkt 23: (Drucksachen 16/1940, 16/3201(neu)) . . . 6168 B
– Zweite und dritte Beratung des von den
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Abgeordneten Ulrike Höfken, Birgitt
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Bender, Dr. Harald Terpe, weiteren Abge-
Gesetzes über die Durchsetzung der Ver-
ordneten und der Fraktion des BÜNDNIS-
braucherschutzgesetze bei innergemein-
SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
schaftlichen Verstößen
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-
(Drucksachen 16/2930, 16/3307) . . . . . . . . . . 6144 C
derung des Vorläufigen Tabakgesetzes
(Drucksachen 16/1068, 16/3201(neu)) . . . 6168 B
Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6168 C
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
der LINKEN: Zur Frage der Praxistaug- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . 6169 D
lichkeit der Hartz-Gesetze und der Erfor- Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6170 D
derlichkeit einer Generalrevision
Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6171 C
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 6145 A
Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6173 A
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 6146 B
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/
Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6147 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6173 D
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 V

Tagesordnungspunkt 6: kämpfen – Deutschland muss Vor-


reiter bleiben
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 16/242, 16/59, 16/898) . . . 6183 C
Gesetzes zur Umsetzung der Regelungen
e) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-
über die Mitbestimmung der Arbeitneh-
nanzausschusses zu dem Antrag der Abge-
mer bei einer Verschmelzung von Kapital-
ordneten Dr. Reinhard Loske, Kerstin
gesellschaften aus verschiedenen Mitglied-
Andreae, Cornelia Behm, weiterer Abge-
staaten
ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
(Drucksachen 16/2922, 16/3320) . . . . . . . . . . 6175 A SES 90/DIE GRÜNEN: Kfz-Steuer kli-
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6175 B mafreundlich reformieren – CO2-
Ausstoß und Verbrauch als Bemes-
Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6177 A sungsgrundlage
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6178 A (Drucksachen 16/2073, 16/3197) . . . . . . . 6183 A

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 6179 D


in Verbindung mit
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 6180 A
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 5:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6181 A
Antrag der Abgeordneten Andreas Jung
Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6182 A (Konstanz), Marie-Luise Dött, Katherina
Reiche (Potsdam), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
Tagesordnungspunkt 8: ordneten Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Frak-
a) Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard
tion der SPD: Die Zeit nach dem Kyoto-Pro-
Loske, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
tokoll gestalten – entschieden dem Klima-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
wandel entgegentreten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
(Drucksache 16/3293) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6183 D
Für eine radikale und konsequente Kli-
mapolitik Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 16/3283) . . . . . . . . . . . . . . . . 6183 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6183 D
b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6185 B
Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6186 B
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN: Klares Signal für die Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . 6187 C
Kyoto-II-Verhandlungen auf der UN-
Klimakonferenz in Nairobi setzen Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 16/3026) . . . . . . . . . . . . . . . . 6183 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6189 C
Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . 6190 B
c) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch,
Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, wei- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 6191 B
terer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Klimapolitischen Zertifikatehan- Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6192 B
del in Deutschland nachhaltig und ver- Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 6193 B
antwortungsvoll gestalten – Nationalen
Allokationsplan grundlegend überar- Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6194 D
beiten
(Drucksache 16/3051) . . . . . . . . . . . . . . . . 6183 B
Tagesordnungspunkt 9:
d) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Reaktorsicherheit desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Erleichterung von Planungs-
– zu dem Antrag der Abgeordneten vorhaben für die Innenentwicklung der
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Städte
Horst Meierhofer, weiterer Abgeord- (Drucksachen 16/2496, 16/2932, 16/3308) . . 6196 B
neter und der Fraktion der FDP: Kli-
Achim Großmann, Parl. Staatssekretär
maschutz-Offensive 2006
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6196 C
– zu dem Antrag der Fraktion des
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6197 C
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Den Klimawandel wirksam be- Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6198 B
VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6200 A Tagesordnungspunkt 12:


Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6200 B Große Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Sevim Dagdelen, weiterer Abge-
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion der LINKEN: Ent-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6201 B wicklung der extremen Rechten und die
Maßnahmen der Bundesregierung
Petra Weis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6202 A
(Drucksache 16/1009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6215 C
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 6215 D
Tagesordnungspunkt 10: Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6216 D
schusses für Wirtschaft und Technologie Sevim Dagdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6217 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6218 A
Zeil, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6218 D
der FDP: ERP-Vermögen ungeschmä- Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6219 D
lert für Mittelstandsförderung erhalten
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6221 B
Josef Fell, Matthias Berninger, Anja
Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . 6222 B
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Kristina Köhler (Wiesbaden)
GRÜNEN: ERP-Sondervermögen in sei- (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6223 A
ner Vermögenssubstanz erhalten
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6224 A
(Drucksachen 16/382, 16/548, 16/1018) . 6203 B
Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär Tagesordnungspunkt 13:
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6203 C
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6205 B desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . . Jahressteuergesetzes 2007 (JStG 2007)
6206 B
(Drucksachen 16/2712, 16/3036, 16/3325,
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 6207 A 16/3368, 16/3326) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6224 C
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Gabriele Frechen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6224 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6207 D Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6226 C
Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6227 D
Tagesordnungspunkt 11: Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6229 B
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/
desregierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6230 A
Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnah-
men zur Einführung der Europäischen Ge- Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6230 D
sellschaft und zur Änderung weiterer steu-
errechtlicher Vorschriften (SEStEG)
(Drucksachen 16/2710, 16/2934, 16/3315, Zusatztagesordnungspunkt 6:
16/3369) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6208 D a) – Zweite und dritte Beratung des von
den Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim
Dr. Barbara Hendricks,
Dagdelen, Petra Pau und der Fraktion
Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . 6209 A der LINKEN eingebrachten Entwurfs
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6210 A eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Aufenthaltsgesetzes und
Peter Rzepka (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6211 A anderer Gesetze
(Drucksachen 16/369, 16/2563) . . . . . 6232 B
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6212 C
– Zweite und dritte Beratung des von
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ den Abgeordneten Josef Philip
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6213 B Winkler, Volker Beck (Köln),
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 6214 A Wolfgang Wieland, Claudia Roth
(Augsburg) und der Fraktion des
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . 6215 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 VII

gebrachten Entwurfs eines Zweiten öffentlich-rechtlicher Unternehmen ab-


Gesetzes zur Änderung des Aufent- schaffen
haltsgesetzes (Altfall-Regelung) (Drucksache 16/2657) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4246 D
(Drucksachen 16/218, 16/2563). . . . . . 6232 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des In-
nenausschusses zu dem Antrag der Abge- Tagesordnungspunkt 17:
ordneten Josef Philip Winkler, Volker a) Zweite und dritte Beratung des von der
Beck (Köln), Britta Haßelmann, weiterer
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Abgeordneter und der Fraktion des
eines Gesetzes über die Öffentlichkeits-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ket-
beteiligung in Umweltangelegenheiten
tenduldungen abschaffen
nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG
(Drucksachen 16/687, 16/2563) . . . . . . . . 6232 C
(Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz)
Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6232 D (Drucksachen 16/2494, 16/2933, 16/3311) 6247 A
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 6234 C b) Zweite und dritte Beratung des von der
Sevim Dagdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
6235 C
eines Gesetzes über ergänzende Vor-
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6235 C schriften zu Rechtsbehelfen in Um-
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . weltangelegenheiten nach der EG-
6238 A
Richtlinie 2003/35/EG (Umwelt-Rechts-
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ behelfsgesetz)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6238 D (Drucksachen 16/2495, 16/2931, 16/3312) 6247 A
c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrach-
Tagesordnungspunkt 15: ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
– Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Übereinkommen vom 25. Juni 1998
desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- über den Zugang zu Informationen, die
setzes zur Änderung kraftfahrzeugsteu- Öffentlichkeitsbeteiligung an Entschei-
erlicher Vorschriften auch hinsichtlich dungsverfahren und den Zugang zu Ge-
der Wohnmobilbesteuerung richten in Umweltangelegenheiten
(Drucksachen 16/519, 16/3314, 16/3316) 6240 A (Åarhus-Übereinkommen)
(Drucksachen 16/2497, 16/2865, 16/3313) 6247 B
– Zweite und dritte Beratung des von den
Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Horst
Friedrich (Bayreuth), Carl-Ludwig Thiele,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion Tagesordnungspunkt 18:
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Ulla
Gesetzes zur Änderung des Kraftfahr- Lötzer, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeord-
zeugsteuergesetzes neter und der Fraktion der LINKEN: Für soli-
(Drucksachen 16/473, 16/3314, 16/3316) 6240 C darische und entwicklungspolitisch kohä-
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6240 C rente Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
(Drucksache 16/3193) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6248 A
Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6241 C
Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6242 A
Tagesordnungspunkt 19:
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6242 D
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 6243 C desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Statistik der Verdienste
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6245 A
und Arbeitskosten (Verdienststatistikge-
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ setz – VerdStatG)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6245 D (Drucksachen 16/2918, 16/3241(neu)) . . . . . 6248 C

Tagesordnungspunkt 16: Tagesordnungspunkt 20:


Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, a) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weite- Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), wei-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: terer Abgeordneter und der Fraktion des
Fairen Wettbewerb in der Entsorgungs- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hoch-
wirtschaft ermöglichen – Steuerprivilegien schulpakt 2020 zum Erfolg bringen –
VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Studienplätze bedarfsgerecht und zügig Tagesordnungspunkt 24:


ausbauen
Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
(Drucksache 16/3281) . . . . . . . . . . . . . . . . 6248 D ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten
b) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Sevim Dagdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, wei-
Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
rer Abgeordneter und der Fraktion der KEN: Bundesweiter Abschiebestopp für
Flüchtlinge aus Togo
FDP: Die Qualität der Hochschullehre
(Drucksachen 16/2627, 16/3061) . . . . . . . . . . 6250 B
sichern – den Hochschulpakt 2020 er-
folgreich abschließen und weiterent-
wickeln
(Drucksache 16/3290) . . . . . . . . . . . . . . . . 6249 A Tagesordnungspunkt 27:
c) Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Erste Beratung des von der Bundesregierung
Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saarbrü- eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-
cken) und der Fraktion der LINKEN: zes zur Änderung des Arbeitnehmer-Ent-
Hochschulpakt 2020 – Kapazitätsaus- sendegesetzes
bau und soziale Öffnung (Drucksache 16/3064) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6250 C
(Drucksache 16/3278) . . . . . . . . . . . . . . . . 6249 A

Zusatztagesordnungspunkt 7:
Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Ab-
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines SES 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltige Res-
Gesetzes zur Reform des Personenstands- sourcennutzung durch Agroforstwirtschaft
rechts (Personenstandsrechtsreformge- (Drucksache 16/2794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6250 D
setz – PStRG)
(Drucksachen 16/1831, 16/3309) . . . . . . . . . . 6249 B
Tagesordnungspunkt 28:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
Tagesordnungspunkt 25: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Qualität und Sicherheit von menschlichen
a) Antrag der Abgeordneten Ingbert Liebing,
Geweben und Zellen (Gewebegesetz)
Marie-Luise Dött, Katherina Reiche (Pots- (Drucksache 16/3146) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6251 A
dam), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Petra Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6251 C
Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD: REACH – den ge-
meinsamen Standpunkt weiter verfol- Anlage 1
gen
(Drucksache 16/3295) . . . . . . . . . . . . . . . . 6249 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6253 A

b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-


Uhl, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weite-
Anlage 2
rer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
REACH – letzte Chance zur Verbesse- Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU)
rung des Umwelt- und Verbraucher- zu der Abstimmung über den Entschließungs-
schutzes im europäischen Chemikalien- antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
recht nutzen SPD zu der Unterrichtung durch die Bundes-
(Drucksache 16/1888) . . . . . . . . . . . . . . . . 6249 D regierung: Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit 2005 (Ta-
c) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- gesordnungspunkt 3 d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6253 D
Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN: REACH – Chance für eine
Anlage 3
fortschrittliche Chemikalienpolitik nut-
zen Erklärung nach § 31 GO über den Entwurf
(Drucksache 16/3279) . . . . . . . . . . . . . . . . 6249 D eines Gesetzes zur Änderung kraftfahr-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 IX

zeugsteuerlicher Vorschriften auch hinsicht- Anlage 7


lich der Wohnmobilbesteuerung (Tagesord-
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
nungspunkt 15)
des Antrags: Fairen Wettbewerb in der Ent-
Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6254 A sorgungswirtschaft ermöglichen – Steuerpri-
vilegien öffentlich-rechtlicher Unternehmen
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6254 B abschaffen (Tagesordnungspunkt 16)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 6255 D
Anlage 4 Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6257 A
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6258 B
Annette Faße, Renate Gradistanac, Reinhold
Hemker, Gabriele Hiller-Ohm, Brunhilde Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6259 B
Irber und Engelbert Wistuba (alle SPD) zur Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/
Abstimmung über den Entwurf eines Geset- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6259 D
zes zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher
Vorschriften auch hinsichtlich der Wohnmo-
bilbesteuerung (Tagesordnungspunkt 15) . . . 6254 C
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Anlage 5
– Entwurf eines Gesetzes über die Öffent-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten lichkeitsbeteiligung in Umweltangelegen-
Klaus Brähmig, Helmut Brandt, Dr. Hans- heiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG
Peter Friedrich (Hof), Uda Carmen Freia (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz)
Heller, Ingbert Liebing, Marlene Mortler,
Bernward Müller (Gera), Anita Schäfer (Saal- – Entwurf eines Gesetzes über ergänzende
stadt), Wilhelm Josef Sebastian und Kurt Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Um-
Segner (alle CDU/CSU) zur Abstimmung weltangelegenheiten nach der EG-Richtli-
über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- nie 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfs-
rung kraftfahrzeugsteuerlicher Vorschriften gesetz)
auch hinsichtlich der Wohnmobilbesteuerung – Entwurf eines Gesetzes zu dem Überein-
(Tagesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . 6254 D kommen vom 25. Juni 1998 über den
Zugang zu Informationen, die Öffent-
lichkeitsbeteiligung an Entscheidungsver-
Anlage 6 fahren und den Zugang zu Gerichten in
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Umweltangelegenheiten (Åarhus-Über-
Dr. Matthias Miersch, Christoph Pries, Gerd einkommen)
Bollmann, Petra Bierwirth, Marco Bülow, (Tagesordnungspunkt 17 a bis c)
Marko Mühlstein, Martin Burkert, Dirk
Becker, Detlef Müller (Chemnitz), Frank Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 6260 D
Schwabe und Heinz Schmitt (Landau) (alle
SPD) zu den Abstimmungen über Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6261 D

– den Entwurf eines Gesetzes über die Öf- Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6262 C
fentlichkeitsbeteiligung in Umweltangele-
genheiten nach der EG-Richtlinie 2003/ Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6263 B
35/EG (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
– den Entwurf eines Gesetzes über ergän- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6264 B
zende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in
Umweltangelegenheiten nach der EG-
Richtlinie 2003/35/EG (Umwelt-Rechts- Anlage 9
behelfsgesetz)
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
– den Entwurf eines Gesetzes zu dem Über- des Antrags: Für solidarische und entwick-
einkommen vom 25. Juni 1998 über den lungspolitisch kohärente Wirtschaftspartner-
Zugang zu Informationen, die Öffentlich- schaftsabkommen (Tagesordnungspunkt 18)
keitsbeteiligung an Entscheidungsverfah-
ren und den Zugang zu Gerichten in Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6265 A
Umweltangelegenheiten (Åarhus-Über-
einkommen) Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6266 B
(Tagesordnungspunkt 17 a bis c) . . . . . . . . . . 6255 B Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6267 B
X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6269 A Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6286 C
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6270 A
Anlage 13
Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Anträge:
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik – REACH – den gemeinsamen Standpunkt
der Verdienste und Arbeitskosten (Verdienst- weiter verfolgen
statistikgesetz – VerdStatG) (Tagesordnungs- – REACH – letzte Chance zur Verbesserung
punkt 19) des Umwelt- und Verbraucherschutzes im
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6271 A europäischen Chemikalienrecht nutzen

Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6272 A – REACH – Chance für eine fortschrittliche


Chemikalienpolitik nutzen
Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6273 A
(Tagesordnungspunkt 25 a bis c)
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 6273 D
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6287 B
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
Heinz Schmitt (Landau) (SPD) . . . . . . . . . . . 6289 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6274 C
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6290 A
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 6290 D
Anlage 11
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6291 B
der Anträge:
– Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen –
Studienplätze bedarfsgerecht und zügig Anlage 14
ausbauen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
– Die Qualität der Hochschullehre sichern – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
den Hochschulpakt 2020 erfolgreich ab- dem Antrag: Bundesweiter Abschiebestopp
schließen und weiterentwickeln für Flüchtlinge aus Togo (Tagesordnungs-
punkt 24)
– Hochschulpakt 2020 – Kapazitätsausbau
und soziale Öffnung Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6292 B

(Tagesordnungspunkt 20 a bis c) Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6293 A

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6275 A Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 6293 C

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Sevim Dagdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6294 A
6276 D
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6279 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6295 A
Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6280 D
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Anlage 15
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6281 D
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände-
Anlage 12 rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 27)
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6295 D
Personenstandsrechts (Personenstandsrechtsre- Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6297 C
formgesetz – PStRG) (Tagesordnungspunkt 21)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6298 B
Stephan Mayer (Altötting)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6282 C Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6299 C

Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6283 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6300 A
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6284 D
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 6286 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6300 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 XI

Anlage 16 Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Nachhaltige Ressourcennutzung des Entwurfs eines Gesetzes über Qualität
durch Agroforstwirtschaft (Zusatztagesord- und Sicherheit von menschlichen Geweben
nungspunkt 7) und Zellen (Gewebegesetz) (Tagesordnungs-
punkt 28)
Uda Carmen Freia Heller
Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6306 B
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6301 B
Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6307 B
Dr. Gerhard Botz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6303 A
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6308 C
Dr. Christel Happach-Kasan
Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6309 A
(FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6303 C
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 6304 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6310 A
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6305 A BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6310 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6097

(A) (C)

Redetext

63. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich, Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns, wie immer, führten Punkte zu erweitern:
gute und konstruktive Beratungen. ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD:
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kol- Neue Entwicklung am Arbeitsmarkt: Deutlicher Rück-
gang der Erwerbslosenzahl, mehr Beschäftigung und Ent-
legen Dr. Max Lehmer herzlich zu seinem 60. Ge- lastung der öffentlichen Haushalte
burtstag gratulieren, den er vor wenigen Tagen begangen (siehe 62. Sitzung)
hat. ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeord-
(Beifall) neter und der Fraktion der LINKEN
Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich herzlich und
(B) wünsche Ihnen alles Gute. – Drucksache 16/3284 – (D)
Überweisungsvorschlag:
Es stehen einige Wahlen zu Gremien an, die wir eben- Innenausschuss (f)
Haushaltsausschuss
falls vor Eintritt in die Tagesordnung erledigen sollten.
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 39)
Am 31. Dezember enden turnusgemäß die Amtszei-
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der
ten der Kollegen Ronald Pofalla und Ludwig Stiegler im SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Die DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Ge-
Fraktion der CDU/CSU schlägt als neues Mitglied den setzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer
Kollegen Dr. Michael Meister vor. Für die SPD-Fraktion Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
(EVZ-StiftG)
soll der Kollege Stiegler für eine weitere Amtszeit
– Drucksache 16/3270 –
bestellt werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
Überweisungsvorschlag:
höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegen Innenausschuss (f)
Dr. Michael Meister und Ludwig Stiegler in den Ver- Auswärtiger Ausschuss
waltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau ge- Rechtsausschuss
wählt. Finanzausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig,
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die ehemalige Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordnete Gisela Hilbrecht als ordentliches Mitglied Abgeordneten Annette Faße, Reinhold Hemker, Renate
aus der Vergabekommission der Filmförderungsanstalt Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
ausscheidet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Ange- SPD
lika Krüger-Leißner vorgeschlagen. Darüber hi-naus ist Nationale Naturlandschaften – Chancen für Natur-
seitens der Fraktion der CDU/CSU vorgesehen, dass die schutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige
Regionalentwicklung
Kollegin Dorothee Bär dem Kollegen Wolfgang Börnsen
– Drucksache 16/3298 –
als stellvertretendes Mitglied im gleichen Gremium
Überweisungsvorschlag:
nachfolgt. Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einver- Ausschuss für Tourismus (f)
standen? – Das ist offenkundig der Fall; es fängt gut an Sportausschuss
heute Morgen. Dann sind die Kolleginnen Angelika Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Krüger-Leißner und Dorothee Bär als ordentliches Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
und stellvertretendes Mitglied in die Vergabekommis- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
sion der Filmförderungsanstalt gewählt. Ausschuss für Kultur und Medien
6098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Technikfolgenabschätzung (C)
Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und Haushaltsausschuss
der Fraktion der FDP ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks,
Wissenschaftssystem zukunftsfähig gestalten – wissen- Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord-
schaftsadäquate Arbeitsbedingungen schaffen neter und der Fraktion der FDP
– Drucksache 16/3286 – Mehr Freiheit wagen
Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/3288 –
Ausschuss für Bildung, Forschung und ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner,
Technikfolgenabschätzung (f) Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter
Innenausschuss
und der Fraktion der FDP
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Neues strategisches Konzept für die NATO
Zur Frage der Praxistauglichkeit der Hartz-Gesetze und
der Erforderlichkeit einer Generalrevision – Drucksache 16/3287 –
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Jung (Kon- Überweisungsvorschlag:
stanz), Marie-Luise Dött, Katherina Reiche (Potsdam), weite- Auswärtiger Ausschuss (f)
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Verteidigungsausschuss
Abgeordneten Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Entgegen der ursprünglichen Ankündigung findet je-
doch die für Freitag vorgesehene Aktuelle Stunde auf
Die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll gestalten – entschie-
den dem Klimawandel entgegentreten Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
nicht statt.
– Drucksache 16/3293 –
ZP 6 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Die Tagesordnungspunkte 14, 26 und 32 werden ab-
Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Petra Pau und der Fraktion gesetzt.
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und an- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Schade! Da-
derer Gesetze rauf hatte ich mich so gefreut!)
– Drucksache 16/369 –
– Wir werden nach einer Kompensationslösung suchen,
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Wolfgang
Herr Kollege Westerwelle.
Wieland, Claudia Roth (Augsburg) und der Fraktion des Gewiss hatten Sie auch zum Tagesordnungspunkt 23,
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Auf- der nun ohne Aussprache abgehandelt werden soll,
enthaltsgesetzes (Altfall-Regelung) längst eine Rede vorbereitet. Er soll nun zusammen mit
– Drucksache 16/218 – den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufen werden. Es wäre
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
aber schön, wenn Sie trotzdem da wären.
(B) (D)
(4. Ausschuss) Die Tagesordnungspunkte 6 und 7, 24 und 25, 33 und
– Drucksache 16/2563 – 34 sowie 35 und 36 werden jeweils getauscht.
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
Rüdiger Veit weit erforderlich, abgewichen werden.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Dr. Max Stadler Darf ich auch für diese vereinbarten Veränderungen
Ulla Jelpke mit Ihrem Einverständnis rechnen? – Das ist offensicht-
Josef Philip Winkler lich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- Nun treten wir in die Tagesordnung ein.
geordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln),
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich rufe die Punkte 3 a bis 3 d sowie den Zusatzpunkt 2
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf:
Kettenduldungen abschaffen
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
– Drucksachen 16/687, 16/2563 – gierung
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
Rüdiger Veit der deutschen Einheit 2006
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Dr. Max Stadler – Drucksache 16/2870 –
Ulla Jelpke
Überweisungsvorschlag:
Josef Philip Winkler
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Ul- Sportausschuss
rike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Rechtsausschuss
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Finanzausschuss
Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agroforstwirt- Ausschuss für Arbeit und Soziales
schaft Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 16/2794 – Ausschuss für Gesundheit
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Bildung, Forschung und
Verbraucherschutz (f) Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Kultur und Medien
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6099
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Jahresbericht der Bundesregierung zum (C)
Kretschmer, Ilse Aigner, Katherina Reiche (Pots- Stand der deutschen Einheit 2005
dam), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Swen – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
Schulz (Spandau), Jörg Tauss, Nicolette Kressl, ten Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Lothar Bisky und der
Fraktion der LINKEN zu der Unterrichtung
Mit Innovationsförderung den Aufbau Ost durch die Bundesregierung
weiter voranbringen Jahresbericht der Bundesregierung zum
– Drucksache 16/3294 – Stand der deutschen Einheit 2005
Überweisungsvorschlag: – Drucksachen 15/6000, 16/650, 16/693, 16/692,
Ausschuss für Bildung, Forschung und 16/1200 –
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Abgeordnete Volkmar Uwe Vogel
Haushaltsausschuss Petra Weis
Dr. Ilja Seifert
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
Peter Hettlich
gierung
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Nationales Reformprogramm Deutschland Claus, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
Innovation forcieren – Sicherheit im Wandel weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
fördern – Deutsche Einheit vollenden KEN
– Drucksache 16/313 – Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
– Drucksache 16/3284 –
Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss Innenausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zum Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
Ausschuss für Bildung, Forschung und der deutschen Einheit 2006 liegt ein Entschließungsan-
(B) Technikfolgenabschätzung trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD vor. (D)
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Ausschuss für Kultur und Medien die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
Haushaltsausschuss nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und nächst dem Bundesminister Wolfgang Tiefensee für die
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) Bundesregierung.
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
rung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Stand der deutschen Einheit 2005 Bau und Stadtentwicklung:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- ren! Der 9. November ist ein geschichtsträchtiger Tag:
ten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Peter Albach, 1918, 1938, 1989. Ich habe in der Zeit, in der ich Ober-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der bürgermeister der Stadt Leipzig sein durfte, jedes Jahr an
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Stephan der Gedenkstätte in der Gottschedstraße der brennenden
Hilsberg, Andrea Wicklein, Ernst Bahr (Neu- Synagogen in der so genannten Reichspogromnacht am
ruppin), weiterer Abgeordneter und der Frak- 9. November 1938 gedacht.
tion der SPD zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung In der deutschen Geschichte bekommt aber der
9. November durch das Jahr 1989 noch eine andere Ak-
Jahresbericht der Bundesregierung zum zentsetzung: Die Mauer ist gefallen. Endlich, nach
Stand der deutschen Einheit 2005 40 Jahren Diktatur, waren die Grenzen wieder frei und
die Menschen in den, wie wir heute sagen, neuen Bun-
– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- desländern verfügten über alle demokratischen Rechte,
ten Joachim Günther (Plauen), Cornelia Pieper, die ihnen zuvor versagt waren. Ich werde diesen Tag nie
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und vergessen. Ihm ging übrigens der 9. Oktober 1989 mit
der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung den entscheidenden Demonstrationen in Dresden, Leip-
durch die Bundesregierung zig, Zwickau und anderswo voraus.
6100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Bundesminister Wolfgang Tiefensee


(A) Jetzt sind wir im Jahr 2006. Mit dem Bericht zur deut- wir das Industrial Investment Council, die Einrichtung (C)
schen Einheit ziehen wir wiederum, wie jedes Jahr, ein für die neuen Bundesländer, mit Invest in Germany ver-
Resümee. Wir stellen fest, es ist eine Menge erreicht, binden. Mit meinem Kollegen Glos haben wir die Wei-
aber es ist auch noch ein großes Stück Arbeit zu leisten. chen gestellt. Wir werden im nächsten Jahr, 2007, mit
Deshalb scheint mir am Anfang die Feststellung wichtig, noch mehr Geld als zuvor – statt 11 Millionen Euro sind
dass es ein Sowohl-als-auch gibt: Einerseits ist in unzäh- es 16 Millionen Euro pro anno – einen deutlichen Schub
ligen Politikfeldern, in den Städten und Gemeinden vie- bei der Akquise von Unternehmen für die neuen Bundes-
les gelungen; andererseits gibt es eine Reihe von schwe- länder und für Deutschland insgesamt schaffen. Das ist
ren Sorgen, Ängsten und Herausforderungen. ein Auftritt, den wir dringend brauchen.
Wenn man diesen Bericht liest, wird man feststellen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
dass schon in der Präambel auf diese Ambivalenz einge- Wir wollen alle Wachstumskerne, die kleinen, mitt-
gangen wird. Diejenigen, die meinen, es sei alles gut, ge- leren und großen, und gleichzeitig den ländlichen
hen fehl, und diejenigen, die meinen, die deutsche Ein- Raum um diese Zentren herum entwickeln. Vor dieser
heit sei in keiner Weise vollendet, malen ein schwarzes Herausforderung stehen wir. Wir haben deshalb die
Bild an die Wand, das ebenfalls nicht der Realität ent- Investitionszulage zeitlich verlängert. Dies ermöglicht
spricht und darüber hinaus demotiviert. es allen neuen Bundesländern, in der Breite Vorausset-
Wir haben in diesem Bericht in aller Offenheit sowohl zungen dafür zu schaffen, dass sich Mittelstand ansie-
das Gute, das Gelungene angesprochen als auch darüber delt. Es gibt ferner die GA-Förderung, die ganz speziell
berichtet, was noch zu tun ist. Vor Deutschland, und in den Wachstumszentren und in den Wachstumsbran-
zwar über alle Himmelsrichtungen hinweg, steht die chen Impulse setzen wird.
große Herausforderung, den wirtschaftlichen Auf- Ich bin stolz darauf, dass wir mit einer Fülle von Pro-
schwung in den neuen Bundesländern so zu stabilisie- grammen, die nicht zuletzt im Wirtschaftsministerium,
ren, dass er selbsttragend ist und spätestens im Jahr 2019 aber auch im Haus der Kollegin Schavan angesiedelt
ohne Sonderzuwendungen in den großen, kleinen und sind, Instrumente für die neuen Bundesländer entwickelt
mittleren Städten und Gemeinden und im ländlichen haben. In einer Innovationskonferenz, die die Kollegin
Raum eine Stabilität erzeugt, die uns in die Lage ver- gestern abgehalten hat, ist ein Memorandum verabschie-
setzt, dann im normalen Länderfinanzausgleich zu wirt- det worden, mit dem deutliche Akzente gesetzt werden,
schaften. wie wir im Osten vorgehen wollen. Ich freue mich über
Die Herausforderung ist, den Arbeitsmarkt so zu ge- dieses gemeinsame Bemühen, die neuen Bundesländer
stalten, dass die Disparität zwischen der Arbeitslosen- voranzubringen.
(B) quote West und der Arbeitslosenquote Ost beseitigt wird (D)
Wir müssen auch über den Arbeitsmarkt reden. Dort
und dass die Menschen, die mit ihren Händen und mit gibt es positive Entwicklungen. Im Oktober dieses Jah-
ihrem Kopf das Geld selbst verdienen wollen, diese res betrug die Arbeitslosenquote ungefähr 15,7 Prozent.
Möglichkeit erhalten und nicht auf Alimente angewiesen Das ist im Vergleich zu der Quote im Vorjahresmonat in
sind. Höhe von 16,9 Prozent eine deutliche Verbesserung. Wir
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hoffen und wir arbeiten daran, dass sich diese Entwick-
lung verstetigt. Denn das Hauptproblem in den neuen
Wir haben ganz positive Entwicklungen zu verzeich- Bundesländern ist eine sich zunehmend verfestigende
nen. Nehmen Sie die industrielle Entwicklung: im ers- Langzeitarbeitslosigkeit. Immer mehr Menschen sind
ten Halbjahr 2006 9,8 Prozent Zuwachs in den neuen über ein, über zwei, manche sogar drei Jahre weg vom
Bundesländern; in den alten Bundesländern sind es ersten Arbeitsmarkt und finden keinen Zugang in das
4,4 Prozent. Nehmen Sie die Anzahl der sozialversiche- normale Arbeitsleben.
rungspflichtigen Arbeitsplätze, die gegenwärtig im Os-
ten leicht stärker zunimmt als im Westen. Nehmen Sie Wer die Situation in den neuen Bundesländern kennt
die Exportquote, die in den neuen Bundesländern stär- und sich damit beschäftigt, weiß, es geht nicht nur um
ker ansteigt, insbesondere – im Jahr 2005 18 Prozent die Vermittlung von Arbeit, sondern es geht auch um den
Steigerung – beim Export in die neuen Mitgliedstaaten Sinn des Lebens und um die Würde der betroffenen
der EU. Wir partizipieren davon. Das sind positive Ent- Menschen. Neben der Weiterentwicklung der Wirtschaft
wicklungen, die man auch an Industrieansiedlungen wie muss es daher unsere Hauptanstrengung sein, dass wir
First Solar in Frankfurt/Oder und AMD, dem neuen Menschen in der Phase, in der sie keinen Platz am ersten
Chipwerk in Dresden, festmachen kann. Arbeitsmarkt finden, eine würdevolle Beschäftigung
ermöglichen, damit sie ein sinnvolles Leben führen kön-
Wir haben in dem Bericht sieben zentrale Felder be- nen.
schrieben, auf denen wir ganz besonders tätig werden
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
wollen. Das erste dreht sich um die Investorenwer-
bung. Wir brauchen kleinere, mittlere, auch große Un- Ein weiterer wichtiger Punkt ist der demografische
ternehmen aus Westeuropa, aus den USA, aus Japan, die Wandel, von dem die neuen Bundesländer besonders
sich von den Vorzügen Ostdeutschlands überzeugen und betroffen sind. Auch hier gibt es ganz unterschiedliche
Unternehmen ansiedeln. Das ist bereits geschehen und Entwicklungen. Es gibt ländliche Regionen und kleinere
muss verbessert werden. Wir brauchen ein einheitliches Städte, die an Bevölkerung verlieren. Insbesondere die
Bild, das wir nach außen kommunizieren. Dazu wollen Jungen und Kreativen gehen; die Alterspyramide ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6101
Bundesminister Wolfgang Tiefensee
(A) kehrt sich dort. Auf der anderen Seite gibt es Städte, in Osten Deutschlands davon aus: Wir haben eine große (C)
denen der Saldo nicht nur ausgeglichen ist, sondern die Koalition. Diese große Koalition kann große Entschei-
eine positive Bevölkerungsentwicklung aufweisen. dungen bringen. Sie hat die Macht dazu. – Diese Men-
Auch hier gilt: sowohl als auch. schen warten heute noch auf den Ruck, der durch unser
Land gehen könnte.
Wir nutzen Instrumente wie den Stadtumbau Ost
– die Mittel für dieses Programm stocken wir deutlich Wo sind Sie in vielen Bereichen mit Ihren Entschei-
auf –, damit die Städte und Gemeinden reagieren kön- dungen geblieben? Sie haben sich in der Koalition mit
nen. Wir nutzen das Programm „Soziale Stadt“, um ei- sich selbst beschäftigt. Unsere Bevölkerung erwartet
nen besonderen Fokus auf die örtliche Wirtschaft zu le- Entscheidungen vor Ort, damit sie merkt: Dieses Land
gen. Wir wollen etwas dafür tun, dass Jugendzentren wird regiert und wird nicht bloß verwaltet.
entstehen und dass ein generationenübergreifendes Woh-
(Beifall bei der FDP)
nen möglich ist. Das alles sind Vorhaben, die besonders
in den neuen Bundesländern wichtig sind. Denn hier zei- Auch das muss man noch einmal sagen: Ihr größter Re-
gen sich wie in einem Brennglas Entwicklungen, die flex war zuerst der Griff in die Taschen der Bürger, in-
später in ganz Deutschland Wirkung zeigen könnten. dem Sie die höchste Steuererhöhung in der Geschichte
Wir müssen die mit diesen Entwicklungen verbundenen der Bundesrepublik auf den Weg gebracht haben. Das
Probleme insbesondere in den neuen Bundesländern in trifft alle in Deutschland und das werden im nächsten
den Griff bekommen. Jahr alle sehr deutlich spüren.
Ich möchte den Bogen schlagen zum 9. November (Beifall bei der FDP)
1938. Mit großer Beunruhigung und mit Empörung se-
hen wir die Entwicklung in Bezug auf einen neuen Unter diesen Gesichtspunkten müssen wir Arbeitslo-
Rechtsradikalismus. Es kann nicht hingenommen wer- sigkeit, Steuererhöhungen, Abwanderungen und Investi-
den, dass besonders in einigen Regionen in den neuen tionen in diesem Bericht betrachten. Die Arbeitslosen-
Bundesländern zu bestimmten Tageszeiten Menschen quote in Deutschland ist zwar im Moment mit
mit anderer Hautfarbe sich nicht sicher fühlen und sich 9,8 Prozent zum Glück etwas niedriger, aber sie ist im
nicht auf die Straße trauen. Osten mit 15,7 Prozent gegenüber 8,2 Prozent in den an-
deren Ländern fast doppelt so hoch. Allein diese Zahl
(Beifall im ganzen Hause) macht deutlich, dass die Arbeitsmarktprobleme in den
neuen Ländern von besonderer Bedeutung sind. Dem
Aus diesem Grunde gilt es, insbesondere angesichts
Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze sind alle An-
des Spannungsfeldes 9. November 1938/9. November
strengungen unterzuordnen.
1989 mit allen Anstrengungen, auch mit finanzieller Un-
(B) (D)
terstützung, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Ich (Beifall bei der FDP)
wünsche mir, dass wir – dies ist im Bericht der siebte
Punkt – besonderen Wert auf die Förderung des zivilen Die Kürzung von ALG II, über die Sie diskutieren, ist
Engagements, also des Engagements der Bürgerinnen in dieser Situation zweitrangig. Wir als FDP werden Sie
und Bürger, auch in den neuen Bundesländern legen. bei allen Maßnahmen unterstützen, die der Schaffung
neuer Arbeitsplätze dienen.
Politik kann viel. Sie kann Rahmenbedingungen set-
zen und finanzielle Ressourcen bereitstellen. Der Auf- (Zuruf des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
schwung Ost passiert aber vor allem vor Ort. Dazu soll- DIE GRÜNEN])
ten wir motivieren und unsere Unterstützung geben. Wir werden Ihnen helfen, auch wenn es um Regelungen
Vielen Dank. geht, bei denen zur Diskussion steht, dass Arbeitsunwil-
lige in Arbeit kommen. Wir werden Ihnen aber nicht da-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) bei helfen, die Hilflosigkeit, die sich in vielen Ihrer Pro-
gramme zeigt, auf dem Rücken der Arbeitslosen
Präsident Dr. Norbert Lammert: auszutragen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die FDP erhält zu- (Beifall bei der FDP)
nächst der Kollege Joachim Günther das Wort.
Wir werden auch nicht müde werden, darauf aufmerk-
(Beifall bei der FDP) sam zu machen, dass Arbeitsplätze eben nicht durch
ABM oder durch Arbeitsmarktregulierungen entstehen.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Sie entstehen dann, wenn es den Unternehmen gut geht,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wenn sie Gewinne erwirtschaften können und investieren
Herr Minister, Sie haben auf den denkwürdigen und wenn auch ausländische Unternehmen sich wieder
9. November als einen geschichtsträchtigen Tag hinge- verstärkt in Deutschland ansiedeln. Aus diesem Grund
wiesen. Das ist richtig, dem gibt es nichts hinzuzufügen. haben wir als FDP für den Osten Deutschlands immer
Wir haben heute trotzdem ein Novum, denn wir haben wieder Sonderregelungen gefordert. Wir haben die
zum zweiten Mal in diesem Jahr den Bericht zur Einheit Schaffung von Modellregionen gefordert. Das sind
der Nation vor uns. Das liegt daran, dass wir im vergan- Dinge, die kein Geld kosten. Das Land Sachsen-Anhalt
genen Jahr in diesem Land überstürzt Neuwahlen durch- hat Ihnen die Schaffung von Modellregionen angeboten.
geführt haben. Daran muss man auch einmal erinnern! In Sie wollten den Modellversuch durchführen. Viele von
der Zeit nach den Neuwahlen gingen auch die Bürger im Ihnen – auch von der SPD – haben dies damals
6102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Joachim Günther (Plauen)


(A) unterstützt. Es ist nichts daraus geworden. Das sind Grund dafür ist – das muss man sagen –, dass für den (C)
Dinge, die wir eigentlich verschenken. Fernstraßenausbau nicht mehr Geld, wie Sie im Koali-
tionsvertrag angekündigt haben, zur Verfügung steht,
Ich nenne auch den Solidarpakt. Wir als FDP haben sondern weniger. 2007 sind es knapp 4,5 Milliarden
uns dafür eingesetzt, dass der Solidarpakt nicht gekürzt Euro. 2005 waren es 5,3 Milliarden Euro.
wird, weil er dem Aufbau der Infrastruktur sowie inno-
vationsfördernden Maßnahmen dient. Das sind die Nun kann man lange darüber diskutieren, wie das zu-
grundlegenden Dinge, die der Osten Deutschlands für stande kommt. Das ist im Regelfall ein einfacher Trick:
den Aufschwung braucht. Man zieht die alte Mittelfristplanung heran; sie wurde
noch von der Regierung Schröder auf den Weg gebracht
(Stephan Hilsberg [SPD]: Die sind ja auch ga- und nie im Plenum beraten. Diese Zahlen nehmen Sie zur
rantiert!) Grundlage und das ist meines Erachtens einfach unfair.
Diese Mittel brauchen wir auch in den nächsten Jah- Man könnte vieles zur demografischen Entwicklung
ren. Hier liegt die Betonung aber auf Investitionen. Es und zur Stadtentwicklung sagen; Sie haben es angespro-
ist gut, dass ich hier sagen kann, dass die Solidarpakt- chen. Hier gibt es viele positive und viele negative Bei-
mittel 2005 in Sachsen auch ausschließlich für Investi- spiele. Die Stadtumbauprogramme sind – da gebe ich Ih-
tionen eingesetzt wurden. Auch hierüber haben wir nen ausdrücklich Recht – erfolgreich. Sie haben uns in
schon öfter gesprochen. Es gibt Länder, die diese Mittel vielen Bereichen vorangebracht.
für andere Zwecke einsetzen. Seit gestern ist in der
Presse nachlesbar, dass Sie scheinbar über eine neue De- Gestatten Sie mir, an diesem denkwürdigen
finition nachdenken. Zumindest der Ministerpräsident 9. November zum Abschluss Folgendes zu sagen: Für
von Thüringen hat diese Definition auf den Weg ge- die Sicherung der Arbeitsplätze haben die ostdeutschen
bracht. Ich bin der Meinung, wir sollten nicht über neue Bürger – das möchte ich deutlich für sie feststellen – vie-
Definitionen nachdenken oder neue und andere Ausre- les auf sich genommen: weniger Urlaub, einen geringe-
den suchen. Wir sollten diese Mittel konsequent für In- ren Verdienst und längere Arbeitszeiten. Da sie das auf
vestitionen in den neuen Bundesländern einsetzen. sich nehmen, sollten wir Politiker ihnen zumindest das
ermöglichen, was wir tun können. Schaffen wir endlich
(Beifall bei der FDP) schnellere Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie
und eine ordentliche Schulbildung! Wir sind dazu bereit.
Zu Ostdeutschland als Standort für Direktinvestitio-
nen: Herr Minister, diesen Punkt haben Sie vor kurzem (Beifall bei der FDP)
in einer Studie untersuchen lassen. Sie bestätigen, dass
(B) Ostdeutschland ein idealer Standort für Investitionen aus Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
dem Ausland ist. Auch hier kann ich Ihnen sagen: Wir
haben bereits im Jahr 2004 einen Antrag eingebracht, Das Wort hat nun der Kollege Arnold Vaatz für die
der dieses Konzept für die neuen Bundesländer gefordert CDU/CSU-Fraktion.
hat und der im Prinzip genau diese Standortvorteile zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Inhalt hat. Hätten wir diesen unseren Antrag schon 2004 neten der SPD)
umgesetzt, hätte man sich diesen Bericht und die inzwi-
schen verstrichene Zeit sparen können. Wir wären dann
einen großen Schritt weiter gewesen. Arnold Vaatz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine sehr
Zu den Investitionen zählen auch Investitionen in den verehrten Damen und Herren! Als ich heute vor
Straßen- und Schienenbau. „Rahmenplan für Verkehrs- 17 Jahren um 23 Uhr den Deutschlandfunk gehört hatte,
investitionen“ haben Sie Ihren so genannten Fünfjahres- packte mich plötzlich das Entsetzen. Ich war keineswegs
plan genannt. Herr Minister, Ihre Anpreisungen stehen begeistert. Denn ich konnte mir nur vorstellen, dass die
– das muss ich offen sagen – in einem offenen Wider- Regierung der DDR, um ihre Haut zu retten,
spruch zur Realität. 200 000 Leute in den Westen entkommen lässt in der
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Vorstellung, mit dem Rest werde man leicht fertig. Das
CSU) war mein erster Gedanke.

Viele wichtige Projekte sind unberücksichtigt geblieben. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN –
Nehmen wir nur einmal Sachsen – ich bin für konkrete Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das war kurz ge-
Zahlen –: 153 Projekte waren im Bundesverkehrswege- dacht! – Zuruf von der LINKEN: Und Sie hat-
plan 2003 aufgeführt, 106 im Vordringlichen Bedarf. ten Angst, dabei zu sein?)
Gerade einmal 36 sind jetzt im IRP übrig geblieben. – Ich finde es zynisch, dass Sie von dieser Bank aus da-
Wenn man diese genauer betrachtet, stellt man fest, dass rüber lachen.
von diesen 36 Projekten bereits 31 im Bau, fertig gestellt
oder in der Planung sind. Es geht noch um fünf Neubau- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
projekte. Das ist meines Erachtens eine Situation, die mit neten der SPD sowie bei der FDP)
den Vorstellungen von vor zwei, drei Jahren nichts mehr
zu tun hat. Dieser 9. November ist eines der glücklichsten und
wirklich eines der größten Ereignisse, die die deutsche
(Beifall bei der FDP) Geschichte überhaupt zu bieten hat.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6103
Arnold Vaatz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Leute werden älter. Wir sind hier schon viel zu lange in (C)
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Verzug.
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Man darf keinen Jahrestag der deutschen Einheit und des neten der SPD)
Mauerfalls verstreichen lassen, ohne das zu betonen. Wir
verdanken diese Entwicklung zuallererst den Menschen 17 Jahre nach dem Mauerfall ist sehr viel in Ost-
in Ostdeutschland. deutschland geschehen. Wer davor die Augen ver-
schließt, der lügt. Ich weiß nicht, wer von denen, die da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mals hilflos den allgemeinen Zerfall im Osten
bei Abgeordneten der FDP) aufzuhalten versuchten, sich in seinen kühnsten Träu-
men einen Ausbau unserer Infrastruktur ausmalen
Wir verdanken es allerdings nicht allein den Ostdeut- konnte, wie wir ihn heute haben. Wir haben sanierte
schen. An dieser Stelle ist es notwendig, festzustellen: Städte, saubere Flüsse, eine sauberere Luft und ein leis-
Hätte die Politik von Michail Gorbatschow uns nicht er- tungsfähiges Straßennetz. Das alles ist Ergebnis gesamt-
mutigt, zu handeln, unsere Besorgnisse und Ängste bei- deutscher Solidarität. Ich nutze diesen Augenblick, um
seite zu lassen und zu überwinden, wäre dieses Ereignis dafür Dank zu sagen.
nicht geschehen. Hätten die Solidarność, die ungarischen
und die tschechischen Freunde mit ihrem ständigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Drängen nicht dafür gesorgt, dass die Situation offen neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
bleibt, hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft. SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ich halte es für eine großartige Leistung unserer Demo-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- kratie – übrigens für eine Leistung, um die uns die ganze
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Welt beneidet –, dass die Auflegung des Fonds „Deut-
sche Einheit“ möglich war, dass zwei Solidarpakte auf
Auch vor dem Hintergrund, dass eine deutsche Bundes- den Weg gebracht worden sind und dass es uns gelungen
kanzlerin, die aus Ostdeutschland stammt, im nächsten ist, eine stärkere Annäherung von Ost und West zustande
Jahr die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union zu bringen, als es in Italien in 150 Jahren gelungen ist.
übernehmen wird, ist diese Entwicklung sehr bedeutend. Das ist die Realität.
Sie hat Europa Frieden, Sicherheit und Integration ge-
bracht und diejenigen nicht ausgeschlossen, die die not- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
wendige Vorarbeit für den Mauerfall geleistet haben. neten der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Wes-
terwelle [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) neten der SPD) Es wird immer wieder die Frage gestellt: Kann Ge- (D)
samtdeutschland aus den Erfahrungen Ostdeutschlands
Leider gibt es auch Dinge, die uns bedenklich stim- Nutzen ziehen? Seit letzter Woche sind wir so weit;
men müssen. Ich halte es für einen Zynismus der Ge-
schichte, dass gerade diejenigen, die sich zu DDR-Zeiten (Lachen und Zustimmung bei Abgeordneten
mit der Abwesenheit von Demokratie arrangierten oder der LINKEN)
sogar geholfen haben, die Diktatur zu stützen, im Allge- wir haben das Infrastrukturplanungsbeschleunigungs-
meinen damit rechnen konnten, dass ihnen ihre damals gesetz verabschiedet. Damit ist erstmals eine Regelung,
erworbenen Besitzstände erhalten bleiben. Das wäre die sich in Ostdeutschland bewährt hat, weil dadurch die
nichts Schlimmes, wenn nicht auf der anderen Seite fest- Bürokratie reduziert wurde, Kollege Günther, zu einer ge-
zustellen wäre, dass diejenigen, die sich in Ostdeutsch- samtdeutschen Regelung geworden, zumindest dem Sinn
land für Demokratie und Freiheit eingesetzt und dafür nach. Das halte ich für richtig und für gut. Ergebnis unse-
schwer gebüßt haben, heute damit konfrontiert sind, ihre rer parlamentarischen Arbeit ist auch, dass es uns in
damaligen Besitzstände verloren zu haben. Das kann haushaltspolitisch schwierigen Zeiten gelungen ist, die
nicht der Endzustand sein. Investitionszulage zeitlich zu verlängern. Dadurch soll
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geholfen werden, die Arbeitsplatzdichte in Ostdeutsch-
neten der SPD und der FDP) land zu erhöhen. Auch das halte ich für einen Erfolg.
Aus diesem Grunde haben wir eine entsprechende (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Regelung im Koalitionsvertrag getroffen. Wir wissen, Natürlich hat der Minister vollkommen Recht, wenn
dass wir etwas für die Opfer der Diktatur in der DDR er sagt: Die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeit-
tun müssen, insbesondere für diejenigen, die langjährige arbeitslosigkeit, bleibt in Ostdeutschland ein Kernpro-
Haftstrafen auf sich nehmen mussten. Kaum jemand blem. In dieser Frage gibt es zwar noch lange keine Ent-
kann heute ermessen, was das bedeutet hat. Deshalb ha- warnung. In diesem Jahr sehen wir aber zum ersten Mal
ben wir uns dazu bekannt, die Mittel für die Häftlingshil- ein kleines Entspannungszeichen. Wir sollten nicht da-
festiftung aufzustocken und die Anerkennung verfol- rüber hinwegsehen, dass wir nun zum ersten Mal seit
gungsbedingter Gesundheitsschäden zu erleichtern. Wir mehreren Monaten einen leichten Rückgang der Arbeits-
wollen auch eine Opferpension einrichten. Das ist Inhalt losigkeit in Ostdeutschland verzeichnen können.
unseres heute vorliegenden Entschließungsantrages. Ich
finde, das ist ein Schritt nach vorn. Ein entsprechender (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gesetzentwurf von einigen ostdeutschen Bundesländern NEN]: Dank der Maßnahmen der vorherigen
liegt bereits auf dem Tisch. Lasst uns zügig handeln; die Regierung!)
6104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Arnold Vaatz
(A) Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich die Arbeits- Lassen Sie mich zum Schluss kommen. (C)
losigkeit in Sachsen auf dem niedrigsten Stand seit zehn
Jahren befindet. Das deutet darauf hin, dass unsere ge- (Zuruf von der LINKEN: Endlich!)
meinsame Arbeit beginnt, Früchte zu tragen. So viel Zeit Ich bin der Meinung, dass wir in Ostdeutschland alle
muss sein, um das einmal erwähnen zu können. Das Pro- Möglichkeiten haben, vernünftige Vorkehrungen für die
blem haben wir aber noch lange nicht gelöst. Zukunft zu treffen. Unsere Förderpolitik war erfolgreich.
Es ist falsch, die Leuchtturmpolitik immer wieder in ei-
Mit einem anderen Problem müssen wir uns ebenfalls nen Gegensatz zur Förderung der ländlichen Räume zu
noch befassen: mit der Haushaltslage der ostdeutschen
bringen. Wenn die Wachstumskerne aus der ersten Liga
Länder. Lassen Sie mich auch darauf kurz eingehen. absteigen, haben auch die ländlichen Gebiete nichts zu
Wir hören regelmäßig, dass ein Großteil der Mittel aus lachen. Das muss klar sein. Durch die harte Arbeit der
dem Solidarpakt falsch eingesetzt wird, nämlich zum
Haushaltskonsolidierung und die klare Benennung der
Stopfen von Haushaltslöchern. Die ostdeutschen Länder Probleme in Ostdeutschland können wir die Menschen
sagten uns früher: Dann ändert doch die Kriterien. Dazu überzeugen. Das sollten wir tun. Ich bin davon über-
sage ich: Mit diesen degressiv ausgestalteten Mitteln
zeugt, dass wir damit den destruktiven Kräften, insbe-
kann ich keine einzige Stelle bezahlen. Auch Schulden- sondere dem Rechtsradikalismus, den Boden entziehen.
dienst kann ich mit keinem Cent daraus leisten. Nach
dem Jahr 2019 werden die Solidarpaktmittel nämlich auf Vielen Dank.
null zurückgegangen sein. Demzufolge ist es gar nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
möglich, die Mittel aus dem Solidarpakt II/Korb I anders
als in der beschriebenen Weise einzusetzen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Bisky,
Das ist aber eine Rabulistik hier!) Fraktion Die Linke.
Das kann die Politik nicht wegdefinieren. Wir müssen (Beifall bei der LINKEN)
darauf achten, dass die Gelder bestimmungsgemäß aus-
gegeben werden.
Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde
der FDP) es richtig, Herr Minister, dass Sie auf die historische Be-
deutung des 9. November in seiner ganzen Widersprüch-
Es würde auch keinen Sinn ergeben, wenn sich der lichkeit aufmerksam gemacht haben.
Bund verschuldet, um die ostdeutschen Länder zu ent-
(B)
schulden. Es kann auch nicht sein, über die Ausgabe von Ich finde es gut, dass es einen leichten Rückgang der (D)
Solidarpaktmitteln zur Schuldentilgung zu reden, so- Arbeitslosigkeit im Osten gibt, aber – auch das geht aus
lange sich die ostdeutschen Länder Jahr für Jahr neu ver- Ihrem Bericht eindeutig hervor – die Arbeitslosigkeit ist
schulden. im Osten noch immer doppelt so hoch wie im Westen
und die Löhne bleiben niedriger. Lediglich die Höhe der
Aus diesen Gründen sollten wir es begrüßen, dass Differenz zum Westeinkommen gestaltet sich von Bran-
sich die Länderfinanzminister mit dem Bundesfinanzmi- che zu Branche unterschiedlich. Ostdeutschland ist das
nister im Juni dieses Jahres auf eine Definition des Experiment für ein Billiglohnland. Nach neoliberalen
Korbes I geeinigt und sich verpflichtet haben, die ent- Glaubenssätzen müsste eigentlich ein Paradies für das
sprechenden Mittel investiv einzusetzen. Diesen Über- Kapital entstanden sein. Das Kapital kommt trotzdem
einkünften müssen aber Taten folgen; auch das muss klar nur äußerst zögerlich, wenn überhaupt.
sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Eine kurze Bemerkung zu dem Berlinurteil. In letzter
Zeit haben sich die Gemüter sehr damit beschäftigt. Ich Stattdessen wandert die Jugend in den Westen ab – eine
glaube, dass das Urteil für Berlin nicht leicht zu tragen verhängnisvolle Entwicklung. Das darf so nicht bleiben.
ist. Ein Urteil, das zur Folge hätte, dass sparsame Länder Sie trösten sich immer wieder damit, dass es Differen-
für ihre Haushaltsdisziplin bestraft würden, hätte diesen zierungen im Osten gibt – völlig einverstanden, die gibt
Ländern jedoch jede Motivation zur Fortsetzung ihrer es – und dass Sie manchen Leuchtturm in der Brache
Politik der Haushaltsdisziplin genommen. ausmachen können. Um nicht falsch verstanden zu wer-
den: Ich habe nichts gegen Leuchttürme – wie könnte ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch? Zumal auch meine Partei dort, wo sie in Regie-
rungs- oder in kommunaler Verantwortung gestanden hat
Aus diesem Grund sollte niemand mit diesem Urteil und steht, zu deren Entwicklung einen Beitrag geleistet
hadern. Wir sollten vielmehr nach vorne schauen und hat und dies auch weiterhin tun wird.
ausloten, welche Möglichkeiten es gibt, mit Berlin soli-
darisch zu sein. Dafür müssen allerdings drei Randbe- (Beifall bei der LINKEN)
dingungen gelten: Das ist erstens die Absicht, Sparsam-
Aber die Leuchttürme und die blühenden Spaßbäder
keit nicht zu bestrafen, zweitens die Würdigung der
Leistungen, die Berlin als Hauptstadt für unser Land er- (Stephan Hilsberg [SPD]: Was ist denn das für
bringt, und drittens die Nutzung aller Sparpotenziale, die ein Bild? Herr Bisky, Sie waren schon mal
das Land Berlin hat. besser!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6105
Dr. Lothar Bisky
(A) sind eben nicht das Ganze, sie sind nur ein Teil der haben! – Volkmar Uwe Vogel [CDU/CSU]: (C)
Wahrheit und sie können nicht verschleiern, dass der seit Wer wurde denn in Berlin behandelt?)
nunmehr 16 Jahren gefahrene Regierungskurs geschei-
tert ist, ein Kurs, mit dem alles zu delegitimieren ver- sondern es lag an dem zu geringen Bruttoinlandspro-
sucht worden ist, was einmal in der DDR gewesen war, dukt.
und der Aufbau Ost schlicht und dogmatisch als Nach- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wer hat im
bau West betrieben wurde. Nun leugne ich nicht, dass es Westen Medikamente bekommen? – Volkmar
vernünftige Dinge gegeben hat, die man so übernehmen Uwe Vogel [CDU/CSU]: Als ob alle in die
konnte – um Gottes willen! Apotheke hätten gehen können!)
(Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) Was also spricht dagegen, heute, wo das Bruttoinlands-
Aber mich stört die Dogmatik. Dieser Kurs ist geschei- produkt viel höher ist, eine solidarische Bürgerversiche-
tert und das ist längst nicht nur ein Ostproblem, sondern rung unter Beachtung der vielen Erfahrungen und neuen
ein Problem des ganzen Landes, ein Einheitsproblem Erkenntnisse neu anzudenken
eben. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) und damit eine Gesundheitsreform zustande zu bringen,
Denn die ganze Republik muss sich den neuen Heraus- die die Bezeichnung „Reform“ verdient?
forderungen der Weltwirtschaft, des Klimawandels und Nehmen Sie ferner das bis zur zehnten Klasse nicht
der Umbrüche in der Arbeitsgesellschaft stellen. Die selektierende Schulwesen, durch das die Bestenförde-
Transformation des Ostens ist dabei nur ein Teilaspekt. rung und das Mitnehmen der Schwächeren miteinander
Ein Umsteuern muss her, ein Neuanfang. Um diesen verbunden wurden. Ich sehe das nicht kritiklos. Finnland
in Gang zu setzen, bedarf es hin und wieder eines Rück- hat manches davon übernommen und den Fahnenappell
blicks. Die Bilanz in Sachen Einheit ist unter anderem und andere Dinge – völlig zu Recht – weggelassen. Da-
deshalb teilweise so ernüchternd, weil der Kardinalfeh- mit hat es PISA-Werte erreicht, die deutlich höher als die
ler, der am Anfang gestanden hat, nämlich den Le- deutschen PISA-Werte liegen.
bensalltag der Menschen in den alten Bundesländern (Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn
nicht um die Erfahrungen aus der DDR zu bereichern, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann es
und zwar um die guten wie um die schlechten, nicht sich auch gutdichten! Meine Güte!)
überwunden worden ist.
Aber auch hier dominierte der ideologisch begründete
(B) (Beifall bei der LINKEN) Nachbau West – koste es, was es wolle. (D)
Denn aus beidem muss und kann die vereinigte Gesell- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
schaft lernen. Keine Bundesregierung seit 1990 hat Das ist unter Ihrem Niveau!)
ernsthaft den Versuch unternommen, zu sondieren, wel-
che der DDR-Erfahrungen interessant sein könnten. Alle Wir sind uns darin einig, dass die DDR-Wirtschaft
wurden ohne gründliches Nachfragen als Teufelszeug nicht effizient genug war. Niemand will sie schönreden.
ins Reich des Bösen verbannt, um das vereinfacht auszu- Natürlich war sie aber auch nicht ausschließlich Miss-
drücken. Dabei gibt es Gutes und Bedenkenswertes; ich wirtschaft.
sage das hier ganz sachlich
(Zuruf von der CDU/CSU: Sondern?)
(Zuruf von der CDU/CSU: Zum Beispiel?)
Sie stempeln sie gerne als solche ab, weil Sie glauben,
– ich komme zu den Beispielen –, aber auch mit einem damit eine immer währende Ausrede parat zu haben,
gewissen ostdeutschen Selbstbewusstsein. wenn heute in der Wirtschaft die Säge klemmt. Dabei
vergessen Sie, welche Politik Sie in den ersten fünf Jah-
Nehmen wir etwa das Gesundheitswesen, das auf ei- ren der deutschen Einheit betrieben haben.
ner Art Bürgerversicherung von allen für alle basierte
und mit seinen Polikliniken patientennah war. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Der Schuss geht nach hinten los!)
(Beifall bei der LINKEN – Stephan Hilsberg
[SPD]: Aber auf welchem Niveau!) Alle Betriebe, die den westdeutschen Unternehmen
Konkurrenz hätten sein können, haben Sie plattgemacht.
Wenn Sie nun einwenden, dass es auch ärmer war, sage
ich Ja. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Das ist abenteuerlich!)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das war eine Zwei-
klassen- oder eine Dreiklassenmedizin!) Das SKET Magdeburg ist ein Beispiel dafür. Ich will
aber nicht zu viele Beispiele nennen.
Es war auch technisch nicht immer auf dem höchsten
Niveau, da haben Sie Recht. Aber das lag weder an der Es geht doch darum: Die komplette Delegitimierung
Bürgerversicherung noch lag es an den Polikliniken, des Ostens hat die vereinigte Gesellschaft nicht gestärkt,
sondern geschwächt
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ihr habt Medi-
kamente bekommen, die wir nicht bekommen (Beifall bei der LINKEN)
6106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Lothar Bisky


(A) und genau zu dem geführt, was Sie heute immer wieder schen war ich schon in New York, obwohl ich noch nicht (C)
beklagen, nämlich zu einem ostdeutschen Selbstbe- Rentnerin bin.
wusstsein, mit dem zuweilen auch DDR-Positionen ver-
teidigt werden, die nicht zu verteidigen sind. Dies ist ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ergebnis Ihrer Politik und nicht das Ergebnis einer wie und bei der SPD)
auch immer von der Linkspartei.PDS verordneten Ostal- Menschen, die sich sonst vermutlich nie begegnet wä-
gie. Wir sind nicht ostalgisch, aber wir sagen deutlich: ren, haben sich getroffen. Mein Kollege Volker Beck
Ein Umsteuern, ein Neuanfang muss her. hätte wohl nie seine familiären Spuren in Zwickau ver-
Hören Sie auf, den Aufbau Ost allein und ausschließ- folgt, wenn die deutsche Einheit nicht Realität geworden
lich als Nachbau West betreiben zu wollen! Beenden Sie wäre. Herr Bisky, auch den Satz „Es war nicht alles
das Experiment, den Osten als Billiglohnland zu deklas- schlecht“ hätten wir ohne deutsche Einheit wahrschein-
sieren! lich nicht in unseren Wortschatz übernommen.

(Beifall bei der LINKEN) An dieser Stelle will ich etwas zu der Frage sagen:
Wie war das eigentlich mit den DDR-Schulen? Ja, ich
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Renten für finde es richtig, noch einmal darüber nachzudenken, ob
gleiche Lebensleistungen – das muss auf der Tagesord- längeres gemeinsames Lernen verbunden mit stärkerer
nung stehen, wenn man es mit der Vereinigung ernst individueller Förderung tatsächlich dazu führt, dass
meint. mehr Kinder in der Schule Erfolg haben. Ich persönlich
Ich freue mich, dass die Regelsätze im SGB II für die bin davon überzeugt. Das kann man auch sagen, Herr
von Hartz IV Betroffenen in Ost und West nun endlich Bisky. Aber wenn man das sagt, dann muss man gleich-
gleich sind. Sie sind in Köln und Frankfurt an der Oder zeitig auch darauf hinweisen, was dieses Schulsystem
zwar viel zu niedrig, aber wenigstens gleich hoch. Das mit vielen Kindern in der DDR gemacht hat: Es hat sie
sehe ich wohl. ausgeschlossen und ihnen keine Entwicklungschance ge-
geben. Auch das muss in diesem Zusammenhang gesagt
Meine Damen und Herren, wer den Leuten jeden Tag werden, Herr Bisky.
einhämmert, dass Armut und Unterschichten unabänder-
liches Resultat von wissenschaftlich-technischem Fort- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
schritt und Wirtschaftsglobalisierung sind, der verfängt der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
sich immer mehr in einer Falle der Ausweglosigkeit. Die Im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit
Menschen werden demotiviert und mit ihren Zukunfts- müsste ein Stichwort, das darin vorkommt und auf das
ängsten allein gelassen. Beginnen Sie doch endlich ein- ich eingehen möchte, eigentlich eine viel größere Rolle
(B) mal, darüber nachzudenken, welche Chancen es böte, spielen: der demografische Wandel. In vielen Regionen (D)
die Ost-Erfahrungen auf ihren Zukunftsgehalt hin zu Ostdeutschlands ist ein Bevölkerungsrückgang um
überprüfen. 30 Prozent zu verzeichnen, zum Teil sind sogar 50 Pro-
(Beifall bei der LINKEN) zent prognostiziert. Diese Situation ist zu beklagen.
Wolfgang Tiefensee hat darauf hingewiesen, dass es
So kann vielleicht Einheit entstehen, eine Einheit, die häufig gerade die Kreativen und die Leistungsträger
alle weiterbringt, die im Osten und die im Westen. sind, die gehen.
Ich bedanke mich. Mir stellt sich vor diesem Hintergrund folgende
(Beifall bei der LINKEN) Frage: Wie können wir dieser Entwicklung begegnen
und dafür sorgen, dass die Menschen gerne bleiben bzw.
Präsident Dr. Norbert Lammert: zurückkommen? Ich glaube, dazu müssten wir das
Das Wort hat nun die Kollegin Göring-Eckardt für die Thema Investitionen und Infrastrukturentwicklung ganz
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. neu definieren. Hierbei geht es nämlich nicht nur um
Straßen. Herr Vaatz, was die Straßen betrifft, haben wir
in Ostdeutschland schon ziemlich große Fortschritte ge-
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- macht. Es geht aber um viel mehr. Es geht um den Aus-
NEN): bau der Bildungsinfrastruktur, es geht um die Schaffung
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! familienfreundlicher Strukturen, damit die Menschen
Ich glaube, es ist gut, dass wir am Tag des Mauerfalls bleiben und Investitionen im Osten getätigt werden, und
noch einmal über die Bedeutung dieses Tages sprechen. es geht – ich bin froh, dass dieses Stichwort im vorlie-
Schließlich hat er im Leben sehr vieler – wenn auch genden Bericht zum Stand der deutschen Einheit er-
nicht aller – sehr viel verändert. wähnt wird – um die kulturelle Entwicklung, die für die
Für uns alle hier hat sich zumindest verändert, dass Identität sehr wichtig ist.
der Deutsche Bundestag in Berlin tagt. Für mich änderte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sich, dass ich in Freiheit und in Demokratie lebe und Ab- sowie bei Abgeordneten der SPD)
geordnete dieses Hauses sein kann. Daneben konnte ich
übrigens meine mit ungefähr 15 Jahren begonnenen Ich sage das vor einem ganz konkreten Hintergrund:
Sparanstrengungen für eine Reise nach New York, die Die thüringische Landesregierung diskutiert gerade sehr
ich als Rentnerin machen wollte – ich habe immer wie- vehement darüber, die Ausgaben für Kultur im gesam-
der 10-Mark-Scheine gespart –, etwas abkürzen. Inzwi- ten Bundesland zu reduzieren. Unternehmerinnen und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6107
Katrin Göring-Eckardt
(A) Unternehmer aus Rudolstadt haben gefordert: Nehmt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
uns unser Orchester und unser Theater nicht weg! Wa- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
rum? Weil sie sich gesagt haben: Wir brauchen Fach- KEN – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kräfte, die wir in unsere Region holen wollen. Wir brau- NEN]: Nichts gegen Schwäbisch!)
chen qualifizierte Menschen, die hier bleiben sollen.
Ihnen müssen wir etwas bieten können, was über den Präsident Dr. Norbert Lammert:
Arbeitsplatz hinausgeht. – Deswegen ist die kulturelle Ich erteile das Wort der Kollegin Andrea Wicklein,
Infrastruktur in Ostdeutschland von so zentraler Bedeu- SPD-Fraktion.
tung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie ist natürlich auch dann wichtig, wenn es um die Andrea Wicklein (SPD):
Identität und die Bindung an die eigene Region geht. Die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
soziale Lage in Ostdeutschland muss, wie ich glaube, Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, ich danke Ihnen
noch tiefgehender beleuchtet werden. Es ist gut, dass die für diesen klaren und ehrlichen Bericht zum Stand der
Arbeitslosigkeit auch in manchen Regionen Ostdeutsch- deutschen Einheit. Es gibt unbestreitbar große Erfolge,
lands sinkt. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass aber nach wie vor stehen wir auch vor Herausforderun-
von der sinkenden Arbeitslosigkeit diejenigen am we- gen, die Sie bereits konkret benannt haben.
nigsten betroffen sind, die es am nötigsten hätten: die
Herr Bisky, wem haben wir denn die großen Erfolge
Langzeitarbeitslosen.
zu verdanken? Diese enorme Leistung wurde doch von
Die Spaltung der Gesellschaft ist im Osten Deutsch- den Menschen in Ostdeutschland vollbracht, die in den
lands ein besonders gravierendes Problem. Ich meine die letzten Jahren unglaublich viel dazulernen mussten.
Spaltung in diejenigen, die drin sind, und diejenigen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schon lange draußen sind und auch draußen bleiben wer- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
den. Diesen Zustand dürfen wir nicht hinnehmen. Das GRÜNEN)
hat auf der einen Seite mit materieller Armut und auf der
anderen Seite mit dem zu tun, was wir mit dem Begriff Sie haben aber auch ihre eigenen Erfahrungen und Kom-
„Exklusion“ beschreiben. Wer nicht mitmachen und ak- petenzen in diesen Prozess eingebracht. Das muss in die-
tiv mitwirken kann, der wird sich auch nicht für seine sem Zusammenhang ebenfalls deutlich gemacht werden.
Region einsetzen. Das, was Sie, Herr Tiefensee, in die- Besonders erfreulich und bedeutend ist auch aus mei- (D)
(B)
sem Zusammenhang gesagt haben, stimmt mich ein biss-
ner Sicht das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe, das
chen hoffnungsvoll. Ich hoffe jedenfalls, dass wir darü- in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres sogar
ber noch mehr hören werden. 9,3 Prozent betrug und damit – das wurde bereits gesagt –
Ich bin davon überzeugt, dass wir für die, die seit lan- doppelt so hoch ist wie in den alten Ländern. Das ist aus
gem draußen sind – das gilt besonders für diejenigen, meiner Sicht ein deutliches Zeichen dafür, dass der
von denen wir wissen, dass sie am ersten Arbeitsmarkt Strauß von Förderinstrumenten und Förderprogrammen
keine Chance mehr haben –, über kurz oder lang mithilfe Wirkung zeigt, sei es die Investitionszulage, die Pro-
eines öffentlich geförderten Sektors etwas tun müssen. grammfamilie „Unternehmen Region“ oder auch die
Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Verbindet
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- man diesen Instrumentenmix zu einem Gesamtkonzept
KEN) und konzentriert man die Instrumente auf die regionalen
Stärken, dann werden Erfolge sichtbar.
Bei den 1-Euro-Jobs hat sich eines sehr deutlich ge-
zeigt: Die Betroffenen waren sehr froh über diese Be- Gerade mit der Gemeinschaftsaufgabe konnte in
schäftigungsmöglichkeit, aber sie fragen sich, warum Ostdeutschland viel erreicht werden. Mit diesem Instru-
diese Jobs auf einen kurzen Zeitraum befristet sind. Ich ment wurden allein in den Jahren 2003 bis 2005
glaube, wir tun uns als Gesellschaft einen Gefallen, 6,2 Milliarden Euro von Bund und Ländern zur Verfü-
wenn wir deutlich machen, dass wir diese Menschen gung gestellt und damit Investitionen in Höhe von über
brauchen, und wenn die vielen Möglichkeiten tatsäch- 24 Milliarden Euro angeschoben. Damit wurden mehr
lich umgesetzt werden. Damit tun wir auch etwas für den als 66 000 Dauerarbeitsplätze und damit auch Ausbil-
Einzelnen. dungsplätze geschaffen.

Zum Schluss. Der Bericht heißt ja „Bericht zum Stand Viele Beispiele in Ostdeutschland zeigen, dass die
der deutschen Einheit“ und nicht: Bericht zum Aufbau Gemeinschaftsaufgabe ein wirkungsvolles Förderinstru-
Ost. Es hat sicherlich auch etwas mit der Frage der Iden- ment ist, das wir auch in Zukunft nicht weiter antasten,
tität zu tun, dass es immer noch leichter ist, im Deut- sondern mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausstat-
schen Bundestag Schwäbisch zu schwätzen, als im säch- ten sollten. In Brandenburg zum Beispiel hat sich in
sischen Dialekt über Zwickau zu reden. Schwarzheide durch die GA-Förderung ein wichtiger
Chemiestandort entwickelt. Allein bei der BASF sind
Vielen Dank. 2 000 Mitarbeiter beschäftigt. Ringsherum haben sich
6108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Andrea Wicklein
(A) zahlreiche Dienstleistungsunternehmen mit weiteren Noch einen Punkt möchte ich in diesem Zusammen- (C)
1 000 Beschäftigten angesiedelt. hang ansprechen. Der Einkommensabstand zwischen
Ost und West ist in der Tat nach Jahren der Anglei-
Diesen Erfolgen stehen große Herausforderungen ge- chung seit 1998 wieder größer geworden. Wir können
genüber, die wir politisch gestalten müssen. Ich möchte beobachten, dass sich der vermeintliche Standortvorteil
etwas zu einem wichtigen Punkt anmerken, der schon niedriger Löhne nach und nach ins Gegenteil verkehrt.
mehrmals angesprochen wurde. Ob in Schwarzheide
oder in Wismar: Das Hauptkriterium für die Ansiedlung, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
aber auch für den Fortbestand von Unternehmen sind die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
vorhandenen Fachkräfte. Ostdeutschland zeichnet sich
durch hoch motivierte, leistungsbereite und gut qualifi- Deshalb sage ich: Qualifizierte Fachkräfte müssen auch
zierte Fachkräfte aus. Diesen Standortvorteil haben wir. im Osten Deutschlands gutes Geld verdienen. Auch hier
appelliere ich in erster Linie an die Wirtschaft. Die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lohnzurückhaltung muss dort aufgegeben werden, wo
der CDU/CSU) es schon heute möglich ist, vernünftige Löhne zu zahlen.
Sonst gehen uns über kurz oder lang die Fachkräfte aus.
Bereits heute wird aber in einigen Regionen und
Branchen ein Fachkräftemangel sichtbar. In Wismar bei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
spielsweise, wo ich erst kürzlich war, sucht die dort an- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sässige Werft händeringend 20 Schweißer. Anderswo
werden Ingenieure gebraucht. Durch den dramatischen
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Geburtenknick nach der Wende ist die Zahl der Grund-
schüler teilweise bis unter 50 Prozent gesunken. Hinzu Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
kommt die anhaltende Abwanderung. Ostdeutschland
hat allein in den Jahren 2001 bis 2004 jährlich Andrea Wicklein (SPD):
100 000 Menschen verloren. Viele Gutqualifizierte ge- Ostdeutschland muss eine Perspektive bieten. Eine
hen, vor allem junge Menschen und Frauen. Obwohl die gute Infrastruktur alleine reicht nicht; das ist richtig. Ne-
ostdeutschen Universitäten Fachleute ausbilden, sinkt im ben guten Kindergärten, Schulen und Universitäten sind
Osten Deutschlands der Bevölkerungsanteil mit Hoch- natürlich vernünftige Einkommen und die Lebensquali-
schulabschluss. Das ist kein Wunder; denn die Men- tät ganz entscheidende Faktoren.
schen gehen natürlich dorthin, wo Arbeit ist und wo sie
sich und ihre Familien von der Arbeit vernünftig ernäh- Die Debatte über den Stand der deutschen Einheit
ren können. Abwanderung und Geburtendefizite be- heute, am 9. November, 17 Jahre nach dem Fall der
(B) schleunigen den Alterungsprozess der Bevölkerung. Sie Mauer, ist sicherlich ein besonderer Tagesordnungs- (D)
gefährden den Nachwuchs an Fachkräften und damit punkt. Aber sie ist keine gesondert ostdeutsche Debatte.
letztendlich die wirtschaftlichen Entwicklungschancen Gerade in einem föderalen Staat müssen wir immer das
der ostdeutschen Bundesländer. Gemeinsame in der Politik betonen, wenn wir besonde-
ren Herausforderungen gemeinsam gerecht werden wol-
Was bedeutet das? Welche Schlussfolgerung muss die len.
Politik aus dieser Entwicklung ziehen? Wir müssen alles
daransetzen – hier gebe ich meiner Vorrednerin Recht –, Ganz herzlichen Dank.
dass qualifizierte Fachkräfte in den ostdeutschen Regio-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nen bleiben oder dorthin zurückkehren.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert:
GRÜNEN])
Cornelia Pieper ist die nächste Rednerin für die FDP-
Die Gründe für den Fachkräftemangel sind sehr vielfäl- Fraktion.
tig. Manche Unternehmen haben sich nicht ausreichend
(Beifall bei der FDP)
um ihren Nachwuchs gekümmert.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wohl wahr!) Cornelia Pieper (FDP):
Die Unternehmen müssen begreifen, dass sie ohne Aus- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
bildung ihre Zukunft aufs Spiel setzen. 17 Jahren wurde die Mauer vom Osten her eingestoßen.
Die Ostdeutschen haben enormen Mut und Zivilcourage
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gezeigt. Sie sind für Werte auf die Straße gegangen, die
der CDU/CSU) uns in Deutschland wichtig sind.
Noch so viele Bundes- oder Länderinitiativen können die (Beifall bei der FDP)
Ausbildungsverantwortung der Betriebe nicht ersetzen.
In manchen Regionen brauchen wir nach wie vor eine Sie sind für Freiheit und Demokratie auf die Straße ge-
bessere Verzahnung von Schule und Wirtschaft. Wir gangen. Sie haben an einen funktionierenden Rechts-
brauchen zudem eine bessere Verzahnung der Unterneh- staat geglaubt und haben dafür gekämpft, dass die Ein-
men mit den Arbeitsagenturen. Oftmals gehen Qualifi- heit in Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat
zierung und Umschulung am regionalen Bedarf vorbei. wieder hergestellt wird.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6109
Cornelia Pieper
(A) Das, was wir nun, nach 17 Jahren, in einem Dresde- Bereits die alte, rot-grüne Bundesregierung hat eine (C)
ner Gefängnis erleben, ist aber ein Justizskandal ohne- Großforschungseinrichtung für die neuen Bundesländer
gleichen. Er hat den Verlust von Vertrauen in den verlangt. Wir als Liberale haben für die Neutronenspal-
Rechtsstaat zur Folge. lationsquelle, ein europäisches Projekt, geworben. Die
Bundesregierung hat nicht dafür Partei ergriffen. Wir
(Beifall bei der FDP – Stephan Hilsberg
warten auf die Entscheidung der Bundesregierung über
[SPD]: Was hat denn das mit der deutschen
das Biomasseforschungszentrum. Ich habe eine Anfrage
Einheit zu tun? Das ist nicht angemessen, was
an die Bundesregierung gestellt. Die Entscheidung wird
Sie machen!)
immer wieder hinausgeschoben. Was die neuen Bundes-
Wenn man den Menschen den Eindruck vermittelt, dass länder brauchen, ist Tempo und Prioritätensetzung bei
dieser Rechtsstaat nicht mehr funktioniert, weil die Jus- Bildung und Forschung, aber nicht Zeitaufschub und
tiz in Sachsen, einem CDU-regierten Bundesland, ver- Verschiebebahnhöfe. So kommen wir mit dem Aufbau
sagt hat, dann, glaube ich, haben wir alle hier die Verant- Ost nicht voran.
wortung, dafür zu sorgen,
(Beifall bei der FDP)
(Stephan Hilsberg [SPD]: Was ist denn das für
Wir müssen die Prioritäten auf Investitionen in Bil-
ein Populismus, den Sie hier pflegen?
dung und Forschung setzen. Das sagte ich schon. Die
dass nicht nur im Bund, sondern auch in den Bundeslän- neuen Länder müssen an dem Ziel, 3 Prozent des BIP für
dern nicht an Personal gespart, sondern mehr in das Per- Forschung und Entwicklung auszugeben, mitarbeiten.
sonal der Justizvollzugsanstalten investiert wird. An den Landeshaushalten ist nicht zu erkennen, dass sie
das tun. Wenn ich an die Eigenkapitalschwäche insbe-
(Beifall bei der FDP – Swen Schulz [Spandau]
sondere der mittelständischen Unternehmen denke, dann
[SPD]: Das ist aber billig!)
frage ich mich, wie diese mithelfen sollen, dass zukünf-
Ich darf die Damen und Herren der Regierungskoali- tig 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
tion daran erinnern: Sie haben im Rahmen der Föderalis- und Entwicklung ausgegeben werden, insbesondere
musreform gefordert, dass die Länder die Zuständigkeit wenn die Bundesregierung durch Steuererhöhungen und
für den Strafvollzug erhalten. Wir waren aus überzeu- steigende Lohnzusatzkosten die kleinen und mittelstän-
genden Gründen dagegen. Wenn jetzt die Länder die Zu- dischen Unternehmen ständig belastet. Die haben dann
ständigkeit für den Strafvollzug haben, dann müssen Sie keine Freiräume, um zu investieren und gemeinsam mit
dort, wo Sie regieren, Ihre Verantwortung wahrnehmen. Hochschulen in Forschungsprojekte zu investieren.
(Stephan Hilsberg [SPD]: Richtig! Das ist ein (Stephan Hilsberg [SPD]: Sagen Sie mal was
(B) sächsisches Problem!) zum Arbeitslosenversicherungsbeitrag!) (D)
In Sachsen, in Dresden, ist diese Verantwortung nicht Sie haben jetzt die Forschungsprämie eingeführt.
wahrgenommen worden. Ich fordere die Bundeskanzle- Das halte ich für richtig. Aber auch da ist Ihnen, meine
rin, die gerade nicht anwesend ist, auf, ihre CDU-Minis- Damen und Herren von der Regierungskoalition, kein
terpräsidenten an ihre Pflichten zu erinnern. Es ist uns großer Wurf gelungen. Sie bauen schon wieder ein büro-
als Liberale wichtig, dass das Vertrauen in die Demokra- kratisches Monstrum auf. Sie wollen Untergrenzen und
tie und den Rechtsstaat bleibt und noch wächst. Alles an- Obergrenzen festlegen. Das heißt, dass gerade kleine
dere wäre erschütternd, insbesondere angesichts des Unternehmen – 80 Prozent der Unternehmen im Osten
Falls der Mauer. Deutschlands sind Unternehmen mit fünf bis 20 Be-
schäftigten und haben nicht viel Eigenkapital – es sich
Wir reden über die Zukunft Deutschlands. Wir erle-
bei der Untergrenze, die Sie festlegen, gar nicht leisten
ben, dass die Bundesregierung zurzeit eine Innovations-
können, in Forschungsprojekte mit Hochschulen einzu-
konferenz Ost abhält. Ich frage mich, ob das nicht wie-
steigen. Nach unseren Berechnungen werden Sie mit
der eine Beruhigungspille für die neuen Bundesländer
dieser Forschungsprämie gerade einmal 3 bis 4 Prozent
sein soll.
der kleinen und mittelständischen Unternehmen anspre-
chen können.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Pieper, gestatten Sie eine Zwischen- Ich kann Sie nur ermuntern, mutiger zu handeln und
frage? den großen Wurf zu wagen, anstatt die kleinen Trippel-
schritte zu gehen. Wir brauchen ein schnelleres Tempo,
gerade in den neuen Bundesländern. Sie kennen die
Cornelia Pieper (FDP):
demografische Entwicklung. Viele junge Menschen
Nein, Herr Präsident, ich möchte keine Frage beant- wandern ab, die Besten gehen in den Westen.
worten. Ich kann verstehen, dass sich der Kollege aus
Sachsen von meinen Worten tief beeindruckt fühlt und (Stephan Hilsberg [SPD]: Mit solchen Sprü-
darauf reagieren möchte. Ich kann nur noch einmal sa- chen befördern Sie das!)
gen: Nehmen Sie von der CDU dort Ihre Verantwortung
In den Hochschulen wird es in den nächsten Jahren
wahr, wo Sie regieren.
Überkapazitäten geben. Wir werden in den alten Bun-
Innovationspolitik ist das Herzstück des Regierungs- desländern einen großen Bedarf an neuen Studienplätzen
handelns, sagt die Bundesregierung. Das ist auch gut so. haben, in den neuen Bundesländern werden wir einen
Aber haben Sie die Weichen dafür wirklich gestellt? Überhang an Studienplätzen haben. Ich fordere die Bun-
6110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Cornelia Pieper
(A) desregierung auf, beim Hochschulpakt zu handeln und Thema Demokratieverlust, die nachweisen, dass der (C)
einen Teil der Mittel aus dem Hochschulpakt für die Glaube an den Rechtsstaat immer mehr verloren geht.
neuen Länder bereitzustellen. Ich sage noch einmal, Herr Dort, wo Sie regieren, haben Sie eine Verpflichtung, den
Minister Tiefensee: Die Idee, die Solidarpaktmittel zu- Rechtsstaat so zu sichern, dass die Bürgerinnen und Bür-
künftig auch für die Finanzierung der Hochschulen zu ger nicht den Eindruck erhalten, dass der Täter mehr
verwenden, ist gut. Tun Sie es doch auch endlich, und Schutzmaßnahmen genießt als das Opfer selbst.
zwar in Absprache mit den Ministerpräsidenten der
neuen Bundesländer. Das, was das Opfer und seine Eltern empfinden, ist
dramatisch. Wir als liberale Partei werden diesen Fall
Vielen Dank. weiterhin beobachten. Wir werden im Hinblick auf den
(Beifall bei der FDP) Rechtsstaat alles daran setzen, dass in Justizvollzugsan-
stalten in Personal investiert und nicht daran gespart
wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält Herr Kollege (Beifall bei der FDP)
Kretschmer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Katherina
Vielen Dank, Herr Präsident! – Frau Kollegin Pieper, Reiche von der CDU/CSU-Fraktion.
woher haben Sie Ihre Informationen, aufgrund derer Sie
sich erdreisten, vor dem Parlament dieses Thema in die- (Beifall bei der CDU/CSU)
ser populistischen Art aufzugreifen? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Sie sich direkt vor Ort informiert haben
Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU):
und wissen, was gestern und heute Nacht dort passiert
ist. Es ist unsäglich, ein so schwerwiegendes Thema hier Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
in dieser Art und Weise zu thematisieren. Forschung und Innovation als Voraussetzungen für
Wachstum und Wohlstand sind für Ostdeutschland viel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie leicht noch wichtiger als für die alten Länder. Es ist
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wichtig, dass wir während der Debatte zur deutschen
GRÜNEN) Einheit unser besonderes Augenmerk auch auf die As-
Wer mit Lotterbuben Politik macht, verlottert die par- pekte Forschung und Innovation lenken und Anträge
lamentarischen Sitten. Dagegen möchte ich mich ver- dazu beraten.
(B) wahren. (D)
Jürgen Mlynek, ehemaliger Präsident der Humboldt-
Es ist in der Tat ein schlimmer Fall gewesen, der da Universität Berlin und jetziger Präsident der Helmholtz-
gestern passiert ist. Gemeinschaft, hat einmal gesagt: Wenn aus Erkenntnis-
gewinn oder einer Entdeckung eine konkrete Anwen-
(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Al- dung wird, dann ist das Innovation. Kommt diese auf
lerdings!) den Markt und setzt sich durch, dann wächst die Wirt-
Wir werden den Fall aufklären und Konsequenzen zie- schaft und es entstehen Arbeitsplätze.
hen. Aber eines ist doch klar: Diese Nacht hat die Polizei
in Sachsen einen guten Job gemacht und sehr professio- Forschung und Innovation bedeuten für die Menschen
nell gehandelt. in Ostdeutschland wirtschaftliche Hoffnung. Forschung
und Innovation bedeuten für sie, in die Zukunft zu
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Au! Au! Au!) schauen. Sie bedeuten, Investitionen in den Wirtschafts-
standort Ostdeutschland zu tätigen. Forschung und Inno-
Nach menschlichem Ermessen gehört dieses Gefängnis
vation bedeuten auch, der demografischen Veränderung
zu den modernsten und sichersten in unserem Land. Es
Ostdeutschlands Paroli bieten zu können. Denn einigen
ist eine Frage des Anstands und der Seriosität, dass man
ostdeutschen Regionen droht bis zum Jahr 2010 ein
erst einmal eine Überprüfung vornimmt, sich dann ein
wahrer Aderlass. Durch Abwanderung und Geburten-
Urteil bildet und nicht sogleich hier polemisiert.
rückgang könnten einigen der Regionen bis zu 60 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU) zent der jungen Generation verloren gehen.
Durch den Umwälzungsprozess in Hochschulen und
Präsident Dr. Norbert Lammert: Forschung wird auch in Zukunft eine flexible und breit
Zur Erwiderung erteile ich Frau Kollegin Pieper das angelegte Förderung notwendig sein, um die in Ost-
Wort. deutschland bestehenden Strukturdefizite ausgleichen zu
können. Wir haben viele effektive Maßnahmen be-
Cornelia Pieper (FDP): schlossen: die Hightech-Strategie, die Förderung von
Lieber Herr Kollege Kretschmer, dieser Justizskan- Clusterbildung, das Förderprojekt „Unternehmen Re-
dal ist so schwerwiegend, dass er in der Debatte ange- gion“. Zum jetzigen Zeitpunkt findet eine große Konfe-
sprochen werden muss. Ich sagte bereits, dass es um das renz des Bundesministeriums für Bildung und For-
Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat geht, das wir schung mit dem Ziel statt, die Innovationspolitik in den
zurückgewinnen wollen. Es gibt viele Umfragen zum neuen Ländern voranzubringen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6111
Katherina Reiche (Potsdam)
(A) Auch konnte mithilfe des Bundes und der Länder bei- wird. Wir brauchen eine eindeutige thematische Fokus- (C)
spielsweise der Ausbau der Max-Planck-Institute abge- sierung auf einzelne Technologiebereiche und die Ver-
schlossen werden. Es gibt mittlerweile 18 dieser Insti- netzung von universitärer und außeruniversitärer For-
tute, eine Forschungsstelle und ein Teilinstitut. Somit ist schung.
die Max-Planck-Gesellschaft in Ostdeutschland mit an-
nähernd dem gleichen Potenzial an Forschungseinrich- Wir können es uns durchaus leisten, regionale
tungen wie in Westdeutschland vertreten. Ähnliches Schwerpunkte zu setzen, zum Beispiel in der Biotechno-
ließe sich für die anderen Forschungsorganisationen sa- logie. Innovationen in der Biotechnologie schaffen nicht
gen. nur wettbewerbsfähige Produkte, sondern sie sichern vor
allem zukunftssichere Arbeitsplätze. Experten rechnen
Aber was muss noch geschehen? Ich meine, Ost- damit, dass der Weltmarkt der Biotechnologieprodukte
deutschland sollte zur Erfolgsgeschichte werden, exem- weiter im zweistelligen Prozentbereich wächst. Ange-
plarisch für das Motto: Das Schicksal durch Forschung sichts dessen können wir uns aus der Grünen Pflanzen-
und Innovation in die eigene Hand nehmen. biotechnologie nicht einfach verabschieden. Wir brau-
chen die Forschung und die Anwendung. Beides wird
Wir müssen die Hochschulen weiter stärken. Ich habe durch die heutige Rechtslage behindert. Wir brauchen
den Geburtenrückgang angesprochen. Gerade deswegen eine Novelle des Gentechnikgesetzes; dazu gibt es
dürfen keine qualitativ hochwertigen Studienplätze in keine Alternative.
Ostdeutschland abgebaut werden.
Nur Lippenbekenntnisse und das Singen des Hohen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Liedes auf die Forschung helfen nicht weiter. Wir haben
der SPD) in Potsdam und in Gatersleben Forscher. Wir haben
Dafür zu sorgen, ist zunächst die Verantwortung der große landwirtschaftliche Flächen und innovative Land-
Landesregierungen. wirte, die nur auf den Startschuss warten, um endlich
loslegen zu können. Wir brauchen ein positives Bild von
Wir brauchen – quasi komplementär – einen erfolg- unserem Land und ein Klima der Freiheit und des Ver-
reichen Hochschulpakt. Ich appelliere an die alten Län- trauens. Forschung lebt von Freiheit, Neugier und Expe-
der, zu helfen, zu unterstützen und solidarisch zu sein. Es rimentierlust.
ist gut, dass Annette Schavan die Universitätsstädte
Greifswald, Magdeburg, Potsdam, Jena und Leipzig Lassen Sie mich mit den Worten von Professor
durch eine Kampagne in den Fokus rücken möchte, un- Winnacker enden:
ter dem Motto „Im Osten viel Neues“ oder auch „Ent- Nur wer heute in die Wissenschaft investiert,
decke den Osten!“. schlägt eine Brücke in die Zukunft!
(B) (D)
Wir brauchen mehr Ausgründungen aus den Hoch- Eine solche Brücke ist auch eine Brücke hin zu einer gu-
schulen. Die Hochschulen müssen Impulse in die klei- ten Zukunft in Ostdeutschland.
nen und mittleren Unternehmen geben, um so einen bes-
seren Technologietransfer zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Der Nachteil der ostdeutschen Wirtschaft ist sicher-
lich, dass es einen Mangel an sehr großen Unterneh-
menseinheiten gibt, die einen Input in die Hochschulen Präsident Dr. Norbert Lammert:
geben. Auch der Anteil der betrieblichen Forschung in Ich erteile das Wort dem Kollegen Roland Claus,
Ostdeutschland ist immer noch geringer als in West- Fraktion Die Linke.
deutschland. Während sich die großen Unternehmen in (Beifall bei der LINKEN)
Westdeutschland häufig selbstverständlich an die Hoch-
schulen wenden, muss man in den neuen Ländern noch
Roland Claus (DIE LINKE):
umdenken. Die Universitäten müssen den ersten Schritt
machen und auf die KMUs zugehen. Nur so kann man Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
der schwächer ausgeprägten Netzwerk- und Clusterbil- Herren! Ich möchte Ihnen namens meiner Fraktion im
dung entgegenwirken. Rahmen dieser Debatte einen Antrag vorstellen, dessen
Entwurf schon großes Interesse weckte. Es geht uns um
Dass es durchaus funktioniert, zeigt sich an den in den die Zusammenführung der Bundesministerien in
vergangenen Jahren entstandenen Branchenschwerpunk- Berlin. Wir verstehen das durchaus als einen Beitrag zur
ten und innovativen Kompetenzfeldern: Mikroelektronik Mitwirkung an der deutschen Einheit und nicht zur Be-
in Dresden, Chemie in Halle oder Bitterfeld, Optoelek- hinderung der deutschen Einheit.
tronik in Jena, Medizin und Biotechnologie in Berlin
oder Greifswald sowie Pflanzenzucht und Gentechnik in (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Re-
Gatersleben und Potsdam. nate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Da haben Sie sich den schwierigsten Teil aus-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gesucht!)
der SPD)
Seit 1994 wirkt das Berlin/Bonn-Gesetz. Es verteilt
All das sind Technologieschwerpunkte aus der High- Ministerien und Ämter auf die Standorte Bonn und Ber-
tech-Strategie. Daher ist es wichtig, dass die Hightech- lin. Um das vorab klarzustellen: Mit diesem Antrag geht
Strategie gerade in Ostdeutschland besonders erfolgreich es nicht gegen die Region Köln/Bonn. Ich kann es auch
6112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Roland Claus
(A) etwas populärer sagen: Keinem Bonner würde es durch bringen. Nun haben wir durch die Föderalismusreform (C)
unseren Antrag schlechter gehen. – Das Berlin/Bonn- zwar eine Hauptstadtklausel, aber mit Ihrer Beschwö-
Gesetz hat lange gewirkt, über zwölf Jahre. Es hat vielen rung des Wettbewerbsföderalismus helfen Sie überhaupt
genutzt. Hier argumentieren wir in der Tat biblisch, nicht dabei, der deutschen Einheit hier einen Impuls zu
meine Damen und Herren: Ein Jegliches hat seine Zeit. – geben.
Die Zeit dieses Gesetzes geht nun zu Ende.
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE
(Beifall bei der LINKEN) LINKE])
Deswegen schlagen wir Ihnen vor, eine Änderung des Wie immer Sie künftig mit diesem Problem umgehen:
Berlin/Bonn-Gesetzes zu erarbeiten; denn wir dürfen uns Sie werden an der Lösung nicht vorbei kommen. Eines
nicht an diese Zweiteilung gewöhnen. Tages werden auch die Politologen feststellen: Die Partei
Ich möchte nur die Fakten sprechen lassen. Die Situa- der wirklichen Einheit ist die neue Linke.
tion ist die, dass 54 Prozent der Mitarbeiterinnen und Vielen Dank.
Mitarbeiter der Ministerien nach wie vor am Standort
Bonn und nur 46 Prozent in Berlin arbeiten. In absoluten (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der
Zahlen sind das 10 100 in Bonn und 8 800 in Berlin. Wir CDU/CSU und der SPD – Stephan Hilsberg
sagen Ihnen: So kann man nicht regieren, jedenfalls [SPD]: Das ist der beste Witz des Tages!)
nicht gut regieren. Deshalb muss das verändert werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Klaus Uwe Benneter [SPD]) Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rainer For-
nahl, SPD-Fraktion.
Natürlich wissen wir, dass Umzüge Veränderung be-
deuten. Aber wer hat denn Hunderttausende Ostdeutsche (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gefragt, die der Arbeit nachziehen mussten und diese
Veränderung auf sich genommen haben? Rainer Fornahl (SPD):
Es ist ein Antrag mit Augenmaß. Wir sagen: Das Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Bundeskanzleramt soll beginnen, diesen Schritt zu voll- Herren! Ich glaube, Herr Claus, die SED bzw. die PDS
ziehen. Wir nehmen Einrichtungen aus, die ausdrücklich bzw. die Linke, wie auch immer Sie sich nennen,
einen regionalen Bezug haben. Einrichtungen, die mit (Zuruf von der LINKEN: Oh! Sagen Sie mal
moderner Kommunikationstechnik ihre Funktion erfül- etwas Neues!)
(B) len können, können auch am Standort Bonn bleiben. Es (D)
soll schrittweise und nach einem Stufenplan gehen. ist nie die Partei der Einheit gewesen und wird es auch
nie werden.
Man soll uns bitte nicht mit dem Kostenargument
kommen; das ist unredlich. Man will eine Hauptstadt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
entweder ganz oder gar nicht. Mit der Berlinentschei- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
dung von 1991 ist diese Entscheidung gefallen. NISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN) Ich fand es ziemlich perfide, wie Herr Bisky, der ja
Nirgendwo auf der Welt finden Sie eine solche Zweitei- hier den Anspruch erhoben hatte, Vizepräsident des Ho-
lung der Ministerien. hen Hauses zu werden, bei seiner Rede zum Stand der
deutschen Einheit und insbesondere zur DDR von 1949
(Stephan Hilsberg [SPD]: Das stimmt nicht!) bis 1990 die Situation eines Landes, in dem Diktatur, To-
Nun stellen Sie sich mal einen Moment vor, die Ab- talitarismus und Indoktrination herrschten, schöngere-
det hat.
stimmung 1991, die knapp genug gewesen ist, wäre für
Bonn ausgefallen! Können Sie sich eine Sekunde lang (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)
vorstellen, dass 54 Prozent der Beschäftigten dann in
Berlin ihren Arbeitsplatz gefunden hätten? Ich nicht, Das entsprach nicht der Lebenswirklichkeit. Ich habe sie
meine Damen und Herren. jedenfalls so in Leipzig, wo ich mein Leben lang ver-
bracht habe, nicht empfunden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei
Interessanterweise wurde im Landtag von Nord- der CDU/CSU und der FDP)
rhein-Westfalen vor kurzem das gleiche Thema bespro-
chen. Da gab es doch ziemlich harsche Worte: Die De- Ich denke, die Situation, die Minister Tiefensee in ei-
batte sei wegen der Zusammenrottung – so wörtlich! – nem großen Bogen von den Erfolgen bis hin zu den Pro-
von Hinterbänklern zur Sommerpause entstanden; das blemen beschrieben hat, entspricht der Wirklichkeit. Zu-
Thema sei so ähnlich bedeutend wie die Frage, ob Mal- gleich hat er damit auch die Potenziale aufgezeigt, die
lorca das 17. Bundesland sei. – Das spricht leider Bände wir haben, um den Rest des Weges bis hin zu dem Ziel
über den Zustand der deutschen Einheit. der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und
Westdeutschland gemeinsam gehen zu können.
Ich will auch die Häme im Bundestag zum Bundesver-
fassungsgerichtsurteil zur Berlinentschuldung zur Sprache (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6113
Rainer Fornahl
(A) Drei ganz zentrale Punkte spielen eine wichtige Rolle, Blick auf das ins Auge gefasste deutsche Biomassefor- (C)
um das Ziel, dass Ostdeutschland ein dynamischer Wirt- schungszentrum richten, wo auch immer es seinen Sitz
schaftsstandort wird und die Abwanderung von qualifi- haben sollte. Ich als Leipziger verweise, wenn Sie erlau-
zierten Leuten wie Fachkräften in andere Regionen ben, ganz zurückhaltend auf meine Stadt, aber eine dies-
Deutschlands gestoppt wird, zu erreichen, bezügliche Entscheidung ist überfällig. Sie müsste end-
lich gefällt werden.
Notwendig ist zunächst einmal der weitere Ausbau
der Verkehrsinfrastruktur. Hier sind als Erstes die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zu nennen, die lei- der CDU/CSU und der FDP)
der bisher nur zu zwei Dritteln realisiert sind. Darüber
hinaus haben wir wichtige Projekte mit einem EFRE- Die Bundesregierung hat eine Bringschuld. Ich fordere
Bundesprogramm, das von Bund und Ländern gemein- sie auf, möglichst schnell eine Entscheidung zu treffen.
sam ausgearbeitet wurde, wie überregionale Verbindun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei
gen auch in Richtung zu unseren osteuropäischen Nach- der FDP)
barn auf den Weg gebracht.
Ein Drittes will ich hier ansprechen, was sehr wichtig
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der für Ostdeutschland ist, denn daraus können sich viele
CDU/CSU) Potenziale für Ostdeutschland ergeben. Das ist die
Aber nicht nur diese großen Projekte, also nicht nur die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der ostdeut-
Autobahnen und die Eisenbahnfernverbindungen, son- schen Regionen mit unseren Nachbarn in Polen und
dern auch die vielen neuen Radwege, Fußwege und Tschechien. Wir haben dafür in den letzten Jahren viel
Kreisstraßen haben die Lebensverhältnisse in den neuen Geld in die Hand genommen, viel Unterstützung ge-
Ländern eindeutig verbessert. Diese sollen natürlich geben und auch die Regionen und Länder haben viel ge-
auch dazu dienen, solche Lebensverhältnisse zu schaf- tan. Aber es gibt noch mehr zu tun. Durch grenz-
fen, die es den Menschen ermöglichen, zu Hause zu blei- überschreitende Zusammenarbeit, durch wirtschaftliche
ben und nicht abzuwandern. Kooperation, durch die Vernetzung von Wissenschaft
und Wirtschaft gibt es in diesem Gebiet noch viele Mög-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) lichkeiten, um etwas zu tun und neue Arbeitsplätze zu
Das ist ein ganz wesentlicher Faktor. schaffen bzw. alte zu sichern. Dazu gibt es von uns orga-
nisiert die Bundeseinrichtung des Zentrums Mittel- und
Wir müssen nun aber die Verkehrsprojekte „Deutsche Osteuropa für Wirtschaft und Kultur, das seinen Sitz als
Einheit“, so wie wir es in unserem Entschließungsantrag Fraunhofer-Institut in Leipzig hat. Das sollte langsam als
(B) formuliert haben, möglichst zügig umsetzen. Zentrum eines Netzwerkes und Verbindungsglied zwi- (D)
(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]) schen Wissenschaft und Forschung konkret auf den Weg
gebracht werden, damit die Potenziale erschlossen wer-
Um das zu schaffen, sind bei den Haushaltsberatungen den können, die wir brauchen, um das Grundziel der
in den nächsten Jahren große Anstrengungen notwendig. Schaffung von mehr Wirtschaftswachstum und mehr Ar-
Ich will nur ein einziges Projekt herausgreifen, auf das ja beitsplätzen erreichen zu können.
auch der Verkehrsminister immer wieder den Fokus sei-
ner Bemühungen lenkt. Das ist das Verkehrsprojekt Ich glaube, wenn wir all das und vieles andere, was
„Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2. Dieses zentrale europäi- schon gesagt wurde, in die Hand nehmen und nach vorn
sche Verkehrsprojekt möglichst bald fertigzustellen, ist schreiten, können und werden wir es schaffen. Packen
wichtig und notwendig. Ich hoffe, dass mit der Entschei- wir es an; es lohnt sich!
dung, die gestern gefallen ist, eine gute Lösung für die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Zukunft der Deutschen Bahn AG, die ja dabei für uns
wichtiger Partner ist, gefunden wurde und diese auch für
Präsident Dr. Norbert Lammert:
dieses Vorhaben ein Stück weit hilfreich ist.
Ich erteile das Wort Peter Hettlich, Fraktion des
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Bündnisses 90/Die Grünen.
CDU/CSU)
Ein Zweites will ich ansprechen: Die Entwicklung der Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
regenerativen Energien in Ostdeutschland halte ich für Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
eine ganz zentrale Aufgabe. Darin steckt viel Potenzial, nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-
weil dank moderner Technologie zum einen eine klima- ber Joachim Günther, du hast in deiner Rede eben be-
freundliche, ökologisch orientierte Energiepolitik voran- klagt, dass wir zweimal in diesem Jahr über einen
getrieben werden kann und zum anderen hier neue, si- Bericht zum Stand der deutschen Einheit debattieren.
chere Arbeitsplätze entstehen können. Dazu alle
(Jörg van Essen [FDP]: Nicht beklagt! – Joa-
Anstrengungen zu unternehmen, ist des Schweißes der
chim Günther [Plauen) [FDP]: Festgestellt!)
Edlen wert. Im Zusammenhang mit der Technologieför-
derung nicht nur bei Strom- und Wärmeproduktion, son- Aber ich finde, dieser Bericht ist – das sollte man vor-
dern auch für die Produktion von Kraftstoffen für neue weg sagen – von der Qualität durchaus anders als seine
Motorengenerationen – mehrere Kolleginnen und Kolle- Vorgänger. Gerade in der Analyse ist dieser Bericht – das
gen haben es schon angesprochen – möchte ich den darf man durchaus einmal lobend erwähnen – relativ
6114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Peter Hettlich
(A) realistisch und auch ehrlich. Das ist eine wichtige Fest- Die Fehlverwendung ist kurz angesprochen worden. (C)
stellung. Ich habe es sehr bedauert, dass wir das in den „Täglich grüßt das Murmeltier“, könnte man sagen. Wir
letzten vier Jahren unter Rot-Grün nicht hinbekommen hatten vor circa 14 Tagen eine Konferenz zum Thema
haben; das scheint hier eine neue Kultur der Ehrlich- „Beton oder Köpfe“, über das wir mit Herrn Sarrazin
keit zu sein. und dem Staatssekretär aus dem brandenburgischen Fi-
nanzministerium debattiert haben. Die Fehlverwendung
Ich will auch ausdrücklich lobend erwähnen, dass ich ist Fakt; darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren.
gesehen habe, dass das Bundeskabinett und auch die Es ist auch so, dass die Verwendung der Mittel des
Mitglieder dieses Hauses in starker Zahl hier vertreten Korbes I, da sie als Sonderbedarfsbundesergänzungszu-
waren. Das war bei den Debatten über den Bericht zum weisungen definiert sind, letzten Endes nicht in irgendei-
Stand der deutschen Einheit nicht immer so; manchmal ner Form sanktioniert werden kann. Aber ich frage an
haben wir hier nur in kleiner Runde diskutiert. dieser Stelle auch die Bundesregierung: Was ist denn mit
dem Korb II? Sie versprechen uns seit langem, uns ein-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
mal die noch nicht näher spezifizierten Mittel aufzu-
Ich kritisiere aber, dass keiner der Ministerpräsiden- schlüsseln. Ich sehe an dieser Stelle durchaus eine Mög-
ten der ostdeutschen Bundesländer auf der linken Seite lichkeit milder Sanktion, indem den Ländern gesagt
von mir sitzt. wird: Wenn ihr die Mittel aus dem Korb I nicht richtig
verwendet, dann werden wir beim Korb II anders verfah-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren; denn sonst müssen wir jedes Jahr erdulden, dass in
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der der Presse über das Thema Fehlverwendung diskutiert
CDU/CSU und der SPD) wird. – Hier sind Sie aufgefordert, zu handeln.
Das finde ich sehr bedauerlich. In den letzten Jahren wa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ren die Ministerpräsidenten immer hier. Das lag offen- sowie bei Abgeordneten der FDP)
sichtlich daran, dass zu den jeweiligen Zeiten Wahlen
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, haben uns für die
anstanden. Ich finde, dass die Anwesenheit sehr wichtig
nächsten Jahre einen Schwerpunkt gesetzt: Wir wollen
wäre; denn der Aufbau Ost ist nicht nur ein Thema des
die endogenen Potenziale und vor allem die Köpfe in
Bundes, sondern auch ein Thema der Länder. Nur zu-
Ostdeutschland stärken. Wir haben nach wie vor eine
sammen können wir diese große Herausforderung be-
Unternehmenslücke von 70 000 bis 100 000 Unterneh-
wältigen.
men. Trotz großer Anstrengungen bei der Werbung von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Investoren haben wir konstatieren müssen, dass wir es
(B) sowie bei Abgeordneten der FDP) nicht geschafft haben, die Lücke zu schließen. (D)
Meine Damen und Herren, vieles ist gesagt worden. Wir haben auch gesehen, dass die Zusammenlegung
Wir haben relativ gute Wachstumszahlen im produzie- von IIC und Invest in Germany sich letztendlich aus der
renden Gewerbe in Ostdeutschland; aber wir wissen, Tatsache ergibt, dass es immer weniger Investoren aus
dass das nicht ausreicht, um die Konvergenz zu errei- dem Ausland und aus den westlichen Bundesländern
chen. Das Wachstum in Ostdeutschland liegt nach wie gibt.
vor insgesamt hinter dem im Westen zurück. Zu einer Es ist ein Problem, dass die Betriebe in Ostdeutsch-
Konvergenz bräuchte man logischerweise mehr Wachs- land, die sich aus dem dortigen Potenzial entwickelt ha-
tum in Ostdeutschland als in Westdeutschland. Davon ben, zu klein sind und häufig genug als verlängerte
sind wir nach wie vor entfernt. Werkbänke fungieren. Das heißt, sie sind letzten Endes
immer abhängig vom Wohlwollen der entsprechenden
Auch wenn die Zahlen des Arbeitsmarktes sich besser
Konzerne im Westen oder im Ausland. Hier müssen wir
darstellen, müssen wir ehrlicherweise zugeben, dass
andere Wege gehen.
viele dieser Jobs nach wie vor in Teilzeitbereichen und
Niedriglohnbereichen entstanden sind. Eine Konse- Gerade angesichts des demografischen Wandels und
quenz, die daraus resultiert – die Kollegin Wicklein hat des Wegzugs junger, hoch qualifizierter Leute müssen
das eben noch einmal angesprochen –, ist die niedrige wir neue Perspektiven bieten. Eine Perspektive kann
Kaufkraft in Deutschland. Ich habe es schon in meiner sein, diesen jungen, talentierten Menschen die Möglich-
letzten Rede gesagt: Die künftige Altersarmut in Ost- keit zu geben, sich selbstständig zu machen. Da gibt es
deutschland ist ein zentrales Problem. Diesem können viele Möglichkeiten für Existenzgründungen. Wir wer-
wir nicht nur mit dem Niedriglohnsektor, mit dem Argu- den dieses Thema und auch das Thema der Finanzierung
ment, dass dadurch Arbeit geschaffen wird, begegnen, von Existenzgründungen in den nächsten Jahren sehr
sondern wir müssen hier auch andere Akzente setzen. stark in diesem Haus vorantreiben. Wir werden da nicht
Aus unserer Sicht ist ganz klar: Wenn wir im Osten et- locker lassen. Aus unserer Sicht ist das einer der vielen
was schaffen wollen, dann müssen wir stärker in die Schlüssel, um die Probleme in Ostdeutschland zu lösen.
Köpfe, die Bildung und die innovativen Industrien sowie
die Produktionsbereiche, die tatsächlich gut bezahlte, an- Wenn wir über die Frage der Förderung in Ost-
gemessen bezahlte Jobs schaffen können, investieren. deutschland sprechen, dann kommen wir natürlich im-
mer wieder auf die Cluster-Diskussion zurück. Hier
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte ich einen neuen Aspekt in die Diskussion brin-
sowie bei Abgeordneten der SPD) gen. Das Max-Planck-Institut für Ökonomik mit Sitz in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6115
Peter Hettlich
(A) Jena hat in einem sehr interessanten Artikel in „Techno- gen dafür, in einer globalisierten Welt an Wettbewerbsfä- (C)
logy Review“ darauf hingewiesen, dass sich Cluster et- higkeit zu gewinnen und vorne mit dabei zu sein.
was anders entwickeln, als wir immer gedacht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Stephan Hilsberg [SPD]: Genau so ist es!)
Deswegen hat das Bundesforschungsministerium in
Sie lassen sich nicht unbedingt von außen beeinflussen, dieser Woche zu einer Konferenz mit dem Titel „Im
sondern sie sind sehr stark von inneren Impulsen abhän- Osten viel Neues“ eingeladen. Zu dieser Stunde treffen
gig. sich Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer in Ber-
lin, um gemeinsam zu beraten, wie man noch viel besser
Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Wir
die Forschung und Entwicklung zu einem Motor für den
müssen die endogenen Potenziale stärken; wir müssen
Aufbau Ost machen kann. Wir sind dankbar, dass sich
uns auf die jungen, talentierten Menschen konzentrieren.
gerade das Bundesforschungsministerium in diesem Pro-
Dann schaffen wir es möglicherweise, auch an anderen
zess an die Spitze gestellt hat und dieser Tage ein Memo-
Stellen neue Cluster zu bilden.
randum von Wirtschafts- und Wissenschaftsministern
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus den Bundesländern und von der Bundesforschungs-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ministerin unterzeichnet werden konnte. Man will diesen
der SPD) Prozess also gemeinsam auf den Weg bringen.
Ich werde im Anschluss an die Debatte zu der Veran- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
staltung „Im Osten viel Neues“ gehen. Es gibt dazu ei- neten der SPD)
nen Antrag der Koalitionsfraktionen. Da schmücken sich
Wir wissen, dass wir Exzellenz brauchen und nicht
einige vielleicht mit fremden Federn; wir haben jeden-
aus der Schwäche heraus handeln dürfen. Deswegen hat
falls an dem Projekt „Unternehmen Region“ mitgear-
das Bundesforschungsministerium vor einigen Jahren
beitet. Wir halten das für ein sehr gutes Projekt. Ich
die Programmfamilie „Unternehmen Region“ auf den
werde es mir jedenfalls anschauen. Frau Pieper, ich kann
Weg gebracht. Das Ziel ist, vorhandene Potenziale aus-
Ihnen nur empfehlen: Kommen Sie mit! Dann können
zubauen und sie zu Projekten mit Leuchtkraft zu entwi-
Sie auch noch etwas lernen!
ckeln, um zu einer wirklichen Exzellenz zu gelangen.
Danke schön.
Wir können heute, nach mehreren Jahren dieses Pro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zesses, sagen: Es ist gelungen. Auch wenn bei diesem
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Exzellenzwettbewerb vor wenigen Wochen nur Dresden
der SPD) erfolgreich war, so sieht man doch: Bei vielen hat nicht
(B) viel gefehlt, dann wären auch sie international mit dabei (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert: gewesen. Deshalb wollen wir schauen, dass dieser Pro-
Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist zess weiter forciert wird und dass dieser Wettbewerb in
der Kollege Michael Kretschmer. der nächsten Zeit für die neuen Länder positiv ausgeht.

(Beifall bei der CDU/CSU) Wir wissen, dass es Zeit braucht, bis diese Exzellenz
und das Potenzial an wissenschaftlichen Einrichtungen
auch von den Unternehmen in den Regionen genutzt
Michael Kretschmer (CDU/CSU): werden kann. Das ist das Problem. Wir haben keine Zeit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Auf- Wir haben aufzuholen. Die Arbeitslosigkeit ist – wie be-
bau Ost kann überall dort als gelungen bezeichnet wer- schrieben – viel zu hoch, als dass wir uns zurücklehnen
den, wo der Staat unmittelbar handeln konnte. Bei Schu- könnten. Deshalb ist „Unternehmen Region“ ein Mittel,
len, Krankenhäusern und beim Straßenbau sind die um diesen Prozess abzukürzen und die Unternehmen in
Erfolge offenkundig und unbestritten. Sorgen machen den Regionen schneller an diesen Innovationen teilhaben
uns der privatwirtschaftliche Bereich sowie die viel zu zu lassen.
geringe Zahl an Unternehmen und Arbeitsplätzen. Die
Koalition ist der Meinung, dass wir, um einen selbst tra- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
genden Aufschwung zu erreichen, die Innovationspolitik neten der SPD)
stärken und zu einem Herzstück der Aufbau-Ost-Strate- Wir werden bis zum Jahr 2008 insgesamt
gie weiterentwickeln müssen. 570 Millionen Euro für diesen Prozess ausgeben. Ein
Forschung und Entwicklung sind unserer Meinung Teil davon ist die Förderlinie Inno-Regio, bei der wir
nach die Motoren des Aufbaus Ost. Mit neuen Produkten schon heute sagen können, dass 7 500 Arbeitsplätze zu-
und Dienstleistungen gewinnen die neuen Länder schon sätzlich geschaffen worden sind. Es gibt 143 Neugrün-
heute im Wettbewerb. An vielen Stellen sind Erfolge dungen. Die Exportquote der beteiligten Unternehmen
sichtbar. In der Nanoelektronik, im Automobilbau und in ist um 30 Prozent gestiegen. Der Umsatz ist sogar um
der Automobilzuliefererindustrie sowie in der regenera- 50 Prozent gestiegen. Ich denke, das ist ein gutes Zei-
tiven Medizin oder der Biotechnologie liegen die neuen chen. Es zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Länder in der Forschung und Entwicklung nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU)
deutschlandweit, sondern auch international an der
Spitze. Das macht Mut. Denn Innovation und die Ein- Wir versuchen, die Kooperation von Universitäten
führung von neuen Technologien sind die Voraussetzun- und Fachhochschulen in den Regionen zu verstärken.
6116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Michael Kretschmer
(A) Deswegen haben wir ein aus meiner Sicht richtiges In- Im Bereich der Innovationsförderung sind in den (C)
strument eingeführt, nämlich die Forschungsprämie. letzten Jahren schon unter Rot-Grün verschiedene Pro-
Wir sind dabei, im Rahmen des Hochschulpakts zu orga- gramme und Maßnahmen umgesetzt worden, lieber Kol-
nisieren, dass die Studienkapazitäten in den neuen Bun- lege Hettlich. Stichworte sind die Programme „Unter-
desländern nicht abgebaut, sondern erhalten werden, so- nehmen Region“, „Inno-Regio“, „Inno-Profile“ und
dass auch Studierende aus den alten Bundesländern „Innovative regionale Wachstumskerne“ sowie die Zen-
zunehmend in die neuen Bundesländer kommen. Das ist tren für Innovationskompetenz usw. All diese Dinge ha-
eine große Chance für die innere Einheit und für das Zu- ben Ostdeutschland nach vorn gebracht. Es gibt gute Er-
sammenwachsen. Es ist aber auch eine große Chance für folge. Wir sind auf dem richtigen Weg. Die Menschen
die neuen Bundesländer; denn natürlich können wir mit sind auf dem richtigen Weg. Dies sollte aus parteitakti-
innovativen Produkten nur dann erfolgreich sein, wenn schen Gründen von der Opposition nicht kleingeredet
wir auch die klugen Köpfe und die jungen Wissenschaft- werden.
ler haben. Deshalb sollten wir alles daran setzen, dass
diese Kapazitäten erhalten bleiben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Gleichzeitig müssen wir aber auch der Versuchung
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
widerstehen, die Lage schönzureden. Deshalb bedanke
Ich bin der Bundesforschungsministerin dafür dank- ich mich ganz besonders für den Bericht der Bundesre-
bar, dass sie sich so sehr für dieses Ziel engagiert und gierung. Der Weg ist noch weit. Der Osten befindet sich
jetzt angekündigt hat, eine Imagekampagne für ein Stu- mitten in einem Aufholprozess. Die erste Auswahlrunde
dium in den neuen Bundesländern aufzulegen. Ich für Spitzenuniversitäten hat gezeigt, dass der Osten noch
glaube, dass dies eine gute Möglichkeit dafür ist, für die- nicht dort ist, wo er sein sollte.
sen Standort zu werben.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Wir haben
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in Ostdeutschland tolle Hochschulen und eine hervorra-
der SPD) gende Forschung und haben ermutigende Ergebnisse er-
zielt. Aber insgesamt ist diese Region noch nicht stark
Wir wissen, es bleibt viel zu tun. Wir sind nicht am genug.
Ende eines Prozesses, sondern wir sind maximal in der
Mitte. Dennoch: Das, was wir in den letzten 16 Jahren Da stoßen wir auf ein Problem. Wettbewerb in der
geschaffen haben, indem wir die kommunistische Miss- Wissenschaftspolitik ist als neues Steuerungsinstru-
und Planwirtschaft beseitigt haben, kann sich sehen las- ment richtig. Er belebt, bewegt und setzt Kräfte frei.
sen. Ich bin der festen Überzeugung: Die Wiedervereini- Aber natürlich muss auch entsprechende Wettbewerbsfä-
(B) gung war und ist eine gewaltige und beispiellose patrio- higkeit bestehen. Wettbewerb ist nur dann sinnvoll, (D)
tische Leistung der Deutschen füreinander. wenn die Teilnehmer mit Aussicht auf Erfolg konkurrie-
ren können.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Das macht mich stolz, auch wenn ich weiß, dass wir uns
damit nicht zufrieden geben können. Wir müssen weiter In der Forschung haben die westdeutschen Regionen ei-
an diesem Prozess arbeiten. Vor allem brauchen wir neue nen Vorsprung von Jahrzehnten. Einige Länder haben
Instrumente. Darüber sollten wir in den nächsten Wo- sich zudem traditionell eher auf die Forschung konzen-
chen und Monaten intensiv diskutieren, um neuen triert und die Lehre lieber anderen überlassen; darauf
Schwung in den Aufbau Ost zu bringen. werde ich noch zurückkommen.
Das bedeutet: Die politische Seite muss aufpassen. Je
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mehr Wettbewerb wir in diesem System erzeugen, desto
neten der SPD)
größer ist die Gefahr, dass sich Unterschiede manifestie-
ren,
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich erteile das Wort dem Kollegen Swen Schulz von
der SPD. dass der eine Teil dauerhaft abgehängt bleibt, statt aufzu-
holen. Das kann sich letztlich ganz Deutschland nicht
(Beifall bei der SPD) leisten. Es liegt im vitalen Interesse aller Bundesländer,
dass Ostdeutschland aufholt.
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer De- DIE GRÜNEN)
batte zum Stand der deutschen Einheit sprechen wir na-
türlich auch über Perspektiven. Das bedeutet, dass wir Das führt mich zum geplanten Hochschulpakt. Er hat
auch über Bildung und Forschung in Ostdeutschland zwei Komponenten: Die eine Komponente ist, dass für
sprechen. In den Vorlagen für diese Debatte kommt dies die Forschung eine so genannte Overheadfinanzierung
zur Geltung. Der Koalitionsantrag zur Innovationsförde- eingerichtet wird. Das hilft forschenden Hochschulen
rung nimmt das Thema sogar gesondert auf. und ist unbestritten sinnvoll. Das führt natürlich auch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6117
Swen Schulz (Spandau)
(A) dazu, dass wieder die bereits forschungsstarken Hoch- Vielen Dank. (C)
schulen einen größeren Teil vom Kuchen abbekommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die zweite Komponente des Hochschulpaktes ist, der CDU/CSU und der LINKEN)
dass Studienplätze finanziert werden sollen. Eine solche
Finanzierung benötigen wir in ganz Deutschland drin- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gend. Nun haben wir aber eine sehr differenzierte Situa- Das Wort hat nun der Kollege Volkmar Vogel, CDU/
tion im deutschen Hochschulwesen. Im Westen werden CSU-Fraktion.
die Studienplätze immer knapper, während die Bevölke-
rungsentwicklung in Ostdeutschland dazu führt, dass es (Beifall bei der CDU/CSU)
mehr Studienplätze als Studierende geben wird. Es darf
nicht passieren, dass diejenigen Länder, die sich um die Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU):
Lehre gekümmert haben und im Rahmen der Exzellenz- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
initiative durchfallen, kein Geld für Studienplätze erhal- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
ten, weil sie ja so viele davon haben, heutige Debatte belegt es mit aller Deutlichkeit: Der Jah-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) resbericht zur deutschen Einheit hat nichts an Bedeutung
und Notwendigkeit eingebüßt – auch heute nicht,
während diejenigen Länder, die zu wenig Studienplätze 17 Jahre, nachdem die Mauer fiel. Es ist ein schöner Tag
haben, doppelt belohnt werden und neben den Mitteln und ich freue mich immer wieder, wenn der
im Rahmen der Exzellenzinitiative auch noch Geld für 9. November naht; einen Tag vorher hat mein Vater Ge-
Studienplätze abgreifen. burtstag. Ich erinnere mich gerne an diesen Tag: An die-
sem Tag fiel die Mauer und seit diesem Tag geht es auf-
Man stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Ost- wärts im Lande.
deutschland geht beim Hochschulpakt leer aus und baut
Studienplätze ab, während sie im Südwesten der Repu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
blik teuer neu aufgebaut werden. Einen solchen Quatsch neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
sollten wir nicht mitmachen. SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aus den Beiträgen meiner Vorredner, derer, die sich
der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) zur deutschen Einheit bekennen und immer dafür ge-
kämpft haben, wird deutlich: Die Bedeutung dieses Be-
Dabei appelliere ich nicht nur an die Länder. Vielmehr richts wird sich in den nächsten Jahren wandeln. Es gibt
ist auch der Bund, sind Bundestag und Bundesregierung Regionen in den alten Bundesländern, die ähnliche
(B) gefragt. Strukturprobleme haben, wie wir sie gerade in den neuen (D)
Wir müssen die Menschen anregen, in den Osten zu Bundesländern meistern. Die Lösungen für die neuen
kommen. Darum ist es gut, dass in dem vorliegenden Länder können Lösungen für die Probleme in den alten
Antrag der Koalition deutlich gemacht wird, dass die Ländern sein; das wird in diesem Bericht deutlich.
ostdeutsche Hochschullandschaft gestärkt werden muss, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
einem Abbau von Studienplätzen entgegengewirkt wird
und sogar Anreize zum Ausbau und zur Verbesserung Bestes Beispiel dafür sind das Infrastrukturbeschleuni-
der Qualität der Lehre gesetzt werden sollen. gungsgesetz, die Ermöglichung des Abiturs nach zwölf
Schuljahren und Regelungen zwischen Arbeitgebern und
Studierende sind eine große Chance für Ostdeutsch- Arbeitnehmern, damit es in ihrem Betrieb weitergeht.
land. Doch gleichzeitig kosten Hochschulen bzw. gute,
attraktive Studienplätze Geld, das häufig nicht vorhan- Es geht nicht mehr nur um die neuen Bundesländer, es
den ist. Schaut man sich das Berlinurteil des Bundes- geht um unser ganzes Land. Darum ist dieser Bericht kein
verfassungsgerichts, wonach die Hauptstadt erst einmal Bericht zum Aufbau Ost, sondern – deshalb der Name –
ordentlich an der Wissenschaft sparen soll, einmal ge- ein Bericht zur deutschen Einheit. Er zeigt unstreitig die
nauer an, kommt man zu dem Ergebnis, dass das natür- Erfolge auf, die wir erzielt haben: die überproportionale
lich genau falsch ist. Wir müssen auf der politischen Steigerung der Wertschöpfung im verarbeitenden Ge-
Ebene andere Wege beschreiten. werbe und auch die hervorragende Infrastruktur in den
neuen Ländern, was keiner leugnen kann. Das ist doch
Da ich schon beim Bundesverfassungsgerichtsurteil Beleg dafür, dass viel erreicht worden ist.
und beim Thema Berlin bin, will ich als Berliner Abge-
ordneter etwas näher darauf eingehen. Die Lasten und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Anstrengungen Berlins sind in Karlsruhe nicht angemes- neten der SPD)
sen berücksichtigt worden. Die Menschen in den neuen Ländern können nicht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nur stolz sein; nein, sie sind stolz auf das, was erreicht
LINKEN) worden ist. Die Liebe zu ihrer Heimat prägt das wieder
gewonnene Selbstbewusstsein, das sich in den letzten
Die Klage ist abgewiesen worden; das ist nun einmal so. Jahren herausgebildet hat. Nichtsdestotrotz betrübt uns
Umso wichtiger ist es, dass wir alle überlegen, wie wir alle die nach wie vor zu hohe Arbeitslosigkeit, die Ab-
mit Berlin umgehen. Denn Berlin ist die Hauptstadt ganz wanderung aus den Regionen und die demografische
Deutschlands. Entwicklung. Daher muss alles, was zu Wachstum und
6118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Volkmar Uwe Vogel


(A) Beschäftigung führt, oberste Priorität haben. Es geht kann. Denken wir daher neben der richtigen und notwen- (C)
nicht darum, wie in den letzten Jahren leider geschehen, digen Förderung von Clustern in den innovativen Bran-
die Mängel immer besser zu verwalten. Nein, wir müs- chen auch an die Entwicklungspotenziale im ländlichen
sen unsere ganze Kraft daransetzen, diese Mängel ge- Raum. Nutzen wir sie künftig besser, gerade mit Blick
zielt zu beseitigen. Die Tendenz der letzten Monate be- auf die Entwicklung der Ballungsräume. Damit leisten
legt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. Die wir einen Beitrag gegen die Landflucht und gegen die
Arbeitslosenquote sinkt – wenn sie auch immer noch zu Abwanderung junger Menschen.
hoch ist – im Westen wie im Osten in gleicher Weise.
Ganz besonders wichtig ist, dass die Zahl der offenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Stellen steigt, und zwar auch im Osten. Das lässt hoffen. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hier greifen die Vorschläge der Koalition, spezielle re-
neten der SPD) gionale Stärken, einschließlich des Tourismus, zu för-
Die große Koalition steht für Kontinuität und vor al- dern.
lem für Planungssicherheit für die Menschen. Das belegt
auch der Ihnen vorliegende Entschließungsantrag. Der Präsident Dr. Norbert Lammert:
Strukturwandel ist noch nicht abgeschlossen. Ihn auf ho- Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
hem Niveau weiter zu fördern, bleibt unser erklärtes
Ziel. Es ist richtig und wichtig, dass der Solidarpakt bis
Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU):
zum Jahr 2019 für die neuen Länder das entscheidende
Instrument ist. Ich möchte es noch einmal betonen: Ja, Herr Präsident. – Darunter fällt auch die verstärkte
156 Milliarden Euro bedeuten eine enorme Anstrengung Förderung kleinteiliger, aber krisenfester mittelständi-
unseres Landes. – Angesichts dessen müssen wir uns scher Unternehmen und Handwerksbetriebe. Dazu ge-
nicht verstecken. Vielmehr danken wir dafür, dass diese hört aus meiner Sicht auch die Landwirtschaft, die sich
Mittel zur Verfügung gestellt werden. in den nächsten Jahren verändern wird. Sie ist Wirt-
schaftsfaktor und Teil der Wirtschaft. Aufgrund der
Der Jahresbericht ist auch eine Art Halbzeitbilanz. Potenziale der Landwirtschaft im Bereich der nachwach-
Nach 16 Jahren gibt es nicht mehr die neuen Länder. Ich senden Rohstoffe werden die Landwirte zu Energiewir-
bin auch kein „Neuer Länderer“, sondern Thüringer; ten und Werkstofflieferanten. Landwirte werden ebenso
darauf bin ich stolz. wie die Beschäftigten in allen anderen Bereichen eine
hohe Qualifikation brauchen. Deswegen kann ich mich
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nur den Worten meiner Kollegen Katherina Reiche und (D)
(B)
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Michael Kretschmer anschließen: Bildung wird in den
DIE GRÜNEN) nächsten Jahren ein Schwerpunktthema, gerade auch in
den neuen Ländern, sein.
Wir haben fünf neue Bundesländer, die sich eigenständig
entwickelt und ihren eigenen Weg, weg vom kommunis- Bei der Infrastruktur sind wir auf gutem Wege.
tischen Zentralstaat, gefunden haben. Jedes Bundesland
hat seine spezifischen Stärken, aber auch seine spezifi- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schen Schwächen und Defizite. Die besonderen Bedin- Herr Kollege, die werden Sie jetzt aber nicht mehr er-
gungen jedes einzelnen Bundeslandes gilt es bei den der- läutern können.
zeitigen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
über die Verwendung der Mittel aus dem Korb II des So- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
zialpakts zu berücksichtigen. Das entbindet die Länder Manfred Grund [CDU/CSU]: Lass dich nicht
natürlich nicht von ihrer Verantwortung, mit diesen Mit- vertreiben! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/
teln sorgsam umzugehen und damit für Wachstum, Be- CSU]: Wir wollen ihn hören!)
schäftigung und Wirtschaftskraft zu sorgen. Wir müssen
aber begreifen, dass sich in den jeweiligen Ländern nach Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU):
16 Jahren ganz unterschiedliche Entwicklungspotenziale
Wir dürfen nicht nachlassen, damit wir das Notwen-
und -konzepte herausgebildet haben. Wir sehen hoch
dige erreichen. In Zukunft kommt es darauf an, gerade
entwickelte Wachstumskerne und funktionierende länd-
im Bereich Bildung mehr zu investieren und sie den spe-
liche Räume, ebenso aber leider immer noch Industrie-
zifischen Bedingungen der neuen Länder anzupassen.
brachen und strukturschwache Regionen. Ein Wachs-
tumskern – um einen Vergleich zu verwenden – braucht Vielen Dank.
natürlich auch eine gesunde Schale. Die Schwerpunkt-
förderung von Wachstumskernen und von regional spe- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
zifischen Stärken ist daher in unserer Förderstrategie
festzuschreiben. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Gestatten Sie mir noch einen Vergleich: Ein starker Kollege Stephan Hilsberg, SPD-Fraktion.
Baum kann nicht ständig mit Dünger versorgt werden.
Er braucht auch ein starkes Umfeld, in das er seine Wur- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
zeln treiben kann und aus dem er Nährstoffe ziehen Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6119

(A) Stephan Hilsberg (SPD): Menschen in Ostdeutschland ihre Situation als be- (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- drückend empfinden. Es ist bedrückend, dass die Ar-
ren! Am Ende dieser Debatte sprechend ist es wichtig, so beitslosigkeit nach wie vor doppelt so hoch ist. Es ist be-
glaube ich, hervorzuheben, dass wir zu Recht über viele drückend, wenn sich so viele Menschen sozial
Leistungen gesprochen haben, die im Zuge der deut- ausgegrenzt fühlen. Darum müssen wir uns kümmern
schen Einheit von dieser Regierungsbank aus von allen und darum kümmern wir uns auch. Deshalb ist es wich-
Regierungen getätigt wurden, auch wenn manche Fehler tig hervorzuheben, dass, um aus dieser Situation heraus-
zu beklagen waren. Vor allen Dingen ist aber festzuhal- zukommen, Fördermittel eine notwendige Vorausset-
ten, dass die Erfolge der deutschen Einheit zuallererst zung sind, aber keine hinreichende. Probleme können
auf der gesamtdeutschen Solidarität und der Leistungsfä- wir administrieren, wir können viele Rahmenbedingun-
higkeit der Menschen in Ostdeutschland beruhen. gen schaffen. Doch Mut, Selbstvertrauen, Kreativität
kann Politik nur anregen, sie kann sie nicht verordnen,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie sie kann sie nicht in Gesetze schreiben. Diese Eigen-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- schaften sind das Wichtigste, was man braucht. Die
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Menschen selbst sind es, von denen die Kraft ausgehen
muss. Wir haben heute die Gelegenheit, an die Men-
Frau Pieper, die Erfolge beruhen nicht auf dem, was
schen zu appellieren, und nutzen sie. Doch es sind noch
Sie hier vorgetragen haben. Das war billiger Populis-
immer zu wenige, die die Chancen nutzen.
mus; auch das muss gesagt werden. Ich habe gedacht,
man müsste die FDP umbenennen in „Frivoler Deut- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
scher Populismus“. Das wäre angemessen.
Ich möchte daran erinnern: Von allen ehemaligen
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) COMECON-Ländern haben wir in Ostdeutschland heute
den höchsten Lebensstandard. Das ist sehr schön und ein
Herr Bisky, zur Ostalgie, die in Ihrer Rede zum Aus- großer Erfolg. Wir haben heute in Ostdeutschland die
druck kam: In Ostdeutschland kann man natürlich höchste Produktivität aller ehemaligen Warschauer-Ver-
manch ein Gefühl wecken, wenn man an die scheinbar trag-Staaten. Doch die Messlatte für die Produktivität,
so einfache Finanzierung des ostdeutschen Gesund- dafür, dass die Betriebe existenz- und wettbewerbsfähig
heitswesens erinnert. „Die Wahrheit ist konkret“, sagt sind, liegt nirgendwo so hoch wie in Ostdeutschland.
Lenin, Herr Bisky. Ich kann mich noch gut daran erin- Deswegen reicht es nicht, nur eine nachholende Moder-
nern, dass meine Tochter trotz exquisiter Behandlung nisierung zu machen.
fast gestorben wäre, wenn wir nicht ein Medikament aus
Westberlin erhalten hätten. Solidarität gibt es eben nicht
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) erst jetzt; es gab sie auch zu Zeiten der Mauer. Das hatte Herr Kollege! (D)
mit der Leistungsfähigkeit der Ärzte nichts zu tun.
Soll ich daran erinnern, dass eine der bekanntesten Stephan Hilsberg (SPD):
Schriftstellerinnen Ostdeutschlands kurz vor Ende der Wir müssen in Ostdeutschland Menschen, Betriebe,
DDR, noch zu Mauerzeiten, fast vergiftet worden wäre, Wissenschaftseinrichtungen haben, die sich zum Schritt-
weil das Bezirkskrankenhaus nicht in der Lage war, anti- macher der Modernisierung machen, die selber Wege ge-
septische Wäsche und Mullbinden zu organisieren? Das hen und Lösungen suchen, die es in ganz Deutschland
war die Realität zu DDR-Zeiten. noch nicht gegeben hat. Nur so werden wir die Probleme
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der lösen.
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
SES 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
Wenn wir heute erfreulicherweise zu verzeichnen ha- DIE GRÜNEN)
ben, dass die Lebenserwartung in Ostdeutschland gra-
vierend gestiegen ist, und zwar nicht, wie im Westen, in Präsident Dr. Norbert Lammert:
normalem Maße, sondern gewaltig, dann müssen wir Herr Kollege!
feststellen, dass das kein Ergebnis des DDR-Gesund-
heitswesens ist, sondern eine Folge der deutschen Ein- Stephan Hilsberg (SPD):
heit und der Leistungsfähigkeit dieses Landes. Das gilt Das ist mein letzter Punkt; gestatten Sie mir das noch! –
es bei allem, was passiert ist, hervorzuheben. Dazu gehört, dass man sich der Werte, die dem zugrunde
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie liegen – Freiheit, Toleranz, Selbstvertrauen, Zivilcourage –,
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ bewusst sein muss, dass man sie ehren muss, nicht nur
DIE GRÜNEN) heute, sondern auch mit Blick auf diejenigen, die ihre
Haut unter DDR-Bedingungen zu Markte getragen ha-
Wir müssen in diesem Zusammenhang zwar über Pro- ben. Deswegen sehen wir uns verpflichtet, für eine ange-
bleme reden, man muss an dieser Stelle aber auch sagen, messene Würdigung aller Opfer der SED-Diktatur ein-
dass vieles geleistet wurde und dass nicht alles so ein- zutreten. Das gehört zur deutschen Einheit dazu.
fach ist, wie es die DDR vorgegaukelt hat.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Es geht uns nicht nur um Erfolge und wir reden die bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
Probleme nicht schön. Es ist bedrückend, wenn so viele NISSES 90/DIE GRÜNEN)
6120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Stephan Hilsberg
(A) Wir werden nicht zulassen, dass es hier zu einem Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3310 (C)
Schlussstrich unter die DDR-Vergangenheit kommt. Wir soll an dieselben Ausschüsse wie der Jahresbericht der
werden diese Diskussion weiterführen und weiter er- Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2006
möglichen. Denn Zukunftsgestaltung und die Würdi- überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –
gung der Vergangenheit sind zwei Seiten ein und dersel- Das sieht ganz so aus. Dann sind die Überweisungen so
ben Medaille. beschlossen.
Herr Bisky, man mag bedauern, dass Sie hier sitzen; Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 3 d zur
aber Wahlergebnisse sind Wahlergebnisse. Einen kon- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau
struktiven Beitrag haben Sie nicht geleistet. Ihre letzte und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/1200. Unter
Äußerung, Sie seien im eigentlichen Sinne die Partei der Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
deutschen Einheit, das war der schönste Witz! schuss in Kenntnis des Jahresberichts der Bundesregie-
rung zum Stand der deutschen Einheit 2005 auf Druck-
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – sache 15/6000 die Annahme des Entschließungsantrags
Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist eine der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
Provokation!) che 16/650. Hierzu liegt mir eine Erklärung des Kolle-
Was von Ihnen kommt, ist nur Populismus, etwa Ihr An- gen Carsten Müller nach § 31 unserer Geschäftsordnung
trag, die Regierung möge komplett nach Berlin umzie- vor1). Wer stimmt für die gerade genannte Beschluss-
hen. Der nützt uns doch nur dann, wenn wir ihn mit empfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt dagegen? –
Verwaltungsmodernisierung verbinden, wie mit dem Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfeh-
Bundesamt für Justiz geschehen. Auf diesem Weg gehen lung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ange-
wir weiter. nommen.

Die neuen Einrichtungen, um die es geht, die Bundes- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
stiftung „Baukultur“, die nach Potsdam gekommen ist – – der Ausschuss in Kenntnis des genannten Jahresberichts
die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/693. Wer stimmt für diese
Präsident Dr. Norbert Lammert: Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
Herr Kollege Hilsberg! enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Stephan Hilsberg (SPD): Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
Auf diesem Weg werden wir weitergehen, im Großen ner Beschlussempfehlung in Kenntnis des genannten
(B) wie im Kleinen. Jahresberichts die Ablehnung des Entschließungsantrags (D)
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/692. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Beschluss-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ empfehlung ist mehrheitlich angenommen.
DIE GRÜNEN)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis d auf:
Präsident Dr. Norbert Lammert: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Ich schließe die Aussprache. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
richtung des Deutschen Ethikrats (Ethikratge-
Die überragende Bedeutung, die der Deutsche Bun- setz – EthRG)
destag und auch das amtierende Präsidium der Behand-
lung dieses Themas unverändert beimisst, wird auch da- – Drucksache 16/2856 –
ran deutlich, dass aus der vereinbarten 90-minütigen Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Debatte eine zweistündige Debatte geworden ist. Wir Technikfolgenabschätzung (f)
alle sind uns einig, dass noch vieles hätte vorgetragen Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
werden können, vielleicht auch müssen. Das wird bei der Geschäftsordnung
weiteren Beschäftigung mit den der Debatte zugrunde Rechtsausschuss
liegenden Unterlagen gewiss erfolgen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen b) Beratung des Antrags der Fraktion des BÜND-
auf den Drucksachen 16/2870, 16/313 und 16/3284 an NISSES 90/DIE GRÜNEN
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deut-
schen Bundestages
Die Vorlage auf Drucksache 16/3294 zu Tages-
ordnungspunkt 3 b soll zur federführenden Beratung an – Drucksache 16/3199 –
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- Überweisungsvorschlag:
genabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und
für Wirtschaft und Technologie, an den Ausschuss für Technikfolgenabschätzung (f)
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie an den Haus-
haltsausschuss überwiesen werden. 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6121
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) (C)
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss Namens der Bundesregierung lege ich Ihnen heute
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung des Deut-
Ausschuss für Gesundheit
schen Ethikrats vor. Sein Themenspektrum resultiert aus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael der dynamischen Entwicklung der Lebenswissenschaf-
Kauch, Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer Ab- ten und der Anwendung ihrer Verfahren und Ergebnisse
geordneter und der Fraktion der FDP auf den Menschen. Damit sind Grundfragen betroffen,
bei denen es letztlich um unsere Pflicht zum Schutz des
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats menschlichen Lebens geht und die auf unserer Überzeu-
für Bio- und Medizinethik gung hinsichtlich der Unantastbarkeit und Unverwirk-
– Drucksache 16/3289 – barkeit der Menschenwürde basieren, die allem politi-
schen Handeln vorgelagert ist.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Die Freiheit der Forschung findet ihre Grenze genau
Technikfolgenabschätzung (f) dort, nämlich bei der Achtung vor der Unantastbarkeit
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung der Menschenwürde. Weil sich die Lebenswissenschaf-
Rechtsausschuss ten so dynamisch entwickeln und angesichts zunehmen-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Möglichkeiten – zum Beispiel durch medizinisch-
Ausschuss für Gesundheit technische Eingriffsmöglichkeiten auf menschliches Le-
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja ben – werden wir in den kommenden Jahren wie in der
Seifert, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Vergangenheit auch herausgefordert sein, die Schutz-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- funktion wahrzunehmen, die dem Gesetzgeber aufgege-
KEN ben ist.

Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deut- In diesem Zusammenhang kann von uns erwartet
schen Bundestages werden, dass wir unsere Aufgabe sachkundig wahrneh-
men und dass allen Abgeordneten des Deutschen Bun-
– Drucksache 16/3277 – destages und allen Mitgliedern der Bundesregierung der
Überweisungsvorschlag: gleiche Zugang zum entsprechenden Sachverstand er-
Ausschuss für Bildung, Forschung und möglicht wird. Uns Zugang zu diversem Sachverstand in
Technikfolgenabschätzung (f) naturwissenschaftlich-medizinischer, ethischer, rechtli-
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
cher und sozialwissenschaftlicher Hinsicht zu ermögli-
(B) Rechtsausschuss chen, ist Sinn und Zweck des deutschen Ethikrats. Daher (D)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend soll ein Gremium eingerichtet werden, das unabhängig
Ausschuss für Gesundheit und in voller Souveränität gegenüber dem Parlament und
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für der Regierung arbeitet.
die Aussprache erneut eineinhalb Stunden vorgesehen. – Für das Verhältnis zwischen dem Deutschen Bundes-
Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be- tag und der Bundesregierung einerseits und dem Deut-
schlossen. schen Ethikrat andererseits ist der Respekt vor der wech-
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für selseitigen Souveränität zentral bedeutsam: der
die Bundesregierung der Bundesministerin Dr. Annette Respekt des Parlaments und der Regierung vor dem
Schavan das Wort. Deutschen Ethikrat und der Respekt des Ethikrats gegen-
über dem Parlament und der Regierung. Deshalb schla-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- gen wir vor, ein reines Expertengremium einzusetzen,
wie der Abg. Petra Ernstberger [SPD]) das die jeweils eigene Verantwortung deutlich werden
lässt. Der Ethikrat kann dem Parlament und der Regie-
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- rung die Debatten und Prozesse der Entscheidungsfin-
dung und Forschung: dung nicht abnehmen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die ethische neten der SPD – Zuruf von der SPD: Das soll
Urteilsbildung ist Teil politischer Entscheidungspro- er ja auch nicht!)
zesse.
Umgekehrt muss der Ethikrat in seinen Beratungen
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) frei und souverän sein. Sie sind allen Parlamentsdebatten
vorgelagert. Das Parlament entscheidet frei, wie es mit
Uns, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und
den Ratschlägen des Ethikrates umgeht. Deshalb halte
den Mitgliedern der Bundesregierung, kann es niemand
ich eine Vermischung der Mitgliedschaften für nicht
abnehmen, uns gewissenhaft um eine ethische Urteils-
richtig.
findung zu bemühen und politische Entscheidungen ver-
antwortungsbewusst zu treffen. Das ist unser Königs- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
recht. Umso bedeutsamer ist es, dass wir den NEN]: Ja, ja! Weil sie lästig sind! Deshalb
Sachverstand von Experten nutzen. Auch das gehört zu wollen Sie das nicht! Abgeordnete sind Ihnen
unserer Verantwortung. lästig!)
6122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) Niemand von uns kann die eigenen Prozesse zur Bildung Die Struktur des Deutschen Ethikrates, die wir in un- (C)
eines ethischen Urteils an wenige andere delegieren. An- serem Gesetzentwurf vorschlagen, entspricht internatio-
ders gesagt: Dies ist unser Königsrecht als Abgeordnete; naler Praxis. Das gilt vor allem mit Blick auf unsere eu-
bei diesem Thema können wir – anders als bei Fragen ropäischen Nachbarn. Es ist wichtig, dass auch
der Finanz-, der Familien- oder der Forschungspolitik – Deutschland an diesem auf europäischer bzw. internatio-
nicht jemand anderen beauftragen, sich für uns kundig naler Ebene geführten Dialog über ethische Fragen in
zu machen und unsere Entscheidungen vorzubereiten. den Lebenswissenschaften teilnimmt.
Das muss jeder von uns selbst leisten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU) Der Deutsche Ethikrat erarbeitet seine Stellungnah-
men im Auftrag des Bundestages oder der Bundesregie-
In Fragen der Ethik sind wir alle gleichermaßen und
rung und aufgrund eigener Beschlüsse und Entscheidun-
unterschiedslos gefragt. Jede und jeder von uns ist Ex-
gen. Auch das sichert seine Unabhängigkeit.
perte in ethischen Fragen, weil sie Teil der politischen
Entscheidungsfindung sind. Allerdings halte ich es für Wesentlich und konstituierend für den Deutschen
notwendig, dass der Ethikrat durch Beschluss des Parla- Ethikrat ist, dass seine Mitglieder unabhängig von staat-
mentes eine Legitimation erhält. Kritik im Hinblick auf licher Einflussnahme sind. Nur so können sie Entschei-
die Legitimation haben wir bereits im Zusammenhang dungen treffen, die sie nur vor ihrem Gewissen verant-
mit der Gründung des Nationalen Ethikrates durch die worten müssen. Das verbindet die Mitglieder des
Vorgängerregierung bzw. den vormaligen Bundeskanzler Deutschen Ethikrates mit den Mitgliedern des Deutschen
geübt, eine Kritik, die übrigens quer durch alle Parteien Bundestages und der Regierung: Sie sind in ethischen
geäußert wurde. Fragen ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich.
Deshalb wollen wir die Schaffung einer gesetzlichen (Jörg Tauss [SPD]: Wie Abgeordnete!)
Grundlage für die Einrichtung des Deutschen Ethikrates – Genau das sagte ich in diesem Satz, sehr verehrter Kol-
und seine Anbindung beim Präsidenten des Deutschen lege Tauss.
Bundestags. Die Struktur des Deutschen Ethikrates ent-
spricht seinen Aufgaben als einem Gremium der unab- (Jörg Tauss [SPD]: Das war kein Widerspruch,
hängigen wissenschaftlichen Beratung. Die Zusammen- sondern Unterstützung!)
setzung stellt sicher, dass in ihm ein interdisziplinäres, – Vielen Dank. – Aus diesem Grund gibt es im Gesetz-
plurales Spektrum sowie unterschiedliche weltanschauli- entwurf nur wenige gesetzliche Vorgaben über die Ar-
che Ansätze vertreten sind. Durch die Zahl seiner Mit- beitsweise.
(B) glieder wird einerseits ein ausreichend breites Spektrum (D)
an Fachdisziplinen und Meinungen ermöglicht, anderer- Der Deutsche Ethikrat wird seine Entscheidungen als
seits aber auch die Arbeitsfähigkeit des Gremiums ge- unabhängiges Sachverständigengremium nur dann
währleistet. glaubwürdig gegenüber der Öffentlichkeit vertreten kön-
nen, wenn Parlament und Regierung als diejenigen, die
Die gesetzlichen Regelungen beschränken sich be- beraten werden, nicht gleichzeitig die Berater sind. Diese
wusst auf Kernelemente. Insbesondere die interne Orga- beiden Rollen in dem Gremium zusammenbringen zu
nisation des Benennungsverfahrens, aber auch die Orga- wollen, halte ich für falsch.
nisation der parlamentarischen Entscheidungsfindung
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sehr richtig!)
über Aufträge an den Deutschen Ethikrat wird der Bun-
destag selbst regeln. Das ist gemeint, wenn ich von wechselseitigem Respekt
vor der jeweiligen Unabhängigkeit beider Partner in
Im vorliegenden Gesetzentwurf sind die Aufgaben ethischen Fragen der Lebenswissenschaften rede.
des Deutschen Ethikrates beschrieben: Er berät sowohl
Bundestag als auch Bundesregierung. Er beschäftigt sich (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mit den naturwissenschaftlichen, medizinischen, ethi- NEN]: Schafft doch die Enquete-Kommission
schen, gesellschaftlichen und rechtlichen Fragen, die einfach ab!)
sich im Zusammenhang mit der Forschung, mit den Ent- Die Veröffentlichung der Stellungnahmen, Empfeh-
wicklungen bei den Lebenswissenschaften und mit der lungen und Berichte gewährleistet die Information von
Anwendung dieser Ergebnisse auf den Menschen erge- Öffentlichkeit, Regierung und Parlament. In diesen Stel-
ben. lungnahmen können – wie bislang übrigens auch – ab-
weichende Auffassungen einzelner Mitglieder aufge-
Der Deutsche Ethikrat informiert die Öffentlichkeit
führt werden. Das macht das Beratungsergebnis nach
und fördert den gesellschaftlichen Diskurs als zentrales
außen transparent.
nationales Forum. Um den Diskurs zu fördern, kann der
Deutsche Ethikrat öffentliche Veranstaltungen und An- Mit dem Deutschen Ethikrat wollen wir auf gesetzli-
hörungen durchführen. Er ist dabei an keine vorgege- cher Grundlage ein ständiges und unabhängiges Sach-
bene Form gebunden, sondern kann sich verschiedener verständigengremium zur wissenschaftsgeleiteten Poli-
Methoden und Instrumente bedienen. Der Deutsche tikberatung und zur Strukturierung des öffentlichen
Ethikrat erarbeitet Stellungnahmen und Empfehlungen Diskurses einrichten. Das ist letztlich ein Baustein, auf
für Politik und Gesetzgeber und arbeitet mit vergleichba- den wir nach meiner Überzeugung künftig öfter zurück-
ren Gremien auf internationaler Ebene zusammen. greifen sollten, um in wichtigen politischen Fragen, die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6123
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) die Zukunft unseres Landes betreffen, stärker den wis- Mit dem Deutschen Ethikrat werden wir ein Instru- (C)
senschaftlichen Sachverstand zu nutzen. ment der modernen Politikberatung an die Hand be-
kommen, dessen wir uns aber verantwortungsvoll bedie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nen müssen. Im Ethikrat selbst ist unsere Mitarbeit als
der SPD)
Parlamentarier – das ist unsere feste Überzeugung – we-
Der Deutsche Ethikrat soll die Bundesregierung und nig sinnvoll. Wir müssen uns nicht selbst Empfehlungen
den Bundestag beraten. Wir sichern mit dem Gesetz eine aussprechen. Wir müssen uns nicht selbst beraten; das
breite demokratische Grundlage für ein unabhängiges hat die Ministerin eben richtig ausgeführt. Wir müssen
Beratungsgremium, das den bioethischen Diskurs in der vielmehr über die gegebenen Empfehlungen entschei-
Gesellschaft auf hohem Niveau begleitet und am interna- den. Genau an dieser Stelle setzt unser Vorschlag an, ei-
tionalen bioethischen Diskurs beteiligt ist. nen parlamentarischen Beirat für Bio- und Medizin-
Die Unterscheidung zwischen Expertenberatung ei- ethik einzurichten. Ein solcher Beirat aus Abgeordneten
nerseits und den Debatten und der Entscheidungsfindung des Bundestages kann aus unserer Sicht die Ansprüche,
in Parlament und Regierung andererseits ist konstitutiv die die Ministerin in ihren Ausführungen eben formuliert
für den vorliegenden Vorschlag. Ich bitte Sie deshalb hat, sehr gut erfüllen sowie die bio- und medizinethische
herzlich um Ihre Unterstützung für diese Grundlage zur Debatte vorantreiben. Mit dem Ethikrat als Beratungs-
Einrichtung eines Deutschen Ethikrates. gremium und dem parlamentarischen Beirat haben wir
eine klare Trennung zwischen Politikberatung und de-
Vielen Dank. mokratischem Zustandekommen von wichtigen und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- grundsätzlichen Entscheidungen. Herr Kollege Tauss,
neten der SPD) ich glaube, dafür muss der Gesetzentwurf nicht geändert
werden. Wir müssen hier vielmehr entscheiden, wie wir
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den Beirat konstituieren und mit welchen Befugnissen
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Barth für die wir ihn ausstatten. Auch Sie, Herr Tauss, hielten in den
FDP-Fraktion. letzten Tagen einen solchen Beirat für durchaus denkbar.
(Beifall bei der FDP) (Jörg Tauss [SPD]: Ich habe das Urheberrecht
auf ihn!)
Uwe Barth (FDP): – Wir sollten an dieser Stelle nicht über das Urheberrecht
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! streiten. Hier geht es um die Sache.
Mit dem von der Ministerin vorgestellten Gesetzentwurf
schlägt die Bundesregierung die Schaffung eines Deut- Da wir uns, wie gesagt, nicht selbst beraten müssen,
(B) schen Ethikrates als unabhängiges Beratungsgremium ist aus unserer Sicht die Mitarbeit von Abgeordneten im (D)
für Parlament und Regierung vor. Wir als Liberale ste- Ethikrat nicht notwendig. Herr Tauss, machen Sie doch
hen diesem Vorhaben grundsätzlich sehr positiv gegen- bitte Ihren Einfluss in den Koalitionsfraktionen geltend
über. Wichtig für diese Einschätzung ist für uns vor al- und überzeugen Sie die Kolleginnen und Kollegen von
lem die Regelung, dass die Hälfte der Mitglieder des der Richtigkeit unseres Vorschlages, einen solchen parla-
Ethikrates vom Parlament berufen wird, wodurch der mentarischen Beirat einzurichten.
Rat im Gegensatz zu seinem Vorgängergremium durch-
aus eine parlamentarische und demokratische Legitima- (Beifall bei der FDP)
tion erhält. Das ist für uns ein entscheidender Punkt. Sie haben dann sicherlich auch Kolleginnen und Kolle-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen von der Union auf Ihrer Seite, die – wie Frau Aigner
der CDU/CSU) beispielsweise – zwar keinen Änderungsbedarf beim Ge-
setzentwurf sehen, sich aber einen parlamentarischen
Das bedeutet aber auch, dass das Parlament aus unse- Beirat durchaus vorstellen können.
rer Sicht kein Parallelgremium braucht. Der Ethikrat be-
setzt den Platz eines Beratungsgremiums für Parlament Lassen Sie uns am Anfang dieser Debatte, die wir
und Regierung. Er ist eben kein Expertengremium, das fraktionsübergreifend und im Konsens führen müssen,
hinter verschlossenen Türen tagt, wie es von Kollegen weil es um ethische Fragen geht, ein Zeichen setzen, dass
der Linken, der Grünen, aber auch der SPD in letzter es nicht um Regierung gegen Koalition geht, sondern da-
Zeit gelegentlich formuliert wurde. rum, einen parteiübergreifenden Konsens zu finden. Ich
lade Sie in diesem Sinne herzlich ein, einen interfraktio-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Es soll nicht öffentlich sein! Das nellen Antrag auf Einrichtung eines parlamentarischen
steht im Gesetzentwurf! – Britta Haßelmann Beirats zu erarbeiten.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er tagt doch Herzlichen Dank.
nicht öffentlich!)
(Beifall bei der FDP)
Der Ethikrat kann trotzdem die qualifizierte parla-
mentarische Debatte nicht ersetzen. Das sage ich sehr
deutlich in Richtung meines verehrten Kollegen Röspel, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
der leider heute nicht hier sein kann. Ich wünsche ihm an Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die
dieser Stelle gute Besserung! SPD-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD)
6124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Jörg Tauss (SPD): Aus diesem Grunde halte ich es für richtig, dass wir uns (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr über eine sinnvolle Weiterentwicklung auf dem Hinter-
Präsident! Wir sind heute sozusagen mit Prominenz in grund der Erfahrungen, die wir sowohl mit Enquete-
Doppelfunktion besetzt. Ich freue mich, Herr Präsident, Kommissionen hier im Deutschen Bundestag als auch
dass Sie das Wort in dieser Debatte ergreifen wollen. mit der Arbeit des Nationalen Ethikrates, wie er damals
Lieber Herr Kollege Barth, recht herzlichen Dank für die unter Bundeskanzler Schröder eingerichtet worden war,
freundlichen Grüße an die Adresse unseres Kollegen unterhalten. Das Verfahren ist damals von der Opposition
Röspel, der lieber hier wäre, als sich mit fürchterlichen – nicht in allen Punkten zu Unrecht – kritisiert worden.
Schmerzen im Kreuz zu plagen. Aber so ist es nun ein- Auch wir hatten unter uns Diskussionen darüber, wo die
mal. Kommission angesiedelt sein sollte, ob beim Parlament
oder anderswo. Damals aber hat sich die Bundesregie-
René Röspel muss man an dieser Stelle jedenfalls rung so entschieden.
Dank sagen. Er hat zusammen mit der Enquete-Kom-
mission, der er vorgesessen hat, hervorragende Arbeit Es soll uns Beratung zuteil werden und es geht darum,
geleistet. Ich glaube, die Arbeit dieser Enquete-Kommis- die Beratung von Bundesregierung und Bundestag zu
sion hat den Deutschen Bundestag geehrt. Kollege Rös- höchst sensiblen ethischen Fragen zu gewährleisten. Da-
pel hat wichtige Impulse gegeben. An dieser Stelle ist bei soll einerseits größtmögliche Interdisziplinarität,
daher Dank für die Ethikkommissionen angemessen. also die Zusammenarbeit vieler verschiedener Fachrich-
tungen in diesem Gremium, andererseits aber auch die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hinreichende und angemessene Repräsentanz einer plu-
der CDU/CSU und der FDP)
ralistischen Gesellschaft sichergestellt werden. Ich will
In ethischen Grundsatzfragen hat dieses Haus nicht nur es überspitzt sagen: Ethische Fragen können wir nicht al-
große Erfahrung, sondern auch eine ausgesprochen hohe lein mit Kirchen diskutieren, aber ich kann mir in kei-
Diskussionskultur entwickelt. Ich erinnere an die Debat- nem Falle einen Ethikrat ohne Kirchen vorstellen. Das
ten in der jüngeren Vergangenheit, beispielsweise über ist Teil des Pluralismus, von dem ich rede.
Fragen der Patientenverfügung, den Hirntod, die Organ-
spende oder die Forschung an embryonalen Stammzellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Wenn ich mein bisheriges parlamentarisches Leben Re- CDU/CSU)
vue passieren lasse – das sind immerhin zwölf Jahre –, Die qualifikatorische Breite des Ethikrats muss sicherge-
dann muss ich sagen, dass es Sternstunden des Parlamen- stellt werden. Der Bundestag hat zusammen mit der Re-
tarismus waren, wie wir hierüber diskutiert haben und ge- gierung die wichtige Aufgabe, an der Zusammensetzung
meinsam um Lösungen gerungen haben und zu Lösungen des Gremiums mitzuwirken. Wir wollen keine frei
(B) – zum Teil fraktionsübergreifend – gekommen sind. schwebende Plattform für akademische Diskurse. Dies (D)
Wir hatten eine sehr diskursive Auseinandersetzung war in der Vergangenheit nicht so und wird sicherlich
im Sinne des Streits um das beste Argument. Aber um auch künftig nicht so sein.
solche Fragen geht es heute nicht. Ich habe mich gewun- In den letzten Tagen und Wochen haben wir viele
dert, dass es im Vorfeld die eine oder andere Aufregung, Briefe in unsere Abgeordnetenbüros bekommen. Wir
ausgelöst durch bestimmte Tickermeldungen, gab. Die werden oft genug kritisiert, manchmal zu Recht, aber
Bundesregierung hat heute – die Ministerin hat es bereits nicht immer. Auch ein Parlament darf kritisiert werden
angesprochen – einen Gesetzentwurf eingebracht, in und unter öffentlichem Beschuss stehen, aber manche
dem uns, dem Parlament, ein Vorschlag gemacht wird, Kritik hat der Bundestag nicht verdient – hier aber keine
wie künftig eine sach- und fachkundige Beratung von Kritik, sondern der Ausdruck hohen Vertrauens in die
Regierung, Parlament und Gesellschaft in ethisch sen- ethische Kompetenz des Bundestages. Die Enquete-
siblen Fragen insgesamt organisiert werden kann. Kommissionen hatten ein großes Verdienst daran, dass
Über die Form und über das Verfahren dieser Bera- die Gesellschaft dieses hohe Vertrauen heute hat. In
tung – Herr Präsident und Frau Präsidentin, ich glaube, zahlreichen Briefen – von Behindertenverbänden bis hin
da sollten wir uns alle einig sein – entscheiden selbstver- zu kirchlichen Kreisen – wurde der Wunsch geäußert,
ständlich wir hier im Bundestag. Das ist normaler parla- dass sich der Bundestag beteiligen soll. Das ist etwas,
mentarischer Brauch und auch nicht ungewöhnlich. was durchaus zur Anerkennung dieses Parlamentes bei-
trägt. Für dieses Vertrauen sollten wir uns an dieser
(Beifall bei der SPD) Stelle recht herzlich bedanken.
Dass ein solches Beratungsgremium wichtige Denk- (Beifall bei der SPD)
anstöße geben kann, hat der Nationale Ethikrat – hier
danke ich den bisherigen Vorsitzenden; ich nenne aus- Wir werden jetzt zu prüfen haben, ob die parlamen-
drücklich Herrn Simitis und Frau Weber-Hassemer – ein- tarische Beteiligung, die wir gerne wollen, im Gesetz-
drucksvoll gezeigt. Zuletzt hatten wir im Juli 2006 die entwurf bereits hinreichend berücksichtigt ist. Wir mei-
Veröffentlichung „Selbstbestimmung und Fürsorge am nen, nein. Da gibt es Dissens; im Zusammenhang mit
Lebensende“, davor die Publikation „Prädiktive Gesund- der Vorbereitung eines Gruppenantrags haben wir eine
heitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen“, Diskussion darüber gehabt, ob eine direkte Mitglied-
weitere Themen waren unter anderem die Genomunter- schaft von Abgeordneten infrage käme. Nachdem nach
suchungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Diskussionen zu erkennen war, dass die Kolleginnen und
die Patientenverfügung, das Klonen oder die Biobanken. Kollegen der Union nicht mitmachen – das ist keine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6125
Jörg Tauss
(A) Schuldzuweisung, sondern einfach ein Punkt, den man Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (C)
konstatieren muss –, hat meine Fraktion – das sage ich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
auch für René Röspel – die Auffassung vertreten, dass es Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen: Ich habe
keinen Sinn macht, über eine solche Frage zu diskutie- über viele Jahre in Sachsen-Anhalt Wissenschaftspolitik
ren, wenn die größte Fraktion nicht zustimmt. Sie ist mitgestaltet. Mein Ziel bestand dabei darin, Forscherin-
zwar nur vier Abgeordnete größer als unsere Fraktion, nen und Forschern, Lehrenden, Studierenden und ande-
aber sie ist es; am liebsten wäre es mir natürlich, wir wä- ren in diesem Bereich Beschäftigten möglichst optimale
ren die größte Fraktion. Bedingungen zu schaffen. Das hieß, um Prioritäten bei
politischen Entscheidungen zu kämpfen. Das hieß auch,
Wir sehen in der Tat einige Probleme. Wie sieht es Perspektiven der Adressaten zu übernehmen. Das hieß
mit einem Rat aus, der mit Parlamentariern durchsetzt aber vor allem, sich mit Inhalten von Forschung und
ist? Es spricht vieles dafür. Aber es stellt sich auch die Lehre auseinander zu setzen.
Frage: In welchem Verhältnis stünde eine solche Mehr-
Um verantwortungsbewusst langfristige Perspekti-
heitsentscheidung im Ethikrat beispielsweise zum Ab-
ven zu konzipieren, ist es nach meinem Verständnis un-
stimmungsverhalten im Parlament? Das ist eine wichtige
abdingbar, sich mit Inhalten einzelner Wissenschafts-
Frage, die entstünde: Wäre der Parlamentarier nicht und Forschungsdisziplinen vertraut zu machen. Sich be-
mehr Gleicher unter Gleichen in diesem Ethikrat, hat er raten und vor allem beraten zu lassen, ist für mich daher
doch im Parlament die Letztentscheidungskompetenz? Voraussetzung, um in diesem Bereich Kompetenzen zu
Es gibt eine Reihe von Diskussionen, die wir, lieber entwickeln. Erst diese Kenntnisse geben mir die Mög-
Kollege Winkler, unaufgeregt führen sollten. Es gibt lichkeit, Alternativen, mit denen vergleichbare Ergeb-
Gründe, die dafür sprechen, und solche, die dagegen nisse erzielt werden könnten, seriös zu bewerten und zu
sprechen. entscheiden, ob nicht die neuen Möglichkeiten genutzt
werden sollten.
Ich glaube, dass der Ethikrat einen Legitimitätstrans-
fer durch MdB-Beteiligung eigentlich nicht nötig hätte; Das ist auch der Ansatz, mit dem ich Forschungs- und
er wird anders als der Bundestag auch nicht allgemein Technologiepolitik betreibe. Vor diesem Hintergrund ist
verbindlich entscheiden. In Europa wird das nicht anders so manche Argumentation im Zusammenhang mit dem
gehandhabt, aber wir werden sehen. Ethikrat und/oder dem Ethikkomitee nur schwer nach-
vollziehbar. Ich kann mich nämlich nicht des Eindrucks
Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch eine kurze erwehren, dass bereits mit dieser Strukturdebatte mehr
Anmerkung zum Schluss. Wir gehen davon aus, dass der oder weniger verdeckt auch eine inhaltliche Debatte
Ethikrat eine hohe ethische Kompetenz haben sollte. Es stattfinden würde. Diese Gremien sollen uns aber vor al-
(B) geht bei seiner Legitimität nicht um Entscheidungen al- (D)
lem beraten. Ausschussarbeit und Entscheidungen durch
lein. Die besondere Legitimität, von der wir im Hinblick den Bundestag selbst sind durch sie nicht zu ersetzen.
auf Abgeordnete reden, ist aber eine demokratische, zu
Bioethische Fragen sind höchst sensibel, komplex
entscheiden. Und dieses muss der Ethikrat gerade nicht
und berühren unser Leben tief.
leisten. Es geht nicht um mehr oder weniger Unabhän-
gigkeit, sondern um ein angemessenes Rollenverständnis (Jörg Tauss [SPD]: Alle ethischen Fragen!)
sowohl für die Mitglieder eines wichtigen Beratungsgre-
– Genau! Es haben sich neue Entwicklungen vollzogen
miums als auch für die Mitglieder eines gesetzgebenden und es sind Ergebnisse neu zu bewerten. Manche Ent-
Verfassungsorgans. Es kommt darauf an, wie es letztlich scheidungen müssen erst noch getroffen werden, andere
gemacht wird. Diese Entscheidung trifft das Parlament. – bereits getroffene – müssen vielleicht geändert werden.
Die Anregung der FDP für ein gemeinsames Vorgehen Deshalb müssen wir uns mit dem aktuellen Stand ver-
finde ich interessant. Bei der Stammzellenforschung traut machen. In jeder Legislaturperiode kommen Abge-
mussten wir das leider ohne die FDP machen, aber in ordnete des Bundestags erstmals ins Parlament – ich zum
ethischen Fragen haben wir uns sonst immer gefunden. Beispiel – und diese müssen sich teils völlig neue Kom-
Lassen Sie uns darüber diskutieren! Dies ist nicht gegen petenzen in bioethischen Fragen erarbeiten. Jeder und
jemanden gerichtet. Es ist vielmehr das Bemühen, zu ei- jede muss dafür eine reale Chance bekommen. Deshalb
ner verantwortungsvollen Gestaltung der ethischen De- brauchen wir deutlich mehr Beratung.
batten und der Beratungen des Parlaments und der Bun-
desregierung zu kommen. Natürlich weiß ich, dass es auch Abgeordnete gibt,
die sich mit bioethischen Problemen seit Jahren enga-
Herzlichen Dank. giert auseinander setzen. Sie haben zum Teil in Enquete-
Kommissionen und an gesetzlichen Entscheidungen mit-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gewirkt. Sie haben bereits in vielen Fragen Grundposi-
der CDU/CSU) tionen erarbeitet, die sie einbringen wollen und einbrin-
gen sollen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wenn ich auf die Ethikkommission des Bundestages
Das Wort hat Frau Kollegin Petra Sitte von der Frak- zurückschaue, dann erkenne ich, dass die Einsetzung des
tion Die Linke. Nationalen Ethikrates durch Kanzler Schröder schon ein
Versuch war, Einfluss auf Inhalte zu nehmen; jedenfalls
(Beifall bei der LINKEN) habe ich das so wahrgenommen. Tatsächlich haben dann
6126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Petra Sitte


(A) Enquete-Kommission und Nationaler Ethikrat aufeinan- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
der reagiert. Das war nicht immer spannungsfrei, klar. Das Wort hat nun der Kollege Dr. Reinhard Loske für
Aber keine der beiden Strukturen war für die eine oder die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
die andere Grundposition letztlich zu instrumentalisie-
ren. Beide Strukturen haben sich, wenngleich auf unter- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schiedliche Art und Weise, der Öffentlichkeit gestellt. NEN):
Ich will Ihnen sagen, dass für mich noch nicht fest- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
steht, wie die Struktur am Ende auszusehen hat. Ich kann Wir reden heute über die Zukunft der bioethischen und
mit Ethikrat und mit Ethikkomitee leben, auch wenn sie biopolitischen Beratung in Deutschland. Wenn man das
zeitgleich nebeneinander arbeiten. Ich glaube, dass die tut, dann ist es angezeigt und vernünftig, einen kurzen
Entscheidungsfindung nicht einfacher wird, wenn zwei Blick zurückzuwerfen: Wie war es bisher? War es gut
Institutionen beraten. oder schlecht? Gibt es Änderungsbedarf?
In den beiden hinter uns liegenden Legislaturperioden
(Jörg Tauss [SPD]: Ja, das sehe ich auch so! war es so, dass wir als Deutscher Bundestag jeweils eine
Doppelstrukturen sind schwierig!) Enquete-Kommission hatten, die zur Hälfte aus Sachver-
Ob für die interessierte Öffentlichkeit mehr Verständ- ständigen und zur Hälfte aus Abgeordneten bestand.
lichkeit und Transparenz dabei herauskommen, ist Diese beiden Enquete-Kommissionen haben sehr gut ge-
nicht sicher. Ich wünschte mir, uns gelänge ein Kompro- arbeitet. Sie haben schwierige Entscheidungen zur em-
miss, in dessen Folge wir zur Bildung von nur einer bryonalen Stammzellenforschung, zum Forschungsklo-
Struktur kommen. In anderen europäischen Ländern nen, zur Biopatentierung und zur Gendiagnostik
– das hat vorhin schon eine Rolle gespielt – ist das auf vorbereitet. Weil diese Debatten so gut vorbereitet wa-
teils vorbildliche und auch auf gesellschaftlich akzep- ren, gelten sie gemeinhin als sehr gut,
tierte Weise geschehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Diskussionsbedarf sehe ich auch weiterhin im Hin- SPD und der LINKEN)
blick auf den Modus der Besetzung:
was sich unter anderem darin widerspiegelte, dass fast
Erstens in Bezug auf die Fraktionen. Da es – außer bei alle Entscheidungen über Fraktionsgrenzen hinweg ge-
der FDP – keine geschlossenen Fraktionsmeinungen gab troffen wurden.
und gibt, sollte nicht der Fraktionsproporz entscheiden.
Wir sollten überlegen, wie es uns gelingen kann, dafür Ich möchte von dieser Stelle den beiden Vorsitzenden,
(B) zu sorgen, dass auch kleinere Fraktionen ihr differenzier- Margot von Renesse und René Röspel, und natürlich al- (D)
tes Meinungsbild einbringen können. Wir haben ein len Mitgliedern dieser Kommission dafür danken, dass
solch differenziertes Meinungsbild. sie uns so sehr dabei geholfen haben, diese guten Ent-
scheidungen zu treffen. Danke schön!
Zweitens ist mir unklar, warum in dem Gesetzentwurf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zum Ethikrat hälftig Bundestag und Bundesregierung sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Besetzungsvorschläge einbringen sollen, wenn es doch SPD und der LINKEN)
letztlich darum geht, unabhängige Persönlichkeiten zu
berufen. Kann man bei uns im Bundestag nicht bei- Die Regierung hat sich 2001 entschieden, ein eigenes
spielsweise auf die Poolbildung bei Expertenanhörungen Ethikgremium einzurichten: den Nationalen Ethikrat. Es
zurückgreifen? ist bekannt, dass wir diesem Ethikrat immer mit Skepsis
begegnet sind, natürlich nicht was die Integrität seiner
Drittens ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit ei- Mitglieder betrifft. Im Gegenteil: Wir haben als Fraktion
nes Ethikkomitees, das über eine Wahlperiode hinaus be- sowohl mit Herrn Simitis als auch mit Frau Weber-
stehen soll, zu klären. Wir binden damit immerhin auch Hassemer einen intensiven Austausch gepflegt. Beide
künftige Abgeordnetengenerationen. Sollte es letztlich waren bei uns in der Fraktion zu Gast.
zur Bildung von nur einer Institution kommen, dann
hätte für mich auch der Vorschlag von Vizepräsident Wir haben im Ethikrat auch unsere inhaltlichen Posi-
Thierse, Abgeordneten durch beratende Stimme oder tionen durchaus vertreten gesehen, jedenfalls zum Teil,
über einen parlamentarischen Beirat direkten Zugang zu etwa durch Regine Kollek oder Hans-Jochen Vogel.
den Sitzungen des Ethikrates zu ermöglichen, durchaus Aber dennoch hatten und haben wir eine kritische
einen gewissen Charme. Wie kommentierte doch un- Haltung zum Nationalen Ethikrat, im Wesentlichen aus
längst die „Ärzte-Zeitung“ angenehm respektlos: drei Gründen:
Wenn Parlamentarier wirklich wissen, worüber sie Der erste Grund ist die Sprache. Wir hielten es für
abstimmen, erhöht dies dramatisch die Chance für vermessen, ein Ethikgremium der Regierung als „Natio-
handwerklich saubere Gesetze. nalen“ Ethikrat zu bezeichnen. Da erhebt die Regierung
einen Monopolanspruch, der ihr nicht zusteht.
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
neten der SPD) der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6127
Dr. Reinhard Loske
(A) Der zweite Grund. Die Verzahnung mit der Politik Der Nationale Ethikrat … Aber Entscheidungen (C)
fehlte ebenso wie die demokratische Legitimation über Fragen der Bioethik und der modernen Medi-
durch den Deutschen Bundestag. Das Konzept des Ra- zin gehören ins Parlament und müssen dort auch
tes basiert nach unserer Einschätzung auf einem falschen vorbereitet werden.
Dualismus: hier die kundige Zunft der professionellen
Ethiker, da die Rat suchende Politik, die Voten entgegen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nimmt und verarbeitet. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Das heißt, bei der Union lautete die Parole bis zur
SPD und der LINKEN) Bundestagswahl – ich vereinfache etwas –: Enquete-
Kommission gut, Nationaler Ethikrat schlecht. Kaum
Dieser Dualismus ist falsch. Gerade in bioethischen Fra- sind Sie von der Union an der Regierung, wird die En-
gen trägt in unserer Gesellschaft auf Dauer nur das, was quete-Kommission rasiert und der Nationale Ethikrat
diskursiv, also im Dialog zwischen allen Beteiligten, er- fortgeschrieben.
arbeitet worden ist und dann auch von allen getragen
wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
Der dritte Grund – das will ich hier ganz offen geste- Monika Knoche [DIE LINKE])
hen; das habe ich immer gesagt; deswegen kann ich es
auch hier sagen – ist natürlich die Skepsis gegenüber Das verstehe, wer will. Es ist jedenfalls nicht glaubwür-
dem, was der damalige Bundeskanzler Schröder geäu- dig, es ist völlig unglaubwürdig.
ßert hat. Es fiel damals das Wort von den Scheuklappen, Jetzt zum Entwurf von Frau Schavan für den deut-
die der Bundestag in Sachen Gentechnik endlich abzule- schen Ethikrat. Zunächst einmal möchte ich etwas zur
gen habe. So krankte der Nationale Ethikrat von Anfang Stilfrage sagen. Sie als Bundesregierung wollen jetzt
an daran, obwohl die Mitglieder gar nichts dafür konn- dem Parlament vorschreiben, wie es sich in Zukunft in
ten, dass ihm große Skepsis entgegengebracht wurde, Sachen Bioethik beraten lassen soll. Das steht Ihnen aber
weil man vermutete, hier solle versucht werden, eine gar nicht zu, weil wir das selbst entscheiden.
„liberalere“ Gentechnikforschung durchzusetzen, dafür
Akzeptanz zu schaffen und die Enquete-Kommission zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
rückzudrängen. des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
Das waren unsere drei Gründe dafür, dass wir gegen- Das Mindeste wäre gewesen, dass Sie in dieser Sache
über dem Nationalen Ethikrat skeptisch waren. einmal das Gespräch mit der Opposition gesucht hätten. (D)
(B)
Wir haben diese Politik kritisiert, aber verglichen da- Aber nichts davon! Wir erfahren die Sache aus der Zei-
mit, wie scharf Sie herangegangen sind, liebe Kollegin- tung. Das ist einfach schlechter Stil. Ich bin auch darauf
nen und Kollegen von der Union, war das regelrecht mo- gespannt, ob sich die SPD-Fraktion, der es ja ähnlich ge-
derat. Bei Ihnen wurde häufig so getan – das ließe sich gangen sein soll, das – wenn ich einmal so sagen darf –
anhand vieler Presseerklärungen nachweisen –, als sei gefallen lässt.
der Ethikrat ein Gremium von Schröders Gnaden, das (Nicolette Kressl [SPD]: Das entscheiden wir
willfährig alles aufschreibe, was der Kanzler begehre. immer noch selber!)
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da waren Dann zur Frage der Öffentlichkeit. Der Rat soll in
die Scheuklappen!) Zukunft im Regelfall hinter verschlossenen Türen tagen.
Dazu muss man ganz klar sagen: Das war unfair. Das Das ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber dem bishe-
Gremium hat durchaus gut gearbeitet. rigen Standard des Ethikrats.

In einem freilich hatte die Union Recht – das haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wir ganz genauso gesehen –: Es fehlte die demokratische sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
Legitimation. Dazu will ich zwei Zitate bringen. Als das Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
Gremium eingerichtet wurde, hat der Vorsitzende der Wie da eine gesellschaftliche Debatte angestoßen wer-
Unionsfraktion, Friedrich Merz, in der Debatte gesagt: den soll, ist mir völlig schleierhaft. Das ist ein Thema,
Dieses Gremium … ist eine Zumutung für den das dringend Transparenz braucht. Bei einem solchen
Deutschen Bundestag … Ich beobachte insbeson- Thema ist es wirklich nicht angemessen, die Tür zuzu-
dere bei diesem Thema mit großer Sorge eine vo- machen und nur die Experten unter sich zu lassen. Das
ranschreitende Entparlamentarisierung der Politik lehnen wir ab.
in Deutschland. Zur Zusammensetzung des Gremiums. Sie sagen,
Die jetzige Kanzlerin, Frau Merkel, hat noch im Juli dass Sie dem Gremium eine demokratische Legitimation
2005 gesagt: verschaffen und es beim Bundestag ansiedeln wollen.
Das war praktisch das Hauptargument, das Sie hier vor-
Wir sollten Entscheidungen aber wieder mehr im getragen haben. Faktisch tun Sie aber etwas ganz ande-
Bundestag beraten und treffen und weniger in res. Sie sichern sich praktisch eine doppelte Mehrheit.
Kommissionen … Die Kommissionitis von Rot-
Grün hat uns nicht weiter gebracht. Ein Beispiel: (Ulla Burchardt [SPD]: Das stimmt!)
6128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Reinhard Loske


(A) Die Hälfte der 24 Mitglieder soll von der Regierung, die den und das müsse alles ganz anders gemacht werden. (C)
andere Hälfte vom Parlament benannt werden. Faktisch Was passiert jetzt? Es wird ein Rat nach dem anderen ge-
würde das unter den gegebenen Bedingungen bedeuten, bildet: der Ethikrat, der Forschungsrat, der Innovations-
dass die große Koalition 21 von 24 Sachverständigen, rat.
also fast 90 Prozent, benennen würde. Das ist eine krasse
Verletzung von Oppositionsrechten und zeugt auch von Den Innovationsrat habe ich mir einmal ganz genau
einem Mangel an Respekt vor dem Souverän. angeschaut. Wer sitzt da einträchtig neben den üblichen
Verdächtigen dieser Welt, wie den Heinrich von Pierers,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die überall dabei sind? Raten Sie einmal, wer da sitzt!
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel und die Bundes-
der SPD) ministerin Frau Dr. Schavan. Frau Schavan berät Frau
Schavan und Frau Merkel berät Frau Merkel. Daran
Jetzt zum Punkt der Einbindung der Abgeordneten. sieht man doch, dass Ihre ganze Argumentation in sich
Wir schlagen in unserem Antrag, der Ihnen heute auch zusammenfällt wie ein Kartenhaus.
vorliegt, vor, dauerhaft ein Ethikkomitee des Deutschen
Bundestages einzurichten, das zur Hälfte aus Sachver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ständigen und zur anderen Hälfte aus Abgeordneten be- sowie bei Abgeordneten der SPD)
steht. Die Mehrheit der Linksfraktion – daran zweifele
ich allerdings nach der eben gehaltenen Rede – Solch ein Gerede ist wirklich nicht glaubwürdig. Beim
Ethikrat versuchen Sie mit hoher Tonlage es so zu dre-
(Monika Knoche [DIE LINKE]: Es kommt hen, während Sie es beim Innovationsrat ganz anders
noch ein weiterer Redner!) machen. Sie machen es, wie es Ihnen gerade passt. Das
merken die Leute aber.
und große Teile der SPD-Fraktion sehen das genauso.
Ich weiß auch, dass das viele Kolleginnen und Kollegen Wir brauchen also – das ist die Position von uns Grü-
aus der Union – jetzt bitte nicht klatschen – genauso se- nen – ein Ethikkomitee des Bundestages, in dem so-
hen. Sie, Frau Ministerin, sagen dagegen, Abgeordnete wohl Abgeordnete als auch Sachverständige zusam-
und die Politik insgesamt hätten im Ethikrat nichts zu menarbeiten. Wir brauchen dies erstens, weil die
suchen, schließlich sollten ja gerade diese beraten wer- bioethische Debatte zerfranst, wenn sie mal im Gesund-
den. Der geschätzte Kollege Röttgen, der leider derzeit heitsausschuss, mal im Forschungsausschuss und mal im
nicht da ist – ich wollte ihn direkt ansprechen –, gefällt Rechtsausschuss beraten wird. Wir brauchen also einen
sich darin, ironisch festzustellen, es wäre doch wohl ein zentralen Ort für diese Debatte. Zweitens brauchen wir
schlechter Witz, wenn Abgeordnete Abgeordnete bera- dies auch, weil es nicht in erster Linie darum geht – das
(B) ten. Dazu kann ich nur sagen: Ha, ha! Wenn man dieser (D)
sage ich als jemand, der selber viel Zeit in der Wissen-
seiner Logik folgt, könnten wir ab sofort sämtliche En- schaft verbracht hat –, von irgendwelchen Profis dicke
quete-Kommissionen und im Prinzip auch die Aus- Berichte entgegenzunehmen, sondern vor allem darum,
schussarbeit abschaffen. tragfähige gesellschaftliche Konsense in Fragen der Bio-
ethik zu erarbeiten. Wir sind für Beratung, aber gegen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Outsourcing. Das möchte ich ganz klar sagen.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
GRÜNEN]: Und das Gespräch einstellen!) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Natürlich bin ich froh, wenn mich sachkundige Leute KEN)
zum Beispiel über haushaltspolitische Fragen, von denen Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, liebe Frau
ich selber nicht viel verstehe, informieren. Von vielen Schavan, dieser Gesetzentwurf kann so nicht bleiben.
Abgeordnetenkollegen fühle ich mich gut beraten. Es Sorgen wir für mehr Öffentlichkeit, sorgen wir für eine
bringt, wie ich finde, auch überhaupt nichts, sich selber angemessene Beteiligung des Parlaments und sorgen wir
nach dem Motto kleinzureden: Wenn Abgeordnete Ab- gemeinsam dafür, dass bioethische Fragen nicht wieder
geordnete beraten, dann kann dabei nichts Vernünftiges zurückgepresst werden in einen falsch verstandenen
herauskommen. Wenn man sich selber so schlecht Fraktionszwang.
macht, beeindruckt das niemanden, ganz im Gegenteil:
Das führt nur zu weiterer Politikverdrossenheit. Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Jetzt kommt noch etwas ganz Besonderes; ich habe
nämlich ein wenig recherchiert. Wie wenig glaubwürdig
Ihre Argumente, liebe Kolleginnen und Kollegen von Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
der CDU/CSU, sind, sieht man besonders gut daran, Ich erteile nun dem Präsidenten des Hauses, unserem
wenn man sich einmal die Mitgliedschaften in den ver- Kollegen Dr. Norbert Lammert, das Wort für die CDU/
schiedenen Räten anschaut. Damals, als Sie die Regie- CSU-Fraktion.
rungsverantwortung übernahmen, haben Sie gesagt, die
ganze Kommissionitis von Rot-Grün müsse verschwin- (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6129

(A) Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): digung doch einräumen, dass es drei ganz wesentliche (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fortschritte gegenüber dem Status quo ante gibt: Erstens
Grundlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung wie wird Politikberatung hier nun nicht auf Regierungsbe-
aller Anträge der Fraktionen, die der heutigen Debatte zu- ratung reduziert. Es wird sorgfältig, zu Recht und unver-
grunde liegen, ist nach meinem Eindruck die offenkundig zichtbar der Eindruck vermieden, das Parlament sei ei-
gemeinsame Überzeugung, dass die Berücksichtigung ner Beratung in ethischen Fragen nicht bedürftig oder
ethischer Ansprüche und Anforderungen überragende eine solche Beratung finde exklusiv für die Bundesregie-
Bedeutung beim Herbeiführen politischer Entscheidun- rung statt. Das ist ein ganz wichtiger Fortschritt.
gen und ganz gewiss gesetzlicher Regelungen hat. Des-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
wegen gehört bei der Sortierung dessen, was uns eint und
FDP)
was uns vielleicht trennt, an den Beginn dieser ganz wich-
tige große Konsens: Wir sind uns alle darin einig, dass Zweitens wird eine völlig unnötige und im Ergebnis
dies ein überragendes Kriterium unserer Arbeit ist. wohl auch kontraproduktive Konkurrenz zwischen Re-
gierung und Parlament vermieden und jedenfalls der
Im Vergleich zu dieser Grundsatzposition ist die zwei-
ernsthafte Versuch unternommen, in geeigneter Weise
fellos wichtige Frage, wie man diese notwendige Be-
eine Zusammenführung und Bündelung zu erreichen.
rücksichtigung organisiert, nun ganz gewiss keine Frage
des Prinzips, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sie ist deswegen nicht unwichtig; aber wir sollten sie neten der SPD)
nicht auf die Höhe eines Prinzipienstreites rücken, son-
dern uns – wie das auch von mehreren Rednern in dieser Drittens. Herr Kollege Loske, da fühle ich mich Ihnen
Debatte ausdrücklich angeregt worden ist – gemeinsam ganz nah. Sie haben vorhin eine etwas flapsige Bemer-
darum bemühen, hier möglichst eine gemeinsame Rege- kung zum früheren Bundeskanzler gemacht, die ich mir
lung zu finden. in dieser Formulierung ausdrücklich nicht zu Eigen ma-
che.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei
Abgeordneten der FDP und der LINKEN) (Jörg Tauss [SPD]: Wir auch nicht!)

Nun gibt es, wie wiederum die vorliegenden Texte – Der Kollege Tauss offenkundig auch nicht.
deutlich machen, dazu unterschiedliche Vorstellungen. (Jörg Tauss [SPD]: Wir alle nicht!)
Das finde ich nicht weiter Besorgnis erregend.
Aber Sie haben einen in der Sache unstreitig wichtigen
(Jörg Tauss [SPD]: Im Gegenteil!) Punkt angesprochen. Der damalige Bundeskanzler hat (D)
(B)
Es wäre fast ein bisschen merkwürdig, wenn es, jeden- zur Erläuterung der Aufgaben des damaligen Nationalen
falls am Beginn einer solchen Debatte, anders wäre. Ethikrates ausdrücklich ausgeführt:
Nach dem bisherigen Verlauf der Debatte schließe ich Wir dürfen uns in der Bio- und Gentechnik nicht
keineswegs aus, dass es gelingen kann, eine gemeinsame vom Fortschritt in der internationalen Forschung
Regelung herbeizuführen. abkoppeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Das ist im Übrigen, wiederum für sich betrachtet, ein
bei Abgeordneten der FDP) zweifellos nicht nur legitimes, sondern wichtiges Ziel,
Dass ich mich an dieser Debatte beteilige, hat diese aber es kann ganz sicher nicht die erschöpfende Aufgabe
zwei Gründe: Erstens halte ich den Gesetzentwurf der eines Ethikrates sein.
Bundesregierung für eine sehr geeignete Grundlage, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
diese Klärung herbeizuführen, und zweitens möchte ich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ausdrücklich um den Konsens werben, den ich mir sel-
ber am Ende eines Beratungsprozesses dringend wün- Denn wir wollen uns doch gerade in die Lage versetzen,
sche. Denn wenn wir uns hoffentlich darüber einig sind, sicherzustellen, dass wir nicht der Eigendynamik der
dass wir hier nicht nur über eine prinzipielle, sondern Wissenschaft zum Opfer fallen und dass die Logik des
über eine wichtige organisatorisch-technische Frage re- Fortschritts sich jedenfalls nicht alleine nach den Gesetz-
den, dann sollte es möglich sein, dazu eine Übereinkunft mäßigkeiten von Wissenschaft oder von Märkten voll-
herbeizuführen, zieht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zumal offenkundig – Herr Kollege Loske, mich hat Ihr Unter diesem Gesichtspunkt haben wir – ich bedanke
Beitrag nicht nur wegen der temperamentvollen Darbie- mich ausdrücklich für die deutliche Zustimmung – of-
tung sehr beeindruckt – eine relativ breite Übereinstim- fenkundig einen Fortschritt in unserer bisherigen De-
mung über die Defizite der ersten Konstruktion, des Na- batte. Es ist eine wesentliche Grundlage für die künftige
tionalen Ethikrates, besteht. Organisation unserer Arbeit, wenn alle drei Punkte si-
chergestellt werden.
Auch bei kritischen Anmerkungen zum Gesetzent-
wurf, die ich nachvollziehen kann, muss eine faire Wür- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
6130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den Anspruch erheben, nur der eine bzw. der andere Weg (C)
Herr Dr. Lammert, gestatten Sie eine Zwischenfrage sei richtig.
des Kollegen Ilja Seifert?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):
Natürlich. Ich persönlich spreche mich für die im Gesetzentwurf
vorgesehene Lösung aus – ich spreche ausdrücklich
nicht für die Bundesregierung; ich rede als Mitglied die-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): ses Hauses –, weil ich davon überzeugt bin, dass auch an
Muss ich Sie jetzt mit „Herr Präsident“ anreden – dieser Stelle die Vorzüge einer Trennung, soweit die
Trennung überhaupt möglich ist, größer sind als die er-
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): hofften Vorzüge bei der anderen Lösung. Ich will zwei
Nein. praktische Gründe und einen prinzipiellen Grund dafür
nennen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Der erste praktische Grund ist: Würden wir dem Vor-
– oder mit „Herr Kollege“? schlag folgen, ein auf Dauer eingesetztes Gremium aus
berufenen externen Beratern und Parlamentariern mit
(Heiterkeit) dieser Aufgabe zu betrauen, würden wir zum ersten Mal
Lieber Herr Kollege Lammert, da Exekutive und Le- in der Geschichte des Deutschen Bundestages eine En-
gislative unterschiedliche Aufgaben haben und es damit quete-Kommission auf Dauer einsetzen. Ich will darauf
für beide einen unterschiedlichen Beratungsbedarf gibt, aufmerksam machen: Das hat der Deutsche Bundestag
steht das, was Sie gerade im Zusammenhang mit dem bisher immer sorgfältig vermieden.
zweiten Punkt als großen Fortschritt bezeichnet haben, (Jörg Tauss [SPD]: Aus guten Gründen!)
vielleicht doch etwas auf wackligen Füßen. Nebenbei
bemerkt: Wenn wir Parlamentarierinnen und Parlamen- Ich denke, das ist aus guten Gründen der Fall gewesen.
tarier unsere eigene Position vertreten sollen, dann brau- Wenn wir von dieser bisherigen Tradition abweichen
chen wir vielleicht doch andere Beratungsmechanismen wollten, dann müssten wir schon bessere Gründe haben
als die Regierung, die in einer ganz anderen Situation ist. als die, die genannt wurden und deren Stichhaltigkeit ich
Stimmen Sie mit mir darin überein? eigentlich nicht sehe.
Der zweite praktische Grund ist: Wenn eine solche
(B) Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Beratungsstruktur, die wir aufbauen wollen, nicht so (D)
Herr Kollege Seifert, ich akzeptiere ausdrücklich, eng, sondern so breit wie möglich angelegt werden soll,
dass das ein wichtiger Punkt ist, den man bedenken dann müssen wir die Möglichkeit aufrechterhalten, mit
muss, wenn man sich um die zweckmäßige Organisation dem Instrument der Enquete-Kommission zu begrenzten
einer solchen Beratung bemüht. Ich komme für mich zu Fragestellungen in den dafür vorgesehenen bewährten
der Schlussfolgerung, dass die Risiken, dass es mögli- Strukturen der Verbindung von externem Sachverstand
cherweise zu einer Verdoppelung der Beratung kommt, und beteiligten Kollegen Entscheidungsgrundlagen vor-
höher sind als die erhofften Vorzüge. Denn nach meinem zubereiten. Ich habe die ernsthafte Besorgnis: Würde
und offenkundig auch nach breitem Verständnis im man jetzt – durchaus mit sehr ehrenwerten Motiven – in
Hause soll ein solches Gremium bzw. sollen zwei sol- dem Ethikrat Parlamentarier und Sachverständige zu-
cher Gremien nicht operative Vorschläge machen, son- sammenführen, dann würde das Instrument der Enquete-
dern sie sollen uns, der Regierung wie dem Parlament, Kommission im Endergebnis für solche Zwecke ver-
helfen, in diesen ungewöhnlich komplexen Materien ein braucht werden. Ich denke, daran können wir kein Inte-
bisschen sicherer in der eigenen und am Ende unver- resse haben.
zichtbaren individuellen Urteilsbildung zu werden. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
glaube nicht, dass dieser Prozess dadurch erleichtert
FDP)
würde, dass wir auf der einen Seite ein Beratungsgre-
mium für die Regierung und auf der anderen Seite ein Ich komme nun zu dem prinzipiellen Punkt. Wir kön-
zweites Beratungsgremium für das Parlament haben. nen alle miteinander kein Interesse daran haben, dass der
Eindruck entsteht, es gebe im Deutschen Bundestag eine
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der große Rest sei
der SPD) bei ethischen Fragen entweder nicht interessiert oder in-
Ein weiterer ernst zu nehmender Punkt ist der Hin- different. Im Übrigen wäre dies nicht nur ein verheeren-
weis auf die vorgesehene Trennung zwischen Beratung der, sondern auch ein falscher Eindruck, der insbeson-
und Entscheidung, also den Verzicht auf die Beteiligung dere in dieser Kombination kaum akzeptabel wäre.
von Parlamentariern an diesem Gremium. Ich räume (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
ausdrücklich ein, dass es eine Reihe von beachtlichen SPD und der FDP)
Argumenten gibt, die für eine solche Verbindung spre-
chen. Aber ich finde, man muss genauso nüchtern ein- Nimmt man das alles zusammen, dann spricht schon
räumen, dass es auch beachtliche Argumente gibt, die manches für die Grundannahme des Konzeptes, die in
dagegen sprechen. Niemand sollte vernünftigerweise dem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Das schließt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6131
Dr. Norbert Lammert
(A) keineswegs aus, dass man über manche der vorgesehe- mieden, der im Verlauf der bisherigen Diskussion deut- (C)
nen Formulierungen und Festlegungen noch einmal ge- lich geworden ist.
meinsam nachdenkt.
Schließlich nenne ich noch einen praktischen Aspekt,
Dazu will ich gern drei Anregungen geben: Ich weiß bei dem ich denke, dass wir uns auf diesen sofort ver-
nicht, ob es notwendig ist, und habe gewisse Zweifel, ob ständigen können: Die Geschäftsstelle soll nach diesem
es klug ist, gleich in § 1 des Gesetzentwurfs, „Bildung Gesetzentwurf der Bundesregierung beim Bundestag an-
des Ethikrates“, zu schreiben: „Es wird ein unabhängiger gesiedelt werden. Das macht auf das Schönste klar, dass
Sachverständigenrat zur Bewertung ethischer Fragestel- auch die Bundesregierung einsieht, Herr Loske, dass die
lungen in den Lebenswissenschaften gebildet.“ Ich halte Verteilung der Zuständigkeiten mit Blick auf die zu tref-
das für eine unnötige Verengung, weil es hier nach mei- fenden Entscheidungen so ist, wie Sie sich und wir alle
nem Verständnis weder allein um Wissenschaft noch im uns das vorstellen.
Kontext der Wissenschaften allein um Lebenswissen-
schaften geht, auch wenn wir alle miteinander darin Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
übereinstimmen, dass hier in der vorhersehbaren Zu- Herr Dr. Lammert, gestatten Sie noch eine Zwischen-
kunft besonders spannende Fragen liegen. Ich glaube, frage des Kollegen Beck?
dass das, was in § 2 des Gesetzentwurfes, „Aufgaben“,
beschrieben wird, die Intention besser klar macht, als es Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):
mit dieser Verengung jedenfalls in der Überschrift ange- Ja, wenn ich noch diesen einen Satz sagen darf: Bei
deutet wird. der Formulierung zur Einrichtung der Geschäftsstelle
Wir sollten uns gemeinsam noch einmal die Öffent- müssen wir allerdings sicherstellen, dass wir sie nicht in
lichkeitsregelung ansehen, wenngleich ich dazu sofort der Weise in die Organisation der Bundestagsverwaltung
sagen will: Der Vorwurf der Geheimhaltung ist nicht integrieren, dass wir am Ende für die Besetzung solcher
fair. Das, was im Gesetzentwurf vorgesehen ist, ist ziem- Kommissionen mit Mitarbeitern – sowohl was die Beru-
lich präzise die Regelung, die der Deutsche Bundestag fung als auch was deren Verbleib angeht – die gesamte
für seine eigene Arbeit im Verhältnis von Ausschüssen Palette des öffentlichen Dienstrechts unter besonderer
zum Plenum für bewährt und unverzichtbar hält. Wenn Berücksichtigung der Mitwirkung des Personalrats zur
wir das für angemessen für unsere eigene Arbeit halten selbst organisierten Folge haben.
und wenn wir uns gewiss gegen den Vorwurf der Ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
heimhaltung parlamentarischer Beratungen wehren wür- NEN]: Das können Sie dann intern beraten! –
den, dann sollte man einen solchen Vorwurf aus Grün- Jörg Tauss [SPD]: Aber Sie mögen Ihren Per-
(B) den der Redlichkeit für einen analogen Vorschlag nicht sonalrat hoffentlich noch!) (D)
erheben.
Deshalb erlaube ich mir, den Kolleginnen und Kollegen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – des federführenden Ausschusses dazu den zweckdienli-
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist ja chen Hinweis zu geben, so zu formulieren, dass wir in
nicht analog, weil keine Abgeordneten dabei die Lage versetzt werden, mit dieser Regelung den ange-
sind!) strebten Zweck möglichst wirkungsvoll zu erreichen.
– Na ja, Herr Kollege, ich glaube, das bedarf jetzt keines Bitte schön, Herr Kollege Beck.
besonderen Kommentars. – Die jeweilige Struktur ist
analog. Wir haben allerdings eine unterschiedliche Be- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
setzung der Gremien. Ich wollte nur diese Anregung ge- Herr Kollege Lammert, würden Sie mir, da Sie gerade
ben. eine Analogie zu Bundestagsausschüssen hergestellt ha-
ben, darin zustimmen, dass die Mitglieder dieses Hohen
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Hauses in Bezug auf Bundestagsausschüsse zumindest
NEN]: Wie findet denn bei Ihnen Beratung
immer das Recht haben – wenn auch ohne Melde-, An-
statt, wenn es nicht öffentlich ist? Nur indem
trags- und Abstimmungsrecht –, einer Ausschusssitzung
ich nachher die Papiere lese? Muss ich jedes
bei Interesse an dem Verhandlungsgegenstand beizu-
Mal 600 Seiten lesen?)
wohnen, und dass insofern, führt man diese Analogie
– Ja, aber das gilt doch für das Verhältnis, das wir unter- weiter, immer dann, wenn es sich um ein Parlamentsbe-
einander für den abschließenden Entscheidungsprozess ratungsgremium mit ausschussgleichem Charakter han-
haben, in der gleichen Weise. Wir alle können nicht an delt, zumindest für die Mitglieder des Hohen Hauses je-
all diesen Beratungen beteiligt sein. derzeit Öffentlichkeit hergestellt sein muss?
Gleichwohl erlaube ich mir die Anregung, noch ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mal darüber nachzudenken, ob man nicht statt der offen- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
kundig etwas missverständlichen Formulierung: „Die Monika Knoche [DIE LINKE])
Beratungen … sind nicht öffentlich“ schlicht und ergrei-
fend mit dem zweiten Satz beginnt, der dann heißt: „Der Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):
Deutsche Ethikrat kann öffentlich beraten oder die Er- Herr Kollege Beck, der erste Teil Ihrer Frage ist na-
gebnisse nichtöffentlicher Beratungen veröffentlichen.“ türlich rhetorisch. Wie sollte ich bestreiten, dass es so ist,
Damit hätte man, so finde ich, den Verdacht besser ver- wie Sie gerade referiert haben? Was den zweiten Teil,
6132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Norbert Lammert


(A) nämlich die Implikation, angeht, gehört sie zu einem der vorliegenden Gesetzentwurfes stelle ich mir die Frage, (C)
Punkte, von denen ich meine, dass man darüber in Ruhe ob diese Themen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes
nachdenken können muss. überhaupt im Deutschen Ethikrat diskutiert werden dürf-
ten. Denn im jetzigen Gesetzentwurf werden dadurch,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dass die Federführung jetzt neu beim Forschungsminis-
Warum sollte man nicht beispielsweise die Regelung terium liegt, Aufgabenstellungen formuliert, die extrem
vorsehen, dass für Mitglieder des Bundestages und der forschungslastig sind. Aus meiner Sicht ist das eine Ver-
Bundesregierung ein Zutrittsrecht zu einer nicht öffent- engung, die der ethischen Debatte in Deutschland nicht
lichen Beratung besteht? Ich halte das für einen Punkt, gut tut.
der das gemeinsame Nachdenken lohnt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
Überhaupt möchte ich mit Nachdruck dafür werben Deshalb bitte ich Sie, in den Ausschussberatungen
– damit komme ich in den verbleibenden Sekunden zum darauf zu achten, ob es nicht notwendig ist, die Aufga-
Schluss –, dass wir uns bei diesem Thema, das uns of- benstellung des Deutschen Ethikrates zu verbreitern,
fenkundig alle in gleicher Weise umtreibt und bei dem um nicht nur die Anwendung der Forschung am Men-
wir alle in gleicher Weise nach einer angemessenen Lö- schen an sich, sondern beispielsweise auch Fragen, wie
sung eines überragenden Problems suchen, mit allen zur die Finanzierung der Anwendung dieser Forschung er-
Verfügung stehenden Möglichkeiten darum bemühen, folgen soll, einzubeziehen. Denn was nützt es den Men-
eine gemeinsame Lösung zu finden. Denn über eines be- schen, wenn bestimmte Forschungsergebnisse zwar
steht doch Konsens: Die Zuständigkeit für ethische Fra- existieren, das Gesundheitswesen deren Anwendung
gen lässt sich nicht delegieren – an welches Gremium aber nicht ermöglicht? Mein Petitum an dieser Stelle
auch immer, weder an einen Ethikrat noch an eine En- lautet deshalb, dass wir den Gesetzentwurf nachbessern
quete-Kommission noch an parlamentarische Beiräte. sollten.
Am Ende ist die Entscheidung immer eine ganz indivi-
duelle. Jeder muss dafür mit seinem Namen, mit seiner Grundsätzlich halte ich die Konstruktion des Deut-
Person geradestehen. Die Entscheidung trifft mit Rechts- schen Ethikrates für einen Fortschritt im Vergleich zu
wirkung dieses Parlament und niemand anderes. der des Nationalen Ethikrates, und zwar deshalb, weil
vorgesehen ist, dass der Deutsche Bundestag eine Mitge-
Wenn das die gemeinsame Grundlage für die Arbeit staltungsmöglichkeit bei der Berufung seiner Mitglie-
an diesem Gesetzentwurf ist, würde es mich sehr enttäu- der hat.
(B) schen, wenn es uns nicht gelänge, dazu ein gemeinsames (D)
Ergebnis zu finden. Für die Diskussion über die Öffentlichkeit von Bera-
tungen, die gerade stattgefunden hat, habe ich wenig
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP Verständnis. Denn was ist das Ziel der Debatte in diesem
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Gremium? Das Ziel ist doch, dass sich Menschen zu-
sammensetzen, aus unterschiedlichen Positionen heraus
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dinge entwickeln und miteinander kritisch darüber dis-
Nun hat das Wort der Kollege Michael Kauch für die kutieren. Es soll keine Veranstaltung sein, die auf offener
FDP-Fraktion. Bühne stattfindet. Das würde aus meiner Sicht der Qua-
(Beifall bei der FDP) lität des Diskussionsprozesses schaden; denn dann
würde bei einer Live-Übertragung im Fernsehen jeder
Sachverständige überlegen, ob er eine Formulierung be-
Michael Kauch (FDP): nutzt, die dem Mainstream oder der Political Correctness
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anders möglicherweise nicht entspricht. Das darf in einem wis-
als meine Vorredner gehörte ich der Enquete-Kommis- senschaftlich orientierten Gremium nicht sein. Deshalb
sion „Ethik und Recht der modernen Medizin“ an, war müssen die Sitzungen wie bei einer Enquete-Kommis-
der Obmann der FDP-Fraktion in diesem Gremium und sion nicht öffentlich sein.
möchte deshalb einen kurzen Blick darauf werfen, wo-
mit sich diese Enquete-Kommission eigentlich befasst (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hat. Wir haben uns mit der Palliativ- und Hospizversor-
Lassen Sie mich jetzt zu der Frage kommen, warum
gung, mit Organtransplantationen und der Forschung an
es notwendig ist, ein politisches Gremium zu haben,
Kindern und nicht einwilligungsfähigen Personen be-
das sich im Parlament mit Ethik beschäftigt. Ein gutes
fasst. Zu diesen Themen haben wir Zwischenberichte
Beispiel für den Bereich Ethik steht heute auf der Tages-
vorgelegt. Wir haben über die Sterbehilfe und Allokation
ordnung. Bei dem letzten Tagesordnungspunkt am heuti-
im Gesundheitswesen diskutiert. Man muss ganz deut-
gen Tag geht es um die erste Beratung des Entwurfs
lich sagen: Aufgrund der Neuwahlen hat die Enquete-
eines Gewebegesetzes. Nach der von den Parlamentari-
Kommission ihre Arbeit beispielsweise an diesen beiden
schen Geschäftsführern abgestimmten Tagesordnung
Fragen nicht beenden können.
war dieser Tagesordnungspunkt für 3.20 Uhr morgens
Auch der Nationale Ethikrat hat sich zuletzt mit der vorgesehen. Das hat natürlich die Folge, dass alle Kolle-
Rationierung im Gesundheitswesen und dem Umgang ginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben wer-
mit Demenzkranken beschäftigt. Nach Durchsicht des den. Dabei geht es in diesem Gesetzentwurf um viele
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6133
Michael Kauch
(A) ethisch schwierige Fragestellungen. Zum Beispiel haben Patientenverfügung zum Beispiel ist federführend (C)
wir den Organhandel bewusst verboten. Auf der anderen beim Rechtsausschuss angesiedelt. Der Rechtsaus-
Seite müssen wir aufgrund der Weiterverarbeitungsmög- schuss befasst sich aber natürlich auch mit vielen ande-
lichkeiten des Gewebes Handelsstufen ansetzen. Die ren Themen. Seit es die angesprochene Enquete-Kom-
Frage ist, wo wir sie ansetzen. Das ist nicht nur eine rein mission nicht mehr gibt und sich kein Gremium im
wirtschaftliche, sondern auch eine ethische Frage. Diese Parlament um ethische Fragen kümmert, ist eine Diskus-
aber wird heute nicht im Parlament diskutiert. sion über ethische Fragen im Parlament viel schwieriger
geworden, ein weiterer Grund aus meiner Sicht, hier zu
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
einer interdisziplinären Verankerung im Parlament zu
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
kommen.
GRÜNEN)
Ein anderes Thema, das insbesondere Kollege Wo-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: darg sehr stark in die Arbeit der Enquete-Kommission
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des eingebracht hat, befasst sich mit der Rationierung und
Kollegen Tauss? Priorisierung im Gesundheitswesen. Wir müssen er-
kennen, dass wir im Gesundheitswesen knappe Ressour-
cen haben und dies Prioritäten erfordert. Die Frage ist,
Michael Kauch (FDP):
wer über die Prioritäten entscheidet. Momentan ent-
Ja, gerne. scheidet nicht der Deutsche Bundestag. Die Rationie-
rung findet im Wesentlichen in den Arztpraxen statt.
Jörg Tauss (SPD):
Lieber Herr Kollege, ungeachtet der Tatsache, dass Mit dem Gesetzentwurf der Kollegin Ulla Schmidt
mir eine spannende Debatte wert wäre, sie auch um zur Gesundheitsreform wird das Institut für Qualität und
3.20 Uhr zu führen – wir haben ja schon um 2 Uhr mor- Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen beauftragt,
gens, dann allerdings unter Ausschluss der Öffentlich- nicht nur die Effektivität und Wirtschaftlichkeit bei glei-
keit, getagt –, möchte ich Ihnen eine Frage stellen, damit cher Wirkung zu untersuchen, sondern auch Kosten-Nut-
hier keine Missverständnisse entstehen. Sind Sie wirk- zen-Analysen neuer Therapien durchzuführen. Die
lich der Auffassung, dass uns in dem von Ihnen genann- Frage ist: Wofür machen wir diese Analysen? Diese
ten Punkt eine Enquete-Kommission weitergeholfen Analysen machen doch nur dann Sinn, wenn man hinter-
hätte? Enquete-Kommissionen haben ja nicht die Auf- her Entscheidungen darauf aufbaut. Da stellt sich die
gabe, ein aktuelles Gesetzgebungsverfahren vorzuberei- Frage: Wer trifft die Entscheidung, wenn Therapie A
ten – das sollte unverändert den Ausschüssen vorbehal- besser als Therapie B ist, aber mehr kostet? In England
hat man die Regelung, dass ein Lebensjahr zusätzlich
(B) ten sein –, sondern beschäftigen sich langfristig mit den (D)
Grundlagen. Würden Sie das bitte klarstellen, weil ein nicht mehr als 30 000 Pfund kosten darf.
Missverständnis möglicherweise auch draußen zu Irrita- (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])
tionen führt?
– Ja. Die Frage ist aber, wer entscheidet, wenn man diese
Prozesse weiterführt. Entscheidet der Gemeinsame Bun-
Michael Kauch (FDP):
desausschuss, das Ministerium oder im Rahmen einer
Herr Tauss, da stimme ich Ihnen völlig zu. Wir brau- offenen, fairen Debatte in diesem Parlament der Gesetz-
chen dafür gerade keine Enquete-Kommission. Bei vie- geber, wie das in anderen Ländern der Fall ist? Das muss
len Fragestellungen haben wir kein Erkenntnisproblem, man sich gut überlegen. Auch ich habe noch keine ab-
sondern ein Entscheidungsproblem. Ethische Themen, schließende Antwort auf diese Frage. Das sind aber Fra-
die eigentlich auf der Hand liegen, werden nicht voran- gen, die in einen Ethikbeirat gehören. Dort muss darüber
getrieben und vor allen Dingen nicht interdisziplinär dis- diskutiert werden, wie mit diesen ethischen Fragen nicht
kutiert. Nehmen wir als Beispiel die Sterbehilfe. Wir nur in der Forschung, sondern auch im Gesundheitswe-
haben hier die Situation, dass Sachverständige, bei- sen umgegangen wird.
spielsweise vom Deutschen Juristentag und der Bundes-
ärztekammer, aufgrund ihrer Fachmotivation eine ganz (Beifall bei der FDP)
unterschiedliche Herangehensweise an diese Themen
Ich möchte noch einen Hinweis zur Biomedizinkon-
haben. Deshalb müssen wir diese Themen ausschuss-
vention des Europarates geben. Deutschland hat sie,
übergreifend diskutieren. Wir wollen keine Enquete-
was der Auffassung der FDP widerspricht, nicht ratifi-
Kommission. Deshalb lehnen wir die Anträge der Grü-
ziert. Das enthebt den Deutschen Bundestag aber nicht
nen und der Linken ab, die im Prinzip auf eine Enquete-
der Aufgabe, die Weiterentwicklung dieser Konvention
Kommission ad infinitum hinausliefen.
im Europarat parlamentarisch zu begleiten. Auch hier ist
(Beifall bei der FDP) ein interdisziplinäres Vorgehen notwendig.
Lassen Sie mich noch auf einige andere Inhalte ein- Zum Abschluss eine herzliche Einladung seitens der
gehen, weil es wichtig ist, nach außen hin deutlich zu FDP-Fraktion. Wir haben Ihnen ein Modell vorgeschla-
machen, worum es bei dieser institutionellen Frage, über gen, das geschäftsordnungsmäßig exakt dem Parlamen-
die wir hier diskutieren, inhaltlich geht. Wir beschäfti- tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung entspricht.
gen uns beispielsweise – ich habe das bereits angespro- Wir haben ein übergreifendes, interdisziplinäres Gre-
chen – mit Fragen, die sich auf das Lebensende bezie- mium vorgeschlagen, das nur aus Abgeordneten besteht.
hen. Hier gibt es eine große Agenda. Das Thema Es handelt sich dabei nicht um eine Enquete ad infinitum.
6134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Michael Kauch
(A) Es ist auch keine Vermischung mit dem Deutschen Ich will darauf hinweisen, dass wir bis heute keine (C)
Ethikrat, der aus unserer Sicht einen Fortschritt gegen- wirklich sachlichen, rationalen Argumente gehört haben,
über dem Nationalen Ethikrat darstellt. Man kann beides warum Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht
beschließen. Man muss die Instrumente nicht gegenei- Mitglieder einer Ethikkommission sein können, ob be-
nander ausspielen. Ohne parlamentarische Begleitung ratend oder mitbestimmend, sei dahingestellt.
bleibt der Ethikrat aber ein Torso.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
Der Haupteinwand, der gebracht wird, lautet – wir haben
(Beifall bei der FDP) es heute wieder gehört; ich möchte darauf etwas ausführ-
licher eingehen –: Ethische Beratung braucht unabhängi-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen Sachverstand. Mit anderen Worten: Über den verfü-
Das Wort hat nun die Kollegin Ulla Burchardt für die gen Mitglieder des Bundestages nicht; das ist es doch,
SPD-Fraktion. was impliziert wird. Es fällt schwer, muss ich als lang-
jährige und selbstbewusste Abgeordnete sagen, diese
(Beifall bei der SPD) Einschätzung nicht als populistische Pflege antiparla-
mentarischer Ressentiments zu werten.
Ulla Burchardt (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und DIE GRÜNEN)
Herren! Herr Kollege Lammert, ich bin Ihnen ausge-
sprochen dankbar – ich glaube, das im Namen aller Mit- Ich will zwei sachliche Hinweise geben, die die Ab-
glieder der SPD-Bundestagsfraktion sagen zu können –, surdität dieses Einwands aufzeigen:
dass Sie den Weg für einen Konsens gewiesen haben.
Erstens. Jeder Abgeordnete ist dank der Verhaltensre-
Das ist ein großer Fortschritt in der Debatte.
geln des Deutschen Bundestags allemal transparenter als
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Wissenschaftler, von dem nicht bekannt ist, auf wes-
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ sen Payroll er steht.
DIE GRÜNEN)
Zweitens. Frau Weber-Hassemer als Vorsitzende des
Wir haben folgende Sachlage: Seit Januar gibt es Be- Nationalen Ethikrates ist ehemalige Richterin und beam-
mühungen, einen interfraktionellen Gruppenantrag vor- tete Staatssekretärin. Warum soll sie in ethisch-morali-
zulegen, der der Tradition des Umgangs mit solchen schen Fragen sachverständiger sein als beispielsweise
Themen in diesem Hause entsprechen würde. Seit Okto- der Mediziner Wolfgang Wodarg, unser ehemaliger
(B) ber liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. Ei- Sprecher in der Enquete-Kommission zu diesem Thema? (D)
gentlich wird die Bundesregierung vom Bundestag be-
Mein drittes Argument kommt von einem Mitglied
auftragt, etwas zu tun. Jetzt hat sie von sich aus dem
des Ethikrates selbst. So sagte, was den Sachverstand be-
Bundestag Vorschläge gemacht, wie er sich beraten las-
trifft, der Wissenschaftler van den Daele: „Unter Ethik
sen soll.
verstehen die Mitglieder das diskursive Ausbreiten und
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ Klären von Positionen und Argumenten; in diesem Sinne
DIE GRÜNEN]: Vorschriften!) sind auch die Wissenschaftler in den jeweiligen Gremien
Laien.“ Ich glaube, wir sollten uns das wechselseitige
Das ist ein bisschen ungewöhnlich. Herr Lammert, Sie Hin und Her betreffend Sachverstand zukünftig erspa-
haben den Weg gewiesen und gezeigt, wie wir alle Vor- ren.
lagen nutzen können, um in guter alter Tradition dieses
Hauses zu einem Konsens zu kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will nicht verhehlen, dass eine ganze Reihe mei-
ner Kollegen ein wenig unglücklich darüber sind, dass Ich will aber noch anmerken, dass es schon einen ge-
der Gruppenantrag keine Chance hatte, in diesem Hause wissen Hautgout hat, wenn der Einwand „mangelnder
geprüft und debattiert zu werden, weil er keine Aussicht Sachverstand“ von Abgeordneten zur Diskreditierung
auf Mehrheitsfähigkeit hatte. Das hatte mit Interventio- der Positionen anderer Abgeordneter benutzt wird, ge-
nen von außen auf die Fraktionsspitzen zu tun. Man rade in dieser Frage. Ich greife damit die Äußerungen
muss keinen Hehl daraus machen, dass Mitglieder der des Abgeordneten Röttgen auf, der jüngst mit Blick auf
Bundesregierung, aber auch Mitglieder des Nationalen meinen Kollegen Röspel festgestellt hat, dieser wolle
Ethikrates Einfluss genommen haben. Ich glaube, man sich als Abgeordneter nur selber beraten, dabei brauch-
muss in Zukunft etwas vorsichtiger miteinander umge- ten wir unabhängigen Sachverstand.
hen.
Ich will im Namen der gesamten SPD-Bundestags-
Es gibt immer außerhalb der Sachlogik liegende fraktion Folgendes klarstellen: Der Kollege Röspel hat
Gründe, warum man bestimmte Dinge nicht weitertreibt. Sachverstand; das hat er mit seiner Arbeit hier im Deut-
Wir Sozialdemokraten sind an dieser Stelle überhaupt schen Bundestag bewiesen. Er kommt zudem aus der bio-
nicht dogmatisch. Deswegen machen wir andere Vor- logischen Forschung. Mehr kann man in einer Person
schläge, wie wir zu einem Konsens kommen können. vereint kaum erwarten. Er ist zu hundert Prozent unab-
Die Kollegen nach mir werden im Detail darauf einge- hängig, er steht auf niemandes Payroll, er bezieht nur die
hen. Diäten, die die deutschen Steuerzahler aufbringen. Er
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6135
Ulla Burchardt
(A) besitzt die Fähigkeit, kritisch und hartnäckig zu hinter- (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Ich (C)
fragen; das stört manche, das wissen wir. Vor allen Din- nicht! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Er
gen besitzt er den Mut, zu zweifeln, und das schließt nicht!)
Selbstzweifel, Zweifel an der eigenen Position, ein. Das
macht die hohe moralisch-ethische Integrität seiner Per- Der letzte Punkt ist die Frage, wie Beratung als konti-
son aus. Deswegen ist der Kollege Röspel in den vergan- nuierlicher Diskursprozess organisiert werden und
genen Jahren über die Grenzen unserer Fraktion hinaus funktionieren soll. In dem Gesetzentwurf der Bundesre-
im ganzen Bundestag, aber auch in der deutschen Öf- gierung sind leider keine ausreichenden Hinweise dafür
fentlichkeit ein anerkannter Gesprächspartner geworden enthalten. Erfolgreiche Beratung kann nur als diskursi-
und genießt einen exzellenten Ruf. Das sollten diejeni- ver Prozess angelegt werden. Kollege Loske hat darauf
gen wissen, die sich so über ihn äußern. hingewiesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jeder, der diesem Parlament angehört, weiß, wie die
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Zuweisung von Vorlagen normalerweise vonstatten geht.
LINKEN) Neben den Hunderten von Berichten, die dem Bundestag
jährlich zugehen, erhalten wir dann noch einen weiteren
Ganz abgesehen davon, dass für Herrn Röttgen das alte und zwischendurch noch einige Stellungnahmen. Diese
biblische Wort gilt: Wenn man mit einem Finger auf je- werden dann an einzelne Ausschüsse weitergeleitet. Dort
manden zeigt, muss man sich immer im Klaren sein, wird die Beratung darüber neben weiteren 20 Punkten
dass drei Finger auf einen selber zurückzeigen. auf die Tagesordnung gesetzt. Jeder Ausschuss behan-
delt das Thema für sich alleine und gibt hinterher eine
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das woll- Empfehlung ab oder nimmt die Vorlage nur zur Kennt-
ten wir nicht ansprechen!) nis. Im Plenum werden dann Entscheidungen mit Mehr-
– Das wollten wir nicht ansprechen? Okay, dann strei- heit getroffen. Das kann doch wohl kein vernünftiger
chen wir das aus dem Protokoll. Beratungsprozess für dieses Thema sein. So können Ent-
scheidungen des Deutschen Bundestages in biomedizini-
(Heiterkeit bei der SPD) schen Fragen nicht vorbereitet werden.
Was den Gesetzentwurf der Bundesregierung betrifft, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gibt es in mehrerlei Hinsicht Klärungsbedarf. Ich glaube, DIE GRÜNEN)
die Kollegen Tauss, Loske und auch Herr Lammert ha-
ben mit ihren Hinweisen schon Etliches zusammengetra- Insofern setzen wir von der SPD darauf, zu einem
gen. wirklich ganz ernsthaften und normalen Beratungsver-
(B) fahren über den Gesetzentwurf zu kommen. Es verbietet (D)
Ich möchte noch einige Fragen aufwerfen: Wenn man sich dabei, in parteipolitische Schubladen einsortiert zu
auf Unabhängigkeit so großen Wert legt, wie sieht es werden, aber auch die Koalitionsdisziplin kann an dieser
dann mit der Prüfung der Unabhängigkeit der Mitglieder Stelle nicht angeführt werden. Wie der Kollege Lammert
des Ethikrates aus? Im Ethikrat sollen nicht nur Wissen- es formuliert hat, gehen auch wir davon aus, dass wir
schaftler vertreten sein, sondern auch sachverständige durch ein zeitlich anspruchsvolles und von allen akzep-
Persönlichkeiten. Es sollen nicht nur Wissenschaftsthe- tiertes geregeltes Verfahren, das bei Gesetzgebungen an-
men behandelt werden, sondern auch andere Themen. sonsten üblich ist, zu einem Konsens kommen.
Da fragt man sich natürlich: Wer repräsentiert die öko-
nomischen Belange in biomedizinischen Fragen? Ein Ich bitte, das Ganze ohne Druck und ohne den Hin-
Vertreter des BDI, der BDA oder der Branche? Das soll- weis darauf, dass Entscheidungen schnell exekutiert wer-
ten wir im Gesetzgebungsverfahren klären, damit Trans- den müssen, zu beraten. Alles andere wäre die schlech-
parenz und Unabhängigkeit nicht nur im Hinblick auf teste Voraussetzung für Vertrauen. Vertrauen brauchen
Abgeordnete, sondern auch im Hinblick auf Experten wir aber dringend, wenn unsere Zusammenarbeit mit
diskutiert wird. dem Deutschen Ethikrat in Zukunft im Interesse aller er-
folgreich sein soll.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
Meine nächste Frage betrifft die Finanzierung. „Für geordneten der FDP und der LINKEN)
den Bund entstehen keine Mehrkosten“, heißt es lapidar.
Aber: Aus welchem Einzelplan werden diese beglichen? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Und wenn die Kosten zu hundert Prozent vom Bundes- Nun erteile ich der Kollegin Monika Knoche für die
tag getragen werden, warum sollen wir nicht zu hundert Fraktion Die Linke das Wort.
Prozent bestimmen?
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist ja interessant, Herr Lammert, dass ein Externer
die Fachaufsicht über die Geschäftsstelle ausüben soll.
Da sage ich als Ausschussvorsitzende: Warum sollen Monika Knoche (DIE LINKE):
dann nicht wir die Fachaufsicht über die entsprechenden Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Damen
Sekretariate des Deutschen Bundestages haben? Da ha- und Herren Kolleginnen und Kollegen! Ich darf heute
ben Sie ein ganz neues Fass aufgemacht. für 46 Abgeordnete der Fraktion Die Linke zu Ihnen
6136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Monika Knoche
(A) sprechen, die es für notwendig halten, dass der Deutsche ordnete sind und bleiben die letzte Instanz, wenn es da- (C)
Bundestag ein Ethikkomitee einrichtet. rum geht, die Fragen zu entscheiden, die uns als Gesetz-
geber aufgegeben sind. Wir müssen uns vor Augen
Diese Idee fußt auf der Erfahrung, dass die Enquete-
führen, dass wir eine grundrechtsdogmatische Entschei-
Kommissionen des Deutschen Bundestages nicht nur
dung zu treffen haben. Wir müssen herausfinden: Wie
herausragende Leistungen erbracht haben, die es dem
kann die Forschung weiterentwickelt und gleichzeitig
Parlament ermöglicht haben, fundierte Entscheidungen
die Menschenwürde gewahrt werden? Das sind die He-
zu treffen, die jedoch nicht immer den Empfehlungen
rausforderungen, vor denen das Parlament in all diesen
der Enquete-Kommissionen entsprachen, sondern dass
Fragen steht.
sie darüber hinaus auch etwas geleistet haben, was wir
als Parlamentarier und als Politiker würdigen sollten: Schauen wir uns einmal an, wie weit reichend, gut
Die Bevölkerung fühlte sich im deutschen Parlament und tragfähig die bisherigen Entscheidungen waren. Ich
vertreten. Sie hat sich mit ihren Sorgen, Anliegen, Er- betone: Nicht alle Empfehlungen der Enquete-Kommis-
wartungen und Hoffnungen, die mit den modernen bio- sion wurden Gesetzesrealität. Aber die Vorschläge, die
medizinischen Fragen und mit dem Recht und der Ethik sie als Ergebnis ihrer Arbeit vorgelegt hat, waren quali-
in der modernen Medizin und Forschung verbunden tativ um Welten besser als das, was zuvor Realität war;
sind, bei ihren Parlamentarierinnen und Parlamentariern das gilt sowohl für das Organtransplantationsgesetz als
aufgehoben gefühlt. Das partizipative Verfahren war au- auch für das Stammzellforschungsgesetz. Das wird auch
ßerordentlich ausgeprägt. Behindertenverbände haben dann der Fall sein, wenn es um den Umgang mit geneti-
sich zusammengefunden und an den Debatten beteiligt. schen Daten und ähnliche Themen geht. Warum also
Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, auf diese hervor- sollte das deutsche Parlament hinter einer solchen Er-
ragende Art von parlamentarischen Gremien zu verzich- folgsgeschichte zurücktreten?
ten.
Wir haben uns auf internationaler Ebene ein sehr gu-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ tes Renommee erarbeitet, vor allem aufgrund der Art
DIE GRÜNEN) und Weise, wie wir dieses Thema in diesem Hohen
Ethik geht alle an. Die Debatte über ethische Fragen Hause, dem deutschen Parlament, behandelt haben. Ich
kann an niemanden und an kein Gremium delegiert wer- habe, ebenso wie die vielen Unterzeichnerinnen und Un-
den. Wir wissen, dass wir als Abgeordnete in der Pflicht terzeichner unseres Antrags, nichts dagegen, dass die
sind, diese hohen und anspruchsvollen Aufgaben zu er- Regierung ein Expertengremium einsetzt. Das ist ihr gu-
füllen und selbst Expertinnen und Experten in diesen tes Recht. Das ist auch richtig und wichtig. Aber das
Fragen zu werden. Ich muss wirklich sagen, dass ich den Parlament ist der Souverän. Das Parlament selbst muss
(B) Diskussionsprozess zur Herausbildung dieses Gesetzent- über die Kompetenz verfügen, darüber zu entscheiden, (D)
wurfs mit Erstaunen beobachtet habe. Ich fand das ei- wie diese hoch interessanten Fragen beraten werden sol-
gentümlich paternalistische Verständnis der Ministerin len.
Schavan gegenüber dem Parlament sehr erstaunlich. (Jörg Tauss [SPD]: Richtig! Das kann es auch
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja!) immer tun! Mit und ohne Gesetz!)
Das Parlament braucht kein Beratungsgremium, das ihm Ich denke, wir würden gut daran tun, uns an die Er-
nahe bringt, um welche Dimension und Entscheidungs- folge vorangegangener Enquete-Kommissionen zu hal-
tiefe es sich handelt. ten und uns für ein Gremium zu entscheiden, dessen Ein-
richtung uns die Geschäftsordnung des Deutschen
Schauen wir uns doch die Tradition hier im Deut- Bundestages ermöglicht. Wir sind frei zu entscheiden,
schen Bundestag an. Seit dem Veto gegen das so ge- wie wir die Geschäftsordnung des Bundestages ausge-
nannte Hirntodkonzept hat der Deutsche Bundestag hoch stalten.
qualifizierte und interdisziplinäre parlamentarisch-parti-
zipative Debatten geführt, Ich bitte Sie, im Rahmen unseres Diskussionsprozes-
(Ulla Burchardt [SPD]: Ja!) ses zurückzufinden zu der Ehre, die wir gespürt haben,
und dem Stolz, den wir empfunden haben, als es uns ge-
durch die der Bevölkerung die Möglichkeit gegeben lungen ist, die als „Sternstunden des Parlaments“ be-
wurde, sich hier wiederzufinden. Es haben Veranstaltun- zeichneten Entscheidungen zu treffen. Führen wir diese
gen stattgefunden: Kirchen, Behinderten- und Frauen- Tradition fort! Die Linke unterstützt dieses Ziel mit ih-
verbände haben Veranstaltungen von hoher Qualität rem vorliegenden Antrag.
durchgeführt, um weit reichende Fragen wie die der
Weiterentwicklung und der Ausgestaltung der Grund- Ich danke Ihnen.
rechtsprinzipien, der Menschenwürde und des Schutzes (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des Lebens in eine neue Gestalt und in eine Gesetzes- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
form zu bringen.
Was haben wir als Abgeordnete erlebt? Wir haben er- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
lebt, dass die Expertinnen und Experten aus dem Bereich Nächster Redner ist der Kollege Norbert Geis für die
der Wissenschaft – ob es Human- oder Geisteswissen- CDU/CSU-Fraktion.
schaftler oder auch andere waren – die Erfordernisse des
Gesetzgebers gar nicht so genau kennen. Wir als Abge- (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6137

(A) Norbert Geis (CDU/CSU): Ich glaube aber, für uns kann kein Zweifel daran beste- (C)
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten hen, dass wir ein solches Gremium brauchen.
Damen und Herren! Der Skandal um den südkoreani- (Jörg Tauss [SPD]: Ein Gesetzgebungsverfah-
schen Klonforscher Hwang hat gezeigt, dass seriöse Po- ren wollen wir immer haben!)
litikberatung auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften
dringend notwendig ist. Solche Politikberatung findet in – Ich bedanke mich für die Zustimmung, Herr Tauss. –
allen Staaten der westlichen Welt statt. Es handelt sich Wir brauchen ein solches Gremium – dessen Zuständig-
dabei immer um unabhängige, wissenschaftliche Gre- keitsbereiche aber nicht zu umfangreich sein dürfen,
mien, die das Parlament und die Regierung beraten. weil es dann uferlos würde – für die Entwicklung in den
Lebenswissenschaften, weil sich in diesem Bereich das
Auch bei uns gab es in der letzten Legislaturperiode Wissen sozusagen überschlägt. Dieses Wissen muss
ein solches Gremium. Es ist nicht ganz fair, dass die transformiert werden, damit Regierung und Parlament
Grünen der Regierung jetzt vorwerfen, sie würde ein eines rationalen, modernen Staates es nutzen können, um
neues Gremium installieren, das nicht so stark legiti- die richtigen Entscheidungen zu treffen.
miert ist, wie Sie sich das vorstellen, und ihr Vorgehen
sei nicht gerade parlamentarisch. Denn Sie selbst haben Wir brauchen das Wissen aus der Forschung und der
in der letzten Legislaturperiode die Einsetzung des parla- Gesellschaft, um auf staatlicher Ebene die richtigen Ent-
mentarisch überhaupt nicht legitimierten Nationalen scheidungen zu fällen. Das ist unbestritten. Dem stimmt
Ethikrates mitgetragen. jeder zu. Deshalb ist es auch völlig richtig, dieses Gre-
mium jetzt einzurichten und es durch das Parlament zu
(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- legitimieren. Je stärker die Legitimation durch das Parla-
NEN]: Zu keinem Zeitpunkt! Das ist falsch! ment ist, desto höher ist das Ansehen dieses Gremiums.
Das stimmt einfach nicht!)
Auch wenn im Einzelnen über die im Gesetzentwurf
Sie waren an der letzten Regierung doch selbst beteiligt. vorgeschlagenen Regelungen diskutiert werden kann
Deswegen ist das, was Sie jetzt sagen, nicht fair. Ich – die weitere Beratung kann in den Ausschüssen stattfin-
weise Ihren Vorwurf zurück. den –: Alles in allem halte ich den Gesetzentwurf für
richtig und zustimmungsfähig. Wir brauchen das vor-
(Beifall bei der CDU/CSU) handene Wissen, um auf staatlicher Ebene richtige Ent-
Auch ist es nicht fair, der Regierung vorzuwerfen, sie scheidungen zu fällen.
hätte ihren Gesetzentwurf nicht rechtzeitig vorgelegt Es geht aber nicht allein um das Wissen. Der Staat
bzw. das Parlament nicht früh genug darüber informiert. dient nicht nur der Wahrung der inneren und äußeren Si- (D)
(B) Unser Gesetzentwurf ist der SPD-Fraktion noch vor der
cherheit und der Schaffung eines sozialen Ausgleichs.
Sommerpause zugegangen. Die Regierung hat ihn be- Der Staat ist nicht nur eine pluralistische Funktionsge-
schlossen und an den Bundesrat weitergeleitet. meinschaft, sondern er muss seine Entscheidungen
(Zuruf von der SPD: Ja, zugeleitet!) – weil es sich in der Regel um Wertentscheidungen
handelt – immer auch ethisch begründen. Das ist zwar
Der Bundesrat hat dazu Stellung genommen. Es war also auch aus der Mitte des Parlamentes und vonseiten der
genug Zeit, darüber zu diskutieren. Regierung möglich – das will ich nicht absprechen –,
aber es ist auch richtig, das vorhandene Wissen zu nut-
(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/ zen und über die ethischen Grundlagen Rat von außen
DIE GRÜNEN]: Was? Wo denn?) einzuholen, nämlich von Wissenschaftlern, die sich täg-
lich von morgens bis abends damit beschäftigen. Der
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme keinerlei Staat muss diese Möglichkeiten nutzen; um nichts ande-
Einwendungen vorgetragen, weder von SPD-regierten res geht es.
Ländern noch von Ländern, in denen die FDP mitregiert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Zuruf von der SPD: Der Bundestag ist aber
nicht der Bundesrat, Herr Kollege!) Es geht nicht darum, dass der Staat irgendwelche
Zwecke verfolgt, und es geht auch nicht um einfache
Der Bundesrat hat unserem Gesetzentwurf also zuge- Entscheidungen. Vielmehr hat der Staat, wie gesagt, in
stimmt. Das bedeutet, dass im Grunde genommen das- der Regel Wertentscheidungen zu treffen. Der Staat ist
selbe Gesetzgebungsverfahren stattfand, wie es auch nicht nur ein Wissensstaat, sondern auch – wie
sonst immer der Fall ist. Böckenförde festgestellt hat – ein sittlicher Staat. Inso-
fern ist nicht nur die Transformation des Wissens, son-
(Zuruf von der SPD: Welches Verfassungsver-
dern auch die Übermittlung der ethischen Grundlagen
ständnis haben Sie eigentlich?)
notwendig. Das ist die Aufgabe des Ethikrates.
Deswegen verstehe ich die Aufregung nicht, dass Sie Ich meine, dass wir dem Gesetzentwurf zustimmen
nun behaupten, unser Gesetzentwurf sei sozusagen vom sollten.
Himmel gefallen und nicht rechtzeitig vorbereitet wor-
den. Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)
6138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hat wie die damalige Stammzelldebatte. Passt es zu ei- (C)
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ernst Dieter Ross- nem durch Parlamentsbeschluss aufgewerteten und so-
mann für die SPD-Fraktion. zusagen ins höchste Recht gesetzten Gremium – und das
in einer Konstanz, was ebenfalls zur Aufwertung bei-
(Beifall bei der SPD) trägt –, dass es zwei Delegationen gibt, nämlich die
durch das Parlament und die durch die Regierung? Si-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): cherlich trägt es zur Aufwertung bei, wenn die Regie-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rung delegiert und das Parlament legitimiert. Angesichts
Die Debatte erinnert mich an die große Ernsthaftigkeit dieser zwei Wege sollte man aber vielleicht darüber
und den Respekt vor den verschiedensten Positionen, als nachdenken, ob nicht alle Mitglieder, die in diesem Gre-
in diesem Parlament seinerzeit über die Stammzellfor- mium gleichberechtigt diskutieren sollen, in gleicher
schung debattiert worden ist. Weise durch das Parlament legitimiert werden müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bislang ist vorgesehen, dass die Mitglieder quasi durch
der CDU/CSU) zwei Gewalten zusammengeführt werden.

Darauf müssen wir uns auch deshalb beziehen, weil sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
in der Debatte um die Stammzellforschung in der deut- In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage,
schen Öffentlichkeit beispielhaft und auch zur Ehre des ob nicht in einem aus der Breite und mit der Souveräni-
Parlamentarismus und der Abgeordneten eine große tät des Parlaments delegierten Sachverständigenrates
Souveränität in der Sache gezeigt hat. Daraus haben sich eine bessere Repräsentanz aller vorhanden sein muss. Es
eine starke Legitimation der seinerzeit verabschiedeten handelt sich hier um eine Dopplung; denn das Parlament
Regelungen und eine gute Balance im politischen Ent- soll die Delegation der Regierung absichern. Das harmo-
scheidungsprozess ergeben. niert aber nicht miteinander.
Ohne jemanden abwerten zu wollen, möchte ich mit Die zweite Frage ist: Die Stammzelldiskussion hat
diesem Punkt an die Ausführungen von Herrn Lammert beispielhaft verdeutlicht, dass sich Abgeordnete nicht
anknüpfen. Sie sind zwar als Abgeordneter ans Redner- über den Sachverstand und die Erkenntnisse der Wissen-
pult getreten, aber Sie haben gesprochen wie ein Präsi- schaft erheben, sondern im Dialog offen sind und dies
dent. Ich glaube, dass damit auch in diese Debatte Sou- aufnehmen und verarbeiten. Dies muss auch hier unser
veränität, Legitimation und Balance eingebracht worden Anliegen sein. Herr Loske, Chapeau vor Ihrer Rede, in
sind, an die wir anknüpfen können. der Sie das Outsourcing hart kritisiert haben. Aber wo
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verknüpfen wir dies? Nur im Dialog ist ein Konsens über
(B) der CDU/CSU) ethische Fragen möglich. Ethik gründet sich nie nur auf (D)
Entscheidungen, sondern immer auch auf Konsens in der
Wir haben eine gemeinsame Überzeugung: Nach un- Gesellschaft. Die Verknüpfung dieser beiden Punkte ist
serem Verfassungsverständnis der Gewaltenteilung ist es aber in dem Vorschlag der Regierung noch nicht hinrei-
völlig legitim, dass die Regierung einen Gesetzentwurf chend berücksichtigt, insbesondere nicht bei der Institu-
einbringt. Er wird deshalb im Parlament beschlossen, tionalisierung, um es positiv zu formulieren.
weil es die höchste Legitimation hat, die ein Gremium
in Deutschland, in einer Demokratie haben kann. Es Ich frage daher: Kann ein unterstützender parlamen-
herrscht daher breiter Konsens darüber, dass eine parla- tarischer Beirat aus Abgeordneten parallel zu einem
mentarische Einsetzung und Legitimierung zu einer Auf- Sachverständigenrat einen institutionalisierten Dialog
wertung des Gremiums, aber auch der Anliegen beitra- führen? Dieser Punkt lässt sich auch in den Anträgen der
gen, die in einem solchen Rat behandelt werden. drei Oppositionsfraktionen finden. Es darf doch nicht
verboten sein, darüber nachzudenken, ob nicht nur dem
Herr Lammert, es ist bemerkenswert, dass Sie die Sachverständigrat ein Entscheidungsrecht, sondern auch
Fragen betreffend die Lebenswissenschaften in den Mit- den Abgeordneten ein Rede- und Debattierrecht einge-
telpunkt Ihrer Ausführungen gestellt haben. Angesichts räumt werden sollte. Das würde sinnfällig machen, wie
des Dualismus aus Ethikrat und Enquete-Kommission der Dialog dort geführt und beispielhaft für die Gesell-
haben wir durchaus registriert, dass dort keineswegs nur schaft organisiert werden kann. Dies mag man beden-
Fragen betreffend die Lebenswissenschaften, sondern ken, wenn es um die Weiterentwicklung des Vorschlags
– um es einfach auszudrücken – Lebensfragen erörtert geht. Frau Sitte, ich meine aus Ihrer Rede herausgehört
werden. zu haben, dass Sie sich durchaus ein Teilnahmerecht so-
wie ein Rede- und Diskussionsrecht vorstellen können.
(Beifall des Abg. Dr. Norbert Lammert [CDU/
CSU]) Es stellt sich schließlich drittens noch die Frage nach
der Öffentlichkeit. Natürlich kann man hier unter-
Das mag zwar ein zu einfacher Begriff sein, aber er um-
schiedliche Perspektiven aufzeigen. Die Regierung emp-
fasst das, was Sie intendiert haben und was sich hinter
fiehlt in ihrem Gesetzentwurf im Prinzip, nicht öffent-
der ethischen Aufgabenstellung verbirgt.
lich zu tagen. Aber man kann auch der Meinung sein,
Trotz aller Übereinstimmung möchte ich die Zeit für dass grundsätzlich öffentlich getagt werden soll. Das
souveräne, eigene Gedanken nutzen. Erstens. Wir haben Gremium sollte jedenfalls die Souveränität haben, zu
eben festgestellt, dass die Debatte nicht entlang der entscheiden, über welche Fragen es nicht öffentlich dis-
Fraktionsgrenzen verläuft, sondern die gleiche Qualität kutieren will. Diese Perspektive dürfen wir nicht verlo-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6139
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) ren gehen lassen, nämlich dass Ethikfragen an die Ge- Deshalb ist es mir auch wichtig, auf Sie, Frau Kno- (C)
sellschaft gerichtet sind und diese nicht nur aus der che, einzugehen. Mein Selbstbewusstsein wird nicht des-
Gesellschaft aufgenommen und in einem Kreis stellver- wegen geringer, weil wir eine Beratungsinstitution ha-
tretend für die Gesellschaft debattiert werden. ben.
Ich will mit etwas enden, was mich beeindruckt hat. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Als der erste Ethikrat eingerichtet wurde und der desi-
Unsere Entscheidung ist deswegen souverän, weil
gnierte Vorsitzende, Herr Simitis, gefragt wurde, was ihn
vorher der Diskurs geführt worden ist und wir auf dessen
eigentlich in besonderer Weise zum Vorsitz des Ethikrats
Basis selbstständig im Parlament entscheiden. Ich kann
qualifiziere, hätte er seine ganze wissenschaftlich-juristi-
nicht verstehen, dass gesagt wird, unser Selbstbewusst-
sche Reputation anführen können. Herr Simitis sagte
sein würde dadurch geringer. Ich finde eher, dass das
aber: Fachlich nichts, aber vom Gestus, von der Haltung
Gegenteil richtig ist und wir souveräner werden, wenn
her, die Offenheit, die Souveränität, das Bemühen um
wir vorher die Möglichkeit haben, mit Sachverständigen
ethische Grundfragen. Er hätte es auch einfacher sagen
zu beraten.
können: die Klugheit in der Sache.
Die erste Lesung, die wir heute haben, muss der Auf-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) takt für eine Debatte darüber sein, wie in Zukunft der
Das ist es, was im Ethikrat zusammengebracht wer- Diskurs fortgesetzt werden kann, gerade weil wir verän-
den muss: Klugheit in der Sache. Man kann das auch auf derte Rahmenbedingungen haben. So besteht eine verän-
die Politik beziehen. Herr Präsident Lammert, Sie haben derte Rahmenbedingung darin, dass es diese Enquete-
Klugheit von uns eingefordert. Aber Klugheit sortiert Kommission nicht mehr gibt. Das heißt, es besteht An-
sich nicht nach Mehrheiten, schon gar nicht in diesem lass, darüber nachzudenken, wo wir in Zukunft diesen
Fall. Diskurs verorten können und – das halte ich für die ent-
scheidende Frage, über die wir noch ausführlich werden
(Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE sprechen müssen – wie wir die Sachverständigenbera-
LINKE]) tung mit der parlamentarischen Beratung verzahnen
Klugheit organisiert sich nach Beteiligung und nach können. Darauf müssen wir bei der ausführlichen Bera-
Konsens. Das wünschen wir uns. tung des Gesetzentwurfes genauer schauen.

Vielen Dank. Es macht Sinn, die bisherigen Stärken dieser Bera-


tungsinstitutionen, die es gab, aufzugreifen. Bei aller
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN Kritik an der Frage, wie der Nationale Ethikrat zustande
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kam, muss man doch auch sehen, dass die Entscheidun-
(B) (D)
gen, die er für sich selbst getroffen hat, und die Beratun-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen, die er geführt hat – das ist ganz deutlich in jedem
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Bericht zu spüren –, überhaupt nicht beeinflusst waren.
Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion. Es gab sehr ausführliche Minderheitenvoten. Da hat sich
die Souveränität der Institution gezeigt. Diese Stärke
(Beifall bei der SPD) sollten wir jetzt aufgreifen.
(Beifall bei der SPD)
Nicolette Kressl (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die interdisziplinäre Zusammensetzung
Wir haben in diesem Hause, wie ich finde, eine lange – diese betrifft nicht nur die verschiedenen Wissenschaf-
und gute Tradition der inhaltlichen Diskussion über ethi- ten, sondern auch die ganz unterschiedlichen Erfah-
sche, bioethische Fragen. Mich freut – mein Kollege rungshintergründe, die die Mitglieder dieses Ethikrats
Rossmann hat es schon angesprochen –, dass wir auch hatten – sollten wir unbedingt wieder aufgreifen, nutzen
mit dieser Debatte, in der es ausdrücklich „nur“ um und einbringen. Diese sollten wir mit dem verbinden,
Strukturfragen geht, eine gute Debatte begonnen haben. was ich als Stärke der Enquete-Kommission empfunden
habe. Deren Spezifikum ist die Zusammenfügung der
Wenn wir uns überlegen, wo wir in den letzten Jahren Sachverständigenberatung mit dem Diskurs der Parla-
einen Diskurs über solche Fragen führen konnten, dann mentarier. Wir sollten noch einmal gemeinsam überle-
müssen wir feststellen, dass es drei institutionalisierte gen, wie wir diese Stärke aufgreifen und in das Gesetz,
Orte gab – wenn diese auch nicht miteinander zu verglei- das wir zum Schluss verabschieden wollen, einbringen
chen sind –, nämlich die Enquete-Kommissionen, den können.
Nationalen Ethikrat und in ganz besonderem Maße den
Deutschen Bundestag. Wichtig ist, deutlich zu machen, Wenn wir diesen Gesetzentwurf beraten, müssen wir
dass die Entscheidung über solche Fragen, wenn auch Folgendes bedenken: Erstens. Wie entsteht dieses Gre-
Diskurs- und Beratungsmöglichkeiten in diesen Institu- mium? Wie wird es benannt und in welcher Verantwor-
tionen vorhanden waren, immer beim Deutschen Bun- tung benennen wir es? Es macht natürlich Sinn, noch
destag lag und sie auch immer beim Bundestag liegen einmal über die schwierige Frage zu diskutieren, ob wir
wird. die Mitglieder des Gremiums hälftig benennen oder ob
wir die Legitimation aller Experten in diesem Gremium
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg auf die gleiche Art und Weise verankern. Meine Vorred-
Tauss [SPD]: Das ist der Punkt!) ner haben das auch schon angesprochen.
6140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Nicolette Kressl
(A) Wir sollten auch überlegen, welche Brücke wir bauen rung des Anerkennungs- und Vollstreckungs- (C)
müssen, um den Diskurs zwischen denen, die zum ausführungsgesetzes
Schluss parlamentarisch beraten und entscheiden wer-
– Drucksache 16/2857 –
den, und den Sachverständigen zu ermöglichen. Ich will
noch einmal betonen: Es geht nicht um Machtstrukturen. Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Für mich geht es vielmehr darum, dass wir den besten
Weg finden, um den Austausch zwischen Parlamenta- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
riern und Sachverständigen institutionell möglichst gut gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Bu-
zu verankern. dapester Übereinkommen vom 22. Juni 2001
über den Vertrag über die Güterbeförderung
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) in der Binnenschifffahrt (CMNI)
Es lässt sich über die Frage eines Beirats durchaus – Drucksache 16/3225 –
miteinander diskutieren. Wir haben überhaupt noch nicht
Überweisungsvorschlag:
festgelegt, wie er aussehen könnte. Mir ist es aber schon Rechtsausschuss (f)
wichtig, nicht zu sagen, wir wollen zwei Parallelgre- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
mien, aber auch nicht zu sagen, wir wollen nur eines al-
leine. Wir wollen eine möglichst gute Zusammenarbeit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
zwischen der Institution, die zum Schluss entscheidet, gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
und der Institution, die berät, hinbekommen. Ich freue Änderung des Weingesetzes
mich, dass heute angeklungen ist, dass wir ausreichend – Drucksache 16/3226 –
Zeit und Möglichkeiten haben werden, uns Gedanken Überweisungsvorschlag:
darüber zu machen, wo es hingehen soll. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ich bin der Überzeugung – das möchte ich abschlie- Ausschuss für Gesundheit
ßend sagen –, dass wir eine möglichst große Akzeptanz
dieses Deutschen Ethikrats erreichen werden, wenn wir d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
eine möglichst breite, konsensuale Verankerung dieser gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Institution erreichen. Dabei stellt sich auch die Frage, Haager Übereinkommen vom 13. Januar 2000
wie breit diese hier im Parlament getragen wird. Die über den internationalen Schutz von Erwach-
möglichst hohe und breite Akzeptanz des Deutschen senen
Ethikrats wird nicht nur symbolisch sein, sondern wird – Drucksache 16/3250 –
– da bin ich mir sicher – die atmosphärische und tatsäch- Überweisungsvorschlag:
(B) liche Grundlage dafür legen, dass er seine Aufgaben Rechtsausschuss (f) (D)
bestmöglich wahrnehmen kann. Deshalb sollten wir Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
diese erste Lesung als Auftakt dafür nutzen, um den bes- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
ten Weg zu ringen. Wir sollten dabei immer daran den- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
ken – darin möchte ich Herrn Lammert unterstützen –, zung des Haager Übereinkommens vom
dass wir ein gemeinsames Ziel haben und es darum geht, 13. Januar 2000 über den internationalen
für die besten Wege zu diesem gemeinsamen Ziel zu Schutz von Erwachsenen
streiten.
– Drucksache 16/3251 –
Vielen Dank. Überweisungsvorschlag:
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rein-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hard Grindel, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Pe-
ter Albach, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Ich schließe die Aussprache.
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Tauss, Monika Griefahn, Martin Dörmann, weite-
Drucksachen 16/2856, 16/3199 und 16/3289 an die in der rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Schaffung eines kohärenten europäischen
Die Vorlage auf Drucksache 16/3277 – Tagesordnungs- Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu ei-
punkt 4 d – soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage nem Schwerpunkt deutscher Medien- und
auf Drucksache 16/3199 – Tagesordnungspunkt 4 b – Kommunikationspolitik in Europa machen
überwiesen werden.
– Drucksache 16/3297 –
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Überweisungsvorschlag:
Dann ist das so beschlossen. Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Rechtsausschuss
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 f sowie Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6141
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) ZP 3 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der (C)
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 40 a bis
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung 40 o und zu Tagesordnungspunkt 23. Es handelt sich um
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
(EVZ-StiftG) sprache vorgesehen ist.

– Drucksache 16/3270 – Tagesordnungspunkt 40 a:


Überweisungsvorschlag: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Innenausschuss (f) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
zur Neuordnung des Tierzuchtrechts sowie
Finanzausschuss zur Änderung des Tierseuchengesetzes und
des Tierschutzgesetzes
b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Jerzy
Montag und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ – Drucksache 16/2292 –
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
setzes zur Verlängerung von Befristungsrege-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
lungen im Gesetz zur Entlastung der Rechts-
cherschutz (10. Ausschuss)
pflege und im Einführungsgesetz zur
Zivilprozessordnung (Justizmodernisierungs- – Drucksache 16/3299 –
auskopplungsgesetz)
Berichterstattung:
– Drucksache 16/3282 – Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Überweisungsvorschlag: Dr. Wilhelm Priesmeier
Rechtsausschuss (f) Hans-Michael Goldmann
Innenausschuss Dr. Kirsten Tackmann
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Bärbel Höhn
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Fried-
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
rich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak-
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten An-
lung auf Drucksache 16/3299, den Gesetzentwurf in der
nette Faße, Reinhold Hemker, Renate
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
(B) dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen (D)
Fraktion der SPD
wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal-
Nationale Naturlandschaften – Chancen für tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und
nachhaltige Regionalentwicklung der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
– Drucksache 16/3298 – angenommen.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f) Dritte Beratung
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Verbraucherschutz Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Tagesordnungspunkt 40 b:
Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Wissenschaftssystem zukunftsfähig gestalten – gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
wissenschaftsadäquate Arbeitsbedingungen Gesetzes zur Änderung des Versorgungsrück-
schaffen lagegesetzes
– Drucksache 16/3286 – – Drucksache 16/2855 –
Überweisungsvorschlag: – Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) ausschusses (4. Ausschuss)
Innenausschuss
– Drucksache 16/3319 –
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte. Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Siegmund Ehrmann
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Dr. Max Stadler
6142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Petra Pau Tagesordnungspunkt 40 d: (C)
Silke Stokar von Neuforn
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik
– Drucksache 16/3323 – Deutschland und der Republik Jemen über
die Förderung und den gegenseitigen Schutz
Berichterstattung: von Kapitalanlagen
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn – Drucksache 16/2861 –
Jürgen Koppelin
Roland Claus – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
Alexander Bonde von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- vom 16. Juni 2005 zwischen der Bundesre-
empfehlung auf Drucksache 16/3319, den Gesetzent- publik Deutschland und der Arabischen Re-
wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- publik Ägypten über die Förderung und den
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. – Drucksache 16/2862 –

Dritte Beratung – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des


von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – 19. und 20. April 2005 zwischen der Bundes-
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- republik Deutschland und der Islamischen
wurf ist damit ebenfalls einstimmig angenommen. Republik Afghanistan über die Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapital-
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- anlagen
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
3328. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – – Drucksache 16/2863 –
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
(B) ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des (D)
nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
FDP und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/ wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
Die Grünen abgelehnt. 10. August 2005 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Demokratischen
Tagesordnungspunkt 40 c: Republik Timor-Leste über die Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapital-
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des anlagen
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom – Drucksache 16/2864 –
14. März 2006 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Französischen Republik Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
über den Bau einer Eisenbahnbrücke über den ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Rhein bei Kehl schuss)

– Drucksache 16/2860 – – Drucksache 16/3304 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Berichterstattung:


ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Abgeordneter Rolf Hempelmann
(15. Ausschuss)
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
– Drucksache 16/3224 – fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/
3304, die Gesetzentwürfe anzunehmen. Wenn Sie damit
Berichterstattung: einverstanden sind, können wir über die vier Gesetzent-
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter würfe gemeinsam abstimmen. – Ich sehe, das ist der
Fall. Dann können wir so verfahren.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt auf Drucksache 16/3224, den Gesetzent- Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen zustim-
wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- men wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Wer
entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist enthält sich? – Dann sind diese vier Gesetzentwürfe mit
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Frak-
damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- tion Die Linke – sie hat dagegen gestimmt – angenom-
men. men.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6143
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Tagesordnungspunkt 40 e: wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali- (C)
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
stimmen der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Die Grünen angenommen.
zur Änderung des Eichgesetzes
– Drucksache 16/2920 – Wir kommen zur

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- dritten Beratung


ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
schuss) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
– Drucksache 16/3305 – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in
Berichterstattung: der zweiten Beratung angenommen.
Abgeordneter Albert Rupprecht (Weiden)
Tagesordnungspunkt 40 g:
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
che 16/3305, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- zur Änderung des Transparenzrichtlinie-Ge-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um setzes
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
– Drucksache 16/2952 –
sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen schuss)
angenommen.
– Drucksache 16/3261 –
Dritte Beratung
Berichterstattung:
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Abgeordneter Eckhardt Rehberg
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/
men. 3261, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejeni-
(B) gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das (D)
Tagesordnungspunkt 40 f: Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuer-
Dritte Beratung
gesetzen
– Drucksachen 16/2951, 16/3285 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
– Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
ausschusses (7. Ausschuss) entwurf ist einstimmig angenommen.
– Drucksache 16/3306 – Tagesordnungspunkte 40 h bis 40 o: Dabei geht es um
Berichterstattung: die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Abgeordnete Patricia Lips Tagesordnungspunkt 40 h:
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 16/3317 – Sammelübersicht 118 zu Petitionen
Berichterstattung:
– Drucksache 16/3127 –
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Otto Fricke tungen? – Sammelübersicht 118 ist einstimmig ange-
Dr. Gesine Lötzsch nommen.
Anja Hajduk
Tagesordnungspunkt 40 i:
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/3306, den Gesetzent- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte ausschusses (2. Ausschuss)
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Sammelübersicht 119 zu Petitionen
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist
dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzent- – Drucksache 16/3128 –
6144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Gegenstimmen der Fraktionen von FDP und Bünd- (C)
Die Sammelübersicht 119 ist mit den Stimmen der Koa- nis 90/Die Grünen angenommen.
litionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Tagesordnungspunkt 40 o:
des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 40 j: ausschusses (2. Ausschuss)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 125 zu Petitionen


ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/3134 –
Sammelübersicht 120 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 125 ist mit den Stimmen
– Drucksache 16/3129 –
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnis-
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- ses 90/Die Grünen bei Ablehnung durch die Fraktion der
gen? – Sammelübersicht 120 ist einstimmig angenom- FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
men.
Tagesordnungspunkt 23:
Tagesordnungspunkt 40 k:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
ausschusses (2. Ausschuss) über die Durchsetzung der Verbraucher-
schutzgesetze bei innergemeinschaftlichen
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
Verstößen
– Drucksache 16/3130 –
– Drucksache 16/2930 –
Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
gen? – Die Sammelübersicht 121 ist bei Gegenstimmen
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller anderen
cherschutz (10. Ausschuss)
Fraktionen angenommen.
– Drucksache 16/3307 –
Tagesordnungspunkt 40 l:
Berichterstattung:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Abgeordnete Julia Klöckner
ausschusses (2. Ausschuss)
Elvira Drobinski-Weiß
(B) Sammelübersicht 122 zu Petitionen Hans-Michael Goldmann (D)
Dr. Kirsten Tackmann
– Drucksache 16/3131 – Ulrike Höfken
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
gen? – Sammelübersicht 122 ist bei Gegenstimmen der Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stim- lung auf Drucksache 16/3307, den Gesetzentwurf in der
men aller anderen Fraktionen angenommen. Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
Tagesordnungspunkt 40 m: dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ent-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
ausschusses (2. Ausschuss) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
Sammelübersicht 123 zu Petitionen Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
– Drucksache 16/3132 –
Dritte Beratung
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 123 ist mit den Stimmen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
und der Fraktion Die Linke angenommen. wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 n:
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
Zur Frage der Praxistauglichkeit der Hartz-
– Drucksache 16/3133 – Gesetze und der Erforderlichkeit einer Gene-
ralrevision
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 124 ist mit den Stimmen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6145
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei (C)
der SPD)
Klaus Ernst (DIE LINKE): Auf etwas möchte ich dabei deutlich hinweisen:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gegenwärtig geistern ja einige Debatten durch (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Wir hören Sie,
die Republik, die durch Herrn Rüttgers angestoßen wur- aber wir können Sie nicht verstehen!)
den und die es wert sind, dass man darüber nachdenkt.
Das macht es notwendig, den einen oder anderen Punkt Es ist an dieser Stelle natürlich Vorsicht geboten. Es ist
deutlich anzusprechen. sinnvoller, das Arbeitslosengeld I nicht nur danach zu
bemessen, wie lange ein Arbeitnehmer eingezahlt hat,
Es geht vor allen Dingen um die Frage: Waren die sondern auch danach, wie alt jemand ist. Das war die alte
Hartz-Gesetze erfolgreich oder nicht? Regelung, die wir beim Arbeitslosengeld I hatten. Die
war vernünftig, weil die Arbeitslosenversicherung eine
(Zuruf von der SPD: Die Frage stellte Rüttgers
Risikoversicherung ist und weil es einfach so ist, dass
nicht!)
man im Alter ein höheres Risiko hat.
Die Frage ist sehr einfach zu beantworten, wenn man
sich einmal überlegt, mit welchem Ziel man angetreten (Beifall bei der LINKEN)
ist. Ich möchte hier an das erinnern, was Herr Hartz am Das ist das eine.
16. August 2002 im Französischen Dom zu Berlin ge-
sagt hat: Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen. Das Zweite ist etwas ganz anderes, nämlich die Vor-
Unser Ziel ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren schläge, die mit den Rüttgers-Positionen verbunden sind.
um 2 Millionen zu reduzieren. – Die Realität kennen wir Da muss man genau hinschauen. Es gibt keinen Grund,
alle: Das war die größte politische Scharlatanerie, die über eine Gegenfinanzierung nachzudenken, wenn die
wir in den letzten Jahren in diesem Land erlebt haben. Bundesagentur 10 Milliarden Euro Gewinn macht.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist eingetreten. Die Ar- Warum muss man eigentlich bei anderen sparen, wenn
beitslosigkeit ist gestiegen, Billigjobs verdrängen regu- offensichtlich das Geld sprudelt, und zwar auf Kosten
läre Arbeitsverhältnisse, versicherungspflichtige Be- der Arbeitslosen, bei denen man eingespart hat?
schäftigung ist zurückgegangen.
Deshalb sage ich Ihnen, meine Damen und Herren:
(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Wo haben Sie das Das, was Ihr zweiter Vorschlag beinhaltet, ist eigentlich
(B) denn her?) – da hat Müntefering Recht – eine Sauerei. Sie wollen (D)
Diese Reform ist gescheitert, meine Damen und Herren. wieder einführen, dass beim Arbeitslosengeld-II-Bezug
sozusagen die Alten für die Jungen sowie die Jungen für
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei die Alten in der Familie einstehen sollen; nur vor diesem
der CDU/CSU und der SPD) Hintergrund soll Geld gezahlt werden. Ich will Ihnen sa-
Deshalb ist eine Generalrevision von Hartz IV richtig. gen, wo Sie da abgeschrieben haben. Ich zitiere aus dem
Natürlich muss man das Arbeitslosengeld I länger zah- Antrag der CDU-Landesverbände. Dort heißt es, im Ge-
len. Das sage ich ganz bewusst in Richtung SPD. Jeder genzug zu Ihren Vorschlägen werden die alten Regelun-
weiß, dass jemand, der älter als 50 ist und seinen Job gen der Sozialhilfe „zur gegenseitigen Einstandspflicht
verliert, eher das Bundesverdienstkreuz bekommt, als von Eltern für ihre Kinder, auch von Kindern für ihre
noch einmal einen neuen Job zu finden. Eltern“ wieder eingeführt. Sie wollen also beim Arbeits-
losengeld II dafür sorgen, dass der Streit wieder in die
(Beifall bei der LINKEN) Familien kommt. Sie wollen dafür sorgen, dass die So-
Ich weiß überhaupt nicht, warum gerade in Ihrer zialpolitik letztendlich abgeschafft und ihre Aufgabe
Fraktion Aufregung entsteht, wenn nun das Arbeits- wieder in die Familien verlagert wird. Das ist Ihr Vor-
losengeld I wieder einigermaßen vernünftig gezahlt wer- schlag und das ist ein politischer Skandal, meine Damen
den soll, sodass man nicht direkt nach einem Jahr beim und Herren.
Arbeitslosengeld II mit 345 Euro Regelsatz landet. Wo (Beifall bei der LINKEN)
da die Logik sein soll, wenn Sie als Sozialdemokraten
dagegen sind, verstehe ich nicht. Was Sie hier vorschlagen, ist nichts Neues und ist re-
lativ einfallslos. Wir wissen ja, dass es in der CDU enge
Ich weiß auch nicht, warum Sie Angst haben, einen Verbindungen zur Bundesvereinigung der Deutschen Ar-
Fehler zuzugeben. Herr Hartz ist weg wegen unredlichen beitgeberverbände gibt; ich erwähne Herrn Göhner. Nun
Lebenswandels. Herr Schröder hat inzwischen ein Buch heißt es in dem BDA-Papier „Konsequente Reform von
geschrieben. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, ‚Hartz IV‘ – 10-Punkte-Plan der BDA“ vom 31. Juli
als unredlich darin vorzukommen. – ich zitiere –:
(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sie brauchen uns
Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips muss die ge-
nicht anzuschreien!)
genseitige Unterstützung von Eltern und Kindern
Sie können einfach wieder sozialdemokratische Politik wie bei der früheren Sozialhilfe wieder Vorrang vor
machen. Fangen Sie doch mal damit an! staatlicher Unterstützung erhalten.
6146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Klaus Ernst
(A) Sie haben ja nicht einmal etwas Neues geschrieben, überall dort, wo es ausprobiert wurde, versagt. Denn die (C)
meine Damen und Herren von der CDU/CSU! DDR ist untergegangen.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Aber Sie (Zurufe von der LINKEN: Oh!)
jeden Tag!)
Am Ende hatten nicht alle mehr, sondern alle nichts
Sie haben schlichtweg nur das BDA-Papier abgeschrie- mehr gehabt. Danach folgte die größte friedliche Revo-
ben. lution gegen genau das Modell, das Sie nun ständig neu
Dieser sozialpolitische Vorschlag ist ein Trojanisches in die Debatte zu bringen versuchen. Wir halten aber da-
Pferd: Sie tun so, als würden Sie das Arbeitslosengeld I gegen.
sinnvollerweise erhöhen wollen; eigentlich wollen Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
aber beim Arbeitslosengeld II, bei den Ärmsten der Ar- neten der SPD)
men, weiter sparen.
Sie betreiben eine Art Populismusolympiade – auch
(Beifall bei der LINKEN) Herr Gysi wird gleich seinen Auftritt haben –
Ein weiterer Skandal ist, dass Sie hier bei der Armuts-
(Beifall bei der LINKEN)
debatte so tun, als hätten Sie mit der Armut in dieser Re-
publik nichts zu tun. Sie sind nicht ursächlich dafür ver- – ja, ich freue mich schon darauf –: schneller, besser,
antwortlich; aber mit Ihren Hartz-Gesetzen haben Sie weiter. Sie wollen die Besten sein, indem Sie allen etwas
maßgeblich zur Armut, auch zur Kinderarmut, in diesem versprechen. Am Ende werden Sie aber Ihre Verspre-
Lande beigetragen. Diesen Vorwurf müssen Sie sich ge- chen nicht halten können.
fallen lassen.
Ich will ein paar Beispiele nennen. Was machen Sie
(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: im Rahmen der Haushaltsberatungen? Sie fordern, die
Komm mal runter!) Regelsätze für das Arbeitslosengeld II von 345 auf
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. 420 Euro zu erhöhen.

(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Grotthaus (Beifall bei der LINKEN)
[SPD]: Das war jetzt aber schwach!) Das ist ein altes Thema. Sie wollen damit locker die
Ausgaben um 5,8 Milliarden Euro auf 27,2 Milliarden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Euro erhöhen. Wenn man Sie dann fragt, woher Sie das
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Meckelburg Geld nehmen wollen, dann kommen Sie mit den alten
(B) von der CDU/CSU-Fraktion. Hüten, die kein Mensch mehr hören kann. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU) Bei den Leistungen für die Unterkunft, über die es
zwischen Bund und Ländern Verhandlungen gegeben hat
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): – das Ergebnis ist ein Bundeszuschuss in Höhe von
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 4,3 Milliarden Euro –, fordern Sie eine Erhöhung auf
Herren! Ich habe den Eindruck, Herr Ernst, Ihnen fehlen 5,7 Milliarden Euro. Das ist alles nicht mehr nachvoll-
die Auftritte auf sozialdemokratischen Parteitagen. Auch ziehbar. Sie wollen locker 10 Milliarden Euro draufsat-
bei der IG Metall ist es ein bisschen schwierig gewor- teln, sagen aber keinem Menschen, woher Sie das Geld
den, nachdem Sie in eine Partei gegangen sind, die zu- nehmen wollen.
mindest nicht bei allen im DGB hoffähig ist.
(Zuruf von der LINKEN: Das ist nicht wahr!)
Ich habe mir ein bisschen Sorgen gemacht, als ich den
Titel dieser Aktuellen Stunde gelesen habe: „Zur Frage Mit Ihrer Politik der Mehrausgaben werden Sie aber
der Praxistauglichkeit der Hartz-Gesetze und der Erfor- scheitern. Denn das Geld ist nicht da. Wir müssen eine
derlichkeit einer Generalrevision“. Ich habe den Titel ex- Politik für den Arbeitsmarkt machen und dürfen nicht
tra mitgenommen; das kann man kaum auswendig ler- einfach nur immer mehr Geld ausgeben.
nen. Das ist doch eher der Titel einer Doktorarbeit an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einer marxistisch-leninistischen Institution. neten der SPD – Ulrich Maurer [DIE LINKE]:
(Beifall bei der CDU/CSU) 8 Milliarden Euro bei der Unternehmensteuer-
reform!)
Sie können uns nicht erklären, warum dieses Thema
jetzt aktuell sein soll. Was Sie von der Linken/PDS ei- Was fällt Ihnen zum Thema Überschuss bei der Bun-
gentlich wollen, ist doch klar: Sie wollen jede Woche im desagentur für Arbeit ein? Da fällt Ihnen nichts anderes
Bundestag mit abgegriffenen sozialistischen Wink- ein, als das Geld zu nehmen und für irgendein Programm
elementen durchs Plenum laufen und den Leuten etwas auszugeben.
vorgaukeln. (Widerspruch bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir müssen aber das Geld den Menschen zurückgeben,
Wir werden dagegenhalten. Sie können jede Woche wie- die es einbezahlt haben. Damit schaffen wir Raum für
derholen, was Sie jetzt machen. Ihre Rezepte sind abge- die Senkung der Lohnnebenkosten und für die Schaffung
griffen. Das Modell – es hatte einen Namen: DDR – hat von Arbeitsplätzen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6147
Wolfgang Meckelburg
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
Dirk Niebel [FDP]) Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der
FDP-Fraktion.
Jetzt werde ich ruhiger; denn die Veränderungen fin-
den längst statt. Die Oktoberzahlen belegen, dass es ei- (Beifall bei der FDP)
nen Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um fast
500 000 auf jetzt 4 Millionen gibt. Wir haben vor allen Dirk Niebel (FDP):
Dingen im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Beschäftigung eine Trendumkehr; Sie haben vorhin fal- Herren! Es ist jetzt ungefähr vier Jahre her, dass die Fei-
sche Zahlen genannt. Seit September 2000 ging im Be- erstunde zu den Hartz-Gesetzen im Französischen Dom
reich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf dem Gendarmenmarkt stattgefunden hat. Damals hat
– unter diesen Bereich fallen die Menschen, die Steuern Herr Hartz, der übrigens ebenso wie Sie, Herr Ernst, IG-
und Sozialversicherungsbeiträge zahlen – die Zahl der Metall-Mitglied ist, weshalb Sie vielleicht etwas netter
Stellen in einem Zeitraum von 65 Monaten um zu ihm sein sollten,
1,7 Millionen zurück. Aber seit Mai dieses Jahres ist es
der neuen Koalition gelungen, eine Trendwende her- (Beifall bei der FDP)
beizuführen. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es
gesagt, dass die Arbeitslosigkeit mit dem von ihm vorge-
260 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
legten Konzept innerhalb von zwei Jahren halbiert wer-
gungsverhältnisse. Das führt zu positiven Effekten wie
den könne. Jetzt stellen wir fest, dass die Bundesregie-
Wirtschaftswachstum und Mehreinnahmen der Sozial-
rung die Trendwende am Arbeitsmarkt verkündet. Der
kassen. Diesen Weg müssen wir gehen. Er ist die konse-
Kollege Meckelburg hat eben mit Begeisterung festge-
quente Alternative zu dem, was Sie hier ständig in Aktu-
stellt, dass fast 300 000 sozialversicherungspflichtige
ellen Stunden vorleiern.
Beschäftigungsverhältnisse mehr da sind. Das finde
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei auch ich gut. Wenn man allerdings zur Kenntnis nimmt,
der LINKEN) dass zwischen 2001 und 2005 1,5 Millionen sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren
Sie fordern, dass es eine totale Hartz-Revision geben
gegangen sind, dann ist das eine leichte Besserung, es ist
muss. Ich sage Ihnen: Seit es die neue Koalition gibt,
aber noch lange keine Trendwende. Da brauchen wir uns
sind wir ständig dabei, an den Stellen konsequent zu
nichts vorzumachen!
Veränderungen zu kommen, an denen etwas nicht funk-
tioniert. (Beifall bei der FDP)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Rüttgers!) Politik hat etwas mit der Wahrnehmung der Realität
(B) (D)
zu tun. Die Hartz-Gesetzgebungen bestehen nicht nur
Wir haben Veränderungen an mehreren Stellen durchge-
aus Hartz IV. Dazu gehört noch mehr. Vielleicht erinnert
führt. Sie wissen das; denn Sie waren in den meisten Fäl-
sich manch einer von Ihnen noch an schöne Dinge wie
len dagegen. Sie interessiert eben nicht, ob eine Maß-
den Jobfloater oder den virtuellen Arbeitsmarkt, der ein-
nahme bezahlbar und sinnvoll ist. Nach Ihrer Meinung
mal 65 Millionen Euro kosten sollte, dann aber bei
ist es immer besser, Geld für Maßnahmen auszugeben,
233 Millionen Euro endete. So muss diese gesamte Ge-
egal ob sie sinnvoll sind oder nicht. Ihr Weg ist aber
setzgebung auf die Details und auf die Frage, was sie ge-
falsch.
bracht hat, abgeklopft werden. Die öffentliche Diskus-
(Beifall bei der CDU/CSU) sion kümmert sich nur um Hartz IV. Es ist aber weit
mehr damit verbunden. Insgesamt muss man sagen: Die
Wir wollen an weiteren Stellen, die nicht funktionie-
Reformen sind nicht gescheitert, aber sie sind auf dem
ren, konsequent zu Veränderungen kommen. Wir sind
besten Wege dazu. Man kann allerdings noch etwas än-
zurzeit dabei, in einer Arbeitsgruppe der Koalition kon-
dern.
struktiv über das Thema Arbeitsmarkt zu diskutieren.
Wir sind voll im Plan und werden Ihnen entsprechende Ein Kardinalfehler dieser Reform bestand in der
Vorschläge vorlegen. Ich vermute, dass sie Ihnen nicht Mischzuständigkeit. Hier waren wir, Herr Kollege Me-
gefallen werden. Wir sind auch dabei, alle Maßnahmen, ckelburg, im Vermittlungsausschuss übrigens immer ei-
die es im Bereich der Hartz-Gesetzgebung gibt, zu be- ner Meinung. Wenn jemand tatsächlich glauben sollte,
werten und gegebenenfalls zu einer Bündelung zu gelan- dass man dann, wenn man aus zwei Behörden – der Bun-
gen. desagentur und der Kommunalverwaltung – noch eine
dritte Behörde, die Arbeitsgemeinschaft, schafft, Geld
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sparen kann, dann ist das jemand, der sich garantiert
Kommen Sie bitte zum Schluss. auch die Hose mit der Kneifzange anzieht oder mit dem
Klammerbeutel gepudert ist. Es ist eine einfache Le-
benswahrheit: Wer zu zwei Behörden eine dritte gesellt,
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
der gibt in aller Regel mehr Geld aus und spart nichts
Ich bin sofort fertig. – Wenn Sie also etwas Neues ein. Das war der erste Kardinalfehler.
wollen, dann fangen Sie neu an zu denken, und kehren
Sie nicht zu den alten gescheiterten Dingen zurück, die (Beifall bei der FDP)
wir alle erlebt haben; gerade Sie, Herr Gysi!
Die inhaltliche Begründung für die Kommunalisie-
(Beifall bei der CDU/CSU) rung, die wir immer gefordert haben, ist vom Bundes-
6148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dirk Niebel
(A) sozialgericht noch einmal deutlich dargestellt worden. vorher auszugeben und zu konsumieren, natürlich wirt- (C)
Man kann zum Beispiel bei den Kosten für Wohnungen schaftlich nachvollziehbar und deutlich größer. Deswe-
keine bundesweite Tabelle zugrunde legen, weil die Le- gen sollte man hier neue Wege gehen. Sie haben unsere
benshaltungskosten an den verschiedenen Orten unter- Unterstützung, wenn Sie das tun wollen.
schiedlich sind. Natürlich sind die Kommunen dichter an
Der letzte Punkt, den ich in meiner kurzen Redezeit
den Bedürfnissen und den Problemen der Menschen
ansprechen möchte – er ist mir sehr wichtig –, sind die
dran. Deshalb sollte man diesen Kardinalfehler auch
so genannten Überschüsse bei der Bundesagentur; wir
endlich korrigieren. Ich will noch einmal deutlich fest-
haben es schon gestern thematisiert. Alle, vor allem die
halten: Die FDP-Bundestagsfraktion war – ich glaube,
Bundesregierung, aber auch die PDS, tun so, als wenn
neben der Fraktion Die Linke – die einzige, die das so
dort jetzt unheimlich viel Geld verdient würde. Lassen
genannte Optionsgesetz wegen nachgewiesenen Unsinns
Sie mich eines ganz deutlich festhalten: All das Geld,
abgelehnt hat.
was dort übrig ist, ist den Arbeitnehmern und Arbeitge-
(Beifall bei der FDP) bern vorher zu viel weggenommen worden. Deswegen
muss man jeden Beitragssenkungsspielraum nutzen, um
Wir haben andere Vorschläge dazu gemacht, wie man das Geld zurückzugeben.
zu einer besseren Betreuung der Arbeitsuchenden kom-
men kann. Immerhin gibt die Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
land mit allen betroffenen Haushalten pro Jahr der CDU/CSU)
696 Milliarden Euro für Soziales aus. Man kann nicht Das gilt auch für die anderen sozialen Sicherungssys-
behaupten, dass das wenig Geld wäre. Offenkundig teme, zum Beispiel für die Rentenversicherung. Sie ha-
kommt es nicht dort an, wo es hingehört. Wenn wir aber ben angekündigt, die Rentenbeiträge im kommenden
jetzt die Möglichkeiten nutzen würden, die Arbeitsver- Jahr auf 19,9 Prozent zu erhöhen. Aber Sie wissen
mittlung in kommunaler Trägerschaft zu organisieren selbst, dass ein Beitrag von 19,7 Prozent ausreichen
und mit einem Budgetsystem für den Bund einen Anreiz, würde. Dass Sie diesen Beitragssenkungsspielraum nicht
vernünftige Gesetze zu machen, und für die Kommunen voll auszunutzen, begründen Sie nur mit dem Argument,
einen Anreiz, die Menschen schnell und sachgerecht zu die Planungssicherheit für die Betriebe und die betroffe-
betreuen, zu schaffen, dann hätten wir für die betroffe- nen Menschen erhalten zu wollen. So werden Sie den
nen Bürger deutlich günstigere Bedingungen und Ein- Faktor Arbeit nicht entlasten. Im Gegenteil: Sie ernten
sparungen in den öffentlichen Haushalten. auf der einen Seite Unverständnis bei den betroffenen
Wir haben ein zukunftsweisendes Konzept zur Auflö- Bürgerinnen und Bürgern und auf der anderen Seite ma-
sung der Bundesagentur für Arbeit. Selbst wenn deren chen Sie es immer schwerer, Arbeit in Deutschland zu
(B) Vorstandsvorsitzender sagt, er sei der erfolgreiche Mana- schaffen. Aber von mehr Beschäftigung profitieren Sie (D)
ger eines Großunternehmens, so muss man doch zur doch im Augenblick.
Kenntnis nehmen, dass die meisten Kunden mit den
Leistungen der BA nicht zufrieden sind. Im Rahmen die- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ses Auflösungskonzeptes ist ein Budgetkonzept vorgese- Herr Niebel, kommen Sie bitte zum Schluss.
hen, in dem die Finanzierung organisiert ist. Der Bund
gibt den Trägern der Arbeitsagenturen vor Ort ein den Dirk Niebel (FDP):
regionalen Bedingungen des Arbeitsmarktes entspre-
Ich bin bei meinem letzten Gedanken, Herr Präsident. –
chendes Budget an die Hand. Sie haben dann den An-
Mehr Beschäftigung führt zu mehr Steuerzahlern und
reiz, gut zu sein, weil sie die Hälfte des nicht verbrauch-
mehr Beitragszahlern, was Sie im Endeffekt strahlend
ten Budgets behalten können. Der Bund hat dann den
auf der Regierungsbank sitzen lassen kann und den Men-
Anreiz für gute Gesetze, weil er die andere Hälfte des
schen in diesem Land ein Stück weit mehr Perspektive
eingesparten Geldes zurückbekommt. Sie können Men-
bietet. Kehren Sie um zu mehr Freiheit! Machen Sie das,
schen mit Anreizen integrieren. Mit Anreizen können
was die Bundeskanzlerin zu Beginn ihrer Regierungszeit
Sie dafür sorgen, dass Verschiebebahnhöfe endlich auf-
in ihrer Regierungserklärung gefordert hat: Wagen Sie
gelöst werden.
mehr Freiheit!
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP)
Wir sollten uns ganz genau überlegen, ob es nicht
sinnvoll wäre, auch das Schonvermögen der betroffenen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
älteren Menschen noch einmal zu überdenken. Ich erin- Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort der Parla-
nere mich sehr genau daran, wie ich im Vermittlungsver- mentarische Staatssekretär Gerd Andres.
fahren mehrfach dafür geworben habe, dass wir das
Schonvermögen für Ältere größer ausgestalten. Es kann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wirklich kaum jemand nachvollziehen, dass die Politik der CDU/CSU)
die Bürgerinnen und Bürger völlig zu Recht auffordert,
Eigenvorsorge für das Alter zu betreiben, und dass derje- Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nige, der das nicht tut, staatliche Unterstützungsleistun- nister für Arbeit und Soziales:
gen bekommt, derjenige aber, der gespart hat, diese Er- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
sparnisse erst einmal zum wesentlichen Teil aufbrauchen Herren! Es stimmt: In den letzten vier Jahren haben wir
muss, ehe er unterstützt wird. Da ist der Anreiz, das Geld die Grundlagen der Arbeitsmarktpolitik deutlich verän-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6149
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
(A) dert. Mit den ersten drei Gesetzen für moderne Dienst- Alle Fachleute sagen uns – zuletzt bei einer Sachver- (C)
leistungen am Arbeitsmarkt – im Volksmund „Hartz I“ ständigenanhörung am 26. Oktober –: Die Reform
bis „Hartz IV“ genannt – hat die frühere Bundesregie- braucht Zeit, damit sie wirken kann. Verändert nicht
rung die Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen schon wieder die Tatbestände! Lasst den Menschen in
Dienstleistungsunternehmen umgestaltet. Statt Arbeits- den Agenturen und den Arbeitsgemeinschaften Zeit, dies
losigkeit weiterhin vorwiegend zu verwalten, stehen jetzt richtig umzusetzen. – Uns wird gesagt, so die Sach-
mittlerweile die Stärkung der Vermittlung in Arbeit und verständigen, das geltende Recht enthalte ausreichende
die Einsetzung effizienter, kostengünstiger Methoden Handlungsmöglichkeiten für die Akteure vor Ort. Recht-
und Ansätze im Mittelpunkt. Wir haben in der Arbeits- liche Veränderungen sollten auf ein Mindestmaß redu-
marktpolitik eine Menge umgekrempelt. Ich füge ganz ziert werden. Das Allerletzte, was die Praxis jetzt
gelassen hinzu: Diese Reformen zeigen jetzt Erfolge. gebrauchen könne, seien ständig neue öffentlichkeits-
wirksame Forderungen – nach Gesetzesänderungen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nach Leistungskürzungen, nach einer Generalrevision.
CDU/CSU)
Wenn uns die Praktiker sagen: „Wir haben, was wir
Neben dieser Reform der Organisation haben wir mit brauchen; jetzt lasst es uns auch anwenden“, dann sind
der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und So- wir gut beraten, dies ernst zu nehmen und danach zu
zialhilfe für Erwerbsfähige eine echte Strukturreform handeln. Deshalb macht es auch keinen Sinn, zum jetzi-
durchgeführt. Es gibt jetzt die einheitliche, bedarfsab- gen Zeitpunkt die Zuständigkeit für die Umsetzung des
hängige staatliche Fürsorgeleistung der Grundsicherung SGB II infrage zu stellen. Damit sind zum einen die Ar-
für Arbeitsuchende. Ihre Einführung war richtig; nie- beitsgemeinschaften befasst, die aus kommunalen Trä-
mand außer den Linken bezweifelt das. Diese Reform gern und der Agentur für Arbeit gebildet wurden, und
war völlig richtig und wir haben sie umgesetzt. zum anderen die 69 Optionskommunen, die das SGB II
alleine umsetzen. Diese Aufgabenverteilung hat der Ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setzgeber bewusst als Experiment bis 2010 zugelassen,
der CDU/CSU) um zu sehen, wer es besser macht. Wir werden die Er-
gebnisse evaluieren und Bundestag und Bundesrat bis
Diese Leistungen bringen uns allen Vorteile. Die Ende 2008 einen Bericht darüber vorlegen. Dann wird
Maßnahmen zur Eingliederung der Hilfesuchenden Bilanz gezogen und entschieden, wie es weitergeht. So
übernimmt jetzt eine Stelle. Es wird nicht mehr wie frü- ist der Fahrplan.
her unterschieden, wer Kunde des Sozialamtes, des Ar-
beitsamtes oder des Wohnungsamtes ist. Diese Verände- Zusammengefasst: Die Forderung nach Generalrevi-
sion ist blanker Populismus. Ich denke, der Gesetzgeber
(B) rung ist sehr bedeutsam. Denn mittlerweile werden die (D)
Energien darauf verwendet, Hilfebedürftigkeit zu über- sollte sich zurückhalten und die getroffenen Maßnahmen
winden, nicht mehr darauf, zu klären, welches Amt für wirken lassen. Ich will aber nicht verschweigen, dass es
wen zuständig ist. Für die Hilfesuchenden liegt der Vor- auf der Ebene der Verwaltung durchaus Handlungsbe-
teil darin, dass sie die Leistungen nun aus einer Hand er- darf gibt. Wir werden sorgfältig prüfen und zu entschei-
halten. Sie müssen nicht mehr von Amt zu Amt, von den haben, welche Rahmenbedingungen besser werden
Pontius zu Pilatus laufen. müssen; denn das Zusammenspiel der verschiedenen
Akteure läuft noch nicht optimal.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende besteht nun-
An der Umsetzung des SGB II sind der Bund, die
mehr seit etwas mehr als 23 Monaten. In der Einfüh-
Bundesagentur für Arbeit, die Kommunen, die zugelas-
rungsphase gab es Reibungsverluste; wer würde das be-
senen kommunalen Träger und die Bundesländer betei-
streiten. Das kann aber nicht verwundern; denn
ligt.
schließlich galt es, eine der größten Sozialreformen der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen (Dirk Niebel [FDP]: Viele Köche!)
und ins Laufen zu bringen. Dass dies nicht von heute auf
morgen funktioniert, zeigt uns der Blick ins Ausland. Ich denke, es ist wichtig, dass jeder der Beteiligten seine
Dort hat es bis zu fünf Jahre gedauert, bis vergleichbar Aufgaben und seine Rolle genauso kennt wie deren
Grenzen. Die Finanzierung der Grundsicherung nach
tiefe Reformen wirklich mit Leben erfüllt waren und ihre
dem SGB II ist überwiegend Sache des Bundes; er trägt
Wirkung entfalten konnten.
etwa 80 Prozent der Kosten. Niemand will das ändern.
Die Anfangsphase ist mittlerweile geschafft. Jetzt Dieses finanzielle Engagement muss aber praktische
werden alle Energien und Ressourcen auf die Überwin- Konsequenzen haben, und die hat es auch. Es muss der
dung von Hilfebedürftigkeit konzentriert. Aufgabe der Grundsatz gelten: Die Kompetenzen folgen der Finan-
Politik ist es, die Rahmenbedingungen dafür so optimal zierung. – Das bedeutet schlicht und einfach, dass dieje-
wie möglich zu gestalten. nigen, die die finanzielle Verantwortung haben, auch die
Durchführungsverantwortung haben und sie entspre-
Wir haben in kurzer Zeit zwei umfassende Gesetze chend wahrnehmen.
zur Revision des SGB II, also des Arbeitslosengeldes II,
(Dirk Niebel [FDP]: Da ist der Fehler!)
umgesetzt. Wir haben aus den Anfangsfehlern gelernt.
Wir haben immer gesagt: Hierbei handelt es sich um ein Der Bund – niemand sonst – trägt den größten Teil der
„lernendes“ Gesetzgebungsverfahren; wir müssen nach- Kosten. Beide Träger, die Kommunen und wir, haben
steuern und nachjustieren. Das haben wir gemacht. dafür auch die Durchführungsverantwortung.
6150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Parl. Staatssekretär Gerd Andres


(A) Aus diesem Grundsatz ergeben sich konkrete Fragen, „Deutschland – ein Sommermärchen“ inszeniert die (C)
die wir klären müssen: Welche Rolle hat die Bundes- CDU jetzt offensichtlich ein Wintermärchen. Der Minis-
agentur für Arbeit? Was dürfen die Kommunen und die terpräsident von Nordrhein-Westfalen fordert die Verlän-
zugelassenen kommunalen Träger? Wie weit dürfen die gerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I. Dann
Länder Einfluss nehmen? – Wenn es gelingt, dass alle geht er in die Umkleidekabine und fragt den Spiegel:
Beteiligten ihre Rolle und die Rolle der anderen akzep- Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der So-zialste
tieren, dann sind wir auf dem Weg zu mehr Effizienz im ganzen Land? Der Spiegel antwortet ihm tatsächlich,
beim SGB II ein großes Stück vorangekommen. sagt aber zu seinem Missvergnügen:
Klärungsbedarf gibt es übrigens auch beim Personal, (Zuruf von der SPD: „Geh an die Seite!“, sagt
das die Grundsicherung der Arbeitssuchenden vor Ort der Spiegel!)
umsetzt. Ich will nur drei Punkte nennen: die Wahl von
Personalräten, die Qualifizierung von Mitarbeitern und Herr Rüttgers, Ihr seid der Sozialste hier, aber Oskar La-
die Klärung der tariflichen Situation. Ziel muss nach fontaine, hinter den roten Bergen, bei den roten Zwer-
meiner Überzeugung sein, dass gleicher Lohn für glei- gen, ist noch tausendmal sozialer als Ihr!
che Arbeit gezahlt wird, (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD
und der LINKEN – Wolfgang Meckelburg
egal ob der Mitarbeiter von der Kommune oder von der [CDU/CSU]: Ein bisschen früh für eine Mär-
Arbeitsagentur kommt. chenstunde!)
Das alles klingt nach Arbeit im Detail. Ich sage ganz Was lernen wir daraus? Die Frage, wer soziale Politik
deutlich: Das ist es auch. Es gilt jetzt, das zu tun, was für macht und wer nicht, ist nicht durch einen Blick in den
ein besseres Funktionieren der Reform noch notwendig Spiegel zu beantworten. Dafür muss man die Konzepte,
ist. Diese Arbeit ist anstrengend, aber sie lohnt sich, weil die hinter diesen Vorschlägen stehen, genau ansehen.
sie den Menschen, die händeringend nach Arbeit suchen, Herr Meckelburg, dabei entzaubert sich das holde Spie-
in ihrer schwierigen Situation weiterhelfen wird. Stän- gelbild doch sehr schnell. Dann sieht man, dass es sich
dige Forderungen nach einer Generalrevision – das sage eben nicht um ein Märchen handelt, sondern um ein
ich in Richtung derer, die diese Aktuelle Stunde bean- scheinheiliges Politikmanöver, das das Etikett „sozial“
tragt haben – oder die Ablehnung der Hartz-Gesetze hel- wahrlich nicht verdient.
fen nicht weiter, gleich von welcher Seite sie kommen.
Dieser Plan hat nämlich eine derbe soziale Schieflage.
(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU]) Davon sind übrigens nicht nur die Jungen, die Frauen (D)
(B)
Das Schönste an den Reden von Herrn Niebel ist, dass und diejenigen betroffen, die unterbrochene Erwerbsbio-
er vorschlagen kann, was er will; da er in der Opposition grafien haben. Dass die alle zu Verlierern werden, ist
ist, werden alle Vorschläge und Forderungen, die er for- ganz offensichtlich. Dieses Konzept ist auch für diejeni-
muliert, nicht gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie werden gen eine Mogelpackung, für die Sie vorgeblich etwas tun
sich nicht durchsetzen. wollen, nämlich für die älteren Arbeitslosen. Für die al-
lermeisten der betroffenen Älteren würde diese Rege-
(Dirk Niebel [FDP]: Deswegen wollen wir lung zu einer krassen Verschlechterung führen. Derzeit
regieren!) erhalten über 55-Jährige 18 Monate lang Arbeitslosen-
Umgekehrt gilt das natürlich auch für diejenigen, die geld I, wofür sie nur drei Jahre lang in die Arbeitslosen-
diese Aktuelle Stunde beantragt haben. versicherung einzahlen müssen. Der Vorschlag von
Herrn Rüttgers, der ganz offensichtlich von vielen von
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ihnen getragen wird, würde zwar zugegebenermaßen
dazu führen, dass die Bezugsdauer um sechs Monate an-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gehoben würde. Dafür müssten sie aber 40 Jahre lang
ununterbrochen einzahlen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/
Bündnis 90/Die Grünen. DIE GRÜNEN]: Das kann kein Mensch!)
Mit anderen Worten: Ein 55-Jähriger müsste ab dem
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 15. Lebensjahr ununterbrochen einzahlen, damit er zwei
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss Jahre lang Arbeitslosengeld I beziehen kann. Was ist da-
gestehen, dass ich diese Aktuelle Stunde etwas merk- ran fortschrittlich? Was ist daran sozial?
würdig finde. Ich bin nämlich immer davon ausgegan-
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wenn
gen, dass in einer Aktuellen Stunde auch die aktuellen
Sie das Papier kritisieren, sollten Sie es we-
politischen Debatten geführt werden.
nigstens einmal lesen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Fehlanreize in Richtung Frühverrentung kommen
noch hinzu. Sie reden immer von einer Lebensarbeits-
Weder vonseiten der CDU/CSU noch von Herrn And- zeitverlängerung, machen aber eine Politik, die in eine
res fiel ein Wort zu dem, was hier inszeniert wird. Nach ganz andere Richtung zielt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6151
Brigitte Pothmer
(A) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: 20 Jahre Polito- viel jeder Einzelne für die Versorgung zusätzlich (C)
logiestudium reichen nicht! Das ist klar!) einbringen kann oder einzubringen bereit ist.
Dieser Vorschlag stellt den Charakter der Arbeitslosen- Zusammenfassen kann man das so: Mehr Hilfe zur
versicherung auf den Kopf. Er zielt in die völlig falsche Selbsthilfe, mehr Eigenverantwortung, mehr Flexibili-
Richtung. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die sierung in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Le-
Erwerbsbiografien werden immer diskontinuierlicher. Es bens, stärkere Bündelung aller Kräfte.
gibt immer mehr Unterbrechungen in den Erwerbsbio-
Diesem Anspruch sind wir vor reichlich drei Jahren
grafien. Daher müssen wir die sozialen Sicherungssys-
nachgekommen. Erinnern wir uns: Das Nebeneinander
teme in genau die andere Richtung reformieren.
zweier staatlicher steuerfinanzierter Fürsorgesysteme – der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe – war ineffizient und
sowie bei Abgeordneten der SPD) intransparent, ja auch ungerecht. Trotz vergleichbarer
Leistungen gab es für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe
Dieser Vorschlag ist eine Fahrkarte in die Vergangenheit. und für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger keine arbeits-
Rüttgers segelt unter der Fahne der Gerechtigkeit, aber marktpolitischen Maßnahmen aus einer Hand. Für die
dieses Schiff hat eine starke soziale Schlagseite. Teilnahme an einer Qualifizierungs- oder Beschäftigungs-
(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Genau!) maßnahme war weniger die Zweckmäßigkeit der Maß-
nahme entscheidend als vielmehr die Art des Leistungsbe-
Heute Morgen habe ich in der „Süddeutschen Zei- zuges. Darüber hinaus stand in der Praxis in beiden
tung“ gelesen, Herr Müntefering habe den Kampfruf Systemen zu oft die Leistung zum Lebensunterhalt im
ausgegeben: Auf sie mit Gebrüll! Vordergrund und nicht die Überwindung der Arbeitslosig-
(Dirk Niebel [FDP]: Horrido!) keit. Natürlich waren und sind die Akzente in den neuen
Bundesländern explizit differenzierter, weil es große
Ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe Müntefering. strukturelle Veränderungen in den Griff zu bekommen
Doch jetzt wollen wir mal sehen, ob der Vizekanzler or- gilt. Die Sozialhilfe orientierte sich – das müssen wir uns
dentlich zubeißen kann. vergegenwärtigen – am soziokulturellen Existenzmini-
Danke schön. mum, die Arbeitslosenhilfe am zuletzt erzielten Einkom-
men. Die Niveauunterschiede beider Systeme wurden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch verstärkt dadurch, dass bei der Bedürftigkeitsprü-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang fung unterschiedliche Einkommens- und Vermögensgren-
Grotthaus [SPD]: Da seien Sie mal vorsichtig, zen, unterschiedliche Freibeträge für Erwerbseinkommen,
dass Sie den Biss nicht spüren! – Dirk Niebel so genannte Hinzuverdienstgrenzen, und unterschiedliche
(B) [FDP]: Bei der zu erwartenden Gesundheitsre- (D)
Regelungen für die Zumutbarkeit einer aufzunehmenden
form wahrscheinlich nicht mehr!) Erwerbstätigkeit galten.
Hieraus resultierte eine Vielzahl von Problemen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Leistungsbezieher aus den beiden Systemen wurden bei
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von den Integrationsbemühungen der Träger unterschiedlich
der CDU/CSU-Fraktion. behandelt; auch das müssen wir uns vergegenwärtigen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es entstand die Tendenz, die finanziellen Lasten zwi-
schen Sozialhilfeträgern und Bundesagentur zu verschie-
ben. Deswegen war das Zusammenlegen von Sozialhilfe
Maria Michalk (CDU/CSU):
und Arbeitslosenhilfe richtig, ja alternativlos.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die SED/PDS und ihre Gefolgschaft in der heuti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gen Aktuellen Stunde am 17. Jahrestag des Falls der der SPD)
Mauer die Frage nach der Praxistauglichkeit der Hartz-
Natürlich kann niemand mit der Grundsicherung, die
Gesetzgebung stellen und eine Generalrevision fordern,
wir jetzt auf einen in West und Ost einheitlichen Betrag
kann man sich die Antwort sehr leicht machen. Ich zi-
festgelegt haben, große Sprünge machen; das sehen wir
tiere Herrn Dr. Klaus von Dohnanyi, einen Mann, der
auch. Natürlich sind wir zum Handeln aufgefordert,
sich von Anfang an, seit 1990, mit den sozialpolitischen
wenn in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit die Bemü-
und strukturpolitischen Herausforderungen des Umbaus
hungen des Einzelnen um einen Arbeitsplatz auf dem
der neuen Bundesländer beschäftigt:
ersten Arbeitsmarkt mangels Angeboten wiederholt
Wenn wir die vorliegenden Prognosen über die Al- ohne Erfolg bleiben. Wir kennen diese Herausforderung
tersentwicklung, die Folgen der Geburtenlücken und wir kümmern uns darum. Deshalb ist es richtig, dass
und die Vorausschätzungen der Kosten, die beide wir uns auf die Senkung der Lohnnebenkosten konzen-
Tendenzen verursachen werden, berücksichtigen, trieren, weil wir dadurch auch den Beziehern unterer
dann führt jede ehrliche Rechnung zu zwei Ergeb- Einkommen helfen, indem wir ihre Kaufkraft stärken.
nissen: Erstens: Wir werden für diese Aufgabenfel-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. An-
der zukünftig einen größeren Teil von unseren pri-
gelika Krüger-Leißner [SPD])
vaten Einkommen abgeben müssen. Zweitens: Es
wird zwangsläufig für die Bürger unterschiedliche Natürlich macht es betroffen, dass vor allem Allein-
Niveaus der Versorgung geben, je nachdem, wie erziehende mit Kindern ihr Monatseinkommen mit sehr
6152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Maria Michalk
(A) viel Kreativität einteilen müssen, um über die Runden zu (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckel- (C)
kommen. Die Wahrheit ist aber auch, dass es schon im- burg [CDU/CSU]: Zentralismus! Ihr habt die
mer soziale Konstanten gegeben hat, die durch Einkom- Arbeitslosigkeit in der DDR versteckt! So ein-
mensunterschiede geprägt waren. Ich möchte ganz aus- fach ist das nicht, Herr Gysi!)
drücklich darauf hinweisen, dass das auch in der DDR
Ich komme zu Rüttgers zurück. Er hat einen vernünf-
der Fall war.
tigen Vorschlag unterbreitet – zumindest laut den Me-
Da die Redezeit in der Aktuellen Stunde kurz bemes- dien –, dass nämlich ältere Arbeitslose länger Arbeits-
sen ist, will ich nur noch sagen: Es ist wichtig, dass wir losengeld I erhalten sollen. Das klingt gut. Dass Herr
uns den Problemen des Arbeitsmarktes stellen. Dadurch Beck als Vorsitzender der SPD dem gleich widerspricht,
wird die in den Hartz-Gesetzen vorgenommene Gewich- will mir wirklich nicht in die Birne.
tung anders aussehen. Deshalb sind wir in der großen
(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Grott-
Koalition auf dem richtigen Weg.
haus [SPD]: Weil Sie das nicht verstehen! Be-
Ich danke Ihnen. schäftigen Sie sich damit!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es tut mir wirklich Leid. Als Vorsitzender der SPD
müsste man doch sagen, dass die Idee erst einmal richtig
ist. Wenn man das aber selber gekürzt hat, will man na-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
türlich nicht dazu stehen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von
der Fraktion Die Linke. Herr Rüttgers hat allerdings Vorschläge dazu ge-
macht, wie andere Arbeitslose das finanzieren sollen. Es
(Beifall bei der LINKEN) ist wirklich sozial unerträglich, zu sagen: Die einen sol-
len etwas mehr erhalten, dafür erhalten die anderen Ar-
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): beitslosen deutlich weniger. – So kann eine soziale Lö-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau sung dieser Probleme nicht aussehen.
Michalk, mich wundert es ein wenig, dass Ihnen am Tag
(Beifall bei der LINKEN)
der Öffnung der Mauer nur die SED einfällt. Ich finde,
Ihnen sollten auch die CDU und die Bauernpartei der Das würde natürlich zum Nachteil der Bezieher von
DDR einfallen, mit denen Sie sich so erfolgreich verei- ALG II und von Eltern in ihrem Verhältnis zu bereits er-
nigt haben, ohne das je aufgearbeitet zu haben. wachsenen Kindern geschehen.
(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger Ich sage Ihnen eines: Das alles kann man machen.
(B) [CDU/CSU]: Oh, oh, Gysi!) Man kann sagen, dass die einen für die anderen haften. (D)
Damit helfen Sie aber nur einer Berufsgruppe, nämlich
Herr Meckelburg, Sie haben darauf hingewiesen, dass meiner, den Rechtsanwälten, weil es viele Prozesse ge-
wir jede Woche zum gleichen Thema mit Winkelemen- ben wird. Die Familien zerstören Sie damit aber. Das
ten durchs Haus gehen. kann unmöglich der Weg sein, den wir hier einschlagen.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist Ihr (Beifall bei der LINKEN)
Verständnis von Parteienvielfalt!)
Herr Meckelburg, auch Ihr nächstes Argument fand
Ich darf Ihnen etwas erklären: Es handelt sich um eine ich interessant. Sie sprachen davon: Es gibt kein Geld.
Aktuelle Stunde, für die Herr Rüttgers thematisch ge- Gleichzeitig machten Sie aber keinen Vorschlag, wie
sorgt hat, nicht wir. Das sollten Sie bei dieser Gelegen- man das bezahlen soll. Das sagen Sie im Novem-
heit nicht vergessen. ber 2006 im Ernst. Die erwarteten Steuermehreinnah-
(Beifall bei der LINKEN) men des Bundes liegen in diesem Jahr bei 9 Milliar-
den Euro.
Herr Meckelburg, Sie haben dann gesagt, dass auf-
grund der entsprechenden Instrumente bereits die DDR (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wir ver-
gescheitert ist. Ich will Ihnen selbst das einmal erklären. wenden das anders als die DDR, die nur den
Haushalt saniert hat! Das ist der Unterschied!)
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist
sehr freundlich!) Die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit, die die
Beiträge für die Arbeitslosenversicherung erhält, liegen
Die private Wirtschaftsmacht wurde in der DDR gebro- bei etwa 10 Milliarden Euro. Sie wollen jetzt eine Unter-
chen und es entstand eine Mangelwirtschaft mit geringer nehmensteuerreform durchführen,
Produktivität. Die staatliche Macht wurde nicht gebro-
chen, sondern geradezu zur Absolution hochgetrieben. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wir wol-
len den Haushalt sanieren, Herr Gysi!)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ja!)
durch die Sie den Konzernen schon wieder Steuern in
Die Folge waren Produktivitätsmängel und vor allen Höhe von 8 Milliarden Euro schenken. Gleichzeitig sa-
Dingen große Einschränkungen bei Demokratie und gen Sie, dass die Empfänger von 345 Euro die längere
Freiheit. Daran und nicht an der Arbeitslosigkeit ist die Zahlungsdauer des Arbeitslosengeldes I finanzieren sol-
DDR gescheitert. Selbst das bringen Sie durcheinander. len. Das ist doch einfach indiskutabel. Wir haben das
Es tut mir furchtbar Leid, Herr Meckelburg. Geld doch, wir müssen es nur anders verteilen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6153
Dr. Gregor Gysi
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ir- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das ist (C)
mingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ doch wirklich sinnlos und hohl, Herr Gysi!)
DIE GRÜNEN] – Wolfgang Meckelburg [CDU/
CSU]: Wir haben das Geld nicht! Wir machen Wir schlagen vor, dass sie einen Teil ihres Geldes abge-
nach wie vor Schulden!) ben und wir dieses Geld gleich im Interesse des Allge-
meinwohls einsetzen. Das wäre der Situation angemes-
Sie haben in dieser Gesellschaft eine breite Armut or- sen.
ganisiert. Aber Sie haben auch Reichtum organisiert.
Das geht seit Jahren so. Das behaupte nicht nur ich. Es (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckel-
gibt wissenschaftliche Studien und andere Untersuchun- burg [CDU/CSU]: Das ist wirklich unter Ih-
gen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Jeden Tag rem Niveau!)
kann man in den Zeitungen lesen – übrigens setzen sich Der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer ist um
auch rechte bzw. konservative Autoren mit dieser Frage 11 Prozentpunkte gesenkt worden. Wollen Sie daran et-
auseinander –: Wenn die Armut weiter in diesem Maße was ändern? Nein, Sie wollen daran nichts ändern. Ihre
zunimmt und der Reichtum gleichzeitig so stark wächst, Politik trifft immer die gleiche Gruppe. Immer sind es
ist das gesellschaftszerstörerisch. die Arbeitslosen, die Kranken und die Rentnerinnen und
Es gibt zwar ein paar verblendete Linke, die denken, Rentner, die die Kosten unserer Gesellschaft zahlen sol-
dass das zu einer Stärkung der politischen Linken führt. len.
Ich sehe aber die große Gefahr, dass diese Entwicklung, (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Und wir hören
wenn wir so weitermachen, eine Stärkung der Rechten von Ihnen immer die gleichen Reden! – Wolf-
zur Folge haben wird. gang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist unver-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – schämt, was Sie da erzählen!)
Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ja, wenn Sie so Deutschland ist die einzige Industriegesellschaft, in der
weitermachen!) ein Rückgang der Löhne der Arbeitnehmerinnen und Ar-
Wir brauchen eine Gesellschaft, die wesentlich mehr So- beitnehmern zu verzeichnen ist. Die USA, Großbritan-
lidarität beweist. Das muss man organisieren. nien, Frankreich und weitere EU-Länder gehen andere
Wege. Bei uns ist die Entwicklung der Löhne negativ.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: Wenigstens geht es
Solange die Menschen uns wählen, sollten Sie noch
bei uns wirtschaftlich aufwärts!)
zufrieden sein.
(B) (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Das ist nicht gut und das darf nicht so bleiben. Deshalb (D)
CSU und der SPD – Wolfgang Grotthaus brauchen wir eine Generalrevision von Hartz IV. Dieses
[SPD]: Das ist ein Kreis und Sie kommen ir- Gesetz hat sich nicht bewährt.
gendwo da zusammen!) (Beifall bei der LINKEN)
Das könnte auch ganz anders aussehen. Das sage ich ins-
besondere in Richtung SPD. Sie haben in den letzten sie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ben Jahren schließlich mit dazu beigetragen, dass der Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus
Reichtum gestärkt und die Armut organisiert wurde. Das von der SPD.
werden Sie nicht los. Werden Sie endlich wieder sozial-
demokratisch! (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Grotthaus (SPD):
[SPD]: Das ist eine Frechheit!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Ich frage Sie – ich bleibe bei Ihrem Argument: kein Dr. Gysi, es war ganz nett, dass Sie zumindest zum
Geld –: Sind Sie bereit, eine Vermögensteuer einzufüh- Schluss Ihrer Rede – ich glaube, es war die drittletzte
ren? Sagen Sie doch einmal: Die Vermögenden in unse- Bemerkung, die Sie gemacht haben – auf das Thema der
rer Gesellschaft sollen entsprechend Art. 14 Abs. 2 un- heutigen von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde hinge-
seres Grundgesetzes ihren Beitrag leisten. Dort steht wiesen haben.
immer noch:
(Vereinzelt Heiterkeit)
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Ansonsten haben Sie wieder einmal eine sehr populisti-
sche Rede gehalten, die uns mittlerweile schon bekannt
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Da steht ist.
aber nicht, dass eine Vermögensteuer einge-
führt werden soll! Sie machen sich das alles (Frank Spieth [DIE LINKE]: Auch Sie müssen
ein bisschen zu einfach, Herr Gysi!) es doch irgendwann verstehen! Sie sollten es
einmal damit versuchen, das nachzuvollzie-
Ich bitte Sie: Es gibt in Deutschland Milliardäre! Sind hen, was er gesagt hat!)
sie den ganzen Tag damit beschäftigt, sich eine Birne
darüber zu machen, wie sie ihre Milliarde so einsetzen, Ich komme noch darauf zu sprechen, was Populismus in
dass sie dem Allgemeinwohl dient? einer Gesellschaft bewirken kann.
6154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Wolfgang Grotthaus
(A) Lassen Sie mich bitte etwas zu den Vorschlägen von nehmbar, dass in den Argen eine Vielzahl befristeter (C)
Herrn Rüttgers sagen. Einstellungen vorgenommen worden ist. Wir wollen da-
für sorgen, dass klare Arbeitsverhältnisse geschaffen
(Dirk Niebel [FDP]: Der ist übrigens auch werden.
IG-Metall-Mitglied!)
(Dirk Niebel [FDP]: Dann hättet ihr es gleich
Es ist das gute Recht der CDU, auf ihren Parteitagen An-
besser machen können!)
träge zu beschließen; darüber wollen wir nicht richten.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Trotzdem – dies gilt es festzuhalten – haben die Ar-
NEN]: Darum geht es doch gar nicht!) gen und die Optionsgemeinschaften bzw. die Options-
kommunen und die Arbeitsagenturen sehr gute Arbeit
Aber, Frau Pothmer, es gibt einen Koalitionsvertrag. geleistet. Zum ersten Mal seit fünf Jahren liegt die Ar-
Dieser Koalitionsvertrag gilt. beitslosenquote wieder unter 10 Prozent. Das hängt zwar
mit der Konjunkturentwicklung zusammen, aber auch
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mit den Gesetzen, die die Vorgängerregierung und diese
NEN]: Und sein Papier ist geduldig!)
Koalitionsregierung auf den Weg gebracht haben.
Ihn werden wir abarbeiten. Darin steht aber nichts da-
von, dass wir den Antrag, der demnächst vielleicht auf (Zuruf von der LINKEN: Quatsch! – Dirk Nie-
dem CDU-Parteitag beschlossen wird, ebenfalls abzuar- bel [FDP]: Alles wird gut!)
beiten haben. Vielleicht werden wir uns einmal über ihn Lassen Sie mich einige Zahlen nennen. Wir haben
unterhalten. Aber zurzeit ist er für uns nicht diskutabel. 471 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Davon
(Dirk Niebel [FDP]: Wie ist das denn mit dem sind 101 000 Arbeitslose unter 25 Jahren und 86 000
Kündigungsschutz? Dazu steht da nämlich et- über 50; 82 000 beziehen nicht länger ALG II. Wir ha-
was drin!) ben fast 300 000 sozialversicherungspflichtige Arbeits-
plätze mehr als vor einem Jahr.
– Herr Niebel, Sie zeichnen sich immer durch qualifi-
zierte Reden und Zwischenrufe aus. (Zuruf von der LINKEN: Woher haben Sie
denn die Zahlen?)
(Dirk Niebel [FDP]: Das finde ich auch!)
– Wenn Sie fragen, woher diese Zahlen stammen, dann
Unter einem Mangel an Selbstbewusstsein haben Sie ja sollten Sie einen Blick in die statistischen Angaben der
sowieso noch nie gelitten. Bundesagentur für Arbeit werfen. Auch uns reichen
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr! Wenn er mal diese Zahlen nicht aus. Wir müssen mehr tun. Wir müs-
(B)
Recht hat, muss man das auch sagen!) sen Jobs, Jobs und noch mehr Jobs schaffen, damit wir (D)
mehr Menschen in Arbeit bringen. Wir haben zurzeit
Lassen Sie mich jetzt einige Anmerkungen zum noch über 800 000 Arbeitsplätze zur Verfügung – die
Thema der heutigen Aktuellen Stunde machen. Ja, ich Zahl wurde bereits genannt –, die es zu besetzen gilt.
stimme den Linken zu, dass einige Korrekturen der
Hartz-Gesetze notwendig sind. Das gilt insbesondere im (Dirk Niebel [FDP]: Wir doch nicht!
Hinblick auf Hartz IV. Ja, es muss nachjustiert werden, Die Wirtschaft!)
aber nicht so, wie Sie es wollen. Es muss dort nachjus- – Die Wirtschaft; das ist richtig.
tiert werden, wo bürokratische Hemmnisse abzubauen
sind, wo Schnittstellenprobleme aufgetreten sind und wo Sie von den Linken fordern hingegen immer nur die
technische Möglichkeiten besser genutzt werden könn- Erhöhung der finanziellen Transferleistungen für die
ten, aber auch dort, wo es zu Fehlanreizen gekommen Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Sie
ist. erwecken den Eindruck, dass mit finanziellen Transfer-
leistungen alles zu regeln ist. Damit produzieren Sie aber
Sie haben überhaupt nicht davon gesprochen, welche auch soziale Kälte.
Probleme die Menschen haben, die in der Vermittlung
tätig sind, die sich mit diesen Problemen auseinander zu (Widerspruch bei der LINKEN)
setzen haben und die in den letzten zwei, drei Jahren
gute Arbeit gemacht haben. Diese Menschen klammern Das ist gefährlich; denn die populistischen Illusionen,
Sie aus. die Sie mit Ihren Reden erzeugt haben,

Wir wissen, dass in den Argen zum Teil einiges im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Argen liegt und die Arbeitsweise der Beschäftigten ver- CDU/CSU)
bessert werden muss. Es ist nicht hinnehmbar – das sage sind so gefährlich, wie soziale Kälte unmenschlich ist.
ich dem gesamten Haus sehr deutlich –, dass in den Ar- Beide sind im Kern unmoralisch und helfen den Men-
gen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter beschäftigt schen nicht. Sie führen vielmehr in die Sackgasse und
sind, die eine halbe Stunde benötigen, um einen Arbeit- machen unfrei. Das gebe ich Ihnen mit auf den Weg.
suchenden per PC zu erfassen. Es ist nicht hinnehmbar,
dass das Personalvertretungsrecht dort nicht gewährleis- Herr Kollege Ernst, ich habe selbst 36 Jahre in der In-
tet ist und es unterschiedliche Ebenen der Mitbestim- dustrie gearbeitet. Die Kolleginnen und Kollegen in der
mung gibt. Es ist nicht hinnehmbar, dass dort über das Industrie wissen Ihre Beiträge zu schätzen. Besuchen Sie
Direktionsrecht gestritten wird, und es ist auch nicht hin- sie doch in den Betrieben und erzählen Sie ihnen das-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6155
Wolfgang Grotthaus
(A) selbe wie hier! Dann werden Sie schon die entsprechen- sigkeit in unserem Land gelöst ist. Dennoch ist eine Ver- (C)
den Antworten gekommen. besserung spürbar. Auch die Hartz-Gesetze unterstützen
mit der Strategie „Fördern und Fordern“ die Erholung
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
des Arbeitsmarktes.
Wir werden die Hartz-Gesetze zu gegebener Zeit eva-
Bevor wir über die Praxistauglichkeit der Reform
luieren. Das ist 2008 vorgesehen. Bis dahin werden wir
sprechen, müssen wir feststellen, dass die Zusammenle-
an den Stellen nachjustieren, an denen organisatorische
gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe von allen
Probleme auftreten, aber auch erkennbare Fehlanreize
Seiten befürwortet wurde. Der Erfolg, der heute offen-
entstanden sind.
sichtlich ist, spricht für sich. Es war eine richtige Ent-
scheidung. Nach einiger Erfahrung mit dem Gesetz ha-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ben wir in dieser Legislaturperiode die Reform noch
Kommen Sie bitte zum Schluss. einmal optimiert. Wir haben es geschafft, dass ehemalige
Sozialhilfeempfänger wieder in die Vermittlung gelan-
Wolfgang Grotthaus (SPD): gen und es nicht zu einer lebenslangen Sozialhilfekar-
Einer Generalrevision in Ihrem Sinne, Herr Kollege riere kommt. Der Schwerpunkt wurde von der bloßen
Ernst, werden wir nicht zustimmen. Zahlung des Lebensunterhalts auf die Wiedereingliede-
rung der erwerbsfähigen Hilfebezieher verlagert. Ich
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) will nicht verschweigen, dass die Bedingungen für die
Arbeitslosenhilfeempfänger schwieriger geworden sind.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jedoch gibt es nur so genügend Anreize, um eine Inte-
Das Wort hat der Kollege Franz Romer von der CDU/ gration in den Arbeitsmarkt zu gewähren.
CSU-Fraktion. (Zuruf von der LINKEN: Das ist doch
(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Me- Schwachsinn!)
ckelburg [CDU/CSU]: Jetzt kommt das Franz- Ich kann aus meinem Wahlkreis Biberach auf ganz
Romer-Modell! 40 Jahre arbeiten! – Gegenruf besondere Erfahrungen mit Hartz IV zurückgreifen. Der
der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-NIS 90/ Landkreis Biberach ist eine der wenigen Optionskom-
DIE GRÜNEN]: Herr Stoiber will das doch munen,
auch!)
(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])
Franz Romer (CDU/CSU): die die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Eigenre-
(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten gie durchführen. (D)
Damen und Herren! Herr Gysi, wenn ich mich richtig er-
innere, waren Sie im Berliner Senat doch in einer verant- (Dirk Niebel [FDP]: Deshalb klappt es dort!)
wortlichen Position. Was aber haben Sie gemacht? Sie Dabei ist der Landkreis sehr erfolgreich. In den letzten
haben sich in die Büsche geschlagen, anderthalb Jahren, also seit der Einführung des Arbeits-
(Dirk Niebel [FDP]: Das war nicht das losengeldes II, konnte der Landkreis Biberach die Zahl
schlechteste!) der Langzeitarbeitslosen fast halbieren. Allein im ersten
Halbjahr 2006 betrug der Rückgang ein Drittel. Diese
nach dem Motto „Die Ratten verlassen das sinkende Zahlen zeigen, dass es gegen den Bundestrend möglich
Schiff“. ist, Langzeitarbeitslose an der wirtschaftlichen Erholung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- teilhaben zu lassen. Für mich liegen die Vorteile des Op-
neten der SPD) tionsmodells auf der Hand – das haben wir von der
Union immer gesagt –: Die Kommunen können vor Ort
Liebe Kollegin Pothmer, wenn Sie Rüttgers zitieren, schnelle und flexible Entscheidungen treffen. Probleme
muss ich Ihnen entgegenhalten, dass sich meine Er- bei der Zusammenarbeit zwischen der Bundesagentur
werbsbiografie ohne Unterbrechung über mehr als für Arbeit und den Kommunen oder Kompetenzgerangel
40 Jahre erstreckt. Bei Ihnen oder bei den Linken gibt es und Zuständigkeitsprobleme gibt es hier nicht. Im Land-
sicherlich Leute, die 20 Jahre Politologie studiert haben, kreis Biberach konnten zudem Wohlfahrtsverbände,
um sich anschließend mit dem Vorruhestand zu beschäf- freie Träger und die einzelnen Kommunen für die Inte-
tigen. gration von Langzeitarbeitslosen gewonnen werden.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Weil die
Wir sprechen heute auf Verlangen der Linken über die
so einen tollen Abgeordneten haben! – Dirk
Praxistauglichkeit der Hartz-Gesetze. Die aktuellen Ar-
Niebel [FDP]: Jetzt sagt noch, wer in Stuttgart
beitsmarktzahlen belegen, dass die gewünschten Effekte
regiert!)
langsam eintreten. Die Zahl der Arbeitslosen ist gesun-
ken und – das ist noch viel wichtiger – die Zahl der ver- Die heute stattfindende Debatte halte ich für unange-
sicherungspflichtig Beschäftigten ist wieder gestiegen. bracht. Wir haben die Reform gerade verbessert und se-
Die Arbeitslosenquote liegt zum ersten Mal seit 2002 hen nun erste Erfolge. Aber schon wird die Praxistaug-
wieder unter der magischen 10-Prozent-Marke. Man lichkeit von der Linksfraktion in Zweifel gezogen. Ich
kann nicht sagen, dass damit das Problem der Arbeitslo- frage mich, was Sie eigentlich wollen, etwa einen weiteren
6156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Franz Romer
(A) Anstieg der Zahl der Langzeitarbeitslosen? Man kann si- (Beifall bei der SPD) (C)
cherlich über die eine oder andere Regelung sprechen,
Niemand bezweifelt – ich schon gar nicht –, dass es
genauso wie über die Ausführung vor Ort durch die Ar-
notwendig ist, das, was wir mit dieser großen Reform
beitsgemeinschaften oder die Optionskommunen, wie
auf den Weg gebracht haben, immer wieder auf seine
sie von mir vorgestellt wurde. Grundsätzlich ist aber das
Wirksamkeit zu überprüfen und gegebenenfalls nachzu-
Arbeitslosengeld II der richtige Weg. Die Zahlen spre-
bessern. Die große Koalition hat in der Koalitionsverein-
chen dafür.
barung dazu Punkte benannt. Ich gehe noch darüber hi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. naus. Sozialdemokraten haben verschiedentlich gesagt,
Wolfgang Grotthaus [SPD]) dass wir über einen öffentlichen Beschäftigungssektor
nachdenken müssen, aber nicht über die klassischen In-
Die Übernahme der Unterbringungskosten konnte
strumente wie ABM, die keine Chance geboten haben,
aufgrund der Steuermehreinnahmen des Bundes großzü-
sondern nur Warteschleifen waren, sondern über einen
gig geregelt werden. Auch im Allgemeinen gibt es
wirklichen öffentlichen Beschäftigungssektor, der den
Grund zu Optimismus. Die Konjunktur zieht endlich an.
Chancenlosen die Möglichkeit der Teilhabe an der ge-
Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Steuereinnahmen steigen.
sellschaftlichen Entwicklung eröffnet. Um Teilhabe geht
Für die Sozialkassen gibt es endlich wieder Mehreinnah-
es. Armut bemisst sich nicht nur nach der Höhe der Ali-
men. Die Bundesagentur für Arbeit bildet Überschüsse,
mentierung, sondern auch über Teilhabechancen. Das
die es eventuell erlauben, den Beitragsatz in der Arbeits-
unterscheidet uns in der Tat; denn Sie von der Linken sa-
losenversicherung um weitere 0,5 Prozentpunkte im
gen zur Teilhabe von Menschen an der Gesellschaft
nächsten Jahr zu senken. Ich versuche schon seit Früh-
nichts. Sie reden über die Höhe der Alimentierung.
jahr dieses Jahres, diesen Vorschlag in die Diskussion
einzubringen. (Widerspruch bei der LINKEN)
Die Frage, ob man eine Generalrevision braucht, will
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ich mit einer Aussage des Chefs der Bundesagentur für
Herr Kollege Romer, kommen Sie bitte zum Schluss. Arbeit, Weise, beantworten, der sagt: Die Politik sollte
den Mut haben, an beschlossenen Reformen mindestens
Franz Romer (CDU/CSU): drei Jahre festzuhalten. Erfahrungen mit vergleichbaren
Alles in allem gibt es nach knapp einem Jahr Regie- Reformen im Ausland zeigen, dass es sogar bis zu fünf
rungspolitik unter Führung der Union positive Impulse. Jahre dauern kann, bevor sie wirken. Wir sollten das
Dies gilt nach anfänglichen Startschwierigkeiten auch weiterentwickeln, was wir haben. Abrupte Wechsel wä-
bei Hartz IV. ren fahrlässig. Verlässlichkeit ist gefragt. Die Menschen
(B) wollen wissen, woran sie sind. – Ich finde, er hat völlig (D)
Ich bedanke mich.
Recht. Die Erfahrungen im Ausland zeigen genau, dass
(Beifall bei der CDU/CSU) solche großen Reformen, solche Paradigmenwechsel
Zeit zur Wirkung brauchen. Wir sollten alles dazu tun,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: uns nicht auf eine Diskussion wie die von Niebel und an-
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf von der SPD- deren einzulassen, die sagen, das sei das Schönere und
Fraktion. Bessere, und wir sollten Herrn Niebel nicht bei seinem
persönlichen Rachefeldzug gegen seinen alten Arbeitge-
(Beifall bei der SPD) ber unterstützen. Wir sollten schauen, wo die besten und
wirksamsten Elemente sind. Wir sollten die Best-Prac-
Anton Schaaf (SPD): tise-Beispiele heraussuchen und anhand dieser vor Ort
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die Arbeit organisieren und strukturieren.
würde bezweifeln, dass es in unserem Land Armut gibt?
Ich gebe unumwunden zu, dass es bei uns eine Dis-
Das ist nicht zu bezweifeln. Die Frage, wie man Armut
kussion über die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
sinnvoll nachhaltig bekämpfen kann, wird aus unserer
gegeben hat. Wir hatten damals im Rahmen der Einfüh-
Sicht nicht durch die Höhe der Alimentierungen beant-
rung der Hartz-Gesetzgebung insbesondere für ältere Ar-
wortet, sondern dadurch, welche Chancen und Möglich-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine längere Über-
keiten wir den Menschen bieten, sich aus ihrer Situation
gangsfrist gefordert. Das ist an den Ministerpräsidenten
mithilfe des Staates zu befreien. Das ist die entschei-
der CDU-geführten Länder gescheitert. Das muss man
dende Frage.
so sagen. Man schafft Vertrauen aus meiner Sicht nicht
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) damit, dass man die Frage des Bezugs von Arbeits-
losengeld I aufwirft, sondern damit, dass man darüber
Sie sagen, Hartz habe Armut geschaffen. Ich sage in
nachdenkt, welche Chancen Menschen haben, die ar-
aller Deutlichkeit: Armut hat es in diesem Land immer
beitslos werden. Ich will mit der Genehmigung des
gegeben. Sie war nur versteckt, in der Sozialhilfe, und
Herrn Präsidenten aus einer Pressemitteilung vom 9. No-
wir haben – das ist der eigentliche Skandal – die Men-
vember, freigegeben ab 10.30 Uhr, zitieren:
schen alleine gelassen. Wir haben sie ignoriert und ihnen
keine Chancen geboten. Ein großes Ziel der Hartz-Ge- Zu alt für den Job, zu jung für die Rente – das ist für
setzgebung war, die Menschen aus der Anonymität und viele Menschen heute bittere Realität. Wir konnten
Chancenlosigkeit herauszuholen. Das zumindest ist uns aber mit vielen Projekten modellhaft zeigen, dass es
gelungen. auch anders geht, dass selbst ältere Arbeitslose bei
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6157
Anton Schaaf
(A) entsprechender Unterstützung durchaus Chancen weg. Möglicherweise hat sich die Linke mittlerweile (C)
auf dem Arbeitsmarkt haben doch besonnen und erkannt, dass Änderungen notwen-
dig sind.
Weiter heißt es: Es muss verhindert werden,
Man muss der Fraktion der Linken sagen, dass unsere
dass ältere Beschäftigte bereits beim Bekanntwer-
Sozialpolitik auf der Grundlage der Hartz-Reformen, die
den von Betriebseinschränkungen jeden Mut und
zu einer Neuordnung der Sozialpolitik geführt haben,
Elan fallen lassen, eine neue Arbeit zu finden. Die
gut ist.
Projekte zeigen erfolgreiche Wege für Ältere in den
Arbeitsmarkt. Diese Beispiele geben nicht nur (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Hoffnung, sie machen stärker. Aber Stoiber ist da anderer Meinung!)
Ein Stück weiter heißt es dann: Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosen-
hilfe wurde von allen Fraktionen getragen. Sie war eine
Menschen resignieren, wenn ihnen das gesellschaft-
gute Idee, die gemeinsam umgesetzt wurde.
liche Umfeld falsche Signale setzt. Die Politik hat
in den vergangenen Jahren mit einem Abbau der (Beifall bei der CDU/CSU)
Anreize zur Frühverrentung die Herausforderun-
gen des demografischen Wandels intensiv aufge- Wie bei allen bedeutenden Maßnahmen in der Gesetz-
griffen. Diesen Weg heißt es jetzt gemeinsam kon- gebung ist es auch hier entscheidend, genügend Zeit für
sequent fortzuführen. die Umstellung einzuräumen. Es wurden neue Verwal-
tungen, neue Zuständigkeiten und neue Leistungen ge-
Das sage ich zu der aktuellen Debatte, die mein Mi- schaffen. Die Bürgerinnen und Bürger werden durch die
nisterpräsident in Nordrhein-Westfalen ausgelöst hat. neuen Leistungsgesetze besser gestellt; insbesondere die
Die Aussagen stammen aus einer Pressemitteilung des Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands werden
Arbeitsministers Karl-Josef Laumann und der Chefin der gegenüber früheren Jahren, insbesondere gegenüber der
Regionaldirektion NRW der BA, Christiane Schönefeld. Situation bis vor 17 Jahren, als das bankrotte SED-Re-
Vor diesem Hintergrund sage ich: Wo Herr Laumann gime zusammenbrach, besser gestellt. Sie von der Links-
recht hat, hat er recht. Er hat die Prioritäten richtig be- fraktion stehen heute in der Tradition dieser Sozialpoli-
nannt. In erster Linie geht es nicht darum, den Chancen- tik: Sie rufen wieder nur nach höheren Leistungen, ohne
losen eine höhere Alimentierung oder einen längeren Ar- zu klären, wer das bezahlen soll. Sie wollen zur Finan-
beitslosengeldbezug einzuräumen, sondern darum, ihnen zierung der Sozialpolitik neue Schulden aufnehmen und
Chancen einzuräumen. Herr Laumann hat an dieser diese den künftigen Generationen auflasten.
Stelle völlig Recht.
(Beifall bei der CDU/CSU) (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich glaube, dass sich die neue Bundesregierung nach
Übrigens: Wer in der Union angesichts der Äußerun- einem Jahr angesichts ihrer Erfolge nicht verstecken
gen von Herrn Rüttgers Angst vor einer Sozialdemokra- muss. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Ich gebe zu,
tisierung der Partei hat – das möchte ich auch Herrn dass sie immer noch zu hoch ist. Jeder Arbeitslose ist ei-
Gysi sagen –, dem kann ich alle Zweifel nehmen. Die ner zu viel. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Forderungen von Herrn Rüttgers haben mit Sozialdemo- Beschäftigungsverhältnisse ist im Vergleich zum Vorjahr
kratie gar nichts zu tun. Sozialdemokraten würden nie- um 270 000 gestiegen. Dadurch hat sich die Finanzaus-
mals Generationen gegeneinander ausspielen oder die stattung unserer sozialen Sicherungssysteme verbes-
Sippenhaft wieder einführen. sert.
Danke für die Aufmerksamkeit. Es ist auch eine Anerkennung wert, dass letztes Jahr
(Beifall bei der SPD) im Rahmen dieser Sozialgesetzgebung, der Hartz-Refor-
men, über 40 Milliarden Euro für die soziale Absiche-
rung der Menschen ausgegeben wurden, und zwar für
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ALG II, die Kosten der Unterkunft, für Eingliederungs-
Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von maßnahmen und für 1-Euro-Jobs. Das ist die großartige
der CDU/CSU-Fraktion. Leistung einer Volkswirtschaft, einer sozialen Markt-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirtschaft. Sie versetzt uns in die Lage, die Haushaltspo-
litik in Zukunft so zu gestalten, dass soziale Leistungen
stärker mit erwirtschaftetem Geld untermauert werden
Max Straubinger (CDU/CSU):
und weniger neue Schulden zur Finanzierung der Sozial-
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
politik aufgenommen werden müssen. Dies ist der Er-
Linkspartei, die eigentlich mehr mit immer neuen Na-
folg dieser Bundesregierung.
mensgebungen als mit politischen Inhalten beschäftigt
ist – man hat das heute wieder gemerkt –, hat eine Aktu- Wir können jetzt vor allen Dingen feststellen – nach-
elle Stunde zur Frage der Praxistauglichkeit der Hartz- dem Kollege Gysi in seiner Rede darauf hingewiesen
Gesetze und der Erforderlichkeit einer Generalrevision hat, dass es in Deutschland ungerecht zugeht, ist er weg-
beantragt. Leider muss man feststellen, dass dazu keine gegangen; jetzt nimmt er einen anderen Termin wahr –,
Vorschläge gemacht wurden; es wurde lediglich gesagt, dass unsere Steuereinnahmen sprudeln. Das bedeutet,
man solle darüber nachdenken. Zudem wurde dieses Mal dass uns aufgrund gestiegener Körperschaft- und Ge-
auf den alten Spruch der Linken verzichtet: Hartz muss werbesteuereinnahmen – beide Steuern werden von
6158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Max Straubinger
(A) Unternehmen gezahlt – sowie gestiegener Einkommen- Das Wort „Generalrevision“ heißt, wenn ich es richtig (C)
steuereinnahmen mehr Steuermittel zur Verfügung ste- einschätze, doch so viel wie „allgemeine Rückschau“.
hen. Diese Mittel sind das Fundament der Wirtschaftspo- Genau das ist es, was Sie tun: Sie schauen zurück und
litik der neuen Bundesregierung. Diese Politik zielt auf Sie wollen in der Entwicklung zurückgehen. Das zeigen
mehr wirtschaftliche Dynamik. Mehr wirtschaftliche Ihre populistischen Forderungen.
Dynamik bedeutet für die Menschen in unserem Land
letztendlich mehr Arbeitsplätze und mehr soziale Sicher- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
heit. Deshalb ist die Arbeit dieser Bundesregierung und Das ist ökonomisch wie auch arbeitsmarktpolitisch voll-
der sie tragenden Fraktionen darauf ausgerichtet, mehr kommen kontraproduktiv. Vor allen Dingen hilft es den
Arbeitsplätze zu schaffen und nicht über eine höhere Menschen nicht, die darauf hoffen, dass wir ihnen Chan-
Alimentierung von Arbeitslosen zu streiten. cen für gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigung er-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) öffnen. Haben Sie sich schon einmal ernsthaft gefragt,
was es für die ehemaligen 600 000 Sozialhilfeempfänger
Dies ist unser Auftrag und an ihn werden wir uns auch bedeuten würde, wenn wir ihnen die Möglichkeiten der
weiterhin halten. Förderung und Vermittlung, die Hartz IV nun eröffnet
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. hat, nehmen würden?

(Beifall bei der CDU/CSU) Auch ich bin etwas ungeduldig, was die Entwicklung
betrifft. Ich wünschte mir, dass sie schneller vonstatten
geht. Fakt ist doch auch, dass in diesem Jahr die ersten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Erfolge erkennbar sind: Es gibt 122 000 Vermittlungen
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Krüger- von Langzeitarbeitslosen mehr als im letzten Jahr. Die
Leißner von der SPD-Fraktion. Zahl der Arbeitslosen ist im Vorjahresvergleich zurück-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gegangen; die Quote liegt nun bei unter 10 Prozent. Die
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist
gestiegen, auch in den neuen Ländern. All das ignorieren
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Sie. Das dürfen wir doch nicht einfach kleinreden; denn
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich an diesen ersten Erfolgen waren ganz viele Menschen
weiß nicht, zum wievielten Male wir eine Aktuelle beteiligt.
Stunde zu diesem Thema durchführen. Fest steht schon
– ich als vorletzte Rednerin kann dies sagen –: Was wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
von Ihnen heute gehört haben, waren die immer gleichen CDU/CSU)
(B) Argumente; ernsthafte Lösungsansätze waren wieder (D)
nicht dabei. Diese Aktuelle Stunde bringt uns keinen Dass die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von
Millimeter weiter. Hartz IV größer sind als die bei der Umsetzung von
Hartz I bis Hartz III, bestreitet auch keiner. Wir sind da-
Neu war allerdings die sprachliche Akrobatik, mit der bei, die größte Sozialreform in der Bundesrepublik
Sie von der Linken immer wieder versucht haben, zu durchzuführen. Dazu gehört, dass man immer wieder
verschleiern, dass Sie hier immer wieder die gleichen überprüft, verbessert und optimiert. Das tut die große
Reden halten wollen. Auch ich habe gestutzt, als ich von Koalition. Wir tun das angestrengter und intensiver als je
diesem Thema erfahren habe. Ich dachte, das hört sich zuvor. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir in diesem
nach einer sehr zähen wissenschaftlichen Abhandlung an – Jahr die Regelsätze in Ost und West angeglichen haben.
aber weit gefehlt! Alles, was wir von der Linken heute Wir haben Fehlanreize abgeschafft. Wir haben Qualifi-
gehört haben, hatte weder etwas mit Wissenschaft noch zierungsmöglichkeiten für Jugendliche verbessert und
mit wirtschaftlicher, arbeitsmarktpolitischer oder sozial- Verwaltungsabläufe vereinfacht. Alles das ist in diesem
politischer Vernunft zu tun. Jahr schon passiert und es wird weitergehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Es gibt noch eine Reihe von Punkten im SGB II, die
CDU/CSU) wir verbessern können, bessere Förderung von einigen
Weder nehmen Sie eine ehrliche und genaue Analyse Zielgruppen wie den älteren und den jugendlichen Ar-
der tatsächlichen Situation vor noch eine realistische beitslosen, verbesserte Weiterbildung, Schaffung des
Einschätzung der Entwicklung der letzten Jahre. Sie zie- dritten Arbeitsmarkts und – ich will das erwähnen, weil
hen auch keine Schlussfolgerung für politisches Han- es meine Position ist – die Einführung eines gesetzlichen
deln. Ich muss feststellen: Es geht Ihnen nicht um ein Mindestlohns. An all diesen Dingen arbeiten wir. Das
ernsthaftes Bemühen, sondern wieder einmal um ein bedeutet doch aber nicht, dass das SGB II praxisuntaug-
bisschen Krawall. Ich muss zum wiederholten Male lich ist.
auch feststellen: Alle Botschaften, die Sie hier verkün-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Doch!)
den, sind so beschränkt,
(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Nicht nur die Gehen Sie vor Ort! Überzeugen Sie sich! Reden Sie
Botschaften!) mit den Menschen! Dann werden Sie feststellen, dass
wir in diesem Jahr höhere Integrationszahlen haben. Es
so knapp und simpel, dass sie auf ein Plakat passen. gibt differenziertere und mehr Maßnahmen als im letzten
Mehr haben Sie nicht zu bieten. Jahr. Wir haben vor allem hoch motivierte Mitarbeiter,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6159
Angelika Krüger-Leißner
(A) die mit dem SGB II auch immer besser umgehen können So etwas in den Raum zu stellen, ohne gleichzeitig (C)
und Synergieeffekte nutzen. Lösungen für die Zukunft aufzuzeigen, ist meines Erach-
tens, ehrlich gesagt, zu wenig. Es kommt darauf an, dass
Den anfänglichen Problemen zum Trotz können wir
wir Arbeitsmarktpolitik sorgsam fortentwickeln und
feststellen: Die Argen und die Optionskommunen funk-
hierbei handwerkliche Fehler möglichst vermeiden.
tionieren immer besser. Von einer geringen Praxistaug-
lichkeit kann keine Rede sein. Im Übrigen sagen uns all diejenigen, die tagtäglich
vor Ort mit der Arbeitsmarktpolitik zu tun haben – damit
Es geht auch nicht um Generalrevision. Es geht da-
meine ich zum Beispiel die Vertreter von Argen oder op-
rum, jede mögliche Verbesserung der Hartz-Gesetze zu
tierenden Kommunen –, dass es besser ist, den bislang
erkennen und umzusetzen – und das mit dem Blick nach
eingeschlagenen Weg beizubehalten, die damit verbun-
vorn.
denen Maßnahmen wirken zu lassen und sie in einem
Ziel all unserer Bemühungen im Interesse der Men- überschaubaren zeitlichen Rahmen zu bewerten, anstatt
schen muss die Integration in Arbeit sein; denn das hilft immer wieder Veränderungen vorzunehmen. Bedenken
den Menschen wirklich. Daran sollten Sie sich beteili- müssen wir auch den Verwaltungsaufwand, den wir mit
gen! jeder Veränderung auslösen.
Danke. Sicherlich ist an dieser Stelle auch kritisch zu über-
prüfen, wie wir eine stärkere Vernetzung von kommuna-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
lem Know-how und lokalen Ressourcen mit der nach
wie vor zentralistisch organisierten Bundesagentur und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ihrer nicht immer überschaubaren Regelorientierung
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich hinbekommen.
das Wort dem Kollegen Andreas Steppuhn von der SPD-
Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dirk Niebel [FDP]: Aha!)
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wir
können in den Medien immer wieder Forderungen von
Andreas Steppuhn (SPD):
Ihrer Seite vernehmen, die im Grunde nichts anderes be-
Sehr geehrter Herr Präsident! Mein sehr geehrten Da- sagen als: Wir müssen bei der Arbeitsmarktpolitik weiter
men und Herren! Die Vorredner aus meiner Fraktion ha- sparen, und zwar deutlich, und am besten auch noch
ben schon deutlich gemacht, was wir von dieser Debatte gleich über weitere Leistungskürzungen nachdenken.
halten. Ich verzichte jetzt auf Wiederholung. Immer wieder taucht ja diese Diskussion in den Medien
(B) (D)
Schon bei der gestrigen Aktuellen Stunde zu den Er- auf. Ich sage sehr deutlich: Leistungskürzungen werden
folgen der Arbeitsmarktpolitik ist sehr deutlich gewor- mit uns Sozialdemokraten nicht machbar sein.
den: Wir können uns darüber freuen, dass es auf dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Arbeitsmarkt in Deutschland beschäftigungspolitisch
vorwärts geht, und das ist gut so. Zu den Vorschlägen von Herrn Rüttgers, dem
selbst ernannten Arbeiterführer von Nordrhein-Westfa-
Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen sprechen eine sehr len, ist ja schon einiges gesagt worden. Ich halte es für
deutliche Sprache. Dennoch ist es wichtig, darüber nach- unredlich, von einer längeren Bezugsdauer des Arbeits-
zudenken, was eine Weiterentwicklung von Arbeits- losengeldes für einige Bezieher zu sprechen, was ja an
marktpolitik zukünftig leisten kann und soll, welche sich nicht schlecht ist, gleichzeitig aber die Sauereien,
Rahmenbedingungen für einen Beschäftigungszuwachs die für andere damit verbunden sind, nicht zu nennen.
verbessert werden müssen, damit weitere positive be- Damit gaukelt man den Menschen etwas vor. Ich halte
schäftigungspolitische Effekte erzielt werden können. das für einen Akt der Volksverdummung. Vielleicht sa-
Die von Bundesarbeitsminister Franz Müntefering in gen Sie ihm das einmal.
den vergangenen Wochen durchgeführten fünf Anhö- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
rungen zu den verschiedenen Komplexen der Arbeits- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
marktpolitik haben zum Ziel gehabt, unter Einbeziehung
von Experten zu eruieren, was wir besser machen kön- Statt bei den Menschen zu sparen, gilt es mehr denn
nen und sollten. Solche Anhörungen werden nicht als je, die Arbeitsmarktpolitik so effektiv wie möglich zu
Selbstzweck durchgeführt, sondern um die richtigen gestalten. Lassen Sie uns unsere Kraft darauf verwen-
Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen. Daher den, gemeinsam zu überlegen, wo und wie wir Deutsch-
plädiere ich an dieser Stelle dafür, die Ergebnisse der land beschäftigungspolitisch voranbringen können.
Anhörungen sorgsam zu analysieren, auszuwerten und
(Dirk Niebel [FDP]: Sagen Sie doch einmal et-
dann zu entscheiden, welche Schritte in der Zukunft ein-
was zur Koalitionskrise!)
geleitet werden müssen. Einfach nur pauschal zu formu-
lieren „Hartz IV muss weg“ oder „Wir brauchen eine Drei wesentliche Aspekte sind hierbei wichtig:
Generalrevision der Arbeitsmarktpolitik“, wie Sie es hin
Es muss uns erstens gelingen, jungen Menschen früh
und wieder gern tun, meine Damen und Herren von der
einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zur stellen und
Linkspartei, ist schlichtweg zu wenig.
ihnen damit eine berufliche Perspektive zu geben. Das
(Beifall bei der SPD) tun wir. Wir müssen alle jungen Menschen in Arbeit
6160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Andreas Steppuhn
(A) bringen. Der Ansatz, insbesondere unter 25-jährige Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (C)
junge Menschen gezielt zu fördern, ist daher der richtige ner dem Kollegen Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die
Weg. Linke das Wort.
Der zweite Aspekt ist, das man vom bisherigen Prin- (Beifall bei der LINKEN)
zip beim Hinzuverdienst abgeht. Wir fördern damit zu-
künftig mehr Leistungsbereitschaft und Arbeitswillen
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
und verhindern zugleich Schwarzarbeit. Auch ich
glaube, dass es nach der Ausweitung des Entsendegeset- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jah-
zes und der damit verbundenen Schaffung von Mindest- ren beschäftigt uns im Zusammenhang mit der Höhe der
löhnen für das Gebäudereinigerhandwerk unsere nächste Einkommensteuer eine Frage. Es wird nämlich behaup-
Aufgabe sein muss, die Mindestlöhne auf weitere Bran- tet, dass bei hohen Einkommensteuersätzen die Gefahr
chen auszudehnen, auch wenn Angela Merkel das zur- zur Steuerflucht bestünde, weil sich gerade dann die
zeit nicht will. Best- und Besserverdienenden einen anderen Wohnsitz
suchten, an dem sie geringere Steuern bezahlen. Als Be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gründung für eine Senkung des Spitzensteuersatzes bei
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Nie- der Einkommensteuer musste immer wieder die Behaup-
bel [FDP]: Aha!) tung herhalten, nur so könne diesem Begehren Einhalt
Hierüber sind wir Sozialdemokraten uns übrigens mit geboten werden. Wir glauben, dass das falsch ist und
den Gewerkschaften einig wie lange nicht mehr. Dieses man das Problem anders lösen kann.
dient auch dazu, den Abstand zwischen dem, was man Es war im Wahlkampf 2005, wie ich glaube, als sich
bei Arbeitslosigkeit erhält, und dem, was man für die Herr Müntefering überall gegen Michael Schumacher
tagtägliche Arbeit bekommt, wieder größer werden zu wandte und sagte, es sei ein starkes Stück, dass dieser
lassen, damit sich Arbeit zukünftig wieder mehr lohnt. seinen Wohnsitz in der Schweiz nehme, wo er eine Ver-
Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Beschäfti- einbarung über die Höhe seiner Steuer treffen konnte,
gung älterer Arbeitnehmer, der so genannten Genera- und somit als deutscher Staatsangehöriger keine Steuern
tion 50 plus. Hier müssen wir Sozialdemokraten ehrlich in Deutschland bezahle.
und kritisch anmerken: Die Beschäftigungssituation bei
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wo habt denn
den Arbeitnehmern über 50 Jahren ist unbefriedigend.
ihr euer Schwarzgeld?)
Hier müssen wir etwas tun, indem wir zum Beispiel ver-
stärkt dafür Sorge tragen, dass sich der Beschäftigungs- Wir alle haben auch erlebt, dass es zu einem Strafver-
(B) anteil älterer Arbeitnehmer erhöht. fahren gegen Boris Becker kam, weil er zu viele Tage in (D)
Meine Damen und Herren, man kann über Arbeits- Deutschland war und deshalb sein Wohnsitz in Monte
marktpolitik trefflich streiten. Das haben wir heute ge- Carlo nicht anerkannt werden konnte.
tan. Das muss auch so sein. Deshalb appelliere ich an Ich kenne noch eine nette Geschichte. Bei einem
Sie, gemeinsam und konstruktiv nach den besten Lösun- Empfang von Herrn Stoiber war einmal jemand – ich
gen zu suchen. Genau dieses erwarten die Menschen von nenne hier einmal keinen Namen –, der kurz vor 24 Uhr
uns. Scheindebatten helfen uns und den Menschen in sagte, er müsse jetzt gehen, weil er sonst noch einen Tag
keiner Weise auch nur annähernd ein Stück weiter. mehr Aufenthalt in Deutschland habe, was zur Steuer-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. pflicht führen könne. So haben sich die Zustände in die-
sem Lande verändert. Also muss man darüber nachden-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ken, was man dagegen macht.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:


Wir haben einen Antrag eingebracht, der das Problem
für Deutschland lösen würde. Mit diesem Antrag fordern
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
wir die Bundesregierung auf, ein Gesetz vorzulegen, wo-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: nach deutsche Staatsangehörige mit ihrem Welteinkom-
men in Deutschland haften, unabhängig davon, wo sie
Beratung des Antrags der Abgeordneten ihren Wohnsitz haben.
Dr. Gregor Gysi, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine
Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der LINKEN)
der LINKEN
Es soll aber keine Doppelbesteuerung geben, sondern
Steuerflucht wirksam bekämpfen die Steuern, die sie in einem anderen Land bezahlen,
– Drucksache 16/2524 – werden selbstverständlich angerechnet; sie müssen nur
die Differenz bezahlen.
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f) Nun können Sie natürlich sagen, das Ganze sei wieder
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ein wahnsinnig sozialistisches Projekt und deshalb nicht
Gemäß einer interfraktionellen Vereinbarung ist für realisierbar. Dagegen spricht, dass es geltendes Recht in
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die den USA ist. Die sind ja vieler Dinge verdächtig, aber
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich nicht, sozialistisch zu sein. Insofern glaube ich, dass die-
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ses Argument nicht zieht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6161
Dr. Gregor Gysi
(A) Aber es wäre ein großer Vorteil und es wäre auch mo- Auch wir brauchen dieses Geld. Ich fände es richtig, (C)
ralisch gerechtfertigt. Ich möchte kurz darauf eingehen. den sehr gut Verdienenden und den Reichen zu signali-
sieren: Zieht hin, wohin ihr wollt, bleibt deutsche Staats-
Die meisten deutschen Staatsangehörigen, die ihren angehörige, ihr habt eure Rechte in Anspruch genom-
Wohnsitz in einem anderen Land nehmen, vor allen Din- men, ihr habt von den Steuergeldern anderer gelebt, auch
gen in Monaco oder Luxemburg, weil sie möglichst ge- das ist in Ordnung. Aber wir verlangen von euch die Dif-
ringe Steuern zahlen wollen, haben Steuergelder in ferenz, nicht mehr und nicht weniger. – Dann sind wir
Deutschland in Anspruch genommen. Sie sind in der Re- bei der Bestimmung des Spitzensteuersatzes viel eigen-
gel hier zur Schule gegangen und haben in der Regel hier ständiger, weil wir auf das Argument der Steuerflucht
studiert, und zwar zu einer Zeit, als es noch keine Stu- diesbezüglich keine Rücksicht mehr zu nehmen brau-
diengebühren gab. Das heißt, sie haben Steuergelder an- chen.
derer Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Anspruch
genommen. Nun verdienen sie selbst gut und suchen sich Danke.
einen Wohnsitz in einem anderen Land, um möglichst
keine Steuern in Deutschland zu zahlen. Das darf einen (Beifall bei der LINKEN)
nicht nur ärgern, sondern dagegen muss man etwas tun.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von
Das Zweite ist: Sie bleiben ja deutsche Staatsange- der CDU/CSU-Fraktion.
hörige. Dafür haben sie gute Gründe, ganz unterschied- (Beifall bei der CDU/CSU)
liche: kulturelle, politische, aber auch juristische. Da-
durch dass sie deutsche Staatsangehörige bleiben,
bleiben wir ihnen gegenüber verpflichtet. Das finde ich Antje Tillmann (CDU/CSU):
richtig; damit hier kein Missverständnis aufkommt. Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
Wenn ein solcher deutscher Staatsangehöriger in Unter- gen! Herr Dr. Gysi, Sie haben sehr ausführlich eine
suchungshaft kommt oder entführt wird oder ein anderes Selbstverständlichkeit beschrieben. Denn Sie haben ge-
schweres Schicksal erleidet, kümmert sich die Bundesre- sagt, dass Sie es gerecht finden, wenn Gutverdienende,
gierung der Bundesrepublik Deutschland um ihn. Das ist die den deutschen Staat während ihrer Ausbildung in
richtig; dazu sind wir gegenüber deutschen Staatsange- Anspruch genommen haben, ihm einen Teil der Kosten
hörigen nach unserem Grundgesetz auch verpflichtet. erstatten sollten. Dieser Selbstverständlichkeit können
Aber wenn das alles richtig ist – wenn sie als Kinder und alle Kolleginnen und Kollegen zustimmen. Diesen Punkt
Jugendliche und zum Teil auch für ihre Kinder die Steu- stellt keiner infrage.
(B) ergelder in Deutschland in Anspruch genommen haben, (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
wenn sie die Hilfe der Bundesregierung in Anspruch
nehmen, sobald sie in Gefahr kommen –, dann muss es In Ihrem Antrag mit dem Titel „Steuerflucht wirksam
auch eine Selbstverständlichkeit sein, dass sie selbst ih- bekämpfen“ gehen Sie ähnlich vor. Darin erwecken Sie
rer Steuerpflicht in Deutschland nachkommen. Man den Eindruck, als könne man durch die schlichte Um-
kann nicht nur von den anderen leben, ohne etwas zu ge- stellung bei der Besteuerung vom Wohnsitzprinzip auf
ben. Das müssen wir ihnen sagen. das Staatsangehörigkeitsprinzip die reichen, abzo-
ckenden Steuerpflichtigen, die durch deutsche Steuergel-
(Beifall bei der LINKEN) der groß geworden sind, zur Besteuerung im Inland
Deshalb ist unser Antrag fair. Sie müssen ja nicht zwingen. Anderthalb Seiten widmen Sie diesem Thema.
mehr bezahlen. Die Steuern, die sie in Luxemburg, Mo- Leider haben Sie der Frage der Umstellung in Ihrer Rede
naco, der Schweiz oder Österreich bezahlen, werden voll nicht eine Minute gewidmet.
angerechnet; das ist ganz klar. Aber die Differenz müs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sen sie bezahlen. Damit stehen sie nicht schlechter und neten der SPD und der Abg. Christine Scheel
nicht besser da als die deutschen Staatsangehörigen, die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
in Deutschland wohnen und leben. Ich finde das absolut
gerecht. Was die Kostenunterschiede zwischen den ein- In dem ersten Teil der Begründung Ihres Antrages be-
zelnen Ländern angeht, sind sie frei in ihrer Entschei- schäftigen Sie sich ausschließlich mit solchen Personen,
dung, wo sie ihren Wohnsitz nehmen. die schon jetzt mit ihrem Welteinkommen in Deutsch-
land einkommensteuerpflichtig sind. Sie beschreiben
Natürlich können Sie sagen, es besteht die Möglich- nämlich nur Fälle von Steuerhinterziehung. Dass Steu-
keit, die deutsche Staatsangehörigkeit abzugeben. Das erhinterziehung keiner von uns akzeptiert, ist auch völlig
ist richtig. Dann sind sie nicht mehr steuerpflichtig. klar. Woraus ziehen Sie also den Optimismus, dass die,
Dann sind wir ihnen gegenüber in bestimmten Situatio- die schon heute unter dem bestehenden System Steuern
nen aber auch nicht mehr verpflichtet. Das wird jedoch hinterziehen, es bei einem Systemwechsel künftig nicht
ein ganz kleiner Teil sein. In den USA hat sich übrigens mehr tun? Ich glaube, da spielt die Hoffnung bei Ihnen
nach kurzer Zeit herausgestellt, dass schon 30 Prozent eine größere Rolle als das Gesetz, das Sie heute verab-
der US-Bürgerinnen und -Bürger im Ausland diese Steu- schieden wollen.
erdifferenz bezahlen. Die USA sind also einen guten
Schritt weitergekommen; das macht ziemlich viele Mil- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Er will das
lionen Dollar aus, die das Land zusätzlich erhält. nicht verstehen!)
6162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Antje Tillmann
(A) Sie wollen Deutsche im Ausland zu einem Wohnort- bei 5,3 Millionen zusätzlichen Fällen, die von Finanz- (C)
wechsel mit der Begründung veranlassen, sie hätten verwaltungen bearbeitet werden müssen. Wenn es sich
schließlich das Schul- und Hochschulsystem in Deutsch- dabei nur um deutsche Vorgänge handeln würde, wäre es
land in Anspruch genommen. Ein besseres Plädoyer für schon ein bürokratischer Hammer. Über die internatio-
Studiengebühren kann ich mir kaum vorstellen. In die- nalen Probleme in diesem Zusammenhang will ich erst
sem Fall würde nämlich jeder, der diese Leistung in An- gar nicht sprechen.
spruch nimmt, dafür zahlen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Aber damit nicht genug. Sie sprechen nicht nur von
Aber nun zu den einzelnen Gründen, warum ich die- europäischen Ländern, in denen Sie Deutsche besteuern
sen Systemwechsel trotz der ärgerlichen Fälle von Um- wollen, sondern Sie sprechen auch von Drittländern.
zügen von Großverdienern in so genannte Steueroasen Wenn es uns innerhalb der nächsten Jahre tatsächlich ge-
für nicht sinnvoll halte. Der Systemwechsel ist nicht Ihre lingen sollte, über 90 Doppelbesteuerungsabkommen so
Idee. Denn darüber wird schon diskutiert, seitdem wir zu verändern, dass das Staatsangehörigkeitsprinzip in
über das Steuerrecht reden. diese Abkommen aufgenommen wird, dann kämen zu
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) den 5,3 Millionen neuen Steuerfällen, die ich gerade ge-
nannt habe, sehr schnell weitere 3 Millionen Fälle hinzu,
Ganz viele Diskussionen haben das Ergebnis hervorge- die aus allen Ländern der Welt kommen und die bis jetzt
bracht, dass ein solches Vorgehen nicht sinnvoll ist. Ich einkommensteuerpflichtig waren, aber künftig die An-
will Ihnen einige wenige Argumente dazu sagen. rechnung deutscher Steuern im Ausland begehren. Da-
mit sind wir dann bei 8,3 Millionen zusätzlichen Steuer-
Sie werden wohl nicht annehmen, dass die deutsche
fällen. Die armen Finanzbeamten bearbeiten diese Fälle
Seite einseitig einen solchen Wechsel vollziehen kann.
– wir müssten einmal die dadurch entstehenden Kosten
Auch Sie werden völkerrechtliche Verträge nicht miss-
gegenrechnen –, ohne dass es in den meisten Fällen zu
achten wollen; auch Sie kennen die Doppelbesteue-
steuerlichen Mehreinnahmen kommen würde. Denn auf-
rungsabkommen.
grund der Steuern, die im Wohnsitzland gezahlt werden,
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Aber das EU- werden keine Steuern in Deutschland anfallen.
Gericht hat es schon erlaubt!)
(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])
– Es geht gar nicht um die Frage, ob es erlaubt ist, son-
dern darum, ob es sinnvoll ist. Ich werde Ihnen darlegen, – Herr Spieth, Sie können sich gerne melden. Dann kann
warum es nicht sinnvoll ist. ich Ihnen zuhören. Während ich rede, kann ich Sie aber
(B) nur schwer verstehen. (D)
Wenn wir es tatsächlich schaffen sollten, in der EU
diesen Vorstoß zur Harmonisierung, den wir im Moment (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
im Bereich der Unternehmensteuer versuchen – damit der SPD)
hat auch die Frage zu tun, ob die Besteuerung an das
Staatsbürgerschaftsrecht geknüpft werden sollte –, mit Nun zum Bürokratieaufwand. Sie haben das Bei-
Erfolg durchzusetzen, dann gäbe es auf einen Schlag spiel USA genannt. Bei dem Doppelbesteuerungsab-
mehr als 3,8 Millionen zusätzliche Steuer- und Anrech- kommen zwischen Deutschland und den USA fällt auf,
nungsfälle in den deutschen Finanzbehörden. Denn all dass der Passus, der sich mit Amtshilfe beschäftigt, der
diejenigen europäischen Ausländerinnen und Ausländer, längste Passus ist. Ich will nur wenige Zitate aus diesem
die in Deutschland wohnen und hier ihre Steuern zahlen, Abkommen anführen:
hätten dann ein Recht darauf, dass die Steuern, die sie in Auf entsprechendes Ersuchen der zuständigen Be-
Deutschland zahlen, auf die Steuern in ihrer Heimat an- hörde eines Vertragsstaates stellt die zuständige Be-
gerechnet werden. hörde des anderen Vertragsstaates,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – jetzt kommt es –
Die meisten dieser Fälle sind Lohnsteuerfälle. Das wenn möglich, Informationen … in Form von …
heißt, es gibt zusätzliche 3,8 Millionen Akten in den Fi- Büchern, Kontoauszügen und Schriftstücken … zur
nanzämtern, in denen entsprechende Bescheinigungen Verfügung.
für die Finanzämter in den Heimatländern ausgestellt
werden müssen. Oder:
(Zuruf von der LINKEN: Ja und?) Jeder der Vertragsstaaten bemüht sich, für den an-
Selbst wenn man der Meinung ist, dass es Sinn ergibt, deren Vertragsstaat … Steuerbeträge zu erheben.
3,8 Millionen zusätzliche Steuerfälle zu schaffen, dann Absolut am besten finde ich:
muss man aber berücksichtigen, dass zu diesen
3,8 Millionen Fällen noch 1,5 Millionen Fälle hinzu- Ersucht ein Vertragsstaat … um Informationen, so
kommen, in denen Deutsche ihren Wohnsitz im Ausland beschafft der andere Vertragsstaat die Informatio-
haben. Diese Menschen können wir zurzeit, da sie keine nen … auf die gleiche Weise und im gleichen Um-
Einkünfte in Deutschland haben, auch nicht als be- fang, als handele es sich bei der Steuer des erstge-
schränkt Steuerpflichtige führen. Damit wären wir schon nannten Staates um eine Steuer des anderen Staates.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6163
Antje Tillmann
(A) Liebe Kollegen, diese Regelungen stehen in einem recht zu achten. Wir werden mithilfe der durch die neue (C)
DBA mit den USA. Das ist ein Staat, der mit seiner Bü- Unternehmensteuerreform eingeführten Zinsschranke
rokratie und mit seinen Steuerflucht- und Steuerhinter- Gewinnverlagerungen ins Ausland verhindern und wir
ziehungsproblemen mit der Bundesrepublik einigerma- werden auf EU-Ebene weiter versuchen, dieses Problem
ßen vergleichbar ist. Ich stelle mir gerade ein DBA mit in den Griff zu bekommen.
einem Staat vor, der ganz offen für sich als Steueroase
wirbt, und welches die Formulierung enthält: Der Staat Wir haben Mittel. Der Rechtsstaat braucht nicht zu
zieht die Steuern genauso ein wie bei eigenen steuer- kapitulieren. Lassen Sie mich aber an diejenigen, die im
pflichtigen Bürgern. Ja, dann können wir nicht mit vie- Grunde zu diesem Sozialsystem Deutschland stehen, sa-
len Steuereinnahmen rechnen; denn genau damit werben gen: In der Regel sind Reiche nicht die Tennis spielen-
diese Staaten. den Erben, die nicht wissen, was Arbeit ist. In den meis-
ten Fällen sind Reiche und Gutverdiener die, die viel
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und arbeiten, häufig hohe Risiken eingehen und unsere Ge-
der SPD) sellschaft noch ein ganzes Stück weiterbringen können.
Wenn wir diesen Menschen – wie Sie es vorhaben – dau-
Ich erinnere noch einmal an die Zielgruppe, die wir
erhaft 50 bis 60 Prozent ihres Einkommens wegnehmen,
alle gemeinsam zur Steuerzahlung bringen wollen. Wir
dann brauchen wir uns – so glaube ich – auch nicht zu
wollen nicht den ehrlichen Familienvater, der aus beruf-
wundern, wenn sie diesem Rechtsstaat den Rücken keh-
lichen Gründen ins Ausland zieht, knebeln und mit zu-
ren.
sätzlichen Bürokratiekosten belasten. Ich nehme an, das
wollen Sie auch nicht. Wir meinen auch nicht die freund- (Zurufe von der LINKEN)
liche Studentin, die sich im Studium verliebt und dann
im Ausland bleibt. Wir reden von denen, die sich überall Leistung und das, was man behalten darf, müssen im
auf der Welt die Rosinen aus dem Kuchen picken und Gleichgewicht stehen.
die Solidarität nicht einmal buchstabieren können. Wie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Sie gegen Steuerhinterziehungen vor allem angesichts FDP)
der Doppelbesteuerungsabkommen vorgehen wollen,
bleibt die Frage. Meiner Meinung nach ist das mit Ihrem Deshalb sollten wir uns auf die Missbrauchstatbe-
System nicht möglich. stände konzentrieren, die Sie eben so schön im Einzel-
nen dargestellt haben. Wir haben die rechtlichen Mög-
Selbst wenn wir es trotz all der bürokratischen lichkeiten. Durch die von Ihnen gezeigten Verfahren
Schwierigkeiten, die ich eben angesprochen habe, schaf- wird deutlich, dass wir das Handwerkszeug dazu haben.
fen, einen Steuerbescheid zu erlassen – in den meisten Lassen Sie uns nicht den Weg einschlagen, den Sie vor-
(B) Fällen ist es sehr unwahrscheinlich, dass dann tatsäch- gestellt haben. Dieser wird nicht zu mehr Steuereinnah- (D)
lich für den deutschen Fiskus noch Steuern dabei heraus- men, sondern nur zu mehr Bürokratiekosten führen. Des-
kommen –, so bleibt die Durchsetzung des Steueran- halb halten wir das nicht für sinnvoll.
spruchs verdammt schwer. Ich zitiere hierzu Professor
Dr. Peter Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesfi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nanzhof, aus der Anhörung zum SEStEG zur Frage neten der SPD und der FDP)
Amtshilfe im Ausland: Was dies bedeutet, wird klar,
wenn man allein daran denkt, dass das Verfolgen eines Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Steueranspruchs ins Ausland bereits daran scheitern Jetzt hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von der
könnte, dass wir in den einzelnen EU-Staaten über den FDP-Fraktion das Wort.
diplomatischen Verkehr Finanzverwaltungsakte schi-
cken müssen. Im Verhältnis zu Polen dauert das zwei (Beifall bei der FDP)
Jahre.
Hier geht es nur um die Zusendung der Bescheide. Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Man kann sich vorstellen, wie viel schwieriger es ist, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
eine Vollstreckung im Ausland durchzuführen. In ganz Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem von der Fraktion
vielen Fällen werden wir hier keine weiteren Möglich- Die Linke eingebrachten Antrag soll die Bundesregie-
keiten haben. rung aufgefordert werden, das Außensteuerrecht so zu
reformieren, dass deutsche Staatsangehörige unabhängig
Wir alle haben das gleiche Ziel. Wir wollen, dass von ihrem Wohnsitz oder ihrem gewöhnlichen Aufent-
Leistungsfähige in dieser Gesellschaft ihren Beitrag leis- halt mit ihrem gesamten Einkommen – also mit ihrem
ten. Wir wollen, dass sie dieser Gemeinschaft ein biss- Welteinkommen – unbeschränkt steuerpflichtig sind.
chen von dem, was der Staat ihnen an Rechtssicherheit,
Freiheit, Gesundheitsfürsorge oder Bildung gegeben hat, Zur Begründung Ihres Antrages kann ich Ihnen, Herr
in dem Augenblick, in dem sie selber leistungsfähig Gysi, nur sagen: Es stimmt, dass vor allem einige beson-
sind, wieder zurückgeben. Lassen Sie uns gemeinsam ders gut verdienende Sportlerinnen und Sportler, Künst-
mit allen rechtsstaatlichen Mitteln, die uns das Steuer- lerinnen und Künstler, Unternehmerinnen und Unterneh-
recht gibt, gegen die Unbelehrbaren vorgehen. Wir sind mer sowie andere Personen die Bundesrepublik
aktuell dabei. Wir sind dabei, im Rahmen des SEStEG Deutschland verlassen, um sich zum Beispiel in der
Wegzugsbesteuerungen einzuführen. Wir sind im Au- Schweiz, in Liechtenstein oder Monaco niederzulassen.
ßensteuerrecht dabei, auf das deutsche Besteuerungs- Aus Sicht der FDP kann ich nur anmerken: Österreich
6164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Carl-Ludwig Thiele
(A) sollten Sie in Ihren Antrag noch aufnehmen; dieses Land ger tätig zu werden. Die USA und Liberia wenden dieses (C)
haben Sie wahrscheinlich übersehen. Prinzip also an. Sie agieren anders als wir.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Haben sie Wir agieren im europäischen Gesamtkontext. Würden
noch nicht im Fokus!) wir so vorgehen, wie Sie es vorgeschlagen haben, würde
dies dazu führen, dass man an dieser Stelle einen enor-
Da die Linkspartei in der Begründung ihres Antrages men Verwaltungsaufwand hätte. Alle Doppelbesteue-
hervorhebt, dass es sich bei dem angegebenen Wohnsitz rungsabkommen müssten neu verhandelt werden, wobei
nicht selten um einen Scheinwohnsitz handelt, und inso- ich sage: Wenn das prinzipiell überall gelten soll, könnte
fern auf einen erfolgreichen deutschen Tennisspieler hin- man darüber reden. Aber man sollte sich natürlich über
weist, der in 2002 für Schlagzeilen sorgte, darf festge- die Konsequenzen im Klaren sein; deshalb spreche ich
stellt werden, dass es sich in diesem Fall wohl um diese an.
Missbrauch handelte
Es wäre also verwaltungsmäßig sehr schwierig. Es
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Richtig!) wäre auch schwierig, ein solches Prinzip gegenüber an-
deren Ländern durchzusetzen. Denn andere Länder
und dieser Missbrauch als Steuerhinterziehung ange- müssten dem deutschen Fiskus entsprechende Mitteilun-
klagt und geahndet wurde. Insofern sollten Sie auch die- gen machen, wenn der Steuerpflichtige selbst dies nicht
sen Passus Ihres Antrages überprüfen; denn in diesem macht. Aber da er keinen Wohnsitz in Deutschland hat,
Fall wurde das Recht falsch genutzt und der Fiskus hatte wird er dies vermutlich auch nicht tun. Sie hätten keine
entsprechende Zugriffsmöglichkeiten. Der Missbrauch vernünftige Sanktionsmöglichkeit. Angesichts der Tatsa-
wurde geahndet. Dies ist also aus meiner Sicht kein Ar- che, dass ein Recht entwickelt werden soll, das dann gar
gument für Ihr Anliegen. Wenn jemand gegen Gesetze nicht genutzt werden kann, müssten auch Ihnen als Jurist
verstößt, dann hat der Staat die Möglichkeit, gegenüber – wir tragen eine ähnliche Frisur, Herr Kollege Gysi –
demjenigen, der gegen Gesetze verstoßen hat, tätig zu die Haare zu Berge stehen.
werden.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Denn wir Juristen finden es nie gut, wenn ein Recht ent-
wickelt wird, das dann überhaupt nicht angewandt wer-
Für den Geltungsbereich des Einkommensteuergeset- den kann. Zumindest dieses Argument müsste Sie über-
zes gilt der fundamentale Unterschied zwischen unbe- zeugen.
schränkter und beschränkter Steuerpflicht. Unbe- Ich bin der Auffassung – das ist der politisch wichtige
(B) schränkt steuerpflichtig sind diejenigen Personen, die Punkt –, dass man nicht wieder den Weg, der in den letz- (D)
ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland ten Jahren beschritten wurde und auch derzeit wieder be-
haben. Anknüpfungspunkt für die unbeschränkte Steuer- schritten wird, gehen kann, nämlich zu schauen, wo es
pflicht ist also die Ansässigkeit in der Bundesrepublik Missbrauch gibt, und dann den Missbrauch zu beschrän-
Deutschland und nicht die Staatsangehörigkeit. Besteu- ken, weil das System an sich gut ist. Wir müssen feststel-
ert werden die inländischen und die ausländischen Ein- len, dass es im internationalen Wettbewerb Systeme
künfte. Das heißt, Deutschland legt bei der Besteuerung gibt, die auch im Steuerrecht wettbewerbsfähiger sind
schon derzeit das Welteinkommen zugrunde. Im Rah- als wir. Deshalb brauchen wir eine Vereinfachung und
men von Doppelbesteuerungsabkommen verzichtet Verschlankung des Steuerrechtes sowie eine Senkung
Deutschland jedoch in weitem Umfang auf die Belas- der Steuersätze bei Verbreiterung der Bemessungsgrund-
tung der kompletten Beträge, sodass das Welteinkom- lage.
mensprinzip wesentliche Durchbrechungen erfährt.
Warum sind denn die anderen Länder interessanter
Es gibt aber zum Beispiel den Progressionsvorbe- geworden? Weil sie Reformen durchgeführt haben. Ich
halt. Das heißt, die in anderen Ländern gezahlten Steu- möchte nicht, dass Menschen aus rein steuerlichen
ern werden freigestellt und diese Einkünfte müssen hier Gründen Deutschland verlassen. Ich möchte, dass sie in
nicht mehr versteuert werden. Aber dieses im Ausland Deutschland bleiben. Ich möchte sogar, dass mehr Men-
erzielte Einkommen wird bei der Ermittlung des Steuer- schen nach Deutschland kommen. Dies dürfen sogar Ös-
satzes zur deutschen Bemessungsgrundlage addiert. Der terreicher, Schweizer und auch Luxemburger sein. Sie
Bürger wird dann in Deutschland mit einem höheren sollen ruhig nach Deutschland kommen. Wenn sie ihren
Steuersatz, also nach seiner tatsächlichen Leistungsfä- Wohnsitz hier haben, werden sie hier steuerpflichtig.
higkeit, besteuert. So ist das derzeitige Recht. Das setzt aber voraus, dass wir unser Land ein bisschen
attraktiver machen. Denn unser Land ist schön, wir ha-
Eine Anknüpfung der unbeschränkten Steuerpflicht
ben eine Superinfrastruktur und eine tolle Bevölkerung.
an die Staatsangehörigkeit ist allerdings, auch wenn Sie
Wir sollten viel mehr Menschen dazu bringen, ihren
das Beispiel Amerika zu Recht erwähnen, die absolute
Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen. Das aber setzt
Ausnahme auf dieser Welt. Nur in den Vereinigten Staa-
Reformen in unserem Lande voraus. Ihr Antrag ist leider
ten und in Liberia gilt das Staatsangehörigkeitsprinzip.
eher dazu angetan, diese Reformen aufzuschieben, als
Liberia als Beispiel für die von Ihnen in Ihrer Rede dar-
ihnen zum Durchbruch zu verhelfen.
gestellten etwas populistischen Forderungen heranzuzie-
hen, ist etwas zweifelhaft. Denn ich weiß nicht, wie stark Wir müssen die Menschen und auch Kapital in unser
die diplomatische Kraft Liberias ist, für seine Staatsbür- Land locken. Deshalb begrüßen wir als FDP, dass die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6165
Carl-Ludwig Thiele
(A) schwarz-rote Koalition jetzt die Abgeltungssteuer in die (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Wir geben (C)
Diskussion eingebracht hat. doch unser Arbeits- und Sozialrecht auch nicht
auf, nur wegen der Schwarzarbeit!)
(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
CSU]) Es gibt Menschen, die sich illegal verhalten, und Men-
schen, die sich auf moralische Art und Weise nicht legal
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verhalten. Menschen, die gut verdienen, stehlen sich aus
Herr Kollege Thiele! der Gesellschaft heraus, während sie sich gleichzeitig
von unserer Gesellschaft hochjubeln lassen. Das ist ein
gesellschaftliches Problem.
Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Wir dürfen dem Kapitalabfluss aus Deutschland nicht (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Undine
zusehen, sondern müssen Kapital nach Deutschland ho- Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/DIE
len, damit es hier versteuert wird und zu einer Erhöhung GRÜNEN])
des Steueraufkommens beiträgt.
Ich möchte dieses Problem einfach einmal aufzeigen.
Herzlichen Dank. Kann es sein, dass jemand, auch wenn er nicht gegen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Recht und Gesetz verstößt, sich aber in eine gewisse
moralische Verfehlung begibt, hier zu einem Idol, zum
Ehrenbürger seiner Heimatstadt wird und ihn die ganze
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gesellschaft bejubelt?
Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von
der SPD-Fraktion. (Beifall der Abg. Undine Kurth [Quedlinburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Simone Violka (SPD):
Das kann doch nicht sein. Wir alle sind verantwortlich
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dafür, eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen.
Kollegen! Werte Gäste! Herr Gysi, Sie haben ein Pro-
blem angesprochen, das jedem Parlamentarier, der Wahl- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Undine
kreisarbeit macht, immer wieder begegnet. In großflä- Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/DIE
chigen Schlagzeilen in mehr oder weniger bekannten GRÜNEN])
Zeitungen wird immer wieder auf solche ungerechten
und unsozialen Fälle hingewiesen und gesagt, der Staat Wir sollten auch unser Verbraucherverhalten auf
müsse etwas machen. So etwas kommt natürlich immer das Verhalten der Unternehmen abstimmen. Die Ver-
(B)
gut an. braucher sind gefragt, ob sie das Verhalten der Unterneh- (D)
men mit ihrem Verbraucherverhalten unterstützen oder
Das ist auch Kern Ihres Antrages. Sie beschreiben das sanktionieren. Die Gesellschaft muss endlich wieder
zugrunde liegende Problem sehr ausführlich und sagen, breitflächiger denken, weg von den großen Überschrif-
der Staat müsse etwas tun, wie Sie es bei vielen politi- ten in Zeitungen, und sich einmal anschauen, was im
schen Themen machen. Sie versäumen es aber in Ihrer Land passiert. Sie dürfen nicht auf der einen Seite kriti-
etwas populistischen Art, die sich sehr einfach liest, ei- sieren, aber auf der anderen Seite die entsprechenden
nen vernünftigen Vorschlag zu machen, wie das Problem Fanartikel kaufen, damit derjenige, der sein Geld im
beseitigt werden kann, ohne in einen bürokratischen Ausland versteuert, noch mehr Einkommen zur Verfü-
Wust zu verfallen, in politische Reflexe, die dem Kern- gung hat.
problem überhaupt nicht dienlich sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Natürlich ist das, was Sie in Ihrem Antrag beschrie-
ben haben, ein Problem. Tatsächlich leiden viele nicht Darüber müssen wir einmal ehrlich reden.
darunter, dass das geltende Steuerrecht in diesen Fällen
nicht anwendbar ist – Herr Thiele ist gerade darauf ein- Noch ein Punkt ist mir sehr wichtig. Nicht alle Men-
gegangen –, sondern darunter, dass ein solches Verhalten schen, die in diesem Land gut verdienen, sind Steuer-
illegal ist. Von staatlicher Seite werden Verfahren wegen flüchtige. Es gibt eine große Anzahl von Menschen in
Steuernachzahlungen eingeleitet, weil sich diese Men- unserem Land, egal ob sie selbstständig sind, ob sie
schen nicht nach deutschem Steuerrecht verhalten haben. Sportler oder Künstler sind, ob sie vielleicht auch reiche
Dieses Problem wird aber auch durch ein solches Gesetz Erben sind, die hier ihren Wohnsitz haben, hier Steuern
nicht gelöst. zahlen und nicht wenig Geld ausgeben, in diesem Staat
als Mäzen, als Sponsor, als Spender oder als Stiftungs-
Sie haben die USA als Beispiel angeführt. Ich kann gründer sehr viel Gutes zu tun. Ich finde es nicht in Ord-
Ihnen nur raten, sich einmal mit dem IRS in Verbindung nung, wenn in einer solchen Debatte immer wieder Men-
zu setzen und zu fragen, welche Probleme die USA mit schen, die viel Geld haben, automatisch irgendwelchen
Steuerflüchtlingen haben, obwohl es dort ein derartiges Gruppen zugeordnet werden. Damit tut man nämlich den
Gesetz gibt. Ein solches Gesetz hält die Menschen doch Menschen, die sich in diesem Lande sehr vielseitig enga-
nicht davon ab, Geld aus dem Land zu bringen, wenn sie gieren, unglaublich Unrecht. Ich glaube, darüber sollte
irgendwo eine Nische entdecken, egal ob sie sich da- man in unserer Gesellschaft einmal diskutieren.
durch illegal verhalten oder nicht. Hier müssen Sie
gründlich trennen, Herr Gysi. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
6166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Simone Violka
(A) Zu Ihrem Antrag. Ich sehe darin keine praktikable Lö- Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bewundere Ihr Ge- (C)
sung. Außer den USA – das wurde gerade angesprochen – spür für „unbürokratische“ Gesetzesideen. Dieser Vor-
praktizieren nicht viele Länder diese Regelung. Auch schlag ist ein Beispiel dafür, wie man Gesetze so unbü-
wenn es in den USA praktiziert wird, heißt das nicht, rokratisch wie möglich entwickeln und anwenden kann.
dass dadurch das Problem hundertprozentig gelöst
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Damit kennen
würde. Herr Thiele, es hilft auch nicht, die Steuern im-
die sich ja aus!)
mer stärker zu senken, um Steuerflucht immer unattrak-
tiver zu machen. Wenn ein Mensch keinen moralischen – Sie haben Recht. Damit kennen die sich aus –. Ich
Anspruch hat, dann sind selbst 5 Prozent Steuern zuviel würde mich freuen, wenn Sie mir eine Statistik vorlegen
für ihn, weil er diese 5 Prozent woanders sparen könnte. könnten, aus der sich auf den Cent genau ergibt, mit wel-
Wir müssen endlich einmal an das Selbstverständnis und chem bürokratischen Aufwand Sie rechnen.
an die Moral der Menschen appellieren. Wir müssen
wahrnehmen, dass in diesem Staat jeder sein Säckchen (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das Bürokra-
zu tragen hat. Derjenige, der viel verdient, hat vielleicht tieargument gilt immer nur bei den Reichen!
ein größeres zu tragen als derjenige, der wenig hat. Wir Bei Hartz IV spielt es nie eine Rolle!)
müssen aber endlich einmal lernen, dass wir alle zu die- Welche Einnahmen planen Sie ein? Das würde mich in-
sem Staat gehören. teressieren. Ich glaube nämlich nicht, dass es unserem
deutschen Steuersystem besonders gut zu Gesicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stünde, wenn wir unsere Beamtinnen und Beamten um
der SPD) Zigtausende aufstocken müssten, um zu schauen, wie
Die Doppelbesteuerungsabkommen, die wir haben, viele Steuern in allen anderen Ländern der Welt gezahlt
funktionieren sehr gut. Ich stelle es mir gruselig vor, mit werden.
über 90 Staaten in neue Verhandlungen einzutreten. (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
Diese Staaten haben nämlich ihre eigenen Interessen und CSU])
warten nicht darauf, dass Deutschland mit solchen Ideen
kommt. Sie werden nicht mit offenen Armen dastehen Die rechtliche Ausgestaltung würde mich ebenfalls
und sagen: Endlich, daran haben wir schon lange ge- interessieren. Soll Deutschland dann per Strafbefehl in
dacht. Diese Regelung würde das ganze System verkom- der Schweiz oder in Liechtenstein Steuern einziehen?
plizieren. Das Problem ist: Recht zu haben, ist schön; Recht zu be-
kommen, ist aber etwas anderes.
Mich würde auch persönlich interessieren, wie Sie
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das ist ganz
sich das vorgestellt haben. Deutsche Staatsbürger, egal (D)
(B) unproblematisch!)
wo sie wohnen, versteuern ihr Einkommen. Wenn sie es
im Ausland verdienen und dort versteuern, wird das an- Ich weiß, was jetzt kommt: Die Menschen sind fällig,
gerechnet. Die Differenz müssen sie in Deutschland zah- wenn sie wieder nach Deutschland zurückkommen. Ich
len. Was ist denn, wenn die Steuerpflicht im Ausland hö- glaube nur nicht, dass viele wiederkommen werden,
her ist? Zahlt Deutschland die Differenz dann zurück? Herr Gysi. Das ist das Problem. Frau Tillmann hat ge-
fragt, ob Sie die Studentin, die sich in Frankreich ver-
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das ist nur in liebt hat, bestrafen wollen. Herr Gysi sagte hinter mir:
Norwegen!) „Nein, die meinen wir nicht!“ Genau diese Studentin ist
– Dann ist es halt nur Norwegen. Sagen Sie mir doch aber betroffen, weil sie in Frankreich lebt. Herr Gysi, ob
einmal, wo Sie diesen Fall in Ihrem Gesetzentwurf un- Sie das nun wollten oder nicht: Von diesem Gesetz wäre
tergebracht haben. sie betroffen.
Meine Fraktion hat kein Verständnis für eine so un-
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Darüber kön- praktikable Lösung. Ich plädiere dafür, dass wir das Pro-
nen wir uns im Ausschuss unterhalten!) blem und vor allem den gesellschaftlichen Aspekt in der
– Herr Gysi, das glaube ich nicht. Das wird schwierig Öffentlichkeit diskutieren. Bestimmte Dinge dürfen ein-
werden, weil Sie nicht in unserem Ausschuss sind. fach nicht mehr passieren und sollten nicht mehr passie-
ren können. Wir müssen mit unseren bestehenden Mög-
Um genau solche Fälle geht es. Auch andere Länder lichkeiten die vorhandenen Fälle konsequent verfolgen.
werden ihre Besteuerung verändern. Was ist denn mit Wir dürfen sie nicht unter den Teppich kehren oder Am-
den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die in Deutschland nestien vornehmen. Ich glaube, das sind wir den Men-
leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben? schen, die ihre Steuern in Deutschland regulär zahlen,
Was ist denn, wenn sie in ihrem Heimatland deutlich we- schuldig. Wir sollten nicht in politische Reflexe verfal-
niger Steuern zahlen müssen? Zahlt Deutschland dann len und glauben, dass wir ein Problem einfach per Ge-
etwas zurück? Was machen Sie mit diesen Fällen? Herr setz lösen könnten und die Welt dann in Ordnung wäre.
Gysi, das ist die Realität, mit der Sie sich auseinander Herr Gysi, Sie wissen genau, wie ein anderer Staat, den
setzen müssen. Das sind die Probleme der Bürgerinnen Sie sehr gut kennen, das Problem der Abwanderung von
und Bürger, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf mit ins Fachkräften zu lösen versucht hat. Doch auch die Mauer
Boot nehmen. Davon gibt es in Deutschland nicht nur ei- hat nicht geholfen. Genauso wenig hilft Ihr heutiger Vor-
nige, sondern verdammt viele. Damit muss man sich ein- schlag Deutschland, seine Steuerflüchtigen in den Griff
mal auseinander setzen. zu bekommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6167
Simone Violka
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten insbesondere Ihre Partei ständig verteidigt und der ein (C)
der CDU/CSU) Grund dafür ist, dass wir unser Steuerrecht auch bei
Auslandssachverhalten nicht richtig durchsetzen kön-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen: der Riesenapparat von 16 Landessteuerverwaltun-
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick gen. Auch deshalb können wir den inländischen Bezug
von Auslandssachverhalten nicht richtig ermitteln. Wir
von Bündnis 90/Die Grünen.
sollten in dieser Richtung weiterkommen, wir sollten in
Deutschland verändern, was wir in Deutschland verän-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern können,
NEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der
glaube, die meisten hier im Raum sind sich einig, dass Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])
der vorliegende Vorschlag nichts taugt. um nicht beim Appell zu bleiben, sondern in der Sub-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stanz weiterzukommen.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
SPD und der FDP)
Was vorgeschlagen wird, ist nicht administrierbar, und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wir bekommen genau dasselbe Problem wie an anderer Herr Kollege Schick, erlauben Sie eine Zwischen-
Stelle auch: dass im Gesetz etwas steht, was nicht durch- frage der Kollegin Tillmann?
setzbar ist. Das widerspricht dem Grundsatz der gleich-
mäßigen Besteuerung und hätte deshalb vor dem Bun- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
desverfassungsgericht keinen Bestand. Solche Gesetze NEN):
zu machen, gibt keinen Sinn, sondern führt nur zu noch Ja.
mehr Frustration. Sie beklagen zu Recht, dass viele, be-
sonders reiche Menschen sich aus unserem Land verab-
schieden und ihren Wohnsitz der Steuer wegen verlegen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das ist natürlich eine moralische Frage. Aber, Frau Vi- Bitte schön, Frau Tillmann.
olka, mit einem Appell unsererseits ist es nicht getan.
Wenn wir der Empörung in unserer Gesellschaft gerecht Antje Tillmann (CDU/CSU):
werden wollen, müssen wir konkrete Veränderungen in Herr Kollege Schick, teilen Sie mit mir die Auffas-
unserem Land vornehmen. So weit würde ich auch sung, dass in Deutschland für jedes ausländische Land
(B) Herrn Thiele zustimmen, der gesagt hat, man kann nicht bereits eine Steuerbehörde zuständig ist und dass eine (D)
bloß zuschauen und warme Worte verlieren, sondern mögliche Zersplitterung der Zuständigkeit auf die
man sollte auch etwas tun. Aus der großen Koalition war 16 Steuerverwaltungen mit dem Föderalismusbegleitge-
an konkreten Vorschlägen nicht viel und nichts Substan- setz schon erheblich eingeschränkt wurde? Teilen Sie
zielles zu hören. Ich würde deswegen gern ein paar kon- mit mir darüber hinaus die Auffassung, dass der Bund
krete Vorschläge machen, was man tun könnte: die Kosten für eine bundeseinheitliche Steuerverwal-
tung – Bundespensionen und IT-Kosten – im Moment
Stichwort Anrechnung. Wir sind für den Wechsel zur
gar nicht schultern kann?
Anrechnungsmethode, aber nur bei Menschen, die ihren
Wohnsitz in Deutschland haben; hier ist es administrier- (Zuruf von der CDU/CSU: Ein klares Ja oder
bar. Wenn wir den Progressionsvorbehalt berücksichti- Nein!)
gen können, können wir auch eine Anrechnung vorse-
hen. Das wäre schon etwas, um Steuerflucht zu Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bekämpfen. NEN):
Zweitens müssen wir auf der Ebene der Europäischen Zum zweiten Punkt zuerst: Natürlich muss man die
Union darauf hinarbeiten, das Erfordernis der Einstim- Frage, wie der Übergang zu gestalten ist, ausdiskutieren.
migkeit in Steuerfragen zu überwinden, damit wir die Solche Praktikabilitätsprobleme haben wir auch bei an-
Steueroasen, die sich in der Europäischen Union befin- deren Bund-Länder-Angelegenheiten lösen können.
den, sinnvoll bekämpfen und die Amtshilfe verbessern (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine Frage
können. Das müssen wir dringend tun. Denn das Legiti- des Geldes!)
mationsdefizit der Europäischen Union hat auch damit
zu tun, dass die Menschen sie nicht als einen Ort der Lö- Hinsichtlich Ihrer ersten Frage ist es so: Auch wenn
sung solcher Gerechtigkeitsfragen, wie wir sie gerade es eine jeweilige Zuständigkeit gibt, schaffen es die
diskutieren, empfinden. In diese Richtung muss gerade Steuerbehörden doch nicht einmal bei Umzügen im In-
während der Präsidentschaft der Bundesrepublik land, rechtzeitig zu koordinieren; das werden Ihnen alle
Deutschland im Europäischen Rat Entscheidendes pas- bestätigen, die in der Steuerverwaltung arbeiten. Das ist
sieren. ein wesentlicher Grund dafür, dass wir auch bei Aus-
landssachverhalten nicht richtig ermitteln können.
Frau Tillmann, Sie haben im Hinblick auf die Vor-
schläge der Linkspartei von einem bürokratischen Ham- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es war vom
mer gesprochen. Ich stimme Ihnen zu: Das geht so nicht. Ausland die Rede, Herr Kollege, nicht vom In-
Aber es gibt einen weiteren bürokratischen Hammer, den land!)
6168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Gerhard Schick


(A) – Richtig, es geht aber immer um einen inländischen Be- Hans-Michael Goldmann (C)
zug. Wenn Sie eine Wegzugsbesteuerung einführen wol- Dr. Kirsten Tackmann
len, dann brauchen Sie eine entsprechende inländische Ulrike Höfken
Basis. Das gilt auch, wenn Sie das Anrechnungsverfah-
ren durchsetzen wollen und insbesondere bei allen Fäl- Ich weise darauf hin, dass ein Entschließungsantrag
len von Steuerhinterziehung. der Fraktion der FDP vorliegt, der sich auf beide ge-
nannten Gesetzentwürfe bezieht.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne
Kastner) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Ich fordere die Linkspartei auf, nicht nur populisti- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
sche Anträge ins Plenum einzubringen,
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Gysi ist ja mentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller.
nicht mehr da!)
sondern Änderungsanträge, die konkrete Probleme lö- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
sen. Heute diskutieren wir zum Beispiel noch einmal minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
über das SEStEG, in dem es um die Wegzugsbesteuerung cherschutz:
geht, und auch bei der Befassung mit den Doppelbesteu- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
erungsabkommen haben Sie dazu die Möglichkeit. Ich Herren! Es geht jetzt um ein möglicherweise tödliches
würde mich freuen, wenn es dann Substantiierteres von Thema; denn „Rauchen kann tödlich sein“.
Ihnen gäbe.
(Detlef Parr [FDP]: Jetzt bleiben Sie aber bei
Danke. einer sachlichen Diskussion, Herr Kollege!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Das steht auf den Packungen und das sollten wir ernst
Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es wäre schön,
nehmen.
wenn Herr Gysi hier bleiben würde, wenn da-
rüber debattiert wird!) Mit dieser Thematik beschäftigen sich nicht nur die
Bundesregierung und dieses Parlament, sondern auch
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Europäische Union. Heute geht es unter anderem um
Ich schließe die Aussprache. die Umsetzung der Tabakwerberichtlinie – das ist der
aktuelle Anlass –, welche die EU-Kommission bis zum
(B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 31. Juli 2006 von uns gefordert hat. Die Bundesregie- (D)
Drucksache 16/2524 an die in der Tagesordnung aufge- rung hat beim EuGH Klage gegen die Tabakwerbericht-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- linie erhoben; denn wir bestreiten die Rechtskompetenz
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung der Europäischen Union, in diesem Sektor tätig zu wer-
so beschlossen. den. Bei dieser Rechtsauffassung bleiben wir nach wie
vor.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU)
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Es zeigt sich immer mehr, dass die Europäische
Ersten Gesetzes zur Änderung des Vorläufi- Union – dabei ist der Europäische Gerichtshof das
gen Tabakgesetzes Machtzentrum – Regelungskompetenzen an sich zieht,
– Drucksache 16/1940 – ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gibt. Natürlich
müssen wir uns aber dem Spruch des EuGH unterwer-
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge- fen. Nachdem nun der Schlussantrag des Generalanwalts
ordneten Ulrike Höfken, Birgitt Bender, vorliegt, müssen wir von einer Abweisung der Klage
Dr. Harald Terpe, weiteren Abgeordneten und ausgehen. Deshalb schlagen wir vor, die EU-Richtlinie
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- eins zu eins umzusetzen. Wir müssen dabei beachten,
NEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge- dass die Tabakwerberichtlinie das grundsätzliche Werbe-
setzes zur Änderung des Vorläufigen Tabak- verbot für Tabakerzeugnisse in Presse, Internet und
gesetzes Rundfunk sowie ein Sponsoringverbot enthält. Dies ist
das eine Thema.
– Drucksache 16/1068 –
Rauchen bewegt uns in Deutschland und in diesem
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Parlament aber auch an anderer Stelle – dies ist ein da-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
von unabhängiges Thema –, nämlich dann, wenn es um
cherschutz (10. Ausschuss)
den Nichtraucherschutz geht. Ich habe mir in meinem
– Drucksache 16/3201 (neu) – Büro vorhin noch eine andere Zigarettenschachtel ange-
schaut. Auf der steht:
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Segner Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer
Dr. Marlies Volkmer Umgebung erheblichen Schaden zu.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6169
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
(A) (Detlef Parr [FDP]: Guter Aufkleber! Das (Detlef Parr [FDP]: Das ist doch schon längst (C)
reicht aber für die Entscheidung jedes Einzel- Tatsache!)
nen aus!)
es sei denn – diese Regelung muss für den Bürger nach-
Das ist ein Warnhinweis an Sie. Wir leben in einem vollziehbar sein –, es gibt abgetrennte und für das Rau-
freien Land und es stellt sich natürlich die grundsätzliche chen ausgewiesene Räume. Ich glaube, das ist eine klare
Frage nach der Eigenverantwortung. Botschaft für Raucher und betroffene Nichtraucher.
(Detlef Parr [FDP]: So ist es!) Der zweite Punkt betrifft die gastronomischen Be-
triebe. Das ist brisant und darüber wird in der Öffent-
Wo endet die Freiheit des Einzelnen? Natürlich bestreitet lichkeit breit diskutiert. In Deutschland gibt es 250 000
niemand dem Raucher das Recht, zu rauchen. Das soll gastronomische Betriebe. Selbstverständlich streben wir
auch in Zukunft so sein. Aber die Freiheit des Rauchers gemeinsam mit ihnen eine praktikable und unbürokrati-
endet dort, wo sie die Gesundheit des anderen tangiert. sche Lösung an, auch im Interesse der 1 Million Mitar-
Deshalb arbeiten die Koalitionsfraktionen und die Bun- beiterinnen und Mitarbeiter und der vielen Millionen
desregierung an einem Nichtraucherschutzgesetz. Wir Gäste in der Gastronomie.
sind der Meinung – davon sind wir ausgegangen –, dass
beim Nichtraucherschutz die Selbsteinsicht, die Eigen- In Speisewirtschaften soll ein Rauchverbot gelten,
verantwortung und die Freiwilligkeit die ersten, die rich- nicht jedoch in Schankwirtschaften. Eine solche Abgren-
tigen und die wichtigsten Schritte wären. zung, die sich auch im Gaststättenrecht findet, streben
wir gemeinsam an. Die Regel soll in Speisewirtschaften
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das Rauchverbot sein; eine Ausnahme ist dann zu ma-
neten der SPD – Detlef Parr [FDP]: Eine gute chen, wenn dafür vorgesehene, abgetrennte Räume be-
Einsicht!) stehen. Das ist auch eine klare Botschaft an die Gastro-
nomie.
– Ja.
Diese Eckpunkte werden wir in den nächsten Wochen
An die Selbsteinsicht glaubt der Deutsche Bundestag und Monaten gemeinsam weiterentwickeln und darüber
seit 1994. Jedes Jahr führen wir erneut eine solche De- insbesondere mit der Gastronomie diskutieren müssen;
batte und treffen eine Entschließung. denn wir streben, wie gesagt, eine praktikable Lösung
an. Für die Bundesregierung bzw. die Koalitionsfraktio-
(Detlef Parr [FDP]: Und jedes Jahr gibt es we-
nen stelle ich fest: Eine praktikable Lösung muss auch
niger Raucher!)
eine wirksame Lösung sein. Im Mittelpunkt unserer Be-
mühungen steht das Ziel eines effektiven Nichtraucher-
(B) Heute, im Jahr 2006, müssen wir allerdings feststellen: (D)
Selbsteinsicht und freiwillige Selbstbeschränkung zum schutzes. Es muss etwas passieren. Wir dürfen kein Ge-
Schutz der Nichtraucher funktionieren nicht. setz auf den Weg bringen, in dem nur Andeutungen
gemacht werden. Wir wollen einen effektiven Nichtrau-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Detlef cher- bzw. Gesundheitsschutz. Es ist unbestritten, dass
Parr [FDP]: Wieso? Es gibt doch jedes Jahr Rauchen tödlich sein kann und dadurch auch Nichtrau-
weniger Raucher!) cher gefährdet werden. Ich lade Sie ein, diesen Weg in
Nun ist Handeln angesagt. Ich bestätige, was Kollege den nächsten Wochen gemeinsam mit uns zu beschrei-
Binding von der SPD-Fraktion heute an die Öffentlich- ten.
keit gebracht hat. Dazu möchte ich kurz Stellung neh- Herzlichen Dank.
men.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wie also sehen die Eckpunkte dieses in den nächsten
Wochen und Monaten in den Fraktionen zu beratenden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Entwurfs eines Gesetzes zum Nichtraucherschutz aus? Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edmund Peter
Unser Ziel ist kein generelles Rauchverbot, sondern ein Geisen, FDP-Fraktion.
wirksamer Nichtraucherschutz: Dein Rauch darf nicht
mein Rauch sein und meine Gesundheit tangieren. (Beifall bei der FDP)

Die Koalitionsfraktionen orientieren sich bei ihrer Ar- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
beit an folgenden Eckpunkten – wir werben um Ihre Zu- Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
stimmung; denn letztlich sind wir auf die Zustimmung Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit
dieses Hauses angewiesen –: acht Jahren bezweifeln die Bundesregierung und der
Erstens. Wir werden ein Rauchverbot in allen öffent- Bundestag die Rechtmäßigkeit der EU-Richtlinie zum
lichen Einrichtungen des Bundes, der Länder und der Tabakwerbeverbot. Nun – wenige Wochen vor dem ent-
Kommunen vorschlagen. scheidenden EuGH-Urteil – geht die Bundesregierung in
die Knie und lässt im vorauseilenden Gehorsam ein Ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setz beschließen.
der CDU/CSU und der LINKEN)
Ich frage Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von
Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln soll ein generelles der Koalition: Warum dies? – Die angeblich drohenden
Rauchverbot gelten, Strafzahlungen können es wohl nicht sein. Die haben Sie
6170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Edmund Peter Geisen


(A) schließlich in Ihrer Begründung zum Gesetzentwurf ex- Die FDP wendet sich grundsätzlich gegen EU-Werbe- (C)
plizit herausgestrichen; alle anderen Punkte sind wort- verbote für legale Produkte. Die Gründe dafür sind ers-
gleich mit dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen. tens die Verbraucherbevormundung und zweitens das
Die Bundesregierung muss sich fragen lassen, warum sie Subsidiaritätsprinzip. Eine Wirtschaft ohne Werbung ist
mit der Klage damals nicht auch die Aussetzung des eine tote Wirtschaft. Dazu gibt es viele Beispiele aus der
Vollzugs beantragt hat. Vergangenheit.
Verehrter Herr Staatssekretär Müller, ich halte es auch (Beifall bei der FDP – Detlef Parr [FDP]: Das
nicht für legitim, wenn Sie nun versuchen, von Ihrer ist vielleicht gewollt!)
180-Grad-Drehung in der Sache abzulenken, indem Sie
die Umsetzung der Richtlinie mit dem Nichtraucher- Das Tabakwerbeverbot ist unserer Meinung nach nur
schutzgesetz begründen. Das sind zwei verschiedene der Beginn für Werbeverbote in anderen Bereichen. Ich
Paar Schuhe. denke dabei an Alkohol, Süßwaren und Automobile. Das
ist kein Verbraucherschutz; das ist Verbraucherbevor-
(Beifall bei der FDP – Detlef Parr [FDP]: mundung.
Thema verfehlt, Herr Staatssekretär!)
(Detlef Parr [FDP]: Zwangsbeglückung!)
Kann es sein, dass Sie damit gewisse Kreise in Ihrer
Koalition ruhig stellen wollen? Wir gehen stattdessen vom mündigen Verbraucher aus,
den man nicht vor sich selber schützen muss.
(Detlef Parr [FDP]: Klares Ja!)
Natürlich gelten für Kinder und Jugendliche andere
Oder bedienen Sie sich etwa – wie viele andere auch – Regeln.
des hochsensiblen Themas des Nichtraucherschutzes,
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Welche denn?
um populistisch über Ihren schlechten Gesetzentwurf
Sie machen die Augen zu!)
hinwegzutäuschen?
Hier ist aber auch die Wirtschaft in der Pflicht. In diesem
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD)
Zusammenhang werden wir auch noch über das Nicht-
Wir sprechen heute über den Gesetzentwurf zur Än- raucherschutzgesetz diskutieren.
derung des Vorläufigen Tabakgesetzes; wir reden nicht
Im Kern geht es bei der Umsetzung des Tabakwerbe-
über ein Nichtraucherschutzgesetz. Bei dem vorliegen-
verbots um die grundsätzliche Kompetenzabgrenzung in
den Gesetzentwurf geht es um Werbeverbote und die
der EU nach dem Subsidiaritätsprinzip. Es geht um die
Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Na-
Brüsseler Regelungswut. Auch das Bundesverfassungs-
(B) tionalstaaten. Das ist der Grund, warum die damalige gericht verfolgt diese Entwicklung aufmerksam. Sie (D)
Bundesregierung Klage vor dem EuGH erhoben hat.
werden noch davon hören. Die FDP hat sich immer da-
Wissen Sie eigentlich, welche Konsequenzen Ihre Ge- gegen gewehrt, unsere Gesellschaft bis ins Detail durch-
setzesinitiative hat? Der Bundesrat hat dies in seiner ab- zuregeln und zu bevormunden. Auch Aufklärungskam-
lehnenden Stellungnahme sehr deutlich gemacht: Ers- pagnen und gesellschaftlicher Druck zeigen Wirkung,
tens wecken Sie Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Klage wie Sie wissen, und führen immer häufiger zu freiwilli-
und schmälern ihre Erfolgsaussichten. Zweitens verzich- gen Einschränkungen und Selbstverpflichtungen.
ten Sie ohne Not auf die Klärung einer Reihe von Zwei-
Aus all diesen Gründen lehnt die FDP-Fraktion den
felsfragen durch die Urteilsbegründung. Das Urteil des
Gesetzentwurf der Bundesregierung sowie den de facto
EuGH bzw. dessen Hinweise sollen also für Sie keine
identischen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
Rolle spielen. Das nenne ich paradox.
ab. Wir bitten Sie, meine Damen und Herren des Deut-
(Beifall bei der FDP) schen Bundestages, eindringlich um Zustimmung zu un-
serem Entschließungsantrag.
Die Eile, mit der diese Gesetzesänderung verabschie-
det wird, steht im krassen Widerspruch zu früheren Aus- Vielen Dank.
sagen des Agrarministers. Sie ist juristisch höchst zwei-
(Beifall bei der FDP)
felhaft und hat nicht überschaubare Konsequenzen.
Hatte Minister Seehofer nicht noch Ende letzten Jah- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
res verkündet, man werde das Urteil des EuGH abwar- Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-
ten, bevor man die strittige Tabakwerberichtlinie in Fraktion.
Gesetzesform gießt, und dies mit dem Subsidiaritäts-
prinzip begründet? Hatte nicht Ihre Bundesregierung, (Beifall bei der SPD)
meine Damen und Herren der SPD, die Klagen selber
eingereicht, übrigens mit Rückendeckung der grünen Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Ministerin? Lieber Peter Bleser, hatte nicht die damalige Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Oppositionsfraktion der CDU/CSU 2003 einen Antrag „Die meisten Zwölfjährigen rauchen. Der Rest ist bereits
eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert zu betrunken, um die Packung zu öffnen.“
wurde, zu klagen? Jetzt plötzlich scheinen regierungsin-
terne Gründe all diese berechtigten Bedenken vom Tisch (Detlef Parr [FDP]: Aber nicht, weil sie be-
zu wischen. worben wurden!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6171
Dr. Marlies Volkmer
(A) Dies ist ein „echter Harald Schmidt“ und beleuchtet Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
schlaglichtartig das Problem. Zunehmend mehr Kinder Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
und Jugendliche rauchen viel früher. Viel zu viele Kin- Kollegen Parr?
der und Jugendliche rauchen. Sie rauchen nicht eine Zi-
garette irgendwo hinter einer Hecke, sondern mehr oder Dr. Marlies Volkmer (SPD):
weniger öffentlich und regelmäßig. Das Rauchen von Ich möchte meinen Satz gerne zu Ende bringen. –
Kindern und Jugendlichen wird dadurch begünstigt, dass Auch kleinste Belastungen durch Tabakrauch können
sie tagtäglich rauchenden Erwachsenen und Zigaretten- zur Entwicklung von Tumoren beitragen.
werbung begegnen und dass sie bislang ungehindert Zu-
gang zu Zigarettenautomaten haben. Das muss bei Kin- Bitte schön, Herr Parr.
dern und Jugendlichen den Eindruck erwecken: Rauchen
ist etwas Normales, vielleicht sogar etwas Erstrebens- Detlef Parr (FDP):
wertes. Dem müssen wir entgegentreten. Frau Kollegin Volkmer, wie beurteilen Sie denn die
neuesten Ergebnisse einer Studie der Bundeszentrale für
Wir können gar nicht oft genug sagen, dass Tabak, gesundheitliche Aufklärung, in der festgestellt wird, dass
auch wenn er eine legale Droge ist, Sucht erzeugt. Ziga- sich der Trend in Deutschland, nicht zu rauchen, perma-
rettenrauchen ist heute das größte vermeidbare Gesund- nent fortsetzt, dass mittlerweile nur noch 26 Prozent der
heitsrisiko. Insbesondere Zigarettenrauch führt zu Bevölkerung rauchen und dass die Zahl der Jugendli-
schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebserkrankun- chen, die nie eine Zigarette in der Hand gehabt haben,
gen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemwegser- auf mittlerweile weit über 60 Prozent gestiegen ist?
krankungen. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass man Wer- Diese Ergebnisse beruhen auf Aufklärungsmaßnahmen,
bung für ein solches Produkt macht. Daher begrüßen wir die auf Einsicht und Überzeugung statt auf gesetzliche
es außerordentlich, dass nun die europäische Tabakwer- Maßnahmen setzen.
berichtlinie auch in Deutschland umgesetzt wird.
Ich möchte einige Punkte erwähnen, die in der Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Tabakwerberichtlinie geregelt sind. Diese Richtlinie Herr Parr, das, was Sie gerade gesagt haben, ist eine
verbietet, für Tabakerzeugnisse in der Presse oder ande- einseitige Darstellung.
ren gedruckten Erzeugnissen zu werben. In dem Um- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Man kann
fang, in dem Werbung in der Presse verboten ist, ist sie doch keine Tatsachen ignorieren!)
auch im Internet verboten. Unternehmen, deren Haupttä-
tigkeit Herstellung oder Verkauf von Tabakerzeugnissen Es ist tatsächlich so, dass die Zahl der Jugendlichen, die
(B) ist, ist es untersagt, ein Hörfunkprogramm zu sponsern. nie eine Zigarette in die Hand genommen haben, steigt. (D)
Es ist der Tabakindustrie des Weiteren verboten, eine Aber 40 Prozent nehmen eben doch eine Zigarette in die
Veranstaltung oder Aktivität zu sponsern, die grenzüber- Hand. Diese Gruppe wird immer jünger – auch im ju-
schreitende Wirkung hat, zum Beispiel die Formel 1. gendlichen Alter wird schon regelmäßig geraucht – und
sie raucht immer öfter.
Hörfunk- und Fernsehwerbung sind in Deutschland
schon seit 1975 verboten. (Detlef Parr [FDP]: Das ist nicht richtig!)
Das Gesetz wird dazu beitragen – ich gehe mit Si- Sie werden mir sicher Recht geben – das ist auch das
cherheit davon aus, dass wir den Gesetzentwurf heute Ziel der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung –,
beschließen –, dass wir das Rauchen in Deutschland ein- wenn ich sage: Kampagnen und Aufklärung sind richtig
dämmen und die schädlichen Folgen des Passivrau- und wichtig. Aber ebenso wichtig ist eine Unterstützung
chens zurückdrängen. Der Tabakrauch enthält über für das Nichtrauchen dadurch, dass Werbung für Zigaret-
4 800 verschiedene Substanzen. Bei über 70 Substanzen ten verboten wird.
ist nachgewiesen, dass sie krebserregend sind oder in (Beifall bei der SPD – Kurt Segner [CDU/CSU]:
Verdacht stehen, Krebs zu erzeugen. Die chemische Zu- Und die Spielfilme im Fernsehen?)
sammensetzung des Passivrauchs, also des Nebenstroms
der Zigarette, gleicht qualitativ der des Tabakrauchs. Es ist vorhin schon darauf hingewiesen worden, dass
Deutschland gegen die EU-Tabakwerberichtlinie geklagt
(Detlef Parr [FDP]: Auch das stimmt nicht! hat. Das habe ich stets für falsch gehalten. Auch wenn
Das Kondensat wird gar nicht vom Passivrau- der Hintergrund dieser Klage juristischer Art ist, ist die-
cher eingeatmet!) ses Vorgehen als mangelnder Wille verstanden worden,
das Rauchen einzudämmen. Ich begrüße es, dass die
– Herr Parr, das stimmt sehr wohl. Sie ignorieren typi- Bundesregierung diesen Verdacht nun ausräumt, auch
scherweise wieder Tatsachen. wenn die Klage offiziell nicht zurückgezogen ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Als Ärztin lege ich besonderen Wert auf Prävention.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Detlef Parr [FDP]: Sehr gut!)
Für die im Passivrauch enthaltenen Kanzerogene kön- Dabei kann man feststellen: Rauchen ist ansteckend. Die
nen keine Wirkungsschwellen definiert werden, unter- Auswertung der Angaben von 22 000 Studienteilneh-
halb deren keine Gesundheitsgefährdung zu erwarten mern aus Regionen in ganz Deutschland ergab: Beson-
wäre. ders viel wird in den Großstädten geraucht, wo die
6172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Marlies Volkmer


(A) Dichte an Zigarettenwerbung und Zigarettenautomaten Es darf niemand gezwungen sein, passiv rauchen zu (C)
sehr hoch ist. müssen, um am öffentlichen Leben in allen Facetten teil-
nehmen zu können. – Herr Parr, ich weiß nicht, ob im
(Detlef Parr [FDP]: Das ist aber ein kühner Bundestag nicht noch geraucht wird. Ich persönlich
Schluss!) finde immer noch Räume – auch im Reichstagsgebäude –,
In einer epidemiologischen Studie der Universität in denen geraucht wird. Wir sind also noch weit davon
Greifswald kommt man zu folgendem Ergebnis – ich zi- entfernt, dass in allen öffentlichen Räumen nicht ge-
tiere –: Viele Raucher im Bekanntenkreis oder im Stadt- raucht wird.
bild regen zur Nachahmung an. Wir wissen jetzt, wo (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
Prävention am nötigsten ist, und fordern eine stärkere LINKE])
Ächtung von Tabakwerbung und Rauchen in öffentli-
chen Räumen. Das gilt auch, wenn man im Zug fährt. Auf der Stre-
cke zwischen Dresden und Berlin, die ich regelmäßig
Werbung für Tabakwaren ist auch nach dem In- nutze, verkehren Züge mit Großraumwagen, in denen es
Kraft-Treten dieses Gesetzes leider immer noch mög- ein paar Raucherplätze und daneben auch Nichtraucher-
lich, da wir die Umsetzung der EU-Richtlinie eins zu plätze gibt. Sie glauben doch nicht, dass der Rauch nicht
eins vornehmen. Davon bleiben aber nationale Regelun- auch zu den Nichtrauchern zieht. Das ist doch lächer-
gen unberührt. Nach wie vor kann mit Plakaten im ge- lich!
samten öffentlichen Raum für Zigaretten geworben wer-
den. Kinder und Jugendliche können dem nicht (Detlef Parr [FDP]: Die Raucherplätze sind
entgehen. Auf dem Weg zum Kindergarten, in der meistens frei!)
Schule, in den Jugendklubs oder in der Disco werden Wir – das heißt viele Kolleginnen und Kollegen hier
rauchende Menschen vorgeführt, die schön, jung, reich, im Bundestag – sind der Meinung, dass wir nicht nur ein
fröhlich und cool sind. Dagegen kommt die Erziehung Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden brauchen, son-
im Elternhaus und in den Institutionen sehr schwer an. dern dass wir auch ein Rauchverbot in Gaststätten brau-
(Detlef Parr [FDP]: Die findet ja teilweise gar chen.
nicht statt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aus meiner Sicht ist es deshalb unabdingbar, dass Wir müssen auch in Deutschland zur Kenntnis neh-
dieses Haus in einem nächsten Schritt die Plakatwerbung men, dass Beschäftigte in der Gastronomie tagtäglich
für Tabakwaren verbietet. Das liegt allein in der nationa- extrem gefährlicher Schadstoffbelastung ausgesetzt sind.
len Gesetzgebungskompetenz, das nimmt uns keiner ab. Diesen Zustand als Arbeitnehmer zweiter Klasse können (D)
(B) Ich bleibe trotzdem dabei: Die Änderung des bestehen-
wir nicht verantworten.
den Vorläufigen Tabakgesetzes, die wir heute beraten,
unterstützt die Aktivitäten dieses Hauses zum Zurück- Von einem Rauchverbot in Gaststätten würden übri-
drängen des Rauchens in der Öffentlichkeit und damit gens alle profitieren, sowohl die Nichtraucher als auch
auch den Schutz vor den Folgen des Passivrauchens. die Raucher. Viele Raucher unterstützen inzwischen un-
sere Aktivitäten. Von einem Rauchverbot würden – das
Dieses Gesetz leistet gerade für Jugendliche einen zeigen die Erfahrungen in den europäischen Nachbarlän-
Beitrag, Rauchen eine Absage zu erteilen und Nein zu dern deutlich – letztlich sogar die Gastronomen profitie-
sagen, wenn ihnen eine Zigarette angeboten wird. Wenn ren. Hinzu kommt, dass, perspektivisch gesehen, die
für das Rauchen nicht mehr geworben werden darf, ist Aufwendungen des Gesundheitswesens für die Folgen
ein Rauchverbot leichter umzusetzen. des Passivrauchens sinken werden. Das ist ein hoch er-
wünschter Nebeneffekt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Schon Johann Wolfgang von Goethe wollte nicht pas- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
sivrauchen. Ohne von der Gefahr wissen zu können, Frau Kollegin!
schrieb er – ich zitiere –:
Wer ist denn imstande, in das Zimmer eines Rau- Dr. Marlies Volkmer (SPD):
chers zu treten, ohne Übelkeit zu empfinden? Das Erste Gesetz zur Änderung des Vorläufigen Ta-
bakgesetzes ist ein Schritt von mehreren, die getan wer-
Leider bleiben die Raucher nicht in ihren Zimmern. den müssen. Es schränkt die Tabakwerbung deutlich ein.
Stattdessen tragen sie neben dem üblen Geruch zahllose Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung.
die Gesundheit schädigende Feinstaubpartikel in die
Atemluft ihrer Mitmenschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN)
Ich trete deshalb mit vielen Kolleginnen und Kolle-
gen dafür ein, dass öffentliche Gebäude und öffentliche Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Verkehrsmittel rauchfrei werden. Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche von der
Fraktion Die Linke.
(Detlef Parr [FDP]: Das ist doch längst der
Fall!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6173

(A) Monika Knoche (DIE LINKE): gegeben werden. Auch ich selber bin der Meinung, dass (C)
Meine sehr geehrten Herren und Damen! Bei der es schöner ist, in einem Tabakfachgeschäft einzukaufen,
Frage des Tabakkonsums herrscht eine recht unüber- als überall auf Zigarettenautomaten zu stoßen. Darüber
sichtliche, teilweise auch etwas paradoxe Situation; ich hinaus wäre das ein guter Präventionseffekt.
nenne nur wenige Beispiele:
Wir alle machen uns bewusst, wie gesundheitsschäd-
Der Verbraucherschutzminister Seehofer initiiert eine lich das Rauchen ist. Wir wissen auch, dass den Zigaret-
Nichtraucherschutzkampagne, klagt aber gleichzeitig ten nach wie vor Krebs und Sucht erzeugende Stoffe
vor dem EuGH gegen das Tabakwerbeverbot. beigemengt werden, was vor allen Dingen darauf abzielt,
Kinder und Jugendliche abhängig zu machen.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Das hat doch die
rot-grüne Bundesregierung damals veran- Nach Betrachtung der Vorgänge hier im politischen
lasst!) Raum finde ich, dass man sich schon für ein konsequen-
tes Werbeverbot aussprechen muss. Nur ein konsequen-
Die Regierungskoalition lehnt Anträge zu einem natio-
tes Werbeverbot korrespondiert wirklich sinnhaft mit ei-
nalen Werbeverbot ab. Dann legt die Bundesregierung
nem Gesetz zum Schutz Nichtrauchender, das von
einen Gesetzesentwurf vor – aber nur, um einer Klage
einigen hier im Haus präferiert wird.
der Europäischen Kommission zuvorzukommen –, hält
jedoch gleichzeitig ihre eigene Klage beim EuGH auf- Ein Verbraucherschutzminister, der gegen das Tabak-
recht. werbeverbot auf EU-Ebene klagt und hier nur wegen
Das alles ist recht unübersichtlich seitens der Regie- drohender Regresszahlungen ein Gesetz vorlegt, ist
rung. Andererseits erhebt und erhöht sie die Tabaksteuer – nicht glaubwürdig und auch nicht konsequent. Ich bin
angeblich, um die Krankenkassen zu finanzieren. der Meinung, der Staat muss immer – auch in der Tabak-
politik – Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit für sein Tun be-
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Wer war das anspruchen können. Die Eingriffstiefe einer gesetzlichen
denn?) Verbotsregelung muss ihre Rechtfertigung finden. Diese
Dann verteilt sie das Geld wieder im Bundeshaushalt. Rechtfertigung kann hier darin bestehen, dass es sich um
Gesundheitsschutzmaßnahmen handelt.
Die Rauchenden sind es letztlich, die den Staat durch
Steuern mitfinanzieren. Aus diesen Mitteln werden dann Wie dem auch sei, der vorliegende Gesetzentwurf fin-
aber noch immer Steuersubventionen für den Tabakan- det unsere Unterstützung. Ich möchte im Übrigen emp-
bau finanziert. fehlen, dass die Regierung in Bezug auf ihr Verhalten
(Detlef Parr [FDP]: Sie hat im letzten GMG gegenüber der Kommission einmal darüber nachdenkt,
(B) die versicherungsfremden Leistungen davon ob sie mehr oder weniger Regelungskompetenz in Brüs- (D)
finanziert!) sel angesiedelt sehen möchte. Schaut man sich ihr vehe-
mentes Eintreten für den gescheiterten Verfassungsent-
Die FDP ist gänzlich gegen ein Tabakwerbeverbot, wurf – in Deutschland ist er übrigens noch nicht
weil – und das ist interessant – sie keine Klassifizierung ratifiziert – an, dann muss man schon sagen, dass sie auf
des Staates akzeptiert, die Produkte in gute und böse ein- europäischer Ebene eine stimmige Verbraucherschutzpo-
teilt. Sie vergisst dabei aber offenbar, dass die völker- litik bisher nicht entwickelt hat.
rechtsverbindliche Drogenbekämpfung die strikte Tren-
nung in legale und illegale Drogen vorsieht. Damit wird Danke.
das FDP-Postulat von der Selbstverantwortung des mün- (Beifall bei der LINKEN)
digen Menschen doch etwas unglaubwürdig und darüber
hinaus dazu beigetragen, dass eine beträchtliche Krimi-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
nalitätsrate in der Bevölkerung existiert.
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken,
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sind Zigaret- Bündnis 90/Die Grünen.
ten jetzt illegal?)
Es stellt sich also genauso die Frage: Was will die FDP? Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Wir Linke sagen: Trotz der bekannten beträchtlichen Kollegen! Deutschland ist bis heute für die Tabakindus-
individuellen gesundheitlichen Folgen, die auftreten trie die Insel der Seligen. Man muss sagen: Dieser Bun-
können, ist das Rauchen eine kulturell integrierte Droge. desregierung muss jede fortschrittliche Maßnahme zum
Verbieten werden wir das Rauchen deshalb nie. Mindestschutz der Bürgerinnen und Bürger, insbeson-
(Detlef Parr [FDP]: Sehr großzügig!) dere der Jugendlichen, vor dem Passivrauchen abgerun-
gen werden.
Was unserer Meinung nach jedoch verboten werden
muss, ist die Werbung für den Konsum eines offenkun- (Detlef Parr [FDP]: Erreichen Sie denn Kinder und
dig gesundheitsschädigenden Stoffes. Mehr noch: Wir Jugendliche mit Ihrer Gesetzesinitiative?)
wollen vor allem auch Kinder und Jugendliche dadurch
Ich danke natürlich auch den Kolleginnen und Kollegen,
schützen, dass ein unbefristetes Verbot der Werbung in die sich dafür einsetzen.
allen Printmedien und Kinos greift. Auch Großveranstal-
tungen sollen nicht gesponsert werden dürfen. Ebenso Die FDP und gerade diese Bundesregierung stellen
muss verboten sein, dass Tabakerzeugnisse kostenlos ab- die gesundheitspolitische Forderung auf, dass diejenigen
6174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Ulrike Höfken
(A) stärker belastet werden, die an Krebs erkrankt sind und Wie wollen Sie auch unter Berücksichtigung Ihrer Ge- (C)
sich nicht ausreichend geschützt haben. sundheitspolitik verantworten, dass diese Frauen unter
solchen Bedingungen arbeiten müssen? In anderen Be-
(Detlef Parr [FDP]: Woran lesen Sie das denn ab? reichen dürfte kein Mensch unter solchen Bedingungen
Das haben Sie doch gar nicht verstanden!) arbeiten. Deswegen ist das, was Sie da vorlegen, wie ich
Außerdem fordern Sie mehr Selbstverantwortung. finde, nicht ausreichend.
Gleichzeitig verhindern Sie mit Ihrer Weigerung,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Schutzmaßnahmen zu beschließen, dass die Bürgerin-
Zuruf von der FDP: Dann geht da keiner mehr
nen und Bürger ihre Selbstverantwortung auch wahrneh-
hin!)
men können. Das ist ein unglaublicher Zynismus, der da
betrieben wird. Noch ein letztes Wort zur Tabakwerbung. Da gebe ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dem Staatssekretär Müller ausdrücklich Recht. Das gilt
Detlef Parr [FDP]: Trauen Sie den Menschen auch für Herrn Minister Seehofer, der gesagt hat: Wir
doch mal ein bisschen mehr zu!) hatten über viele Jahre den Versuch mit der Selbstver-
pflichtung der Tabakindustrie. All das hat keinen Er-
Sie, die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen, folg gezeigt. Das haben wir auch bei der Selbstverpflich-
aber auch die FDP, sind in der Pflicht, solche Maßnah- tung der Tabakindustrie gesehen, keine Werbung vor
men zu ergreifen, die diesen Selbstschutz ermöglichen. Jugendeinrichtungen zu platzieren; das „Forum Rauch-
Das bedeutet insbesondere die Einschränkung von Wer- frei“ hat mehrmals darauf hingewiesen. Gerade gestern
bung. Wir diskutieren hier über die Umsetzung der hat es wieder einmal Beschwerde gegen die Werbung
EU-Tabakwerberichtlinie; der Gesetzentwurf soll heute von Philip Morris vor einer Grundschule in der Urban-
verabschiedet werden. Ich meine, das ist allenfalls ein straße in Kreuzberg eingelegt. – So viel zur Selbstver-
erster Schritt. pflichtung.
(Detlef Parr [FDP]: Das habe ich befürchtet!) Wir müssen dazu kommen, dass das, was jetzt EU-
Dass Jugendliche Opfer der Werbung sind und zum weit gilt, auch national umgesetzt wird. Es gilt also, na-
Rauchen verführt werden, ist inzwischen erwiesen. Die tional zusätzlich das Verbot von Werbung auf Plakaten
Wirksamkeit der Werbung belegen zum Beispiel die zu erlassen, eine Begrenzung in Kinos einzuführen –
vorgelegten Studien. Die Tabakindustrie hat in den
90er-Jahren eine halbe Milliarde D-Mark in Tabakwer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
bung investiert. Dieses Geld hat sie nicht investiert, da- Frau Kollegin!
(B) mit die Werbung nicht wirkt, sondern damit sie erfolg- (D)
reich ist. Das war sie auch. Was sind dagegen die
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
2,5 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen, die
dann bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä- – ja – und das Sponsoring im Inland genauso zu ver-
rung ausgegeben wurden? bieten wie auf der Europaebene.

(Detlef Parr [FDP]: Die Sie nicht mehr verlän- Vielen Dank.
gert haben! – Frank Schäffler [FDP]: Das hät- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ten Sie ändern können, sieben Jahre lang!)
Das ist doch alles lächerlich. Gegen eine Industrie, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Milliarden massiv für die Tabakwerbung einsetzt, kön- Ich schließe die Aussprache.
nen Sie nicht auf Aufklärung setzen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
Im Übrigen werden nicht nur Jugendliche von den des Vorläufigen Tabakgesetzes, Drucksache 16/1940. Der
Aktivitäten der Tabakindustrie und dem Lobbyismus ge- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
fangen, sondern auch die Abgeordneten. Wir werden uns cherschutz empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussemp-
die Formulierungen im Gesetz zum Schutz vor Passiv- fehlung auf Drucksache 16/3201 (neu), den Gesetzent-
rauchen, die Sie uns vorlegen wollen, genau ansehen. wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
Aber man muss ganz klar sagen: Für den Bereich der sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
Gastronomie ist das fast eine Eins-zu-eins-Umsetzung stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
der Forderungen des Verbandes der Zigarettenindustrie. ist damit in der zweiten Beratung mit den Stimmen der
Unsere Motivation, hier tätig zu werden – das gilt für Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die
viele Abgeordnete –, sind die Arbeitnehmerinnen in Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP
der Gastronomie. Da arbeiten etwa 8 000 schwangere angenommen.
Frauen, die vom Zigarettenrauch betroffen sind. Viele
dieser Frauen arbeiten in den Bereichen, die Sie nun aus- Dritte Beratung
gerechnet nicht schützen wollen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
(Zuruf von der FDP: Aber die Arbeitsplätze Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
gehen dann alle verloren!) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6175
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
(A) wurf ist damit mit demselben Stimmenverhältnis wie in beitnehmernähe sicherlich nicht zugeschrieben werden (C)
der zweiten Beratung angenommen. kann. Es sind wahrlich kluge Sätze, die da niedergelegt
sind.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Die Auseinandersetzungen um die Unternehmensmit-
Drucksache 16/3329. Wer stimmt für diesen Entschlie- bestimmung halten seit Jahren an. Zuletzt wurde dies
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? beim Deutschen Juristentag im September deutlich. Pro-
Der Entschließungsantrag ist mit der Mehrheit der Stim- und Kontrapositionen standen sich hier so vehement ge-
men des Hauses bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt. genüber, dass es zu keiner Beschlussfassung kam.
Unter Nr. II seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Die Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitneh-
der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- merinnen an Unternehmensorganen ist kein auf Deutsch-
braucherschutz, den Gesetzentwurf der Fraktion des land begrenztes Phänomen. In zahlreichen EU-Ländern
Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des Vorläufi- finden sich Vertretungsmodelle. Von den 25 EU-Ländern
gen Tabakgesetzes auf Drucksache 16/1068 abzulehnen. haben elf eine starke Grundlage für Unternehmensmitbe-
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen stimmung mit mindestens einer Drittelbeteiligung von
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Arbeitnehmern im höchsten Unternehmensorgan. In
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter weiteren sieben Ländern gibt es ein mittleres Niveau an
Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Unternehmensmitbestimmung. Diese erleichtern zum
FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen Teil, wie beispielsweise Frankreich, die Vertretung von
und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt Belegschaftsaktionären. Auch von den neuen Mitglied-
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. staaten kennen lediglich vier Länder keine oder nur
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: schwache Mitbestimmungsrechte. Die Mitbestimmung
ist also keinesfalls ein Sondermodell Deutschlands, wie
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- so oft behauptet wird.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Regelungen über die Mit- (Ortwin Runde [SPD]: Genau!)
bestimmung der Arbeitnehmer bei einer Ver-
schmelzung von Kapitalgesellschaften aus ver- In der Tat ist allerdings die paritätische Unterneh-
mensmitbestimmung nur in Deutschland und Slowenien
schiedenen Mitgliedstaaten
weit verbreitet,
– Drucksache 16/2922 –
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
(B) ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Aber auch andere Länder kennen eine starke Unterneh- (D)
mensmitbestimmung. Nur ein Beispiel: In Deutschland
– Drucksache 16/3320 – gilt die paritätische Mitbestimmung für Unternehmen
Berichterstattung: mit mehr als 2 000 Beschäftigten und die Drittelbetei-
Abgeordneter Dr. Ralf Brauksiepe ligung für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten.
In Dänemark dagegen gilt die Drittelbeteiligung bereits
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die für Unternehmen mit mehr als 35 Arbeitnehmern, in
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Schweden liegt der Schwellenwert bei sage und schreibe
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 25 Arbeitnehmern.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Den hohen Stellenwert einer Mitbestimmungskultur
gin Anette Kramme, SPD-Fraktion.
hat auch der europäische Gesetzgeber erkannt. Dies
schlägt sich in der Verschmelzungsrichtlinie nieder, die
Anette Kramme (SPD): wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eins zu eins in
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und deutsches Recht übertragen. Mit der bei der Europäi-
Kolleginnen! Es ist wirklich ein Jammer, nicht nach schen Gesellschaft gefundenen Kombination aus Ver-
FDP- und PDS-Rednern sprechen zu dürfen. Sie liefern handlungslösung und flankierender Auffangregelung ist
einem immer noch Steilvorlagen. Schade, das entfällt ein entscheidender Schritt zu einem sozialen Europa ge-
heute. lungen. Grundprinzip ist und bleibt das Vorher-Nach-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da müssen Sie her-Prinzip. Damit werden die bestehenden Mitbestim-
sich selbst einmal etwas überlegen!) mungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
weitgehend gesichert. Es wird deutlich, dass Europa
Die Aktionäre deutscher Unternehmen sollten sich keine Veränderung der nationalen Mitbestimmungsmo-
glücklich schätzen, dass es hier Aufsichtsräte gibt. delle verlangt, sondern sie im Gegenteil akzeptiert und
Sie sollten auch die Mitbestimmung lieben lernen. schützen will.
Gewiss sind Arbeitnehmervertreter und Gewerk-
schaftsfunktionäre in den Aufsichtsräten lästig. Sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nach-
bieten aber auch Schutz gegen die allzu große vollziehbar, warum die BDA fordert, bei der Umsetzung
Selbstherrlichkeit der Chefs. der Verschmelzungsrichtlinie von der Umsetzung der
SE-Richtlinie abzuweichen.
Das war in der „Financial Times Deutschland“ vom
14. Januar 2003 zu lesen, also in einer Zeitung, der Ar- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Unmöglich!)
6176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Anette Kramme
(A) Das Modell ist erfolgreich und es wird auch bei der Ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe es Ih- (C)
schmelzung von Kapitalgesellschaften erfolgreich sein. nen doch gestern im Ausschuss erst erklärt,
Frau Kramme! Wir sind doch gar nicht dage-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen!)
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Man muss nur daran glauben, Frau Kramme!) Eins kann man Ihnen nicht vorwerfen, nämlich dass Ihre
Feindbilder nicht klar aufgebaut sind.
Der Verzicht auf eine Auffanglösung, wie von der BDA
gefordert, käme einem Ausverkauf der Arbeitnehmerin- Entgegen einer landläufigen Annahme gibt es jedoch
nen und Arbeitnehmer gleich. Wir würden die Mitbe- keine empirisch nachweisbare Erforderlichkeit, Rege-
stimmung durch die Hintertür abschaffen. lungsinstrumente der deutschen Mitbestimmung zu
überarbeiten. Die neuesten internationalen Untersuchun-
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau so ist es!) gen zeigen vielmehr, dass Deutschland aus Investoren-
Erste positive Erfahrungen bei der Neugründung sicht der attraktivste Investitionsstandort in Europa ist.
Weltweit rangiert Deutschland nach den USA und China
von SEs sind bereits zu verzeichnen. Bei Allianz, MAN
an dritter Stelle. So die Ergebnisse der aktuellen Um-
Diesel, Plansee und Elcoteq wurden Verhandlungen über
die neue Form der Mitbestimmung schnell und im Sinne frage „Kennzeichen D: Standortanalyse 2006“, die Ernst
& Young durchgeführt haben.
beider Parteien – also sowohl im Sinne des Manage-
ments als auch im Sinne der Arbeitnehmerseite – abge- Amerikanische Unternehmer halten Deutschland für
schlossen. Die meisten großen SE-Gründungen haben den bevorzugten Holdingstandort. Das zeigt das aktu-
bislang in Ländern mit starken Mitbestimmungstraditio- elle Businessbarometer der amerikanischen Handels-
nen stattgefunden. Das beweist doch, dass starke Mitbe- kammer. Gerade die hohe Bewertung Deutschlands als
stimmungsrechte einer effizienten Unternehmensreorga- Standort von Verwaltungszentralen spricht gegen einen
nisation nicht im Wege stehen. negativen Einfluss der Unternehmensmitbestimmung bei
der Standortwahl.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Unsäglichkeit
Guido Westerwelle Meine Damen und Herren der FDP, Sie, die die pari-
tätische Mitbestimmung als Irrweg bezeichnen und ihr
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na! Frau den Garaus machen wollen, führen regelmäßig die Stu-
Präsidentin, das ist unparlamentarisch!) die der Federal Reserve Bank of St. Louis aus dem Jahr
hat erklärt, er wolle die Gewerkschaftsfunktionäre ent- 2002 an. Danach soll die Unternehmensmitbestimmung
(B) machten; sie seien die wahre Plage in Deutschland. die Kapitalbeschaffung hemmen und den Aktienkurs (D)
Guido Westerwelle will keine Gewerkschaftsvertreter im senken. Im Gegensatz zu dieser Studie ziehen einige
Aufsichtsrat; von Fremdbestimmung ist die Rede. neuere Studien den Schluss, dass es keine „Börsen-Dis-
count-Wirkung“ der Unternehmensmitbestimmung gibt.
Das ist blanker Unsinn.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kennen Sie denn
(Beifall bei der SPD) schon die neueste Studie von heute, Frau
Kramme? Institute for Law and Finance in
Renommierte Arbeitgeber bekennen sich zu Gewerk- Frankfurt!)
schaftsvertretern im Aufsichtsrat. Ich zitiere den Tele-
kom-Personalvorstand, Heinz Klinkhammer: Gewerk- Frick kommt in einer Untersuchung von 2004 – wir
schaftsvertreter im Aufsichtsrat „halte ich für hatten ihn im Übrigen hier bei der Sachverständigenan-
unverzichtbar. Die haben einen Blick von außen und hörung – zu dem Ergebnis:
können vermittelndes Element sein“. Einzelne Gerichtsurteile zur Mitbestimmung im
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Aufsichtsrat beeinflussen den Kurs börsennotierter
[FDP]: Ich dachte, die haben einen Blick von Aktiengesellschaften ebenso wenig wie die Einfüh-
innen!) rung und die höchstrichterliche Bestätigung des
Mitbestimmungsgesetzes die Kapitalmarktperfor-
Auch mögliche Interessenkonflikte der Gewerk- mance der davon besonders betroffenen Branchen.
schaftsvertreter werden als weiteres Gegenargument ins
Feld geführt. Interessenkonflikte bestehen aber auch bei Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
anderen Aufsichtsratsmitgliedern. Die Großbanken bei- ginnen und Kollegen, für die SPD sind Arbeitnehmerin-
spielsweise sind in den meisten Aufsichtsräten vertreten. nen und Arbeitnehmer die wichtigste Ressource eines
Wer garantiert, dass die Banken ihr Interesse zum Wohle Unternehmens.
des jeweiligen Unternehmens hintanstellen? Das Bun- (Beifall bei der SPD)
desverfassungsgericht hat im Übrigen 1979 das Mitbe-
stimmungsgesetz klar als verfassungsgemäß anerkannt, Arbeitnehmer wollen qualifiziert, motiviert und eigen-
auch die Externenregelung in § 7. verantwortlich arbeiten. Nachhaltiges Wachstum ist eher
zu erreichen, wenn die Menschen an den grundsätzli-
Meine Damen und Herren der FDP, für Sie ist das chen Unternehmensentscheidungen beteiligt sind. Die
Einprügeln auf die Mitbestimmung doch geradezu ein vereinbarte Regelung zur Verschmelzungsrichtlinie ist
Steckenpferd geworden. ein wichtiger Schritt, um Mitbestimmungsrechte zu si-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6177
Anette Kramme
(A) chern. Sie ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu gativ oder positiv bewerten, dann muss man fragen: Was (C)
einem sozialen Europa. hilft das den Menschen, die keine Arbeit haben?
In diesem Sinne herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der SPD) An diesem Punkt gilt dasselbe, was auch beim Kündi-
gungsschutz gilt: Ihr Fehler ist, dass Sie sich nicht in die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Lage der ausländischen Investoren versetzen. Für den
Nächster Redner ist der Kollege Heinz-Peter Hau- ausländischen Investor ist es egal, ob er in Spanien, in
stein, FDP-Fraktion. der Tschechischen Republik oder in Deutschland inves-
tiert. Lassen Sie mich an dieser Stelle den Sachverstän-
Heinz-Peter Haustein (FDP): digen Professor Dr. Thüsing zitieren: Meine Vorstellung,
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! dass ein englischer Fusionskandidat ein deutsches Unter-
Werte Gäste! Ich beginne mit einem Zitat: nehmen und vielleicht ein französisches Unternehmen
mit gleichen Bedingungen wählen kann und sich dann
Es gibt keine … Grundlage dafür, zu glauben, wir aus Liebe zur deutschen Mitbestimmung für Deutsch-
wären eine Insel in Europa und könnten noch etwas land entscheidet, entspricht nicht meinen Erfahrungen.
regeln. Das wird nicht der Fall sein. Verantwortlich
handelt der, der der Unternehmensmitbestimmung Von den Gralshütern der Mitbestimmung wird immer
eine europäische Perspektive bietet. wieder angeführt, dass sich durch die paritätische Mitbe-
stimmung die Arbeitnehmer mit dem Betrieb identifizie-
So weit – man beachte – die Worte von Herrn Röttgen, ren können. Das stimmt. Aber ich sage Ihnen: Eine Drit-
CDU, am 29. Oktober 2004. Recht hat er. Jetzt müssten telmitbestimmung mindert den Grad dieser Identifikation
Sie nur noch danach handeln. mit dem eigenen Betrieb nicht.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP)
Aber wie Sie handeln, kennen wir schon von Ihrem Dass sich die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit identifizieren
Wahlversprechen bezüglich der Merkel-Steuer. können, hängt von vielen Dingen ab, auch davon, dass
Die FDP-Fraktion hält es nach wie vor für falsch, die ihre Meinung gehört wird – aber nicht nur.
Ergebnisse der Biedenkopf-Kommission zum Ende des
Auch wenn es alle anderen Fraktionen in diesem
Jahres abzuwarten. Diese Kommission befasst sich mit
Haus gerne so darstellen, weil es ein schönes Feindbild
der Zukunft der Mitbestimmung vor dem Hintergrund der
ist: Wir, die FDP, sind für Mitbestimmung.
(B) Globalisierung. Der Sachverständige Professor Dr. Nagel (D)
meinte, dass dies nationale Fragen seien, während wir (Beifall bei der FDP)
heute über grenzüberschreitende Sachverhalte reden, und
dass deshalb der vorliegende Gesetzentwurf unabhängig Wir sind Befürworter der Mitbestimmung. Aber wir se-
von den Ergebnissen der Biedenkopf-Kommission hen auch die Realität. Wir wollen weder dem Arbeitneh-
schnell beschlossen werden sollte. Heute kann man um mer die Mitsprache streitig machen noch glauben wir,
die ganze Welt fliegen. Ostsee-Shrimps werden zum Pu- dass sich damit alle Probleme lösen ließen. Wir wollen
len nach Thailand verschifft. Da kann man nicht mehr Deutschland zukunftsfest und wettbewerbsfähig ma-
zwischen nationalen und internationalen Bezügen unter- chen. Jedes Gesetz, das auch nur einen Arbeitsplatz ver-
scheiden. Es geht schließlich um die internationale Wett- hindert – wie ebendieses –, darf eigentlich nicht be-
bewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. schlossen werden.
Einstimmig hörten wir von den Sachverständigen in (Beifall bei der FDP)
der Anhörung, dass im Grunde alle wissenschaftlichen Zur Auffangregelung. Solange die Auffangregelung
Studien zu dem Ergebnis kommen, dass die Mitbestim- in dem geplanten Umfang vorgesehen ist, werden Ver-
mung positive Auswirkungen hat. So weit die Wissen- handlungen kaum Erfolg bringen. Wie brachte es der
schaft. Erst gestern haben wir hingegen vom Institut der Sachverständige Professor Thüsing auf den Punkt: Wel-
deutschen Wirtschaft gehört, dass die paritätische Mitbe- chen Verhandlungsanreiz hat derjenige noch, der das
stimmung die Unternehmen im internationalen Vergleich Maximum schon erreicht hat? Wenn ein Scheitern der
und bezüglich des Wettbewerbs benachteiligt. Laut einer Verhandlungen bedeutet, dass wieder die deutsche pari-
Umfrage des IW sieht die Hälfte der befragten Firmen tätische Mitbestimmung greift: Wo liegt dann der An-
durch die Mitbestimmung Investitionsentscheidungen reiz, zu verhandeln?
verzögert. Das ist die Realität in den Unternehmen.
CDU, CSU und SPD haben im Koalitionsvertrag fest-
(Beifall bei der FDP)
gelegt, sie wollten sich dafür einsetzen, dass das europäi-
Der Sachverständige Professor Dr. Frick äußerte die sche Gesellschaftsrecht durch eine zügige Verabschie-
Auffassung, dass paritätisch mitbestimmte Unternehmen dung der Richtlinie über die grenzüberschreitenden Sitz-
nicht schlechter seien als drittelparitätisch bestimmte. verlegungen von Kapitalgesellschaften weiterentwickelt
Doch wo liegt dann der Nutzen der paritätischen Mitbe- wird. Diesen Anspruch erfüllt das vorliegende Gesetz
stimmung? Das kann doch kein Selbstzweck sein. Wenn nicht. Der Sachverständige Wolf meinte: Die Umsetzung
wir hier diskutieren, welche Studien mitbestimmte, nicht der Verschmelzungsrichtlinie wäre dann gelungen, wenn
mitbestimmte und drittelmitbestimmte Unternehmen ne- man die Flexibilitätsreserven, die in der Verschmel-
6178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Heinz-Peter Haustein
(A) zungsrichtlinie vorhanden sind, umsetzt. – Das machen same Rahmenbedingungen für diesen Vorgang und (C)
Sie an vielen Punkten nicht. schafft – was rechtliche und tatsächliche Hindernisse be-
trifft – Abhilfe. Sie enthält die gesellschaftsrechtlichen
(Beifall bei der FDP)
Grundregeln über Verfahren, Wirksamwerden und
Ich habe schon im ersten parlamentarischen Durch- Rechtsfolgen einer grenzüberschreitenden Verschmel-
gang gesagt, dass die gegebenen Flexibilitätsspielräume zung und für die daraus hervorgehende nationale Gesell-
hätten genutzt werden müssen, um bei der Verschmel- schaft.
zung Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen
zu verhindern. Sonst verhindert man die Schaffung Ich begrüße außerordentlich, dass die Bundesregie-
rung Art. 16 der Richtlinie in einen gesonderten Gesetz-
neuer Arbeitsplätze. Der vorliegende Gesetzentwurf
entwurf übertragen hat. Er regelt die Auswirkungen
zeigt: Sie denken, alle Welt warte nur auf unsere deut-
sche Mitbestimmung. Das ist aber nicht so. Sie meinen, grenzüberschreitender Verschmelzungen auf die Mitbe-
stimmungsrechte der Arbeitnehmer und wird so seiner
Sie könnten die deutsche Mitbestimmung in alle Welt
Bedeutung entsprechend herausgestellt. Die betriebliche
exportieren, obwohl sich die Welt um uns herum ändert.
Für diejenigen, die darauf nicht reagieren, gibt es einen Mitbestimmung wird, wie schon die erste Biedenkopf-
Kommission 1972 in ihrem Sachverständigenbericht
Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. In die-
vorgelegt hat, durch vier zentrale Zwecke gerechtfertigt:
sem Sinne ein freundliches Glückauf aus dem Erzge-
birge. die Menschenwürde, das Verhältnis von Kapital und Ar-
beit, die Demokratisierung und die Machtbindung. Diese
(Beifall bei der FDP) Grundsätze gelten weiter und sind Teil unseres Sozial-
staatprinzips.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Union hat die betriebliche Mitbestimmung mit
Der Kollege Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Frak- auf den Weg gebracht. Sie fühlt sich dieser Tradition
tion hat das Wort. auch weiterhin verpflichtet.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)

Paul Lehrieder (CDU/CSU): – Die FDP darf auch klatschen, sie war dabei.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn ihr euch
Damen und Herren! Nachdem der Kollege Haustein mit verpflichtet fühlt, können wir ja nicht klat-
einem freundlichen Glückauf aus dem Erzgebirge ge- schen!)
schlossen hat, will ich mit einem freundlichen „Grüß
(B) Gott“ aus dem fränkischen Weinland beginnen. – Herr Kolb, hier können Sie ruhig mitklatschen. (D)
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben Wein Mitbestimmung gehört zu einem sozialen und wirt-
mitgebracht?) schaftlich erfolgreichen Europa. Es ist deshalb ganz in
unserem Sinne, wenn dieses Europa die nationalen Mit-
– Nein, ich habe keinen Wein mitgebracht. bestimmungsmodelle anerkennt und sichern will. Es ist
Mitbestimmung ist in diesem Hohen Hause konsens- gut, wenn die europäische Verschmelzungsrichtlinie nun
fähig. Das entnehme ich allen Äußerungen, die ich bis- zügig umgesetzt wird. Zu deren Inhalt ist grundsätzlich
her von der SPD, von den Grünen, von uns sowieso, aber zu sagen, dass aus einer grenzüberschreitenden Ver-
auch von der FDP und von der Linkspartei ohnedies ge- schmelzung keine europäische, sondern eine nationale
hört habe. Herr Kolb, die Frage ist nur: Wie? Da haben Rechtsform hervorgeht. Das unterscheidet sie von der
Sie völlig Recht. Europas Wirtschafts- und Arbeitswelt Europäischen Gesellschaft oder der Europäischen Ge-
befindet sich mitten in einem tief greifenden Wandlungs- nossenschaft. Da in den Mitgliedstaaten der EU unter-
prozess, der auch Deutschlands Unternehmen seit gerau- schiedliche Mitbestimmungsregeln gelten, kann es ge-
mer Zeit voll erfasst hat. Hier werden Sie mir Recht schehen, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmer
geben. Das Stichwort ist Internationalisierung. Groß- einer der beteiligten Gesellschaften bei Anwendung des
unternehmen fusionieren über die Grenzen, deutsche jeweiligen nationalen Rechts eingeschränkt wird. Der
Unternehmen wie MAN Diesel und Allianz wandeln europäische Gesetzgeber will dem mit seiner Richtlinie
sich in Europäische Gesellschaften um. In den Sog der vorbeugen, indem er die Mitbestimmung im Fall einer
Wandlung gerät zwangsläufig auch die Mitbestimmung Verschmelzung auf dem Verhandlungsweg sichern will.
der Arbeitnehmer. Entwicklungen von einer solchen Dy- Für die Mitbestimmungsverhandlungen gelten die
namik und Tragweite erfordern somit grenzübergrei- folgenden Voraussetzungen:
fende Beobachtung und Regelung, damit in vielen Jah-
ren Erworbenes nicht unter die Räder gerät. Herr Ernst, Erstens. Eine der an der Verschmelzung beteiligten
bei Mitbestimmung sollten Sie aufpassen. Das ist Ihr Gesellschaften ist mitbestimmt und hat in den sechs Mo-
Thema. Ich weiß, Sie sprechen nach mir. naten vor der Verschmelzung mehr als 500 Arbeitneh-
mer beschäftigt.
Hier setzt die EU-Richtlinie 2005/56/EG an. Sie soll
– auf deutsches Recht übertragen – die grenzüberschrei- Zweitens. Das innerstaatliche Recht, das für die aus
tende Verschmelzung deutscher Kapitalgesellschaften der Verschmelzung entstandene Gesellschaft maßgeblich
mit Kapitalgesellschaften anderer EU-Mitgliedstaaten ist, gewährleistet nicht mindestens den gleichen Umfang
regeln. Die Richtlinie normiert damit erstmals gemein- an Mitbestimmung, wie er in den beteiligten Gesell-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6179
Paul Lehrieder
(A) schaften bestand. Grundlegend ist das Vorher-nachher- in der aus der Verschmelzung entstandenen neuen Ge- (C)
Prinzip, nach dem sich die vorhandenen Mitbestim- sellschaft besteht, und zwar für einen Zeitraum von drei
mungsrechte der Arbeitnehmer auch in der aus der Ver- Jahren nach deren Eintragung.
schmelzung hervorgegangenen Gesellschaft wiederfin-
Noch kurz etwas zu den Kosten des Gesetzes. Die für
den müssen.
Kapitalgesellschaften anfallenden Kosten, zum Beispiel
Eingeleitet werden die Mitbestimmungsverhandlun- für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichts-
gen mit den Arbeitnehmern von der Unternehmerseite. rat, entstehen auch bei einer innerstaatlichen Verschmel-
Sie informiert die betroffenen Arbeitnehmervertretungen zung. Wie hoch diese letztlich sind, hängt vom konkre-
über das Verschmelzungsvorhaben sowie über die Iden- ten Einzelfall ab. Eine Rolle spielt zum Beispiel, wie
tität der beteiligten Gesellschaften und die Zahl der Be- viele Gesellschaften an einer Verschmelzung beteiligt
schäftigten. Auf Unternehmensseite werden die Ver- und wie groß diese sind. Darüber hinaus baut die Wahl
handlungen von den Leitungsorganen der beteiligten von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat, die aus
Gesellschaften geführt. Auf Arbeitnehmerseite ist ein dem Inland kommen, auf bestehende Arbeitnehmer-
besonderes Verhandlungsgremium zu errichten. Dabei strukturen auf und ist auch deshalb kostengünstig.
sollen alle Arbeitnehmer der betreffenden Gesellschaf- Sicher ist an der vorgesehenen Umsetzung der so ge-
ten im Verhandlungsgremium repräsentiert sein. nannten Verschmelzungsrichtlinie noch nicht alles opti-
Praxisnahe Verhandlungslösungen haben immer mal. Einiges, gerade was die Mitbestimmung betrifft,
Vorrang vor gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen. wird weiter beobachtet und reguliert werden müssen. Ich
Da die zugrunde liegende Richtlinie lediglich Mindest- denke hier zum Beispiel an mittelfristige Auswirkungen
vorgaben aufstellt, ist es in den Verhandlungen möglich, auf die Arbeitsbedingungen im nationalen Bereich und
praxisnah auf die spezielle Situation der geplanten Ge- an die Tarifautonomie.
sellschaft einzugehen. Auf diese Weise können neben Alles in allem ist der vorliegende Entwurf ein gelun-
bewährten Mitbestimmungssystemen, die auch schon gener Schritt, Mitbestimmung auch unter sich verän-
bisher flexible Lösungen im Sinne der Arbeitnehmer er- dernden Rahmenbedingungen und in internationalem
möglichten, gegebenenfalls Mischformen oder neue Rahmen zu gewährleisten.
Konzepte und Verfahren entwickelt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sollte eine Verringerung bestehender Mitbestim-
mungsrechte der Arbeitnehmer beschlossen werden, Gerade aus dem Ziel der Rechtssicherheit heraus ist es
sieht die Richtlinie besondere Abstimmungsregelungen deshalb geboten, diesem Gesetz zuzustimmen.
im Verhandlungsverfahren vor. Erforderlich ist dann Danke schön. – Frau Präsidentin, nachdem Sie als
(B) eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln der Mit- (D)
Fränkin
glieder des besonderen Verhandlungsgremiums, die wie-
derum zwei Drittel der Arbeitnehmer vertreten und aus (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na, na!)
mindestens zwei Mitgliedstaaten kommen. Der Grund- die Uhr wegen meiner freundlichen Begrüßung zwei Mi-
gedanke des Schutzes erworbener Rechte bleibt somit nuten später eingestellt haben, beende ich meine Rede
gewahrt. etwas eher.
In der schriftlichen Vereinbarung zwischen den Un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ternehmensleitungen und dem Verhandlungsgremium neten der SPD)
soll erstens der Geltungsbereich der Vereinbarung, zwei-
tens der Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Vereinba- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
rung und ihre Laufzeit, drittens die Zahl der Mitglieder Herr Kollege, wir sehen hier natürlich, dass Sie keine
des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans, viertens das Redezeit übrig gelassen haben.
Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mitglieder
wählen, und fünftens die Rechte dieser Mitglieder fest- (Heiterkeit)
gelegt werden. Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Fraktion
Erst nachdem das Verfahren über die Mitbestimmung Die Linke.
abgeschlossen ist, kann eine aus der Verschmelzung her- (Beifall bei der LINKEN)
vorgegangene Gesellschaft registriert werden. Scheitert
der Verhandlungsprozess, der bis zu sechs Monate dau-
ern kann, tritt eine Auffangregelung zur Sicherung der Klaus Ernst (DIE LINKE):
Mitbestimmungsrechte in Kraft. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Mitbestimmung ist ein elementarer Baustein
Bei innerstaatlichen Verschmelzungen, die einer unserer Demokratie und der Wirtschaft. Ich möchte aber
grenzüberschreitenden Verschmelzung folgen, richtet hier auf einen kleinen Etikettenschwindel, den wir auch
sich die Mitbestimmung primär nach den nationalen beim Kündigungsschutz haben, aufmerksam machen. Je-
Regelungen, also in Deutschland nach den Mitbestim- der, der von Mitbestimmung ein wenig versteht, weiß,
mungsgesetzen. Nur wenn diese den Mitbestimmungs- dass es sich dabei nicht um eine echte Mitbestimmung
umfang nicht hinreichend sichern, gilt die Mitbestim- im Sinne von Parität handelt. Jeder, der wirklich etwas
mung kraft Vereinbarung oder Auffangregelung – Frau davon versteht, weiß vielmehr, dass der Vorsitzende
Kollegin Kramme hat hierauf bereits hingewiesen –, die nach dem Mitbestimmungsrecht immer von der Arbeit-
6180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Klaus Ernst
(A) geberseite kommt, damit ein Zweitstimmrecht hat und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine ge- (C)
die Arbeitnehmerseite, selbst wenn sie sich einig wäre, wagte These!)
obwohl ein leitender Angestellter dazugehört, immer
Ich verstehe Ihre Frage so, dass Sie mit mir dafür kämp-
überstimmen kann. Es gibt also keine Mitbestimmung,
fen wollen, dass sich etwas ändert. Das können wir ma-
sondern nur ein Informationsrecht. Es ist dringend not-
chen.
wendig, dass ein solches Recht eingeräumt wird. Eigent-
lich wäre es noch viel notwendiger, für echte Mitbestim- Wie beim Kündigungsschutz stellen sich bei der Mit-
mung zu sorgen, indem man eine echte Parität schafft. bestimmung die Verhältnisse anders dar, als der Titel des
Gesetzentwurfs vermuten lässt. Bereits in erster Lesung
Die Gegner der Mitbestimmung sollten sich überle-
haben wir daran erinnert, dass der hohe Anteil ausländi-
gen, ob nicht die Abschaffung oder das Schleifen des
scher Konzerne, die in Deutschland tätig sind und dem
Mitredens im Betrieb, selbst wenn es heute keinen ech-
Mitbestimmungsrecht unterliegen, dafür spricht, dass
ten Einfluss garantiert, zu einer Situation führt, in der
das deutsche Modell der Mitbestimmung, wie es sich
sich nur der Herr im Hause mit seinem Standpunkt
momentan darstellt, erfolgreich ist. Von den 767 Unter-
durchsetzt. Wäre es tatsächlich modern, wenn der Eigen-
nehmen, die dem deutschen Mitbestimmungsgesetz un-
tümer eines Betriebs oder seine Vertreter sagen könnten,
terliegen, gehören rund 30 Prozent zu ausländischen
wo es langgeht, ohne dass die Arbeitnehmer Einfluss ha-
Konzernen. Nach einem Gutachten von Professor
ben und sich wehren können?
Kempen zeigen zudem aktuelle Untersuchungen, dass
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deutschland aus Investorensicht der attraktivste In-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des vestitionsstandort in Europa ist, weltweit rangiert er
Kollegen Kolb? an dritter Stelle, nach den USA und China.
Wir haben also nicht das Problem, dass wir uns zu-
Klaus Ernst (DIE LINKE): rückhalten müssen.
Sehr gerne.
Die Linke begrüßt die Zielsetzung des Gesetzent-
wurfs, die Interessenvertretung der Beschäftigten auch
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): im Verschmelzungsfall sicherzustellen. Zur vollständi-
Herr Kollege Ernst, Sie stellen die Parität infrage und gen Einlösung dieses Anspruchs sollten einige Regelun-
bezweifeln, dass sie eine echte Mitbestimmung gewähr- gen noch präziser gefasst werden. Insbesondere ist die
leistet. Können Sie mir erklären, welchen Unterschied es Festlegung notwendig, dass dem nach einer Verschmel-
dann macht, ob es eine Drittelparität und eine Vollparität zung fortbestehenden Gesamtbetriebsrat ein autorisier-
(B) gibt? ter Gesprächs- und Verhandlungspartner gegenüber- (D)
steht. Geschieht dies nämlich nicht, läuft die im
Klaus Ernst (DIE LINKE): Gesetzentwurf vorgesehene Bewahrung der Arbeitneh-
Das erkläre ich Ihnen gerne. Wenn mehr Arbeitneh- mervertretung unter Umständen darauf hinaus, dass
mervertreter im Aufsichtsrat sitzen – die Mitbestimmung zwar die Arbeitnehmervertretung fortbesteht, aber auf
im Aufsichtsrat gewährleistet eine formale, nicht aber der Unternehmerseite kein Verhandlungspartner exis-
eine echte Parität –, können natürlich auch mehr Arbeit- tiert. Daher sollte das Gesetz sicherstellen, dass auch die
nehmervertreter im Aufsichtsrat mitentscheiden.
Leitung eines europäischen Unternehmens den
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die haben rechtlichen Verpflichtungen eines Arbeitgebers aus
doch auch nichts zu sagen!) der deutschen Gesetzgebung
– Wenn Sie eine Antwort von mir wollen, müssen Sie nachkommt. Dies hat der Gutachter Hawreliuk in der
zuhören. – Damit wird vermieden, dass sich Politik in Anhörung vorgeschlagen.
kleinen Zirkeln abspielt, wie es bei den Arbeitgebern in
Die Bundesregierung ist nicht nur gefordert, die Mit-
der Regel der Fall ist. Wenn wir die Mitbestimmung an
bestimmung auf europäische Unternehmen auszuweiten,
dieser Stelle ausweiteten, würden wir den Arbeitneh-
sondern auch, das deutsche Mitbestimmungsrecht euro-
mern im Aufsichtsrat, insbesondere wenn es um den Ab-
pafest zu machen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Derzeit
bau von Arbeitsplätzen geht, mehr Möglichkeiten geben.
ist es deutschen Unternehmen möglich, eine GmbH &
Dann würden Vorgänge wie jene bei BenQ und bei ande-
Co KG in eine britische Limited umzuwandeln und da-
ren Unternehmen in dieser Republik nicht derart nega-
mit das deutsche Mitbestimmungsrecht zu umgehen. Ein
tive Folgen haben. Wenn die Arbeitnehmer im Auf-
solches Mitbestimmungsdumping schadet der europäi-
sichtsrat die Möglichkeit zur echten Mitbestimmung
schen Idee und den betroffenen Arbeitnehmerinnen und
hätten, würden sie kaum wie die Kapitaleigner für eine
Arbeitnehmern; es sollte unverzüglich durch den Gesetz-
Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland stimmen, um
geber abgestellt werden.
mehr Rendite einzufahren.
Wir müssen nicht nur Mitbestimmungslücken schlie-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: BenQ ist am
ßen, sondern auch dafür Sorge tragen, dass zukünftig die
Ende in die Insolvenz gegangen!)
durch Beschäftigungsabbau und Unternehmensverlage-
– BenQ ist in Insolvenz gegangen, weil zum Beispiel die rung entstehenden Risiken für die Beschäftigten stärker
Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Siemens nicht als bisher zum Gegenstand der Mitbestimmung werden.
ausreichte, um so etwas zu verhindern. Die zunehmende Finanzmarktorientierung von Unter-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6181
Klaus Ernst
(A) nehmen bringt es mit sich, dass dem Ziel einer hohen Ei- Insofern halte ich Mitbestimmung anders als die FDP (C)
genkapitalrendite gute Arbeitsbedingungen und die Ar- nicht für einen Standortnachteil, sondern für einen
beitsplatzsicherheit geopfert werden. Ein Beispiel für Standortvorteil.
diese Politik habe ich Ihnen gerade gegeben. Aus Sicht
(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)
der Beschäftigten kann die Antwort auf diese Entwick-
lung nur in einem Ausbau der Mitbestimmung bei Stand- Darüber hinaus sollten wir uns abgewöhnen, den Auf-
ort- und Investitionsentscheidungen liegen. sichtsrat in ein Arbeitgeberlager und ein Arbeitnehmer-
lager zu unterteilen. Wir haben die Regelungen für Cor-
Unser Fazit ist: Mitbestimmung ist gut für Beschäf- porate Governance in den letzten Jahren ganz bewusst
tigte und Unternehmen. Damit das so bleibt, muss die geändert. Jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied als sol-
Mitbestimmung weiterentwickelt werden. Dafür wird ches hat – auch das sollte man deutlich sagen – eine Ver-
die Linke gemeinsam mit den Gewerkschaften konkrete antwortung für das Unternehmen. Wenn man ein biss-
Vorschläge entwickeln. chen aus diesem Lagerdenken herauskommt, dann kann
Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ein Aufsichtsrat in der Regel auch besser funktionieren.
Im Extremfall kann man auch einmal vor Gericht stehen,
(Beifall bei der LINKEN) weil man im Aufsichtsrat eine nicht ganz so vernünftige
Entscheidung getroffen hat, wie im Falle des Kollegen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zwickel, der zurzeit in Düsseldorf vor Gericht steht. Auf
der Anklagebank sitzt nicht nur Herr Ackermann. Nicht
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger, nur er hat sich wegen der sehr hohen Abfindung bei der
Bündnis 90/Die Grünen. Übernahme von Mannesmann durch Vodafone zu recht-
fertigen.
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜND-
NEN):
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Häufige
Folge neuer europäischer Regelungen ist, dass sich die Ich finde es bemerkenswert, dass die FDP die Mitbe-
Standards nicht im oberen Bereich ansiedeln, sondern es stimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als
zu so etwas wie einem Rennen nach unten kommt und zentrales Problem der Aufsichtsratsarbeit ansieht, ihr
entsprechende Errungenschaften abgebaut werden. Bei eine ganze Reihe anderer Punkte aber offensichtlich
der Verschmelzungsrichtlinie und dem heute zu beraten- ziemlich egal ist. Ich finde, dass es ein Problem unserer
den Gesetzentwurf zur Umsetzung der Regelungen – ich Aufsichtsratsstruktur ist, dass 18 Manager allein 160 Auf-
sichtsratsmandate in der Hand haben. Das heißt, dass
(B) sage das ausdrücklich – ist das nicht der Fall. (D)
sich in der Hand von wenigen, im Übrigen sehr alten
Ich finde, es ist eine gute und richtige Entscheidung Männern ein erhebliches Entscheidungs- und Macht-
– mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben das be- potenzial ballt. Dass sie nicht immer sachgerechte und
reits gesagt –, dass man sich an dem Land orientiert, in vernünftige Entscheidungen treffen, sondern manchmal
dem die Mitbestimmung auf dem höchsten Niveau ist. auch nach Gutsherrenart entscheiden, kann man zurzeit
Ich finde es gut, dass die Mitbestimmung nicht über die bei Herrn Piëch, bei VW, beobachten. Man kann es aber
Verschmelzungsrichtlinie ausgehebelt wird. Das halte auch bei dem einen oder anderen „Kleinfeld-Spieler“ in
ich persönlich für eine richtige und gute Entwicklung. der deutschen Wirtschaft ganz gut erkennen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich meine, dass diese aus der Tradition der Deutsch-
land AG, die sich längst aufgelöst hat, abgeleitete
Auf europäischer Ebene sollte das häufiger einmal der Machtballung in den Händen weniger Aufsichtsratsmit-
Fall sein. glieder – im Grunde genommen bildet sich so etwas wie
Herr Ernst hat gesagt, Mitbestimmung sei für die Ar- ein Methusalem-Aufsichtsrat heraus – ein größeres Pro-
beitnehmerseite heute so etwas wie Mitreden, ohne Ein- blem für die deutsche Wirtschaft ist und eher angegan-
fluss nehmen zu können. Ich halte dieses Argument in gen werden sollte.
der Sache für völlig falsch. Herr Kollege Ernst, wir müs- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nach dem Allge-
sen doch gerade die Stärke des Mitbestimmungsrechts meinen Gleichbehandlungsgesetz ist die Dis-
besser in den Vordergrund rücken. Denn der Grund da- kriminierung Älterer verboten!)
für, dass mitbestimmte Unternehmen in Deutschland
keine Standortnachteile und nachweislich keine schlech- Ich meine, dass wir den Einfluss der Manager auch hier
tere, sondern häufig eine bessere Performance als andere zurückdrängen können, indem wir die Zahl der Auf-
Unternehmen haben, ist, dass eine ganze Reihe von Pro- sichtsratsmandate, die jemand übernimmt, limitieren.
blemen infolge der Einbindung von Arbeitnehmerinnen Das wäre eine Reform, die Standortvorteile mit sich
und Arbeitnehmern in den Aufsichtsräten einer vernünf- bringen würde.
tigen Lösung zugeführt werden können, was in anderen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Ländern so nicht der Fall ist. Mitbestimmung ist einer DIE GRÜNEN)
der Gründe, warum das Risiko für Streiks in Deutsch-
land weit geringer ist als in anderen Ländern. Deutschland ist das Land, in dessen Wirtschaft
Frauen – im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern – den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geringsten Anteil an Führungspositionen haben. Wir
6182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Matthias Berninger
(A) sind im Hinblick auf die großen Unternehmen sogar bewusst den Interessen der Arbeitnehmer und deren Ver- (C)
schlechter als Saudi-Arabien. Die einzige Ausnahme tretung angenommen. Diesen ganz zentralen Aspekt hat
stellen die Aufsichtsräte dar – weil wir gesetzlich gere- in der ganzen Debatte kein einziger Redner angespro-
gelt haben, dass sich die Zahl der Arbeitnehmervertrete- chen.
rinnen an der Zahl der weiblichen Beschäftigten des Un-
ternehmens orientieren muss. Diese Regelung sollte man (Beifall bei der CDU/CSU)
auf die Arbeitgeberseite ausdehnen. Als jemand, der auch für europapolitische Fragen zu-
ständig ist, möchte ich noch einen anderen Aspekt auf-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: An der Zahl der
greifen: Es heißt immer wieder, die Europäische Union
weiblichen Aktionäre orientiert?)
ziehe Kompetenzen an sich, ohne den Grundsatz der
Es würde den Unternehmen nutzen, wenn mehr Frauen Subsidiarität zu beherzigen. Auch diese umzusetzende
in den Aufsichtsräten wären, insbesondere weil die alten Richtlinie zeigt, dass die Subsidiarität von der europäi-
Männer, die heute das Sagen haben und viel Unfug ma- schen Ebene sehr wohl ernst genommen wird und dass
chen, dann in den wohlverdienten Ruhestand geschickt die Europäische Union dem nationalen Gesetzgeber oft
würden. Handlungsspielräume lässt. Es war ja genau die Kritik
der FDP, wir hätten diese Handlungsspielräume nicht
Vielen Dank. konsequent genutzt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Diskussion, die wir geführt haben, war insgesamt
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Berninger sehr ideologiefrei. Die Partei Die Linke hat sogar selbst
hat etwas gegen ältere Männer! Wahrschein- eingeräumt – Kollege Dreibus hat das gestern in der
lich mag er jüngere Frauen!) Ausschusssitzung deutlich gemacht –, dass sie in der
Anhörung von den Vorzügen der Mitbestimmung über-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zeugt werden konnte. Insofern hat sich die Anhörung für
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Mi- Sie gelohnt. Ich dachte bisher, dass Sie schon vorher da-
chael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion. von überzeugt gewesen wären, dass die Mitbestimmung
in Deutschland sinnvoll ist. Wenn diese Anhörung dazu
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und beigetragen hat, Sie zu überzeugen, dann war sie sicher-
der SPD) lich sinnvoll. Sie alle kennen die Debatten, die wir da-
rüber geführt haben, ob nicht unnötig Steuergelder ver-
Michael Hennrich (CDU/CSU): schwendet worden sind.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
(B) Damen und Herren Kollegen! Wir beraten heute ab- Ich möchte einen Punkt herausgreifen, den die FDP (D)
schließend über das Gesetz zur Umsetzung der Regelun- kritisiert hat. Sie haben gesagt, dass Sie nicht glauben,
gen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer dass es innerhalb der Betriebe zu sinnvollen Lösungen
Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschie- kommen wird, weil es die so genannte Auffanglösung
denen Mitgliedstaaten. Ich hatte das besondere Vergnü- gibt. Wenn nach den Verhandlungen also kein Ergebnis
gen, in der ersten Lesung die Vor- und Nachteile dieses erzielt worden ist, dann greift diese ein und es gilt das
Gesetzes ausführlich darlegen zu dürfen. Ich will mich Vorher-nachher-Prinzip. – Damit stellen Sie den Arbeit-
heute darauf beschränken, die Inhalte der Anhörung so- nehmerinnen und Arbeitnehmern und insbesondere auch
wie die Beratungen im Ausschuss zu bewerten, und die den Betriebsräten in den Unternehmen ein schlechtes
Kernpunkte herausarbeiten. Zeugnis aus. Gerade in der Vergangenheit hat sich näm-
lich deutlich gezeigt, dass sich die Betriebsräte sehr be-
Bevor ich das tue, möchte ich einen Aspekt vorab wusst auch für die Interessen der Betriebe einsetzen und
nennen, der in der Debatte bisher viel zu kurz gekom- dass sie für vernünftige Lösungen offen sind. Das haben
men ist. Wir bemängeln immer wieder, dass auf der eu- Sie den Betriebsräten mit Ihrer Kritik abgesprochen.
ropäischen Ebene die soziale Dimension nicht genügend
berücksichtigt wird – ein Urteil, das quer durch alle Par- (Beifall bei der CDU/CSU)
teien immer wieder geäußert wird. Man muss sich ein- Ich glaube, wir sollten das Gesetz einfach einmal auf
mal fragen, warum das so ist, woran das liegt. Einer der uns wirken lassen. An dem Thema Mitbestimmung wird
Gründe ist darin zu sehen, dass die Mitgliedstaaten die der Standort Deutschland weder scheitern noch genesen.
ihnen eigene Zuständigkeit für die Sozialpolitik behalten Das ist ein Baustein von vielen. Mit diesem Gesetz ha-
wollen. Damit geben wir der Europäischen Union wenig ben wir letztendlich sichergestellt, dass deutsche Unter-
Spielraum, sich in sozialpolitischen Angelegenheiten zu nehmen in Europa wettbewerbsfähig bleiben. Jetzt soll-
profilieren. ten wir zunächst einmal abwarten, wie dieses Gesetz
Die Richtlinie, die wir in nationales Recht umsetzen, wirkt, bevor wir weitere Dinge auf den Weg bringen.
ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich die Europäi- Herzlichen Dank.
sche Union, wenn sie die Möglichkeit bekommt, sehr
wohl um die Belange der Arbeitnehmerinnen und Ar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
beitnehmer kümmert. In dieser Richtlinie wurde nicht neten der SPD)
nur im Interesse der Gesellschafter bzw. der Aktionäre
eine Lücke im europäischen Gesellschaftsrecht ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
schlossen. Die Europäische Union hat sich dabei ganz Ich schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6183
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
(A) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Überweisungsvorschlag: (C)
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
zung der Regelungen über die Mitbestimmung der
Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung von Kapitalge- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, Druck- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
sache 16/2922. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/3320, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierho-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- fer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- FDP
ratung mit den Stimmen der Fraktionen der Linken, der Klimaschutz-Offensive 2006
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. – zu dem Antrag der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Dritte Beratung
Den Klimawandel wirksam bekämpfen –
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Deutschland muss Vorreiter bleiben
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
– Drucksachen 16/242, 16/59, 16/898 –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit dem gleichen Stim- Berichterstattung:
menergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
Frank Schwabe
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis e sowie
Michael Kauch
Zusatzpunkt 5 auf:
Eva Bulling-Schröter
8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg)
Dr. Reinhard Loske, Cornelia Behm, Hans-Josef e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dem Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard
Für eine radikale und konsequente Klimapolitik Loske, Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
– Drucksache 16/3283 – SES 90/DIE GRÜNEN
(B) Überweisungsvorschlag:
(D)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Kfz-Steuer klimafreundlich reformieren –
Auswärtiger Ausschuss CO2-Ausstoß und Verbrauch als Bemessungs-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie grundlage
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und – Drucksachen 16/2073, 16/3197 –
Entwicklung
Berichterstattung:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bul- Abgeordnete Patricia Lips
ling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
KEN Jung (Konstanz), Marie-Luise Dött, Katherina
Reiche (Potsdam), weiterer Abgeordneter und der
Klares Signal für die Kyoto-II-Verhandlungen Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
auf der UN-Klimakonferenz in Nairobi setzen Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 16/3026 –
Überweisungsvorschlag: Die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll gestalten –
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) entschieden dem Klimawandel entgegentreten
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/3293 –
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Entwicklung Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, wei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Klimapolitischen Zertifikatehandel in Deutsch-
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
land nachhaltig und verantwortungsvoll gestal-
ten – Nationalen Allokationsplan grundlegend Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
überarbeiten Wir erleben im Moment eine enorme Verdichtung klima-
wissenschaftlicher und klimapolitischer Nachrichten und
– Drucksache 16/3051 – Neuigkeiten. Im Februar nächsten Jahres wird das
6184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Reinhard Loske


(A) Gremium der Klimawissenschaftler der Vereinten Natio- recht werden. Denn Unilateralismus ist nicht nur in Sa- (C)
nen seinen neuen Bericht vorlegen. Man darf vielleicht chen Militär ein Problem, sondern auch und ganz beson-
salopp sagen: Dieser Bericht lässt befürchten, dass alles ders in Sachen Klimaschutz.
noch schlimmer als bislang angenommen wird, wenn
wir nicht vorsorgend handeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor wenigen Tagen ist der so genannte Stern-Bericht Darüber hinaus müssen wir den armen Ländern dabei
erschienen. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank, helfen, sich an die Klimaveränderungen anzupassen. In-
Nicholas Stern, hat systematisch untersucht, was die Kli- sofern fügt es sich vielleicht ganz gut, dass die Klima-
mavorsorge und die Anpassung an Klimaveränderungen konferenz in Nairobi stattfindet. Denn Afrika ist ein
kosten würden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Kli- Kontinent, der, obwohl er nur einen Bruchteil zur Verur-
mavorsorge um ein Vielfaches günstiger als die Anpas- sachung des Problems beiträgt, in ganz besonderer
sung an Klimaveränderungen ist. Zur Vorsorge kommt Weise von den Folgen des Klimawandels betroffen ist.
es aber nicht von selbst, sondern sie muss politisch pro- Hier müssen wir unserer Verantwortung nachkommen.
moviert und tatsächlich betrieben werden. Daran hapert Ich möchte die Bundesregierung gerne auffordern, die
es im Moment noch. Die Kosten der Anpassung an Kli- beiden im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaften
maveränderungen können um den Faktor 20 über den Deutschlands – die EU-Ratspräsidentschaft und die Prä-
Kosten der Klimavorsorge liegen. Deswegen ist das ein sidentschaft der G 8 – zu nutzen, um die Themen Klima-
weiteres dringendes Plädoyer dafür, zu handeln. schutz und Energiesicherheit verstärkt in den Mittel-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN punkt der Diskussion zu rücken. Wir Grüne glauben, die
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) wichtigste Maßnahme in diesem Zusammenhang wäre,
dass sich Deutschland auf nationaler Ebene endlich ver-
In den letzten Tagen und Wochen ist an die Öffent- bindlich die Erreichung des 40-Prozent-Ziels bis zum
lichkeit gelangt, dass das Sekretariat der Vereinten Na- Jahre 2020 vornimmt, um einen Beitrag dazu zu leisten,
tionen und auch die EU-Kommission die nationalen dass sich dann auch die Europäische Union zu einem
Emissionsberichte systematisch durchgegangen sind. Klimaschutzziel von 30 Prozent bis zum Jahr 2020 wird
Man muss leider sagen, dass sie zu dem Ergebnis kom- durchringen können. Diese Vorreiterrolle Deutschlands
men, dass viele EU-Staaten ihre Klimaschutzziele, ihre ist sehr wichtig.
Kioto-Ziele, zu verfehlen drohen. Es ist noch nicht zu
spät. Sie können noch erreicht werden. Aber in vielen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Fällen sieht es nicht gut aus. Deswegen muss die EU- Nun möchte ich von den Höhen der Weltpolitik und
Kommission jetzt Druck machen. Das ist für die Glaub- der europäischen Politik noch kurz in die Niederungen
(B) würdigkeit der europäischen Klimapolitik sehr wichtig. (D)
der nationalen Politik hinabsteigen und feststellen: Für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) uns Grüne ist der Umgang mit dem Emissionshandel,
der uns in den nächsten Wochen und Monaten beschäfti-
In genau dieser Zeit findet nun die Nairobikonferenz gen wird, der entscheidende Lackmustest für die Glaub-
statt, an der in der nächsten Woche der Herr Minister würdigkeit der Regierung.
und eine Parlamentarierdelegation teilnehmen werden.
Meine politische Einschätzung dieses Themas lautet: Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wäre wirklich verheerend, wenn sich der Eindruck ver- Unsere Kritik am jetzigen Allokationsplan ist:
festigen würde, dass zwar die Signale aus der Wissen-
schaft immer alarmierender werden, die Konferenzkara- Erstens. Die darin aufgeführten Ziele sind nicht an-
wane aber unbeeindruckt weiter zieht. Die neuen spruchsvoll genug. Sie verlangen von den Energiever-
Kenntnisse, die wir jetzt haben, müssen sich auch in der sorgungsunternehmen und von der Energie verbrauchen-
Art und Weise niederschlagen, wie in Nairobi vorgegan- den Industrie, bis zum Jahr 2012 Ziele zu erreichen, die
gen wird. Der Ernst der Lage muss erkannt werden. sie bereits im Jahr 2005 erreicht haben. Das kann nicht
richtig sein. Das ist zu anspruchslos.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In diesen Prozess müssen wir jetzt eintreten, um im sowie bei Abgeordneten der FDP)
nächsten, spätestens aber im übernächsten Jahr verbind-
liche Ziele für die Zeit nach dem Jahr 2012 zu vereinba- Zweitens. Im Allokationsplan betreiben Sie im Rah-
ren. Dabei müssen wir mehr Staaten einbeziehen – vor men des Emissionshandels eine viel zu starke Bevorzu-
allen Dingen China und Indien –, allerdings noch nicht gung der Kohle. Für Kohle und Erdgas gelten die glei-
unbedingt mit absoluten Reduktionszielen, wohl aber in chen Emissionsrechte. Das kann nicht richtig sein. Am
Form von Sektorzielen für bestimmte Bereiche, etwa für schlimmsten aber ist die 14 Jahre lang andauernde Ga-
die erneuerbaren Energien, oder in Form von Effizienz- rantie für bereits gebaute Kraftwerke, dass sie keinen
zielen. Beitrag zur Emissionsreduktion leisten müssen. Das
würde bedeuten, dass Kraftwerke, die erst 2012 ans Netz
Wir müssen darauf hinwirken, dass die positiven Si- gehen, bis zum Jahr 2026 in Sachen Emissionsreduktion
gnale, die gegenwärtig aus den Vereinigten Staaten, nichts unternehmen müssten. Auch das kann nicht rich-
insbesondere aus dem Nordosten des Landes und aus tig sein.
Kalifornien, zu vernehmen sind, endlich dazu führen,
dass die USA ihrer internationalen Verantwortung ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6185
Dr. Reinhard Loske
(A) Deswegen fordern wir die Einführung eines brennstoff- Bündnis mit den Entwicklungsländern zu schließen. Ich (C)
unabhängigen Benchmarks und die deutliche Kürzung denke, dass wir damit weiterkommen. Man könnte zwar
der Frist von 14 Jahren. einwenden, dass Nairobi weit von Berlin entfernt ist,
aber ich habe bei den beiden anderen Konferenzen er-
Ich komme zu meinem letzten Punkt, Frau Präsiden-
lebt, dass sehr genau zugehört und beobachtet wird, was
tin. Ich glaube, es ist ein großer Fehler, dass die Bundes-
wir in Deutschland machen. Es hat sich gezeigt, dass
regierung die Möglichkeit, 10 Prozent der Emissions-
sich die konkreten Maßnahmen, die die große Koalition
zertifikate zu versteigern – diese Möglichkeit ist in der
auf den Weg gebracht hat, im Vergleich zu vielen ande-
EU-Richtlinie ausdrücklich vorgesehen –, nicht nutzt.
ren Ländern durchaus sehen lassen können.
Andere Länder tun das. Bei einer Größenordnung von
50 Millionen Tonnen und einem Zertifikatepreis von (Beifall des Abg. Marco Bülow [SPD])
10 Euro pro Tonne würde das Einnahmen von ungefähr
500 Millionen Euro generieren. Dieses Geld könnten wir Ich möchte an dieser Stelle unserer Bundeskanzlerin
für die Auflegung eines Effizienzprogramms gut ver- ausdrücklich dafür danken, dass sie sich so klar positio-
wenden. niert hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: neten der SPD)
Herr Kollege, Sie müssen Ihren letzten Punkt etwas
kürzen. Ich verweise zum Beispiel auf die Verdoppelung der
Energieproduktivität bis 2020. Das ist ein entscheiden-
der Punkt.
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bin sofort fertig. Ich wäre sogar schon fertig, Was die Bereiche Wärme, Strom und Verkehr angeht,
wenn Sie mich nicht unterbrochen hätten. Entschuldi- ist festzustellen, dass die gewaltige Aufstockung der
gung! Mittel für das Gebäudesanierungsprogramm durch die
große Koalition in Bezug auf den deutschen Altbaube-
(Heiterkeit)
stand einen der größten Beiträge zum Thema Klima-
Wenn wir auf der Lernkurve nach oben kommen wol- schutz darstellt.
len, müssen wir dieses Instrument endlich anwenden.
Dafür werden wir uns im Rahmen der parlamentarischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Beratungen einsetzen. der SPD)

Danke schön. Auch dass es gelungen ist, mit dem Marktanreizpro-


(B) gramm finanziell einen entscheidenden Schritt nach (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorne zu kommen, ist ein Beleg für unsere Ernsthaftig-
keit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Josef Göppel, CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
CSU-Fraktion. neten der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU) Ich halte das deshalb für wichtig, weil man – ähnlich
wie im Familienleben – andere nur überzeugen kann, in-
dem man mit eigenem Beispiel vorangeht.
Josef Göppel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hinsichtlich der Stromerzeugung bin ich davon über-
Deutschland ist gut auf seine beiden Präsidentschaften zeugt, dass wir von den zentralen Großkraftwerken weg-
und auf die Konferenz in Nairobi vorbereitet. Es ist kommen müssen, weil dabei die Abwärme nicht ausrei-
schön, wenn die Opposition mehr fordert als die Koali- chend nutzbar ist.
tion in dem sehr ambitionierten Antrag, den sie heute
vorgelegt hat. Auf diesen Antrag wird mein Kollege An- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
dreas Jung noch eingehen. der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/
Ich möchte an dieser Stelle meinen persönlichen Ein- DIE GRÜNEN], zur CDU/CSU gewandt: Was
druck schildern, den ich bei meiner Teilnahme an zwei ist denn bei euch los?)
Konferenzen in Buenos Aires und Montreal gewonnen
habe. Seit der Zeit ist mir immer stärker bewusst gewor- – Beifall ist immer schön.
den, dass der Erfolg entscheidend davon abhängt, wie (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Entwicklungsländer in den Prozess des Klimaschut- NEN]: Ja, aber sie haben vergessen zu klat-
zes einbezogen werden. Am Ende dieses Weges muss schen!)
zweifellos jedem Menschen auf der Erde dasselbe Recht
zugestanden werden, die Atmosphäre zu nutzen. Wir werden – wie der Präsident des Umweltbundes-
amtes gestern im Umweltausschuss festgestellt hat – zu-
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nehmend zu dezentralen Kraftwerken mit Kraft-
Aber nicht so wie wir!)
Wärme-Kopplung übergehen, weil wir damit die Wärme
Insofern gehen wir auf der Konferenz das Thema an, näher an die Verbraucher heranbringen und sie dadurch
indem die europäischen Delegationen versuchen, ein nutzbar machen. Das ist ein großer Maßnahmenblock.
6186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Josef Göppel
(A) Ich denke, dass die Maßnahmen, die mit dem Ak- scheidung bei entsprechenden Technologien das größte (C)
tionsplan – zum Beispiel mit dem europäischen Pro- globale Einsparpotenzial vorhanden ist, und das noch
gramm „Energy Star“ zur Kennzeichnung von Haus- vor den in Deutschland immer sehr streitig diskutierten
haltsgeräten – eingeleitet worden sind, einen weiteren Technologien Kernkraft und erneuerbare Energien. Der
Beitrag leisten. Grund dafür liegt insbesondere in China. Die dort vor-
handene Kohle wird verbrannt werden, egal ob wir das
Im Verkehrsbereich bieten uns sicherlich auch die Ini-
gut oder schlecht finden. Die Frage ist nur, mit welcher
tiativen unserer Kollegen im Europäischen Parlament im
Technologie. Wir als Liberale sind der Meinung, dass
Zusammenhang mit den Verbrauchsobergrenzen für Au-
den Technologien zur Verringerung der CO2-Abschei-
tos eine Richtschnur für die Zukunft. Denn derzeit zei-
dung eine Schlüsselrolle beim Klimaschutz zukommt.
gen die Analysen über das Tempo des Klimawandels,
dass man mit freiwilligen Vereinbarungen nur einen be- (Beifall bei der FDP)
grenzten Zeitraum überbrücken kann.
Eine Hauptaufgabe der deutschen Präsidentschaft in
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass die konkreten
der EU und der G 8 wird sein, Indien, China und die Ver-
Maßnahmen, die die Koalition eingeleitet hat, wichtige
einigten Staaten für ein neues Klimaschutzprogramm zu
Voraussetzungen für die Verhandlungsposition der deut-
gewinnen. Viel zu lange hat die Bundeskanzlerin dem
schen Delegation in Nairobi sind. Einige Parlamentarier
britischen Premierminister Tony Blair die alleinige Füh-
werden unseren Minister begleiten. Unser Ziel ist, dass
rung in der Klimapolitik überlassen, obwohl Deutsch-
in Nairobi eine Nachfolgeregelung für das jetzige Ab-
land im nächsten Jahr die Präsidentschaften innehat. Wer
kommen nach dem Jahr 2012 vereinbart wird. Herr Mi-
ist denn zu Arnold Schwarzenegger gefahren und hat in
nister Gabriel, Sie haben bei der Vertretung der deut-
den USA für Klimaschutz geworben? Das war Tony
schen Interessen, unsere volle Unterstützung, aber auch
Blair und nicht Angela Merkel. Wer hat denn den
bei dem Versuch, den Entwicklungsländern deutlich zu
„Stern“-Report über die wirtschaftlichen Folgen des Kli-
machen, dass der Einsatz energiesparender Technologien
auch für sie der Weg zu mehr Wohlstand und weg von mawandels in Auftrag gegeben? Das war Tony Blair und
Armut bedeutet und ihnen eine Zukunftsperspektive in nicht Angela Merkel. Es ist gut, dass die Kanzlerin in
der Welt eröffnet. der letzten Woche aufgewacht ist und entsprechende Si-
gnale gesandt hat. Aber Signale sind noch kein Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem gramm für die Präsidentschaften.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der LINKEN) (Beifall bei der FDP)

(B) Die Bundesregierung muss dringend ein Konzept für (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eine internationale Klimaoffensive vorlegen. Insbeson-
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch, FDP-Frak- dere der Emissionshandel bedarf neuer Impulse. Er
tion. muss auf alle klimarelevanten Wirtschaftssektoren aus-
(Beifall bei der FDP) gedehnt werden, auch auf den Luftverkehr. Zudem soll-
ten einzelne Bundesstaaten der USA am internationalen
Emissionshandel teilnehmen können. Aber was tut denn
Michael Kauch (FDP): die Bundesregierung im Bereich der Technologiekoope-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst ration? Der Umweltminister fährt durch die Welt und
danke ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Ko- wirbt richtigerweise für den Einsatz erneuerbarer Ener-
alition, dafür, dass künftig den Oppositionsfraktionen of- gien. Ich stelle aber fest, dass er eigentlich gar nicht da-
fenbar immer mitgeteilt wird, wie die Verhandlungen in für zuständig ist. Zuständig für die Exportförderung er-
der Koalition abgelaufen sind. Sie haben uns freundli- neuerbarer Energien ist Ihr Parteifreund Glos, Herr
cherweise Ihren Antrag im Änderungsmodus zugesandt. Göppel. Herr Glos verschläft alle Chancen, die sich in
Dem konnten wir entnehmen, dass die Koalition ihre diesem Bereich bieten. Wo ist denn Herr Glos unter-
Ankündigung, die EEG-Fördersätze 2007 zu überprüfen, wegs? Er verschläft dieses Thema. Ich bitte Sie, Herr
gestrichen hat. Das ist eine interessante Information Göppel, wecken Sie ihn auf.
auch für die Kollegen von der Union, die nicht dem Um-
weltausschuss angehören. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP)
Kommen wir aber zum eigentlichen Thema, zu den Im Entwicklungshilfeministerium sieht es auch nicht
Anträgen, die die FDP und die Grünen eingebracht ha- besser aus. Ich bin Mitglied der Parlamentariergruppe
ben. Nach der aktuellen Studie der Internationalen Ener- für das südliche Afrika. Wenn man durch die afrikani-
gie-Agentur werden die CO2-Emissionen bis 2050 glo- schen Länder fährt, dann fragt man sich, warum mitten
bal um 137 Prozent steigen – von einer Minderung kann in der Wüste ein Dieselgenerator läuft. Warum erzeugen
also keine Rede mehr sein –, wenn wir nicht umsteuern. die Länder, die uns besonders nahe stehen, keine Son-
Das Zeitfenster für ein Umsteuern wird zunehmend klei- nenenergie?
ner, wenn wir die Zwei-Grad-Ziele einhalten wollen.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
Die Internationale Energie-Agentur stellt zudem fest, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dass vor allem bei der Energieeffizienz und der CO2-Ab- SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6187
Michael Kauch
(A) In Sachen Klimaschutz liegt es schon auf nationaler Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- (C)
Ebene im Argen. Man kann nicht, Herr Gabriel, das Ziel, schutz und Reaktorsicherheit:
den Ausstoß von Treibhausgasen um 80 Prozent zu min- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
dern, ausrufen und in der Zeitung glänzen, aber gleich- Kauch, wenn Sie mich richtig zitieren würden, dann
zeitig einen Nationalen Allokationsplan vorlegen, in ginge es ja. Ich habe immer gesagt – das ist auch die Po-
dem die Minderungsziele, wie Herr Loske schon gesagt sition der Bundesregierung –, dass wir nicht für die Ver-
hat, zu niedrig sind. Es fehlen bei der Reserve für Neu- steigerung von Emissionszertifikaten sind, solange wir
anlagen 18 Millionen Tonnen CO2, die Sie für den nicht sicherstellen können, dass das Geld am Ende nicht
Atomausstieg, den auch diese Regierung nicht rückgän- von den Verbrauchern geholt wird. Bei Ihnen herrscht
gig machen will, brauchen. Neuanlagen werden für sozusagen das Prinzip Hoffnung. Sie haben große Reden
14 Jahre privilegiert, womit die Technologie, die bis gehalten und gefordert, dass wir die Zertifikate verstei-
2012 eingesetzt wird, für die nächsten Jahre festge- gern sollen. Sie sagen, die Verbraucher werden sich das
schrieben wird. Das ist ein Anreizprogramm für die nicht bieten lassen. Wenn diese am Ende die Zeche zah-
Kohleverstromung, wie wir sie heute haben. Es ist kein len, sind Sie der Erste, der hier steht und uns beschimpft,
Anreiz, neue Technologien zu entwickeln, die uns viel- dass wir nichts gegen steigende Strompreise unternom-
leicht ab 2020 mit der CO2-Abscheidung zur Verfügung men haben.
stehen. Der Nationale Allokationsplan ist völlig kontra-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
produktiv.
Das können Sie machen und das ist Ihr gutes Recht, es
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ hat aber mit der Realität wenig zu tun.
DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Da müs-
sen Sie Herrn Glos die Schuld geben, nicht Wir bekommen hoffentlich in diesem Jahr – das ist
Herrn Gabriel!) auch meine Antwort an Herrn Loske – eine Entschei-
dung des Bundeskartellamts. Diese wird uns dann Aus-
Ein entscheidender Fehler dieser Regierung ist aber kunft über die Frage geben, ob wir etwas gegen die kos-
die Weigerung der Kollegen Glos und Gabriel, die Emis- tenlose Einpreisung unternehmen können. Wenn das der
sionsrechte zu versteigern. Es tut mir Leid: Sie werden Fall sein sollte, wird sich in der Bundesregierung be-
gleich wieder erzählen, der Strommarkt sei noch ver- stimmt eine völlig andere Haltung zum Thema Auktio-
machtet und es gebe noch keinen Wettbewerb. Deshalb nierung entwickeln. Nur um mehr Geld im Haushalt ein-
werden die Stromkonzerne den Verbrauchern erzählen, nehmen zu können, machen wir die Auktionierung nicht
dass sie noch einmal die Preise erhöhen müssen. Herr mit. Denn wir wollen vorher wissen, von wem das Geld
Gabriel, das glauben Sie doch selbst nicht. Sie glauben kommt. Es gibt einige Menschen in Deutschland, die
(B) doch nicht, dass nach der Diskussion, die wir in den ver- weniger als ein Bundestagsabgeordneter verdienen. Für (D)
gangenen Monaten geführt haben, noch irgendein Ver- die ist die Frage, wie hoch die Energiepreise sind, eine
braucher dies den Stromkonzernen durchgehen ließe. Ich Frage, die etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat.
freue mich darüber, dass sowohl in der SPD als auch in Darum geht es in dieser Diskussion auch.
der CDU/CSU Stimmen laut werden, diese Entschei-
dung zu korrigieren. Ich muss zum Beispiel Frau Reiche, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu-
die sich damit brüstet, die Versteigerung voranzutreiben, ruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth]
sagen, dass sie das in der Koalition durchsetzen muss [FDP])
und das nicht den Kollegen Glos und Gabriel überlassen – Sie verstehen von der Frage, wie es den Menschen, die
darf. ein niedrigeres Einkommen als Sie haben, nicht sehr
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. viel. Das weiß ich.
Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay-
NEN]) reuth] [FDP]: Das ist eine Frechheit!)
Wir haben mit der Versteigerung die große Chance, – Frechheit hin oder her, Sie müssen hier das Recht der
die Stromkonzerne von ihren Windfall Profits zu befreien freien Rede akzeptieren.
und eine Umverteilung herbeizuführen. Das müsste doch
eigentlich der SPD gut gefallen. Diese Umverteilung er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
folgt von den Stromkonzernen zu den Verbrauchern, CDU/CSU – Horst Friedrich [Bayreuth]
wenn Sie das Aufkommen nutzen, um die Stromsteuer zu [FDP]: Wer die größte Steuererhöhung in der
senken. Genau das will die FDP. Wir laden Sie herzlich Geschichte macht, sollte vorsichtig sein mit
ein, diesen Weg mit uns zu gehen. solchen Äußerungen!)

Vielen Dank. – Sie haben in der Vergangenheit der Bundesrepublik


Deutschland mehr Mehrwertsteuererhöhungen mitge-
(Beifall bei der FDP) macht, als diese Regierung das jemals könnte. Dafür ist
die FDP verantwortlich.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD)
Das Wort hat der Minister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel. Ich möchte Ihnen noch etwas zu Frau Merkel sagen.
Sie sprechen hier davon, was Tony Blair alles Tolles ge-
(Beifall bei der SPD) macht hat. Dass es aber überhaupt zum Kiotoprotokoll
6188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Bundesminister Sigmar Gabriel


(A) gekommen ist, lag in der Verantwortung der damaligen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C)
Umweltministerin und heutigen Bundeskanzlerin. Das
sollten Sie der Wahrheit gemäß dann auch sagen. Sie haben sich bei Ihren Forderungen nicht einmal ge-
traut, die Hälfte von 1,4 Milliarden Euro einzuklagen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Widerspruch bei der FDP)
Herr Glos und ich haben manche Meinungsverschie- – Wo sind denn Ihre Haushaltsanträge in Höhe von
denheit. Aber bei der Exportförderung erneuerbarer 1,4 Milliarden Euro? Ich sage Ihnen, was Sie beantragt
Energien gibt es überhaupt keine Meinungsverschieden- haben. Sie haben im Haushaltsausschuss gerade bean-
heiten in der Bundesregierung. Im Hinblick auf dieses tragt, 25 Millionen Euro mehr in Marktanreizprogramme
Thema können Sie beobachten, dass wir inzwischen für erneuerbare Wärmeenergien zu investieren. Ange-
75 Prozent der Windenergieanlagen, die in Deutschland nommen wurde aber der Antrag der Koalitionsfraktionen
hergestellt werden, ins Ausland verkaufen. Das ist eine in Höhe von zusätzlichen 40 Millionen Euro im Bereich
Realität der Politik der Bundesregierung und kein Sprü- der erneuerbaren Energien.
cheklopfen im Plenum.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Herr Fell hat doch schon Pressemitteilungen über das
Versagen der Koalitionsfraktionen vorbereitet, bevor es
Ich möchte noch zu ein paar Details etwas sagen. Ich überhaupt im Haushaltsausschuss zu Beratungen des
stimme dem Kollegen Loske ausdrücklich darin zu, dass Koalitionsantrages gekommen ist. Sie schreiben Papier
es das Ziel der Politik der Bundesregierung und Europas voll. Wir sorgen dafür, dass wir im Haushalt Geld für ak-
sein muss, nach der 8-Prozent-Reduktion des CO2-Aus- tive Klimaschutzpolitik haben. Das ist der Unterschied
stoßes bis 2012 im Jahr 2020 europaweit bei 30 Prozent zwischen uns beiden.
Reduktion zu landen. Das ist die Position, die wir in den
europäischen Gremien vertreten und es ist auch die Posi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
tion im Rat der Regierungschefs. Sie wissen, dass die lo-
gische Konsequenz ist, dass Deutschland den Ausstoß Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
um 40 Prozent reduzieren muss, weil es andere Länder Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
in Europa mit einem schwächeren wirtschaftlichen Ent- Kollegen Fell?
wicklungsstand gibt, die nicht so stark reduzieren kön-
nen. Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
Wenn wir im Durchschnitt 30 Prozent erreichen wol- schutz und Reaktorsicherheit:
(B)
len, gilt Burden-Sharing und wir werden 40 Prozent da- Ausnahmsweise nicht, weil die Redezeit ohnehin fast (D)
von tragen müssen. Da gibt es überhaupt keinen Streit in zu Ende ist.
der Sache. Es ist übrigens auch Bestandteil der Koali- Ich will nur noch einige wenige Punkte nennen. Im
tionsvereinbarung, dass wir 30 Prozent erreichen wollen. Gegensatz zu Ihnen haben wir die Mittel für Forschung
und Entwicklung im Bereich erneuerbare Energien
(Josef Göppel [CDU/CSU]: So steht es auch
im Haushalt fast verdoppelt. Wir sind am Ende dieser
im Antrag! Völlig richtig!)
Legislaturperiode bei fast 100 Millionen Euro. Sie haben
Was mich stört, ist nicht die Tatsache, dass Sie schrei- vorher das Geld abfließen lassen bei der Förderung der
ben, dass wir noch mehr machen müssen. Was mich erneuerbaren Wärme in die Forschung und Entwicklung.
stört, sind Aussagen wie die von Ihrem Kollegen Fell in Wir haben in dem Bereich der Förderung erneuerbarer
der Pressemitteilung von gestern. Er schrieb, in Nairobi Wärmeenergie im Jahr 2006 insgesamt 50 Millionen
gebe sich der Umweltminister als Klimaschützer und Euro mehr als in Ihrer Regierungszeit gehabt. Wir satteln
hierzulande bediene er nur die SPD-Industrieklientel. Es jetzt 40 Millionen Euro drauf und verdoppeln die Zahl
stört mich nicht, dass Sie mich damit angreifen. der Anträge, die wir genehmigen können. Sie erklären
hier aber, die Regierungskoalition tue nichts für den Kli-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- maschutz. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis, das Sie
NEN]: Das müssen Sie aushalten, Herr Minis- sich hier selbst ausstellen.
ter!)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Mich stört vielmehr, dass damit eine Gefahr beschrieben
wird, die Herr Loske selbst genannt hat, nämlich die Ent- Wir setzen um, was im Hinblick auf die Ausrüstung
täuschung darüber, dass nicht alle Probleme gelöst wor- von Offshore-Windenergieanlagen geplant war. Sie ha-
den sind, wenn man aus Nairobi zurückkommt. Wenn ben das alles vorher debattiert; wir setzen das um.
Sie Leuten Mut machen wollen, beim Kampf um Klima- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
schutz mitzumachen, dann dürfen Sie nicht die realen Sie waren doch die Verhinderer!)
Erfolge, die es gibt, kaputt- und schlechtreden.
Anstatt zu sagen, gut, dass ihr das macht, erklären Sie
Ich nenne Ihnen ein paar Erfolge, die Sie bewusst ver- öffentlich, wir brächten nichts zustande. Ich finde, Sie
schweigen. Es ist diese Bundesregierung, die jedes Jahr sollten froh sein, dass wir die Voraussetzungen dafür
1,4 Milliarden Euro für die energetische Gebäudesa- schaffen, dass Ihre Versprechen von uns eingelöst wer-
nierung zur Senkung des CO2-Ausstoßes einsetzt. den können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6189
Bundesminister Sigmar Gabriel
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
DIE GRÜNEN]: Sie tun immer so, als hätten Kollegen Hans-Josef Fell.
Sie nicht mitregiert! Es war doch euer Wirt-
schaftsminister, der blockiert hat!) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie haben nämlich vergessen, diese Voraussetzungen zu Herr Minister, Sie haben soeben behauptet, dass Ihre
schaffen. Koalition mehr für den Klimaschutz mache, als es in den
Zeiten der rot-grünen Koalition der Fall gewesen sei.
Zum Thema Nationaler Allokationsplan. Sie haben
gemeinsam mit Sozialdemokraten dafür gesorgt, dass (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
der CO2-Ausstoß in der ersten Phase des Emissionshan- Ach, die Roten waren auch dabei?)
dels um 2 Millionen Tonnen gesunken ist. Wahrschein- Ich kann das nur zurückweisen. Es ist unter der rot-grü-
lich war mehr nicht möglich. Dank unserer Politik wird nen Regierung und vor allem durch die gemeinsame Ar-
der CO2-Ausstoß pro Jahr um mindestens 15 Millionen beit im rot-grünen Parlament nämlich sehr viel für den
Tonnen sinken. Dennoch stellen Sie sich hierhin und sa- Klimaschutz auf den Weg gebracht worden. Ich verweise
gen: Es ist aber schlimm, dass der CO2-Ausstoß in eurer nur auf die gemeinsame Arbeit mit der SPD.
Regierungszeit um mehr als das Siebenfache, verglichen
mit unserer Regierungszeit, gesenkt wird. Wo bleibt in (Zurufe von der CDU/CSU: Rot-grünes Parla-
dieser Debatte eigentlich die Glaubwürdigkeit? ment? – Holger Haibach [CDU/CSU]: Was ist
denn das für ein Demokratieverständnis?)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wer ist eigentlich „wir“?) – Die Gesetze wurden im Parlament beschlossen; deswe-
gen hat das Parlament einen sehr großen Beitrag dazu
– Frau Künast, dadurch, dass Sie dazwischenrufen, wird geleistet.
das, was Sie gesagt haben, nicht besser.
Auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz muss ich nicht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der hinweisen. Es wirkt und deswegen sind die Ausbauraten
CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ so hoch.
DIE GRÜNEN]: Sie sind ja zu feige, eine Zwi-
schenfrage zuzulassen!) Ich möchte auf Ihren Vorwurf in Bezug auf das
Marktanreizprogramm eingehen. Die große Koalition
Frau Künast, ich kann gut damit leben, dass sich ein hat gestern im Umweltausschuss einen Aufstockungsan-
grüner Abgeordneter hierhin stellt und sagt: Uns reicht trag zum Marktanreizprogramm abgelehnt, der von
(B) das alles nicht; ihr müsst mehr schaffen, als ihr euch bis- Bündnis 90/Die Grünen gestellt wurde. Im Umweltaus- (D)
her vorgenommen habt. Das kann ich gut verstehen. Ich schuss lag dazu kein Antrag der großen Koalition vor.
finde nicht in Ordnung, dass Sie sich nicht trauen, zu sa- Das habe ich kritisiert und daran halte ich fest.
gen, dass für den Klimaschutz in elf Monaten dieser Re-
Ich begrüße, dass im Haushaltsausschuss heute eine
gierungskoalition mehr erreicht wurde als jemals zuvor
Aufstockung dieser Mittel beschlossen wurde. Dies tut
in der Bundesrepublik Deutschland.
Not. Ich möchte aber betonen, dass wir eine Aufsto-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ckung um 25 Millionen Euro immer unter dem Gesichts-
CDU/CSU) punkt der Notwendigkeit eines Wärmegesetzes befür-
wortet haben. Durch ein solches Wärmegesetz könnte
Ich finde, mindestens das sollten Sie sagen, und zwar die Ablösung des in immer größere Finanznöte kom-
nicht deshalb, weil wir so besonders gut sind, sondern menden Marktanreizprogramms geregelt werden. Auf
deshalb, weil die Daten, die Herr Loske genannt hat, na- diese Weise können neue Technologien, zum Beispiel
türlich dazu führen, dass der politische Druck zur Verän- durch Erdwärme, Bioenergien und solare Energien
derung in diesem Bereich heute wesentlich stärker als – Stichwort „solare Großspeicher“ –, unterstützt werden.
früher ist.
Das Marktanreizprogramm ist bereits seit diesem
Sie sollten denjenigen, die sehr dafür kämpfen, dass Sommer gestoppt, obwohl es mit etwa 200 Millionen
es in Deutschland eine bessere Klimaschutzpolitik gibt, Euro ausgestattet ist. Nun haben Sie da um einige zig
nicht dadurch in den Rücken fallen, dass Sie alles Millionen erhöht – die Zahl ist mir noch nicht genau be-
schlechtreden, was hier gemacht wird. Ich finde, die Bi- kannt –; aber dies wird nicht ausreichen, um im kom-
lanz nach elf Monaten kann sich wirklich sehen lassen. menden Jahr den Wünschen der Bevölkerung nach
Wir sind noch lange nicht am Ende des Weges. Wir müs- Wärme aus erneuerbaren Energien entsprechen zu kön-
sen deutlich mehr schaffen; aber wir haben eine Menge nen.
erreicht. Man kann von Ihnen nur verlangen, dass Sie,
bevor Sie solche Pressemitteilungen schreiben, wenigs- Andererseits haben Sie verkündet – das ist sehr be-
tens einmal die Realitäten des Bundeshaushalts zur dauerlich –, dass Sie kein Gesetz für Wärme aus erneu-
Kenntnis nehmen. Ein Blick ins Gesetzbuch – auch das erbaren Energien auf den Weg bringen wollen. Genau
Haushaltsgesetz ist eines – erleichtert gelegentlich die das ist das Problem. Sie weigern sich, mit einem neuen
Rechtskenntnis. Wärmegesetz einen starken Ausbau dieses Bereichs auf
den Weg zu bringen. Sie schaffen es mit dem heutigen
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Beschluss noch nicht einmal, im Marktanreizprogramm
6190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Hans-Josef Fell
(A) genügend Geld für die Unterstützung der Bürger beim Sie haben offensichtlich ein massives Problem damit, (C)
Ausbau der erneuerbaren Energien zur Verfügung zu dort zu sitzen, wo Sie sitzen. Das verstehe ich. Aber las-
stellen. sen Sie mich ihm doch wenigstens antworten. Das ist
eine Frage der Fairness.
Ich möchte noch etwas zu der Unterstützung sagen,
die Sie über den Zertifikatehandel geben. So wie der Na- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tionale Allokationsplan nach Ihrem Vorschlag aussieht, NEN]: Seit wann darf man denn von der Re-
ist das eine klare Unterstützung – – gierungsbank aus kritisieren, Frau Präsiden-
tin?)
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist eine lange
Kurzintervention, Frau Präsidentin!) Ich nenne Ihnen dazu ein paar Zahlen, Herr Kollege
Fell. Allein im ERP-Förderkreditprogramm des Jahres
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 2005 standen unter den Umweltschutzprogrammen bis
zum Monat Oktober 2005 rund 1 Milliarde Euro zur Ver-
Herr Kollege Fell, Ihre drei Minuten für die Kurzin-
fügung. Im gleichen Zeitraum dieses Jahres sind unter
tervention sind um.
dieser Bundesregierung 1,7 Milliarden Euro dafür aus-
gegeben worden. Das können wir so fortführen. Es ist
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schlicht und ergreifend eine Tatsache – wir reden hier,
Ich komme zum Schluss. – Nachdem Sie das so auf wie Sie auch, über Haushaltsmittel –, dass wir wesent-
den Weg gebracht haben – so geschieht das im Moment lich mehr Geld für den Klimaschutz zur Verfügung stel-
auch schon –, finden wir landauf, landab neue Ankündi- len.
gungen für neue Kohlekraftwerke. Alle berufen sich auf
den Vorschlag zum Nationalen Allokationsplan, wie er Sie können sagen, das reiche Ihnen nicht, aber tun Sie
von Ihnen vorgelegt wurde. Wie Kohlekraftwerke zum in Ihren Pressemitteilungen doch nicht so – da finden
Klimaschutz beitragen sollen, ist mir ein Rätsel. sich Beschimpfungen, die wir sprachlich von Ihnen
sonst gar nicht gewöhnt sind –, als würde hier überhaupt
nichts passieren. Sie machen Menschen, die sich um den
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Klimaschutz kümmern, auch dadurch mutlos, dass Sie
Herr Kollege Fell, Ihre drei Minuten sind um. nicht bereit sind, zu akzeptieren, dass hier eine Menge
Herr Minister, Sie haben die Möglichkeit, zu antwor- passiert ist, dass sich die Anstrengung lohnt, dass sich
ten. Bürgerinitiativen bilden, dass in den Parteien debattiert
wird, dass wir eine öffentliche Diskussion haben und
dass das Wirkung zeigt, auch in der Regierungspolitik,
(B) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- auch in der Politik der großen Koalition. (D)
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will Sie sollten die Menschen also nicht mutlos machen,
gern auf die angesprochenen Positionen eingehen. sondern ihnen eher sagen: Wir dürfen bei den Anstren-
gungen im Klimaschutz nicht nachlassen und müssen
Erstens. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich weitermachen. Sie sollten nicht alles das, was hier in
nicht gesagt habe, unter Rot-Grün sei nichts passiert. Ich Deutschland schon passiert ist, kaputtreden.
habe vielmehr gesagt: In elf Monaten hat diese Koalition
in Sachen Klimaschutz mehr auf den Weg gebracht, als (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
das jemals zuvor geschehen ist. Das lag nicht daran Zweitens. Ich sage Ihnen noch einmal, was Sie beim
– auch das habe ich erwähnt –, dass wir an dem Thema Marktanreizprogramm für Wärme aus regenerativen
sozusagen intellektuell näher dran sind, sondern daran, Quellen zugelassen haben. Am Ende sind 2005
dass die politische Lage – Herr Loske hat die Berichte 131 Millionen Euro für Wärme aus erneuerbaren Ener-
zitiert – dazu geführt hat, dass die gesellschaftliche gien ausgegeben worden. Wenn der Haushaltsausschuss
Dynamik deutlich zugenommen hat. Das ist der Grund so beschließt, wie die Koalitionsfraktionen das beantragt
dafür, dass sich die Koalition diesem Thema wesentlich haben – ich gehe davon aus, dass das geschieht –, wer-
stärker gewidmet hat als die Vorgängerregierungen. den es nun 214 Millionen Euro. Das ist eine Differenz
Ich weiß doch auch, dass vorher andere Konstellatio- von 83 Millionen Euro. Es ist nicht ganz wenig, was da
nen verantwortlich dafür waren, dass nicht mehr getan zur Verfügung gestellt wird. Wir werden vermutlich
werden konnte. mehr als doppelt so viele Anträge wie im Vorjahr fördern
können.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Zahlen waren doch alle bekannt! Sie sollten einmal sagen: Das ist eine gute Sache, vie-
Das ist ein Armutszeugnis!) len Dank; das habt ihr gut gemacht, wir haben es nicht so
gut hinbekommen, weil die Sozis – vielleicht – nicht
– Frau Künast, Ihr Kollege hat ein paar Positionen vor- mitmachen wollten. Wenn das Ihre Auffassung ist, kön-
gestellt. Lassen Sie doch einfach zu, dass jemand ant- nen Sie das doch ruhig sagen.
wortet.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
NEN]: Gewöhnen Sie sich einfach daran, dass Herr Minister, auch Ihre drei Minuten für die Beant-
ich im Parlament Zwischenrufe machen darf!) wortung sind zu Ende.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6191

(A) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Klaus Töpfer – ich denke, er ist nicht Mitglied unserer (C)
schutz und Reaktorsicherheit: Partei –
Frau Präsidentin, letzter Satz: Zur Frage des Emis-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie müssen schon
sionshandels sage ich Ihnen das, was auch der Kollege
wissen, wer zu Ihrer Partei gehört!)
Kauch vorgebracht hat; da bin ich seiner Auffassung. Sie
können zwar die Augen davor verschließen, aber es wird nennt so etwas „ökologischen Rassismus“.
Nationen in der Welt geben, –
Die Bundesregierung will mehr Klimaschutz; dies hat
sie jedenfalls vielfach erklärt. Das wird sie sicherlich auf
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der ab Montag in Nairobi stattfindenden Klimakonfe-
Herr Minister! renz auch wieder erklären. Doch wer international punk-
ten will, sollte auch daheim seine Hausaufgaben machen
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- – Herr Göppel hat das schon ausgeführt –; denn so etwas
schutz und Reaktorsicherheit: stärkt die Verhandlungsposition.
– die Steinkohle nutzen. Dafür müssen wir Technolo-
Im Zusammenhang mit Nairobi müssen wir natürlich
gien mit höheren Wirkungsgraden und CO2-Abschei-
auch über die Vorbereitung der neuen Verpflichtungspe-
dung entwickeln; –
riode ab 2012 reden. Hier wäre es hilfreich, wenn Sie,
Herr Minister, für das Ministersegment vom Bundestag
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: in der nächsten Woche ein wegweisendes Mandat für
Herr Minister! eine ambitionierte Klimapolitik daheim bekämen. Das
würde für Sie von Nutzen sein.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
(Josef Göppel [CDU/CSU]: Das bekommt er!)
schutz und Reaktorsicherheit:
– sonst zerstören sie das Klima. Ambitionierte Klimapolitik kann für Deutschland al-
lerdings nicht bedeuten, bis 2020 lediglich 30 Prozent
Vielen Dank, Frau Präsidentin, für Ihre Geduld. weniger Treibhausgase als 1990 ausstoßen zu wollen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das ist vielleicht für die Europäische Union ein an-
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter, spruchsvolles Ziel, nicht aber für uns. Schließlich ist der
Fraktion Die Linke. Bundesrepublik fast die Hälfte der bisherigen Einsparun-
(B) gen durch den Zusammenbruch der energieintensiven (D)
(Beifall bei der LINKEN) ostdeutschen Industrie in den Schoß gefallen. Den ande-
ren europäischen Staaten dürfte das nicht entgangen
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): sein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die logische Kette ist doch so: Anspruchsvolle Ziele
Klimaschutz rechnet sich – diese Nachricht ist nicht im Kiotoprozess durchzusetzen kann nur gelingen, wenn
wirklich neu. Der Bericht von Nicholas Stern lässt an Europa eine vernünftige Vorgabe macht. Weil die Bun-
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und auch keinen desrepublik mit der kommenden Übernahme der EU-
Zweifel daran, dass verhinderter Klimaschutz irgend- Ratspräsidentschaft eine besondere Rolle in der EU-De-
wann Volkswirtschaften erdrosseln kann. Falls es noch legation spielt, haben Sie, Herr Minister, tatsächlich die
ein paar langfristig denkende Manager in Deutschland Chance, hier etwas voranzutreiben. Dafür braucht es je-
geben sollte, dann sollte dieser Bericht diese Herren, wie doch eine Verpflichtung Deutschlands, eine Reduktion
ich meine, eigentlich beunruhigen. Schließlich tritt die in Höhe von mindestens 40 Prozent zu erreichen, so wie
Klimaschutzpolitik in der Bundesrepublik seit Jahren auf wir es in unserem Antrag fordern. Dies erleichtert es den
der Stelle, abgesehen vom EEG und vom Wärmesanie- anderen Staaten Europas, sich auf das gemeinsame Ziel
rungsprogramm. Ich will damit nicht sagen, dass nichts einer Verringerung um 30 Prozent einzulassen.
passiert ist. Aber wenn Sie sich unseren Antrag an-
schauen, stellen Sie fest, dass wir die Ziele wesentlich Eine solche Verpflichtung erfordert einen grundlegen-
höher gesteckt haben. Ich denke, es könnte noch wesent- den Wandel in der Klimapolitik der Bundesrepublik. So
lich mehr passieren. Das würde im Übrigen auch Ar- kann es nicht sein, dass der Emissionshandel zwar als
beitsplätze schaffen. In diesem Bereich wünschen wir Hauptinstrument der deutschen Klimapolitik gepriesen
uns jedenfalls mehr. wird, aber es in der konkreten Ausgestaltung so aussieht,
dass jeder Kohleverstromer bei Neuinvestitionen be-
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto kommt, was er will und angeblich auch braucht. Das darf
Solms) einfach nicht sein.
Wo hakt es denn? Denken wir an die Verkehrspolitik (Beifall bei der LINKEN)
oder an das Desaster beim Emissionshandel – wieder
einmal. Hier muss noch mehr passieren, übrigens auch Wie sollen so die Preise wirken? Für einen Wechsel bei
dann, wenn das dazu führte, dass sich Klimaschutz nicht den Brennstoffen hin zu emissionsärmeren Technologien
rechnete; denn Nichtstun zerstört die Lebensgrundlagen gibt es da wenig Anreize. Zudem – das haben wir ja be-
von Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt. reits in unserem Emissionshandelsantrag im Frühsom-
6192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Eva Bulling-Schröter
(A) mer gefordert – müssen die Zertifikate versteigert wer- nicht richtig gelesen hat oder dass Sie nicht richtig glau- (C)
den und dürfen eben nicht verschenkt werden; denn wer ben wollen, was in dem Antrag steht.
den Energieversorgern zusätzliche Milliardengewinne
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
zuschustert – wir sprechen, nicht zu vergessen, über
5 Milliarden Euro –, kann auf die Lenkungswirkung von Ich glaube, es ist ein sehr guter Antrag. Ich sage das aus-
Marktpreisen beim Emissionshandel lange warten. Wir drücklich an die Unionsfraktion: Es ist ein Antrag, mit
hoffen, dass Sie, Herr Umweltminister, Ihre Position än- dem wir die Vorreiterrolle, die wir europaweit und welt-
dern und nunmehr wenigstens die Versteigerung jener weit einnehmen und einnehmen wollen, noch einmal
10 Prozent der Zertifikate zulassen. deutlich unterstreichen.
Noch einmal zum Thema „soziale Preise“, wie Sie es Gerade ist von einigen wieder deutlich formuliert
nennen. Hier sind wir natürlich anderer Meinung als die worden, dass wir uns in Deutschland zum 40-Prozent-
FDP. Wir haben Anträge eingebracht. Darin fordern wir Ziel bekennen sollten. Wir bekennen uns in unserem An-
unter anderem, dass die Gewinne in Höhe von 5 Mil- trag zu diesem Ziel. Wir beziehen uns nämlich auf die
liarden Euro abgeschöpft werden. Außerdem wollen wir, Forderung der Energie-Enquete-Kommission und haben
dass sozial Schwache unterstützt werden, weil die Ener- sie uns zu Eigen gemacht. Das steht in dem Antrag; lesen
giepreise so hoch sind. Wir wollen eben nicht, dass in Sie es bitte nach. Wir sagen: Wenn Europa die Emissio-
diesem Jahr zum ersten Mal Menschen in ihren kalten nen bis 2020 um 30 Prozent reduziert, dann sind wir be-
Wohnungen sitzen, weil sie die Preise nicht bezahlen reit, sie um 40 Prozent zu reduzieren. Ich glaube, das ist
können. Sie sollten sich überlegen, was Sie hier tun. Das eine gute Position, die die Vorreiterrolle unterstreicht und
ist nicht ökologisch und vor allem nicht sozial. dem Minister und auch der Kanzlerin Rückendeckung
für die internationalen Verhandlungen gibt.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Doch noch einmal zurück zu Nairobi. Der Klima- der CDU/CSU)
wandel ist mittlerweile Realität. Millionen Menschen
leiden bereits unter den Folgen der globalen Erwärmung. Wir erleben in der Tat gerade eine neue Dimension in
Deutschland muss daher in Nairobi die zugesagten Mit- der internationalen Klimaschutzdebatte, weil es eben
tel für den UN-Fonds zur Anpassung an den Klimawan- nicht nur – das wäre schon Grund genug – um ökologi-
del verdoppeln. Zudem würden schon ein paar Hundert- sche Aspekte geht, sondern viel stärker – der Stern-Be-
tausend Euro es vielen Ländern ermöglichen, mit am richt ist angesprochen worden – auch um ökonomische
Verhandlungstisch zu sitzen. Wir – und ich denke, auch und soziale Auswirkungen. Ich will noch einmal unter-
Sie – wollen diesen Menschen die gleichen Chancen ge- stützen, was der Minister gesagt hat: Wir müssen darauf
(B) ben. Die Zahlungen in den Fonds für die Unterstützung achten, dass wir nicht einen gewissen Fatalismus in die (D)
der Teilnahme von Verhandlern aus den ärmsten Län- Debatte bringen. Wir müssen uns sehr ambitionierte
dern der Welt müssen also deutlich erhöht werden, damit Ziele setzen; aber wir müssen aufpassen, dass wir den
auch von dort Fachleute und Dolmetscher anreisen kön- Menschen keine Angst machen. Wir müssen ihnen deut-
nen. Das ist unsere Art von Solidarität. lich machen, dass das, was wir vorhaben, auch erreich-
bar ist.
Wir haben nur eine Welt; das muss uns immer be-
wusst sein. Schützen wir sie! Darum stimmen Sie unse- Was wir im Bereich des Klimaschutzes vorhaben,
rem Antrag zu! geht an die wirtschaftlichen Grundlagen; das ist richtig.
Aber es gibt Möglichkeiten, unsere Wirtschafts- und Le-
(Beifall bei der LINKEN) bensweise entsprechend zu verändern, sodass die hohe
Lebensqualität gewahrt bleibt. Es ist unsere Aufgabe
– in Deutschland und in Europa –, ein Stück weit einen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Weg aufzuzeigen, wie man unter dem Gesichtspunkt des
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von Klimaschutzes Entwicklungen organisieren kann. Die
der SPD-Fraktion. Entscheidungen, die zu treffen sind, haben unsere Gene-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rationen zu treffen, die, die auch hier im Deutschen Bun-
der CDU/CSU) destag versammelt sind; denn alle sind sich einig, dass
wir noch zehn bis 15 Jahre Zeit haben, einen anderen
Weg einzuschlagen.
Frank Schwabe (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich bin Die Rolle Deutschlands dabei ist eine zentrale; das
sehr dankbar, dass wir diese Debatte heute hier so führen wird uns bei Gesprächen mit internationalen Partnern
können. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle sagen, dass immer wieder gesagt. Es ist nicht so, dass wir das welt-
ich auch dankbar bin für die recht hohe Übereinstim- weite Klimaproblem durch die Reduktion der Emissio-
mung, die ich in den heute vorliegenden Anträgen ge- nen in Deutschland lösen könnten; das ist schon richtig.
funden habe. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Aber wir haben die Vorreiterrolle. Es gibt einen Domi-
Rhetorik hier und der Kern der Anträge ein bisschen noeffekt. Wenn wir wollen, dass China, Indien und an-
voneinander abweichen und dass entweder der eine oder dere Schwellen- und Entwicklungsländer mit dazu kom-
die andere aus der Opposition den Koalitionsantrag men, dann muss es uns gelingen, die USA ins Protokoll
einzubeziehen. Um das zu erreichen, muss es uns gelin-
(Josef Göppel [CDU/CSU]: Nicht gelesen!) gen, Europas Vorreiterrolle zu stabilisieren. Dazu ist es
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6193
Frank Schwabe
(A) notwendig, dass sich Deutschland ambitioniert verhält. stellvertretende Leiter der deutschen Delegation war –, (C)
Deswegen ist es notwendig, dass wir uns zum 40-Pro- beeindruckender als die Fakten und die konkreten Er-
zent-Ziel bekennen. gebnisse sei etwas Unsichtbares gewesen, nämlich die
Ernsthaftigkeit und die Überzeugung, mit der alle Teil-
Der Minister hat eine ganze Menge zu der sehr span-
nehmer ans Werk gegangen sind. Man hat das damals
nenden Debatte und Auseinandersetzung mit den Grü-
den Geist von Rio genannt. Mit diesem Geist wurden
nen gesagt. Deshalb muss ich das an dieser Stelle abkür-
Dinge möglich, die für lange Zeit unerreichbar schienen.
zen. Ich will nur noch einmal ausdrücklich betonen, dass
ich diese Debatte und die Anträge gut finde. Ich kann Ich glaube, an diesen Geist müssen wir in Nairobi an-
viele meiner Positionen darin wiederfinden. knüpfen. Ich bin der Überzeugung: Die Chance dafür ist
Eine Bemerkung zur Debatte um den NAP. Man muss so groß wie schon lange nicht mehr; denn es gibt – auch
zumindest zur Kenntnis nehmen, dass der NAP II besser das ist schon gesagt worden – ein neues Bewusstsein auf
ist als der NAP I. diesem Gebiet. Die neuen Studien, die über die ökologi-
schen Entwicklungen Auskunft geben, aber auch die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Studien, die die ökonomische Tragweite des Klimawan-
CDU/CSU) dels zeigen, führen in breiten Bevölkerungsschichten
Das sagen uns auch die Fachleute, die die Grünen bera- und in vielen Ländern der Welt zu der Erkenntnis: Es
ten. Die Forderungen, die vonseiten der FDP gestellt muss gehandelt werden. – Ich glaube, das muss der Aus-
werden, sind sehr interessant. Ich frage mich aber, ob die gangspunkt sein.
FDP auch nur die Hälfte dieser sehr mutigen Positionen
Was haben wir in den letzten 14 Jahren erreicht? Es
vertreten würde, wenn sie in der Regierung wäre.
gab sicherlich Fortschritte; wir sind Schritt für Schritt
(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Noch vorangekommen. Trotzdem muss auch heute gelten: Es
mehr! Testen Sie es doch!) müssen Dinge möglich werden, die bisher unmöglich
schienen; denn eines ist noch nicht gelungen: der Durch-
Ich glaube, das ist nicht der Fall.
bruch. Wenn man die Zahlen nüchtern betrachtet, dann
(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Geben Sie kann man feststellen, dass es einen Anstieg der Treib-
uns doch eine Chance! Lassen Sie sich überra- hausgasemissionen gibt und dass sich die Temperaturer-
schen!) wärmung beschleunigt. Jetzt ist die Zeit, zu handeln. Wir
müssen den Rückenwind nutzen, indem wir die Erkennt-
Man muss schon darauf achten, aus welcher Position
nisse, die wir in der Zeit nach Rio gesammelt haben, ver-
Forderungen, manchmal populistische Forderungen, ge-
werten. Welches sind diese Erkenntnisse? Heute ist
stellt werden. Das soll aber nicht heißen – auch das will
(B) völlig unbestritten – das war lange Zeit unter Wissen- (D)
ich betonen –, dass es keine Debatten im Rahmen des
schaftlern ein Streitpunkt –: Erstens. Es gibt einen Kli-
ZuG geben soll. Wir werden eine entsprechende Diskus-
mawandel. Zweitens. Dieser Klimawandel ist von Men-
sion führen.
schen gemacht. Drittens. Dieser Klimawandel spielt sich
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. nicht weit weg von uns ab. Es sind nicht nur die Südsee-
inseln und andere ferne Regionen betroffen. Der Klima-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
wandel ist bei uns angekommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Jung von der
CDU/CSU-Fraktion. Ich kann das sehr direkt verfolgen. Für meine Heimat,
die Bodenseeregion, gibt es neue Studien, die belegen,
(Beifall bei der CDU/CSU) dass diese Region besonders betroffen sein wird. Es wird
neue Tier- und Pflanzenarten geben, die das Ökosystem
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): gefährden. Landwirte und speziell Obstbauern werden
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es auf neue Sorten, die dürreresistenter sind, umsteigen
sind im Laufe der Debatte schon etliche Klimakonferen- müssen, wenn der Klimawandel fortschreitet. Auch die
zen genannt worden. Dazu gehört natürlich die Konfe- Hochwassergefahr wird drastisch steigen.
renz von Kioto. Josef Göppel hat auf seine Teilnahme an
den Konferenzen von Montreal und Buenos Aires hinge- All das zeigt uns: Wir müssen jetzt handeln; die Zeit
wiesen. drängt. Wenn wir das Zwei-Grad-Ziel erreichen wollen
– das ist schon genannt worden –, nämlich keine Erwär-
Die erste Konferenz, die der Ausgangspunkt für diese mung, die höher liegt als 2 Grad gegenüber dem vorin-
Entwicklung gewesen ist, war die Konferenz von Rio dustriellen Niveau, dann schließt sich das Zeitfenster in
im Jahre 1992, also vor 14 Jahren. Dort ist es zum ersten zehn bis 15 Jahren. Deshalb müssen wir handeln, bevor
Mal gelungen, einen weltweiten umweltpolitischen Kon- es zu spät ist. Ich finde es daher ausgesprochen gut, dass
sens herzustellen und für die Erreichung der Ziele Nach- wir uns in unserem Koalitionsantrag, der – da stimme
haltigkeit, Klimaschutz und Umweltentwicklung einen ich dem Kollegen Schwabe zu – ausgesprochen ambitio-
konkreten Handlungsrahmen vorzugeben. Die Teilneh- niert ist, dazu bekennen, dass dieses Ziel international
mer an dieser Konferenz sagten – ich habe heute noch verbindlich werden muss.
mit meinem Vorgänger als Abgeordneter für den Wahl-
kreis Konstanz, Hans-Peter Repnik, gesprochen, der der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
6194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Andreas Jung (Konstanz)


(A) Aus all diesen Gründen kommt der Konferenz von sagen: Wir waren in der Vergangenheit gut. Wir waren (C)
Nairobi eine entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen vielleicht Vorreiter, jetzt aber sind die anderen dran.
den Grundstein für ein anspruchsvolles und ehrgeiziges
Klimaregime für die Zeit nach 2012 legen. Auch hier Deshalb ist es richtig, wenn wir fordern, dass die Eu-
müssen wir sagen: Die Zeit drängt. Wir müssen jetzt ropäische Union ihre Zielvorgabe einer 30-prozentigen
handeln, damit dies rechtzeitig gelingt. Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020 ein-
halten muss. Dann aber müssen wir selber bereit sein,
Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass die Bun- mehr zu erreichen. Wir bekennen uns in unserem Antrag
desregierung den Klimaschutz im Rahmen der Präsi- ganz ausdrücklich zu unseren Enquete-Kommissionen
dentschaften in der G 8 und im Europäischen Rat als he- zu den Themen Energie und Klima, die zu dem Schluss
rausragendes Thema bezeichnet. Auch dazu bekennen gekommen sind, dass wir in Deutschland erheblich über
wir uns in dem Antrag. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Vorgabe der EU hinausgehen müssen. Als Hausnum-
sich sowohl die Bundeskanzlerin als auch Minister Gab- mer wurde ein Prozentsatz genannt, der von allen Red-
riel immer dazu bekannt haben. Herr Kollege Kauch, es nern hier als richtig empfunden wurde: eine Reduktion
ist sicherlich ein netter Versuch, es so darzustellen, als der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent.
wäre Blair der Treiber und Merkel die Getriebene. Mi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
nister Gabriel hat das Notwendige dazu gesagt. Im Übri- des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/
gen kann es mich nicht wirklich überzeugen, wenn Sie in DIE GRÜNEN])
Ehrfurcht darauf verweisen, dass Tony Blair zu Schwar-
zenegger gefahren sei, um ihn von der Notwendigkeit Ich glaube, in diese Richtung muss es gehen. Wir müs-
des Klimaschutzes zu überzeugen. Ich denke, wenn wir sen Vorreiter bleiben. Wir wissen, dass der Weg dahin
etwas erreichen wollen, dann wird man wohl zu Bush nicht einfach sein wird; wir müssen uns anstrengen.
fahren müssen, und das wird Angela Merkel tun.
Ich beziehe mich dabei auf die Maßnahmen im In-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- land, die Josef Göppel genannt hat, auf die Effizienzre-
neten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ volution. Hier haben wir sicherlich viel geleistet; Minis-
DIE GRÜNEN]: Der hat doch gar keine Mehr- ter Gabriel, Josef Göppel und andere haben darauf
heit mehr!) hingewiesen. Wir müssen aber noch mehr machen. Ich
glaube, wir sind hier auf einem guten Weg. Ich wünsche
Die entscheidende Aufgabe für die Zeit nach 2012 mir, dass wir uns in Deutschland, aber auch im internatio-
wird es sein, Lösungen für diese Fragen zu finden: Wie nalen Prozess auf das zurückbesinnen, was ich zu Be-
gelingt es, die USA und Schwellen- und Entwicklungs- ginn genannt habe: den Geist, der Unmögliches möglich
(B) länder in diesen Prozess einzubeziehen? Wie gelingt es, macht. Darauf zähle ich. (D)
diejenigen zum Mitmachen zu bewegen, die bisher au-
ßen vor stehen? – Dabei kommt den USA als größtem Herzlichen Dank.
Emittenten, auch mit dem weltweit höchsten Pro-Kopf- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
Ausstoß an Treibhausgasen die Schlüsselrolle zu. Es des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/
muss gelingen, deutlich zu machen, dass es hier viel- DIE GRÜNEN])
leicht um die entscheidende Herausforderung des
21. Jahrhunderts geht, und zwar ökologisch, ökonomisch
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und humanitär betrachtet. Meine persönliche Auffassung
ist die: Es muss vermittelt werden, dass kein Staat der Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
Welt auf Dauer als globale Führungsmacht akzeptiert erteile ich dem Kollegen Marco Bülow von der SPD-
werden kann, der sich in der Frage des Klimaschutzes Fraktion das Wort.
verweigert. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Marco Bülow (SPD):
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will mit einem
Ich meine, das ist die Aufgabe des Klimaschutzprozes- Auszug aus einer französischen Kindergeschichte begin-
ses unter deutscher Präsidentschaft. nen, die zeigt, wie die Situation im Augenblick ist:
Der zweite Schritt ist, Schwellen- und Entwick- In einem Gartenteich wächst eine Lilie, die jeden
lungsländer einzubeziehen. Ich nenne hier China, In- Tag auf die doppelte Größe wächst. Innerhalb von
dien, Brasilien, Mexiko, Südafrika und andere Länder, dreißig Tagen kann die Lilie den ganzen Teich be-
die wirtschaftlich aufschließen. Wir müssen diese Län- decken und alles andere Leben in dem Wasser ersti-
der in Sachen Umweltschutz an Bord holen; sonst wird cken. Aber ehe sie nicht mindestens die Hälfte der
es nicht gelingen, den Anstieg der Treibhausgasemissio- Wasseroberfläche einnimmt, erscheint ihr Wachs-
nen aufzuhalten. Aber, ich bekenne mich hier ausdrück- tum nicht beängstigend; es gibt ja noch genügend
lich dazu und ich bin dankbar, dass wir dies in unserem Platz, und niemand denkt daran, sie zurückzu-
gemeinsamen Antrag ebenfalls getan haben: Andere zu schneiden, auch nicht am 29. Tag; noch ist ja die
überzeugen und mit ins Boot zu holen wird nicht gelin- Hälfte des Teiches frei. Aber schon am nächsten
gen, wenn wir uns selber auf Erreichtem ausruhen und Tag ist kein Wasser mehr zu sehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6195
Marco Bülow
(A) Ich glaube, das verdeutlicht die Situation, die derzeit in stellen; denn die ökonomischen Auswirkungen sind (C)
Bezug auf den Klimawandel besteht. Viele denken, wir frappant. Sie werden uns einholen.
haben noch genug Zeit und noch sind die Auswirkungen
nicht so schlimm, dass man in dieser Welt nicht mehr le- Die Wirtschaft wird unter hohen Energiepreisen und
ben kann. Deswegen glauben wir, dies gehe so weiter. den Katastrophen, die in einzelnen Bereichen über uns
Ich weiß zwar, dass das Gott sei Dank nicht mehr alle hereinbrechen werden, zu leiden haben. Sie wird zahlen
glauben; das zeigen die vorliegenden ambitionierten An- müssen. Nicht nur die Versicherer, sondern mittlerweile
träge. Aber wir haben diese Diskussion auch auf interna- auch immer mehr Beratungsagenturen – man sieht da-
tionaler Ebene zu bestehen. ran, wie wichtig dieses Thema wird – warnen vor dem
Klimawandel und weisen darauf hin, wie sich die Situa-
Täglich gibt es neue Meldungen und Studien, die be- tion entwickeln wird, wenn wir heute investieren.
stätigen, wie schlimm die Situation ist. Es gibt eine Deutschland und Europa müssen nicht nur eine Füh-
wachsende Erkenntnis. Jetzt ist es höchste Zeit, diese rungsrolle übernehmen, weil es wichtig ist, die anderen
wachsende Erkenntnis auf nationaler und internatio- Staaten mitzuziehen, sondern auch deswegen, weil sich
naler Ebene in konkrete Handlung umzusetzen. Das dies ökonomisch auszahlen wird. Denn diejenigen, die
muss an vorderster Stelle stehen. im Rahmen der Klimadebatte vorangehen werden, wer-
den diejenigen sein, die die Vorteile einheimsen. Dieje-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nige Volkswirtschaft, die sich auf den Klimawandel ein-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE stellt und nicht nur die entsprechende Technologie
GRÜNEN) verkauft, wird die wenigsten Auswirkungen ökonomi-
scher Art zu erwarten haben.
Ich bin sehr froh – das ist deutlich gemacht worden –,
feststellen zu können, dass wir an manchen Stellen vo- Wir müssen deshalb die Vorreiterrolle übernehmen
rangekommen sind. Ich meine das Gebäudesanierungs- und vor dem 29. Tag am Gartenteich handeln, sodass wir
programm und das Marktanreizprogramm. Ich glaube, den 30. Tag noch erleben und dieser Gartenteich sowohl
dass das der richtige Weg ist und dass weitere Pro- Lilien hat als auch Fische in ihm herumschwimmen und
gramme in anderen Bereichen folgen müssen. Aber wir wir ökonomisch weiter handlungsfähig bleiben.
müssen auch auf internationaler Ebene vorankommen;
denn wir wissen, dass wir nur so eine Chance haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Herr Kauch, Sie haben hier zwar großes Engagement (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
an den Tag gelegt; ich nehme es Ihnen auch ab. Aber bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
nehmen wir einmal an – Gott sei Dank ist es nicht so ge- DIE GRÜNEN)
(B) kommen –, Westerwelle wäre Außenminister geworden. (D)
Ich sehe schon, wie er als Erstes in die USA gereist wäre Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und für den Klimaschutz gekämpft hätte. Das wäre si- Ich schließe die Aussprache.
cherlich ein Außenminister gewesen, der alles in die
Waagschale geworfen hätte, damit wir in Deutschland Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Klimaschutz vorantreiben können. Ehrlich gesagt, den Drucksachen 16/3026 und 16/3051 an die in der Ta-
ich kann dies kaum glauben und wahrscheinlich glauben gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
es die meisten draußen auch nicht. Die Vorlage auf Drucksache 16/3283 zu Tagesordnungs-
punkt 8 a soll zur federführenden Beratung an den Aus-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss,
DIE GRÜNEN) den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Aus-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie an
Aber es ist ja schön, wenn die FDP uns ein bisschen den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
treibt. Ich habe nichts dagegen. Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun-
Es gibt immer noch Dinosaurier, die es zu überzeugen
gen so beschlossen.
gilt. Einer wurde genannt – Bush –, aber es gibt noch
mehr. Deswegen geht es jetzt nicht darum, dass er nicht Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
mehr den Einfluss hat, den er noch vor den Kongress- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
wahlen hatte. Es gibt aber nicht nur Dinosaurier, sondern heit, zur Drucksache 16/898. Der Ausschuss empfiehlt
auch Faultiere, und zwar diejenigen, die wissen, dass ein unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
Klimawandel kommt, dies aber verschweigen oder ver- des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
drängen wollen. Auch diese müssen wir überzeugen 242 mit dem Titel „Klimaschutz-Offensive 2006“. Wer
oder, falls dies nicht gelingt, zumindest an den Rand stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
drängen und unser Engagement in den Mittelpunkt stel- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
len. angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Linken bei Enthaltung des Bündnisses 90/
Die Debatte, die wir hier führen, ist keine Umweltde- Die Grünen und Gegenstimmen der FDP-Fraktion.
batte mehr, auch wenn sie im Umweltbereich geführt
wird. Es handelt sich längst um eine ökonomische und Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
soziale Debatte. In diesen Mittelpunkt müssen wir sie der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
6196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/59 Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C)
mit dem Titel „Den Klimawandel wirksam bekämpfen – desminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Deutschland muss Vorreiter bleiben“. Wer stimmt für Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- Kollegen! Der Gesetzentwurf, über den wir heute ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen scheiden, ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Städte als Wirtschaftsstandorte und als Orte des Woh-
Stimmen der Fraktionen Die Linke und des nens, des Lebens und des Arbeitens. Insbesondere in den
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP- Städten und Gemeinden konzentrieren sich die Heraus-
Fraktion. forderungen, die sich aus dem wirtschaftlichen und de-
mografischen Wandel ergeben. Die Siedlungsentwick-
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf lung muss sich deshalb wieder stärker auf die
Drucksache 16/3197 zu dem Antrag der Fraktion des Innenstädte, auf die Wiederherstellung und Sicherung
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Kfz-Steuer funktionsfähiger, urbaner Stadtzentren und Stadtquar-
klimafreundlich reformieren – CO2-Ausstoß und Ver- tiere konzentrieren.
brauch als Bemessungsgrundlage“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2073 abzulehnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Auch der Arbeitsmarkt profitiert von einer weiteren Er-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung leichterung von Investitionen.
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen des Dieses Gesetz ist für die Planung in den rund
Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion 13 000 Städten und Gemeinden in unserem Land von
Die Linke. großer Bedeutung. Die Planungspraxis wird durch die
neuen Regelungen spürbar erleichtert und vor allen Din-
Zusatzpunkt 5. Abstimmung über den Antrag der Frak- gen beschleunigt. Investitionen werden zunehmend in
tionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache die Innenstädte gelenkt. Die Formel für das Städtebau-
16/3293 mit dem Titel „Die Zeit nach dem Kyoto-Proto- recht lautet künftig: schnelle und konzentrierte Verfahren
koll gestalten – entschieden dem Klimawandel entge- bei Investitionsvorhaben zur Stärkung der Innenentwick-
gentreten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim- lung, Verfahren nach den allgemeinen Anforderungen
men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen mit und mit förmlicher Umweltprüfung dagegen insbeson-
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- dere bei Vorhaben auf der grünen Wiese. Das vereinfacht
men der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/ Investitionen innerhalb der Städte und Gemeinden und
Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion. vermeidet Flächenverbrauch – und das ist gut so.
(B) (D)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Kernpunkt ist, dass es jetzt ein Verfahren zur
zur Erleichterung von Planungsvorhaben für beschleunigten Bebauungsplanung gibt. Dafür sorgen
die Innenentwicklung der Städte eine konzentrierte Öffentlichkeits- und Behördenbeteili-
gung, der Verzicht auf eine förmliche Umweltprüfung
– Drucksachen 16/2496, 16/2932 – mit umfangreichen Formalien und die Möglichkeit, ge-
gebenenfalls auch ohne vorhergehende Prüfung, Ände-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- rungen des Flächennutzungsplanes vorzunehmen.
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(15. Ausschuss) Was die Berücksichtigung der Belange der Umwelt
angeht: Es bleibt dabei, dass die Umweltauswirkungen
– Drucksache 16/3308 – eines Vorhabens zu berücksichtigen sind. Außerdem ist
es wohl unbestritten, dass es der Umwelt nutzt, wenn wir
Berichterstattung: im Innen- und nicht im Außenbereich bauen.
Abgeordnete Heidrun Bluhm
Es gibt weitere Verbesserungen durch dieses Gesetz:
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des die Schaffung und Sicherung der für die verbraucher-
Bündnisses 90/Die Grünen vor. nahe Versorgung bedeutsamen zentralen Versorgungs-
bereiche; das ist auch im Interesse einer Stärkung der
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Innenstädte. Darüber hinaus soll die Sicherung und Ent-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wicklung der zentralen Versorgungsbereiche jetzt aus-
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. drücklich in den bei der planerischen Abwägung zu be-
Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die rücksichtigenden Belangekatalog aufgenommen werden.
an der Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Saal zu Das ist übrigens ein Ergebnis des Praxistests, auf den ich
verlassen, damit die anderen den Ausführungen folgen gleich noch zu sprechen komme. Der Abschluss von Sa-
können. – Als erstem Redner erteile ich dem Parlamen- nierungsverfahren wird erleichtert und beschleunigt. Die
tarischen Staatssekretär Achim Großmann für die Bun- Praktikabilität des Vorhaben- und Erschließungsplans
desregierung das Wort. wird zur Stärkung der Innenentwicklung erhöht. Im Inte-
resse der Rechtssicherheit werden schließlich die Fristen
(Beifall bei der SPD) zur Geltendmachung von Fehlern der Bebauungspläne
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6197
Parl. Staatssekretär Achim Großmann
(A) und die Fristen für Normenkontrollverfahren generell Patrick Döring (FDP): (C)
auf ein Jahr verkürzt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-
nächst möchte ich, ich denke, im Namen aller Kollegen
In den Ausschussberatungen ist eine allgemeine Öff- des Hauses, sagen: Herr Kollege Großmann, nach einer
nungsklausel für Business-Improvement-Districts hin- etwas längeren Auszeit sind Sie wieder voll im Gefecht
zugekommen. Grundlage der BIDs, wie man sie abge- und halbwegs auf dem Damm. Gute Besserung weiter-
kürzt nennt, sind Eigeninitiative und Selbstverpflichtung hin! Schön, dass Sie wieder mit uns streiten und disku-
der Grundeigentümer und Gewerbetreibenden mit dem tieren können, auch im Haushaltsausschuss dann.
Ziel, den lokalen Standort aufzuwerten. In einigen Bun-
desländern bestehen hierzu bereits gesetzliche Regelun- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
gen. Wir stellen im Städtebaurecht des Bundes klar, dass CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/
solchen Aktivitäten der Landesgesetzgeber nichts entge- DIE GRÜNEN)
gensteht.
Wenn man Bauen und Planen im Innenbereich einer
Ich möchte mich angesichts meiner Stimmlage – Sie Stadt oder einer Gemeinde beschleunigen und verbessern
hören schon: Ich krächze ein wenig – ein bisschen kürzer will, muss man den Innenbereich gegenüber dem Au-
fassen. Wir haben uns schon in der ersten Lesung sehr ßenbereich privilegieren. Das wird mit diesem Gesetz für
sachbezogen unterhalten. Ich bedanke mich bei allen, die Planungsvorhaben bis 20 000 Quadratmeter und, in ei-
mitgearbeitet haben, bei Frau Weis und Herrn Götz. nem zweiten Schritt, bis 70 000 Quadratmeter möglich.
Aber auch Herr Döring, Herr Hettlich und Frau Bluhm Das ist gut für die betroffenen Kommunen. Deshalb fin-
haben sich redlich Mühe gegeben. Wir haben in vielen det dieses Gesetz die Unterstützung der FDP-Fraktion.
Fällen Konsens hergestellt. Auch wenn wir heute keinen Wir haben in den Diskussionen und in der Berichterstat-
einstimmigen Beschluss bekommen werden, glaube ich, terrunde einige Nachbesserungen erreichen können, ins-
es hat sich gelohnt. Ich bedanke mich natürlich auch bei besondere was die zentralen Versorgungsbereiche be-
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Hauses trifft.
und ganz besonders bei den Städten Bocholt, Bochum, Damit können auch hierfür zusätzliche beschleunigte
Forst, Freising, Leipzig und Reutlingen, die im Rahmen Planungen vorgenommen werden. Das ist ein gutes Si-
des vom Deutschen Institut für Urbanistik betreuten Pra- gnal für all diejenigen, die wissen, dass Menschen sich nur
xistests einen sehr wichtigen Beitrag geleistet haben. dann in den Innenbereichen unserer Kommunen ansie-
Die kommunalen Spitzenverbände haben dieses Ge- deln, wenn sie nicht auf die grüne Wiese fahren müssen,
setz ausdrücklich begrüßt. Auch Anregungen von ihnen um eine Kiste Wasser oder ein Pfund Butter zu kaufen,
und vonseiten der Länder sind in das Gesetzgebungsver- sondern diese Versorgung auch in ihrer unmittelbaren
(B) fahren eingeflossen. Nähe sicherstellen können. (D)
Ich muss noch erläutern, warum meine Anwesenheit (Beifall bei der FDP)
auf der Regierungsbank nur noch Minuten dauern kann: Wer vitale Städte haben will, der muss vermeiden,
Als ich zum Rednerpult gekommen bin, habe ich gehört, dass die Städte ausfransen. Den Ausfransungstendenzen
dass ausgerechnet jetzt – nachdem ich ungefähr sieben wird mit diesem Gesetz begegnet. Das ist gut und auch
Stunden gewartet habe – im Haushaltsausschuss der Ein- das unterstützen wir. Deshalb ist der Bürokratieabbau,
zelplan 12 aufgerufen wird. Das heißt, andere Stellen die Verfahrensverschlankung, die hier vorgeschlagen
des Parlaments sind der Meinung, ich solle schnell he- wird, ein richtiger Schritt. Es war bemerkenswert, dass
rüberkommen. Hier sitzen aber auch Staatssekretär die Kommunen, die das in dem Planspiel vorbereitet ha-
Lütke Daldrup, der sehr intensiv an diesem Verfahren ben, das weitestgehend unterstützen.
mitgearbeitet hat, und die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter unseres Hauses. Sie können also sicher sein, dass Ich will nicht verhehlen, dass wir als Freie Demokra-
wir Anregungen und Kritik, aber hoffentlich auch Lob ten uns an einer Stelle noch mehr gewünscht hätten.
von Ihnen sehr wohl zur Kenntnis nehmen werden. Ursprünglich hatte die Bundesregierung vorgesehen,
mithilfe einer so genannten Genehmigungsfiktion Bau-
Ich danke für die Aufmerksamkeit. anträge, die aufgrund eines beschleunigt erstellten B-Pla-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nes gestellt werden, nach Ablauf einer Frist als geneh-
der CDU/CSU) migt anzusehen, wenn die Kommune nicht widerspricht.
Es war nicht verwunderlich, dass die Kommunen diese
Regelung im Planspiel nicht schön fanden. Bauverwal-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tungen finden es in der Regel nicht gut, wenn sie nicht
Herr Staatssekretär, es bleibt zu erwähnen, dass das mehr genehmigen müssen und etwas automatisch geneh-
Plenum auch vor dem hohen Haushaltsausschuss Vor- migt wird. Das liegt in der Natur der Sache. Da denken
rang hat. Wenn Sie hier vonnöten sind, können Sie natür- sie auch in Stellenkegeln.
lich nicht in den Haushaltsausschuss gehen.
Ich glaube aber, dass wir die Idee der Genehmigungs-
(Ute Kumpf [SPD]: Dann gibts kein Geld!) fiktion auch bei anderen Themen noch einmal stärker
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der aufgreifen sollten. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen,
FDP-Fraktion. ob wir es im Rahmen des Bürokratieabbaus nicht auch in
diesem Bereich schaffen können, bei Anträgen, die auf
(Beifall bei der FDP) der Grundlage geltenden Rechts gestellt werden, zu
6198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Patrick Döring
(A) einer automatischen Genehmigung zu kommen. Ich Zur Verminderung der Flächeninanspruchnahme (C)
denke, das wäre ein Bürokratieabbau, der den Namen und zur Beschleunigung wichtiger Planungsvorha-
auch verdient hätte. ben, vor allem in den Bereichen Arbeitsplätze,
Wohnbedarf und Infrastrukturausstattung, werden
(Beifall bei der FDP) wir das Bau- und Planungsrecht für entsprechende
Dieser eine Aspekt, der sich nicht durchsetzen ließ, Vorhaben zur Stärkung der Innenentwicklung ver-
weil die Beteiligten noch nicht so weit sind, führt aber einfachen und beschleunigen.
nicht dazu, dass wir das Gesetz ablehnen. Wir werden es Wir werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen
unterstützen. Von dieser Stelle aus sage ich auch ganz erhalten und wenn nötig ausbauen, um die Innen-
deutlich: Die Städte und Gemeinden, die Kommunen, städte als Einzelhandelsstandorte zu erhalten sowie
sind jetzt am Zug. Sie müssen beschleunigt planen wol- um die lokale Ökonomie und die Nutzungsvielfalt
len. Ich wäre dankbar, wenn wir in vielleicht zwei oder zu stärken.
drei Jahren einen Bericht von der Bundesregierung er-
halten könnten, aus dem hervorgeht, wie oft dieses be- Heute können wir Vollzug melden. Wir haben unser Ziel
schleunigte Planen im Innenbereich der Städte Anwen- bereits im ersten Regierungsjahr dieser Koalition er-
dung gefunden hat, ob es Schwerpunkte in gewissen reicht.
Kommunen gibt
Lassen Sie mich Ihnen, den Kolleginnen und Kolle-
(Vor den Abgeordnetenbänken fliegt ein gen in diesem Hause, im Namen meiner Fraktion Danke
Insekt) sagen. Auch danke ich den Planspielgemeinden. Sie ha-
ben durch ihre Mitwirkung einen maßgeblichen Anteil
– die Motte fühlt sich hier bei uns auch ganz wohl – an der zügigen Beratung und an der Qualität dieses Ge-
(Heiterkeit bei Abgeordneten aller Fraktionen) setzentwurfes. So war es möglich, frühzeitig und in en-
ger Zusammenarbeit mit den Kommunen Probleme zu
und ob diejenigen, die beschleunigt geplant haben, bei lösen und Defizite auszuräumen. Uns allen empfehle ich,
der Umsetzung wichtiger infrastruktureller Vorhaben in die im Bau- und Planungsrecht seit Jahrzehnten be-
ihrer Stadt am Ende tatsächlich auch den Beschleuni- währte Tradition der vorbereitenden Planspiele auch in
gungseffekt erzielt haben, den wir uns von diesem Ge- Zukunft fortzuführen. Schließlich danke ich auch Ihnen,
setz versprechen. Vielleicht ist das dann ein weiterer Herr Staatssekretär Großmann – schön, dass Sie noch
Einstieg, um auch andere Maßnahmen des Bürokratieab- hier sind –, Ihrem Kollegen, Herrn Lütke Daldrup, und
baus im Baubereich anzugehen. – So weit zu dem Gesetz den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Hauses für
zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innen- die sehr konstruktive Zusammenarbeit bei den verschie-
(B) entwicklung der Städte. denen Beratungen bis zum heutigen Tage. (D)

Theodor Heuss hat einmal gesagt: Ohne starke Städte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ist kein Staat zu machen. der SPD)
(Stephan Hilsberg [SPD]: Recht hat er!) Wir schaffen mit diesem Gesetz neue Handlungs-
spielräume für die Länder, für die Kommunen und für
Wir haben uns an diesem Wort orientiert. Recht hat er. private Investoren. Wir schützen durch Stärkung der
Deshalb geht es in diesem Bereich weitestgehend Hand Innenentwicklung den Außenbereich und damit Natur
in Hand weiter. und Umwelt. Wir bauen massiv Bürokratie ab. Wir er-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. leichtern Investitionen, vor allem wenn es um die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen und innerstädtischem Wohn-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie raum oder um die Infrastrukturausstattung geht. Wir
bei Abgeordneten der SPD) stärken die Urbanität der Städte und Gemeinden. Und
wir geben den Kommunen neue Instrumente an die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hand, damit sie sich mit ihren Planungen verstärkt und
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der leichter als bisher auf die Innenstädte konzentrieren und
CDU/CSU-Fraktion. damit Flächen außerhalb der Siedlungen schonen kön-
nen.

Peter Götz (CDU/CSU): Wir alle wissen: Es ist wesentlich einfacher, auf der
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe grünen Wiese ein neues Baugebiet auszuweisen, als im
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter Innenbereich zusammen mit sehr vielen anderen Betei-
und dritter Lesung abschließend über das Gesetz zur Er- ligten Planungen anzugehen. Deshalb war und ist es
leichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwick- richtig, dass wir es den Gemeinden künftig ermöglichen,
lung der Städte und entscheiden nachher darüber. Damit für die Innenentwicklung Bebauungspläne zu schaffen,
haben wir ein weiteres wichtiges Ziel dieser Koalition die in einem vereinfachten und beschleunigten Verfahren
erreicht. aufgestellt werden können. Schnelle, unbürokratische
Verfahren im innerstädtischen Bereich müssen in Zu-
Im Koalitionsvertrag steht unter der Überschrift kunft im Wettbewerb mit Bebauungsplanverfahren auf
„Stadtentwicklung als Zukunftsaufgabe“ unter anderem der grünen Wiese die Gewinner von Investitionsent-
– ich zitiere –: scheidungen sein.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6199
Peter Götz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ziel erreicht, dass Bürgerschaft und Immobilienwirt- (C)
bei Abgeordneten der FDP) schaft in die städtebaulichen Entscheidungen der Kom-
munen stärker einbezogen werden können.
So verbessern wir die Möglichkeit zur schnellen
Schaffung von Arbeitsplätzen und schützen gleichzeitig Lassen Sie mich noch einige Punkte ansprechen, die
die Umwelt. Deshalb ist es verantwortbar und richtig, uns wichtig sind. Wir haben eine weitere Anregung aus
dass wir bei der Innenentwicklung auf eine formelle Um- dem durchgeführten Praxistest aufgegriffen und die Er-
weltverträglichkeitsprüfung mit dem damit verbundenen haltung und Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche
aufwendigen Verfahren einschließlich der Erstellung ei- neu als Belang der Bauleitplanung benannt. Die Verbes-
nes Umweltberichts verzichten, zumal europarechtlich serung einer verbrauchernahen Versorgung ist vor allem
dazu keinerlei Notwendigkeit besteht. Es ist auch richtig, für ältere Menschen von Bedeutung.
bei innerörtlichen Projekten unter bestimmten Vorausset- Wir schaffen für die Kommunen wesentliche Erleich-
zungen auf einen naturschutzrechtlichen Ausgleich zu terungen beim Abschluss und der Abrechnung von
verzichten. Ein naturschutzrechtlicher Ausgleich macht Sanierungsverfahren. Vereinfachte Abrechnungsrege-
im Außenbereich Sinn. Aber innerörtlich ist diese Forde- lungen befreien die Städte und Gemeinden von überflüs-
rung schwer nachvollziehbar. siger Bürokratie. Die im bestehenden Recht vorhandene
Wir sollten alles tun, um unsere Innenstädte und Orts- Pflicht der Gemeinden, ihre Flächennutzungspläne alle
kerne zu stärken. Vor dem Hintergrund der demografi- 15 Jahre überprüfen zu lassen, wird ersatzlos gestrichen.
schen Entwicklung müssen wir uns mehr denn je auf die Wir sind der festen Überzeugung, dass die Kommu-
Belebung der innerörtlichen Brachflächen – ob Indus- nen sehr wohl in der Lage sind, eigenverantwortlich zu
trie-, Bahn-, Post- oder Konversionsbrachen – konzen- beurteilen, ob und wann sich ihre Stadtentwicklung ver-
trieren. Wir wollen, dass eine Renaissance pro Innen- ändert. Sie können das mit Sicherheit besser beurteilen
stadt entsteht. Innenentwicklung und Nachverdichtung als wir von Berlin aus. Dazu bedarf es keiner gesetzli-
durch kleinteilige Ergänzungen im Siedlungsbestand chen Regelung und Gängelung.
bieten erhebliche Kostenvorteile gegenüber Siedlungs-
entwicklungen und sind ökologisch und ökonomisch Mit der Streichung der Überprüfungspflicht für Flä-
sinnvoller. chennutzungspläne werden den Kommunen unnötige
Kosten erspart. Gleichzeitig wird auch hier überflüssige
Die Kunst besteht darin, Antworten auf die folgenden Bürokratie abgebaut.
Fragen zu finden: Wie können wir ohne Geld des Steuer-
zahlers die Innenstädte, aber auch Stadtteilzentren und Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir schaf-
Dörfer als Orte sozialer und kultureller Begegnungen fen heute ein Gesetz für eine moderne Stadtentwicklung,
(B) stärken und so die Lebensqualität der dort lebenden das im Sinne der Subsidiarität den Ländern und Kommu- (D)
Menschen erhöhen? Wie schaffen wir eine nachhaltige nen vielfältige Möglichkeiten eröffnet, unserem An-
Investitionspolitik, durch die die Ökonomie und die spruch „Vorfahrt für Arbeit“ gerecht wird, neuen priva-
Ökologie der Stadtentwicklung miteinander vereint wer- ten Initiativen der Bürgerinnen und Bürger und der
den? Immobilienwirtschaft eine rechtliche Basis schafft und
gleichzeitig neue Perspektiven für die Innenentwicklung
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen – der Herr unserer Städte und Gemeinden eröffnet.
Staatssekretär hat dieses Thema auch angerissen –: Wir
haben lange darüber diskutiert, wie wir private Initiati- Wir schaffen ein Gesetz, das Natur und Umwelt
ven bei der Stadtentwicklung rechtlich einbinden. Pri- schützt und damit auch einen Beitrag zum Klimaschutz
vate Initiativen entstehen in Deutschland vermehrt, ob – wir haben vorhin eine Debatte zu diesem Thema ge-
zur Errichtung von Kinderspielplätzen, Gewerbeparks führt – leistet, Verfahren vereinfacht und beschleunigt,
oder Wohnungen. Diesem aus dem angelsächsischen Bürokratie vor allem in den Rathäusern abbaut und da-
Raum kommenden berechtigten Anliegen, das in der mit Zeit und Steuergelder spart. Wir leisten damit nach
Fachwelt unter dem schönen Namen „Business-Impro- unserer Auffassung einen wichtigen Zukunftsbeitrag im
vement-Districts“ bekannt ist, wollen wir Rechnung tra- Hinblick auf den wirtschaftlichen und demografischen
gen. Wandel in unserer Gesellschaft.

Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Baugesetzbuch keine detaillierten Regelungen treffen Die Städte und Gemeinden haben es in der Hand, den
sollten, die einheitlich von Flensburg bis Berchtesgaden großen Instrumentenkasten, den das Baugesetzbuch bie-
gelten. Die Ansichten zu diesem Thema und die damit tet, zu nutzen und das Instrument herauszugreifen, das
verbundenen Ansprüche sind zu differenziert und unter- für ihren Patienten Innenstadt am besten geeignet er-
schiedlich. Ganz im Sinne des Föderalismus und im scheint.
Geiste der Föderalismusreform wird die Ausgestaltung
des neuen § 171 f des Baugesetzbuches daher Aufgabe Die erste Beratung des Gesetzentwurfs fand vor ein-
der Länder werden. einhalb Monaten statt. Wir haben es geschafft, unseren
ehrgeizig gesteckten Zeitplan einzuhalten, innerhalb we-
Der Vorschlag ist ein Angebot an die Kommunen und niger Wochen die parlamentarischen Beratungen abzu-
Investoren, einvernehmlich Lösungen zu finden. Wir schließen und ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen.
schaffen die Option. Ob und wie die Länder und Kom- Es kann nach der erwarteten Zustimmung des Bundesra-
munen damit umgehen, ist ihre Sache. Damit wird unser tes am 1. Januar kommenden Jahres in Kraft treten. Ich
6200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Peter Götz
(A) bin sicher, dass die Kommunen die neuen Möglichkei- ler Prozess betrachtet werden. Insofern bin ich in jedem (C)
ten, die wir heute beschließen, sehr schnell aufgreifen Fall dafür, dass dann, wenn an einer Stelle Flächen ver-
werden, Herr Kollege Döring, damit in Deutschland zü- siegelt werden, an anderer Stelle Flächen entsiegelt wer-
gig investiert werden kann, neue Arbeitsplätze entstehen den. Darauf, ob sie so weit entfernt sein müssen wie in
und die Qualität unserer Innenstädte weiter verbessert dem von Ihnen geschilderten Fall, komme ich gleich in
wird. meiner Rede zurück. Nur so viel: In der Innenstadt muss
Grün erhalten bleiben. Das Gesetz wird aber letztendlich
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
dazu führen, dass es irgendwann keinen Baum mehr in
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der der Stadt gibt, es sei denn, wir pflanzen uns welche auf
FDP) die Dachterrasse.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Pa-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidrun Bluhm von trick Döring [FDP]: Das ist falsch!)
der Fraktion Die Linke.
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, wird die
(Beifall bei der LINKEN) demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger so-
wie vor allem der Naturschutzverbände und anderer Trä-
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): ger öffentlicher Belange wesentlich eingeschränkt. In-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stellen Sie nerstädtische Grünzüge und Freiräume sind wichtige
sich einmal vor, Sie wohnen in einer Stadt und schauen Elemente der Wohn- und Wohnumfeldqualität, Herr Dö-
von Ihrem Balkon auf einen begrünten Platz und viel- ring, und bedürfen erfahrungsgemäß des besonderen
leicht sogar auf einen See. Plötzlich kommt ein Investor, Schutzes vor konkurrierenden Ansprüchen. Auch die In-
der dort ein Einkaufszentrum bauen, Handel ansiedeln, nenentwicklung hat ihre Grenzen, nämlich dann, wenn
Arbeitsplätze und Umsätze schaffen will. Damit er das Lebensqualität auf der Strecke bleibt, wenn Verdichtung
Vorhaben durchführt, wird ihm ein schnelleres Verfahren und Vernichtung von Natur und Umwelt stattfinden und
ermöglicht und er wird von der Verpflichtung zum Grün- damit Erstickung droht.
ausgleich in der Innenstadt befreit. Dann verändert sich In den Kommunen, in denen es aktuelle Umweltka-
nicht nur Ihre Aussicht aus dem Fenster, sondern Ihre taster gibt, kann auch ein „normales“ Planverfahren zü-
Immobilie ist vielleicht nur noch die Hälfte wert. gig realisiert werden. Durch die mangelhafte Berück-
Wenn wir also selbst betroffen sind, sehen wir vieles sichtigung der Umweltbelange wird in der Praxis nicht
egoistisch. Wenn Sie dann im Planverfahren der Verwal- ein Beschleunigungseffekt, sondern ein Verzögerungsef-
(B) tung Ihre Bedenken schriftlich mitteilen, müssen Sie fekt eintreten; denn der Gesetzentwurf widerspricht dem (D)
feststellen, dass diese in dem beschleunigten Verfahren Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuches an EU-
kein Gewicht haben. Richtlinien. Erst 2004 wurde die Umweltprüfung in
Deutschland auf das Niveau der europäischen Norm an-
gehoben. Heute, zwei Jahre später, schaffen wir diese
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: teilweise wieder ab. Der EuGH stellt heraus, dass die
Frau Kollegin Bluhm, erlauben Sie eine Zwischen- Festsetzung von Schwellenwerten gerade nicht auf der
frage des Kollegen Döring? Grundlage von Grundstücksgrößen geschehen darf.
Auch wenn es noch keine Urteile dazu gibt, ist nach In-
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Kraft-Treten des Gesetzes genau damit verstärkt zu rech-
Bitte. nen. Dann ist jede Verfahrensbeschleunigung dahin.
Zielführend wäre die bessere Ausnutzung bestehen-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Spielräume im Verfahren selbst oder die Aufhebung
Bitte schön, Herr Döring. der Trennung bei der Beteiligung von Öffentlichkeit und
Trägern öffentlicher Belange. Dann ließe sich eine wirk-
Patrick Döring (FDP): liche Verfahrensbeschleunigung ohne Preisgabe inhaltli-
Frau Kollegin Bluhm, was halten Sie von dem Fall cher Standards erreichen.
aus der Landeshauptstadt Hannover, in dem es nach ei- (Beifall bei der LINKEN)
ner Bebauung, einer Versiegelung eines zentralen städti-
schen Platzes, zum Abbruch von 14 Kilometern geteer- Der Naturschutzbund fasst in seiner Stellungnahme zum
tem Radweg im Stadtwald kommt? Halten Sie einen Gesetzentwurf – aus meiner Sicht: kurz und richtig – zu-
solchen Grünausgleich tatsächlich für das Mittel der sammen:
Wahl, um die Erfüllung der von Ihnen zu Recht ange- Das geplante Gesetz wird seine Zielsetzung kaum
sprochenen Belange sicherzustellen? erreichen, weil sich die damit angestrebten so ge-
nannten Verfahrensbeschleunigungen regelmäßig
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): als Verfahrensbremsen erweisen. Denn gerade um-
Im gegebenen Fall gibt man der Natur eine Aus- fangreichere Vorhaben der Innenentwicklung sto-
gleichsfläche im außerhalb der Stadt gelegenen Speck- ßen in der Öffentlichkeit auf ein reges Beteiligungs-
gürtel zurück. Die Erfüllung von Umweltbelangen darf interesse. Eine wie von der Bundesregierung jetzt
nicht als lokaler oder regionaler, sondern muss als globa- vorgesehene rudimentäre Beteiligung der Öffent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6201
Heidrun Bluhm
(A) lichkeit würde den politischen Unmut weiter beför- sicherung der betroffenen Kommunen führt; denn die (C)
dern. Behauptung, die Kommunen könnten selber entschei-
den, ob sie nach dem beschleunigten Verfahren vorgehen
Meine Redezeit erlaubt leider nicht, Herrn Großmann wollen oder nicht, trifft nicht zu.
ausführlich für die Zusammenarbeit zu loben. Aber eines
möchte ich an dieser Stelle noch sagen: Herr Döring, (Patrick Döring [FDP]: Das ist keine Behaup-
wenn Sie so hocherfreut über dieses Gesetz sind und es tung, das steht im Gesetz!)
befürworten, dann macht das uns noch skeptischer.
Wir wissen, dass dies nicht greift, weil viele Kommunen
(Stephan Hilsberg [SPD]: Das ist kein Sachar- in einem mörderischen Wettbewerb mit anderen Kom-
gument! – Patrick Döring [FDP]: Jeder munen stehen. Die Kannibalisierungstendenzen gerade
braucht ein Feindbild! Damit kann ich leben!) in diesem Bereich sind weithin bekannt. Deswegen ver-
Mein Fazit: Das Gesetz ist nicht geeignet, Entbüro- bessern wir ihre Situation durch diese Gesetzgebung
kratisierung und nachhaltige Stadtentwicklung in Ein- nicht.
klang zu bringen, den Flächenverbrauch zu reduzieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und die Verfahren zur Festsetzung von Bebauungsplänen
zu beschleunigen. Das Gesetz schränkt demokratische Ich will auch noch eines zu den Kollegen der ehema-
Mitbestimmung und Teilhabe der Bürgerinnen und Bür- ligen Koalition sagen. Liebe Kollegen, Sie räumen eine
ger zugunsten innerstädtischer Verdichtung ohne Um- Menge der Positionen, die wir in den letzten sieben Jah-
weltausgleich weiter ein. Aus diesen Gründen habe ich ren gemeinsam eingenommen haben. Ich finde es sehr
meiner Fraktion empfohlen, dem Gesetzentwurf nicht bedauerlich, dass Sie immer wieder davon sprechen,
zuzustimmen. dass Umweltschutz in diesem Bereich ein Hemmnis ist,
und dass Umweltverbände als Bedrohung der wirtschaft-
Danke schön. lichen Entwicklung angesehen werden.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Stephan Hilsberg [SPD]: Das machen wir
doch gar nicht!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben beim Gesetz zur Beschleunigung von Pla-
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Hettlich vom nungsverfahren für Infrastrukturvorhaben genau dieses
Bündnis 90/Die Grünen. Problem diskutiert. Die Beschneidung von Beteiligungs-
rechten ist aus meiner Sicht ein ganz gravierendes
Manko des komischen Stils, der sich jetzt Bahn bricht.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) Heute Abend werden wir noch über das Öffentlichkeits- (D)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und beteiligungsgesetz diskutieren. Ich möchte gerne wissen,
Kollegen! Der demografische Wandel wird einen erheb- wie Sie erklären, wie Sie das, was wir hier beschließen,
lichen Einfluss auf unsere Siedlungsstrukturen haben. mit der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie der EU
Wenn man sich die Prognosen beispielsweise vom BBR kompatibel machen wollen. Darauf bin ich wirklich ge-
anschaut, dann sieht man, dass sich darüber hinaus ein spannt.
Widerspruch auftut. Wir werden weniger Menschen und
wir werden trotzdem mehr Siedlungsflächen in An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
spruch nehmen. Siedlungsflächen bedeuten zusätzliche
Verkehrsflächen. Damit wären wir bei dem Thema, über Wesentliche Kritikpunkte unserer Fraktion an dem
das im Rahmen des vorherigen Tagesordnungspunktes Gesetz betreffen das Verfahren. Viele Verbände haben
diskutiert wurde, dem Klimaschutz. uns geschrieben, dass es absurd sei, dass im Juli die letz-
ten Überleitungsfristen endeten, aber jetzt schon wieder
Wir Grüne hatten vor drei Wochen eine Veranstaltung ein neues Gesetz auf den Weg gebracht werde. Wir im
zum ökologischen Bauen. Unsere Experten aus verschie- Verkehrsausschuss haben die letzten Änderungen einen
denen Instituten haben deutlich gemacht, dass die klima- halben Tag vor den Beratungen bekommen. Das zeigt,
schädlichen Entwicklungen, die sich daraus ergeben dass offensichtlich hinter den Kulissen eine ganze
können, möglicherweise alle Bemühungen, die wir im Menge Druck geherrscht hat, bestimmte Dinge zu än-
Augenblick bei der energetischen Gebäudesanierung dern. In einem ordnungsgemäßen Verfahren hätten wir
machen, konterkarieren. Deswegen ist es dringend not- dafür genügend Zeit haben müssen.
wendig, den Flächenverbrauch zu reduzieren und ge-
zielte Maßnahmen zu ergreifen, die dem entgegenwir- Es hat zwar einige begrüßenswerte Änderungen gege-
ken. ben, aber der zentrale Kritikpunkt ist die Abschaffung
der Umweltverträglichkeitsprüfung und die Abschaffung
Die Strategie, die Innenentwicklung der Städte zu för- des Umweltberichts in § 13 a. Die Kollegin Bluhm hat
dern, ist grundsätzlich richtig. Da stimmen wir mit allen das sehr deutlich gemacht. Wir haben das erst vor zwei
überein. Wir sind aber der Meinung, dass die Maßnah- Jahren in das Baugesetzbuch eingeführt. Jetzt nehmen
men, insbesondere die Novellierung des Baugesetzbu- wir es wieder heraus. Das ist aus unserer Sicht ein echter
ches, die gerade einmal zwei Jahre nach der letzten No- Schwachpunkt dieses Gesetzes. Deswegen werden wir
vellierung stattfindet, untauglich sind und damit dieses dem Gesetz nicht zustimmen.
Ziel nicht erreicht wird. Wir sind auch der Meinung,
dass diese Gesetzesänderung zusätzlich zu einer Verun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
6202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Peter Hettlich
(A) Wir haben in den Berichterstattergesprächen aus- Mit diesem Gesetz haben wir nicht nur die Sicherung der (C)
drücklich nachgefragt, wie man auf die Schwellenwerte Zentralität und damit auch der Urbanität unserer Städte
gekommen ist. Man hat versucht, das aus dem Umwelt- im Blick. Durch die zügige Nutzung von Brachflächen
verträglichkeitsprüfungsgesetz herzuleiten. Wir haben und ungenutztem Bauland im Sinne einer Nachverdich-
uns das noch einmal angeschaut. Wir können nur fest- tung tragen wir auch zur Reduzierung des Flächenver-
stellen: Größe ist nicht das alleinige Kriterium. Es geht brauchs bei. Das ist eine ganz wichtige Zielsetzung.
auch um die qualitative Seite bei der Inanspruchnahme
von Flächen. Dem wird mit diesem Gesetz überhaupt Nicht zu vergessen ist der dritte gewünschte Aspekt,
nicht Rechnung getragen. Das Gesetz verstößt nach un- der den beiden anderen in seiner Bedeutung natürlich in
serer Sicht gegen das Umweltrechtsbehelfsgesetz. Wir nichts nachsteht. Es geht um die Schaffung und Siche-
werden sehr gespannt darauf sein, was die Rechtspre- rung von Arbeitsplätzen durch Investitionen.
chung dazu sagen wird. Wir finden, dass dieses Gesetz (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
keine Rechtssicherheit für die Kommunen schafft und
möglicherweise kein Beschleunigungs-, sondern eher Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem
ein Verlangsamungsgesetz ist. Deswegen werden wir Gesetz die Möglichkeit flexiblerer und damit im Endef-
diesem Gesetz nicht zustimmen. fekt auch zügigerer Planungs- und Genehmigungsver-
fahren schaffen, dann tun wir das im ureigenen Interesse
Danke schön. der Städte und Gemeinden. Diese wiederum müssen die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ihnen übertragenen Möglichkeiten in der Zukunft ver-
antwortungsvoll nutzen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie – die Städte und Gemeinden – müssen natürlich
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ein frühzeitiges Gespür für mögliche Konflikte entwi-
hat die Kollegin Petra Weis von der SPD-Fraktion das ckeln und müssen versuchen, einen Ausgleich der unter-
Wort. schiedlichen Interessen herzustellen. Das müssen sie ge-
rade angesichts beschleunigter Verfahrensschritte, die
(Beifall bei der SPD) ich aber nachdrücklich unterstütze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die Zeit
Petra Weis (SPD):
seit der ersten Lesung des Gesetzentwurfes dafür ge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten nutzt, uns mit den Ergebnissen des Praxistests durch
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das Deutsche Institut für Urbanistik auseinanderzuset-
Der heute von uns zu beschließende Gesetzentwurf zur zen. Wir haben zahlreiche Korrekturwünsche der am Test
(B) Erleichterung von Planungen für die Innenentwicklung beteiligten Städte, die das Gesetz als solches übrigens (D)
der Städte ist nicht nur Bestandteil des Koalitionsvertra- unisono begrüßt haben, in den Gesetzentwurf integriert.
ges, sondern auch des Programms der Bundesregierung Dasselbe gilt natürlich für die vielfältigen Anregungen
zum Bürokratieabbau. Ich glaube, die Kollegen Götz des Bundesrats und der kommunalen Spitzenverbände.
und Döring hatten schon darauf hingewiesen. Das allein
würde diesem Gesetzentwurf, zumindest aus der Sicht Wir haben darüber hinaus – das ist schon angespro-
einer Koalitionsparlamentarierin, schon seine eigene Le- chen worden – Regelungen aufgenommen, wie bei-
gitimation verleihen. Mir ist aber viel wichtiger, zu beto- spielsweise die Möglichkeit für die Länder, rechtliche
nen, dass wir mit diesem Gesetz einen weiteren Schritt Regelungen für die Einrichtung so genannter HIDs oder
auf dem Weg zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung BIDs zu erlassen. Diese Öffnungsklausel hilft hoffent-
gehen, und zwar deswegen, weil wir unserem obersten lich, an die innerstädtischen Grundstückseigentümer zu
Ziel näher kommen, den Städten und Gemeinden bei der appellieren, ihr Engagement vor dem Hintergrund einer
Bewältigung des strukturellen Wandels, in dem sich fast gar nicht mehr so selbstverständlichen Wertsteigerung
alle von ihnen in der einen oder anderen Weise befinden, ihrer Grundstücke und Immobilien in innerstädtischen
zu helfen. Problemlagen tatsächlich zu verstärken.
Es geht uns darum, den Städten und Gemeinden da- Jetzt habe ich noch gar nicht davon gesprochen, dass
rüber hinaus ein weiteres Stück Verantwortung für ihre es neben dem rechtlichen Handlungsbedarf vor allen
eigene Entwicklung zu geben. Aber im Gegensatz zu Dingen die in den Innenstädten lebenden Menschen
meinem Vorredner bin ich aufgrund meines anthropolo- selbst sind, die ihren Städten neuen Glanz verleihen wer-
gischen Optimismus’ der Auffassung, dass die Kollegin- den.
nen und Kollegen vor Ort mit dieser Verantwortung auch
sorgfältig umgehen werden. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Städte
und Gemeinden mit diesem Angebot, das wir ihnen hier-
Gerade vor dem Hintergrund der demografischen Ent- mit unterbreiten, sorgsam umgehen werden und ob die
wicklung müssen wir dem Grundsatz „Innenentwick- Zielsetzung des Gesetzes, die wir bei allen Unterschie-
lung vor Außenentwicklung“ absolute Priorität bei- den in der Bewertung und gleich im Abstimmungsver-
messen. Es sind vor allen Dingen die älteren Menschen, halten miteinander teilen, tatsächlich erreicht werden
die freiwillig oder unfreiwillig allein Lebenden und nicht wird. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der
zuletzt die jungen Familien, die auf ein adäquates Wohn- Tatsache, dass die neuen Planungsinstrumente, die wir
raumangebot und eine umfassende Infrastruktur in den den Städten und Gemeinden nun an die Hand geben, ein
Zentren – nicht nur der großen Städte – angewiesen sind. zusätzliches Angebot neben den vorhandenen Verfahren
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6203
Petra Weis
(A) darstellen. Diejenigen Städte und Gemeinden, die vor ERP-Vermögen ungeschmälert für Mittel- (C)
entsprechenden Herausforderungen stehen, werden es standsförderung erhalten
mit entsprechender Verantwortung nutzen. Bei den ande-
ren wird es nach dem Motto laufen: Alles wie gehabt. – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Matthias Berninger, Anja Hajduk, weite-
Ich bin daher wie schon in meinem Redebeitrag im rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
September durchaus zuversichtlich, dass sich das Gesetz NISSES 90/DIE GRÜNEN
als praxistauglich im Sinne der Erfinderinnen und Erfin-
ERP-Sondervermögen in seiner Vermögens-
der erweisen wird. Ich darf mich dem Dank an alle Be-
substanz erhalten
teiligten, an unser Haus und an die Kolleginnen und Kol-
legen Berichterstatterinnen und Berichterstatter in den – Drucksachen 16/382, 16/548, 16/1018 –
Fraktionen anschließen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass
wir in den kommenden Jahren einen sorgsamen Blick Berichterstattung:
auf die Umsetzung des Gesetzes haben werden. Ich bin Abgeordnete Sabine Zimmermann
mir aber auch sicher, dass wir damit der nachhaltigen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Stadtentwicklung deutlichen Vorschub leisten. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut
der CDU/CSU) Schauerte für die Bundesregierung das Wort.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Ich schließe die Aussprache. desminister für Wirtschaft und Technologie:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
ren! Wir reden heute im Rahmen einer Debatte über An-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Erleich-
träge der Grünen und der FDP über das ERP-Vermögen.
terung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung
Ich möchte daran erinnern, wie das European Recovery
der Städte, Drucksachen 16/2496 und 16/2932. Der Aus-
Program überhaupt entstanden ist. 1949 gab es ein Ent-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt
schuldungsabkommen über bis dahin von den Ameri-
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3308,
kanern erbrachte Hilfsleistungen für das zerstörte
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
Deutschland. Dieses Entschuldungsabkommen ist so ge-
(B) men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der regelt worden, dass Deutschland einen Grundstock an (D)
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
Vermögen bilden musste, statt Rückzahlungen zu täti-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? Der Gesetzent-
gen. Mit diesem Vermögen wurde Wirtschaftsförderung
wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
betrieben.
tionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei
Gegenstimmen von den Fraktionen Die Linke und des Interessant ist, dass das damalige Vermögen nach
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. heutigen Preisen einen Wert von etwa 3,5 Milliarden
Euro gehabt hätte. Heute hat es einen Wert von etwa
Dritte Beratung 12,5 Milliarden Euro. Es ist also im Laufe der Jahre ge-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem wachsen. Der Inflationsprozess wurde ausgeglichen, das
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – heißt, seine Substanz ist erhalten worden.
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Ich möchte in diesem Zusammenhang eine zweite
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor an- historische Bemerkung machen. Dieses Vermögen war
genommen. zunächst für ganz andere Zwecke – Förderung von
Grundstoffindustrien, Energieversorgung – gedacht. Erst
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
1996 wurde durch Erträge dieses Vermögens erstmals
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
die Innovationsförderung von kleinen und mittelständi-
16/3330. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
schen Unternehmen betrieben. Erst 1997 wurde durch
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
Erträge dieses Vermögens erstmals Eigenkapitalhilfe ge-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
zahlt. In den Folgejahren ist es immer stärker zum zen-
der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Fraktionen Die
tralen Instrument der Finanzierung des Mittelstan-
Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
des geworden. Uns eint die Sorge: Was wird daraus?
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Wie können wir es möglichst für diejenigen Zwecke er-
halten, denen wir es gewidmet sehen wollen?
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Dieses Vermögen selbst – auch das muss hinzugefügt
nologie (9. Ausschuss) werden – ist nie angetastet worden; vielmehr hat man
immer nur die Zinserträge verwendet, um Förderpro-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil, gramme zu verbilligen. Dieses Vermögen war also ange-
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer legt. Die Erträge aus diesem Vermögen wurden genutzt,
Abgeordneter und der Fraktion der FDP um Kredite zu verbilligen. Dabei kommt ein ganz inte-
6204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte


(A) ressantes Volumen heraus: Damit wurden jährlich Kre- verabreden –, heraus und stellen sie dem Finanzminister (C)
dite in Höhe von etwa 3 bis 4 Milliarden Euro finanziert. zur Haushaltskonsolidierung zur Verfügung.
Der Gesamtwert des an mittelständische und Umwelt-
technologien verwendende Unternehmen geliehenen Dann gab es lange die Frage: Können wir trotz der
Vermögens dürfte sich zurzeit auf etwa 18 Milliarden Herausnahme dieser 2 Milliarden Euro, also der Schmä-
Euro belaufen. Das ist schon eine beachtenswerte Größe. lerung des Sondervermögens, durch intelligentere, opti-
mierte, effizientere Anlagestrategien dennoch die Zinsen
FDP und Grüne haben zu diesem Programm Anträge erwirtschaften, die notwendig sind, um das Fördervolu-
vorgelegt. Mit diesen Anträgen werden im Wesentlichen men beizubehalten? Wir haben zunächst gedacht, dass
Positionen bezogen, die von der Union und von der das möglich ist. Aber das ist ausgesprochen schwierig.
SPD, aber auch vom Bundeswirtschaftsminister und von Denn wir hätten, wenn wir dieses Zinsvolumen hätten
der Regierung für wichtig gehalten werden. Es geht um erreichen wollen, möglicherweise Unsicherheit, also Ri-
die Erhaltung des Sondervermögens, um das Fördervo- siko, in Kauf nehmen müssen. Sie kennen den alten ka-
lumen, um die Selbstständigkeit des Vermögens und um pitalistischen oder marktwirtschaftlichen Grundsatz: Je
Effizienzgewinne. Ein allzu großer Widerspruch scheint höher der Ertrag sein soll, desto größer ist das Risiko,
nicht zu bestehen. Ich hoffe, dass wir mithilfe der aktuel- das man in Kauf nehmen muss. – Wenn wir die Zinsen
len Entwicklungen eine gewisse Grundübereinstimmung aus diesen 2 Milliarden Euro hätten zusätzlich erwirt-
erzielen. Wir hatten sie in der Vergangenheit und können schaften wollen, hätten wir riskantere Anlagestrategien
sie möglicherweise auch in der Zukunft haben. als bisher nicht ausschließen können.
Was ist passiert? Wir haben uns entschieden, hier Deswegen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, ei-
nicht drum herumzureden, sondern einmal den aktuel- nen anderen Weg zu suchen. Der Weg ist gefunden wor-
len Stand zu liefern, den wir jetzt auch in der Regie- den: Die 2 Milliarden Euro, die wir zu Haushaltszwe-
rungsverhandlung haben; das verlangt der Respekt vor cken an den Finanzminister abgeben, werden dem ERP-
dem Hohen Hause. Das alles ist noch nicht fertig; wir Sondervermögen wieder zugeführt, und zwar durch Auf-
sind mitten in dem Prozess. Die Öffentlichkeit ist zum lösung von Rücklagen und dadurch, dass Rückstellun-
Teil informiert. Ein paar Dinge bedürfen noch der Fein- gen von ihrem Risiko befreit werden, sodass wir auch in
abstimmung. Ich gehe auch aus dieser Runde gleich Zukunft von einem ungeschmälerten Umfang des ERP-
noch in eine weitere Abstimmung. Insofern gibt es eine Sondervermögens ausgehen können.
Reihe von Dingen, die noch unter einem gewissen Vor-
behalt stehen. Das ist also noch nicht ganz fertig. Im Üb- Dieses ungeschmälerte Vermögen wird angelegt. Es
rigen gibt es dann einen parlamentarischen Prozess, in ist ja auch in der Vergangenheit angelegt worden. Die
(B) dem wir miteinander intensiv beraten müssen, was wir Frage ist, wie wir es anlegen. Wir hätten es, wie gesagt, (D)
denn für vernünftig halten. den allgemeinen wettbewerblichen Anlagestrategien von
Ich will einmal einige Eckpunkte vortragen: Globalplayern oder großen Banken überantworten kön-
nen. Wir haben uns aber dazu entschieden, es in die
Erstens. Das ERP-Sondervermögen bleibt nach der KfW einzubringen, mit einer Hälfte ins Eigenkapital
Einbringung in die KfW als zweckgebundenes Sonder- und mit der anderen Hälfte ins Nachrangkapital. Aus
vermögen ausschließlich der Mittelstandsförderung ge- diesem Eigenkapital und Nachrangkapital erwächst die
widmet. Dieser Grundsatz bleibt. Verpflichtung, mindestens 590 Millionen Euro pro Jahr
an Zinsen zu erzielen. Das ist auch der Ertrag, den die
Zweitens. Die Ausgestaltung der Förderung erfolgt Gutachter ermittelt hatten. Wenn man die Inflationsrate
wie bisher durch ein ERP-Wirtschaftsplangesetz in der herausrechnet, ist das der Ertrag, den wir auch in der
Zuständigkeit des BMWi und natürlich in der Zuständig- Vergangenheit im Jahr durchschnittlich erzielt haben, so-
keit des Parlaments – wie bisher, ungeschmälert, nicht dass wir auf das gleiche Zinsvolumen zurückgreifen
reduziert. können, um weiterhin Mittelstandsförderung wie in der
Sie wissen, dass wir in der Koalitionsvereinbarung Vergangenheit betreiben zu können.
und in den Genshagener Beschlüssen verabredet haben,
dass 2 Milliarden Euro aus diesem ERP-Vermögen zur (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Haushaltskonsolidierung herausgenommen werden sol- Das ist eine wichtige Voraussetzung für dieses Pro-
len und dass etwa 14 Milliarden Euro – aus Forderungen jekt. Damit erreichen wir sogar – das ist ein ganz interes-
aus Krediten und den Gegenfinanzierungsverbindlich- santer Aspekt –, dass wir das Problem bei den Gesprä-
keiten, die sich in etwa die Waage halten – ebenfalls zur chen mit den Amerikanern über die Frage: „Was passiert
Liquiditätsverbesserung an den Bundeshaushalt abflie- denn mit dem Vermögen?“ relativ leicht lösen können.
ßen sollen.
Vor diesem Hintergrund haben wir versucht, eine Ver- Wir können den Amerikanern nämlich mit Fug und
einbarung zu erzielen. Wir haben Gutachter damit beauf- Recht sagen: Das Vermögen ist nicht geschmälert; das,
tragt, das einmal zu berechnen und zu ermitteln, wie das was sich ändert, ist die Anlagestrategie. Bereits bisher
gehen kann. Das alles wissen Sie. war ein Teil des Vermögens in der KfW angelegt; dort
fielen auch die Erträge an. Ein weiterer Teil war auf dem
Wir sind nun zu folgendem Ergebnis gekommen: Wir Markt angelegt. Nun haben wir uns entschieden, auch
nehmen die 2 Milliarden Euro, wie im Koalitionsvertrag um Doppeleffekte zu erreichen, diesen zweiten Teil
vereinbart – nichts anderes wird eine große Koalition ebenfalls im Vermögen der KfW anzulegen und die Er-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6205
Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte
(A) träge daraus weiterhin ungeschmälert der Mittelstands- Dazu haben Sie zwar nicht sehr viel gesagt, aber es wird (C)
und Wirtschaftsförderung zufließen zu lassen. deutlich, dass das im Grunde das Ende der Trennung
des ERP-Sondervermögens von dem Vermögen des
Das bedeutet, dass das Sondervermögen erhalten
Bundes ist, wie es seit 1953 durch das Gesetz über die
bleibt und dass die Zuständigkeiten für das Sonderver-
Verwaltung des ERP-Sondervermögens vorgesehen war.
mögen erhalten bleiben, es aber nicht mehr so disponibel
wie in der Vergangenheit ist, wo man einfach an die Sub- (Beifall bei der FDP)
stanz gehen konnte, um ein Sonderprogramm zu fahren.
Auch alle Koalitionskosmetik kann darüber nicht hin-
Jetzt ist es durch den Eigenkapitalcharakter stärker ge-
wegtäuschen. Auf dem Papier mag es ja so sein, dass das
schützt. Das stellt zum einen eine Erschwernis dar, aber
Wirtschaftsministerium weiterhin für die Ausgestaltung
zum anderen auch eine Verbesserung bezüglich der Sub-
der Förderung zuständig ist. Rechtlich und faktisch wird
stanzerhaltung. Wir verlieren bei dieser Operation etwas
aber künftig die KfW das Sagen haben. Derjenige näm-
Freiheit bei der Gestaltung, aber gewinnen an Stabilität.
lich, in dessen Bilanz das Vermögen steht, hat künftig
Deswegen glaube ich, dass man dieses Vorhaben vertre-
das Sagen.
ten und diesen Weg gehen kann.
(Beifall bei der FDP)
Wenn sich die Dinge weiter in diese Richtung verfes-
tigen, wie ich es zum gegenwärtigen Zeitpunkt besten Die Zielrichtung dieser Geldverschiebung hat mit
Wissens und Gewissens vortrage, lade ich Sie alle herz- Mittelstandsförderung nicht mehr sehr viel zu tun. Das
lich ein, gemeinsam zu überlegen, wie wir die parlamen- ist ja in den Meldungen auch angedeutet worden. Sie
tarische Begleitung ausgestalten, und über die Zukunfts- wollen die Staatsbank KfW zum einen in die Lage ver-
perspektiven der Kreditanstalt für Wiederaufbau und setzen, Bundesanteile an ehemaligen Bundesunterneh-
darüber zu reden, was es für die Politik der KfW bedeu- men wie der Telekom zu übernehmen, also Akte der
tet, einen so großen Batzen zusätzlich an Kapital zu be- Scheinprivatisierung zu setzen, zum anderen soll eine
kommen. All das muss geklärt werden. Gemeinsame mögliche Beteiligung an EADS vorbereitet werden.
Aufgabe ist jetzt, all das zu klären, sowohl zwischen den
beteiligten Häusern wie auch im parlamentarischen Be- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ratungsverfahren. Ich glaube, gemeinsam können wir NEN]: Das ist Quatsch!)
das schaffen. Es geht schließlich um einen wichtigen Das ist Staatswirtschaft statt Marktwirtschaft, und das
Baustein der Mittelstandsfinanzierung in Deutschland. auch noch mit dem Geld des Mittelstandes.
Diesen möchten wir auch für die Zukunft ungeschmälert
sichern. (Beifall bei der FDP)

Herzlichen Dank. Ebenso bemerkenswert ist: Ausgerechnet ein Minister


(B) (D)
der Heuschreckenbekämpfungspartei SPD will 14,4 Mil-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- liarden Euro Forderungen des ERP am Kapitalmarkt
neten der SPD) platzieren. Das ist turbokapitalistische Bilanzakrobatik
zulasten des Mittelstandes, meine Damen und Herren.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP – Christian Lange [Back-
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Zeil von der nang] [SPD]: Gott sei Dank ist es schon spät
FDP-Fraktion. am Abend!)
Der Wirtschaftsminister hat sich erneut als mittel-
Martin Zeil (FDP):
standspolitischer Leichtmatrose erwiesen. Wenn es da-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute hat
rauf ankommt, gibt er klein bei; viel Wind und wenig
dieses Parlament die Gelegenheit, den Anschlag des Fi-
Energie.
nanzministers auf ein bewährtes Förderinstrument des
Mittelstandes abzuwehren. Herr Schauerte hat ja etwas (Beifall bei der FDP)
zurückhaltend den Streit zwischen seinem Ministerium
Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es
und dem Finanzministerium um die so genannte Neuord-
weder zwingend noch außenpolitisch ratsam, wenn
nung wiedergegeben. Seit gestern kennen wir ja zumin-
Deutschland so tut, als könnte es seine Haushaltspro-
dest anhand von Agenturmeldungen die Umrisse der
bleme nur mit fremder Leute Geld lösen. Sie haben sich
daraufhin erzielten Einigung. Trotz aller Formulierungs-
ja selber überboten im Schulterklopfen, wie gut die
kunst konnten Sie mich, Herr Schauerte, nicht überzeu-
Haushaltslage ist. Aus haushalterischer Sicht ist es doch
gen. Ich fürchte, es wird so sein wie oft bei dieser Regie-
überhaupt nicht zwingend, zu einer solchen Konstruk-
rung: Es kommt noch schlimmer als befürchtet.
tion zu greifen. Außenpolitisch gesehen ist Ihre Vorge-
(Beifall bei der FDP) hensweise mindestens peinlich und, wenn man an das
Beihilferecht denkt, europarechtlich möglicherweise
Wir sollten einmal festhalten, was Sie gesagt haben,
auch gar nicht wirksam. Dazu haben Sie noch gar nichts
Herr Schauerte: Es bleibt bei der Abführung von
gesagt.
2 Milliarden Euro aus dem Treuhandvermögen des Mit-
telstandes; diese wird also nicht zurückgenommen. Sie Sie haben zwar betont, dass Sie mit den Amerika-
handeln dann im Grunde nach der Devise: Der Appetit nern Gespräche über das ERP-Vermögen geführt haben;
kommt beim Essen. Das übrige Vermögen wird nämlich aber man kann nur ahnen – ich erinnere an den Brief des
der KfW als Eigen- und Nachrangkapital übertragen. Botschafters –, was die amerikanische Seite dazu sagen
6206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Martin Zeil
(A) wird, wenn aus der verharmlosenden Neuordnung nun herein klar; Haushaltskonsolidierung in Höhe von (C)
doch eine Komplettauflösung wird. Der Beschluss der 2 Milliarden Euro war unser Ziel und das setzen wir jetzt
Regierung ist im Übrigen auch eine Missachtung der um.
einstimmigen Entschließungen des ERP-Unterausschus-
Zweitens. Im Unterschied zu Ihnen habe ich bereits in
ses.
meiner ersten Rede, die ich in diesem Zusammenhang
Meine Damen und Herren von der Koalition, mit der gehalten habe, zu Ihrem Antrag gesagt, dass wir als So-
faktischen Auflösung des Sondervermögens, mit der Ab- zialdemokraten die haushalterische Zuordnung des ERP-
führung der 2 Milliarden Euro, der Aufgabe der bewähr- Vermögens nicht für den zentralen Punkt halten, sondern
ten Verwaltung des Vermögens und möglicherweise für uns ist der zentrale Punkt, wie die Mittel verwandt
– das war noch nicht ganz klar – der parlamentarischen werden: Werden sie der Mittelstandsförderung zugeführt
Kontrolle wird eines der ältesten Instrumente der Mittel- oder nicht? Das ist für uns das Kriterium; das sage ich
standsförderung zerschlagen. Was Sie an dessen Stelle ausdrücklich. Deshalb meine ich, dass „Zerschlagung
setzen wollen, bleibt nebulös. Eine Verbesserung für den von Mittelstandsförderung“ hier etwas zu starker Tobak
Mittelstand bedeutet dies sicher nicht. ist. So viel muss doch der Gerechtigkeit halber gesagt
werden.
Ich appelliere an dieses Parlament, unseren Antrag
anzunehmen. Sorgen Sie dafür, dass das Sondervermö- Drittens. Ich habe mir die Ergebnisse des ERP-Unter-
gen nicht angegriffen wird und uns außenpolitische ausschusses und den Beschluss angeschaut. Da ist in der
Peinlichkeiten erspart bleiben! Tat die zentrale Anforderung, dass die Förderkraft des
Sondervermögens ungeschmälert erhalten bleibt. Das
(Beifall bei der FDP)
ist das, worauf sich auch das Parlament verständigt hat,
Es ist ja schon schlimm genug, meine Damen und Her- auch Sie und alle hier; das war einstimmig.
ren von der Koalition, wenn Sie das Geld von Steuer-
Jetzt stellt sich die Frage, ob diese Vorhaben unter
und Beitragszahlern als beliebige Verfügungsmasse be-
Anwendung des Modells, das hier vorgestellt worden ist,
trachten, anstatt es an sie zurückzugeben. Aber hier, bei
gelingt. Ich will nicht verschweigen, dass auch ich noch
der Plünderung des Treuhandvermögens des Mittelstan-
die eine oder andere Frage dazu habe.
des, sollten Sie von der Fortsetzung dieses staatswirt-
schaftlichen Ansatzes absehen. Heute ist die letzte Zum Ersten werden 2 Milliarden Euro aus dem ERP-
Chance vor den Haushaltsberatungen, dies zu verhin- Sondervermögen an den Bundeshaushalt abgeführt. Als
dern. Kompensation hierfür überträgt das Bundesfinanzminis-
(Beifall bei der FDP) terium Rücklagen in Höhe von rund 1 Milliarde Euro auf
das ERP-Sondervermögen. Zugleich werden risikofreie
(B) (D)
Rückstellungen in Höhe von 1 Milliarde Euro beim
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ERP-Sondervermögen aktiviert.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von
der SPD-Fraktion. Zum Zweiten übernimmt der Bund Forderungen und
Verbindlichkeiten des ERP-Sondervermögens in Höhe
von 14,4 Milliarden Euro. Die eine Hälfte des disponi-
Christian Lange (Backnang) (SPD):
blen ERP-Sondervermögens in Höhe von 9,3 Milliarden
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Euro wird der KfW als Eigenkapital, die andere Hälfte
Damen und Herren! Ich bin Ihnen, Herr Staatssekretär,
als Nachrangkapital zur Verfügung gestellt. Die KfW
dankbar, dass wir uns nicht bei den Anträgen der Oppo-
verwendet das ERP-Sondervermögen so – das ist das
sition aufhalten, sondern dass Sie die Chance ergriffen
Ziel dieses Vorgehens –, dass die Substanz und die Er-
haben, hier gleich den Zwischenstand der Verhandlun-
tragskraft des Vermögens erhalten bleiben. Wenn dies so
gen frank und frei zu schildern, wenngleich ich trotzdem
ist – ich sage ausdrücklich: wenn dies so ist –, dann wird
sagen möchte, dass wir in der SPD-Fraktion uns alle,
die Hürde USA in der Tat genommen. Denn die Be-
denke ich, ein anderes Vorgehen gewünscht hätten.
fürchtung der Vereinigten Staaten von Amerika war,
(Martin Zeil [FDP]: Wir auch!) dass dies möglicherweise nicht der Fall sein könnte.
Denn es ist ohne Zweifel so, dass wir, getrieben durch Wir werden im parlamentarischen Verfahren darauf
die Tickermeldungen von gestern, jetzt hier einen Zwi- zu achten haben, ob das wirklich so eintritt. Wir alle sind
schenstand zu erörtern haben, der vielleicht Wirklichkeit uns einig – dazu gibt es einen einstimmigen Beschluss –,
wird, vielleicht aber auch nicht. Die Schuld an diesem dass wir darauf achten müssen. Für mich ist eine wich-
Vorgehen freilich liegt weniger bei der Regierung – so tige Frage, ob es gelingt, den Einfluss des Deutschen
hoffe ich mal; wer auch immer das durchgestochen ha- Bundestages auf das Vermögen sicherzustellen, wenn
ben mag. dieses Geld zur KfW gewandert ist. Das ist für mich ein
ganz zentraler Punkt. Ich sage Ihnen, Herr Staatssekre-
Meine Damen und Herren, wie ist die Ausgangslage?
tär, dass wir darauf achten werden. Denn wir wollen,
Die Koalitionsfraktionen hatten sich erstens darauf ver-
dass der parlamentarische Einfluss nach wie vor erhalten
ständig, das ERP-Programm zu erhalten und zugleich
bleibt.
2 Milliarden Euro an den Bundeshaushalt abzuführen.
Von daher, Herr Zeil, kann keine Rede davon sein, dass Wenn die Mittelstandsförderung ungeschmälert erhal-
wir jetzt überraschenderweise 2 Milliarden Euro von ten bleibt und wenn unser Einfluss sichergestellt ist – ich
dem Programm abzwacken würden. Das war von vorn- sage Ihnen ausdrücklich, dass ich das augenblicklich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6207
Christian Lange (Backnang)
(A) noch nicht abschließend beurteilen kann –, dann können gern, Deutschland dürfe nicht länger von der Substanz (C)
wir einem solchen Kompromiss zustimmen. leben. Seine Art der Haushaltskonsolidierung ist es aber,
gerade diese Substanz zu verscherbeln. Der Umgang mit
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Diskussion dem ERP-Vermögen ist ein Beispiel dafür. Minister
und die Aufmerksamkeit. Steinbrücks Finanzplanung sieht vor, dass die Verschul-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dungsziele in den nächsten Jahren durch Einmalerlöse,
der CDU/CSU) also durch Privatisierungen, erreicht werden sollen.
Privatisierungen bringen aber nur kurzfristige Einnah-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men, die mit dauerhaften Einnahmeausfällen bezahlt
werden. Ich denke, das weiß jeder hier im Saal. Das ist
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Zimmermann
aus unserer Sicht keine Haushaltskonsolidierung.
von der Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Privatisierungen sind nicht nur langfristig ein Verlust-
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): geschäft, sie kosten auch wirtschaftspolitische Hand-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe lungsmöglichkeiten. Deswegen muss das ERP-Sonder-
Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung hat vermögen in seiner bisherigen Form erhalten bleiben. Es
sich auf die Fahne geschrieben, den Haushalt zu sanieren ist unfassbar, dass Sie jetzt das ERP-Sondervermögen
und den Mittelstand zu fördern. Hätten Sie sich auf die plündern wollen und gleichzeitig die Besteuerung von
Fahne geschrieben, den Sozialstaat auszubauen: Kein Kapitalgesellschaften senken. Das zeigt, worum es Ihnen
Mensch würde Ihnen glauben. Hätten Sie gesagt, wir wirklich geht.
machen eine Politik für die Rentnerinnen und Rentner in Ich komme zum Schluss. Haushaltssanierung und
diesem Land: Kein Mensch würde Ihnen glauben. Denn Mittelstandsförderung sind bei Ihnen nur Worthülsen,
die Mehrheit der Menschen weiß inzwischen, dass jede die einzig dazu dienen, eine Politik zulasten der Arbeit-
Reform der Bundesregierung einen Griff ins Portemon- nehmerinnen und Arbeitnehmer und zugunsten des
naie für jeden Einzelnen bedeutet. Das gilt auch für die Großkapitals zu rechtfertigen.
Neuordnung des ERP-Sondervermögens.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wie sieht es aber nun mit der Haushaltssanierung und
(Beifall bei der LINKEN)
der Mittelstandsförderung aus? Wenn wir uns den Um-
gang mit dem ERP-Sondervermögen ansehen, wissen
wir, wie es um die zentralen Ziele der Bundesregierung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) bestellt ist. Die Regierung plant, das ERP-Sondervermö- Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt (D)
gen, das für die direkte Wirtschaftsförderung speziell hat die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/
kleiner und mittlerer Unternehmen bestimmt ist, für ei- Die Grünen das Wort.
nen haushaltspolitischen Taschenspielertrick zu miss-
brauchen, damit die Neuverschuldung des Bundes besser Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
aussieht, als sie tatsächlich ist. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundeswirtschaftsministerium behauptet, das ERP- Nach dem vorangegangenen Redebeitrag möchte ich
Sondervermögen und die parlamentarische Kontrolle wieder auf den Kern des Themas kommen. Herr Staats-
darüber könnten bei dieser Operation erhalten werden. sekretär Schauerte hat die historischen Hintergründe ge-
Wenn das stimmen würde, hätten wir es also mit einer rei- nannt. Er hat auch darauf hingewiesen, welche Entwick-
nen Verschleierungsaktion bezüglich der Neuverschul- lung das ERP-Sondervermögen genommen hat. Das ist
dung zu tun. Dann sollte man eigentlich ehrlicherweise eine sehr positive Entwicklung. Wir sehen, dass allein
auf sie verzichten. im Jahr 2006 über 4 Milliarden Euro bereitgestellt wer-
den. Das ist ein großer Erfolg für unsere mittelständi-
Es ist jedoch nicht so einfach, das Sondervermögen schen und kleinen innovativen Unternehmen in der Bun-
formal zur Haushaltssanierung einzusetzen, es gleichzei- desrepublik.
tig in seiner Substanz zu erhalten und die parlamentari-
Wir wissen auch, dass das ERP-Sondervermögen mit
sche Kontrolle zu sichern, die auch Herr Zeil und Herr
das wichtigste Instrument der Innovations-, der Mittel-
Lange angesprochen haben. Es scheint sogar so kompli-
stands- und zunehmend auch der Umwelttechnologieför-
ziert zu sein, dass die Regierung einer Aufforderung des
derung geworden ist. Der Bundestag ist seit Jahrzehnten
ERP-Unterausschusses, bis zum 8. September ein Kon-
der Hüter dieses Vermögens. Deswegen meinen wir,
zept vorzulegen, bis heute noch nicht nachgekommen
dass auch jetzt bei dieser Auseinandersetzung der Mut
ist. Die Links-Fraktion befürchtet daher, dass genau das
des ganzen Hauses gefragt ist, sich hier klar aufzustellen.
passieren wird, was der gesunde Menschenverstand nahe
legt, nämlich: Das ERP-Sondervermögen wird nicht nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
auf dem Papier, sondern tatsächlich zur Haushaltssanie- und bei der FDP)
rung eingesetzt.
Wir haben gehört, dass die Ziele des Substanzerhal-
Genau darauf läuft auch die Einigung zwischen den tungsgebots, des Erhalts der Förderkraft und der fort-
Ministern Glos und Steinbrück hinaus. Das war heute währenden Verfügungsgewalt des Bundestags wohl mit
auch in den Medien zu lesen. Der Finanzminister sagt Ihren Zielen übereinstimmen. Zumindest hat das in
6208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Christine Scheel
(A) Ihrem Redebeitrag so geklungen. Wir haben auch gese- weisen. Sie steht im Raum. Ich hoffe nur, dass wir hier (C)
hen, dass sich der Unterausschuss sehr einmütig hinter bald Klarheit bekommen.
das alternativ vom Bundeswirtschaftsministerium vorge-
schlagene Modell gestellt hat, sodass diese drei genann- Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
ten Ziele auch umgesetzt werden. Darüber haben wir Koalitionsfraktionen, es gibt eine Reihe offener Fragen.
hier schon diskutiert. Wir sehen, dass sich Herr Glos zum Thema Haushalt
klar aufgestellt hat. Er brüllt ja neuerdings ein bisschen
Bundeswirtschaftsminister Glos hat sich erst kürzlich wie ein Bär
– ich glaube, in den letzten ein, zwei Tagen – gegen
Haushaltstricksereien ausgesprochen. Er hat in diesem (Martin Zeil [FDP]: Problembär!)
Zusammenhang interessanterweise das ERP-Sonderver- und wird hier und da ein bisschen gestoppt. Aber wenn
mögen als besonders schutzwürdig hervorgehoben. Des- es passieren sollte, dass er die Verfügungsgewalt verliert
halb waren wir ganz zuversichtlich und dachten: Gut, und die Förderkraft beschnitten wird, dann wird ihm – so
das läuft in die richtige Richtung. Jetzt gibt es diese an- kann man nur sagen – das Fell über die Ohren gezogen.
gebliche Einigung, die bei genauerem Hinsehen aber Ich hoffe, wir verhindern das gemeinsam.
verschiedene Fragen aufwirft. Ich möchte drei Fragen
ansprechen: Danke schön.
Erstens. Bleibt die Vermögenssubstanz erhalten? Im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eckpunktepapier steht, dass der Substanzverlust nur und bei der FDP)
durch eine Rücklagenübertragung in Höhe von 1 Milli-
arde Euro kompensiert werden soll. Die Auflösung von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Rückstellungen ist nur eine Kompensation, wenn dem
Ich schließe die Aussprache.
ERP gleichzeitig Lasten in dieser Höhe abgenommen
werden. Herr Staatssekretär, ohne Entlastung des ERP Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
werden die USA dieser Substanzentnahme ganz sicher schusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck-
widersprechen. Davon ist wohl auszugehen. sache 16/1018. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei-
Zweitens. Bleibt die Förderkraft des ERP erhalten? ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
Hierzu sagen die unabhängigen Gutachter der Bundesre- der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/382 mit dem
gierung, dass nur bei einer Anlage auf dem Kapitalmarkt Titel „ERP-Vermögen ungeschmälert für Mittelstands-
und einer Mindestverzinsung von 590 Millionen Euro förderung erhalten“. Wer stimmt für diese Beschluss-
im Jahr die Förderkraft des ERP-Sondervermögens er- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koa-
(B) halten bleibt. Aber diese 590 Millionen Euro stehen litionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions- (D)
nicht mehr in Ihrem Konsenspapier.
fraktionen angenommen.
(Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär: Aber
ich habe sie genannt!) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des
– Sie haben sie zwar genannt; aber sie stehen nicht mehr Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/548 mit
im Konsenspapier. Sie wurden auch nicht an die Presse dem Titel „ERP-Sondervermögen in seiner Vermögens-
weitergegeben. Das heißt, wir haben auch hier, was die substanz erhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
Summe der Mittelstandsförderung anbelangt, viele Fra- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
gezeichen. Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
Drittens. Wer hat die Verfügungsgewalt über das
tionsfraktionen angenommen.
Vermögen? Das ist mit der wichtigste Punkt. Ein Teil des
Vermögens geht als Eigenkapital an die KfW. Das KfW- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Gesetz regelt eindeutig, dass der KfW-Vorstand die allei-
nige Verfügungsgewalt über das KfW-Eigenkapital hat. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
(Martin Zeil [FDP]: Genauso ist es!) über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Ein-
Durch den Einbringungsvertrag und möglichst auch führung der Europäischen Gesellschaft und
durch eine Änderung des KfW-Gesetzes muss sicherge- zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vor-
stellt werden, dass das Verfügungsrecht des KfW-Vor- schriften (SEStEG)
standes nicht für das ERP-Kapital gelten darf. Das steht – Drucksachen 16/2710, 16/2934 –
noch aus. Auch hier gibt es also viele offene Fragen.
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schusses (7. Ausschuss)
Auch ich meine, dass die Spekulationen, die im Zu- – Drucksachen 16/3315, 16/3369 –
sammenhang mit der Telekom-Aktie angestellt worden
sind, Quatsch sind. Die KfW kann das Ganze aus eige- Berichterstattung:
nen Mitteln bestreiten; diese Argumentation braucht Abgeordnete Peter Rzepka
man nicht heranzuziehen. Aber die Spekulation, die im Lothar Binding (Heidelberg)
Zusammenhang mit dem ERP-Eigenkapital und der Dr. Volker Wissing
EADS-Beteiligung angestellt wurde, ist nicht ganz abzu- Dr. Gerhard Schick
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6209
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der kommt das klassische do ut des, Geben und Nehmen, (C)
FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist zum Tragen.
für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Mit dieser Sicherung deutscher Besteuerungsrechte
unterstützt das Gesetz das Anliegen der Unternehmen-
(Unruhe) steuerreform, dass Unternehmen ihre in Deutschland er-
wirtschafteten Gewinne auch hier versteuern.
– Darf ich die Kollegen, die der Debatte nicht folgen
wollen, bitten, den Saal zu verlassen oder die Plätze ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zunehmen. – Danke schön. der CDU/CSU)
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Gerade im Hinblick auf die erweiterten Möglichkeiten
nerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin zur grenzüberschreitenden Umwandlung muss sicherge-
Dr. Barbara Hendricks für die Bundesregierung. stellt werden, dass in Deutschland geschaffene Werte
auch in Deutschland versteuert werden. Deshalb werden
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim die Regelungen zur Entstrickung in diesem Gesetzent-
Bundesminister der Finanzen: wurf systematisch zusammengefasst und fortentwickelt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Zur effektiven Sicherung unserer Besteuerungsrechte
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das zur Be- sieht der Regierungsentwurf in Fällen der Verlagerung
schlussfassung anstehende Gesetz über steuerliche Be- von Vermögen ins Ausland grundsätzlich eine sofortige
gleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Ge- Besteuerung der stillen Reserven vor. Etwas anderes
sellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher wäre zu gestaltungsanfällig und kaum administrierbar. In
Vorschriften, in der Kurzform „SEStEG“ genannt – auch Fällen, in denen Wirtschaftsgüter in eine Betriebsstätte
das versteht man eigentlich nicht; aber es ist zumindest innerhalb der Europäischen Union verbracht werden,
kürzer – passt das deutsche Steuerrecht an neuere EU- wird die Besteuerung allerdings auf fünf Jahre zeitlich
rechtliche Entwicklungen im Gesellschaftsrecht und im gestreckt, und zwar mittels der so genannten Ausgleichs-
Steuerrecht an. Die Fusionsrichtlinie wird umfassend in postenmethode.
nationales Recht umgesetzt, die so genannte Wegzugsbe-
steuerung für natürliche Personen an die aktuelle Recht- Nach eingehender Diskussion empfiehlt der Finanz-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs angepasst und ausschuss auch, die im Regierungsentwurf vorgesehene
die Europäische Gesellschaft, SE, und die Europäische Missbrauchsklausel zu streichen. In der Expertenanhö-
Genossenschaft, SCE, werden im deutschen Steuerrecht rung wurde die Streichung unter Hinweis auf den allge-
mein bekannten § 42 der Abgabenordnung gefordert. Al-
(B) verankert. (D)
lerdings ist die Überzeugungskraft dieses Arguments
Dieses Gesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur Si- bisher leider sehr begrenzt; denn wir alle wissen, wie der
cherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Es erhöht Bundesfinanzhof zu § 42 der Abgabenordnung steht.
seine Attraktivität. Mir jedenfalls ist kein Fall aus dem Unternehmensteuer-
Deutschland verfolgt diese Linie offensiv, indem es recht bekannt, in dem unser oberstes Finanzgericht diese
erstmals EU-weit grenzüberschreitende Umwandlun- Vorschrift zur Anwendung gebracht hätte. Ich möchte
gen ermöglicht und die EU-Fusionsrichtlinie komplett deshalb nochmals mit Nachdruck darauf hinweisen, dass
umsetzt. Die Unternehmen können so ohne steuerliche es auch ohne den § 26 des Umwandlungssteuergesetzes
Hemmnisse die Rechtsform von Kapitalgesellschaften nicht Sinn des Umwandlungssteuerrechts ist, ausschließ-
annehmen und sich ganz nach ihren betriebswirtschaftli- lich steuerlich motivierte Umwandlungen zu fördern.
chen Bedürfnissen grenzüberschreitend strukturieren. Diese Vorgänge haben nichts mit einer betriebswirt-
Vor allem die Neukonzeption des Einbringungsteils des schaftlich sinnvollen Neustrukturierung von Unterneh-
Umwandlungssteuergesetzes, der die Umwandlung von men zu tun.
Personengesellschaften in Kapitalgesellschaften regelt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
eröffnet den Steuerpflichtigen diese Möglichkeiten. CDU/CSU)
Aber auch zahlreiche andere Umwandlungsformen sind
nunmehr ohne Rücksicht auf die Staatsgrenzen möglich. Es bleibt zu hoffen, dass dieses deutliche Signal des
Gesetzgebers verstanden wird und dem § 42 der Abga-
Besonders zu erwähnen ist – ich verweise auf die Be- benordnung zukünftig ein gebührender Platz in unserer
schlussempfehlung des Finanzausschusses –, dass die Rechtsordnung zuteil wird.
steuerneutrale Sacheinbringung von inländischem Ver-
mögen, die Einbringung von Anteilen an Kapitalgesell- Herzlichen Dank.
schaften aus Drittstaaten und die Einbringung in Perso-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nengesellschaften nicht davon abhängig gemacht werden,
der CDU/CSU)
ob an den Unternehmen nicht in der EU ansässige Perso-
nen beteiligt sind.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Beseitigung steuerlicher Hemmnisse ist aber da- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing
mit verbunden, dass Deutschland von den ihm zustehen- von der FDP-Fraktion.
den Besteuerungsrechten klar und eindeutig in angemes-
senem Umfang Gebrauch macht. In diesem Gesetz (Beifall bei der FDP)
6210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Dr. Volker Wissing (FDP): Deutschland und vor allen Dingen zur Schaffung neuer (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeitsplätze in unserem Land, diese Erklärung bleiben
Sie schuldig.
Gehen wir ins Offene, sehen wir die Chance des Ri-
sikos. Wecken wir die Kraft der Freiheit … (Beifall bei der FDP)
– so die Worte der Bundeskanzlerin zum Tag der Deut- Die Einschränkung der Verlustvorträge spricht doch
schen Einheit. Die Bundeskanzlerin wird damit zur eine deutliche Sprache: Wer keine Verluste akzeptiert,
Kronzeugin gegen diesen Gesetzentwurf. Mit Ihrem Ge- der akzeptiert auch keine Risiken. Und wer keine Risi-
setzentwurf wollen Sie nämlich genau das Gegenteil er- ken akzeptiert, hat auf Dauer keine Chancen. So einfach
reichen: Sie versuchen, Investoren in Deutschland fest- ist das, so deutlich wurde das auch in der Anhörung aus-
zuhalten. Das hat nichts, aber auch rein gar nichts mit gesprochen und so deutlich kann man auf den Punkt
„Mehr Freiheit wagen“ oder „Ins Offene gehen“ zu tun. bringen, warum dieser Gesetzentwurf traurig stimmt.
Ihre Politik ist Ausdruck einer Verzagtheit und – das Frau Merkel hat einmal gesagt: Sehen wir doch die
ist besonders bedauerlich – Ausdruck eines fehlenden Chancen vor dem Risiko! Ich frage Sie, meine Damen
Vertrauens in den Standort Deutschland. Niemand hier und Herren von der großen Koalition: Wenn Ihre Kanz-
im Hohen Haus findet es begrüßenswert, wenn Unter- lerin Ihnen eine solche Vorgabe macht, warum handeln
nehmen Wirtschaftsgüter ins Ausland verlagern. Es ist Sie nicht danach? Warum wagen Sie nicht mehr Frei-
gut, dass die Bundesregierung dieses Thema ernst heit? Warum führen Sie unser Land nicht ins Offene?
nimmt. Um das Problem zu lösen, schlagen Sie aber ei-
nen völlig falschen Weg ein. Sie fragen nicht, welches Das Gleiche gilt für die Streckung der Besteuerung
die Ursachen für das Problem sind. Sie fragen nicht, wa- von verlagerten Wirtschaftsgütern auf fünf Jahre.
rum Unternehmen Betriebsstätten im Ausland unterstüt- (Zuruf von der FDP: Das war eine Katastro-
zen und Wirtschaftsgüter ins Ausland verlagern. phe!)
Sie beschränken sich darauf, die Unternehmen in ih- Im ursprünglichen Entwurf der Regierung war es noch
rer Flexibilität einzuschränken. Sie bekämpfen damit katastrophaler. Sie haben das etwas verbessert. Die Bera-
nicht die Ursachen. Sie agieren nicht, sondern reagieren tungen im Finanzausschuss waren an dieser Stelle durch-
nur. aus sinnvoll und hilfreich.
(Beifall bei der FDP) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Endlich einmal
Im Grunde genommen, Frau Staatssekretärin ein Kompliment!)
Hendricks, verhalten Sie sich wie ein Hotelier, der fest- Nur, am Ende ist immer noch nichts Gutes herausge- (D)
(B)
stellt, dass ihm die Kunden davonlaufen, und auf die kommen. Wir alle reden von Bürokratieabbau und hal-
glorreiche Idee kommt, einfach die Zimmer abzusperren. ten das hoch. Doch jetzt machen Sie eine Ausnahme,
Das ist eine Politik, von der kein positives Signal aus- eine Sonderregelung: Über fünf Jahre hinweg soll ver-
geht. Mit dieser Politik werden Sie keine neuen Investo- folgt werden, was mit dem Bagger geschieht, der in eine
ren für unser Land begeistern. Wo sollen die positiven Betriebsstätte ins Ausland verbracht worden ist. Was das
Anreize für die Wirtschaft sein, die von diesem Gesetz mit Vereinfachung, mit Bürokratieabbau zu tun hat, das
ausgehen? Glauben Sie wirklich, dass Deutschland so müssen Sie uns erklären! Eine solche Regelung schränkt
schlecht ist, dass Sie die Unternehmen hier anketten die Flexibilität der Unternehmen ein. Dabei geht es den
müssen? Ist es nicht Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Unternehmen schon nicht gut. Es wird ihnen mit diesem
unser Standort von den Rahmenbedingungen her so at- Gesetz noch schlechter gehen.
traktiv ausgestaltet wird, dass Unternehmen gerne zu uns
kommen? Verstehen Sie Deutschland nicht als offenes (Beifall bei der FDP)
Land, als Wirtschaftsnation, die selbstbewusst Investo- Dieses Gesetz ist für den Wirtschaftsstandort
ren anwerben kann? Brauchen wir wirklich Steuer- Deutschland, der an einer erheblichen Fehlausrichtung
schranken, Steuermauern? leidet, insgesamt ein falsches Signal. Was falsch ist, wird
Das Problem ist doch vor allem, dass die Rahmenbe- nicht dadurch besser, dass man es auf fünf Jahre verteilt.
dingungen in unserem Land nicht stimmen. Sie spre- Ich kann Sie nur auffordern: Gehen Sie ins Offene! Se-
chen von Chancen, die man über Risiken stellen sollte, hen Sie die Chancen vor dem Risiko und wagen Sie
von der Kraft der Freiheit, die es zu wecken gilt; so et- mehr Freiheit! Überarbeiten Sie Ihren Gesetzentwurf!
was hören wir immer wieder von Frau Merkel. Man Legen Sie etwas vor, was dem Selbstbewusstsein der
fragt sich, wie diese Finanzpolitik dazu passen kann. Deutschen und ihrem Vertrauen in den Wirtschaftsstand-
ort gerecht wird! Wir können stolz sein auf das, was
(Beifall bei der FDP) Deutschland leisten kann, und haben es nicht nötig, In-
Sie machen sich mit diesem Gesetzentwurf einen schlan- vestoren einzusperren, Schranken aufzubauen. Das ist
ken Fuß, Sie ignorieren die Ursachen und behandeln nur nicht das, was die FDP unter Deutschland versteht, und
Symptome. Sie werden damit nichts erreichen. Wenn Sie nicht das, was Sie als Bundesregierung als Bild von
versuchen, Unternehmen hier festzuhalten, ist die Kon- Deutschland zeichnen sollten.
sequenz, dass Neuinvestoren diesen Standort künftig Vielen Dank.
meiden werden. Was daran verantwortliche Politik sein
soll, Politik zur Stärkung der Unternehmenslandschaft in (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6211

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: So haben wir erstens die Sofortversteuerung stiller (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Rzepka von der Reserven bei Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu einer
CDU/CSU-Fraktion. im Ausland gelegenen Betriebsstätte aus dem ursprüng-
lichen Entwurf gestrichen. Das hätte bei den Unterneh-
(Beifall bei der CDU/CSU) men einen sofortigen Liquiditätsabfluss bedeutet, ohne
dass diesen durch Abschreibungen der verbrachten Wirt-
Peter Rzepka (CDU/CSU): schaftsgüter oder durch Veräußerungen Liquidität zuge-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und flossen wäre. Stattdessen werden wir in solchen Fällen
Herren! Der Bundestag berät heute in zweiter und dritter der Entstrickung die über einen Zeitraum von fünf Jah-
Lesung das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen ren gestreckte Besteuerung der stillen Reserven ermögli-
zur Einführung der Europäischen Gesellschaft. Damit chen. Das ist eine wesentliche Erleichterung für die Un-
werden der steuerliche Rahmen für die Europäische Ge- ternehmen.
sellschaft und die Europäische Genossenschaft geschaf-
fen und die Richtlinie des Rates vom Februar 2005 über (Beifall bei der CDU/CSU)
das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Zweitens konnten wir eine massive Schlechterstellung
die Einbringung von Unternehmensteilen und den Aus- deutscher Personengesellschaften mit Gesellschaftern
tausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener in Drittstaaten verhindern. Sie waren aufgrund des Um-
Mitgliedstaaten betreffen, in nationales Recht umgesetzt. wandlungssteuergesetzes bislang in der Lage, Unterneh-
Mit dem Gesetz wollen wir steuerliche Hemmnisse mensteile unterhalb der Obergesellschaft steuerneutral in
für grenzüberschreitende Umstrukturierungen von Tochterkapitalgesellschaften oder Tochterpersonenge-
Unternehmen beseitigen und die Möglichkeiten zur sellschaften einzubringen. Diese Möglichkeit sollte ih-
freien Wahl der Rechtsform verbessern. Künftig sollen nen gemäß dem ursprünglichen Gesetzentwurf selbst
europaweit die gleichen Grundsätze für inländische und dann genommen werden, wenn deutsches Steuersubstrat
für grenzüberschreitende Umstrukturierungen von Un- durch den Umwandlungsvorgang in keiner Weise gefähr-
ternehmen gelten. Außerdem wollen wir die steuerlichen det worden wäre. Aufgrund unserer Initiative wird es
Regelungen für die Einbringung von Betrieben, Teilbe- aber bei der bisherigen Rechtslage bleiben.
trieben und Anteilen neu gestalten. Der Gesetzentwurf Herr Kollege Wissing, ich wünschte mir, dass Sie sich
soll ein weiterer Schritt zur Herstellung des gemeinsa- in Ihrer Rede und vor allen Dingen auch im Finanzaus-
men Marktes in der Europäischen Union sein. Auch das schuss etwas intensiver mit diesen Verbesserungen aus-
Steuerrecht muss den fortschreitenden internationalen einander gesetzt hätten und dass Sie, wie wir das getan
wirtschaftlichen Verflechtungen Rechnung tragen. haben, durch Eigeninitiative mehr Beiträge zur Verbes-
(B) Vor allem geht es uns aber um die Stärkung des serung des Gesetzentwurfs in den Finanzausschuss ein- (D)
Standortes Deutschland für Investitionen, Wirtschafts- gebracht hätten.
wachstum und Arbeitsplätze. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Volker Wissing
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD [FDP]: Anträge wurden gestellt!)

Dabei verkennen wir nicht, dass es notwendig ist, die Drittens konnten wir durchsetzen, dass bei Einbrin-
deutschen Besteuerungsrechte und das deutsche Steuer- gungsvorgängen Zuzahlungen bzw. sonstige Gegenleis-
aufkommen zu sichern; denn durch EU-weite Umstruk- tungen bis zur Höhe der Buchwerte steuerlich nicht als
turierungen und die Verlagerung von Vermögenswerten Veräußerung behandelt werden. Die geplante Veräuße-
über die Grenze kann der Zugriff des deutschen Fiskus rungsfiktion hätte bedeutet, dass es zu einer anteiligen
auf das Steuersubstrat erschwert oder sogar unmöglich Gewinnrealisierung gekommen wäre. Dies wäre insofern
gemacht werden. nicht sachgerecht gewesen, als sich nicht jeder Einbrin-
gungsvorgang mit der Gewährung von Gesellschaftsan-
Zielsetzung für uns in der Union war es aber auch, die teilen an der aufnehmenden Gesellschaft vollständig aus-
Normen so auszugestalten, dass wir die europäischen gleichen lässt.
Vorgaben umsetzen, ohne die Unternehmen mit zusätzli-
chen Steuern zu belasten; denn vor dem Hintergrund der Viertens haben wir erreicht, dass die Regelungen des
vergleichsweise hohen nominalen und effektiven Steuer- Umwandlungssteuergesetzes auf Fälle der Hinzurech-
belastung der deutschen Unternehmen schwächen Steuer- nungsbesteuerung nach dem Außensteuergesetz ange-
erhöhungen den Standort. Außerdem stehen sie im wendet werden, allerdings mit Ausnahme der Verschmel-
Gegensatz zu dem Ziel der geplanten Unternehmensteu- zung so genannter passiver Gesellschaften. Eine
erreform, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Hinzurechnungsbesteuerung findet nicht statt, wenn in
deutschen Wirtschaft zu stärken. Inlandsfällen das Umwandlungssteuerrecht gelten würde.
Fünftens entfällt – Frau Staatssekretärin Hendricks hat
In der Anhörung der Sachverständigen am 18. Ok-
das schon erwähnt – die Einführung einer allgemeinen
tober 2006 sind wesentliche Regelungen des Gesetzent-
Missbrauchsklausel in das Umwandlungssteuergesetz.
wurfes der Bundesregierung auf nahezu einhellige Kritik
Mit § 42 der Abgabenordnung haben wir bereits ein In-
gestoßen. Die Union hat aus dieser Kritik Konsequenzen
strumentarium zur Bekämpfung von Missbrauchsfällen
gezogen und gemeinsam mit dem Koalitionspartner den
zur Hand. Die Einfügung eines weiteren Missbrauchstat-
Entwurf in wesentlichen Punkten geändert.
bestandes mit zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen
(Beifall bei der CDU/CSU) hätte das Risiko bei notwendigen Umstrukturierungen
6212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Peter Rzepka
(A) erhöht und damit den Zielsetzungen des Gesetzentwurfes (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C)
geschadet.
Mein Dank gilt auch den Fachleuten des Bundesfinanz-
Trotz des Erreichten finden sich auch jetzt noch Rege- ministeriums für die konstruktive und sachliche Beglei-
lungen im Gesetzentwurf, die besser unterblieben wären: tung dieses Gesetzgebungsprozesses.
Verlustvorträge sollen bei Vermögensübertragungen
und Verschmelzungen zwischen Kapitalgesellschaften Ich danke Ihnen.
nicht übergehen können, auch nicht bei Inlandsfällen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Dies stellt eine Verschlechterung und in der Praxis eine
erhebliche Behinderung dar. In der öffentlichen Anhö-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
rung zum SEStEG – Herr Kollege Wissing, Sie haben
darauf hingewiesen – haben mehrere Experten bestätigt, Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von
dass die erfolgreiche Umstrukturierung und Restruktu- der Fraktion Die Linke.
rierung eines Unternehmens in der Krise davon abhängig (Beifall bei der LINKEN)
sein kann, ob die Möglichkeit besteht, einen Verlust zu
nutzen.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Als Grund für die Versagung der Nutzung von Ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
lustvorträgen wurde angeführt, dass nur so die so ge- Entwurf eines Gesetzes über steuerliche Maßnahmen zur
nannte Hineinverschmelzung europäischer bzw. auslän- Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Än-
discher Verluste nach Deutschland verhindert werden derung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften hat das
könne. Ich hingegen meine, dass dies in Anlehnung an Finanzministerium ordentliche Arbeit geleistet. Das ist
die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auch wirklich ein Schritt in die richtige Richtung.
dadurch hätte geregelt werden können, dass solche Ver-
lustvorträge nicht im Inland, sondern nur in ausländi- (Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD])
schen Betriebsstätten genutzt werden dürfen. Auch in Das muss man, wie ich meine, auch dann sagen, wenn
Art. 6 der steuerlichen Fusionsrichtlinie wird lediglich man in der Opposition ist.
verlangt, dass der Verlustvortrag im Rahmen der Besteu-
erung der verbleibenden Betriebsstätte zu berücksichti- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
gen ist.
In Zukunft wird es für Unternehmen schwerer, durch
Die bei Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in Verlagerungen und Fusionen die Zahlung von Steuern zu
eine andere Kapitalgesellschaft anfallenden Übernahme- umgehen, und das ist auch gut so. Aber leider bleiben
(B) gewinne und Übernahmeverluste sollen grundsätzlich Sie mit Ihrer Politik auf halbem Wege stehen. Vieles von (D)
steuerlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings werden, dem, was Sie jetzt im Zusammenhang mit Verlagerun-
sofern Übernahmegewinne anfallen, 5 Prozent dieser gen innerhalb Europas vorschlagen, muss konsequent zu
Gewinne für die übernehmende Körperschaft steuer- Ende gebracht werden. Vieles davon muss auch in natio-
pflichtig. Bei Weiterausschüttung wird erneut besteuert, nales Steuerrecht umgesetzt werden. Vieles davon würde
sodass es sogar zu Doppelbesteuerungen kommen kann, zu mehr Steuergerechtigkeit führen.
die grundsätzlich vermieden werden sollten. Darüber hi-
Ich will nur zwei Beispiele nennen:
naus ist die Einlagenrückgewähr aus Drittstaatengesell-
schaften als Dividende zu besteuern, was aus meiner Ein Unternehmen wird innerhalb Europas in einen
Sicht nicht nachvollziehbar ist. Staat mit niedrigeren Unternehmensteuersätzen verla-
gert.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist trotz dieser Mängel
ein weiterer Schritt zur Herstellung des Binnenmarktes (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)
der Europäischen Union und zur Stärkung des Standortes
Deutschland im Sinne von Investitionen, Wirtschafts- Bislang konnte das Unternehmen die stillen Reserven
wachstum und Arbeitsplätzen. Der ursprünglich vorge- mitnehmen und am neuen Unternehmenssitz zu den
legte Gesetzentwurf ist durch die Koalitionsfraktionen niedrigeren Steuersätzen versteuern. Das geht in Zukunft
im Finanzausschuss deutlich verbessert worden. nicht mehr. In Zukunft müssen Unternehmen stille Re-
serven vor einer Verlagerung aufdecken und versteuern.
In Anbetracht des Erreichten und vor dem Hinter- Damit werden die stillen Reserven dort besteuert, wo sie
grund der Notwendigkeit von Kompromissen in einer entstanden sind. Das ist ohne Frage eine sinnvolle Ände-
Koalition bitte ich Sie deshalb um Ihre Zustimmung zu rung. Aber warum machen Sie eine solche Besteuerung
diesem Gesetzentwurf. Weitere Verbesserungen zur Aus- der stillen Reserven nicht zur Regel, und zwar auch für
weitung der Regelungen über die EU hinaus mit der Unternehmen, die in Deutschland bleiben?
Folge der Stärkung unserer im internationalen Wettbe-
werb stehenden Unternehmen bleiben dessen ungeachtet Es wäre zum Beispiel durch eine Reform des Bewer-
auf der Tagesordnung der Steuerpolitik. tungsgesetzes möglich, stille Reserven erst gar nicht ent-
stehen zu lassen. Allein die stillen Reserven, die in den
Abschließend möchte ich mich bei den Kolleginnen Immobilien der Unternehmen versteckt sind, würden
und Kollegen, insbesondere beim Berichterstatter der mittelfristig 10 Milliarden Euro jährlich mehr in die
SPD, Herrn Lothar Binding, für das sachorientierte und Kassen bringen. Warum haben Sie nicht den Mut, das
wirklich gute Klima in den Verhandlungen bedanken. anzugehen? Warum verzichten Sie auf diese Steuerein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6213
Dr. Axel Troost
(A) nahmen, statt sie im Rahmen der Unternehmensteuerre- den entstehen, damit die Unternehmen den Binnenmarkt (C)
form zu erschließen? tatsächlich nutzen können.
Ein zweites Beispiel. In Zukunft ist es unmöglich, Es ist zu begrüßen, dass wir die Einführung der Euro-
dass bei einer Fusion ein Unternehmen die Verlustvor- päischen Gesellschaft und der Europäischen Genossen-
träge des anderen übernimmt und so langfristig Steuern schaft auch steuerrechtlich begleiten. Selbstverständlich
spart. Dieses Verbot ist sinnvoll, weil Fusionen oft we- sollen nicht alle Tore geöffnet werden; es geht zunächst
gen dieses Steuervorteils stattgefunden haben. Das war darum, dass die in Deutschland entstandenen Werte auch
eine Strategie, um systematisch Steuern zu minimieren. in Deutschland besteuert werden können. Deswegen ist
Aber warum schränken wir die Möglichkeiten für Ver- es richtig, dass im Falle eines Rechtsträgerwechsels oder
lustvorträge und Verlustrückträge nicht grundsätzlich dann, wenn Vermögen aus einem Betrieb abgezogen
ein, sondern nur bei Fusionen? Auch das würde Milliar- wird, die Aufdeckung und damit die Besteuerung der
den in die Kassen bringen. stillen Reserven sichergestellt wird.
Ich will in diesem Zusammenhang nur eine Zahl an- Wir reagieren mit dem Gesetzentwurf auf das Urteil
führen, die allerdings schon etwas älter ist – sie geht auf des Europäischen Gerichtshofs, in dem die französische
unsere Kleine Anfrage zu diesem Thema zurück –: Ende Wegzugsbesteuerung als nicht europarechtskonform be-
2001 hatten die Kapitalgesellschaften Verluste in Höhe wertet wurde. Die deutsche Wegzugsbesteuerung war
von fast 400 Milliarden Euro zu verzeichnen, die die immer etwas anders ausgestaltet. Aber es ist sinnvoll,
Unternehmen in die nächsten Jahre mitnehmen mussten. dies in diesem Zusammenhang richtig zu regeln. Wir set-
Das sind 400 Milliarden Euro weniger, die versteuert zen außerdem die geänderte EU-Fusionsrichtlinie um
werden. und bringen so unser Steuerrecht europarechtlich voran.
Lassen Sie uns dieses Steuergeschenk in Milliarden- Ich finde, der Entwurf ist insgesamt ausgewogen.
höhe angehen. Herr Wissing, ich hätte mir gewünscht – es wäre schön,
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing wenn Sie zuhören würden –,
[FDP]: Dann vernichten Sie massenweise Un- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Peinlich!)
ternehmen und die Arbeitsplätze gleich mit!
Das ist der unsozialste Vorschlag, den wir je dass Sie die Abwägungen in der Diskussion über den
gehört haben!) Gesetzentwurf zur Kenntnis nehmen. Ich glaube jeden-
falls, dass dem Gesetz einige schwierige Abwägungen
Lassen Sie uns nicht auf halbem Weg stehen bleiben. zwischen der Administrierbarkeit und dem Europarecht
Lassen Sie uns Verlustrückträge grundsätzlich abschaf- zugrunde liegen. Wir haben über die Abwägungen in der
(B) fen und Verlustvorträge wie in den meisten anderen eu- einen oder anderen Weise entschieden. In der Anhörung (D)
ropäischen Ländern auf maximal fünf bis sechs Jahre wurde deutlich, dass es schwierige Entscheidungspro-
begrenzen. Das alles würde Mehreinnahmen in Milliar- zesse sind. Angesichts dessen man kann nicht einfach
denhöhe bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen von sagen, dass hier Unternehmen angekettet werden. Viel-
der CDU/CSU und der SPD. mehr muss man entsprechend den Abwägungen berück-
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu und hoffen, dass sichtigen, welche Alternativen vorhanden sind. Man
er ein Ansporn für die anstehende Unternehmensteuerre- kann sich sicherlich anders entscheiden. Aber man sollte
form ist. Wir hoffen, dass Sie viele der Grundsätze, die nicht so tun, als handele es sich hier um ein „Ankettge-
zur Reduzierung der Steuervermeidung und Steuerhin- setz“. Ich finde, Sie sind in Ihrer Rede der Qualität des
terziehung führen, in nationales Recht umsetzen und da- Gesetzentwurfs und des Diskussionsprozesses nicht ge-
für sorgen, dass die Unternehmensteuerreform möglichst recht geworden.
aufkommensneutral erfolgt, um weitere Verluste zu ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
meiden. bei der CDU/CSU und der SPD)
Danke schön.
Ich möchte noch zwei Punkte ansprechen, die für uns
(Beifall bei der LINKEN) wichtig sind und die wir im Ausschuss thematisiert ha-
ben. Der erste Punkt war, dass Personengesellschaften
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Umstrukturierungen auch mit Gesellschaften aus Dritt-
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick ländern auf einfache Weise vornehmen können. Uns war
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. wichtig, dass der europäische Binnenmarkt auch für die
mittelständische Wirtschaft erschlossen wird. – Dazu
hatten wir einen Antrag eingebracht. Wie Sie wissen, hat
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sich dieser im Verfahren erledigt, weil wir uns einig wa-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ren.
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wird diesem
Gesetzentwurf zustimmen. Wir glauben, dass er ein Beim zweiten Punkt, nämlich der Missbrauchsbe-
wichtiger Schritt zur Europatauglichkeit unseres Steu- kämpfung, waren wir uns nicht einig; Frau Staatssekre-
ersystems ist, und er steht im Einklang mit unserer allge- tärin hat diesen Punkt bereits angesprochen. In der An-
meinen steuerpolitischen Position. Denn wir halten es hörung gab es nämlich nicht nur ein, sondern zwei
für sehr wichtig, die steuerlichen Grundlagen des Bin- Positionen. Die einen haben die Streichung des § 26
nenmarktes so auszugestalten, dass keine weiteren Hür- Umwandlungssteuergesetz, der auf Art. 11 der EU-Fu-
6214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Gerhard Schick


(A) sionsrichtlinie basiert, gefordert. Die anderen verlangten tungsaufwand das zur Folge hat, wenn man das (C)
hingegen eine präzisere Fassung dieses Paragrafen. Ich kontinuierlich macht. Das muss man in den Blick neh-
glaube, es hätte durchaus die Möglichkeit gegeben, eine men, um zu erkennen, dass Ihr Vorschlag theoretisch
Präzisierung vorzunehmen und eine Sicherung gegen vielleicht nicht schlecht ist, aber in der praktischen An-
Missbrauch einzuführen; denn aus dem Urteil des Euro- wendung sicher auf große Schwierigkeiten stößt.
päischen Gerichtshofs zu Cadbury Schweppes ist nicht
Zum Stichwort Anketten möchte ich nur Folgendes
eindeutig abzuleiten, ob diese Regelung unbedingt ge-
sagen: Herr Wissing, das SEStEG ist meines Erachtens
strichen werden muss. Es ist sicherlich extrem wichtig,
das glatte Gegenteil dessen, was Sie sagen; denn das
wirtschaftlich motivierte Umstrukturierungen zu erleich-
SEStEG ermöglicht es, das europäisch und weltweit
tern; das wollen wir. Aber wir dürfen der Steuergestal-
operierende Unternehmen zum ersten Mal auch steuer-
tung nicht gleichzeitig Tür und Tor öffnen. Wir hätten
lich europäisch denken können. Kein Unternehmen
uns eine Präzisierung gewünscht, die auf überzeugende
muss mehr ökonomisch sinnvolle Zusammenschlüsse
Weise Rechtsklarheit schafft und § 42 der Abgabenord-
daraufhin prüfen, ob es Steuern bezahlen muss oder
nung noch eine ergänzende Spezialnorm hinzufügt. Sie
nicht. Ich nenne ein ganz konkretes Beispiel. Die Han-
sind einen anderen Weg gegangen.
dysparte eines Unternehmens – bei dem ich gelernt
Da das Gesetz insgesamt ein wichtiger Schritt hin zu habe – hätte vielleicht gar nicht verkauft werden müssen,
einem europatauglichen Steuersystem ist, stimmen wir wenn die entsprechende Möglichkeit in Europa, die wir
trotz dieses Kritikpunktes zu. jetzt mit dem SEStEG schaffen, damals schon bestanden
hätte. Die Sparte nach Korea oder Japan zu verkaufen,
Danke. ist etwas anderes, als einen Zusammenschluss in Europa
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu organisieren, der dazu führt, dass ein Unternehmen
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und entsteht, das aufgrund seiner Größe auf dem internatio-
der SPD) nalen Markt konkurrenzfähig ist.
(Abg. Dr. Volker Wissing [FDP] meldet sich
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zu einer Zwischenfrage)
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich nun – Seien Sie so nett und fragen Sie, wenn ich fertig bin?
das Wort dem Kollegen Lothar Binding für die SPD- Ich bin jetzt gerade so schön im Fluss. Ich bin Schwim-
Fraktion. mer; Sie wissen, dass das deshalb für mich kein Problem
ist.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (Zuruf des Abg. Hans Michelbach [CDU/CSU])
(B) (D)
und Kollegen! Da wir es mit einem relativ komplizierten – Mit Bauklötzen kann ich auch gut umgehen, ebenso
Gesetz zu tun haben, möchte ich mich dem Dank von mit einem Zollstock. Hier sind Handwerker unter sich.
Herrn Rzepka für die sehr gute Kooperation anschließen.
Ich glaube, man sieht am Ergebnis, dass hier sachorien- Es ist ganz wichtig, zu wissen, dass das SEStEG diese
tiert diskutiert wurde. Das ist nicht ganz selbstverständ- Möglichkeiten in Europa eröffnet. Wir haben ein gutes
lich, insbesondere wenn man bedenkt, dass wir in sechs Beispiel: Allianz hat eine Holding-SE gegründet. Sie
bis acht Punkten nicht einer Meinung waren. Trotzdem wissen, dass das zumindest die Sicherheit gibt, vor einer
haben wir nun einen für beide Seiten mehr oder weniger Übernahme in einer ganz anderen Weise geschützt zu
erträglichen Kompromiss erzielt. Ich möchte außerdem sein, als wenn es diese Möglichkeit nicht gäbe. Dass die
dem Bundesfinanzministerium danken, insbesondere Allianz das machen konnte, hängt mit der speziellen Si-
den Herren Möhlenbrock, Rennings und Scheuerle und tuation, in der sie sich befindet, zusammen; aber künftig
last, but not least Frau Staatssekretärin Hendricks. Nach haben diese Möglichkeit auch viele andere. Eine bessere
meiner Meinung hat uns das Bundesfinanzministerium Werbung kann es für den Standort Deutschland im Mo-
sehr gut unterstützt. Das war sicherlich keine einfache ment nicht geben. Wir tun mit diesem Gesetz einen gro-
Aufgabe. Zudem möchte ich mich bei Joachim Poß für ßen Schritt zu einer Rechtskonformität in Europa,
eine Bemerkung bedanken. Er hat gesagt, die Über- über die sich letztendlich auch die Gerichtsbarkeit freut,
schrift der Rede, die Herr Wissing gehalten hat, könnte weil die Klageanfälligkeit sinken wird.
etwa „Freiheit für Steuerhinterzieher“ lauten. Das Be- Es ist wichtig, das zu erwähnen, weil damit deutlich
sondere war dabei die Physiognomie von Herrn Wissing: wird, in welchen Rahmenbedingungen wir uns über-
Er hat so wissend gelächelt; vielleicht dachte er, dass da- haupt bewegen. Wir bewegen uns auf dem Boden der
ran etwas Wahres ist. vier Grundfreiheiten, nämlich der Kapitalverkehrsfrei-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Eduard heit, der Warenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfrei-
Oswald [CDU/CSU]: Was lernen wir daraus: heit und der Niederlassungsfreiheit. Das sind Freiheiten
hier im Plenum nicht mehr lächeln!) für international agierende Unternehmen. Aber die Frei-
heit des deutschen Staates, europaweit Steuern zu erhe-
Herr Troost, Ihre Idee einer kontinuierlichen Besteue- ben, gibt es nicht. Wir erkennen hier also eine Asymme-
rung der stillen Reserven ist sicherlich verlockend. trie. Auf diese Asymmetrie reagiert dieses Gesetz auf
Aber man darf nicht vergessen, was das für die Liquidi- eine sehr konstruktive Weise. Es sorgt für faire Besteue-
tät der Unternehmen und die Bewertung der Grundstü- rung, aber lässt europäische Gestaltungen zu. Das ist
cke bedeutet und – last, but not least – welchen Verwal- doch immer unser Dilemma: dass sich unsere Gesetzge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6215
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) bung im Wesentlichen auf deutsches Staatsgebiet be- rechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen 16/2710 (C)
schränkt, die Konzerne aber international agieren kön- und 16/2934. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
nen! Deshalb ist dieses Gesetz so wertvoll. Es hat genau Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3315, den Ge-
für dieses Dilemma einen Lösungsvorschlag entwickelt. setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich glaube, das war sehr gut.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Der Öffnung des Umwandlungsteuerrechts für den Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
europäischen Raum musste natürlich die Sicherung deut- chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann
scher Steueransprüche gegenüberstehen; denn wir ma- ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stim-
chen auch Politik für unsere Gesellschaft. Die Unterneh- men der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen des
men, die in Europa Gewinne erzielen und in Deutschland Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken bei Gegen-
ansässig sind, machen die Gewinne auf der Basis der Be- stimmen der FDP angenommen.
dingungen, die in Deutschland herrschen, und sie ma-
chen sie deshalb, weil sie in unserer Gesellschaft Rück- Wir kommen zur
halt haben. Ich gratuliere jedem Unternehmen, das gute Dritten Beratung
Gewinne macht, und ich glaube, dass ein faires Unter-
nehmen gern Steuern zahlt, um die günstigen Bedingun- und Schlussabstimmung.
gen für sich in Deutschland zu sichern. Deshalb ist das Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
SEStEG eine sehr gute Basis für die Zukunft. Wenn es men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –
uns im zweiten Schritt noch gelingt, das Gesetz zu globa- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen
lisieren, dann wird es sehr viel einfacher. Darüber müs- Mehrheitsverhältnissen angenommen.
sen wir mit den Ländern reden. Das Bundesministerium
und der Bundestag wollten eine Globalisierung. Leider Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
sind die Länder diesen Schritt noch nicht mitgegangen. ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
Ich bin aber guter Hoffnung, dass wir sie überzeugen. 16/3362 (neu). Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der
Schönen Dank und alles Gute. Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitions-
(Beifall bei der SPD) fraktionen und den Stimmen der Fraktionen Die Linke
und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen
der Fraktion der FDP abgelehnt.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, Sie haben zwar Ihre Rede schon been- Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 12:
det, aber wenn Sie die vorher angemeldete Zwischenfrage Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten (D)
(B) noch gestatten, dann kann sie jetzt gestellt werden. –
Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dagdelen, weiterer
Bitte, Herr Dr. Wissing. Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN

Dr. Volker Wissing (FDP): Entwicklung der extremen Rechten und die
Herr Kollege Binding, teilen Sie meine Auffassung, Maßnahmen der Bundesregierung
dass es nichts mit Steuerhinterziehung zu tun hat, wenn – Drucksache 16/1009 –
Unternehmen Verluste vortragen können, und teilen Sie
meine Auffassung, dass dieses Gesetz die Flexibilität Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
und Mobilität von Unternehmen verringert und nicht er- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
höht? Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. – Dann ist das so be-
schlossen.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Sie haben völlig Recht. Deshalb ist der Verlustvortrag Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
extra erwähnt worden. Das Besondere ist aber, dass man nerin in dieser Debatte der Kollegin Ulla Jelpke von der
den Verlustvortrag auch grenzüberschreitend nutzen Fraktion Die Linke das Wort.
kann, indem man Zwischenwerte bildet, sodass der hö-
(Beifall bei der LINKEN)
here Wert eines grenzüberschreitenden Guts in der auf-
nehmenden Bilanz zu höheren Abschreibungen führt
und damit der Verlustvortrag sehr wohl genutzt werden Ulla Jelpke (DIE LINKE):
kann. Das zeigt wiederum, dass das Gesetz einfach ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
nial ist. Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung
muss leider zum Jagen getragen werden, wenn es um die
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Bekämpfung des Neofaschismus geht. Die erschre-
ckende Konzeptionslosigkeit nicht nur dieser Regierung
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: trägt ihren Teil dazu bei, dass Neofaschisten in Deutsch-
Ich schließe die Aussprache. land sich leider pudelwohl fühlen können.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Die gestern vorgelegte Studie der Friedrich-Ebert-
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Stiftung belegt das mit erschreckenden Fakten: 8,6 Pro-
steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Euro- zent der Deutschen haben ein geschlossenes rechtsextre-
päischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuer- mes Weltbild. 15 Prozent sehnen sich nach einem
6216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Ulla Jelpke
(A) Führer. 15,8 Prozent der West- und 6,1 Prozent der Ost- Dazu nur einige Beispiele aus den letzten Wochen: (C)
deutschen zeigen einen manifesten Antisemitismus. Die
Zustimmung zu rassistischen Meinungen geht darüber In der Zuwanderungsdebatte blieb die Äußerung von
Beckstein „Wir brauchen mehr Ausländer, die uns nüt-
noch weit hinaus: Sie liegt laut Studie bei 44 Prozent bei
zen, und weniger, die uns ausnützen“ in der Union weit-
den Ost- und bei 35 Prozent bei den Westdeutschen.
gehend unwidersprochen.
Es ist traurig genug, dass erst die Wahlerfolge der
In der Zeitschrift „Die Bundeswehr“ des Bundeswehr-
NPD in Mecklenburg-Vorpommern zur Weiterfinanzie-
Verbandes wurden – gerade in der letzten Ausgabe –
rung der Strukturprojekte gegen Rechts geführt haben.
Bücher des Ex-KSK-Generals Günzel beworben, der von
Aber die Millionen sind nur ein Tropfen auf den heißen
seinen Soldaten „Disziplin wie in der Waffen-SS“ gefor-
Stein. Sie sollen eine Entwicklung aufhalten, die mit
dert und Martin Hohmann nach seinen antisemitischen
dem massiven Sozialkahlschlag nach 1990 in Ost-
Äußerungen unterstützt hat.
deutschland begann.
In den letzten Wochen haben die Äußerungen ver-
(Sebastian Edathy [SPD]: Gab es denn vorher schiedener Unionsinnenminister gezielt den Eindruck er-
keinen Rechtsextremismus?) weckt, dass Flüchtlinge nur nach Deutschland kommen,
Denn genau diese Politik haben Neonazis genutzt. Wo um Sozialleistungen zu beziehen und zu schmarotzen.
Jugendklubs und andere soziale Projekte geschlossen Man könnte diese Liste noch endlos fortsetzen. Ich
wurden, hat die NPD ihre Chancen gewittert, um ihre will aber vor allem auf Folgendes hinweisen: Wenn Ju-
menschenverachtende Ideologie unter die Leute zu brin- gendliche ein rechtsradikales Weltbild für normal halten,
gen. dann hat das auch mit diesen geistigen Brandstiftungen
Wir richten vierteljährlich eine kleine Anfrage an die aus der so genannten Mitte der Gesellschaft zu tun.
Bundesregierung und fragen danach, wie viele Hassmu- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
sikkonzerte und Nazigroßveranstaltungen stattgefunden Winkelmeier [fraktionslos])
haben. Die erste Antwort liegt uns vor. Allein im zweiten
Quartal dieses Jahres – das muss man sich einmal vor- All das gehört endlich einmal gründlich aufgerollt. Mit
stellen – haben 40 Großveranstaltungen stattgefunden. unserer Großen Anfrage, deren Beantwortung durch die
Der VS verschweigt uns darüber hinaus noch einige Bundesregierung offensichtlich lange Zeit braucht – wir
Zahlen, weil er nicht bekannt machen will, dass er mög- haben sie vor fast einem Dreivierteljahr eingebracht,
licherweise Informanten dort hat. aber sie soll erst im März beantwortet werden; deswegen
führen wir zwischenzeitlich diese Debatte –, wollen wir
(B) Überhaupt zeigt ein Blick in den Verfassungsschutz- Antworten erzwingen, um das bisherige Versagen der (D)
bericht, wie verharmlost und bagatellisiert wird. Insbe- Politik im Kampf gegen Neofaschismus zu thematisieren
sondere nach dem gescheiterten Verbotsverfahren ge- und darauf hinzuwirken, dass weitere Maßnahmen zu
gen die NPD wurden Schily und sein Ministerium nicht seiner Bekämpfung entwickelt werden.
müde, zu betonen, dass die NPD dennoch geschwächt
worden sei – eine fatale Fehleinschätzung. Dass die Danke schön.
NPD zunehmend zur ersten Wahl junger Menschen ge- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
worden ist und sich längst eine Stammwählerschaft auf- Winkelmeier [fraktionslos])
gebaut hat, spiegelt sich weder in einem Bericht eines
der Landesämter für Verfassungsschutz noch im Bericht
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
des Bundesamtes für Verfassungsschutz wider.
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Umso dringlicher ist es, fundierte Analysen – wie die Peter Altmaier für die Bundesregierung.
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung –, wissenschaftli-
chen Sachverstand und Erfahrungen aus der antifaschis- Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
tischen Praxis heranzuziehen, um endlich politische Ge- minister des Innern:
samtstrategien gegen Neofaschisten und ihre Politik zu Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bun-
entwickeln. desregierung nimmt Wahlerfolge rechtsextremer Parteien
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert und extremistische Tendenzen jeder Art sehr ernst. Sie ist
Winkelmeier [fraktionslos]) entschlossen, einen wirksamen Beitrag zu ihrer Bekämp-
fung zu leisten.
Ein geeigneter Nährboden für die Neonazis sind lei-
Frau Kollegin Jelpke, Sie haben die Große Anfrage
der auch die Ansichten und Haltungen in der so genann-
ten Mitte der Gesellschaft. Ich zitiere aus der oben ge- angesprochen. Wir haben angekündigt, dass sie, wie es
nannten Rechtsextremismusstudie: sich gehört, nach einem überschaubaren Zeitraum beant-
wortet wird. Seit März 2006 haben wir insgesamt zwölf
Wir haben festgestellt, dass der Begriff „Rechts- Kleine Anfragen zu diesem Thema, davon allein elf von
extremismus“ irreführend ist, weil er das Problem der Linken,
als ein Randphänomen beschreibt. Rechtsextremis-
(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])
mus ist aber ein politisches Problem in der Mitte
der Gesellschaft. Das kann nicht ausdrücklich ge- mit 184 Fragen beantwortet. Die jetzige Große Anfrage
nug betont werden. umfasst 286 Fragen, mit Unterfragen sind es 380. Wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6217
Parl. Staatssekretär Peter Altmaier
(A) werden unser Bestes tun, um auch diese Fragen zu be- Ort in den Ländern und in den Kommunen dafür sorgen, (C)
antworten. Aber Sie dürfen nicht der Illusion unterlie- dass solche Angebote entstehen.
gen, dass man den Rechtsextremismus in Deutschland
nur mit Kleinen und Großen Anfragen bekämpfen kann. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- der Kollegin Dagdelen?
SES 90/DIE GRÜNEN)
Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Wenn wir eine wirksame Strategie gegen den Rechts- minister des Innern:
extremismus und gegen den Extremismus insgesamt ent- Bitte sehr.
wickeln wollen, dann brauchen wir ein vernünftiges und
ausgewogenes Konzept repressiver und präventiver
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Maßnahmen. Beispielsweise ist es so, dass in deutschen
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär
Fußballstadien nicht nur Gewalt stattfindet, sondern
Altmaier, natürlich muss der Extremismus mit Taten be-
auch rechtsextreme und zum Teil antisemitische Parolen
kämpft werden. Aber stimmen Sie mit mir nicht auch da-
gerufen werden. Daher muss der Rechtsstaat seinen
rin überein,
Strafanspruch auch in den Fußballstadien durchsetzen.
Deshalb sind wir sehr dankbar dafür, dass der Deutsche (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)
Fußball-Bund gemeinsam mit dem Bundesinnenministe-
dass es der Sache dienlich ist, wenn Gewalttaten mit
rium dieses Problem jetzt angeht und konkrete Maßnah-
rechtsextremistischem Hintergrund ins Licht der Öffent-
men ergreift.
lichkeit gerückt werden, indem Anfragen an die Bundes-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) regierung gestellt und von dieser beantwortet werden?

Wir haben bereits im Jahr 2005 wichtige Änderungen Eine zweite Frage: Sie sagen, Sie hätten Kampagnen
des Straf- und Versammlungsrechts beschlossen, die gegen Rechtsextremismus und unternähmen viel. Es gab
auch in Kraft getreten sind und die Möglichkeiten der in Durban in Afrika 2001 eine Weltkonferenz, auf der
Behörden verbessern, rechtsextremistische Versammlun- die Bundesregierung – damals übrigens noch rot-grün –
gen zu verbieten. Wir werden die Beobachtung dieser (Reinhard Grindel [CDU/CSU], zum BÜND-
Organisationen durch den Verfassungsschutz unvermin- NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Versagen auf
dert fortführen und durch die Strafverfolgungsbehörden der ganzen Linie!)
einen hohen Verfolgungsdruck aufrechterhalten.
(B) versprochen hat, einen nationalen Aktionsplan gegen (D)
Wenn es richtig ist, dass wir auch repressive Maß- Rassismus vorzulegen und umzusetzen. Auf eine Kleine
nahmen brauchen, dann würde ich mir insbesondere auf Anfrage der Linksfraktion ist von der Bundesregierung
Ihrer Seite des Hauses, meine Damen und Herren von geantwortet worden, dass man es nicht geschafft habe,
der Linken, aber auch von manchen Kolleginnen und einen nationalen Aktionsplan zu entwerfen, weil es so
Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen mehr Offenheit schwierig sei, alle Ressorts mit einzubinden. Daraufhin
wünschen, wenn es darum geht, der Polizei und den hat der Interkulturelle Rat 2003 einen Vorschlag für ei-
Nachrichtendiensten die Mittel an die Hand zu geben, nen Aktionsplan vorgelegt – als Hilfestellung für die da-
die sie zur wirksamen Bekämpfung extremistischer Ten- malige rot-grüne Bundesregierung.
denzen auch tatsächlich brauchen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Frau Kollegin, ich darf Sie bitten, sich kurz zu fassen.
Sie sind fertig?
Darüber hinaus brauchen wir auch Prävention. Wir
müssen mit diesen Themen sensibel umgehen. Deshalb Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
ist es richtig, dass die Innenminister von Bund und Län- Ich möchte fragen, ob es zu den Handlungen der Bun-
dern bereits zu Beginn dieses Jahres eine breit angelegte desregierung gegen Rechtsextremismus gehört, dass die-
Aufklärungskampagne über den Rechtsextremismus be- ser nationale Aktionsplan gegen Rassismus, der schon
schlossen haben. Wir werden in den Schulen mit einem 2001 versprochen wurde, 2006 noch immer nicht auf
Medienpaket, das den Titel „Wölfe im Schafspelz“ trägt, dem Tisch liegt.
darüber informieren. Wir werden vonseiten des Innenmi-
nisteriums in einem ganz konkreten Programm mit sehr
Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
genauen und spezifischen Maßnahmen, etwa über das
minister des Innern:
Technische Hilfswerk, in den neuen Bundesländern ins-
Frau Kollegin Dagdelen, ich halte es für eine Selbst-
besondere dort, wo junge Menschen dem Werben und
verständlichkeit, dass wir extremistische Vorfälle offen
der Ideologie der NPD und anderer derartiger Parteien
ansprechen und auch in der Öffentlichkeit thematisieren.
ausgesetzt sind, dafür sorgen, dass es gerade im Bereich
Aber das müssen wir mit Verantwortung und Augenmaß
der Jugendarbeit Angebote gibt, die jungen Menschen
tun.
eine Perspektive bieten, sich auch jenseits rechtsextre-
mer Organisationen zu betätigen. Wir werden mit dem Ich erinnere mich daran, in welch aufgeregter Atmo-
THW, mit der Bundespolizei und mit den Strukturen vor sphäre vor der Fußballweltmeisterschaft über angebliche
6218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Parl. Staatssekretär Peter Altmaier


(A) No-go-Areas in den neuen Bundesländern gesprochen Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (C)
worden ist. minister des Innern:
Frau Kollegin Jelpke, zum einen war das damals nicht
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist das!) mein Ministerium, sondern es handelte sich um das In-
Dann hatten wir einen friedlichen Verlauf der Fußball- nenministerium der Bundesrepublik Deutschland.
WM und auch seither ist dieses Thema in der öffentli- Wir haben mit dem besagten Verfahren mit Sicherheit
chen Debatte nicht mehr aufgetaucht. keinen Beitrag dazu geleistet, der NPD wirksam entge-
Ich glaube, dass man Rechtsextremismus nicht da- genzutreten. Deshalb gilt – diese Haltung wird vom
durch bekämpft, dass man künstlich eine aufgeheizte Bundesinnenministerium und von der großen Mehrzahl
Debatte erzeugt, die dann eher solchen Tendenzen Vor- der Innenminister und Innenministerinnen der Länder
schub leistet, als einen wirksamen Beitrag zu ihrer Behe- geteilt –, dass wir solche Maßnahmen so lange nicht er-
bung leistet. greifen, bis sichergestellt ist, dass sie auch zum Erfolg
führen. Ich glaube, auch das gehört zu einem verantwort-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichen Umgang mit diesem Problem.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Meine Damen und Herren, ich frage mich schon, wie
frage der Kollegin Jelpke? es kommt, dass die PDS bzw. die Linkspartei so enga-
giert diese Themen anspricht, aber in den wenigen Län-
(Sevim Dagdelen [DIE LINKE]: Meine ist dern, wo sie mitregiert, die Situation vor Ort um keinen
noch gar nicht beantwortet!) Deut besser ist als in anderen Regionen unseres Landes.
(Widerspruch bei der LINKEN – Helmut
Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Brandt [CDU/CSU]: Im Gegenteil! Da kom-
minister des Innern: men die her!)
Ja.
Ich würde mir wünschen, dass jeder in seinem Bereich
das tut, was notwendig ist, damit ein gemeinsames Vor-
Ulla Jelpke (DIE LINKE): gehen von Bund, Ländern und Kommunen möglich
Herr Staatssekretär, auf Ihre Ausführungen zu den wird. Das sind wir diesem Problem und seiner Bedeu-
Kleinen Anfragen will ich gar nicht eingehen. Es ist un- tung schuldig.
ser gutes Recht als Fraktion in diesem Parlament, Anfra-
(B) gen zu stellen. Vielen Dank. (D)

(Zuruf von der CDU/CSU: Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Ich glaube, das war auch sehr nützlich, insbesondere was
die beständige Veröffentlichung von Gewalt- und Straf- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
taten von Neofaschisten angeht. Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für
Meine Frage bezieht sich auf das NPD-Verbot. Sie die FDP-Fraktion.
wissen, dass das NPD-Verbotsverfahren gescheitert ist, (Beifall bei der FDP)
weil Ihr Ministerium nicht bereit war, die V-Leute aus
der NPD abzuziehen.
Ernst Burgbacher (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herren! Wir reden über ein ernstes Problem, nämlich
Frau Kollegin, würden Sie sich auf die Frage konzen- darüber, dass der Rechtsextremismus offenbar zunimmt.
trieren. Wir kennen die Wahlergebnisse. Wir kennen auch an-
dere Zahlen. So stellt etwa der Verfassungsschutzbericht
Ulla Jelpke (DIE LINKE): für das Jahr 2005 fest, dass die Zahl der Gewalttaten um
Sind Sie bereit, diesbezügliche Schritte zu unterneh- über 23 Prozent angestiegen ist. Wir reden also über et-
men? Zwei Verfassungsrichter haben gesagt, dass man, was, was wir ernst zu nehmen haben. Ich bezweifele
wenn die Bundesregierung ihre V-Leute abzieht, ein aber, ob solche populistischen Aktionen wie heute ir-
neues Verfahren durchführen könne. Sind Sie dazu be- gendeinen Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
reit? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Zuruf des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ Am 20. September dieses Jahres fand hier eine Aktu-
DIE GRÜNEN]) elle Stunde zu genau demselben Thema statt. Diese war
– Wieso? Das ist doch bekannt. sicherlich auch gerechtfertigt. Jetzt liegt eine Große An-
frage der Linken vor, deren Beantwortung noch nicht er-
folgt ist. Ich frage mich, was die heutige Debatte bringen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: soll. Wenn sie irgendwelche neuen Ansätze aufzeigt,
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Antwort. wenn sie irgendwo mehr Klarheit bringt, dann wäre sie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6219
Ernst Burgbacher
(A) angemessen. Ich kann aber Ihren Reden keinen einzigen nicht nur Wissen einpfropft, sondern auch Selbstbe- (C)
Punkt entnehmen, der uns weiterbringen würde. wusstsein vermittelt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das sind doch die Fragen, die wir heute stellen müs-
sen: Was ist mit unserem Bildungssystem? Wo sind die
Ich sage noch einmal deutlich: Die FDP hat es be- gesellschaftlichen Strukturen, die den Menschen erlau-
grüßt, dass die Bundesregierung nun endlich die Mittel ben, sich selbst zu verwirklichen und zu fühlen, dass sie
für Programme gegen Rechtsextremismus erhöht hat. wieder akzeptiert werden? Offenbar sind das entschei-
Wir haben das immer gefordert. Das ist auch gut so. Wir dende Punkte.
wissen aber auch, dass der Staat hier nicht alleine han-
deln kann, sondern wir eine ganze Menge privater Initia- Es ist sicher richtig, es hängt nicht nur von den wirt-
tiven brauchen. Wir müssen allerdings auch überprüfen, schaftlichen Gegebenheiten ab. Das zeigt die Studie der
was dort getan wird. Ohne die privaten Initiativen vor Friedrich-Ebert-Stiftung, das wussten wir aber auch
Ort wird das Problem sicherlich nicht zu lösen sein. Des- schon vorher. Es ist viel zu plump, zu sagen, dort, wo die
halb begrüßen wir diese ausdrücklich. wirtschaftlichen Verhältnisse ganz schlecht sind, ist der
Rechtsextremismus hoch. Aber ganz wesentlich sind die
Wir sagen aber genauso – diesen Bereich haben auch Fragen – ich fasse zusammen –: Wo sind die Strukturen
Sie, Herr Staatssekretär Altmaier, angesprochen –, wir so in Ordnung, dass junge Menschen sich geborgen und
brauchen eine deutliche Präsenz des Staates, wenn Ge- akzeptiert fühlen? Wo sind die Strukturen im Bildungs-
walt bekämpft werden soll. Wir wissen, dass die Präsenz system so, dass junge Menschen Werte vermittelt be-
von Polizei vor Ort vieles im Ansatz verhindern kann. kommen, mit denen sie lebenstüchtig werden? Außer-
Deshalb gilt auch hier: Wir müssen alles tun, damit eine dem müssen die wirtschaftlichen Voraussetzungen den
hohe Polizeipräsenz vor Ort gewährleistet werden kann. Menschen eine Perspektive geben, die es ihnen erlaubt,
Hierfür die Mittel herunterzufahren, wäre auch ange- an die eigene Zukunft zu glauben. Wenn wir in diese
sichts dieses Problems sträflich. Richtung weitergehen, dann machen wir einen wirk-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lichen Schritt, Rechtsextremismus zu bekämpfen.
der CDU/CSU) Herzlichen Dank.
Nun ist, meine Damen und Herren, die Studie der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Friedrich-Ebert-Stiftung, die gestern veröffentlicht wurde, der CDU/CSU)
schon angesprochen worden. Ich will auf einige wenige
Punkte aus dieser Studie eingehen. Ich glaube aber, nie-
mand von uns ist heute in der Lage, Antworten zu geben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) Interessant finde ich die Studie aber schon. Da heißt es Nun erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele (D)
zum Beispiel: Fograscher für die SPD-Fraktion.
Die Rechtsextremen fühlen sich weniger akzeptiert (Beifall bei der SPD)
und in ihrer Umgebung weniger wohl und sicher.
Des Weiteren schätzen sie ihre eigene subjektive Gabriele Fograscher (SPD):
wirtschaftliche Situation schlechter ein … Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zudem schätzten Rechtsextreme im Vergleich zu Nicht- Rechtsextremismus unserer Zeit hat viele Erscheinungs-
rechtsextremen die aktuelle wirtschaftliche Situation formen. Neben den Parteien NPD, DVU und den Reps
Deutschlands als schlechter ein. existiert eine Vielzahl von Organisationen, Zusammen-
schlüssen und Kameradschaften. Sie agieren in den
Wenn wir uns das vor Augen führen, stellen wir fest, unterschiedlichsten Bereichen des politischen und ge-
dass Lösungsansätze ganz woanders liegen müssen. Wir sellschaftlichen Lebens. Was sie eint, sind eine Ideologie
müssen alles versuchen, dass die wirtschaftliche Situa- der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemi-
tion in diesem Lande wieder so wird, dass die Arbeitslo- tismus, des Geschichtsrevisionismus und eine generelle
sigkeit sinkt und insbesondere dass die Menschen, auch Demokratiekritik. Ihr Ziel ist es, Demokratie zu über-
die jungen Menschen, wieder eine Perspektive für sich winden. Dabei schrecken sie vor Gewalt nicht zurück.
selbst sehen, dass sie sehen, dass sie selbst etwas in die Das belegen die aktuellen Zahlen, die heute schon
Hand nehmen können und die Chance haben, aus ihrer genannt worden sind: 15 361 rechtsextremistische Straf-
momentanen Situation wieder herauszukommen. Das ist taten im Jahr 2005; das ist ein Anstieg um 27 Prozent.
das Allerwichtigste und da gibt es eine Menge zu tun,
was wir augenblicklich in diesem Land leider nicht tun. Aber nicht nur die Straftaten belegen ein Anwachsen
des Rechtsextremismus. Es sind die fremdenfeind-
(Beifall bei der FDP) lichen Übergriffe, die Aufmärsche neonazistischer Orga-
nisationen, die Wahlerfolge der rechtsextremen Parteien,
Ein Zweites sind die Lebensumstände. Ich erinnere eine Vielzahl von Konzerten, Internetseiten, eine Flut
an das Ergebnis der Studie: „Die Rechtsextremen fühlen von Schriften, CDs mit rechter Musik und Symbolen.
sich weniger akzeptiert“. Wovon hängt es denn eigent- All das sind sichtbare Aspekte dieses Phänomens.
lich ab, ob ich mich akzeptiert fühle? Es hängt sehr stark
vom Arbeitsplatz ab, aber in hohem Maße auch davon, Dabei verfolgt die NPD eine gezielte Strategie. Sie
ob ich einen Familienverbund um mich herum habe, ob versucht in den ländlichen Räumen in Vereinen, Bürger-
ich in einem Bildungssystem groß geworden bin, das mir initiativen und Kommunalparlamenten Einfluss zu ge-
6220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Gabriele Fograscher
(A) winnen und das gesellschaftliche Klima zu bestimmen. möchte ich mein Unverständnis gegenüber der Staats- (C)
Leider gelingt ihr das auch. anwaltschaft Stuttgart und dem Stuttgarter Oberlandes-
gericht zum Ausdruck bringen. Hier wurden Menschen
Der Einfluss junger Rechtsextremer in der Partei
angeklagt, die eindeutig ihre antifaschistische Einstel-
ist gewachsen. Das schlägt sich auch in der neuen
lung zum Beispiel durch das Tragen von Buttons mit
programmatischen Ausrichtung nieder. Während sich
durchgestrichenen Hakenkreuzen zeigen. Falls das Ur-
die NPD früher als konservativ-antikommunistische
teil rechtskräftig werden sollte, muss eine Klarstellung
Partei sah, versteht sie sich heute als revolutionär-antika-
durch ein Gesetz erfolgen. Die Bundesjustizministerin
pitalistisch. Ihr Ziel ist es, nicht eine Partei unter vielen,
hat dies auch angekündigt.
sondern eine grundsätzliche Alternative und übergrei-
fende Bewegung zu sein, die vor allem die Alltagskultur (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
durchdringt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Rechtsextremismus ist keine Randerscheinung, son- Repressive Maßnahmen allein reichen nicht aus.
dern ein massives gesellschaftliches Problem. Weder wir Selbst wenn es uns gelänge, die NPD zu verbieten, müs-
als Abgeordnete noch die Bürgerinnen und Bürger dür- sen wir trotzdem die politische Auseinandersetzung mit
fen wegschauen. Wir müssen handeln, die Zivilgesell- dem rechten Gedankengut führen. Die Bundesprogram-
schaft stärken, Demokratie leben und Respekt gegenüber me, die 2001 durch die rot-grüne Bundesregierung ins
anderen zeigen. Leben gerufen wurden, haben Erfolge erzielt. Es wurden
4 500 Projekte mit insgesamt 192 Millionen Euro geför-
Immer wieder wird behauptet, Linksextremismus und
dert. Ziel dieser Projekte war es, die Zivilgesellschaft zu
islamistischer Extremismus würden unsere Demokratie
stärken, Opfern rechtsextremer Gewalt zu helfen und
und unser Land in gleichem Maße gefährden. Doch Netzwerke zu schaffen.
diese Aussage ist falsch. Denn die Zahlen, die die
Grundlage für unsere Politik bilden, sprechen eine ein- Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung diese
deutige Sprache: 15 361 rechtsextremistisch motivierten Programme gegen Rechts weiterführt und weiterentwi-
Straftaten stehen 2 305 linksextremistisch und 644 isla- ckelt. Es stehen 2007 wiederum 19 Millionen Euro dafür
mistisch motivierte Straftaten gegenüber. Damit ist für zur Verfügung.
mich eindeutig, dass der Rechtsextremismus das größte
Ich will hier noch einmal unseren Berichterstattern
Problem darstellt, dem wir uns stellen müssen.
Kerstin Griese und Frank Schmidt dafür danken, dass es
Rechtsextremismus ist ein Problem in der Mitte der gelungen ist, weitere 5 Millionen Euro in dem Pro-
Gesellschaft. Er ist kein Jugendproblem allein. Rechte gramm zu verankern, um die Mobilen Beratungsteams
Einstellungen sind in allen Altersgruppen, in allen und die Opferberatungen weiterführen und auch auf das
(B) (D)
Bundesländern und in allen gesellschaftlichen Gruppen Bundesgebiet ausdehnen zu können.
vorhanden. Die gestern veröffentlichte Studie der Fried-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rich-Ebert-Stiftung belegt, dass jeder zehnte Deutsche
DIE GRÜNEN)
rechten Einstellungen und vor allem ausgesprochen aus-
länderfeindlichen und antisemitistischen Aussagen zu- Auch im Bereich der Bundeszentrale für politische
stimmt. Das ist besorgniserregend. Bildung kommt es im kommenden Jahr zu keiner Kür-
zung der Mittel. Auch die Arbeit des „Bündnis für De-
Der Herr Staatssekretär hat vorhin schon auf die Maß-
mokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Ge-
nahmen hingewiesen, die wir ergriffen haben. Wir brau-
walt“, das im Jahr 2000 vom BMI und vom BMJ
chen die repressiven Maßnahmen im Zusammenhang
gegründet wurde, ist finanziell abgesichert. Mit dem
mit dem Versammlungsrecht, das wir in der letzten
heutigen Beschluss des Haushaltsausschusses werden
Legislaturperiode beschlossen haben. Die Möglichkei-
die Mittel in Höhe von 700 000 Euro auch hier auf
ten, Versammlungsverbote auszusprechen, sind erweitert
1 Million Euro aufgestockt. Auch das ist ein gutes Si-
worden. Damals hatte sich die PDS verweigert und dem
gnal. Ich will hier unserer Berichterstatterin Bettina
Gesetz nicht zugestimmt. Wer sich aber über den Rechts-
Hagedorn ganz herzlich für ihren Einsatz danken.
extremismus empört, der muss ihn auch mit rechtsstaat-
lichen Mitteln bekämpfen. (Beifall bei der SPD)
Die Maßnahmen zeigen Wirkung. Das Verwaltungs- Das Bündnis sammelt und bündelt derzeit circa 1 300
gericht Bayreuth hat im Juli 2005 auf Grundlage des Gruppen und Initiativen. Es zeichnet vorbildliche Pro-
neuen Versammlungsrechts den Aufmarsch zum Ge- jekte aus und empfiehlt diese zur Nachahmung. Wenn
denken an Rudolf Heß in Wunsiedel verboten. Auch Sie bei der Verleihung des Victor-Klemperer-Preises für
am heutigen Tag ist der in München angemeldete Demokratie und Toleranz anwesend waren, dann wissen
Aufmarsch der Rechten aus Anlass der Einweihung der Sie, dass es Mut macht, wenn man sieht, was junge
Synagoge verhindert worden. Allerdings – auch das ist Leute in den Schulen und in den Initiativen auf die Füße
Realität in unserem Land – können die Feierlichkeiten in stellen, um sich für Toleranz und Demokratie einzuset-
München nur unter sehr großen Sicherheitsvorkehrun- zen.
gen stattfinden.
Allerdings kann der Bund mit seinen Möglichkeiten
Auch das Strafrecht wurde geändert, um der Verherr- die Aufgabe nicht allein schultern. Bundesländer und
lichung der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft besser Kommunen müssen sich stärker engagieren. Hier spielt
entgegentreten zu können. In diesem Zusammenhang nicht nur die Bildung eine wesentliche Rolle, sondern
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6221
Gabriele Fograscher
(A) auch die Unterstützung von lokalen Initiativen in den nen die rechtsextremen Einstellungen weiter gelebt und (C)
Kommunen. Hier haben wir ein Problem, denn viele in die Kindererziehung eingebracht werden. Auch Frauen
Kommunen schauen immer noch weg und wollen das engagieren sich zunehmend in rechten Parteien und
Problem nicht wahrhaben. Zum Teil behindern sie auch Gruppierungen. Es gibt mittlerweile viele, die im Rassis-
Projekte und Initiativen vor Ort. Deshalb brauchen wir mus, Antisemitismus und Nationalismus Selbstverwirkli-
im neuen Programm auch die Möglichkeit, dass örtliche chung suchen und sich zunehmend organisieren.
Initiativen ohne Zustimmung der Kommunen Mittel be-
Nicht nur die Grenzen zwischen den Geschlechtern
antragen können, um ihre Arbeit fortführen zu können.
werden durchlässiger. Auch Ländergrenzen verwischen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten immer mehr. Die Strukturen vernetzen sich international.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber auch in der näheren Umgebung kann jeder Ein-
zelne genügend Probleme erkennen.
Es ist und bleibt notwendig, dass sich der Bundestag
immer wieder mit dem Thema Rechtsextremismus Einige Beispiele dazu: Am vergangenen Wochenende
auseinander setzt. Am 20. November haben wir eine Anhö- wird die Journalistin Andrea Röpke in Brandenburg in
rung zu diesem Thema. Dazu liegen Anträge der Opposi- einem Supermarkt von Rechtsextremen angegriffen;
tionsparteien vor. Ich appelliere in diesem Zusammen- aber niemand half ihr bzw. steht für Zeugenaussagen be-
hang auch an den Koalitionspartner, dass es uns bis dahin reit. In Parey wird Mitte Oktober ein Schüler mit einem
gelingt, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Das antisemitischen Schild um den Hals von Mitschülern
Thema ist uns zu wichtig, als dass die große Koalition über den Schulhof geschickt. In Pretzien wird Mitte Juni
dabei sprachlos bleiben kann. bei einer so genannten Sonnenwendfeier das „Tagebuch
der Anne Frank“ verbrannt und niemand der Anwesen-
(Beifall bei der SPD) den findet etwas dabei. In Ratingen kann ein Rentner
Ich komme zum Schluss. Die aktuelle Umfrage ist eine Woche lang eine selbst gebastelte Hakenkreuzfahne
heute schon mehrfach zitiert worden. Ich glaube, wir alle von seinem Balkon hängen lassen, bevor Anwohner die
müssen sie noch einmal genauer lesen und studieren und Polizei verständigen.
auch unsere Schlüsse daraus ziehen. Eine aktuelle Um-
frage von Infratest dimap zeigt, dass die Zustimmung Selbst die Polizei ist vor rechtsextremen Angriffen
zur Demokratie sinkt. nicht mehr sicher, wie der Vorfall am letzten Wochenende
in Gerwisch, wo einem Polizisten die Nase gebrochen
wurde, oder der Übergriff aus dem Naziladen „Werwolf“
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: in Wismar, bei dem die Polizei mit Baseballschlägern be-
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu droht wurde, zeigt. Auch bei Fußballspielen kommt es
kommen. immer wieder zu rassistischen und antisemitischen Hetz- (D)
(B)
parolen und Übergriffen in und um die Stadien.
Gabriele Fograscher (SPD):
Im Osten sind nur noch 32 Prozent der Bevölkerung Es ist beunruhigend, wie oft rechtsextreme, rassisti-
mit der Demokratie zufrieden. Im Westen sind die Werte sche und antisemitische Ideologie in den Köpfen schein-
etwas höher. Auch diese Zahlen müssen für uns Demo- bar ganz normaler Menschen zu finden ist. Die Ergeb-
kratinnen und Demokraten Anlass sein, im Werben um nisse von Studien und Umfragen sind meist ernüchternd;
die Demokratie und im Kampf gegen den Rechtsextre- die Ergebnisse der aktuell vorliegenden Studie wurden
mismus nicht nachzulassen. heute schon mehrfach erwähnt. Solche Einstellungen
sind aber sozialer und politischer Zündstoff.
Vielen Dank.
Die Frage ist nun: Wie können wir dieser gefährlichen
(Beifall bei der SPD) Entwicklung entgegenwirken? Zum einen brauchen wir
Schadensbegrenzung. Das heißt, wir müssen verhin-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dern, dass sich das Problem ausweitet.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Lazar
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Zum Zweiten brauchen wir – das ist die eigentliche Auf-
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gabe, wenn wir langfristig Erfolg haben wollen – prä-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ventive Ansätze. Wir müssen deshalb Initiativen stär-
Die Große Anfrage der Linksfraktion spricht an, was ken, die sich für mehr Demokratie vor Ort einsetzen. Das
auch wir Grünen seit langem immer wieder betonen: neue Bundesprogramm soll dazu beitragen. Leider hat es
Rechtsextremismus wirkt heute in viele Bereiche der einen entscheidenden Fehler: Es verwehrt lokalen freien
Gesellschaft hinein. Dies wird auch durch die aktuelle Trägern, Anträge auf Bundesförderung zu stellen. Viel-
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigt. Die Bun- mehr müssen sie bei den Kommunen betteln gehen. Die
desregierung sollte deshalb diese umfangreiche Anfrage Kommunen sind meist überfordert und selbst Teil des
nicht als lästige Fleißarbeit betrachten, sondern für eine Problems. Wir fordern daher von der großen Koalition
inhaltliche Auseinandersetzung nutzen. ein gleichberechtigtes Antragsrecht für freie Träger und
Kommunen.
Das Klischee eines typischen Rechtsextremisten: jung,
männlich, ungebildet, der wieder „normal“ wird, wenn er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freundin und Kinder hat, stimmt so nicht. Zunehmend und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
kommt es zur Gründung „nationaler Familien“, in de- der SPD)
6222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Monika Lazar
(A) Ein wichtiger Baustein der Prävention ist eine Bil- Auf Führungsebenen der NPD arbeiteten diese V-Leute (C)
dungspolitik, die, angefangen von der Kita bis hin zur Hetzkampagnen gegen Minderheiten und die demokrati-
Erwachsenenbildung, auf die Vermittlung demokrati- sche Verfasstheit dieses Staates aus. Das ist der eigentli-
scher Kompetenzen setzt. Basis dafür ist ein Menschen- che Skandal des damals gescheiterten Verbotsverfah-
bild, das von Anerkennung, Toleranz und Gleichberech- rens.
tigung geprägt ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Viele Jugendliche geraten über Angebote im vorpoli-
tischen Raum in die Neonaziszene. Hier sind die Länder Dieses Scheitern hatte böse politische Folgen. Die
und Kommunen in der Pflicht, Orte zu schaffen und zu NPD ist aus dem Verfahren gestärkt herausgekommen,
erhalten, die jungen Menschen gemeinschaftliches En- hat mehr Mitglieder, Wähler und Mandate als vor der
gagement ermöglichen. Die Mittel für Jugend-, Sozial- Einleitung des Verfahrens. Die NPD kann heute unange-
und Kulturarbeit dürfen nicht weiter gekürzt werden. Sie fochten als Speerspitze den organisierten Rechtsextre-
sind eine Investition in die demokratische Zukunft unse- mismus führen. Es ist sogar so, dass das gescheiterte
res Landes. Verfahren der NPD eine gewisse Legitimierung gebracht
hat und dadurch Distanz zu bürgerlichen Kreisen abge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN baut wurde.
und bei der LINKEN)
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Verfahrens-
Wir dürfen uns nicht damit herausreden, dass der Bund einstellung ein vernichtendes Urteil über die V-Mann-
nicht zuständig ist; denn hier ist jeder gesellschaftliche Praxis der Geheimdienste gefällt. Es hat die Messlatte
Bereich gefragt. für ein erneutes NPD-Verbotsverfahren keinesfalls un-
Aber auch jeder Einzelne in seinem Alltag ist verant- endlich hoch gelegt. Es hat lediglich zu Recht verlangt,
wortlich. Für uns Politikerinnen und Politiker gilt das dass diese V-Leute an verantwortlicher Stelle abgeschal-
ebenso. Wir müssen die Sorgen der Leute ernst nehmen tet werden.
und uns glaubwürdig um deren Probleme kümmern. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Silke
Wenn die demokratische Politik das nicht schafft, dann Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tun das andere. NEN)
Ich wünsche mir, dass wir der Bevölkerung ein gutes
Wenn dieser Formfehler der unzulässigen Beweisfüh-
Beispiel geben und in diesem Punkt einen gemeinsamen
rung gegen die NPD mittels Zitaten aus Dokumenten
demokratischen Konsens finden.
und Äußerungen, die die V-Leute selbst verfasst haben,
(B) Vielen Dank. beseitigt wird, dann steht einem neuen Verbotsverfahren (D)
nichts mehr im Wege.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Leider waren bis jetzt weder der Bundesinnenminister
noch seine Länderkollegen bereit, diese Konsequenzen zu
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ziehen. Es ist also ein Versäumnis der Regierung, dass das
Verfahren bis heute noch nicht wieder auf die politische
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Gert Winkel-
Tagesordnung gesetzt werden konnte. Herr Altmaier,
meier.
auch Ihre Worte ändern daran nichts.
(Beifall bei der LINKEN)
Die vielen Gewalt- und Straftaten, die von Neonazis
täglich verübt werden, sind parteipolitisch motiviert und
Gert Winkelmeier (fraktionslos): werden unter anderem von der NPD und ihr nahe stehen-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! den Organisationen organisiert. Diese Tatsache findet
Wie notwendig die Debatte zum Rechtsextremismus ist sich in der Losung „Faschismus ist keine Meinung, son-
und wie notwendig es ist, dass die Bundesregierung dern ein Verbrechen!“ wieder.
Maßnahmen ergreift, zeigen die Zahlen, die gestern ver-
öffentlicht wurden; meine Kollegin Ulla Jelpke hat be- (Beifall bei der LINKEN)
reits darauf hingewiesen. Wenn wir heute in der Bevöl-
Verbrechen müssen verfolgt und geahndet werden. Des-
kerung eine gestiegene Akzeptanz der NPD und anderer
halb muss das Nachdenken über ein NPD-Verbot und
faschistischer Parteien feststellen, dann hat das sehr viel
selbstverständlich auch über ein Verbot der Bildung et-
mit der Politik des Sozialabbaus dieser und früherer
waiger Nachfolgeorganisationen erneut beginnen.
Bundesregierungen zu tun.
Erinnern möchte ich deshalb an eine verpasste Vielen Dank.
Chance aus dem Jahre 2003. Das damalige NPD-Ver- (Beifall bei der LINKEN)
botsverfahren ist kläglich gescheitert, weil die Richter
nicht mehr erkennen konnten, ob die NPD von ihren ei-
genen Leuten oder von staatlich bezahlten V-Männern Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
des Verfassungsschutzes geführt wurde. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Kristina Köhler für die CDU/CSU-Fraktion.
(Sebastian Edathy [SPD]: Na, na, na! So war
das nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6223

(A) Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Dieses gegenseitige Sichhochschaukeln von rechts- und (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! linksextremistischen Gewalttaten, ein Anstieg um
Rassismus und Nationalismus widersprechen unserer 111 Prozent seit 2002, müssen wir in den Blick nehmen,
freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie haben in wenn wir uns sehenden Auges mit diesem Phänomen
Deutschland keinen Platz. Die Bekämpfung des men- auseinander setzen wollen.
schenfeindlichen Rechtsextremismus ist deshalb eine
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
unserer zentralen innen- und gesellschaftspolitischen
Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das nennt man Ba-
Aufgaben. Daran besteht kein Zweifel.
gatellisieren!)
Seien wir aber ehrlich: So einig wir uns über das Ziel
Sehenden Auges zu handeln, heißt aber auch, dass wir
sind, so umstritten ist der Weg dorthin. Für die CDU/
nicht ständig ein und denselben Fehler machen dürfen,
CSU gilt bei der Auseinandersetzung mit dem Rechts-
nämlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung
extremismus eine Prämisse: Gegen blinden Hass muss
und die Menschen in diesem Lande schwachreden und
man sehenden Auges kämpfen. Was meine ich damit?
den Extremismus stark.
„Sehenden Auges“ heißt zunächst einmal, die Realität in
den Blick zu nehmen. Frau Kollegen Fograscher, Sie (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sprachen eben die etwa 15 000 rechtsextremistischen NEN]: Aber so ist es!)
Straftaten an, die es laut Verfassungsschutzbericht 2005
gab, und leiteten daraus die These ab, dass der Rechts- Das versucht etwa die Linkspartei, wie wir erkennen,
extremismus wesentlich gefährlicher ist als der Links- wenn wir uns den Text ihrer Großen Anfrage durchlesen.
extremismus und der Islamismus. Sie müssen aber schon Sie versucht, den Begriff „rechtsextrem“ so weit auszu-
genauer hinschauen: Von diesen 15 000 Straftaten sind dehnen, dass ein Großteil der Menschen in diesem
nur 6 Prozent Gewalttaten. Der Rest sind vor allen Din- Lande auf das Übelste verunglimpft wird. Von den Grü-
gen Propagandadelikte, zum Beispiel Hakenkreuz- nen bis zur CDU gibt die Linkspartei in ihrem Text allen
schmierereien. die Schuld am Anwachsen des Rechtsextremismus,

(Sebastian Edathy [SPD]: Ich finde 1 000 Ge- (Sebastian Edathy [SPD]: Ich denke, er wächst
walttaten reichlich viel, Frau Kollegin!) gar nicht!)

– Herr Edathy, damit will ich auf keinen Fall sagen, falls die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland sei voll von
Sie das befürchten, dass Propagandadelikte weniger Ressentiments, Rechtsextremismus sei in der Mitte der
schlimm sind. Wenn Sie vergleichen, müssen Sie aber Gesellschaft zu finden.
zur Kenntnis nehmen, dass es auf der linksextremisti- (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)
(B) schen Seite derartige Propagandadelikte überhaupt nicht (D)
gibt. So etwas wie „Deutschland verrecke!“ steht in Das beginnt bereits bei der Terminologie. Frau Kolle-
Deutschland nicht unter Strafe. Deswegen können Sie gin Jelpke, Sie haben eben wieder vom „Kampf gegen
die Zahlen nicht einfach vergleichen. Sie vergleichen rechts“ gesprochen.
sonst Äpfel mit Birnen.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Rechts sind die
Wenn Sie vergleichen, müssen Sie schon das Gleiche Brandstifter!)
miteinander vergleichen, zum Beispiel die Gewalttaten
selbst. Dann finden Sie: 958 rechtsextremen Gewalttaten Es geht hier aber nicht um einen „Kampf gegen rechts“,
im Jahr 2005 standen 896 linksextreme Gewalttaten ge- es geht hier um den Kampf gegen Rechtsextremismus.
genüber. (Volker Schneider ([Saarbrücken] [DIE
(Zurufe von der LINKEN – Sebastian Edathy LINKE]: Das ist peinlich und billig! Das ist
[SPD]: Was soll diese Aufrechnung, Frau Stammtischniveau, wenn nicht sogar noch
Köhler? Ich verstehe das nicht!) darunter! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Traurig, traurig!)
Da können Sie doch nicht zu der Conclusio kommen,
dass der Rechtsextremismus das deutlich gefährlichere Denn rechts ist alles, was nicht links ist. Ich bin nicht
Phänomen ist. Beide Phänomene sind gefährlich, beide links und auch die CDU/CSU-Fraktion ist nicht links.
widersprechen unserer freiheitlich-demokratischen Sie wollen uns in diesen Kampf mit einbeziehen. Wegen
Grundordnung, gegen beide müssen wir vorgehen! dieses linkspopulistischen Getöses warnen wir davor,
den Weg gegen den Rechtsextremismus mit linksradika-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len oder gar linksextremistischen Gruppierungen zusam-
men zu beschreiten. Denn sie haben oft gar nicht den
Aus den Zahlen geht hervor, dass seit 2002 die Zahl
Rechtsextremismus im Fokus, sondern die bürgerliche
der fremdenfeindlichen Gewalttaten gesunken ist – das
Mitte.
können wir einmal positiv feststellen –, auch wenn sie
immer noch auf einem erschreckend hohen Niveau ist.
Interessant ist, dass ein Drittel der rechtsextremistischen Vizepräsidentin Petra Pau:
Gewalttaten mit Auseinandersetzungen mit Linksextre- Frau Kollegin Köhler, gestatten Sie eine Zwischen-
misten zusammenhängt. frage?
(Lachen bei der LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Sag Nein!)
6224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Vizepräsidentin Petra Pau: (C)


Gerne. Von wem denn? Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Vizepräsidentin Petra Pau:
Von der Kollegin Jelpke. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Jahres-
Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): steuergesetzes 2007 (JStG 2007)
Ja, gut. – Drucksachen 16/2712, 16/3036 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
schusses (7. Ausschuss)
Frau Köhler, ist Ihnen bekannt, dass es in der letzten
Legislaturperiode einen gemeinsamen Antrag von allen – Drucksachen 16/3325, 16/3368 –
Fraktionen außer CDU/CSU gab, mit dem Maßnahmen
gegen den Rechtsextremismus beschlossen wurden, ge- Berichterstattung:
gen solche Verbände, gegen solches Gedankengut usw.? Abgeordnete Olav Gutting
Ist Ihnen bekannt, dass sich Ihre Fraktion an diesem An- Gabriele Frechen
trag nicht beteiligt hat? Carl-Ludwig Thiele
Christine Scheel
Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Frau Kollegin, wir haben uns an diesem Antrag nicht gemäß § 96 der Geschäftsordnung
beteiligt, weil bei diesem Antrag wieder genau das ge- – Drucksache 16/3326 –
schehen ist, was ich eben angeprangert habe, dass näm-
lich einseitig der Rechtsextremismus herausgegriffen Berichterstattung:
wird, Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)
(Sebastian Edathy [SPD]: Nein, es wurde die
Otto Fricke
Problemlage analysiert!)
Dr. Gesine Lötzsch
anstatt gegen jeden Extremismus vorzugehen: Rechts- Anja Hajduk
extremismus, Linksextremismus und Islamismus, alles drei
gefährliche, menschenfeindliche Phänomene, die gegen un- Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
(B) sere freiheitlich-demokratische Grundordnung stehen. FDP und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen (D)
vor.
(Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy
[SPD]: Es ist unglaublich, was Sie für eine re- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
lativierende Rede halten! – Gegenruf von der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
CDU/CSU: Sie tut weh, die Wahrheit! – Se- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
bastian Edathy [SPD]: Unerträglich!) Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat
Oft wird nicht nur die bürgerliche politische Mitte ange- die Kollegin Gabriele Frechen das Wort.
griffen, sondern auch unsere freiheitlich-demokratische (Beifall bei der SPD)
Grundordnung als solche.
Frau Kollegin Jelpke, da Sie mir gerade eine Frage Gabriele Frechen (SPD):
gestellt haben, möchte ich mit Folgendem schließen: Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
haben in einer Rundmail vom 19. Oktober Ihre Ableh- Kollegen! Wir beraten heute abschließend über das
nung der Bitte um Unterstützung gegen den antisemiti- Jahressteuergesetz 2007. 30 Minuten werden wir über
schen al-Quds-Tag wie folgt begründet: Erstens. In die Ergebnisse von stundenlangen Beratungen,
Deutschland sei es mit den Frauenrechten auch nicht viel
anders als im Iran. Zweitens. Nicht jeder Mensch sehne (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Tagelangen,
sich nach Demokratie und Menschenrechten. Und wochenlangen!)
drittens – ich zitiere wörtlich –: Es gibt, um einen weite-
Anhörungen, Gesprächen der Berichterstatter und Be-
ren Kritikpunkt zu nennen, keine Universalität der Men-
sprechungen der Obleute debattieren. Als kleinen Schritt
schenrechte.
kann man das Gesetz sicherlich nicht bezeichnen; denn
Liebe Abgeordnete der Linken, die Rechtsextremen es umfasst immerhin elf Steuergesetze, sieben Verord-
werden sich freuen, so etwas zu hören. Wir tun das aber nungen und das Baugesetzbuch.
nicht. Wir werden den Rechtsextremismus und dessen
kranke Ideologie bekämpfen, indem wir unsere Demo- Wir greifen mit diesem Gesetzentwurf sowohl re-
kratie stärken – sei es mit Ihnen oder ohne Sie. daktionelle und klarstellende Änderungen als auch Än-
derungen und Anpassungen auf, die aufgrund der
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE EuGH-Rechtsprechung, der BFH-Rechtsprechung und
LINKE]: Die Zitate sind gefälscht, die Sie hier der Empfehlungen des Rechungsprüfungsausschusses
vorgetragen haben!) umzusetzen sind.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6225
Gabriele Frechen
(A) Steuerpflichtige und deren Vertreter fordern seit vie- Alter zu treffen. Gleichzeitig erweitern wir den Kreis der (C)
len Jahren, zeitig ein Jahressteuergesetz zu erlassen, Anbieter begünstigter Produkte.
in dem alle anstehenden Änderungen vorgenommen
werden, statt viele einzelne Änderungen in Raten vorzu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nehmen. Liebe Kollegin Dr. Höll, deshalb ist der Begriff Mit diesem Gesetz wird darüber hinaus der Einstieg
„Omnibusgesetz“ auch überhaupt kein Schimpfwort für in die nachgelagerte Besteuerung umlagefinanzierter
dieses Gesetz, sondern in Wirklichkeit eine sehr zutref- Versorgungssysteme vollzogen. Damit wird die Gleich-
fende Bezeichnung für ein sehr arbeitsintensives Gesetz. behandlung mit der kapitalgedeckten betrieblichen
Die Ausschussberatungen und die Anzahl der Ände- Altersvorsorge erreicht. Zuwendungen an Geschäfts-
rungsanträge der Oppositionsfraktionen haben gezeigt, freunde können künftig pauschal mit 30 Prozent versteu-
dass der Gesetzentwurf in großen Teilen unstrittig ist. ert werden, was zu einer deutlichen Vereinfachung füh-
ren wird. Diese Forderung wurde von Verbänden an uns
(Frank Schäffler [FDP]: Nein!) herangetragen. Ich erinnere hier beispielhaft an die VIP-
– Bei so wenigen Änderungsanträgen ist das wohl so. Karten bei der Fußball-WM.

(Frank Schäffler [FDP]: Sie haben unsere An- Mit diesem Gesetz wirken wir auch Steuerver-
träge nicht gelesen!) meidungsstrategien entgegen. So wird durch die
Einführung einer neuen Regelung die Abwicklung von
Zum Teil waren wir uns sogar bei Vorschriften einig, die bestimmten Aktiengeschäften, in der Regel von Leer-
wir aus diesem Gesetzentwurf wieder herausgenommen verkäufen, verhindert,
haben. Hierzu gehören das Prüfungsrecht bei Jahres-
steuerbescheinigungen, der Abgabezeitraum für zusam- (Frank Schäffler [FDP]: Verfassungswidrig!)
menfassende Meldungen der Umsatzsteuer, die Verände-
rung der Regelungen über die elektronische Signatur und damit keine Kapitalertragsteuer mehr bescheinigt wird,
die Behandlung von Steuern im vorläufigen Insolvenz- die nicht abgeführt wurde, Herr Kollege.
verfahren. Dieses Thema ist für uns allerdings noch Eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes betrifft die
nicht vom Tisch. Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf be-
Gemeinsam mit den Rechtspolitikern werden wir er- stimmte Zweckbetriebe. Die Erfahrung hat gezeigt: Das
örtern, ob sich das Insolvenzrecht so entwickelt, wie ist für die Vereine, die Wohlfahrtsverbände und die Inte-
sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat. Vor allem die grationsbetriebe bedeutend.
hohe Anzahl der so genannten schwachen Insolvenz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) verwalter und die daraus resultierenden Folgen für die der CDU/CSU) (D)
Einnahmen des Staates und der Sozialversicherungs-
systeme müssen nach unserem Dafürhalten dringend Machen Sie die Arbeit dieser Menschen bitte nicht lä-
evaluiert werden. cherlich.
Der eine oder andere Oppositionskollege wird auch Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass die Anwendung
hier wieder die alte Platte von den Steuererhöhungen des ermäßigten Steuersatzes in sehr wenigen Fällen für
auflegen. unerwünschte Gestaltungsmodelle genutzt wurde. Wir
(Dr. Karl Addicks [FDP]: Zu Recht!) sind uns mit den Wohlfahrtsverbänden einig, dass die
schwarzen Schafe aussortiert werden müssen. Der Sinn
Glauben Sie ihnen kein Wort. und Zweck eines Zweckbetriebs besteht nicht darin,
Steuervorteile zu erhalten, sondern in der Arbeit für die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Menschen und mit den Menschen, die diese Hilfe brau-
der CDU/CSU)
chen.
Steuereinnahmen wird es durch dieses Gesetz nicht ge-
ben. Ich bin sicher, dass wir mit dieser Gesetzesänderung
und dem dazugehörigen BMF-Schreiben unserem ge-
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Warum das denn meinsamen Anliegen, die gute und wertvolle Arbeit von
nicht?) Wohlfahrtsverbänden, Hilfsorganisationen, Integrations-
projekten und Arbeitsloseninitiativen durch die Anwen-
– Sie können gleich das Tableau mit den Mehreinnah-
dung des ermäßigten Steuersatzes zu unterstützen,
men vorstellen, wenn Sie welche finden, Herr Kollege.
gerecht werden und dass wir die wenigen, die wir aus-
Auf einige wenige Änderungen möchte ich kurz ein- sortieren wollen, wirklich treffen.
gehen. Durch die Systemumstellung bei der Körper-
schaftsteuer konnte es vereinzelt zu Doppelbesteuerun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gen kommen. Diese doppelte Belastung durch die der CDU/CSU)
Körperschaftsteuer und die Einkommensteuer heben wir Der letzte Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist
mit diesem Gesetz auf. Zu den materiellen Änderungen die rückwirkende Verhinderung neu kreierter Steuer-
gehört die Verbesserung der Absetzbarkeit von Renten- stundungsmodelle. Wenn wir darauf nicht reagieren,
versicherungsbeiträgen für die Basisrente. Wir folgen kostet uns das allein in diesem Jahr 700 Millionen Euro.
damit unserem Weg, Menschen dabei zu helfen, steuer-
lich entlastet zu werden und Vorsorge für ihr eigenes (Frank Schäffler [FDP]: Ja, ja, ja!)
6226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Gabriele Frechen
(A) Frei nach dem Motto „Ein Geschäft wird erst dann ein Reden wiederholen. Irgendwann werden aber auch Sie (C)
Geschäft, wenn man dem Finanzamt nachweisen kann, das lernen.
dass es keines war“ wurden solche Modelle teilweise bis
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zum April 2006 aufgelegt. Wir haben als Gesetzgeber
der CDU/CSU)
Ende 2005 unmissverständlich klargemacht, dass wir
hier keinen Spaß verstehen. Mark Twain hat einmal gesagt:
(Beifall bei der SPD) Gesetzeslücken lassen sich durch beständigen Ge-
brauch beträchtlich erweitern.
Das Schließen von Steuerschlupflöchern gehört für uns
zum Programm. Jeder, der nach diesem Zeitpunkt ein Versuchen wir doch gemeinsam, möglichst lückenlose
neues Modell gestrickt oder in ein solches investiert hat, Gesetze zu machen!
wusste genau, worauf er sich einlässt. Vielen Dank.
(Frank Schäffler [FDP]: Und was war vorher?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das Bundesverfassungsgericht erkennt die unechte
Rückwirkung als verfassungskonform an, wenn es dabei Vizepräsidentin Petra Pau:
nicht um eine Rücknahme staatlicher Verhaltensanreize Der Kollege Carl-Ludwig Thiele hat für die FDP-
geht, sondern wie hier um die steuerliche Erfassung von Fraktion das Wort.
Sachverhalten, die auf Steuervermeidung oder Steuer-
umgehung angelegt sind. Carl-Ludwig Thiele (FDP):
(Frank Schäffler [FDP]: Vertrauen schafft das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
aber nicht!) Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Ihnen,
Frau Frechen, auch von unserer Seite herzlichen Dank
– Herr Kollege, Sie nehmen mir das Wort aus dem für die gute Zusammenarbeit aussprechen,
Mund: Der Vertrauensschutz kann nicht angeführt wer-
den. Alle Anleger wurden auf die Gefahr der Rückwir- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das geht ja
kung hingewiesen. Für alle Anleger wurde für diesen schon gut los!)
Fall die Rückabwicklung vereinbart. die wir, glaube ich, im Finanzausschuss haben, auch
wenn es Kontroversen in der Sache gibt und die eine
Künftig wollen wir lieber vorbeugen als rückwirken.
oder andere möglicherweise unbedachte Bemerkung ein-
Deshalb haben wir die Bundesregierung beauftragt, zu
zelner Kollegen fällt, die aber mitunter wieder relativiert
(B) prüfen, wie es uns durch die Einführung einer Pflicht zur oder zurückgenommen wird, wie wir es gerade in der (D)
Anzeige solcher Modelle, die es auch in anderen Län-
letzten Sitzung des Finanzausschusses erleben durften.
dern, zum Beispiel im Vereinigten Königreich, gibt,
ermöglicht werden kann, besser zu agieren. Trotzdem Mit dem vorliegenden Entwurf eines Jahressteuerge-
– hier bin ich mir ganz sicher – wird es auch in Zukunft setzes sollen mehr als 230 Änderungen in 19 unter-
Fälle geben, in denen wir nicht agieren können, sondern schiedlichen Gesetzen beschlossen werden. Es ist ein
reagieren müssen. Das erinnert ein bisschen an den Wett- Riesenpaket, das wir zu wälzen hatten. Das erinnert
lauf zwischen Hase und Igel. Doch auch wenn die bei- mich an das Omnibusgesetz, das ich von früher kenne.
den Meckis noch so sympathisch sind, darf man nicht Danach heißt es auf den Fluren der Verwaltung: Der
vergessen: Sie haben das Rennen nur deshalb gewonnen, Omnibus fährt. Wer will noch einsteigen? Wer hat noch
weil sie mit unfairen Tricks gearbeitet haben. Das soll Interesse an einem bestimmten Punkt, der in den Gesetz-
bitte nur im Märchen so sein. entwurf aufgenommen werden soll? – Damit hat der Ge-
setzgeber nach wie vor Probleme.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Frank Schäffler [FDP]: Das Ich habe Zweifel, Frau Kollegin Frechen, ob jede die-
ist ein schönes Bild!) ser Regelungen zwingend erforderlich ist. Denn wir hat-
ten im letzten Jahr kein Jahressteuergesetz und es gab
Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen noch weitere Jahre ohne ein solches Gesetz. In keinem
und Kollegen für die konstruktive, lebhafte Diskussion, der Folgejahre ist Deutschland untergegangen. Es gab
die wir im Rahmen der Beratungen dieses Gesetzentwur- weiter Steuern. Die Steuern wurden weiter eingetrieben
fes geführt haben. Natürlich bedanke ich mich auch bei und es gab auch weiter ein Steuerrecht. Insofern sollten
den helfenden Köpfen im Ministerium für ihren Sach- wir uns mit Rücksicht auf die Deregulierungsbemühun-
verstand, den sie uns immer sehr wohlwollend zur Ver- gen fragen, ob tatsächlich alles geregelt werden soll.
fügung gestellt haben.
(Beifall bei der FDP)
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die wollen das
Gesetz ja auch haben!) Ich möchte kurz auf das Verfahren eingehen. Wir
halten es für schwierig – insbesondere für die Opposition
– Herr Thiele, wir wollen dieses Gesetz. ist es eine Zumutung –, wenn wir erst Dienstagabend die
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein! Nicht alle!) Umdrucke zu den komplexen Sachverhalten bekommen,
die am Mittwoch erörtert werden sollen. Lassen Sie uns
Haben Sie immer noch nicht verstanden, dass das Parla- doch versuchen, den Zeitplan so zu gestalten, dass die
ment der Gesetzgeber ist? Ich muss das in jeder meiner Beratung in Ruhe erfolgen kann, statt ihn so auszurich-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6227
Carl-Ludwig Thiele
(A) ten, wie es vom BMF vorgegeben wird. Die Änderungs- muss und deshalb faktisch ein viel höherer Steuersatz (C)
anträge der FDP lagen Ihnen Montagmorgen vor. Es darauf lastet.
wäre schön, wenn das umgekehrt auch der Fall wäre.
Wir haben dann nachgefragt, wie mit dem Miles-and-
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine More-Programm der Lufthansa verfahren wird. Seitens
Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) des Finanzministeriums wurde uns von Frau Staatssekre-
tärin Dr. Hendricks mitgeteilt, dass die Sachzuwendung
Ich komme zur Sache. Der Entwurf eines Jahressteu- mit 2,25 Prozent versteuert wird. Das war der Grund,
ergesetzes 2007 ist aus meiner Sicht kein Beitrag zur warum wir diesen Punkt ausklammern und separat be-
Vereinfachung des Steuerrechts; vielmehr bringt er viele trachten wollten. Wir wollten klären, warum bei der Zu-
neue komplizierte Regelungen mit sich. Er ist kein Bei- wendung durch die Lufthansa ein Steuersatz von 2,25 Pro-
trag zur Entlastung der Bürger; denn mit diesem Gesetz zent gilt und der Steuersatz für andere 30 Prozent
wird in vielen Fällen die steuerliche Rechtsprechung des beträgt. Das wird noch zu klären sein. Ich harre der Er-
Bundesfinanzhofes zulasten der Bürger ausgehebelt. Er klärung und der Aufklärung. Ich vermute, dass das nicht
ist auch kein Beitrag zu einem planbaren und verlässli- so einfach wird.
chen Steuerrecht.
Da wir auf unsere Fragen nach den Ungereimtheiten
(Frank Schäffler [FDP]: So ist es!) keine abschließenden Antworten erhalten haben, stim-
Denn bestimmte steuerliche Fälle werden rückwirkend men wir dem Gesetzentwurf nicht zu. Wir bedanken uns
ab dem 1. Januar 2006 außer Kraft gesetzt. gleichwohl für die Beratungen und werden uns weiterhin
– genauso wie bei diesem Gesetzentwurf – konstruktiv
(Frank Schäffler [FDP]: Willkürlich!) einbringen.
Auch wenn wir über manche Punkte streiten und in Herzlichen Dank.
anderen Punkten einig sind, meine ich, dass das Steuer- (Beifall bei der FDP)
recht alles in allem planbar und verlässlich sein sollte.
Das wurde von der Union zu Oppositionszeiten auch
eingefordert. Dagegen wurde allerdings zum wiederhol- Vizepräsidentin Petra Pau:
ten Male verstoßen, auch wenn ich persönlich aner- Für die Unionsfraktion hat der Kollege Olav Gutting
kenne, dass zwei Kollegen der Union damit Probleme das Wort.
hatten und unserem Änderungsantrag zugestimmt haben. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Frank Schäffler [FDP]: Das stimmt! Das
muss man sagen!) Olav Gutting (CDU/CSU):
(B) (D)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Ich möchte noch auf einige Punkte eingehen. Es soll Herren! Beim Jahressteuergesetz 2007 sprechen wir von
eine neue Gebühr für Steuerpflichtige eingeführt wer- einem so genannten Omnibusgesetz mit über 200 Ände-
den, die in komplexen Sachverhalten eine verbindliche rungen. Dabei werden fast alle zentralen Steuergesetze
Auskunft des Finanzamtes einholen möchten. Das halte berührt. „Omnibus“ heißt auf Lateinisch „für alle“. Es ist
ich für ziemlich abenteuerlich. Der Staat besteuert den also für jeden etwas dabei.
Bürger. Der Bürger ist verpflichtet, seine Steuererklä-
rung abzugeben. Wenn er dann aufgrund dieser Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
pflichtung gegenüber dem Fiskus, der auch an Rechtssi- Omnibus ist nicht negativ zu sehen. Es handelt sich
cherheit interessiert ist, ein Interesse daran hat, einen schließlich um ein sinnvolles Transportmittel, zumindest
Sachverhalt verbindlich klären zu können, soll ihm mit dort, wo es keine Schienen gibt.
dem Gesetzentwurf eine Gebühr berechnet werden. Das
halte ich für einen Fehler. Denn er wird zusätzlich belas- Überwiegend sind die Änderungen klarstellend oder
tet, obwohl es ihm nur um Rechtssicherheit für sich und redaktionell. Manch einer hält nun diese Änderungen
den Fiskus geht. und Anpassungen für eine Verkomplizierung des Steu-
errechts. Dem ist aber nicht so. Die Anpassung von Ge-
(Beifall bei der FDP) setzen an die Realität ist schlicht notwendig; denn die
Insofern halte ich es dem Steuerbürger gegenüber für Welt dreht sich weiter. So werden immer wieder Korrek-
eine Frechheit, eine solche Gebühr zu erheben. Aber wie turen, Klarstellungen und Änderungen unserer Gesetze
schon beim Wegfall der Abzugsfähigkeit der Steuerbera- notwendig sein. Dass die vielen kleinen Änderungen im
tungskosten als Sonderausgaben zeigt die schwarz-rote Gesetzentwurf schwer zu lesen sind, gebe ich gerne zu.
Koalition noch einmal, welchen Stellenwert der Steuer- Das ist bei der Steuergesetzgebung leider meistens der
bürger für sie hat. Fall. Wer aber nun aus Frust über die Komplexität des
Gesetzes und die viele Arbeit, die wir damit in den Bera-
Bei der Besteuerung von Sachzuwendungen war tungen hatten, die notwendigen Änderungen als hekti-
eine Regelung vorgesehen, nach der der Zuwendende die sche Nachbesserungsversuche geißelt, der handelt popu-
Sachzuwendung mit 45 Prozent versteuern sollte. Dieser listisch und verkennt schlicht die Realität.
Steuersatz ist zwar auf 30 Prozent abgesenkt worden
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
– das ist zu begrüßen –, aber zu den 30 Prozent ist anzu-
merken, dass ein Unternehmen die Geschenke wegen Der Gesetzentwurf hat sich während der Beratungen
der Nichtabzugsfähigkeit aus dem Ertrag erwirtschaften in einigen zentralen Bereichen im Vergleich zur Ur-
6228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Olav Gutting
(A) sprungsfassung verändert und verbessert. Ich darf an tungsmodelle. Mit dem Jahressteuergesetz 2007 wird (C)
dieser Stelle den Koberichterstattern aus meiner Frak- die letzte Lücke im Zusammenhang mit den Steuerspar-
tion, aber auch unseren Kollegen aus den Koalitionsfrak- bzw. Steuerstundungsmodellen beim § 15 b des Einkom-
tionen genauso wie allen anderen für die konstruktiven mensteuergesetzes geschlossen.
Beratungen ein herzliches Dankeschön sagen. Wir ha-
ben es geschafft, beispielsweise § 5 Abs. 4 der Lohn- (Frank Schäffler [FDP]: Das glaube ich nicht! Das
steuer-Durchführungsverordnung aus dem Gesetzent- habt ihr schon beim letzten Mal gesagt!)
wurf herauszunehmen. Hier ging es um die Pflicht zur Leider ist es so, dass der Gesetzgeber – wir haben das
Aufbewahrung von Unterlagen bei Rentenanwartschaf- schon vorhin von der Kollegin gehört – wie im Wettlauf
ten. Es ist ein guter Schritt, diesen Paragrafen zu strei- zwischen Hase und Igel den Entwicklungen im Bereich
chen; denn dies ist ein Beitrag zu weniger Bürokratie dieser aggressiven Steuergestaltungsmodelle hinterher-
und hilft insbesondere, zusätzliche administrative Belas- hechelt. Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass einige
tungen zu vermeiden. andere Staaten deshalb eine Anzeigepflicht bei Steuerge-
Beim Prüfungsrecht hinsichtlich der Jahresbeschei- staltungsmodellen eingeführt haben. Durch diese Anzei-
nigungen bei den Banken haben wir darauf geachtet, gepflicht soll die Verwaltung über missbräuchliche uner-
dass das Bankgeheimnis nicht ausgehöhlt wird. Es ist wünschte Gestaltungen im Vorfeld unterrichtet werden.
festgehalten, dass dieses Prüfungsrecht lediglich die Damit wären dann der Gesetzgeber und die Steuerver-
Systemprüfung umfasst. Dies wird zusätzlich durch ein waltung frühzeitig in der Lage, gegebenenfalls gesetzge-
BMF-Schreiben sichergestellt. berische oder verwaltungsmäßige Maßnahmen zu tref-
fen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Natürlich sehe ich auch in diesem Bereich das Span-
Die Banken und insbesondere ihre Kunden müssen also nungsverhältnis zwischen einer festen Zusage der Ver-
in diesem Zusammenhang keine individuelle Überprü- waltung auf der einen Seite und der Politik und dem Par-
fung der jeweiligen Jahresbescheinigung bei der Bank lament auf der anderen Seite, die handlungsfähig bleiben
befürchten. wollen. Es kann nicht sein, dass eine Zusage der Verwal-
tung hinsichtlich eines Steuersparmodells einen Zeitho-
Von der Wirtschaft wurde ständig eine Möglichkeit rizont von mehreren Jahrzehnten hat und die Politik für
zur Pauschalierung der Einkommensteuer bei Geschen- diese lange Zeit an diese Zusage gebunden ist. Die
ken gefordert. In der Tat bestand hier Handlungsbedarf. Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers muss auch hier si-
Ein Bedürfnis nach einer vereinfachten Pauschalierung chergestellt bleiben. Der Finanzausschuss hat deshalb
gibt es nicht erst seit der Fußballweltmeisterschaft im ei- die Bundesregierung gebeten, bis Mitte des Jahres 2007
(B) genen Land, als diese Problematik bei der Besteuerung Vorschläge zur Einführung einer gesetzlichen Anzeige- (D)
von VIP-Logentickets einem breiteren Publikum offen- pflicht bei Steuergestaltungsmodellen vorzulegen. Wir
bar wurde. Vielmehr gibt es dieses Bedürfnis schon län- sind gespannt, was da kommt. Wenn es gelingt, eine ver-
ger. Uns war es wichtig, die nun angebotene gesetzliche tretbare Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen
Pauschalierung der Einkommensteuer in diesem Bereich zu erreichen, dann wäre das ein echtes Novum im deut-
praxistauglich zu machen. Das ist vollumfänglich gelun- schen Steuerrecht. Die Folge wäre ein weiterer Schritt
gen. hin zu mehr Steuergerechtigkeit.
Mit dem pauschalierten Steuersatz in Höhe von 30 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU)
zent haben wir es geschafft, die richtige Balance zwi-
schen angemessener Besteuerung auf der einen Seite und Mehr Steuergerechtigkeit ist ein Ziel, das wir alle
der notwendigen Anreizfunktion auf der anderen Seite nicht aus den Augen verlieren dürfen; denn Steuerge-
zu finden. Mit dem Steuersatz in Höhe von 30 Prozent rechtigkeit und ein planbares verlässliches Steuerrecht
wird es zukünftig mehr Unternehmen geben, die die Ge- sind ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor im internatio-
schenke für die Beschenkten gleich mitversteuern. Da- nalen Ringen um Investitionen.
mit bauen wir quasi eine Brücke in die Steuerlegalität;
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!)
denn aus der Lebenserfahrung wissen wir, dass viele Be-
schenkte die Zuwendungen – zumeist aus Unwissenheit Nach einem Jahr Regierung Angela Merkel kann man
über die Steuerpflicht – in der Steuererklärung nicht auf- bereits erkennen, dass wir auf einem guten Weg sind.
führen. Die Steuereinnahmen ziehen kräftig an, die Neuver-
schuldung wird erheblich gesenkt und der Arbeitsmarkt
Ich bin überzeugt, dass diese Regelung unter dem
zeigt eine erfreuliche Belebung.
Strich zu mehr Steuerehrlichkeit, einer erheblichen Ver-
einfachung für die Unternehmen und gleichzeitig zu (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Tue Gutes und
Steuermehreinnahmen führt. Für Schenkende und Be- sprich darüber!)
schenkte bietet diese Regelung zudem mehr Rechtssi-
cherheit. Wir stehen ein Jahr nach Amtsantritt der großen Koali-
tion zwar immer noch ganz am Anfang einer sicherlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) noch langen Wegstrecke; aber so viel Lob darf sein: Wir
haben einen guten Anfang gemacht und das sollte uns
Mehr Rechtssicherheit wollen wir auch im Zusam- Mut für mehr machen.
menhang mit der immer wieder auftauchenden Diskus-
sion über verschiedene unerwünschte Steuergestal- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6229
Olav Gutting
(A) Das deutsche Steuerrecht muss mutig entrümpelt wer- Ich möchte nur das Insolvenzrecht ansprechen. Das (C)
den, Schritt für Schritt. Es wäre wirklich ein Meilen- ist ein kompliziertes Thema. Mit der Änderung des In-
stein, wenn es gelänge, das Steuerrecht so zu vereinfa- solvenzrechtes im Jahre 1999 wurde der Versuch unter-
chen, dass es jedem normalen Steuerbürger möglich nommen, ein modernes Insolvenzrecht zu installieren,
wäre, ohne große Hilfsmittel seine Steuererklärung ei- welches vor allem gewährleistet, dass Unternehmen im
genhändig zu Papier zu bringen. Falle der Insolvenz eine Chance haben, weiter zu existie-
ren. Auf einmal tauchte in dem Gesetz eine Änderung
(Zuruf von der FDP: Das ist ein Wunsch- der Abgabenordnung auf, durch die der Fiskus ein Vor-
traum!) griffsrecht erhalten sollte, zu dem alle Experten sagen,
Das geht aber nicht mit Nichtstun. Die notwendigen Än- dass es dazu führen würde, dass Unternehmen eine we-
derungen, Korrekturen und Anpassungen, die wir jetzt sentlich schlechtere Chance hätten, überhaupt zu überle-
mit dem Jahressteuergesetz 2007 vorgenommen haben, ben. Da wird es dann wirklich gefährlich.
bedeuten keinesfalls eine Verkomplizierung des Steuer- In diesem Sinne sind wir wirklich sehr froh, dass es
rechts. uns durch unsere Arbeit im Rechtsausschuss und im Fi-
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nanzausschuss gelungen ist, dass das herausgenommen
NEN]: Doch!) wurde und wir in Ruhe und ehrlich über diesen Punkt
diskutieren können.
Im Gegenteil: Wir erhalten mehr Klarheit in vielen Berei-
chen und in einigen Bereichen sogar eine Vereinfachung. Ich nehme an, Frau Scheel wird nachher noch die Ver-
Ich habe schon vorhin das Beispiel der Pauschalierung längerung des Bewertungsgesetzes ansprechen, die im
der Einkommensteuer bei den Geschenken genannt. Ge- Referentenentwurf überhaupt nicht enthalten war und
ben wir deshalb dem Omnibus Jahressteuergesetz 2007 dann im Gesetz auftauchte.
freie Fahrt. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) NEN]: Aber klar!)
Da fragte man sich schon, woher das auf einmal kam.
Vizepräsidentin Petra Pau: Das sind Dinge, die in ihren Folgen noch nicht ganz klar
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin abzusehen sind, gerade im Hinblick auf das Bewertungs-
Dr. Barbara Höll das Wort. gesetz. So sollten wir hier nicht arbeiten.
(Beifall bei der LINKEN) Wir sind aber froh, dass es gelungen ist, zum Beispiel
auch noch die Pauschalbesteuerung von Sanierungs-
(B)
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): geldern im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge he- (D)
rauszunehmen. Auch das ist etwas, bei dem es dank der
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
guten Arbeit und der Einsicht der Kolleginnen und Kol-
Kollegen! Zu später Stunde eine fast harmonische De-
legen der Koalition gelungen ist, gegenüber dem Gesetz-
batte! Aber, Herr Kollege Gutting, dieses Selbstlob war
entwurf etwas zu verändern. Das ist ein beredtes Bei-
doch ein bisschen zu viel.
spiel dafür, dass auch Oppositionspolitikerinnen und
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Weil uns sonst Oppositionspolitiker durch ihre Arbeit etwas bewirken
niemand lobt, müssen wir uns selber loben!) können.
Wenn wir über das Jahressteuergesetz sprechen, dann Bei der vorgeschlagenen Regelung zur Besteuerung
müssen Sie sich an dem messen lassen, was Sie in Ihrem der Geschenke ist es auch gelungen, gegenüber dem ur-
Koalitionsvertrag vereinbart haben, nämlich – ich zitie- sprünglichen Entwurf eine Änderung herbeizuführen.
re – „das deutsche Steuerrecht zu vereinfachen und inter- Wir haben eben nicht mehr die pauschale Besteuerung in
national wettbewerbsfähig zu gestalten“. Diesem An- Höhe von 45 Prozent, sondern nur noch in Höhe von
spruch tun Sie mit diesem Gesetz keinesfalls Genüge. 30 Prozent.
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Daran arbeiten Damit ist es Ihnen insgesamt gelungen, ein Gesetz
wir Tag und Nacht!) vorzulegen, welches redaktionelle Änderungen und An-
passungen beinhaltet, aber bei weitem nicht dazu führen
Liebe Kollegin Frechen, es ist ein Omnibusgesetz. Dage- wird, dass das Steuerrecht tatsächlich vereinfacht wird.
gen ist nichts zu sagen, wenn in dem Omnibus alle Pas- Ob die Regelung zur Rückwirkung zum 1. Januar dieses
sagiere – so wie Sie es vorhin angesprochen haben – ein Jahres tatsächlich Bestand haben wird, wird zu sehen
Schild tragen, auf dem steht: In diesem Omnibus reisen sein.
redaktionelle Änderungen und Anpassungen. Wenn aber
in dem Omnibus auf einmal blinde Passagiere auftau- Wir stehen zu dem Gesetz nicht in völliger Ableh-
chen, die substanzielle Änderungen im Steuerrecht bein- nung. Das ist der Unterschied zur FDP.
halten, dann wird es gefährlich. Das sind die Dinge, auf (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Gott sei
die die Opposition sehr aufmerksam geschaut hat. Wir Dank!)
sind – sicherlich gemeinsam – froh, dass es auf unser
Wirken hin gelungen ist, diese Dinge aus dem Gesetz he- Wir werden uns enthalten, da mit diesen vorgeschlage-
rauszubekommen und die blinden Passagiere wieder aus nen Regelungen dem selbst gestellten Anspruch von
dem Omnibus hinausbefördert zu haben. Transparenz und Vereinfachung nicht Genüge getan
6230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Dr. Barbara Höll


(A) wurde und einige Dinge in ihrer Wirkung doch recht mehr den Werbungskosten zugerechnet werden. Dann ha- (C)
zweifelhaft sind. Deshalb gibt es von unserer Seite ein ben Sie festgestellt, dass man den Flugreisenden – Stich-
Enthaltung. wort „Sammelbeförderungen“ – so nicht gerecht wird.
Daraufhin wurde die Entscheidung getroffen, dass diese
(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Mitfahren
Kosten doch weiterhin den Werbungskosten zuzurechnen
ohne zu zahlen!)
seien. Es ist einfach absurd.
Die Art der Beratung – abgesehen von dem späten
Wie Sie selbst wissen, ist die hochkomplizierte Ent-
Einreichen der Änderungsanträge Ihrerseits – könnte
lastung bei Gewinneinkünften im Zusammenhang mit
vielleicht für die Zukunft ein Beispiel dafür sein, dass es
der Reichensteuer absolut gaga. Wir haben hier immer
möglich ist, auf den Sachverstand aller Kolleginnen und
wieder gesagt: Außer einem hochkomplizierten Gesetz
Kollegen zu hören.
bleibt fast nichts. Erreicht wird dadurch fast gar nichts.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Beifall bei der LINKEN) Frank Schäffler [FDP]: Da hat sie Recht! –
Dr. Karl Addicks [FDP]: Leider wahr!)
Vizepräsidentin Petra Pau: Im Paragrafenwirrwarr gibt es – auch das muss man
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau einmal sagen – noch einige hochproblematische Rege-
Kollegin Christine Scheel das Wort. lungen, die sehr weit reichende Auswirkungen für die
Steuerpflichtigen haben.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Insolvenzverfahren ist angesprochen worden.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir sind der Auffassung, dass Sanierungschancen
Herr Gutting, ich habe schon ein gewisses Verständnis von Betrieben, denen die Insolvenz droht, erheblich ge-
dafür, dass man hier einen solchen Selbstbeweihräuche- mindert und dass Arbeitsplätze gefährdet würden. Wir
rungsakt vollziehen muss, um sich ein wenig aufzu- haben diesen Ansatz abgelehnt. Ich bin sehr froh, dass
bauen, wenn man gleichzeitig weiß, dass der Anspruch, Sie lernfähig sind und dass Sie in der Lage sind, auf Vor-
den man formuliert, mit der Realität überhaupt nichts zu schläge der Opposition einzugehen. Glücklicherweise ist
tun hat. dieser Plan gestrichen worden.
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nein! Das war eine
exzellente Rede des Kollegen Gutting!) Vizepräsidentin Petra Pau:
Deshalb muss man einmal fragen, was im Koalitions- Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
(B) vertrag steht. Frau Kollegin Höll hat bereits darauf hin- Kollegen Olaf Scholz? (D)
gewiesen, dass darin die Priorität der Steuervereinfa- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ihres frühe-
chung in den Vordergrund gestellt worden ist. Es hat eine ren Koalitionsfreundes!)
Übereinstimmung zwischen den beiden Koalitionsfrak-
tionen gegeben, dass man mehr Transparenz, Effizienz
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und Gerechtigkeit erreichen möchte. Man sieht dann
aber doch, dass das schöne Worte sind, die Realität aber Ja.
ganz anders aussieht.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Man muss auch Folgendes sehen: Seit diese Koalition Herr Scholz, bitte.
gemeinsam Gesetze verabschiedet, ist von Vereinfa-
chung nicht mehr die Rede. Für mich ist es keine Ver-
einfachung, wenn man lediglich die Höhe eines Pau- Olaf Scholz (SPD):
schalbetrages ändert. Pauschalen sind gut. Wenn man Liebe Frau Kollegin, ich möchte nur eine kurze Frage
einen Pauschalbetrag von 40 Prozent auf 25 Prozent ab- stellen: Ist die Auffassung, die zusätzliche Besteuerung
senkt, dann ist das nicht automatisch eine Vereinfa- von Personen mit einem Einkommen von mehr als
chung, sondern eine Änderung im Gesetz und sonst gar 250 000 Euro bzw. bei Verheirateten 500 000 Euro in
nichts. Höhe von 3 Prozent sei „gaga“, Ihre Position oder die Ih-
rer Partei?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich bitte darum, auf dem Boden zu bleiben und nicht mit Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
solchen Argumenten zu kommen. Herr Kollege Scholz, wir haben das von Anfang an
als eine Maßnahme begriffen, die den Menschen sugges-
Wir meinen, dass sich das Jahressteuergesetz in diese
tiv vermitteln soll, man erreiche damit eine gerechte Be-
Entwicklung – eine zunehmende Anzahl an Verkompli-
steuerung der Reichen in diesem Land. Sie machen
zierungen – einreiht. Ihre steuerpolitischen Entscheidun-
Reichtum an einem – wohlgemerkt – zu versteuernden
gen in verschiedenen Bereichen waren von Anfang an
Einkommen in Höhe von 250 000 Euro bzw. bei Verhei-
verfehlt. Diese Entwicklung hält an: Sie nehmen weitere
rateten 500 000 Euro fest. Das Bruttoeinkommen dieser
Verschlimmbesserungen vor. Man sieht das an Ihren aus-
Personen liegt ja wesentlich höher.
gefeilten Formulierungen, beispielsweise was die He-
rausnahme der Kosten für die Fahrt zur Arbeit anbe- Dann haben Sie festgestellt: Wir wollen die Unterneh-
langt. Ihre Entscheidung war, dass diese Kosten nicht men und die Selbstständigen mit dieser Steuer gar nicht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6231
Christine Scheel
(A) belasten. Also werden Einkünfte aus Land- und Forst- Frage des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für die Inte- (C)
wirtschaft, aus Gewerbebetrieben, aus selbstständiger grationsprojekte gekommen ist. Ich weiß jetzt noch
Tätigkeit oder bestimmte im Ausland erzielte Einkünfte nicht, wie das Anwendungsschreiben des Finanzministe-
gar nicht berücksichtigt. Das heißt, diese Besteuerung be- riums aussehen wird.
trifft lediglich einige wenige Personen, die ein sehr hohes
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das wird gut
Einkommen haben, zum Beispiel weil sie für bestimmte
werden, Frau Kollegin!)
größere Unternehmen in diesem Land arbeiten. Diese
Personen können ihr zu versteuerndes Einkommen aller- Ich hoffe, dass es keine bösen Überraschungen enthält.
dings über Unternehmensbeteiligungen so weit reduzie- Ich bin zuversichtlich, dass Sie das hinbekommen. Ich
ren, dass sie die Einkommensgrenze von 250 000 Euro gehe davon aus, dass das vernünftig gelöst wird. Wir
mit Sicherheit unterschreiten. werden uns das dann anschauen.
(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Steuersemi- Zur Frage der Bewertungsvorschriften. Die Bewer-
nar!) tungsvorschriften bei Erbschaften und Schenkungen sind
Das heißt, übrig bleiben etwa ein Dutzend Bürger in seit langem verfassungswidrig. Wir haben uns sehr da-
diesem Land, die diese Steuer zahlen müssen. Man sug- rüber geärgert, dass das Thema „Entfristung des Bewer-
geriert, Gerechtigkeit geschaffen zu haben, obwohl in tungsgesetzes“ nicht einmal im Inhaltsverzeichnis des
Wirklichkeit nur einige wenige betroffen sind. Das sieht Jahressteuergesetzes aufgetaucht ist.
man auch bei den Steuereinnahmen. Sie werden in den (Florian Pronold [SPD]: Das stimmt nicht!)
nächsten Jahren erleben, wer zusätzlich zu dieser Perso-
nengruppe gehören wird. Es stand unter Anpassungen, die sich auf das Baugesetz-
buch bezogen haben. Man hat also versucht, das irgend-
(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Sind Sie wie unterzujubeln. Von der politischen Dimension her
jetzt dafür oder dagegen?) steckt jedoch Etliches darin. Wir hoffen, dass Sie im
Wir prognostizieren Ihnen, dass von dieser Regelung nächsten Jahr eine solche Bewertung vorlegen, was Im-
sehr viele aufgrund Ihrer Formulierung dieses Paragra- mobilien und Sachvermögen anbelangt, damit wir eine
fen nicht betroffen sind. Ich kann Ihnen sagen – auch Sie verfassungskonforme Lösung bekommen.
wissen das –: Alle Personen, auf die Sie es abgesehen Letzter Punkt, Frau Präsidentin; ein Gedanke noch.
haben, haben schlaue Steuerberater. Ihre Maßnahme ist
Augenwischerei und keine professionelle Steuerpolitik.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein Satz noch.
(B) (D)
Vizepräsidentin Petra Pau: Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Ich bin der Meinung, dass wir als Grüne, was die
(Zuruf des Abg. Olaf Scholz [SPD]) Steuergestaltungsmodelle anbelangt, durchaus etwas er-
reicht haben. Wir haben den Vorschlag gemacht: Küm-
Dialoge gibt es hier nicht, Kollege Scholz. Die Kollegin mert euch darum, dass einmal geschaut wird, wie man in
Scheel muss Ihre Zwischenfrage erst einmal gestatten. der Perspektive dieses Problem löst, damit das heute
Wenn das geschehen ist, erteile ich Ihnen das Wort. schon öfter beschriebene Hase-und-Igel-Spiel ein Ende
hat und Sicherheit erreicht wird, sowohl für diejenigen,
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die die Fonds auflegen, als auch für diejenigen, die da
Ich kann mir vorstellen, was er noch sagen will. einsteigen. Wir brauchen Rechtssicherheit in diesem
Land. Wir brauchen Vertrauen in den Finanzplatz, ge-
(Heiterkeit) rade in der Steuergesetzgebung.
– Olaf Scholz, ist ja in Ordnung. Deswegen ist es gut, dass Sie signalisiert haben, et-
Die Position unserer Partei ist die – das ist richtig –, was zu tun. Die Grünen fordern einen grundlegenden
dass diejenigen mit starken Schultern auch stärker zum Kulturwandel in dieser Frage.
Gemeinwohl beitragen sollen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Das machen die doch heute schon, Frau Kolle- Frau Kollegin, der Kollege Scholz ist nicht so lieb,
gin!) jetzt noch eine Zwischenfrage zu stellen.

Aber mit einer solch halbseidenen Steuergesetzgebung (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da sehen Sie,
wollen wir nichts zu tun haben. Deswegen hat meine wie schwer es ist, die Frau Kollegin zu brem-
Fraktion diesen Vorschlag auch geschlossen abgelehnt. sen!)
Aus!
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Zurufe von der CDU/CSU: Basta!)
Ich hoffe, dass die große Koalition sich diesem An-
Wir haben im Finanzausschuss auch über das Thema sinnen anschließen kann und wir in der Zukunft eine Fi-
Integrationsprojekte intensiv diskutiert. Ich bin sehr nanz- und Steuerpolitik haben, auf die sich die Men-
froh darüber, dass es noch zu einer Veränderung in der schen verlassen können.
6232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Christine Scheel
(A) Danke schön. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- (C)
schusses (4. Ausschuss)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– Drucksache 16/2563 –
Vizepräsidentin Petra Pau: Berichterstattung:
Ich schließe die Aussprache. Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
desregierung eingebrachten Entwurf eines Jahressteuer- Dr. Max Stadler
gesetzes 2007, Drucksachen 16/2712 und 16/3036. Der Ulla Jelpke
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Josef Philip Winkler
lung auf Drucksache 16/3325, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
wollen, um das Handzeichen. – Die Gegenstimmen! – Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler,
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- Volker Beck (Köln), Britta Haßelmann, weiterer Ab-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
die Stimmen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grü- DIE GRÜNEN
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men. Kettenduldungen abschaffen

Wir kommen zur – Drucksachen 16/687, 16/2563 –

dritten Beratung Berichterstattung:


Abgeordnete Reinhard Grindel
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Rüdiger Veit
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Dr. Max Stadler
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Ulla Jelpke
Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bünd- Josef Philip Winkler
nisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(B) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (D)
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
Ich eröffne die Aussprache. Für die Unionsfraktion
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3367? – Die
hat der Kollege Reinhard Grindel das Wort.
Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP (Beifall bei der CDU/CSU)
und des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Der Voll-
ständigkeit halber füge ich hinzu: Die Fraktion Die
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Linke hat sich enthalten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Lassen Sie mich mit einem Gedanken beginnen, der im
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3363? – Zusammenhang mit Fragen des Bleiberechts leicht über-
Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungs- sehen wird. Am Beginn jeder Bleiberechtsregelung steht
antrag ist abgelehnt. eine unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht un-
problematische Botschaft. Ausländern, die als abge-
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf: lehnte Asylbewerber oder ehemalige Bürgerkriegs-
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- flüchtlinge ihrer Pflicht zur Ausreise nachgekommen
neten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Petra Pau sind und unter schwierigsten Bedingungen, etwa auf
und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- dem Balkan, ihre Existenz wieder aufgebaut haben, die
wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung nicht durch Tricks und Täuschungen ihre Abschiebung
des Aufenthaltsgesetzes und anderer Gesetze verhindert haben, sagen wir im Grunde genommen: Ei-
gentlich wart ihr dumm; ihr hättet nur lange genug euren
– Drucksache 16/369 – Aufenthalt in Deutschland herauszögern müssen, dann
hättet ihr jetzt eine Bleibeperspektive.
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Wolfgang Wieland, Claudia Roth (Augsburg) und GRÜNEN]: Manche können ja auch nicht ab-
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- geschoben werden!)
NEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes Insofern kann schon aus Gründen der Einheitlichkeit
(Altfall-Regelung) unserer Rechtsordnung eine Bleiberechtsregelung nur
für besonders schwerwiegende Fälle infrage kommen,
– Drucksache 16/218 – bei denen vor allem aus humanitären Gründen eine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6233
Reinhard Grindel
(A) Rückführung ins Heimatland nicht vertretbar erscheint. Wer die unerträglichen Bilder von Flüchtlingen vor (C)
Es geht hier also um schwierige Abwägungsprozesse. den Küsten Spaniens und Italiens betrachtet, der kommt
doch zu einer klaren Schlussfolgerung: Wir müssen
Von solchen rechtsstaatlich gebotenen Abwägungs- Fluchtursachen bekämpfen, aber wir dürfen nicht falsche
prozessen ist in den Anträgen der Opposition nichts zu Anreize schaffen, die dazu führen, dass sich Flüchtlinge,
lesen. Die Grünen und die Linke wollen im Grunde viel- oftmals missbraucht von Schleppern und Schleusern, auf
mehr, dass jeder Ausländer ein Bleiberecht erhält, der es den Weg in unser Land machen, weil sie glauben, hier
geschafft hat, sich fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland auf Dauer bleiben zu können. Mit einer solchen Art von
aufzuhalten. Ich sage in aller Deutlichkeit: Das ist nichts Bleiberechtsregelung senden Sie doch völlig falsche Si-
anderes als ungesteuerte Zuwanderung durch die Hinter- gnale aus.
tür. Dahinter steht verstaubtes und vor allen Dingen
gescheitertes Multikultidenken. Das hat mit einer mo- (Beifall bei der CDU/CSU)
dernen Integrationspolitik nichts zu tun. Deshalb lehnen Ein Bleiberecht – ich sage das mit Bedacht – kann es
wir die Einführung eines solchen nahezu schrankenlosen doch nur in solchen Fällen geben, in denen schwerwie-
Bleiberechts ab, meine Damen und Herren. gende humanitäre Gründe dafür sprechen, eigentlich
ausreisepflichtigen Ausländern eine Aufenthaltsperspek-
(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip
tive in Deutschland zu geben. Voraussetzung für ein
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bleiberecht muss eine Verwurzelung in unserem Land
Wenn das nicht verstaubt ist!)
sein, die aus Gründen entstanden ist, die der betroffene
Bemerkenswert an Ihren Anträgen ist vor allem, was Ausländer eben gerade nicht selbst zu verantworten hat.
nicht drinsteht, zum Beispiel, welche Bedingungen Sie, Die Einräumung eines Bleiberechts ist allenfalls denkbar
lieber Kollege Winkler, an Ausländer nicht stellen, bevor bei langjährig in Deutschland aufhältigen Ausländern,
sie sich auf ein Bleiberecht berufen können. Sie verlan- denen die Rückkehr in ihre eigentliche Heimat verwehrt
gen nicht, dass Ausländer hinreichende Deutschkennt- war. Es ist vor allem dann denkbar, wenn diese Auslän-
nisse besitzen. Sie verlangen nicht, dass die Ausländer der Kinder haben, die hier schon lange leben oder sogar
ihre Kinder auf die Schule schicken und die Kinder diese geboren sind, die keinerlei Perspektive in ihrem eigent-
erfolgreich besuchen. Sie verlangen nicht, dass sie über lichen Heimatland haben, die aber eine gute Perspektive
ausreichenden Wohnraum verfügen. in unserem Land besitzen.
Dagegen verlangen die Grünen und die Linke noch
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht einmal, dass die Ausländer, die in den Genuss des
NEN]: Als Geduldeter hat man keinen An- Bleiberechts kommen wollen, eine Beschäftigung nach-
spruch darauf!) weisen müssen. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Ein (D)
(B)
Sie schließen nicht einmal ein Bleiberecht bei solchen Bleiberecht kann es nicht geben, wenn dies zu einer Zu-
Ausländern aus, die schwere Straftaten begangen haben wanderung in die Sozialsysteme führt.
oder Bezüge zu extremistischen Organisationen aufweisen. (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie
sind doch vernagelt! Die sind doch schon da!)
GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
Ein Bleiberecht kann es nur für Ausländer geben, die einer
Mit anderen Worten: Ihnen ist es völlig egal, ob die dauerhaften Beschäftigung nachgehen und eben nicht die
Ausländer, denen Sie ein Bleiberecht geben wollen, in Sozialkassen belasten.
Deutschland integriert sind oder ob sie in einer völlig ab-
geschotteten Parallelwelt leben oder ob sie vielleicht so- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gar eine Gefahr für unsere Sicherheit darstellen. Das ist NEN]: Die meisten haben gar keine Arbeitser-
völlig verantwortungslose Politik. laubnis!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Wir wollen auch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da dass Ausländer ein Bleiberecht bekommen, die ihren
vermischen Sie aber einiges!) langfristigen Aufenthalt vorsätzlich selbst verschuldet
haben, durch Täuschung über ihre Identität oder Behin-
Der Antrag der Fraktion Die Linke beschränkt sich derung bei Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung. Es
noch nicht einmal auf eine Altfallregelung. Sie von der kann nicht sein, dass wir diejenigen auch noch mit einem
Linken verzichten völlig auf einen Stichtag, zu dem sich Bleiberecht belohnen, die beharrlich gegen unsere
der Ausländer eine bestimmte Anzahl von Jahren in un- Rechtsordnung verstoßen haben, und das auch noch auf
serem Land aufgehalten haben muss. Sie wollen eine Kosten von Sozialleistungen, die manchmal höher sind
dauerhafte gesetzliche Bleiberechtsregelung. als reguläre Einkommen von rechtschaffenen Arbeitneh-
mern in unserem Land. Wir müssen auch daran denken,
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zu Recht!) dass wir mit einer Bleiberechtsregelung die Aufnahmebe-
reitschaft und Aufnahmefähigkeit unserer Bürger nicht
– Da Sie gerade „Zu Recht!“ dazwischengerufen haben,
überfordern.
können wir Ihnen nur sagen – vielleicht denken Sie ein-
mal darüber nach –: Die Beispiele von Spanien, Portugal (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip
oder auch Italien zeigen doch, dass solche Regelungen Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die
einen gefährlichen Sogeffekt entwickeln. 200 000, von denen die Hälfte Kinder sind?)
6234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Reinhard Grindel
(A) Falsch ist es auch, Herr Kollege Winkler, wenn die Grü- Integration fördert und nicht zu einer ungesteuerten (C)
nen mit ihrem Antrag zum Thema Kettenduldungen den Zuwanderung führt, eine Regelung, die eine Perspektive
Eindruck erwecken, als ob diese mit dem Zuwanderungs- für die Menschen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet und die
gesetz generell abgeschafft werden sollten. Gemäß § 25 nicht in die Sozialkassen führt. Für CDU und CSU
Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes kann Ausländern aus kommt nur eine Bleiberechtsregelung in Betracht, die
humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis dann Humanität und Rechtsstaatlichkeit miteinander verbindet.
erteilt werden, wenn ihre Ausreise auf absehbare Zeit
„aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ist“. Hier geht es also um ein Aufenthaltsrecht für Ich darf Ihnen versichern: Daran arbeiten wir in der Koali-
Geduldete, die unser Land nicht verlassen können, und tion sehr zielorientiert und vor allem verantwortungs-
nicht für solche, die unser Land nicht verlassen wollen. bewusst jeden Tag, auch heute.
Es kommt also auf objektive Gründe für die Frage der
Unmöglichkeit der Ausreise und nicht auf den subjekti- Herzlichen Dank.
ven Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit der Ausreise an.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Diese Interpretation des § 25 Abs. 5 ist, wie Sie wissen,
Olaf Scholz [SPD])
durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden.
Falsch ist es auch, wenn die Grünen in ihrem Antrag Vizepräsidentin Petra Pau:
behaupten, die bisherige Anwendung dieses § 25 Abs. 5 Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff für die FDP-
habe nur in wenigen Einzelfällen zur Erteilung von Auf- Fraktion.
enthaltserlaubnissen geführt. In Wahrheit sind nach dem
Evaluierungsbericht des Bundesinnenministeriums in (Beifall bei der FDP)
über 25 000 Fällen entsprechende Aufenthaltserlaub-
nisse erteilt worden. Die tatsächliche Zahl liegt wegen Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
statistischer Unvollständigkeiten noch höher. Der Zweck
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die
der Vorschrift ist also durchaus erfüllt.
Bundesregierung das Bleiberecht laut Presseberichten
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE nun offenbar reformieren will – die IMK berät intensiv
GRÜNEN]: Das ist aber ein Antrag vom De- darüber –, ist ein längst überfälliger Schritt. Ich begrüße
zember letzten Jahres!) ihn ausdrücklich.

Würde man bei § 25 Abs. 5 den Gesichtspunkt der (Beifall des Abg. Rüdiger Veit [SPD])
subjektiven Zumutbarkeit mit aufnehmen, dann – das ist Lieber Herr Kollege Grindel, ich bin mir nicht ganz (D)
(B) unsere Sorge als CDU/CSU – hätte man auch hier ein
sicher, ob Sie immer die gleichen Vorlagen wie ich
Bleiberecht durch die Hintertür und könnte somit auf die gelesen haben. Wir haben in diesem Hause die Bundes-
anderen Vorschriften, die hier beantragt wurden, eigent- regierung immer wieder aufgefordert, sich endlich an die
lich gleich verzichten. Dann sollte man so ehrlich sein Lösung des Problems zu machen. Schon beim Zuwande-
und sagen, wir wollen eine Regelung, bei der jeder blei- rungskompromiss bestand eigentlich Einvernehmen, die
ben kann, der will; wir schalten jede objektive Prüfung Kettenduldungen abzuschaffen.
aus. Das wollen wir als CDU/CSU aber nicht.
(Rüdiger Veit [SPD]: Das stimmt!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es wird Zeit, dass das Gezerre – zuletzt leider die Blo-
Sie wissen, die Koalitionsfraktionen und die Innenmi- ckadehaltung von Arbeitsminister Müntefering; Herr
nister der Länder beraten über die Frage, ob wir zu einer Veit, reden Sie noch einmal mit ihm – ein Ende findet.
Bleiberechtsregelung kommen wollen, die ihren Namen
auch tatsächlich verdient, (Rüdiger Veit [SPD]: Nein!)
(Rüdiger Veit [SPD]: Genau!) Der FDP-Entwurf zum Zuwanderungsgesetz enthielt
bereits eine Regelung, die mit den vorliegenden Gesetz-
und, wenn ja, wie diese dann ausgestaltet sein sollte. Es entwürfen vergleichbar ist. Wir sind uns in vielen Punk-
wird zur Stunde verhandelt. Deshalb ist meine herzliche ten einig: Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten
Bitte, dass Sie dafür Verständnis haben, dass wir – ich Ausländern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist,
habe es Ihnen gesagt – uns schon vor Ende der Debatte muss dieser Tatsache durch eine vernünftige und un-
– zumindest gilt das für mich und den Kollegen Veit, wie bürokratische Regelung Rechnung getragen werden.
ich denke – auf den Weg machen. Es ist für einen guten
Zweck, Kollege Winkler. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef Philip
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das werden wir noch sehen!) Die Integrationsbereitschaft von Migranten hängt von
ihrer persönlichen Perspektive in Deutschland ab. Wenn
Beschimpfungen nehme ich dann gerne aus dem Proto- ein gesicherter Aufenthaltsstatus fehlt, wird selbst bei einer
koll entgegen. längeren Aufenthaltsdauer die Motivation für Integrations-
bemühungen erschwert.
Wenn überhaupt – auch das sage ich mit Bedacht –,
dann müssen wir eine Bleiberechtsregelung schaffen, die (Rüdiger Veit [SPD]: Richtig!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6235
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) Wer Integration fördern will, muss die Perspektiven für kompetenz und Akzeptanz im persönlichen sozialen (C)
den Aufenthalt verbessern. Integrationsleistungen müs- Umfeld – auch außerhalb der Migrantengesellschaft.
sen auch belohnt werden.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Rüdiger
Veit [SPD]) Vizepräsidentin Petra Pau:
Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Der Kollege Wolff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Zusammenhang von Arbeitserlaubnis und Aufenthalts- Kollegin Dagdelen?
recht muss deshalb eine besondere Aufmerksamkeit
finden. Arbeit ermöglicht den Zuwanderern, finanziell Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
auf eigenen Beinen zu stehen, und fördert dadurch das Gerne.
Selbstwertgefühl nicht nur des Berufstätigen, sondern
auch seiner Familienangehörigen. Sie ermöglicht soziale Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Kontakte und schafft Akzeptanz in der Bevölkerung.
Herr Kollege, gestern hieß es in einer Tickermel-
Das ist im Interesse der gesamten Gesellschaft.
dung – auch Sie haben das gerade erwähnt –, dass eine
(Beifall bei der FDP) Bleiberechtsregelung von Kriterien wie einem gesicher-
ten Lebensunterhalt abhängig gemacht werden muss.
Ohne gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang können Wie sollen aber Flüchtlinge, die nach § 39 Abs. 2 Auf-
Zuwanderer sich nicht aus ihrer ökonomischen Abhän- enthaltsgesetz oder nach § 11 Beschäftigungsverfahrens-
gigkeit befreien. Erwerbstätigkeit ist die Grundlage für verordnung nur einen nachrangigen Zugang zum
wirtschaftliche Eigenständigkeit. Arbeitsmarkt haben, einen gesicherten Lebensunterhalt
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) vorweisen können, wenn sie einem faktischen Arbeits-
verbot unterliegen?
Deshalb ist es notwendig, dass eine Aufenthaltserlaubnis
vorgesehen wird, die automatisch auch die Aufnahme ei-
ner Erwerbstätigkeit ermöglicht. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Eine Antwort darauf ist schnell gegeben: Das ist einer
Besonderer Handlungsbedarf besteht darin, eine ge- der wesentlichen Punkte, die jetzt mit verhandelt werden
sicherte Lebensperspektive für die in Deutschland auf- müssen. Wir müssen zu einer Abschaffung dieser Rege-
gewachsenen Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Für lung kommen. Aus meiner Sicht brauchen wir eine ver-
ausländische Kinder und Jugendliche muss in Deutsch- nünftige Regelung für eine Arbeitsmöglichkeit.
land der Zugang zum Bildungssystem bestehen. Es kann
Ich komme zum Schluss. Die FDP stimmt den vorlie-
(B) nicht sein, dass Jugendliche, die in Deutschland eine genden Anträgen – auch denen der Linken – zu. (D)
Schullaufbahn beginnen, diese nicht abschließen dürfen.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Den Wink
mit den Linken haben wir verstanden!)
Wir sind in einigen Punkten gegenüber Einzelrege-
lungen in den vorliegenden Gesetzentwürfen zugegebe- Wir möchten damit vor allem das klare Signal setzen,
nermaßen durchaus skeptisch. So findet die von uns ge- dass die Bundesregierung schnellstmöglich handeln und
forderte Mitwirkungspflicht im Vorschlag der Grünen endlich eine sinnvolle Bleiberechtsregelung einbringen
keine Berücksichtigung. Es ist aber sehr wohl relevant, muss. Frau Staatsministerin Böhmer, ich gehe davon
dass geduldete Ausländer die Behörden nicht täuschen aus, dass dies bald der Fall sein wird. Ich hoffe dies je-
oder behindern, was ihren aufenthaltsrechtlichen Status denfalls.
anbelangt. Wir hatten in unserem Vorschlag auch einen Ich danke Ihnen.
seit mindestens sechs Jahren ununterbrochenen Aufent-
halt in Deutschland als Bedingung vorgesehen. Schließ- (Beifall bei der FDP)
lich ist es berechtigt, auch die Frage nach der Perspek-
tive eines gesicherten Lebensunterhaltes zu stellen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleibe- Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rüdiger Veit
rechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren das Wort.
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits
die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, dass Rüdiger Veit (SPD):
diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
und Bürgern findet. Auch hier muss die Integration die Ich möchte mich zunächst sowohl bei der Kollegin Ulla
Leitlinie sein. Jelpke als auch bei dem Kollegen Josef Winkler ent-
schuldigen. Dass wir wegen der bereits seit 20.30 Uhr
Eine klare, nachvollziehbare Anwendung unseres unter anderem zu diesem Thema laufenden Verhandlun-
Aufenthaltsrechtes ist Bedingung für eine Integration gen im Innenministerium den Saal verlassen müssen, be-
und Akzeptanz von Migranten. Gerade in diesem vor Sie geredet haben, ist sicherlich eine extreme Aus-
Zusammenhang müssen wir endlich auch beim Problem nahme. Ich bitte um Verständnis.
der so genannten Altfälle den Tatsachen ehrlich ins Auge
schauen. Aus Sicht der FDP muss die tatsächliche Inte- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gration das entscheidende Kriterium sein, nachgewiesen NEN]: Wir fragen ab, ob das im Protokoll
durch eigenständigen Lebensunterhalt, deutsche Sprach- nachgelesen wurde!)
6236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Rüdiger Veit
(A) – So wollen wir es halten. die Eltern für einen heranwachsenden Jugendlichen An- (C)
träge auf Anerkennung als Flüchtling oder Asylberech-
Sie haben mit Ihrem Bestehen darauf, Ihre Anträge tigten stellen können, selbst wenn sie keinerlei Aussicht
heute zu beraten, zugleich den geeignetsten – weil aku- auf Erfolg haben. Das hat natürlich dazu geführt, dass
testen – und den ungeeignetsten Augenblick gewählt, Familien, wenn sie nicht auseinander gerissen wurden,
weil wir als Koalitionspartner angesichts der in der Tat so lange hier geblieben sind, bis alle Verfahren abgear-
sowohl auf Bundesebene als auch im Rahmen der Vorbe- beitet waren. Diesen auch nach meiner Ansicht eigent-
reitung der Innenministerkonferenz intensiv geführten lich unsinnigen Zustand haben wir mit In-Kraft-Treten
Verhandlungen über das, was dabei vielleicht heraus- des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 endlich
kommt, nur wenig mehr sagen können als das, was Sie beseitigt.
ohnehin in den Medien schon haben nachlesen können.
Nun hat mir, anders als ich es gedacht hatte, der Rede- Wir dürfen den Betreffenden jetzt aber bitte schön
beitrag des Kollegen Grindel ein wenig die Möglichkeit nicht vorhalten, dass sie ein ihnen vorher von uns, näm-
genommen, ganz einschränkungslos die konstruktive At- lich dem Gesetzgeber, eingeräumtes Recht missbraucht
mosphäre der geführten Verhandlungen sowohl mit den hätten. Nein, sie haben es richtigerweise und verantwor-
Politikern auf Berliner Ebene als auch mit den Innenmi- tungsvoll gebraucht, was man ihnen nicht vorwerfen
nistern zu loben. Deshalb will ich das ein wenig selekti- darf. Es wäre eigentlich unsere Pflicht gewesen – da
ver tun und sagen: Ich bin dankbar dafür, dass sowohl stimme ich mit einigen Vorrednern überein –, im Rah-
der Herr Innenminister Wolfgang Schäuble als auch sein men des Zuwanderungskompromisses eine Altfall- oder
Staatssekretär und natürlich Frau Böhmer in sehr kolle- Übergangsregelung zu schaffen, um ein für alle Mal
gialer, sehr ehrlicher und sehr engagierter Weise an die- klarzustellen: Wer aufgrund unseres Rechts so lange hier
ses Thema herangehen. geblieben ist, hat die Chance und die Berechtigung, dass
sein weiterer Verbleib und der seiner Familie in Deutsch-
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- land geprüft wird.
Eckardt)
Dazu ist es leider nicht gekommen. Ich könnte Ihnen
Ich habe gesagt, dass Sie auch den denkbar geeignets- die Ursachen nennen; ich will das aber jetzt bewusst
ten Zeitpunkt gewählt haben; denn diese sehr schwierige nicht tun, und dies nicht nur aus Gründen der Redezeit.
Problematik steht gerade im Fokus der Öffentlichkeit. Nicht immer ist die Verantwortung ganz klar zwischen
Sie steht nicht nur im Fokus der Politik, sondern auch im den Parteien verteilt.
Fokus der Nichtregierungsorganisationen und der Kir-
chen. Ich persönlich bin froh darüber, dass wir uns die- Richtig ist auch, dass wir mit der Neufassung des § 25
sem Thema in dieser Klarheit und Deutlichkeit widmen. des Aufenthaltsgesetzes das Elend der Kettenduldun-
(B) Vielleicht kommen wir ja noch zu einem Ergebnis, das gen weitestgehend abschaffen wollten. Wir wollten da- (D)
von allen Fraktionen hier im Haus mehr oder weniger für sorgen, dass die betroffenen Menschen und ihre Fa-
begrüßt wird. milien in Deutschland eine klare Perspektive haben, hier
arbeiten und ihre Familie ernähren und die Kinder die
Worum geht es? Wir haben in Deutschland circa Schulausbildung abschließen und dergleichen Dinge
180 000 geduldete Menschen, die ausreisepflichtig sind. mehr tun können.
Die Zahl ist deshalb nicht genau, weil viele, die in der
Statistik geführt werden, Deutschland bereits verlassen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
haben. Auf der anderen Seite ist den Registervor- NEN]: Dass sie Deutsch lernen können!)
schriften und leider auch der Praxis eigen, dass häufig Das ist leider nicht in dem Maße gelungen, wie das der
nur das Familienoberhaupt als Geduldeter erscheint, Gesetzgeber gewollt hat. Auch die Ursachen hierfür sind
während alle Familienangehörigen nicht gezählt werden. vielfältig.
Sie können also davon ausgehen, dass bei diesen An-
gaben ehrlicherweise Schwankungen von plus/minus Ich meine daher, dass es jetzt wirklich allerhöchste
20 000 Menschen in Rede stehen. Zeit ist, sich dieses Themas anzunehmen. Da gibt es im
Prinzip unter anderem den Weg über einen Beschluss der
Nach der Statistik hatten wir es hier zum Ende des Innenministerkonferenz, die bekanntermaßen am Don-
Jahres 2005 mit 47 522 Kindern im Alter bis 15 Jahren nerstag und Freitag nächster Woche tagt. Dazu sage ich:
– sind fast 50 000 – und 11 183 Jugendlichen im Alter Nach all dem, was ich bisher darüber weiß, sind nach
zwischen 15 und 18 Jahren zu tun. Wir reden also auch dem Prinzip „kleinster gemeinsamer Nenner“ die Siebe
– das sollte die Herangehensweise an diese Problematik so eng gestellt, dass kein großer Wurf mehr gelingen
befruchten – über die Perspektive und das Schicksal von kann, weil von vornherein klar ist: Die Mehrheit der Be-
mindestens einer mittelgroßen deutschen Stadt voller troffenen wird sicherlich nicht einmal annähernd poten-
Kinder und Jugendlicher. Sie haben jetzt keine Perspek- ziell begünstigt werden können.
tive; sie sitzen mit ihren Eltern auf den Koffern. Sie kön-
nen nicht ohne weiteres eine Lehrstelle antreten. Mögli- Wenn man sich jetzt vor Augen führt, dass selbst die
cherweise können sie ihren Schulabschluss nicht Länderinnenminister von der Union und andere CDU/
vernünftig zu Ende bringen. CSU-Kollegen sagen, dass wir von den über
200 000 Geduldeten allenfalls 10 Prozent oder, wenn
Warum ist es dazu gekommen? Wir hatten nach altem wir Glück haben – ich habe es noch wörtlich im Ohr –,
Recht die in meinen Augen nicht einleuchtende Rege- 20 Prozent mittelfristig auf Dauer aus Deutschland ab-
lung, dass jeder, der in Deutschland geboren wird, bzw. schieben können, dann wird doch klar, dass wir uns die-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6237
Rüdiger Veit
(A) ses Problems endlich annehmen müssen, und zwar in ei- deutschen Arbeitsmarkt einen Job zu finden, der hat na- (C)
ner Weise, dass dieser Schwebezustand, der für alle türlich noch größere Schwierigkeiten, wenn er seinem
Beteiligten unbefriedigend und vor allen Dingen unter Arbeitgeber nur eine Duldung und keine Aufenthaltser-
dem humanitären Gesichtspunkt in höchster Weise an- laubnis vorweisen kann. Das ist eine ganz große
greifbar ist, beseitigt wird. Schwachstelle, die jetzt allerdings von allen Länderin-
nenministern erkannt worden ist.
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wenigstens
GRÜNEN) das haben wir geklärt!)
Wenn jetzt beispielsweise Bischof Huber und Kardi- Das ist ein großes Problem und das haben wir jetzt ge-
nal Lehmann an die Innenminister appellieren, es müss- klärt. Aber zufrieden bin ich damit nicht.
ten Kriterien gefunden werden, die von den Betroffenen
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das müsst ihr
auch erfüllt werden können, Staatsangehörige bestimm-
aber intern klären!)
ter Länder dürften nicht ausgenommen werden und
ganze Familien dürften nicht deswegen abgeschoben Ich bin auch mit einer ganzen Reihe anderer Regelun-
werden, weil sich vielleicht einzelne Teile dieser Familie gen, die vorgesehen sind, überhaupt nicht zufrieden. So
– und seien es die Eltern – falsch verhalten hätten, und sind die Mindestverweildauern von sechs Jahren für Fa-
sie darüber hinaus fordern, über eine Änderung des § 25 milien und von acht Jahren für Alleinstehende viel zu
Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes sei für die Zukunft mög- hoch.
lichst eine Beseitigung der Kettenduldungen zu errei-
chen, dann kann ich ihnen darin nur allumfänglich zu- Man sollte sich vor Augen führen, welche Situation
stimmen. eintreten kann, wenn man bei der Frage der Bestreitung
des Lebensunterhalts keine Ausnahmen zulässt: Ein
Ich will auf ein Problem zu sprechen kommen, das Familienvater, der hoch motiviert, fleißig und zu Über-
Herr Wolff angesprochen hat; denn da gerät die Verant- stunden bereit ist, aber keinen gut qualifizierten Job hat,
wortung durcheinander. – Herr Kollege Wolff, ich unter- weil er einen solchen Job gar nicht bekommen kann, und
breche Sie ungerne in Ihrem Dialog mit dem Kollegen vielleicht nur 1 400 oder 1 500 Euro im Monat nach
Thiele; aber ich möchte versuchen, Ihnen eine Aufklä- Hause bringt, ist gar nicht in der Lage, allein davon den
rung zu geben. – Es ist fälschlicherweise der Eindruck Familienunterhalt für sich und seine zwei, drei oder vier
erweckt worden, es sei der sozialdemokratische Arbeits- Kinder zu bestreiten. Daraus folgt: Wenn die Regelung
minister, der einer großzügigen Bleiberechtsregelung tatsächlich wirken soll, muss sichergestellt werden, dass
wegen seiner nicht verständlichen Hartherzigkeit entge- der Bezug ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt oder
(B) genstehe. Das ist so nicht richtig. In jeder entsprechen- von ALG II einen Verbleib in der Bundesrepublik nicht (D)
den Altfallregelung der Vergangenheit wurde davon ge- gefährdet.
sprochen, dass die Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis
erhalten. Daraus folgt dann nach § 9 der Beschäfti- Es gäbe noch sehr viel zu sagen. Es ist zu erwarten,
gungsverfahrensverordnung automatisch ihr unbe- dass die Innenministerkonferenz die Siebe zu eng stellt;
schränkter Zugang zum Arbeitsmarkt. Jetzt waren es lei- meine Kritik daran habe ich verdeutlicht. Sie können si-
der die Länderinnenminister von der Union, die gesagt cher sein: Die Sozialdemokraten werden sich redlich be-
haben: Wir wollen aber denjenigen, die heute noch keine mühen, den IMK-Beschluss zu beeinflussen, und sich
Arbeit haben, keine Aufenthaltserlaubnis für zwölf Mo- weiterhin bei der Klärung der Frage, wie man eine ver-
nate geben. nünftige Altfall- und Bleiberechtsregelung gesetzlich fi-
xieren kann – das ist eine Alternative, die verschiedent-
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das waren lich angesprochen wurde –, engagieren. Damit wir das
auch die SPD-Innenminister!) gleich tun können, begeben wir uns nun zum Kollegen
Schäuble in den Sitzungssaal. Ich bitte um Verständnis.
– Sprechen Sie mich bitte nicht auf die SPD-Innenminis-
ter und -Senatoren an!
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Stegner und Herr Kollege!
Körting genauso!)
Dann müsste ich ein überparteilich unfreundliches Wort Rüdiger Veit (SPD):
sagen. Diese Andeutung soll ausreichen. Frau Präsidentin, ich bedanke mich für Ihre Geduld.
(Lachen bei der FDP) (Beifall bei der SPD und der FDP sowie des
Seit ungefähr zwölf Wochen sind wir dabei, festzule- Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
gen, dass die Duldung für zwölf Monate erst einmal aus- GRÜNEN])
reichen muss. In dieser Zeit sollen sich die Betroffenen
eine Arbeit suchen. Dafür brauchen sie dann eine Son- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
derregelung des Arbeitsministers im Rahmen der Gern geschehen.
Beschäftigungsverfahrensverordnung. Das haben nicht
Ich rufe die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die
wir erfunden. Ich sage es noch einmal: Ich bin überhaupt
Linke auf.
nicht begeistert. Denn derjenige, der aufgrund seiner Un-
terqualifikation sowieso Schwierigkeiten hat, auf dem (Beifall bei der LINKEN)
6238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Umso erstaunlicher ist, welche Integrationsleistungen (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Migranten dennoch erbringen. Damit Sie von der Union
Kolleginnen und Kollegen! Ein weiteres Mal diskutieren mir folgen können, stelle ich Ihnen beispielhaft die Brü-
wir hier im Bundestag über Vorschläge zur Abschaffung der Kalanawi vor – Sie können dies der „FAZ“ vom
der Kettenduldungen. Spätestens die diskutierten Eck- Dienstag entnehmen –: Die beiden leben seit acht Jahren
punkte für eine so genannte Bleiberechtsregelung – Kol- in Deutschland. Einer ist Schulsprecher an seinem Gym-
lege Veit hat sie schon angesprochen – offenbaren, dass nasium. Er wird durch die Altfallregelung der IMK fal-
es wohl ein weiteres Mal zu keiner Lösung kommt. Die len. Er macht gerade sein Abitur und möchte danach
Hoffnungen von fast 200 000 betroffenen Flüchtlingen Medizin studieren. Da er seinen Lebensunterhalt nicht
und Migranten, von denen übrigens mehr als 50 000 seit finanzieren kann, wird dieser Mensch von Ihnen abge-
zehn Jahren oder länger in Deutschland leben, werden schoben.
wieder einmal bitter enttäuscht. Schon der Titel des Ta- Ein anderes Beispiel ist ein 18-jähriger Kosovo-Alba-
gesordnungspunktes der Innenministerkonferenz verrät ner, der mit sechs Jahren nach Deutschland kam. Er
alles: pflegt seinen Vater, für den er gerichtlich bestellter Be-
Bleiberecht für im Bundesgebiet wirtschaftlich und treuer ist. Nun soll er in ein Land abgeschoben werden,
sozial integrierte ausreisepflichtige ausländische dessen Sprache er nicht spricht. Was für eine Politik ma-
Staatsangehörige chen Sie? Das sind Menschen, die schon lange hier le-
ben. Ich finde, das ist ein Skandal.
Der bayerische Innenminister Beckstein hat schon an-
(Beifall der Abgeordnete Petra Pau [DIE
gekündigt, dass höchstens 50 000 unter diese Regelung
LINKE])
fallen werden. Diese Zahl ist meiner Meinung nach sehr
geschönt; auch Pro Asyl vertritt diese Meinung. Bisher
konnte nicht einmal die Bundesregierung die Anfrage, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wie viele Menschen mit Duldung eine Arbeitserlaubnis Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
besitzen, beantworten. Mit anderen Worten: Erst legt men.
man diesen Menschen alle möglichen Steine in den Weg
und erschwert damit ihre Integration; dann schiebt man Ulla Jelpke (DIE LINKE):
sie mit der Begründung, dass sie sich nicht integriert hät- Diese Politik ist menschenunwürdig und inhuman.
ten, ab. Was ist das für eine Logik? Dieses seit Jahren andauernde Geschachere der Innen-
Die Hardliner in der Union tun sich immer wieder mit minister muss meines Erachtens ein Ende haben.
(B) Äußerungen hervor, die an Zynismus nicht zu überbieten (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (D)
sind. Kollege Grindel hat nicht nur im Ausschuss, son-
dern soeben auch hier gesagt, ein Bleiberecht müsse mit Deswegen haben wir keine Altfallregelung vorgelegt,
erbrachten Integrationsleistungen erkauft werden. Doch sondern einen Gesetzentwurf, aufgrund dessen den Men-
wie soll soziale Integration aussehen, wenn über Ar- schen, die mindestens fünf Jahre in Deutschland leben,
beitsverbote und eine Residenzpflicht der Weg in den ein Bleiberecht eingeräumt wird. Es bietet ihnen die
Arbeitsmarkt systematisch verbaut wird? Wie sollen Möglichkeit, sich hier mit ihren Familien wirklich nie-
Sprachkenntnisse erworben werden, wenn es für viele derzulassen.
keine entsprechenden Angebote, sondern vor allen Din- Danke schön.
gen Ausgrenzung gibt? Ich frage Sie: Würden Sie sich in
eine Gesellschaft integrieren, deren führende Politiker (Beifall bei der LINKEN)
Sie immer wieder als Sozialschmarotzer, als Kriminelle
und als Bedrohung darstellen? – Das würden Sie doch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wohl nicht tun! Das Wort hat Josef Winkler für Bündnis 90/Die Grü-
Es geht den Innenministern nicht wirklich um die Ab- nen.
schaffung der Kettenduldung; von Bleiberecht kann gar
keine Rede sein. Es geht um eine Altfallregelung, zu der Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
viele der Betroffenen gar keinen Zugang haben. Sie be- NEN):
sitzen sogar noch die Frechheit, in Ergänzung zu einer Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
völlig inhumanen Regelung weitere Verschärfungen auf Da Herr Grindel schon gehen musste, will ich nicht alle
den Weg zu bringen. seine Falschinformationen einzeln aufgreifen.
So soll die Abschiebepraxis weiter verschärft wer- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wir nehmen
den: Gesetzlich legitimiert sollen Menschen demnächst die Kritik für ihn entgegen!)
ohne Vorankündigung nachts von der Polizei aus den Auf eine, die mich besonders geärgert hat, will ich am
Betten gezerrt und zum Flughafen verschleppt werden Anfang meiner Rede aber doch kurz eingehen. Von un-
können. – Die Befristung für den Bezug der eh schon re- serer gesetzlichen Regelung sind – darauf habe ich schon
duzierten Sozialleistungen soll aufgehoben werden. im Ausschuss hingewiesen – keine Ausländer betroffen,
Demnach werden Menschen in diesem Land demnächst die schwerste Straftaten begangen haben.
zehn oder 15 Jahre lang mit Leistungen auskommen
müssen, die weit unter dem Existenzminimum liegen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6239
Josef Philip Winkler
(A) Das hat er hier am Rednerpult eben behauptet. Im Ge- Es sind meist Familien, es sind fast 100 000 Kinder und (C)
setzentwurf ist klar enthalten, dass Menschen, bei denen Jugendliche. Da kann man nicht immer mit der Sozial-
Ausweisungstatbestände vorliegen, nicht unter diese Re- missbrauchskeule kommen. Die Kinder und Jugendli-
gelung fallen. Das war ein Fall von Desinformation. chen können noch nicht arbeiten und die Eltern haben in
der Regel keine Arbeitserlaubnis. Also bitte, hören Sie
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ich werde auf mit dieser Propaganda und machen Sie etwas für
es ihm ausrichten! – Silke Stokar von Neuforn
diese Menschen!
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Propaganda
war das!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abgeordnete Hartfrid Wolff [Rems-
Herr Grindel hat viele Fehler vorgetragen. Scheinbar
Murr] [FDP])
hat er nicht den Gesetzentwurf, sondern irgendeine Pres-
semitteilung von Otto Schily aus dem Jahre 1986 gele- Wir fordern, dass die Begünstigten keine Verlänge-
sen. rung ihrer Duldung bekommen, sondern eine Aufent-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, haltserlaubnis. Wir finden, dass ein Bleiberecht nicht
der SPD und der FDP – Hartfrid Wolff [Rems- davon abhängig gemacht werden soll, dass die Begüns-
Murr] [FDP]: Da war er noch bei den Grünen!) tigten dieser Regelung in einem dauerhaften Beschäfti-
gungsverhältnis stehen, wie es vonseiten einiger Uni-
– Das weiß ich. Ich bin froh, dass Sie mir zuhören. Of- onsinnenminister vorgetragen wird. Das macht keinen
fensichtlich kommen meine Scherze hier gut an. Sinn. Sie wissen genau: Wenn man geduldet wird, hat
man Residenzpflicht, man darf seinen Landkreis bzw.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Was man Ausländeramtsbezirk nicht verlassen. Es ist deshalb gar
von der Rede nicht behaupten kann!) nicht möglich, als Fahrer bei einer Spedition zu arbeiten
Das Vorgehen der Länderinnenminister ist bei weitem oder als Bauarbeiter. Frau Jelpke hat es bereits gesagt:
nicht so amüsant wie die Stimmung in diesem Raum. Erst tut man alles, um Hürden aufzustellen, die eine Ar-
Offensichtlich überbieten sie sich gegenseitig darin, so beitsaufnahme verhindern, und dann sagt man: Ihr habt
wenig Menschen wie möglich von der Bleiberechtsrege- nicht gearbeitet und bezieht Sozialleistungen. Jetzt
lung profitieren zu lassen. Das ist, wie ich finde, ein müsst ihr raus hier. – So geht es nicht, meine Damen und
Skandal. Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Gleiche gilt für die Deutschkenntnisse. Als Ge-
(B) duldeter hat man keinen Anspruch auf Deutschkurse. (D)
Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sollen diese Leute von ihrem Geld – Sozialhilfesatz mi-
es liegt schon eine gewisse Ulkigkeit darin, wenn ausge- nus ein Drittel minus 15 Jahre fehlende Erhöhungen –
rechnet Sie dem Arbeitsminister Müntefering vorwerfen, für 100 Euro aus eigener Tasche bei der Volkshoch-
er wäre derjenige, der eine sinnvolle Regelung zum Blei- schule einen Deutschkurs belegen? Wenn ich jeden Tag
berecht verhindere. Er fordert von Ihnen die Durchset- von Abschiebung bedroht wäre und damit rechnen
zung der Regelung, die Minister Schäuble und andere müsste, dass die Polizei vor der Tür steht und mich nebst
Innenminister von der Union in den zurückliegenden Kindern in mein womöglich im Bürgerkrieg befindliches
Jahrzehnten praktiziert haben. Er sagt nämlich: Die Dul- Heimatland abschiebt, hätte ich Besseres zu tun, als
dung soll nicht verlängert werden – das ist auch nicht
mich zu integrieren, indem ich bei der Volkshochschule
sinnvoll, weil es sich nicht um einen rechtmäßigen Auf-
einen Deutschkurs belege, den ich auch noch selbst be-
enthalt handelt –, vielmehr soll ein rechtmäßiger Auf-
enthaltsstatus mit gleichrangigem Arbeitsmarktzugang zahlen muss.
gewährt werden. Was Sie Herrn Müntefering jetzt vor- Ich komme zum Schluss. Was schon gar nicht geht,
werfen, müssten Sie Herrn Schäuble nachträglich für das ist, dass man sagt: Ihr dürft bleiben, aber dann wird das
vorwerfen, was er 1990 gemacht hat. Deswegen sage ich Asylbewerberleistungsgesetz dauerhaft für euch gelten.
in diesem Zusammenhang aus ganzem Herzen: Das heißt, ihr bekommt ein Drittel weniger als der letzte
Müntefering, wir stehen an deiner Seite!
Sozialhilfeempfänger in diesem Land, und das lebens-
(Beifall des Abgeordnete Florian Pronold länglich. – So etwas, Herr Schäuble, machen wir nicht
[SPD]) mit. Wenn Sie einer solchen Regelung zustimmen, finde
ich das überhaupt nicht christlich.
Kardinal Karl Lehmann und Bischof Huber haben
heute die Unionsparteien, insbesondere die Länderin- Sie wissen, wie die Lage im Irak ist. Herrn Beckstein
nenminister, noch einmal mit Verve aufgefordert – das ist es ja besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass alle
ist eben schon gesagt worden; das ist richtig –, ihre Blo- Menschen, die aus dem Irak kommen, generell von die-
ckadehaltung aufzugeben. Sie haben in aller Schärfe da- ser Regelung ausgeschlossen werden. Das haben heute
rauf hingewiesen, dass es hier um Menschenschicksale die katholische und die evangelische Kirche
geht. Es geht nicht darum, dass irgendwelche Verbrecher
nicht abgeschoben werden können.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
6240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten und der Fraktion der FDP eingebrachten (C)
NEN): Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
– ich bin beim letzten Satz – und der Hohe Kommis- Kraftfahrzeugsteuergesetzes
sar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge heftig abge-
– Drucksache 16/473 –
lehnt. Wir schließen uns dem an.
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
Danke. schusses (7. Ausschuss)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 16/3314 –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Berichterstattung:


Abgeordnete Patricia Lips
Ich schließe die Aussprache.
Florian Pronold
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- Frank Schäffler
tion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Zweiten Ge- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
setzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und ande- gemäß § 96 der Geschäftsordnung
rer Gesetze auf Drucksache 16/369. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf – Drucksache 16/3316 –
Drucksache 16/2563, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich Berichterstattung:
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Carsten Schneider (Erfurt)
gen? – Der Gesetzentwurf ist abgelehnt mit den Stimmen Otto Fricke
der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen Die Dr. Gesine Lötzsch
Linke und der FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/ Anja Hajduk
Die Grünen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-
nung die weitere Beratung. Hierfür ist zwischen den Fraktionen eine Debatte von
einer halben Stunde verabredet worden. – Dazu höre ich
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
tion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent-
wurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufent- Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Kollege
haltsgesetzes (Altfall-Regelung) auf Drucksache 16/218. Florian Pronold das Wort.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/2563, den Ge- Florian Pronold (SPD):
(B) setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D)
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Kollegen! Mit dem heutigen Beschluss beenden wir eine
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- Hängepartie von eineinhalb Jahren für die Besitzerinnen
entwurf abgelehnt mit den Stimmen der CDU/CSU und und Besitzer von Wohnmobilen. Seit langem wissen die
der SPD gegen die Stimmen der Fraktionen des Bünd- Betroffenen, dass es zu einer Änderung der Besteuerung
nisses 90/Die Grünen, der FDP und der Linken. Nach kommen wird. Es ist wichtig, dass sie jetzt Rechtssicher-
unserer Geschäftsordnung entfällt auch hier die weitere heit bekommen.
Beratung.
(Zuruf von der FDP: Die Leute wissen jetzt,
Zusatzpunkt 6 b. Beschlussempfehlung des Innenaus- dass sie mehr bezahlen müssen!)
schusses auf Drucksache 16/2563 zu dem Antrag der
Nach langen Debatten zwischen Bund und Ländern
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel haben wir einen tragfähigen Kompromiss gefunden,
„Kettenduldungen abschaffen“. Der Innenausschuss auch wenn wir von der SPD-Fraktion uns anderes ge-
empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den wünscht haben. Zu Beginn dieser Debatte haben wir und
Antrag auf Drucksache 16/687 abzulehnen. Wer stimmt übrigens auch das damals noch SPD-regierte Land Nord-
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – rhein-Westfalen Anträge eingebracht, mit denen wir auf
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit keinerlei Steuererhöhungen für die Wohnmobilbesitzer
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppo- abgezielt haben.
sition angenommen.
(Martin Zeil [FDP]: Richtiger Weg!)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Als wir unter Rot-Grün einen Gesetzentwurf einge-
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat bracht haben, um die Luxusgeländewagen höher zu be-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- steuern, haben uns die Länder unter der Führung des
derung kraftfahrzeugsteuerlicher Vorschrif- Freistaates Bayern zugesagt, eine Ausnahmeregelung
ten auch hinsichtlich der Wohnmobilbesteue- zu schaffen, damit es zu keiner höheren Besteuerung der
rung Wohnmobile kommt.
– Drucksache 16/519 – (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bedenke das
Ende!)
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Volker Wissing, Horst Friedrich (Bay- Zu dieser Regelung kam es nicht. Damit gibt es seit ein-
reuth), Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordne- einhalb Jahren ein gültiges Recht, das von den Ländern
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6241
Florian Pronold
(A) nicht angewendet worden ist. Stattdessen wurden vorläu- (Abg. Frank Schäffler [FDP] meldet sich zu ei- (C)
fige Steuerbescheide auf Basis des ganz alten Rechts er- ner Zwischenfrage)
lassen. Das hat für die Verhandlungen hier zu einer sehr
schwierigen Situation geführt. – Herr Schäffler, Sie können Ihre Frage gerne am Ende
meiner Rede stellen.
Gemessen an dem, was im Gesetz normiert ist, haben
wir es geschafft, eine Reduzierung der Steuerlast um Ich komme zum Schluss. Wir wollten eine bessere
20 Millionen Euro zu vereinbaren. Gleichwohl kommt Regelung für die Wohnmobilbesitzer schaffen. Das war
es zu einer deutlichen Steuererhöhung für die Wohnmo- in der Situation, in der wir uns befunden haben, nicht
bilbesitzer. möglich. Dass sich jetzt aber gerade die FDP zu Wort
meldet und sich als Retter aufspielt, wundert mich. Denn
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist der es wäre schön gewesen, wenn sie in den Landesregierun-
Punkt!) gen, an denen sie beteiligt ist, tatsächlich etwas in diese
Richtung unternommen hätte.
– Es ist schön, dass insbesondere die FDP das kritisiert.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Warum? Das Land Nordrhein-Westfalen hat, als es noch Herr Kollege, ich nehme an, dass das nicht bereits
SPD-regiert war, im Bundesrat einen Antrag einge- Ihre Antwort auf die noch zu stellende Zwischenfrage
bracht, um diese zusätzliche Besteuerung zu verhindern. war, sondern dass Sie die Frage gern zulassen möchten.
Als die Regierung in Nordrhein-Westfalen gewechselt
hat – wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie an der Florian Pronold (SPD):
neuen Regierung beteiligt –, Ich wollte heute eigentlich früher fertig werden.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie jedenfalls (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn man so
nicht!) anfängt, kann man nicht so schnell fertig wer-
den! – Heiterkeit)
haben Sie umgeschwenkt und wollten die Besitzer von
Wohnmobilen zur Kasse bitten. Aber bitte schön.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Deswegen ist es besonders verlogen, wenn Sie sich hier Bitte schön, Herr Kollege Schäffler.
als Retter der Wohnmobilbesitzer aufspielen, während
Sie sich in Nordrhein-Westfalen als Raubritter betätigen.
(B) Das muss man hier in aller Deutlichkeit sagen. Frank Schäffler (FDP): (D)
Kollege Pronold, Sie haben gesagt, dass es sich bei
(Beifall bei der SPD) der von Ihnen getroffenen Regelung um einen Kompro-
Wir haben uns bemüht, auf Basis des Vorschlags des miss handelt. Wer hat diese Steuererhöhungen im Rah-
ADAC eine vernünftige Lösung zu finden. Dies endete in men Ihrer Diskussionen denn befürwortet?
einem eigenen Wohnmobiltarif. Bei der Besteuerung
von Wohnmobilen bis zu 2,8 Tonnen wurde so eine deut- Florian Pronold (SPD):
liche Verbesserung erreicht; das kann man hier einmal Wie ich Ihnen geschildert habe, waren die Wohnmo-
festhalten. Trotzdem bleibt es dabei – das kann man nicht bile in der bestehenden Rechtslage nicht ausgenommen.
leugnen –, dass es durch die Komponenten Gewichts- Wir haben versucht, das zu ändern. Darüber haben wir
klasse und Schadstoffausstoß für viele Wohnmobilbesit- mit den Ländern lange Verhandlungen geführt. Wir ha-
zer zu Steuererhöhungen kommt, die wir so nicht wollten. ben es geschafft, die ursprüngliche Größenordnung der
Im politischen Geschäft ist es aber oft so, dass man sich Steuererhöhungen von 70 Millionen Euro auf 50 Millio-
zum Schluss auf einen Kompromiss einigen muss. nen Euro zu reduzieren. Wir wollten zwar mehr errei-
chen, aber das ist uns nicht gelungen. Wenn uns die FDP
In diesem Zusammenhang kann man aber darauf hin-
im Bundesrat unterstützt hätte, würden wir heute viel-
weisen, dass es für die Betroffenen eine Möglichkeit
leicht über ein anderes Ergebnis reden.
gibt, diesen Steuererhöhungen aus dem Weg zu gehen
– das ist von vielen auch schon angekündigt worden –, (Beifall bei der SPD)
indem man die Wohnmobile nur noch für den Zeitraum
anmeldet, in dem man sie nutzt. Dadurch werden die Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
Steuereinnahmen vielleicht nicht so hoch ausfallen, wie mich auf die anstehenden Debatten.
es diejenigen erwarten, die diese Regelung miteinander (Beifall bei der SPD)
verhandelt haben.
Ich glaube trotz allem, dass die Eckpunkte des gefun- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
denen Kompromisses richtig sind. Nun gibt es einen ein- Das Wort hat der Kollege Schäffler für die FDP-Frak-
heitlichen Wohnmobiltarif, der auf die Kriterien Ge- tion.
wicht und Schadstoffausstoß zielt. Damit schlagen wir
den richtigen Weg ein. Wir haben eine dauerhafte und (Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele
vernünftige Regelung gefunden, die auch vom ADAC [FDP]: Jetzt kommt endlich die Wahrheit auf
vorgeschlagen worden ist. den Tisch!)
6242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Frank Schäffler (FDP): Nach der Bundestagswahl wollen Faltlhauser und (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und seine Kollegen dann bei den Wohnmobilen abkas-
Herren! Die FDP-Fraktion ist gegen die von der Koali- sieren – mit bis zu zehnmal höheren Steuern. In sei-
tion vorgeschlagene drastische Steuererhöhung bei nem steuerpolitischen Raubrittertum nimmt
Wohnmobilen. Wir haben deshalb bereits im Januar die- Faltlhauser dabei weder auf die Camper Rücksicht
ses Jahres den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht, noch auf den Tourismus in Bayern. Die Wohnmo-
in dem klargestellt wird, dass es im Hinblick auf Wohn- bilbesitzer verbringen einen Sommer der Unge-
mobile bei der Besteuerung nach Gewicht bleibt. Das wissheit, im Herbst folgt dann das böse Erwachen.
war in diesem Hause immer unsere Haltung,
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)
Das müssen Sie sich heute vorhalten lassen. Wer sich
die wir schon in der letzten Wahlperiode in einem ent- über Jahre populistisch als Verteidiger der Wohnmobilis-
sprechenden Antrag deutlich gemacht haben. Dies ist im ten darstellt, der muss an dieser Stelle Farbe bekennen
Sinne des Vertrauensschutzes für die Bürger die einzig und kann sich nicht in die Furche zurückziehen.
sinnvolle Regelung. (Beifall bei der FDP – Klaus Brähmig [CDU/
(Beifall bei der FDP) CSU]: Die FDP ist auch nicht unschuldig!)
Ausgangspunkt war – das haben Sie richtigerweise Das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.
gesagt –, dass die Privilegien für schwere Geländewagen
abgeschafft werden sollten. Der rot-grüne Gesetzge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
bungsmurks hat allerdings dazu geführt, dass auch die Sie unterbrechen schon Ihre Rede. Möchten Sie eine
Besteuerung von Wohnmobilen in die Diskussion geriet. Zwischenfrage von Herrn Pronold zulassen?
Schwarz-Rot greift diesen Faden nun auf und will zu-
sätzliche Einnahmen in Höhe von 50 Millionen Euro (Zuruf von der FDP: Herr Pronold will erklä-
durch Steuererhöhungen für Wohnmobile erzielen. ren, dass er uns zustimmt!)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber vernünf-
Frank Schäffler (FDP):
tig gestaffelt, Herr Kollege!)
Ich habe noch einige Zitate. Insofern kann ich meine
Dies tun Sie allerdings, wie üblich, nicht zu publi- Rede noch ergänzen.
kumswirksamer Zeit, sondern kurz vor 22 Uhr. Aber
auch die späte Stunde wird Sie nicht von der Aufmerk- Florian Pronold (SPD):
(B) samkeit der Wohnmobilisten verschonen. Wir alle haben (D)
Gern. – Sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu neh-
zahlreiche Zuschriften erhalten und die entsprechenden men, dass in dem ursprünglichen Gesetzentwurf, der
Internetseiten gelesen. In den Schlagzeilen heißt es: heute nicht mehr Gegenstand der Beratung ist, Erhöhun-
„Wir werden diesen Steuerwucher nicht mitmachen!“ gen der Kfz-Steuer für Wohnmobile bis zu 1 000 Prozent
oder: „Letzter Urlaub mit dem Wohnmobil?“. Diese Äu- vorgesehen waren, dass sich dieser Rahmen deutlich
ßerungen – das wird Sie nicht wundern – stammen von vermindert hat und dass wir eine gerechtere Besteuerung
unserem Kollegen Florian Pronold. hinbekommen haben?
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Jetzt kommt es
raus! – Weitere Zurufe von der FDP: So ist das Frank Schäffler (FDP):
also! Aha! – Ach nein!) Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis.
Er hat auch erklärt: (Beifall bei der FDP)
Ich hoffe, dass sich die Union im Bundestag von ih- Denn Sie wollen mit dem Gesetzentwurf über
ren raffgierigen Kollegen Faltlhauser und Co. dis- 200 000 Wohnmobilisten mit einer Steuererhöhung von
tanziert und mit uns gemeinsam die Wohnmobile bis zu 150 Prozent belasten. Es hat für mich nichts mit
von Steuererhöhungen ausnimmt. Gerechtigkeit zu tun, wenn jemand zwei Wochen im Jahr
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bei den Jusos sein Wohnmobil durch die Lande fährt und trotzdem
gab es ja schon immer eine Doppelstrategie! – künftig mehr als doppelt so hohe Steuern zahlen soll.
Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Na, so et- Damit werden Sie die Betroffenen, von denen vielleicht
was! – Das kann ich mir ja gar nicht vorstel- der eine oder andere zu Ihren Wählern gehört, nicht
len! – Das kann doch wohl nicht wahr sein!) überzeugen können. Ich glaube, dass Sie letztlich das
Gegenteil erreichen werden. Deshalb stimme ich Ihnen
Dieses Zitat stammt vom 17. März 2006. Das ist also in diesem Punkt nicht zu.
noch gar nicht so lange her.
Lassen Sie mich noch ein Zitat von Ihnen bringen. Sie
Ich will Florian Pronold noch einmal zitieren – dieses haben schließlich danach gefragt. Ich zitiere:
Zitat liegt allerdings schon etwas länger zurück; es
stammt vom 8. Juli 2005 –: Da die Kfz-Steuer eine reine Ländersteuer ist,
wurde im Bundesrat eine Arbeitsgruppe unter der
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das liegt aber Federführung Bayerns gebildet, um eine Mehrbe-
wirklich lange zurück!) lastung der Wohnmobile zu vermeiden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6243
Frank Schäffler
(A) Sie haben des Weiteren festgestellt: Ich darf mich bedanken. (C)
Die SPD bedauert sehr, dass die Steuererhöhung (Beifall bei der FDP)
nicht generell verhindert werden konnte.
(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Diese Zitate müssen Sie sich heute vorwerfen lassen. Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die CDU/
Sie müssen sich fragen, inwieweit Sie sich in dieser CSU.
Frage tatsächlich durchgesetzt haben. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP)
Sie belasten die Bürger mit zusätzlichen Steuern in Höhe Patricia Lips (CDU/CSU):
von 50 Millionen Euro. Das halte ich für skandalös. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach der Stimmungslage in den letzten Minuten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zu urteilen, sind wir offensichtlich beim Highlight des
Herr Pronold, warten Sie immer noch auf die Antwort heutigen Abends angekommen.
Ihrer Frage? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Er möchte noch der FDP)
das Wohnmobil zur Riester-Vorsorge machen!)
Gestatten Sie mir, zu Beginn meiner Rede zwei Dinge zu
Ich möchte nicht, dass es in Vergessenheit gerät und sich sagen. Herr Pronold, es ist vielleicht nicht sachgemäß,
die Redezeit unendlich verlängert. einen Kompromiss mit einer Schelte zu beginnen, um
von eigenen Ankündigungen abzulenken. Herr Schäffler,
Florian Pronold (SPD): abgesehen von den Zitaten, aus denen Ihre Rede zu zwei
Ich wollte zweitens fragen, ob Sie bereit sind, zur Dritteln bestand, enthielt Ihre Rede nur bedingt Substan-
Kenntnis zu nehmen, dass die Kfz-Steuer für Wohnmo- zielles.
bile nicht in den Bundeshaushalt fließt, sondern zum (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Beispiel auch den Länderregierungen von Hessen, Ba-
den-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zugute Die Diskussion, die wir heute zu Ende bringen, be-
kommt, wo die FDP mitregiert. gann bereits in der letzten Legislaturperiode. Seit gerau-
(Zurufe von der FDP: In Hessen leider nicht!) mer Zeit entfiel der Begriff der Kombinationskraftwagen
(B) bei der Kraftfahrzeugsteuer, ein Sammelbegriff insbe- (D)
– Verzeihung. sondere für Geländewagen, Großraumlimousinen, viele
andere Fahrzeugtypen und auch für Wohnmobile mit ei-
Drittens frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis
nem zulässigen Gesamtgewicht von über 2,8 Tonnen;
zu nehmen, dass nach dem ursprünglichen Gesetzent-
das wurde vorhin angesprochen. Ich erinnere daran, dass
wurf die von Ihnen ignorierten Steuererhöhungen bis zu
der Besitzer eines Geländewagens teilweise weniger
1 000 Prozent betragen hätten und dass wir mit dem vor-
zahlte als ein Besitzer eines regulären PKWs älterer
liegenden Gesetzentwurf die Rechtslage für die Betrof-
Bauart. Darüber wurde vor etwa zwei Jahren diskutiert.
fenen wesentlich verbessern, selbst wenn ich – wie Sie
Diese Kraftwagen unterlagen einer im Vergleich zu Per-
zu Recht zitiert haben – damit nicht zufrieden bin, weil
sonenkraftwagen günstigeren Besteuerung, vergleichbar
ich keine Steuererhöhung wollte.
mit der von Lastkraftwagen. Teilweise wurde dort noch
einmal – je nach Gewicht – unterschieden, ob nun Emis-
Frank Schäffler (FDP): sionen zusätzliche Berücksichtigung fanden oder nicht.
Das gestehe ich Ihnen gerne zu und fordere Sie auf,
unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir wollen keine Die Auseinandersetzung über dieses Thema wurde
Steuererhöhungen für Wohnmobile. Sie müssen nur un- zwar noch von dem damaligen Umweltminister Trittin in
serem Gesetzentwurf zustimmen. Darüber wird heute Gang gesetzt, jedoch nicht beendet. Sie hinterließ Lü-
entschieden. cken und sorgte für Verunsicherung der Betroffenen an
anderer Stelle. Was sich für Geländewagen eindeutig
(Beifall bei der FDP) und eher unstrittig umsetzen ließ – sie dienen vornehm-
Deshalb können Sie an dieser Stelle Ihre Meinung deut- lich der Personenbeförderung –, sorgte im Bereich der
lich zum Ausdruck bringen. Wohnmobile für erhebliche Unruhe, da gravierende
Mehrbelastungen erwartet wurden. Im April dieses Jah-
Wie es inzwischen üblich geworden ist – das möchte res hatten wir die erste Debatte über dieses Thema im
ich abschließend feststellen –, soll die Steuererhöhung Plenum. Ich stellte bereits damals folgende Fragen:
rückwirkend zum 1. Januar 2006 in Kraft treten. Sie Wann ist ein Wohnmobil eigentlich ein PKW, wann ein
missbrauchen damit innerhalb eines Tages gleich bei LKW und vor allen Dingen warum diese Unterschei-
zwei Gesetzen, dem Jahressteuergesetz 2007 und dem dung, wenn es sich doch objektiv und nach Ansicht der
jetzt beratenen Gesetz, das Vertrauen der Bürger in die Halter selbst in beiden Fällen in Gebrauch und Charakter
bestehenden gesetzlichen Regelungen. Sie müssen sich um einen identischen Fahrzeugtyp handelt?
nicht wundern, wenn dadurch das Vertrauen in die Poli-
tik und ihre Entscheidungsträger weiter abnimmt. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)
6244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Patricia Lips
(A) Warum unterliegt nach bisher geltender Regelung ein ren Kombinationsfahrzeugen. Bei aller zusätzlichen Dif- (C)
Halter eines Wohnmobils unterhalb einer bestimmten ferenziertheit des Systems muss man diesem Weg zugute
Gewichtsgrenze einer anderen Steuerart als jemand, des- halten, dass durch diese Umstrukturierung eine ver-
sen Fahrzeug darüber liegt? Warum werden beim einen gleichbare Darstellung innerhalb der Kategorie „Wohn-
Emissionen berücksichtigt, beim anderen nicht? Nach mobile“ gefunden werden konnte. Ein Vergleich mit an-
steuerlicher Behandlung und streng nach Gesetzeslage deren Fahrzeugtypen und damit eine an sich
war dies zwar in den Steuersätzen geregelt. Aber eine ungerechtfertigte Ungleichheit entfallen.
Antwort auf die Frage nach der Steuersystematik konnte
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nicht gegeben werden.
neten der SPD)
Punkt eins: Es galt eine sachgerechte Anpassung so-
Zweitens. Es wurde auch aus Gründen der Rechtssi-
wohl im Vergleich mit anderen Fahrzeuggattungen als
cherheit genau definiert, was eigentlich ein Wohnmobil
auch innerhalb der Kategorie selber vorzunehmen.
ist, und zwar unter Berücksichtigung von Wohnanteil an
(Beifall bei der CDU/CSU) der Gesamtnutzfläche, Stehhöhe, Kochgelegenheit und
anderem mehr. Auch dieser Punkt sollte eigentlich un-
Es lag in der Tat ein Vorschlag vor, nach dem zunächst
strittig sein.
die Kombinationsfahrzeuge, sofern sie objektiv und vor-
rangig der Personenbeförderung dienen, schrittweise in Drittens – jetzt kommt der Kerngedanke –: Es wurden
eine PKW-Besteuerung überführt werden sollten, an de- abgestufte Kategorien nach Schadstoffklassen für alle
ren Ende jedoch – anders als bei PKW – für Wohnmo- Wohnmobile gebildet, nochmals unterteilt nach Ge-
bile ein dauerhafter Abschlag vorzusehen ist. Halter von wichtsgrößen. Ich möchte nicht verhehlen, dass außer
Wohnmobilen wie Verbände befürchteten – wir alle ha- Ihrem Vorschlag noch ein Vorschlag der Grünen auf dem
ben entsprechende Schreiben bekommen – unzumutbare Tisch liegt, einzig nach Schadstoffausstoß zu besteuern.
Härten und brachten eigene Vorschläge ein. Bund und Hier stellt sich aber nicht nur die Frage nach der Härte
Länder erarbeiteten daraufhin in den vergangenen Mo- beispielsweise bei älteren Modellen oder einem erzielba-
naten – die Kfz-Steuer ist eine Ländersteuer – ein neues ren Wiederverkaufswert. Das wirkliche Leben holt einen
Konzept, das in den Grundzügen darauf basiert und das spätestens an dieser Stelle wieder ein. Auch Sie müssten
heute zur Abstimmung steht. Lassen Sie mich an dieser differenzieren.
Stelle erwähnen, dass seit dieser Zeit allen bewusst ist,
Über Ihren Vorschlag wurde bereits ausführlich ge-
dass die bisherigen Regeln nicht mehr gelten.
sprochen. Ich stelle aber die Frage, warum bei einer
Damit komme ich zu Punkt zwei. Zu einem wichtigen Fahrzeugkategorie bei Erwerb des Fahrzeugs nicht auch
Aspekt, um zu einer größeren Transparenz zu gelangen, die Frage nach der Emission des Fahrzeugs gestellt wer-
(B) (D)
und im Übrigen passend zu aktuellen Diskussionen an den soll. Oder: Weshalb soll der Halter eines schweren
anderer Stelle – ich erinnere an heute Nachmittag – Fahrzeugs neuerer Bauart in der Systematik und im Ver-
wurde das Stichwort „umweltpolitisches Lenkungsprin- hältnis mehr zahlen als einer, der ein leichteres Fahrzeug
zip“, das heißt die stärkere Berücksichtigung nach hat, das jedoch einen höheren Schadstoffausstoß hat? Sie
Schadstoffklassen auch bei Wohnmobilen. Dies wird, sehen, dass Sie da nicht stringent sind. Es ist mit Sicher-
Kollege Schäffler, im Übrigen auch von namhaften Ver- heit sehr populär, sich diesen Anstrich zu geben, aber
bänden ausdrücklich unterstützt und vorgeschlagen. Wir man darf nicht näher nachfragen.
sind da nicht allein.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Im Ergebnis liegt die Jahressteuer für Wohnmobile
In den vergangenen Jahren hat eine positive Entwick- nun über der für Lastkraftwagen und im Normalfall un-
lung beim Schadstoffausstoß stattgefunden, die es ver- terhalb der für Personenkraftwagen, in einer eigenen Ka-
stärkt zu berücksichtigen gilt. Gleichzeitig ist jedoch das tegorie, differenziert nach Schadstoff und Gewicht. Es
Spektrum der Gewichtsklassen sehr groß und eine Be- wird Fahrzeuge geben, die aufgrund der früheren PKW-
rücksichtigung auch hier ausdrücklich gewünscht. Aber Besteuerung nun weniger zahlen,
die Diskussion bis zu diesem Punkt heute zeigt natürlich
(Frank Schäffler [FDP]: 200 000!)
auch, dass das deutsche Steuerrecht auch an dieser Stelle
vielfältig bleibt. Zum einen geschieht dies durch die es wird aber auch solche geben, die mehr zahlen, insbe-
Vielfalt der Modelle und individuellen Lebensumstände sondere wenn sie nicht schadstoffreduziert sind. Wir
der Halter, wollen es nicht verschweigen. Am Ende steht jedoch
auch hier eine Deckelung der Beträge, die nicht über-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sehr liebenswür-
schritten wird. Ich sage dies ausdrücklich. Es galt bei
dig ausgedrückt!)
diesem Punkt, das Spannungsfeld zwischen einer Belas-
zum anderen durch das Bestreben, Wünsche und Anre- tung auf der einen Seite und der umweltpolitischen
gungen mit steuerlichen und haushaltspolitischen Not- Komponente auf der anderen Seite zu überbrücken.
wendigkeiten in Einklang zu bringen. Gegebenenfalls
Mit dem vorliegenden Kompromiss soll die eingangs
hat der eine oder andere Kollege in NRW dies so gese-
erwähnte Lücke endlich geschlossen und Klarheit ge-
hen.
schaffen werden. Wir sind uns bewusst, dass wir wie bei
Das Ergebnis: Erstens. Es wird eine eigene Kategorie vielen politischen Entscheidungen nicht überall auf Zu-
für Wohnmobile geschaffen, unabhängig von den weite- stimmung stoßen werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6245
Patricia Lips
(A) (Frank Schäffler [FDP]: Mit Recht!) in der Begründung angegeben – um einen Fall der (C)
unechten Rückwirkung handelt.
Wir sind jedoch unter Berücksichtigung aller Belange,
der Vielfalt der Modelle und zahlreicher Gespräche der Wenn Sie sich schon selbst nicht sicher sind, ob es
Ansicht, in den vergangenen Monaten eine tragfähige eine unechte Rückwirkung ist oder nicht – das ist als sol-
Lösung gefunden zu haben. Zugunsten dieses Kompro- ches schon eine vage Begründung, um eine solche Rück-
misses, der über eine breite Mehrheit in Bundestag und wirkung zu rechtfertigen –, warum haben Sie dann nicht
Bundesrat verfügt, werden die anderen Diskussionsvor- wenigstens darauf gedrungen, dass der von Ihnen gefun-
schläge der Vergangenheit zurückgestellt. Wir bitten dene Kompromiss frühestens ab 1. Januar 2007 gelten
deshalb um Zustimmung. kann?
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Eine Stichtagsregelung wäre eine wesentlich gerech-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tere Lösung gewesen. Es ist klar, dass es bei dem vorge-
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die schlagenen Verfahren für viele Fahrzeughalterinnen und
Linke. Fahrzeughalter äußerst schwierig ist, eine wesentlich
höhere Steuerbelastung – und diese auch noch rückwir-
(Beifall bei der LINKEN) kend – zu tragen und vielleicht zu versuchen, ihre Fahr-
zeuge nachzurüsten, damit sie in den Folgejahren nicht
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): ebenfalls noch hohe Steuern zahlen müssen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus diesem Grunde halten wir den von Ihnen geprie-
Wir werden dieses Gesetzesvorhaben nicht unterstützen. senen Kompromiss für nicht richtig. Wir meinen aller-
Wir werden aber auch nicht den Vorschlag der FDP un- dings auch – das richtet sich an die FDP –, dass Wohn-
terstützen. Richtig ist es, dass wir derzeit eine Gesetzes- mobile in Zukunft – wie eigentlich alle anderen
lücke haben, die geschlossen werden muss. Alle Fahr- Fahrzeuge auch – so besteuert werden sollten, dass öko-
zeughalterinnen und -halter haben natürlich Anspruch logische Belange eine wesentliche stärkere Rolle spie-
auf Rechtssicherheit. Richtig und wichtig ist es eben- len.
falls, in dem Gesetzgebungsverfahren auf Entwicklun-
gen zu reagieren. Es war doch interessant, dass von den (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)
Haltern und Halterinnen der so genannten Pick-up-Fahr-
Dazu gehört eben eine emissions- und hubraumbezo-
zeuge keine Proteste zu hören waren. Vielmehr wurde
(B) von ihnen die Umstellung und Klarstellung akzeptiert, gene Besteuerung. Es ist zu wenig, es einfach so belas- (D)
sen zu wollen, wie es ist. Man hätte für dieses Jahr die
dass ihre Fahrzeuge wie PKW behandelt werden. Es ist
geltende Regelung beibehalten können und müssen und
ein richtiger und wichtiger Schritt, dass eine hubraum-
im nächsten Jahr – das wäre dann jetzt unsere Aufgabe
und emissionsbezogene Besteuerung erfolgt. Denn ge-
gewesen – eine Übergangsregelung, die tatsächlich in
rade diese Pick-up-Fahrzeuge, die oftmals eine enorme
diese Richtung zielt, vornehmen müssen.
Gefährdung im Stadtverkehr darstellen, sind gleichzeitig
Spritfresser mit einem Verbrauch von 20 Litern auf Aus diesem Grunde werden wir sowohl den von Ih-
100 Kilometer im Stadtverkehr und ökologisch gesehen nen verteidigten Kompromiss als auch den Entwurf der
das Schlechteste, was man einsetzen kann. Die Halterin- FDP ablehnen. Bei beiden ist die Zielrichtung verfehlt.
nen und Halter dieser Fahrzeuge sind sich im Klaren da- Beide werden nur zu einer Mehrbelastung der Halterin-
rüber, dass sie sich einen ökologisch schlechten Luxus nen und Halter von Wohnmobilen führen. Das lehnen
leisten. wir ab.
Der Übergang allerdings von der reinen Besteuerung Danke.
nach dem Gewicht zur PKW-Besteuerung von Wohnmo-
bilen – auch in ihrer vorgeschlagenen abgeschwächten (Beifall bei der LINKEN)
Form – ist doch etwas anderes. Uns allen ist klar, dass
Wohnmobile oftmals sehr langlebige Konsumgüter sind Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
und dass sie gewährleisten, dass viele Familien noch auf Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
eine preiswerte Art und Weise Urlaub – Kurzurlaube die Kollegin Christine Scheel.
mehrmals im Jahr oder einen größeren – machen kön-
nen. Sie werden gehegt und gepflegt. Auf einmal sollen Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sie wesentlich stärker besteuert werden.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es nicht richtig, wenn die Bundesregierung Man muss an dieser Stelle vielleicht einmal klar machen,
und die sie tragende Koalition jetzt von ihren eigenen worum es eigentlich gegangen ist: Es ging uns darum,
Bedenken abweichen, die sie noch in der Stellungnahme dass wir hier eine vernünftige Besteuerung von schwe-
ausgedrückt haben. Ich zitiere aus der Stellungnahme ren und umweltschädlichen Geländewagen auf den Weg
der Bundesregierung: bringen. Nicht akzeptabel war nämlich, wie diese Fahr-
zeuge früher steuerlich veranlagt waren.
Das Gesetz soll rückwirkend zum 1. Mai 2005 in
Kraft treten. Es erscheint fraglich, ob es sich – wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
6246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Christine Scheel
(A) Die Länder haben gesagt – da hat Kollege Pronold Wohnmobilbesteuerung auf Drucksache 16/519. Hierzu (C)
völlig Recht –: Gut, wir regeln das. Bayern – es bemüht gibt es mehrere Erklärungen zur Abstimmung nach § 31
sich schließlich immer, schnell und vorne dabei zu sein – unserer Geschäftsordnung.1)
hat diese Steuer gar nicht erhoben. Die anderen Länder
haben ziemlich herumgeeiert. Jetzt sehen wir, dass der Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
Umgang mit der gesamten Frage Wohnmobilbesteue- schlussempfehlung auf Drucksache 16/3314, den Ge-
rung völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Der Bundesrat setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
hat einen Vorschlag gemacht: Übergangsfristen und ein bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
Abschlag in Höhe von 20 Prozent ab dem Jahr 2011. len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
Dann hat die große Koalition gesagt: Das gefällt uns haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
auch nicht; wir wollen jetzt selbst eine Lösung finden. – mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Das ist, wohlgemerkt, nach eineinhalb Jahren Diskus- Opposition angenommen.
sion. Man hat eineinhalb Jahre lang diejenigen, die ein
Dritte Beratung
Wohnmobil besitzen, in einem Schwebezustand belas-
sen. Sie wussten nicht, was auf sie überhaupt zukommt. und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
Die Aufregung im Land war groß. entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
Sie haben gesagt, es gebe hier in der Bundesrepublik
entwurf auch in dritter Beratung angenommen.
Deutschland 200 000 Besitzer und Besitzerinnen von
Wohnmobilen. Sehr viele von ihnen haben sich an uns Wir stimmen über den Gesetzentwurf der Fraktion der
gewandt. Wir, die politische Seite, haben gesagt: Ihr seid FDP zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes auf
überhaupt nicht diejenigen, die davon betroffen sein sol- Drucksache 16/473 ab. Der Finanzausschuss empfiehlt
len. Jetzt kommt die große Koalition – das ist der Ham- unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
mer in dieser Geschichte – und schlägt etwas vor, was sache 16/3314, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
auch noch rückwirkend gelten soll. Man knöpft diesen diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
Menschen zum 1. Januar 2006 50 Millionen Euro ab. um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
Diese Gesetzgebung hat mit ökologischer Ausrichtung gen? – Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung der
nichts zu tun. FDP gegen die Stimmen des Hauses im Übrigen abge-
lehnt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP) Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die
weitere Beratung.
An dieser Stelle muss man wirklich einmal sagen: So (D)
(B)
geht es nicht. Sie können von den Steuerbürgern und Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Steuerbürgerinnen jetzt keine Nachzahlungen verlangen,
indem Sie dieses Gesetz so ausgestalten, wie Sie es aus- Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
gestaltet haben. Wir lehnen dieses Gesetz deswegen ab. Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wir haben heute bereits darüber diskutiert, wie wir
uns die künftige Kfz-Besteuerung vorstellen können. Fairen Wettbewerb in der Entsorgungswirt-
Wir haben klar gesagt: Wir möchten, dass hier der schaft ermöglichen – Steuerprivilegien öffent-
CO2-Ausstoß berücksichtigt wird. Die Ausgestaltung der lich-rechtlicher Unternehmen abschaffen
Kfz-Steuer muss verbessert werden. Dies ist ein Ziel Ih-
rer Koalitionsvereinbarung. Allerdings ist davon nicht – Drucksache 16/2657 –
mehr viel zu merken. Ich kann nur sagen: Wenn man et- Überweisungsvorschlag:
was für das Klima tun möchte, dann muss man sich auch Finanzausschuss (f)
dementsprechend verständigen. Aus unserer Sicht wäre Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
es sauberer gewesen, wenn die große Koalition gesagt Rechtsausschuss
hätte: Die Kfz-Besteuerung wird nach neuen Kriterien Ausschuss fürWirtschaft und Technologie
gestaltet, die für alle gelten. Das wäre vernünftiger ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
wesen, als jetzt eine systematisch unsaubere Zwischen-
lösung zu finden. Das ist nicht in Ordnung, verärgert die Interfraktionell war hierzu eine halbe Stunde Debatte
Menschen und wird nicht lange taugen. verabredet worden. Die Reden des Kollegen Flosbach,
der Kollegin Westrich sowie der Kollegen Meierhofer,
Danke schön. Troost und Berninger sind zu Protokoll gegeben.2)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Von den Fraktionen wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 16/2657 an die in der Tagesordnung auf-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: geführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend vom Finanzausschuss beraten werden soll. –
Ich schließe die Aussprache. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-
rat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung kraft- 1) Anlagen 3 bis 5
fahrzeugsteuerlicher Vorschriften auch hinsichtlich der 2) Anlage 7
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6247
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf: Zum Entwurf eines Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes (C)
liegen uns ein Änderungsantrag und ein Entschließungsan-
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Um- Zum Entwurf eines Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes lie-
weltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie gen ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
2003/35/EG (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz) Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
– Drucksachen 16/2494, 16/2933 –
Zu diesem Punkt war ebenfalls eine halbe Stunde De-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- batte vereinbart. Die Kollegen Jung (Konstanz),
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Miersch, Meierhofer, Heilmann und die Kollegin Kot-
heit (16. Ausschuss) ting-Uhl geben ihre Reden zu Protokoll.1)
– Drucksache 16/3311 – Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines
Berichterstattung: Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes auf den Druck-
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) sachen 16/2494 und 16/2933. Der Ausschuss für Um-
Dr. Matthias Miersch welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
Horst Meierhofer seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3311,
Lutz Heilmann den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
Sylvia Kotting-Uhl men.
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/3364
über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehel- vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für die-
fen in Umweltangelegenheiten nach der EG- sen Änderungsantrag? – Die Gegenstimmen? – Enthal-
Richtlinie 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfs- tungen? – Damit ist der Änderungsantrag bei Zustim-
gesetz) mung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke bei Ablehnung durch das übrige Haus abge-
– Drucksachen 16/2495, 16/2931 – lehnt.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
heit (16. Ausschuss) zeichen. – Gegenstimmen? -Enthaltungen? – Damit ist (D)
(B)
– Drucksache 16/3312 – der Gesetzentwurf bei Zustimmung der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen
Berichterstattung: und bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und der
FDP angenommen.
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Matthias Miersch Dritte Beratung
Horst Meierhofer und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Lutz Heilmann Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Sylvia Kotting-Uhl Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Ergebnis
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wie vorher angenommen.
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom Abstimmung über den Entschließungsantrag von
25. Juni 1998 über den Zugang zu Informatio- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3360. Wer
nen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Ent- stimmt für den Entschließungsantrag? – Die Gegen-
scheidungsverfahren und den Zugang zu Ge- probe! – Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungs-
richten in Umweltangelegenheiten (Aarhus- antrag bei Zustimmung der Fraktionen des Bünd-
Übereinkommen) nisses 90/Die Grünen und Die Linke und Ablehnung
– Drucksachen 16/2497, 16/2865 – durch den Rest des Hauses abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 17 b: Abstimmung über den von
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Um-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- welt-Rechtsbehelfsgesetzes, Drucksachen 16/2495 und
heit (16. Ausschuss) 16/2931. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
– Drucksache 16/3313 – Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/3312, den Gesetzentwurf in der
Berichterstattung: Ausschussfassung anzunehmen.
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Matthias Miersch Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
Horst Meierhofer Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3365 vor,
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl 1) Anlage 8
6248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Än- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (C)
derungsantrag? – Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Da- Drucksache 16/3193 an die in der Tagesordnung aufge-
mit ist der Änderungsantrag bei Zustimmung der Frak- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie of-
tionen des Bündnisses 90/Die Grünen und Die Linke fensichtlich einverstanden. Dann ist so beschlossen.
und Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hauses
abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zeichen. – Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Damit über die Statistik der Verdienste und Arbeits-
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustim- kosten (Verdienststatistikgesetz – VerdStatG)
mung der Koalition und Ablehnung durch die Opposi- – Drucksache 16/2918 –
tion angenommen.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Dritte Beratung ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss)
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – – Drucksache 16/3241(neu) –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit dem Ergebnis wie vorher Berichterstattung:
angenommen. Abgeordnete Doris Barnett

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache vorgesehen. Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die
16/3361. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Kolleginnen und Kollegen Fuchs, Barnett, Zeil, Zim-
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- mermann und Pothmer.2)
antrag ist bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
des Bündnisses 90/Die Grünen bei Ablehnung der übri- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Sta-
gen Mitglieder des Hauses abgelehnt. tistik der Verdienste und Arbeitskosten auf Drucksache
Tagesordnungspunkt 17 c: Abstimmung über den von 16/2918. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
Aarhus-Übereinkommen, Drucksachen 16/2497 und che 16/3241(neu), den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
16/2865. fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
(B) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- (D)
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen
Drucksache 16/3313, den Gesetzentwurf anzunehmen. der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Wir kommen gleich zur Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP
zweiten Beratung angenommen.

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Dritte Beratung


Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses an- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
genommen. Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 18 auf: angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, weiterer 20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Gehring, Krista Sager, Priska Hinz (Herborn),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
Für solidarische und entwicklungspolitisch ko-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
härente Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen –
– Drucksache 16/3193 – Studienplätze bedarfsgerecht und zügig aus-
Überweisungsvorschlag: bauen
Ausschuss fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f) – Drucksache 16/3281 –
Ausschuss fürWirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss fürBildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Hier war eine halbe Stunde Debatte vorgesehen. Ihre Ausschuss fürWirtschaft und Technologie
Reden zu Protokoll geben die Kollegen und Kolleginnen Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend
Hübinger, Raabe, Königshaus, Hänsel und Koczy.1) Haushaltsausschuss

1) Anlage 9 2) Anlage 10
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6249
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Kolleginnen und Kollegen Mayer (Altötting), (C)
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- Fograscher, Piltz, Jelpke und Stokar von Neuforn.2)
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
Die Qualität der Hochschullehre sichern – den desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform
Hochschulpakt 2020 erfolgreich abschließen des Personenstandsrechts auf Drucksache 16/1831. Der
und weiterentwickeln Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/3309, den Gesetzentwurf in der
– Drucksache 16/3290 –
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
Überweisungsvorschlag: dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
Ausschuss fürBildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bünd-
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saar- nis 90/Die Grünen und der Fraktion der Linken sowie
brükken) und der Fraktion der LINKEN Enthaltung der FDP in zweiter Beratung angenommen.
Hochschulpakt 2020 – Kapazitätsausbau und Dritte Beratung
soziale Öffnung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
– Drucksache 16/3278 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Überweisungsvorschlag: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Ausschuss fürBildung, Forschung und Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Technikfolgenabschätzung
Stimmenergebnis wie zuvor angenommen.
Hierfür war ebenfalls eine halbe Stunde Beratung vor-
gesehen. Ihre Reden zu Protokoll haben die Kolleginnen Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
und Kollegen Grütters, Rossmann, Barth, Hirsch und nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
Gehring.1) mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, den
Tagesordnungspunkt 22 – Eigentumsrechte und For-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf schungsfreiheit schützen – Entschiedenes Vorgehen ge-
den Drucksachen 16/3290 und 16/3278 an den Aus- gen Zerstörungen von Wertprüfungs- und Sortenversu-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- chen sowie von Feldern mit gentechnisch veränderten
schätzung vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache Pflanzen – von der heutigen Tagesordnung abzusetzen.
16/3281 zum Tagesordnungspunkt 20 a soll zur feder- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
(B) führenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, For- (D)
ist so beschlossen.
schung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitbera-
tung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c
den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf:
sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann 25 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
ist die Überweisung so beschlossen. Liebing, Marie-Luise Dött, Katherina Reiche
(Potsdam), weiterer Abgeordneter und der Frak-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Marco Bülow, Dirk Becker, Petra Bierwirth, wei-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Personenstandsrechts (Perso- REACH – den gemeinsamen Standpunkt wei-
nenstandsrechtsreformgesetz – PStRG) ter verfolgen
– Drucksache 16/1831 – – Drucksache 16/3295 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
schusses (4. Ausschuss)
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, wei-
– Drucksache 16/3309 – terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) REACH – letzte Chance zur Verbesserung des
Gabriele Fograscher Umwelt- und Verbraucherschutzes im euro-
Gisela Piltz päischen Chemikalienrecht nutzen
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn – Drucksache 16/1888 –
Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bul-
vorgesehen. Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die ling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,

1) Anlage 11 2) Anlage 12
6250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- (C)
KEN schusses auf der Drucksache 16/3061 zu dem Antrag der
Fraktion der Linken mit dem Titel „Bundesweiter Ab-
REACH – Chance für eine fortschrittliche schiebestopp für Flüchtlinge aus Togo“. Der Ausschuss
Chemikalienpolitik nutzen empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2627 abzuleh-
– Drucksache 16/3279 – nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Liebing, empfehlung mit den Stimmen der Koalition und der FDP
Schmitt (Landau), Kauch, Bulling-Schröter und Kotting- gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Uhl ihre Reden zu Protokoll gegeben. 1) Linken angenommen.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Tagesordnungspunkt 25 a: Abstimmung über den An- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Drucksache 16/3295 mit dem Titel „REACH – den ge- Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegeset-
meinsamen Standpunkt weiter verfolgen“. Wer stimmt zes
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist bei Zustimmung durch die Koali- – Drucksache 16/3064 –
tion und die FDP und Ablehnung durch Bündnis 90/Die Überweisungsvorschlag:
Grünen und Die Linke angenommen. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Tagesordnungspunkt 25 b: Abstimmung über den An- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Drucksache 16/1888 mit dem Titel „REACH – letzte
Chance zur Verbesserung des Umwelt- und Verbraucher- Hier haben die Kolleginnen und Kollegen
schutzes im europäischen Chemikalienrecht nutzen“. Connemann, Kramme, Kolb, Dreibus, Pothmer und An-
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – dres ihre Reden zu Protokoll gegeben.3)
Enthaltungen gibt es keine. Der Antrag ist bei Zustim-
mung der Fraktionen der Linken und des Bündnisses 90/ Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
Die Grünen durch das übrige Haus abgelehnt. wurfs auf Drucksache 16/3064 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe
Tagesordnungspunkt 25 c: Abstimmung über den An- keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
(B) trag der Fraktion der Linken auf Drucksache 16/3279 beschlossen. (D)
mit dem Titel „REACH – Chance für eine fortschrittli-
che Chemikalienpolitik nutzen“. Wer stimmt für diesen Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
dem gleichen Stimmenergebnis wie der vorherige An- Behm, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer
trag abgelehnt. Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: SES 90/DIE GRÜNEN

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agro-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu forstwirtschaft
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dagdelen, – Drucksache 16/2794 –
Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der LINKEN Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Bundesweiter Abschiebestopp für Flüchtlinge Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
aus Togo Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
– Drucksachen 16/2627, 16/3061 – Haushaltsausschuss
Berichterstattung: Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Heller,
Abgeordnete Reinhard Grindel Botz, Happach-Kasan, Tackmann und Behm ihre Reden
Rüdiger Veit zu Protokoll gegeben.4)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Sevim Dagdelen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Josef Philip Winkler Drucksache 16/2794 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Grindel, verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Veit, Wolff (Rems-Murr), Dagdelen und Winkler ihre
Reden zu Protokoll gegeben.2) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

1) Anlage 13 3) Anlage 15
2) Anlage 14 4) Anlage 16
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6251
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (C)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Quali- wurfs auf Drucksache 16/3146 an die in der Tagesord-
tät und Sicherheit von menschlichen Geweben nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu
und Zellen (Gewebegesetz) gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist so beschlos-
sen.
– Drucksache 16/3146 –
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
Überweisungsvorschlag: nung.
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Ausschuss für Bildung, Forschung und destages auf morgen, Freitag, den 10. November 2006,
Technikfolgenabschätzung
9 Uhr, ein.
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Hüppe, Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den
Wodarg, Kauch, Spieth, Terpe und Schwanitz ihre Reden restlichen Abend.
zu Protokoll gegeben.1)
Die Sitzung ist geschlossen.
1) Anlage 17 (Schluss: 22.16 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6253

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 09.11.2006 Riester, Walter SPD 09.11.2006*


DIE GRÜNEN
Röspel, René SPD 09.11.2006
Annen, Niels SPD 09.11.2006
Rohde, Jörg FDP 09.11.2006
Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 09.11.2006
Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 09.11.2006
Blumentritt, Volker SPD 09.11.2006
Dr. Stinner, Rainer FDP 09.11.2006
Caspers-Merk, Marion SPD 09.11.2006
Thönnes, Franz SPD 09.11.2006
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 09.11.2006
Weinberg, Marcus CDU/CSU 09.11.2006
Friedhoff, Paul K. FDP 09.11.2006
Weißgerber, Gunter SPD 09.11.2006
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 09.11.2006
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 09.11.2006
Gleicke, Iris SPD 09.11.2006
Wolff (Wolmirstedt), SPD 09.11.2006
Goldmann, Hans- FDP 09.11.2006 Waltraud
Michael
Zapf, Uta SPD 09.11.2006
(B) Granold, Ute CDU/CSU 09.11.2006 (D)
Zypries, Brigitte SPD 09.11.2006
Griese, Kerstin SPD 09.11.2006

Gröhe, Hermann CDU/CSU 09.11.2006


* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Grosse-Brömer, CDU/CSU 09.11.2006
Michael
Anlage 2
Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 09.11.2006 Erklärung nach § 31 GO
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 09.11.2006 des Abgeordneten Carsten Müller (Braun-
DIE GRÜNEN schweig) (CDU/CSU) zu der Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktionen der
Leutert, Michael DIE LINKE 09.11.2006 CDU/CSU und der SPD zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung: Jahresbericht der
Löning, Markus FDP 09.11.2006 Bundesregierung zum Stand der deutschen Ein-
heit 2005 (Tagesordnungspunkt 3 d)
Merten, Ulrike SPD 09.11.2006
Hiermit erkläre ich, dass ich dem Entschließungsan-
Montag, Jerzy BÜNDNIS 90/ 09.11.2006 trag der Koalitionsfraktionen im Grundsatz zustimme.
DIE GRÜNEN Ich lege jedoch großen Wert auf die Feststellung, dass
ich ausdrücklich nicht die Auffassung teile, dass es zur
Müller (Düsseldorf), SPD 09.11.2006 Förderung der deutschen Einheit sinnvoll ist, bereits de
Michael facto bestehende, erfolgreiche Einrichtungen in den ehe-
maligen innerdeutschen Grenzgebieten auf westlicher
Paula, Heinz SPD 09.11.2006 Seite aufzulösen und in den neuen Bundesländern zu eta-
blieren. Insofern nehme ich Bezug auf die Ausführungen
Pofalla, Ronald CDU/CSU 09.11.2006 mit laufender Nr. 10 des Entschließungsantrages (Bio-
masse Forschungszentrum). Das bereits erfolgreich ar-
Raidel, Hans CDU/CSU 09.11.2006 beitende Biomasse-Forschungszentrum der FAL Braun-
schweig ist eingebettet in ein breites Spektrum
6254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) landwirtschaftlicher Forschungsbereiche, die nahtlos in- winne. Es ist falsch, die dort zugelassenen Steuereinnah- (C)
einander übergehen und so auch wichtige Synergieef- menverluste ausgerechnet durch die Wohnmobilnutzer
fekte freisetzen. Es ist also sachlich richtig, dass dieses ausgleichen lassen zu wollen.
Forschungszentrum in Braunschweig angesiedelt ist.
Angesichts der knappen öffentlichen Finanzen wäre es Ich freue mich, dass sich – obwohl sie nicht zu den
richtiger, eine bestehende Einrichtung wie die FAL in Campern gehören – meiner hier vorgetragenen Erklä-
Braunschweig zu verstärken, anstatt in den neuen Län- rung aus meiner Fraktion anschließen: die Parlamentari-
dern neu anzufangen. Im Rahmen der Wirtschaftsförde- sche Geschäftsführerin Dr. Dagmar Enkelmann, die
rung hat der Bund gerade Vorsorge getroffen, um ver- haushaltspolitische Sprecherin Dr. Gesine Lötzsch und
gleichbare Vorgänge zu verhindern. der tourismuspolitische Sprecher Dr. Ilja Seifert.

Anlage 3 Anlage 4

Erklärungen nach § 31 GO Erklärung nach § 31 GO


zu der Abstimmung über den Entwurf eines Ge- der Abgeordneten Annette Faße, Renate
setzes zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher Gradistinac, Reinhold Hemker, Gabriele Hiller-
Vorschriften auch hinsichtlich der Wohnmobil- Ohm, Brundhilde Irber und Engelbert Wistuba
besteuerung (Tagesordnungspunkt 15) (alle SPD) zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung kraftfahr-
zeugsteuerlicher Vorschriften auch hinsichtlich
Gabriele Groneberg (SPD): Ich stimme dem durch
der Wohnmobilbesteuerung (Tagesordnungs-
Änderungsanträge veränderten Gesetzentwurf des Bun-
punkt 15)
desrates zur Besteuerung von Wohnmobilen zu, um eine
noch höhere Steuerbelastung von Bürgerinnen und Bür- Wir stimmen dem durch Änderungsanträge veränder-
gern durch die Bundesländer zu verhindern. ten Gesetzentwurf des Bundesrates zur Besteuerung von
Die angestrebten Ziele der SPD, keine bzw. eine auf- Wohnmobilen zu, um eine noch höhere Steuerbelastung
kommensneutrale Regelung zu erreichen, konnten durch von Bürgerinnen und Bürgern durch die Bundesländer
die Unnachgiebigkeit der Länderseite, die allein von der zu verhindern.
Erhöhung profitiert, nicht erreicht werden. Die angestrebten Ziele der SPD, keine bzw. eine auf-
Jetzt kann nur noch dafür Sorge getragen werden, kommensneutrale Regelung zu erreichen, konnten durch
(B) dass nicht 70 Millionen Euro Einnahmen bei den Län- die Unnachgiebigkeit der Länderseite, die allein von der (D)
dern zu verzeichnen sein werden, sondern 50 Millionen Erhöhung profitiert, nicht erreicht werden.
Euro. Jetzt kann nur noch dafür Sorge getragen werden,
Mit unserer Zustimmung verhindern wir somit eine dass nicht 70 Millionen Euro Einnahmen bei den Län-
höhere Belastung der Betroffenen. dern zu verzeichnen sein werden, sondern 50 Millionen
Euro. Mit unserer Zustimmung verhindern wir somit
eine höhere Belastung der Betroffenen.
Roland Claus (DIE LINKE): Ich lehne den vom
Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf ab.
Ich bin selbst seit vielen Jahren Camper (Caravan), Anlage 5
treffe bei meinen sommerlichen Reisen viele Familien,
die mit ihren Wohnmobilen unterwegs sind, und weiß, Erklärung nach § 31 GO
wie viel Geld und Arbeitszeit in den Wohnmobilen der Abgeordneten Klaus Brähmig, Helmut
steckt und wie viele Reiseerlebnisse und Reiseträume Brandt, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Uda
mit ihnen verbunden sind. Wohnmobile sind in vielen Carmen Freia Heller, Ingbert Liebing, Marlene
Fällen die einzige größere Anschaffung der jeweiligen Mortler, Bernward Müller (Gera), Anita
Nutzerinnen und Nutzer. Sie stellen daher keineswegs Schäfer (Saalstadt), Wilhelm Josef Sebastian
Luxusgüter dar. und Kurt Segner (alle CDU/CSU) zur Abstim-
Das im Gesetzentwurf vorgesehene Verfahren zielt in mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Än-
eine Richtung, die zu einer aus meiner Sicht nicht ge- derung kraftfahrzeugsteuerlicher Vorschriften
rechtfertigten Belastung der Nutzerinnen und Nutzer der auch hinsichtlich der Wohnmobilbesteuerung
Wohnmobile führt. Es wird mit diesem Verfahren in un- (Tagesordnungspunkt 15)
gerechtfertigter Weise eine Gruppe von Bürgerinnen und Wir stimmen dem durch Änderungsanträge veränder-
Bürgern zu Umweltsündenböcken gemacht, deren tat- ten Gesetzentwurf des Bundesrates zur Besteuerung von
sächliche „Sünden“ unendlich viel kleiner sind als zum Wohnmobilen zu, um eine noch höhere Steuerbelastung
Beispiel die der Flugzeug- und der Flugreisenindustrie. von Bürgerinnen und Bürgern durch die Bundesländer
Die ziehen aus der Nichtbesteuerung von Flugbenzin, zu verhindern.
die ihnen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil
verschafft und sowohl aus ökologischer wie auch aus Das angestrebte Ziel der CDU/CSU, möglichst eine
volkswirtschaftlicher Sicht untragbar ist, kräftige Ge- aufkommensneutrale Regelung zu erreichen, konnte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6255

(A) durch die Unnachgiebigkeit der Länderseite, die allein auf diesem Weg werden die Verbände die Interessen der (C)
von der Erhöhung profitiert, nicht erreicht werden. Allgemeinheit vertreten können, die sich zum Beispiel
im Klimaschutz, im Naturschutz oder im Gewässer-
Jetzt kann nur noch dafür Sorge getragen werden, schutz ergeben und die gerade nicht nur auf individuelle
dass nicht 70 Millionen Euro Einnahmen bei den Län- Rechte einzelner Bürgerinnen und Bürger abzielen.
dern zu verzeichnen sein werden, sondern 50 Millionen
Euro. Angesichts des anhängigen Vertragsverletzungsver-
fahrens und des Diskussionsstandes zwischen Bundesre-
Das rückwirkende Inkrafttreten zum 1. Januar 2006 gierung, Bundesrat und Bundestag ist jedoch eine Be-
ist zwar problematisch, doch würde eine Ablehnung des schlussfassung in der bisherigen Fassung unumgänglich.
veränderten Gesetzentwurfs zu der ursprünglich geplan-
ten noch höheren Besteuerung für das Jahr 2006 führen. Die Unterzeichner gehen jedoch davon aus, dass die
europäische Rechtsentwicklung ihre Fortsetzung auch
Mit unserer Zustimmung verhindern wir somit eine im innerstaatlichen Recht finden wird. Es ist zu hoffen,
noch höhere Belastung der Betroffenen. dass sich die Einsicht durchsetzt, wonach ein Mehr an
Transparenz und an gerichtlicher Kontrolle zu Fehler-
vermeidung und größerer Akzeptanz führen werden. In
Anlage 6 diesem Zusammenhang wird auch überprüft werden
müssen, ob eine bessere Beteiligung der Öffentlichkeit
Erklärung nach § 31 GO im Rahmen des Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes
der Abgeordneten Dr. Matthias Miersch, durch die Nutzung von Internet oder Tageszeitungen zu
Christoph Pries, Gerd Bollmann, Petra erzielen ist oder durch die verbindliche Nutzung beider
Bierwirth, Marco Bülow, Marko Mühlstein, Medien.
Martin Burkert, Dirk Becker, Detlef Müller
(Chemnitz), Frank Schwabe und Heinz Schmitt
(Landau) (alle SPD) zu den Abstimmungen Anlage 7
über Zu Protokoll gegebene Reden
– den Entwurf eines Gesetzes über die Öffent- zur Beratung des Antrags: Fairen Wettbewerb
lichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenhei- in der Entsorgungswirtschaft ermöglichen –
ten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (Öf- Steuerprivilegien öffentlich-rechtlicher Unter-
fentlichkeitsbeteiligungsgesetz) nehmen abschaffen (Tagesordnungspunkt 16)
– den Entwurf eines Gesetzes über ergänzende
(B) Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Um- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Die FDP (D)
weltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie spricht heute ein Thema an, das insbesondere vor Ort, in
2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) den Kommunen wohlbekannt ist. Es geht nicht allein um
die konkrete Forderung der FDP, die Steuern zu erhöhen
– den Entwurf eines Gesetzes zu dem Überein- und zukünftig die öffentlich-rechtlichen Unternehmen,
kommen vom 25. Juni 1998 über den Zu- die die Abwasserentsorgung durchführen, als Betriebe
gang zu Informationen, die Öffentlichkeits- gewerblicher Art einzustufen mit allen ertrags- und um-
beteiligung an Entscheidungsverfahren und satzsteuerlichen Konsequenzen. Es geht hier auch um
den Zugang zu Gerichten in Umweltangele- die verfassungsrechtlich abgesicherten und seit Jahr-
genheiten (Aarhus-Übereinkommen) zehnten in der Praxis bewährten Selbstverwaltungs-
(Tagesordnungspunkt 17 a bis c) rechte der Städte und Gemeinden. Deshalb erfordert die
vielschichtige Problematik einer möglichen Besteuerung
der Abwasser- und Abfallentsorgung eine differenzierte
Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, das Öffentlich- Auseinandersetzung.
keitsbeteiligungsgesetz und das Aarhus-Übereinkom-
men-Gesetz stellen wichtige Änderungen im bisherigen Auch wir denken, dass überprüft werden sollte, ob ju-
Umweltrecht dar, die zu mehr Transparenz und – durch ristische Personen des öffentlichen Rechts im Bereich
die Einführung der Verbandsklage im Umweltrecht – zu der Abwasser- und Abfallentsorgung im Hinblick auf die
verbessertem Rechtsschutz führen werden. Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer zu
Recht befreit sind oder ob ungerechtfertigte Wettbe-
Allerdings bezweifeln die Unterzeichner, dass das werbsvorteile gegenüber privaten Wettbewerbern vor-
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz in der vorliegenden Fas- handen sind bzw. Vorteile vorhanden sind, die eine
sung den Vorgaben gerecht wird, die durch das Aarhus- Privatisierung öffentlicher Leistungen überhaupt verhin-
Übereinkommen vom 25. Juni 1998 und durch die EU- dern. Nun hat der Koalitionsvertrag festgehalten – ich zi-
Richtlinie 2003/35/EG bestehen. So wird vor allem die tiere: „Die Kommunen sollen auch in Zukunft eigenstän-
Beschränkung des Verbandsklagerechts auf subjektiv-öf- dig über die Organisation der Wasserversorgung wie
fentliche Rechte auch in der juristischen Fachliteratur auch der Abfall- und Abwasserentsorgung entscheiden
kontrovers diskutiert. Die Unterzeichner sind der Auf- können. Das Steuerprivileg für die Abwasser- und Ab-
fassung, dass die europarechtlichen Ziele, wonach der fallentsorgung soll erhalten bleiben.“ Damit könnten wir
betroffenen Öffentlichkeit ein weiter Zugang zu den Ge- eigentlich den Tagungsordnungspunkt wegen abschlie-
richten gewährt werden soll, nur durch ein unbeschränk- ßender Übereinstimmung in den Koalitionsparteien be-
tes Verbandsklagerecht umgesetzt werden können. Nur enden.
6256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Dieser Koalitionsbeschluss deckt sich mit den Be- dell, wonach die Gebietskörperschaft als Träger des Ab- (C)
schlüssen der Ständigen Konferenz der Innenminister wasserentsorgungsgebiets für einen begrenzten Zeitraum
und -senatoren der Länder sowie den Beschlüssen der von zum Beispiel drei bis fünf Jahren auf die Besteue-
kommunalen Spitzenverbände. Denn in dem derzeitigen rung verzichten kann, soll das Problem etwaiger Mehr-
Rechtssystem wird die Behandlung der Entsorgung als belastungen nicht befriedigend lösen. Es ist daher zu-
hoheitliche Aufgabe verstanden. Es geht folglich nicht mindest zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll, dass die
nur um eine steuersystematische Frage. Wir müssen uns Kommunen auch in Zukunft selbstständig über die Orga-
mit sämtlichen Rahmenbedingungen auseinander setzen. nisationsform der Betriebe der Abfallwirtschaft und Ab-
wasserentsorgung entscheiden können.
Hier müssten Bundes- und Landesgesetzgeber für die
Abwasserbeseitigung ein durchgehendes System dahin Nun hat insbesondere der Bundesrechnungshof gefor-
gehend schaffen, dass kommunale Pflichtaufgaben zu- dert, die Umsatzbesteuerung der öffentlichen Hand
künftig auf private Unternehmen vollständig übertragen grundsätzlich zu überdenken und das nationale Steuer-
werden können. Dies wäre vergleichbar mit der Aus- recht an die EU-rechtlichen Vorgaben anzupassen; denn
gangssituation im Bereich der Energie- und Wasserver- die öffentliche Hand trete in ein Konkurrenzverhältnis
sorgung. Damit werden eine Fülle verfassungsrechtli- mit der Privatwirtschaft und damit sei es aus Gründen
cher, fachgesetzlicher, kartellrechtlicher, steuerlicher, der Wettbewerbsgleichheit geboten, der öffentlichen
finanzwirtschaftlicher und organisatorischer Fragestel- Hand keine steuerlichen Vorteile einzuräumen. Lediglich
lungen angesprochen. Denn aus Sicht der Gemeinde bestimmte hoheitliche Kernbereiche der öffentlichen
muss im Ergebnis folgendes klar sein: Ein privatwirt- Hand, die einen Wettbewerb mit privaten Unternehmen
schaftliches Unternehmen, das einen Auftrag zur Durch- ausschließen, dürften der Besteuerung entzogen bleiben.
führung von Abwasser- und Abfallaufgaben hat, müsste Veränderungen diesbezüglich haben sich in den letz-
dafür auch haftbar gemacht werden. Die Haftung kann ten Jahren im Bereich der Abfallentsorgung ergeben,
dann nicht bei der Gemeinde verbleiben. insbesondere als Folge des Kreislaufwirtschafts- und
Heute ist zum Beispiel die Aufgabe der Abfallentsor- Abfallgesetzes. Dieses Gesetz hat die Abfallwirtschaft
gung als Pflichtaufgabe den öffentlich-rechtlichen Ent- für den Markt geöffnet, auch wenn immer noch die An-
sorgungsträgern übertragen. Dies hat zur Folge, dass dienungs- und Überlassungspflichten spezieller Abfälle
sich diese Entsorgungsträger nicht ihrer Verantwortung bestehen. Hier wird deutlich, dass die öffentliche Hand
zur ordnungsgemäßen Durchführung der Abfallentsor- die Abfallentsorgung zur Daseinsvorsorge zählt und sie
gung entziehen können. Sie müssen die erforderlichen für sich in Anspruch nimmt.
Einrichtungen und Anlagen vorhalten und die Funkti- Gerade im Bereich der Abwasserbeseitigung befindet
(B) onstüchtigkeit jederzeit sicherstellen. Deshalb mag man sich das größte Know-how im Besitz der Städte und Ge- (D)
die steuerliche Privilegierung von öffentlich-rechtlichen meinden, die in der Vergangenheit nahezu ausschließlich
Unternehmen aus Wettbewerbsgründen sicherlich hin- diese Aufgabe in der Bundesrepublik Deutschland wahr-
terfragen. Auf dem hochsensiblen Bereich der Daseins- genommen haben. Auch die Rechtsprechung des BFH
vorsorge sind jedoch Schnellschüsse, wie von der FDP hat die Abwasserbeseitigung dem hoheitlichen Bereich
offensichtlich ins Auge gefasst, nicht angezeigt. Hier be- einer Gemeinde zugeordnet. Und unterschätzen Sie bitte
darf es einer maßvollen Annährung. nicht dieses Thema vor Ort in unseren Kommunen. Ne-
Für die meisten Bürger wird eine Frage von besonde- ben der Entsorgungssicherheit achten die Bürger insbe-
rem Interesse sein: Wird die Überführung hoheitlicher sondere auf die Kosten bzw. Gebührenbelastungen.
Tätigkeiten in den privatwirtschaftlichen Bereich durch Wenn Sie als FDP zukünftig die Entsorgungseinrichtun-
die dann einsetzende Besteuerung höhere Gebühren ver- gen der Steuerpflicht unterwerfen wollen, um privaten
ursachen und damit für den Bürger teurer? Zwar können Betreibern eine größere Chancengleichheit gegenüber
die steuerlichen Auswirkungen im Einzelfall zum Bei- der öffentlichen Hand einzuräumen, muss schon der
spiel durch die Zusammenfassung von Ver- und Entsor- konkrete Beweis erbracht werden, dass Entsorgungssi-
gungseinrichtungen und damit verbundenen Synergieef- cherheit gewährleistet ist und sich auch zusätzliche fi-
fekten reduziert werden. Die bisherigen Untersuchungen nanzielle Vorteile für die Bürger ergeben. Allein ord-
haben jedoch ergeben – auch wenn sie von der FDP nungspolitische Gesichtspunkte werden hier nicht
bezweifelt werden – dass sich zum Beispiel die Abwas- ausreichen.
serentsorgung für die Bürger verteuern wird, wenn sie Wir erwarten einen größeren Einfluss durch die EU-
steuerlich als Betrieb gewerblicher Art behandelt wird. Rechtsprechung. Ein Urteil zur mangelnden Umsatzbe-
steuerung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts mit
Die Bundesregierung hält in ihrem Bericht zur Mo-
Hinweis auf Wettbewerbsverzerrungen kann in ihrer
dernisierungsstrategie für die deutsche Wasserwirtschaft
Grundsatzwirkung insbesondere auch für die umsatz-
und für ein stärkeres internationales Engagement der
steuerliche Behandlung der Abwasserentsorgung und
deutschen Wasserwirtschaft vom 16. März 2006 fest,
der Abfallentsorgung Wirkung entfalten.
dass eine Steuerpflicht im Bereich der Abwasserentsor-
gung ohne Mehrbelastung des Verbrauchers und der ge- Wir werden im Finanzausschuss die Einzelheiten be-
werblichen Wirtschaft nicht möglich ist. Ebenso ist eine sprechen. Steuersystematisch werden folgende Fragen
Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf die von Bedeutung sein: Inwiefern kommt bei einer Umsatz-
Abwasserentsorgung nach der 6. EG-Richtlinie nicht steuerpflicht ein Vorsteuerabzug für bereits getätigte In-
möglich. Auch das dort näher untersuchte Optionsmo- vestitionen in Betracht? Und: Ist eine Billigkeitsregelung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6257

(A) möglich, die bei einem Übergang in die Steuerpflicht sierungsreserven in unserer Selbstverwaltung beinhaltet (C)
eine nachträgliche Inanspruchnahme des Vorsteuerab- wie die gemeinsame Verwaltung, die koordinierte Auf-
zugs ermöglicht? Im oben genannten Bericht der Bun- gabenerfüllung, die gute Kapitalausstattung und die er-
desregierung zur Modernisierungsstrategie wird dies leichterte günstige Kapitalbeschaffung. Dazu kommen
verneint. die gründlichen örtlichen Kenntnisse und die Ausnut-
zung der regionalen Potenziale in vielfältiger Art, sei es
Es geht bei diesem Thema also um mehr als eine die Zusammenarbeit mit der Landwirtschaft oder mit der
Frage der Steuersystematik. Eine Bund-Länder-Arbeits- Fachhochschule und Forschungsinstituten, die zum Bei-
gruppe arbeitet seit langem an Lösungsvorschlägen. spiel ein Biomassenkraftwerk konzipierten. Die erhebli-
Eine einfache Lösung mit einer Steuererhöhung für die chen Kosten senkenden Rationalisierungseffekte kom-
öffentlich-rechtlichen Unternehmen wird es sicherlich men unmittelbar den Verbrauchern zugute.
nicht geben.
Ich habe die Beschreibung unseres Abwasserwerkes
Lydia Westrich (SPD): Im Koalitionsvertrag haben direkt aus Ihrem Antrag übernommen. Allerdings waren
CDU/CSU und SPD vereinbart, dass die Kommunen bei Ihnen wohl eher die privaten Unternehmen gemeint.
auch in Zukunft eigenständig über die Organisation der Natürlich trifft das auch dort zu. Die Betonung liegt aber
Wasserversorgung wie auch der Abfall- und Abwasser- auf dem „auch“. Seltsam ist nur, dass Sie mit der Forde-
entsorgung entscheiden können sollen. Dabei soll auch rung nach Liberalisierung gleichzeitig auch die Forde-
das Steuerprivileg für die Abwasser- und Abfallentsor- rung nach Steuergeschenken erheben wie den ermäßig-
gung beibehalten werden. Das ist, wie alles im Koali- ten Mehrwertsteuersatz für das Abwasser zu erhalten,
tionsvertrag, eine wohl durchdachte Passage, die sich auf analog wie es ihn für das Lebensmittel Wasser gibt.
die bisherige gute Praxis in diesem Bereich gründet. Die Sie reden von wettbewerblicher Ungleichbehandlung
Abwasserentsorgung ist zentraler Bestandteil der kom- und stellen dann die These auf, dass – ich zitiere aus Ih-
munalen Daseinsvorsorge, eingebettet im Recht auf rem Antrag – „die Privatwirtschaft gegenüber der Kom-
kommunale Selbstverwaltung. munalwirtschaft derartige hohe Kostensenkungsmög-
Ich weiß aus meinen eigenen Erfahrungen in kommu- lichkeiten sieht, dass die Frage der Besteuerung für die
nalen Ämtern, dass die Kommunen ihre Sache gut ma- Gebührenhöhe nur von untergeordneter Bedeutung sein
chen. Sie erbringen die Abwasserbeseitigung flächende- würde.“ Für was ist sie dann von Bedeutung, dass Sie ihr
ckend in wirklich hoher Qualität. Dabei sind die Preise einen ganzen Antrag widmen? Denn im nächsten Satz
moderat und flexibel. verlangen Sie wieder staatliche Hilfe durch die Abschaf-
fung der Abwasserabgabe, die dem Umweltschutz und
(B) Ich entscheide Jahr für Jahr in meinem Gemeinderat der Kontrolle der Gewässerreinheit dient und sowieso (D)
über die Abwasserpreise. Wir können sofort reagieren nur in entsprechenden Fällen erhoben wird.
auf Einsparungen, niedrigere Ausschreibungen und wie
letztes Jahr zum Beispiel die niedrigeren Kosten sofort Können es denn die privaten Unternehmen nun besser
an die Verbraucher weitergeben, ohne auf die Gewinn- oder soll der Staat Aufgaben, die er gut gemacht hat,
erwartungen von Aktionären Rücksicht nehmen zu müs- auslagern, mit Steuergeschenken versehen natürlich,
sen. ohne die Sicherheit, dass die Verbraucher im Endeffekt
davon profitieren? Erst neulich habe ich im Fernsehen
Ich bin ein bißchen erschüttert über den felsenfesten einen Bericht über die privatisierte Wasserversorgung im
Glauben der Kolleginnen und Kollegen aus der FDP- Stuttgarter Raum gesehen. Mit den gleichen Begründun-
Fraktion über die Wirkungen des freien Marktes auf al- gen wie in Ihrem Antrag: Mit dem Versprechen von
len Ebenen und in allen Bereichen. Inzwischen gibt es Synergie- und Rationalisierungseffekten und günstiger
mindestens ebenso viele Beispiele, dass Privatisierung Verbraucherpreise haben die Betreiber die Wasserversor-
weder zu Minimierung der Kosten noch zur Versor- gung übernommen. Nur der Wasserpreis hat sich keines-
gungssicherheit beiträgt, wie Sie positive Beispiele in wegs verbilligt, beim Verbraucher ist nichts angekom-
Ihrem Antrag anführen. Ich brauche nur an die liberali- men und die Investitionen werden ebenfalls nicht im
sierte Energieversorgung und die jüngsten Ereignisse erforderlichen Maße vorgenommen. Das Urteil im Fern-
dazu erinnern. An die Diskussion über hohe Gewinne sehbericht war: Hier hat sich Privatisierung nicht ge-
und veraltete Netze oder Strommasten bei gleichzeitig lohnt.
hohen Gebühren. Dabei behaupte ich keineswegs, dass
staatliche Betriebe alles besser könnten, sondern erwarte Die Städte und Gemeinden sind gesetzlich dazu ver-
nur eine differenzierte Betrachtung, auch von Ihnen. pflichtet, die Abwasserbeseitigung für die Bürger dauer-
Aber hier zeigt sich eine Betonhaltung, die einer libera- haft zu gewährleisten, egal wo und egal wie die land-
len und sich einen modernen Anstrich gebenden Partei schaftlichen Gegebenheiten sind. Ich weiß, was das
wie der FDP eigentlich nicht angemessen ist. heißt, wenn Leitungen bergauf, bergab gelegt werden
müssen, wenn Aussiedlerhöfe und kleinste Ortschaften
Sie brauchen nur ihre wenigen, aber sicher kompeten- an das Netz angeschlossen werden müssen, Schilfkläran-
ten Kommunalpolitiker zu fragen. Ich habe mit meinen lagen, Pumpstationen und anderes installiert werden.
FDP-Kollegen im Gemeinderat gesprochen. Die halten Das kann kostengünstig für die Verbraucher eigentlich
nichts von Ihrem Antrag. Diese, Ihre Parteifreunde, ken- nur durch Unternehmen erledigt werden, die wie unsere
nen und begleiten unsere effektive Abwasserentsorgung Kommunen keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen.
vor Ort, die beträchtliche Synergieeffekte und Rationali- Sie haben die Entsorgungssicherheit zu gewährleisten
6258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) für alle, und deshalb ist das Steuerprivileg für diese Auf- sergebühren in diesen Ländern deutlich niedriger. Der (C)
gaben zu Recht im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Grund für die in Deutschland besonders hohe Kostenbe-
lastung der Wasserverbraucher muss also an anderer
Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf einen Bericht Stelle liegen.
des Bundesrechnungshofes aus 2004, der die Wettbe-
werbsneutralität aus umsatzsteuerlicher Sicht anmahnt. Wasserversorgung und Abwasserentsorgung werden
in Deutschland ungleich behandelt. Die Wasserversor-
Ich habe in den letzten Jahren bis zur kürzlichen An- gung ist – unabhängig von der Rechtsform des jeweili-
hörung zum Jahressteuergesetz miterlebt, wie ungeniert gen Unternehmens – eine wirtschaftliche Tätigkeit. Ob-
die Kollegen und Kolleginnen aus der Fraktion Anmer- wohl sie der sensibelste Bereich der Wasserwirtschaft
kungen des Bundesrechnungshofes beiseite schieben ist, zählt sie nicht mehr zu den Hoheitsaufgaben der
können, wenn es zum Beispiel um Umsatzsteuermiss- Kommunen. Die Folge: Die Wasserversorgung ist stets
brauchsbekämpfung geht, wenn es sich um die Siche- körperschafts-, gewerbe- und umsatzsteuerpflichtig,
rung von Staatseinnahmen, oft in Milliardenhöhe, dreht. wenn auch zum reduzierten Satz.
Hier, wenn es Ihnen in den Kram passt, nehmen Sie den
Rechnungshof als Kronzeugen. Aber Sie wissen, oder Dagegen gehört die Abwasserentsorgung zu den ho-
auch nicht, dass es schon längst eine Bund-Länder-Ar- heitlichen Aufgaben der Gemeinden. Die Besteuerung
beitsgruppe gibt, die aus Vertretern der Bereiche Körper- im Abwasserbereich richtet sich deshalb nach der jewei-
schaftsteuer und Umsatzsteuer besteht und ein Gesamt- ligen Organisationsform des Unternehmens: Öffentlich-
konzept zur künftigen Besteuerung der öffentlichen rechtliche Unternehmen unterliegen nicht der Gewerbe-
und Körperschaftsteuerpflicht. Privatrechtliche Kapital-
Hand erarbeitet.
gesellschaften entrichten sowohl Gewerbe- als auch
Die Koalition nimmt den Bundesrechnungshof eben Körperschaftsteuer. Gleiches gilt für die Umsatzsteuer:
in allen Fragen ernst. Es hat keinen Sinn immer wieder Privatrechtliche Unternehmen müssen auf ihre Leistun-
Stückwerk zu produzieren. Das ist doch für uns alle eine gen den vollen Umsatzsteuersatz erheben – auch wenn
Gesamtaufgabe, der Sie, Kolleginnen und Kollegen von sie vollständig in öffentlicher Hand stehen. Öffentlich-
der FDP Ihre Arbeitskraft besser widmen könnten, als rechtlich organisierte Betriebe sind dazu nicht verpflich-
von Selbstverpflichtungen von Unternehmen zu räsonie- tet.
ren, deren Einhaltung Sie den Verbrauchern überhaupt Den gleichen Wirrwarr gibt es übrigens auch in der
nicht garantieren können. Sie führen in Ihrem Antrag Abfallwirtschaft. Eine steuerliche Bevorzugung öffent-
selbst schon weitere mögliche Betätigungsfelder wie lich-rechtlicher Organisationsformen findet hier insbe-
Abfallwirtschaft und Stadtreinigung an. Sie wissen, dass sondere bei der Entsorgung von Abfällen gewerblicher
bei Ihren weitreichenden Forderungen ohne die Länder Betriebe und von Sonderabfällen statt. Man muss sich (D)
(B) gar nichts geht.
wirklich fragen, ob diese steuerliche Ungleichbehand-
lung in der Entsorgungswirtschaft gerechtfertigt ist. Ich
Also warten wir den Bescheid der Bund-Länder-Ar-
meine, fairer Wettbewerb sieht anders aus. Das Steuer-
beitsgruppe ab. Er wird auch eine Prüfung der europa- recht darf Unternehmen verschiedener Rechtsformen
rechtlichen Zulässigkeit des geltenden Rechts sowie ei- nicht unterschiedlich behandeln, wenn diese zueinander
nen internationalen Vergleich bei der Besteuerung der in Konkurrenz treten können. Die jetzige Regelung führt
wirtschaftlichen Aktivitäten der öffentlichen Hand ent- aber zu einer deutlich höheren steuerlichen Belastung
halten. Auf dieser fundierten Grundlage wird die Koali- der Privatunternehmen und damit zu einem Wettbe-
tion nach Lösungsmöglichkeiten suchen, wenn wir sie werbsnachteil, der sich national und international aus-
denn brauchen. Auch die FDP-Fraktion brauchte keinen wirkt.
sich selbst widersprechenden Antrag vorzulegen, son-
dern kann dann bei ihren Forderungen auf eine ausführli- Hinzu kommt, dass die Nichtbesteuerung der öffent-
che Datenbasis zurückgreifen. Ihren jetzigen Antrag leh- lich-rechtlichen Entsorger europarechtlich – um es vor-
nen wir ab. Er kostet den Steuerzahler mindestens sichtig auszudrücken – sehr bedenklich ist. Im Gemein-
350 Millionen Euro und bietet für den Verbraucher kei- schaftsrecht gilt für die Umsatzbesteuerung der
nerlei Sicherheit auf niedrigere Gebühren und flächende- Grundsatz der Wettbewerbsneutralität. Das bedeutet: Be-
ckende Versorgung. tätigt sich die öffentliche Hand wirtschaftlich und tritt
sie damit in Konkurrenz zur Privatwirtschaft, dürfen ihr
keine steuerlichen Vorteile eingeräumt werden. Diesen
Horst Meierhofer (FPD): Wasserversorgung und Anforderungen muss auch das deutsche Steuerrecht ge-
Abwasserentsorgung sind besonders sensible Wirt- nügen. Aus diesem Grund hat übrigens der Bundesver-
schaftsbereiche. Trinkwasser ist das Lebensmittel und band der Deutschen Entsorgungswirtschaft bereits im
damit schutzbedürftig. Für Wasserversorgung und Ab- Sommer eine Beschwerde bei der EU-Kommission ein-
wasserentsorgung müssen deshalb besonders anspruchs- gereicht.
volle Qualitätsstandards gelten. In Deutschland sind
diese Standards vorbildlich. Qualitative europäische Der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion zielt deshalb
Vorgaben werden sogar über die Maßen eingehalten. An darauf ab, die Abwasserentsorgung und die Trinkwasser-
all dem wollen wir natürlich auch für die Zukunft nichts versorgung steuerlich gleich zu behandeln. Vor allem
ändern. aber fordern wir die Schaffung einer Rechtslage, nach
der alle Abwasserentsorger – gleich welcher Rechtsform –
Vergleichbare Qualitätsstandards wie bei uns gibt es gewerbe-, körperschaft- und umsatzsteuerpflichtig wer-
in Holland und in Österreich. Dennoch sind die Abwas- den. Gleiches muss natürlich für die Abfallwirtschaft
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6259

(A) gelten. Schließlich sind faire Wettbewerbsbedingungen runter, Steuern runter und noch einmal Steuern runter. (C)
für eine funktionierende Marktwirtschaft unerlässlich. Heute aber legen Sie uns – ganz im Gegensatz zur Steu-
ern-runter-Programmatik – einen Antrag vor, in dem Sie
Dass die steuerliche Gleichbehandlung zwangsläufig
Steuern rauf fordern und damit höhere Kosten für Ab-
zu steigenden Abwassergebühren für die Bürgerinnen
wasser und Abfall für die Bürgerinnen und Bürgern.
und Bürger in unserem Land führt, stimmt so pauschal
nicht. Die Gründe, die dagegen sprechen haben, wir in Es verwundert schon, wenn die Partei der Steuersen-
unserem Antrag ausführlich erläutert. ker und Besserverdiener den Bürgerinnen und Bürgern
auf einmal Steuererhöhungen zumutet. Da muss es Ihnen
Noch einmal herausheben möchte ich folgende
ja schon um etwas sehr Wichtiges gehen. Und in der Tat:
Punkte: Zum einen ist die steuerliche Belastung der Ab-
Es geht um nicht weniger als darum, flächendeckende
wasserentsorger in Europa fast nirgendwo so niedrig wie
Privatisierungen im Abwasserbereich zu ermöglichen.
in Deutschland – aber kaum irgendwo ist die Abwasser-
Dazu sagt die Fraktion Die Linke klar Nein.
entsorgung so teuer wie bei uns. Der Grund, weshalb pri-
vate Haushalte in Deutschland so hohe Abwassergebüh- Bislang müssen Kunden von öffentlich-rechtlichen
ren zahlen müssen, kann also nicht in der Besteuerung Abwasserentsorgern keine Umsatzsteuer zahlen. Steuer-
liegen. Dafür gibt es andere Gründe und dies ist vor al- systematisch ist das durchaus plausibel. Die Abwasser-
lem der fehlende Wettbewerb. Zum anderen belegen entsorgung ist eine hoheitliche Aufgabe der Daseinsvor-
zahlreiche Beispielsfälle in Deutschland, dass sich pri- sorge. Mir leuchtet nicht ein, warum Bürger und
vate Unternehmen in Ausschreibungswettbewerben ge- Bürgerinnen für eine hoheitliche Aufgabe Umsatzsteuer
gen öffentlich-rechtlich organisierte Mitbewerber durch- zahlen sollen. Schließlich gelten Kommunen und nicht
gesetzt haben. Die momentan bestehende einseitige Bürger und Bürgerinnen in diesem Fall als letzte Kun-
steuerliche Begünstigung kommunaler Entsorgungsbe- den. Eine nachvollziehbare Logik, die kommunale
triebe hat dem Verbraucher bislang nichts gebracht. Sie Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge auch steuerlich
kommt beim Verbraucher nicht an. Darüber hinaus kön- reflektiert und nicht als Wirtschaftsunternehmen be-
nen Industrie- und Gewebekunden kommunaler Entsor- trachtet.
gungsunternehmen nach der momentanen Rechtslage
keinen Vorsteuerabzug vornehmen. Daraus ergibt sich Diese Regelung wird nun zum Problem für diejeni-
für diese Kunden ein massiver Standortnachteil. Nach gen, die diesen Bereich der Daseinsvorsorge privatisie-
Aussage des BDE haben einzelne Städte wie Magde- ren wollen. Privatrechtlich organisierte Anbieter müssen
burg, Chemnitz und Leipzig dieses Problem erkannt und ihren Kunden nämlich schon heute die Umsatzsteuer be-
ihren kommunalen Betrieb als GmbH organisiert, der die rechnen. Völlig richtig stellt der Bundesverband der
Umsatzsteuer ausweist. Deutschen Entsorgungswirtschaft fest: Die Abschaffung
(B) dieser Regel ist der Schlüssel für weitere Privatisierun- (D)
Allen Argumenten zum Trotz soll nach dem Willen gen der Abwasserwirtschaft. Erst wenn auch öffentlich-
der großen Koalition das Steuerprivileg öffentlich-recht- rechtliche Entsorger Mehrwertsteuer berechnen müssen,
licher Entsorger beibehalten werden. In Ihrem Koali- können Private auf breiter Front mit ihnen konkurrieren.
tionsvertrag haben Sie die Bewahrung der kommunalen Die Fraktion Die Linke sagt dazu aber: Weil Abwasser-
Hoheit über die Wasserwirtschaft vereinbart. Sie haben entsorgung eine hoheitliche Aufgabe der Daseinsvor-
diese sogar noch über die Vereinbarung Ihrer Vorgänger- sorge ist, darf Ziel nicht die Gewinnmaximierung priva-
regierung ausdrücklich auf den Bereich der Abwasser- ter Konzerne sein. Nein, Ziel muss die sichere und
entsorgung ausgedehnt. Und dabei hat der Wirtschaftsrat umweltschonende Abwasserentsorgung sein.
der CDU noch im Mai 2005 ausdrücklich die „Gleich-
stellung von Wasserversorgung und Abwasserbeseiti- Natürlich, es gibt sie, die Fälle von Missmanagement
gung bei der Umsatzsteuer – unabhängig ob in kommu- und Fehlinvestitionen in der öffentlich-rechtlichen Ab-
naler oder privater Trägerschaft“ – ausdrücklich wasserentsorgung. Das sage ich ganz deutlich. Ich sage
gefordert. Hinzu kommt die von der Bundesregierung aber auch: Missmanagement und Fehlinvestitionen gibt
für das kommende Jahr beschlossene allgemeine Erhö- es genauso bei privaten Unternehmen. Und ich sage: Wir
hung der Umsatzsteuer um drei Prozentpunkte. Diese brauchen einen direkten demokratischen Einfluss auf die
wird die Folgen der steuerlichen Ungleichbehandlung Anbieter. Was mit dem Abwasser passiert, sollen Kom-
noch weiter verschärfen. munalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker vor Ort
entscheiden können und nicht die Chefetagen der großen
Für uns von der FDP-Bundestagsfraktion besteht Versorgungsunternehmen.
deshalb Handlungsbedarf. Die zitierte Vereinbarung im
Koalitionsvertrag ist ökologisch unbegründet, ökono- Deswegen sagt die Fraktion Die Linke klar Nein zu
misch widersinnig und europarechtlich bedenklich. Ich dem Antrag der FDP. Wir sagen klar Nein zu einem An-
fordere die große Koalition deshalb auf: Ermöglichen stieg der Kosten für Abwasser. Wir sagen deutlich – zu-
Sie einen fairen Wettbewerb in der Entsorgungswirt- sammen mit vielen Bürgerinitiativen – Ja zu einer moder-
schaft und schaffen Sie die Steuerprivilegien der öffent- nen Entsorgungswirtschaft, in der öffentlich-rechtliche
lich-rechtlichen Unternehmen ab. Non-Profit-Anbieter eine zentrale Rolle spielen.

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Das Schöne an Ihrer Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Partei ist ja, dass sie in der Steuerpolitik eigentlich eine Die Grünen sind für einen fairen Wettbewerb auf den
relativ simple Programmatik vertritt, nämlich Steuern einzelnen Märkten. Diesbezügliche marode Strukturen
6260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) in Deutschland basieren häufig auf der Tatsache, dass es und Abwasserentsorgung wesentlich vereinfacht würde. (C)
zu wenig Wettbewerb zwischen kommunalen Unterneh- Die daraus resultierenden Synergieeffekte und Effizienz-
men untereinander sowie zwischen kommunalen und gewinne sowohl in technischer als auch in betriebswirt-
privatrechtlichen Betrieben gibt. Nun haben wir in der schaftlicher Hinsicht würden zur Schließung der regio-
Vergangenheit häufig schlechte Erfahrungen mit Privati- nalen Wasserkreisläufe beitragen und letztlich zu einem
sierungen in unserem Land gemacht. Deshalb muss das Gebührenrückgang führen.
Bekenntnis zu mehr Markt und Wettbewerb durch einen
staatlichen Ordnungsrahmen untermauert werden, der Im Übrigen bildet Deutschland neben Irland hier wie-
dafür sorgt, dass Arbeitnehmerrechte gewährleistet blei- der einmal eine unrühmliche Ausnahme innerhalb der
ben, Verbraucherinnen und Verbraucher nicht benachtei- EU. Denn in allen anderen Mitgliedstaaten werden
ligt werden und soziale Gerechtigkeit nicht hinter den Trinkwasser- und Abwasserentsorgung mittlerweile
Interessen einzelner Unternehmen zurückfällt. Dem steuerlich gleich behandelt. Nun wird als Argument für
Staat kommt daher die Verantwortung zu, die Rahmen- den Erhalt des Status quo in Deutschland ja immer wie-
bedingungen der Märkte durch klare Regelsetzungen zu der gerne darauf verwiesen, dass eine steuerliche Gleich-
definieren. behandlung verschiedener Organisationsformen zu ei-
ner Erhöhung der Gebühren auf dem Entsorgungsmarkt
Ein fairer Wettbewerb ist aber leider de facto wie in führen würde – ein Argument, das nicht stichhaltig ist,
so vielen anderen Bereichen, in denen Steuerprivilegien wenn wir uns vor Augen führen, dass gerade Deutsch-
nur den öffentlich-rechtlichen Unternehmen zugute land im europäischen Vergleich besonders hohe Abwas-
kommen, auch bei der Entsorgungswirtschaft bisher sergebühren hat.
nicht gewährleistet. So unterscheiden sich beispiels-
weise die steuerlichen Rahmenbedingungen von Trink- Wir fordern deshalb die Regierung auf, die steuerli-
wasser und Abwasser gravierend: Während für die chen Ungleichbehandlungen auf dem Entsorgungsmarkt
Wasserversorgung ein einheitlicher ermäßigter Umsatz- umgehend zu beseitigen und im Sinne der Verbrauche-
steuersatz von 7 Prozent gilt, hängt die steuerliche Be- rinnen und Verbraucher für einen fairen und gerechten
handlung der Abwasserentsorgung von der jeweiligen Wettbewerb zu sorgen!
Organisationsform ab. Die Abwasserentsorgung für öf-
fentlich-rechtliche Betriebe ist steuerfrei. Wird sie je-
doch von privaten Unternehmen erbracht, gilt der volle Anlage 8
Umsatzsteuersatz von 16 Prozent. Bei der Abfallwirt- Zu Protokoll gegebene Reden
schaft sieht die Sachlage genauso aus. Auch hier werden
öffentlich-rechtliche Organisationen steuerlich bevor- zur Beratung:
(B) zugt, insbesondere bei der Entsorgung von Abfällen aus – Entwurf eines Gesetzes über die Öffentlich- (D)
gewerblichen Betrieben und Sondermüll. Die Koalition keitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten
möchte diese wettbewerbsfeindliche Ungleichbehand- nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (Öffent-
lung verstetigen und hat daher die Beibehaltung dieses lichkeitsbeteiligungsgesetz)
Steuerprivilegs in ihre Koalitionsvereinbarung geschrie-
ben. Für uns eine klare Absage an fairen Wettbewerb – Entwurf eines Gesetzes über ergänzende
und freie Marktwirtschaft in unserem Land. Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Um-
weltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie
Dabei sind die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz)
Ungleichbehandlung immens und nicht von der Hand zu
weisen. Die entstehenden Wettbewerbsnachteile für die – Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkom-
Privatunternehmen wirken sich sowohl national als auch men vom 25. Juni 1998 über den Zugang zu
international aus. Insbesondere unsere mittelständischen Informationen, die Öffentlichkeitsbeteili-
Unternehmen ziehen hier den Kürzeren, wie das fol- gung an Entscheidungsverfahren und den
gende Beispiel zeigt: Beteiligt ein öffentlich-rechtlicher Zugang zu Gerichten in Umweltangelegen-
Entsorger ein umsatzsteuerpflichtiges privates Unterneh- heiten (Aarhus-Übereinkommen)
men an der Abwasserentsorgung, wird Umsatzsteuer fäl-
lig. Diese schlägt sich zwar in den öffentlich eingefor- (Tagesordnungspunkt 17 a bis c)
derten Gebühren nieder, wird aber im kommunalen
Gebührenbescheid nicht ausgewiesen. Für die mittel- Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Wir werden
ständischen Unternehmen heißt das ganz platt: ohne heute endlich die Ratifizierung und die Umsetzung des
Ausweis der Umsatzsteuer keine Möglichkeit zum Vor- Aarhusübereinkommens in deutsches Recht beschließen.
steuerabzug! Ich sage „endlich“, weil das Übereinkommen im Jahr
1998 beschlossen wurde und seitdem acht Jahre vergan-
Wir sind der Meinung, dass die steuerlichen Rahmen- gen sind. Wir sind damit die Letzten in Europa. Sieben
bedingungen für private und öffentliche Entsorger im Jahre davon ist überhaupt nichts passiert, nichts wurde
Abwasser- und Abfallbereich endlich vereinheitlicht umgesetzt. Es waren die sieben Jahre eines grünen
werden müssen. Das würde zu mehr Effizienz, Wettbe- Umweltministers – dieser Hinweis sei an dieser Stelle
werbsgleichheit und zu einer einheitlichen Reduzierung erlaubt.
der steuerlichen Gesamtbelastung führen. Die steuerli-
che Gleichbehandlung hätte darüber hinaus den Vorteil, Bevor ich zu speziellen Punkten komme, möchte ich
dass beispielsweise eine Zusammenführung von Wasser- einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Die Um-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6261

(A) setzung von „Aarhus“ in verbindliches deutsches Recht Veröffentlichungspflicht in den letzten Tagen geführt. (C)
mit dem Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz und dem Um- Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob mit der Lösung
welt-Rechtsbehelfsgesetz bedeutet einen ganz erhebli- des Gesetzentwurfes, nach dem die Veröffentlichung der
chen Fortschritt für die Mitwirkung der Bürgerinnen und Planungen eines Vorhabens im amtlichen Veröffentli-
Bürger in Umweltfragen. Im Verfahrensrecht gehen wir chungsblatt und außerdem in örtlichen Tageszeitungen
den bedeutenden Schritt von einer bloßen Anhörung der vorgesehen war, größtmögliche Transparenz zu errei-
Bürger zur Bürgerbeteiligung. Wir verpflichten die Be- chen ist oder durch den Weg, den der Änderungsantrag
hörden, im Vorfeld einer Entscheidung detailliert über geht, nach dem zusätzlich zur Veröffentlichung im
das infrage stehende Vorhaben zu informieren, die Ein- Amtsblatt alternativ die Veröffentlichung in der Zeitung
wände aus der Bürgerschaft aufzunehmen und in die oder der Weg über eine Bekanntmachung per Internet
Entscheidung einfließen zu lassen. Das alles bedeutet gewählt werden kann.
mehr Transparenz. Und mehr Transparenz wird zu mehr
Akzeptanz führen und damit zu weniger gerichtlichen Niemand, auch keine der Fraktionen dieses Hauses,
Verfahren. hat sich dafür ausgesprochen – jedenfalls sind mir keine
entsprechenden Anträge bekannt –, die Veröffentli-
Was diese Verfahren nun angeht, möchte ich auf eine chung müsse über alle drei Wege – Amtsblatt, Zeitung
Sache hinweisen: Es wir künftig zusätzliche Klagemög- und Internet – erfolgen. Damit bleibt die Frage: Wie er-
lichkeiten geben. Neben den Bürgerinnen und Bürgern reichen wir mehr Personen: Amtsblatt plus Zeitung oder
wird im Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz auch den im Um- Amtsblatt plus Zeitung oder Internet, also im Ergebnis
welt- und Naturschutz engagierten Verbänden eine Kla- dann möglicherweise nur Amtsblatt plus Internet? Es ist
gebefugnis zuerkannt, nicht so weitgehend wie diese es zu fragen: Können wir mehr Menschen ansprechen,
sich gewünscht hätten. Aber unbestritten ist: Aus Sicht wenn wir das Amtsblatt durch das Internet ergänzen, das
der Verbände ist das ein Fortschritt gegenüber dem Sta- einen schnellen, unkomplizierten Zugriff ermöglicht, an-
tus quo. dere Personen erreicht, andererseits aber natürlich auch
auf den Personenkreis der Internetnutzer beschränkt ist
Deshalb – wenn jetzt Kritik vonseiten der Fraktion der und damit auch wieder nicht alle Bürgerinnen und Bür-
Grünen kommt – rate ich Ihnen, diese Kritik nicht zu ger erreichen kann?
übertreiben und unser Gesetz nicht an dem zu messen,
was Sie als Wunschvorstellungen haben, sondern an dem, Wir haben letztlich folgenden Weg gewählt: Wir be-
was Sie selbst in sieben Jahren umgesetzt haben. Das ist schließen den Änderungsantrag, wollen die Entschei-
nun einmal nicht zu bestreiten: Die große Koalition hat in dung für das Amtsblatt plus alternativ Zeitung oder In-
einem Jahr mehr gemacht als Rot-Grün in sieben Jahren. ternet aber als Modellversuch verstanden wissen, der
(B) Während nun einerseits an diesem Punkt in der ersten Le- zeitlich begrenzt ist. Wir haben die Bundesregierung (D)
sung der Gesetze kritisiert wurde, es würde zu wenig ge- aufgefordert, in spätestens einem Jahr einen Erfahrungs-
macht, ist andererseits – insbesondere von der FDP – ge- bericht vorzulegen. Auf dessen Grundlage werden wir
sagt worden, wir würden zu viel machen, würden über die dann neu entscheiden, welches der beste Weg ist.
angestrebte Eins-zu-eins-Umsetzung hinausgehen. Wir
haben angekündigt, diese Einwände genauso wie die Stel- Ich weiß, wir sind in manchen Punkten nicht einig.
lungnahme des Bundesrats ergebnisoffen zu prüfen, und Aber ich wünsche mir, dass zumindest in einem Konsens
die jetzt eingebrachten Änderungsanträge der Koalition besteht: darin, dass die heutige Entscheidung einen Fort-
sind auch Ausdruck dessen und die fast ausnahmslose Zu- schritt für die Bürgerbeteiligung in Umweltfragen in
stimmung der FDP zu diesen Anträgen Beleg hierfür. Deutschland bedeutet.
Einen Punkt möchte ich dabei besonders herausgrei-
fen: die Änderung von § 4 Abs. 1 des Rechtsbehelfsge- Dr. Matthias Miersch (SPD): Für das deutsche Um-
setzes gegenüber der ursprünglichen Fassung. Diese weltrecht ist das heute schon ein bedeutender Tag. Erst-
hätte nach unserer Auffassung die Gefahr mit sich ge- mals führen wir in diesem Umfang die Verbandsklage im
bracht, dass auch solche Verfahrensfehler zur Aufhe- Umweltrecht ein. Erstmals haben wir einen fest normier-
bung von Entscheidungen geführt hätten, die für den In- ten Anspruch auf Aufhebung einer Entscheidung über
halt der Entscheidung ohne jeglichen Belang gewesen die Zulässigkeit eines Vorhabens, wenn wesentliche Ver-
sind. Damit hätten wichtige Investitionsvorhaben wegen fahrensvorschriften verletzt worden sind.
formaler, nicht maßgeblicher Fragen über Jahre verhin-
dert werden können. Dies kann niemand wollen, der für Die unterschiedlichen Stellungnahmen der Verbände
eine Stärkung des Wirtschaftstandortes Deutschland ar- und die unterschiedlichen Stellungnahmen von Bundes-
beitet. Aus diesem Grund haben wir nun einen Vorschlag regierung und Bundesrat machen deutlich, dass die Ge-
des Bundesrates aufgegriffen und die Vorschrift so ge- setze hoch umstritten gewesen sind. Auch in diesem
fasst, dass eine Aufhebung der Entscheidung auf evi- Haus gab es Stimmen, die die Regelungen als zu weitge-
dente Fälle von Verfahrensverstößen begrenzt wird. Im hend betrachten. Lassen Sie mich deshalb ganz deutlich
Ergebnis wird der Umweltschutz damit nicht ge- sagen: Wir begrüßen die Ausweitung des Verbandskla-
schwächt, den inhaltlichen Belangen wird voll Rech- gerechts der Umweltverbände und die Ausweitung der
nung getragen, Förmelei wird aber verhindert. Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit. Sie stellen wich-
tige Schritte in Richtung größerer Transparenz und Kon-
Eine engagierte Diskussion haben wir über die in § 10 trolle dar. Mehr Transparenz und Kontrolle wird zu mehr
Abs. 3 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes enthaltene Fehlervermeidung und damit zu mehr Akzeptanz führen.
6262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) In diesem Zusammenhang möchte ich gleichzeitig be- folgenden Generationen wirklich gewahrt werden kön- (C)
tonen, dass mehr Kontrolle und größere Transparenz nen. Nicht umsonst nannte UN-Generalsekretär Kofi
nicht zu längeren Verfahren führen müssen. Vielmehr Annan das Åarhus-Übereinkommen als „das ehrgei-
können Konfliktpunkte unter Umständen frühzeitig ge- zigste von den Vereinten Nationen gestartete Projekt für
klärt werden. Darüber hinaus ist es weiter eine Heraus- ökologische Demokratie“.
forderung – vor allem auch der Länder –, durch eine ent-
sprechende Organisation der Kontrollebenen zügige
Entscheidungen zu erreichen. Horst Meierhofer (FDP): In diesem Herbst hat die
Aarhus-Konvention auch die Bundespolitik erreicht. Die
Ich möchte an dieser Stelle aber auch nicht ver- Aarhus-Konvention steht für Transparenz und Bürger-
schweigen, dass wir uns für ein generelles Verbandskla- nähe bei umweltrelevanten Entscheidungen – und das in
gerecht der Umweltverbände eingesetzt haben und er- einem internationalen Rahmen.
hebliche europarechtliche Zweifel haben, wie zum
Beispiel auch der Sachverständigenrat für Umweltfra- Das Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz stärkt die Mit-
gen. Das europäische Recht sieht gerade auch vor, die wirkungsrechte der Bürger und der Umweltschutzverei-
Rechte der Allgemeinheit im Klima-, Natur- und Gewäs- nigungen bei umweltrelevanten Genehmigungs- und
serschutz durch die Verbände überprüfen lassen zu kön- Zulassungsverfahren. So wird beispielsweise bei Abfall-
nen. Es wird von einem „weiten Zugang“ der „betroffe- wirtschaftsplänen die Öffentlichkeitsbeteiligung neu ein-
nen Öffentlichkeit“ zu den Gerichten gesprochen. Bei geführt und bei Luftreinhalteplänen nach dem Bundes-
den von mir angesprochenen Rechten der Allgemeinheit Immissionsschutzgesetz werden die bestehenden Rege-
und damit der „betroffenen Öffentlichkeit“ geht es ge- lungen ergänzt. Schließlich soll es bei der Öffentlich-
rade nicht nur um individuelle Rechte einzelner Bürge- keitsbeteiligung im Rahmen der UVP-Prüfung künftig
rinnen und Bürger. einen detaillierten Katalog geben, der Mindestvorgaben
darüber enthält, welche Informationen bei der Bekannt-
Bekannt ist jedoch auch, dass angesichts des anhängi- machung des Vorhabens mitzuteilen sind.
gen Verletzungsverfahrens und des Diskussionsstandes
zwischen Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag Kurz: Verfahren und Entscheidungen im Bereich der
eine Beschlussfassung in der bisherigen Fassung unum- Umwelt werden nachvollziehbarer und transparenter.
gänglich ist und andernfalls nicht hinzunehmende Nach- Das ist ein wichtiger Beitrag für die Entwicklung hin zu
teile drohen. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass einer verantwortungsbewussten Bürgergesellschaft. Das
wir SPD-Umweltpolitiker in diesem Zusammenhang begrüßen wir. Verfahren müssen deshalb auch nicht
eine Erklärung nach § 31 GO abgeben werden. zwingend länger dauern. Im Gegenteil: Eine frühzeitige
(B) Noch ein weiterer Punkt, der bis zuletzt kräftig disku- und umfassende Bürgerbeteiligung bedeutet auch die (D)
tiert worden ist: Der Bundesrat hat durchgesetzt, dass im Möglichkeit, Bedenken gegen das eine oder andere Ver-
Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung eine Bekanntma- fahren schon im Anfangsstadium aus dem Weg zu räu-
chung lediglich in einer Tageszeitung oder im Internet men. Das kann nachher so manchen zeitraubenden Ärger
erfolgen müsse – neben dem amtlichen Mitteilungsblatt. vor Gericht ersparen.
Ich habe bereits im Ausschuss darauf hingewiesen, dass Wir Liberale können mit dem Entwurf des Öffentlich-
das Internet sicher Chancen bietet, die eine Tageszeitung
keitsbeteiligungsgesetzes im Großen und Ganzen leben.
nicht erfüllt – zum Beispiel einen weiteren Verteilungs-
Die einzige Ausnahme: die neue Regelung, durch die
raum. Allerdings sind wir noch nicht so weit. Wenn wir
immissionsschutzrechtliche Vorhaben im amtlichen Ver-
eine breite Öffentlichkeitsbeteiligung erreichen wollen,
öffentlichungsblatt und außerdem entweder im Internet
können wir auf die Tageszeitungen nicht verzichten, so
dass wir uns eine Veröffentlichung im Internet und in oder in örtlichen Tageszeitungen bekannt zu machen
den Tageszeitungen gewünscht hätten. Leider war das sind. Was Sie da gestern im Ausschuss veranstaltet ha-
nicht durchsetzbar. Vielleicht gelingt es ja noch, diesen ben, lässt sich auf die schlichte Formel „Ja, – Nein, weiß
– aus unserer Sicht – bestehenden Mangel demnächst nicht“ reduzieren. So kann man doch keine Gesetze ma-
auf elegante Weise zu heilen, ohne dass wir die Verzöge- chen! Ganz abgesehen davon: Ihre jetzige Lösung, die
rung der Gesetzesvorhaben riskieren. Bundesregierung zu beauftragen, die ganze Sache ein
Jahr lang zu beobachten, ist nichts anderes als ein fauler
Lassen Sie mich abschließend betonen, dass wir nach Kompromiss. So wie das Gesetz jetzt ist, laufen Sie
unserer Auffassung mit den vorliegenden Gesetzen schlichtweg Gefahr, weniger Menschen zu erreichen als
durchaus einen beachtlichen Wechsel im Umweltrecht vorher. Da hilft es auch nichts, wenn die Bundesregie-
einleiten. Ich bin überzeugt, dass gerade auch der Geist rung zuschaut. Was für eine Absurdität bei einem Gesetz
von Åarhus noch weitere Bereiche erfassen wird und zur Öffentlichkeitsbeteiligung!
dass wir in Zukunft eine Entwicklung haben werden, die
– gerade auch auf europäischer Ebene – für mehr Trans- Zum Umweltrechtsbehelfsgesetz: Mit diesem Gesetz
parenz und mehr Kontrolle sorgen wird. Ich wünsche können Umweltschutzverbände in Deutschland erstmals
mir, dass wir bei einer entsprechenden Organisation und klagen, ohne dass sie in eigenen Rechten verletzt sein
Ausstattung der Instanzen dann zu dem Ergebnis kom- müssen. Das ist zunächst einmal ein Fortschritt gegen-
men, dass dieser Geist von Åarhus schließlich auch zu über dem Status quo, auch wenn die Verbände auf die
mehr Akzeptanz und Fehlervermeidung führen wird, da- Geltendmachung drittschützender Normen beschränkt
mit die Rechte der Allgemeinheit und auch die der nach- werden sollen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6263

(A) Die Frage ist: Reicht das, um die Vorgaben der Bürgern sowie den Verbänden so wenig Rechte wie (C)
Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie umzusetzen? Bei möglich zuzugestehen.
dem jetzigen Gesetzesentwurf muss man sich tatsächlich
Das Anliegen der Aarhuskonvention haben Sie ent-
ausnahmsweise einmal fragen, ob er die Brüssler Vorga-
weder gar nicht erst verstanden oder Sie teilen es nicht;
ben eins zu eins umsetzt oder ob er hinter diesen Anfor-
anders jedenfalls kann ich diese Gesetze nicht verstehen.
derungen zurückbleibt. Für beide Seiten gibt es Argu-
Die Åarhuskonvention ist aus der Erkenntnis entstanden,
mente. Letztendlich sind wir zu dem Ergebnis
dass Umweltschutz nur mit einem Mehr an Beteiligung
gekommen, dass die europäischen Vorgaben erfüllt und
erreicht werden kann.
in sinnvollem Maße umgesetzt werden. Unserer Mei-
nung nach kann weder aus der Aarhus-Konvention noch Denn: Durch eine breite Beteiligung der Öffentlich-
aus der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie zwingend keit werden Mauscheleien zulasten der Umwelt ans
gefolgert werden, dass den Verbänden ein weiter rei- Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Bereits wegen der Mög-
chendes Klagerecht einzuräumen ist als dem normalen lichkeit einer Klage muss zukünftig größte Sorgfalt da-
Bürger. Vielmehr ist den Besonderheiten des jeweiligen rauf verwendet werden, dass Umweltbestimmungen
nationalen Rechtssystems Rechnung zu tragen. In auch eingehalten werden. In der Folge gehen Umweltbe-
Deutschland haben wir eben die Besonderheit, dass man lastungen zurück. In der ersten Lesung wurden die Ge-
die Verletzung subjektiver Rechte geltend machen muss, setzentwürfe nicht nur durch die Opposition kritisiert.
um klagen zu können. Man darf auch nicht vergessen: Selbst Ihr Kollege Miersch kritisierte diese an etlichen
Die Aarhus-Konvention haben Länder mit unterschiedli- Stellen.
chen Rechtssystemen und unterschiedlichen Standards
gezeichnet. Das kann man nicht alles über einen Kamm Die Änderungen, die Sie an ihren Gesetzentwürfen
scheren. vorgenommen haben, führen zu einer weiteren Ein-
schränkung von Beteiligungsrechten. Ein Beispiel: Ur-
Einen Punkt, den ich bereits in der ersten Lesung an- sprünglich sollten nur wesentliche Verfahrensfehler ein-
gesprochen habe, ist die Regelung über die Beachtlich- klagbar sein – selbst das war bereits zu restriktiv. Mit
keit von Verfahrensfehlern, die sich auf das Verfahren Ihrer Änderung gehen Sie nun komplett auf das allge-
nicht ausgewirkt haben. Ich begrüße, dass diese Rege- meine Verfahrensrecht zurück, das bedeutet eine erhebli-
lung präzisiert wurde. Es geht nicht darum, Umweltstan- che Verschlechterung.
dards zu verkürzen, sondern darum, ein Ausufern unnüt- Um den Geist von Åarhus zu verdeutlichen, bringen
zer Bürokratie zu vermeiden. Die jetzige Fassung wir heute einen Entschließungsantrag zum Umwelt-
berücksichtigt die Rechtsprechung des EuGHs, geht aber Rechtsbehelfsgesetz ein. Unsere Forderungen unter-
ansonsten nicht über zwingende Vorgaben des Europa- scheiden sich in drei wesentlichen Punkten von dem Ge-
(B) rechts hinaus. Ich denke, das ist eine sinnvolle Lösung. (D)
setz, das Sie heute beschließen wollen.
Für zu eng halten wir allerdings die Anerkennungsvo- Erstens darf es keine Beschränkung der Klagemög-
raussetzungen für die klagebefugten Verbände. Unserer lichkeiten auf drittschützende Tatbestände geben. Es tor-
Meinung nach sollten alle Verbände klagen können, die pediert und pervertiert die Arbeit der Umweltverbände,
sich für den Umweltschutz einsetzen, auch wenn der wenn sie gerade nicht im allgemeinen Interesse stehende
Umweltschutz nicht ihr vorwiegendes Ziel oder Sachverhalte beklagen dürfen, sondern nur dann, wenn
Hauptzweck ist. Ich denke da zum Beispiel an Fischerei- Rechte Einzelner betroffen sind. Wenn die Länder 2010
oder Jagdverbände. Auch dass eine Vereinigung drei das Verbandsklagerecht im Naturschutz abschaffen,
Jahre bestehen muss, um als klagebefugt anerkannt zu dürften die Naturschutzverbände nicht einmal mehr in
sein, ist nicht sachgerecht. Wenn ein Verband aus Flens- Naturschutzangelegenheiten klagen – von Klimaschutz,
burg in Bayern klagen kann, dann müssen sich die Be- Tierschutz und anderem ganz abgesehen. Dass die Bun-
troffenen vor Ort doch erst recht zusammenzuschließen desregierung dies auch noch aus der Åarhuskonvention
können, um gegen ein bestimmtes Vorhaben gerichtlich ableiten will, weil Verbände angeblich nicht mehr
vorzugehen zu können. Das gehört für mich zu den zen- Rechte als Bürgerinnen und Bürger bekommen dürfen,
tralen Bürgerrechten. Um Missbrauch an dieser Stelle zu zeigt mir, dass sie die Åarhuskonvention nicht genau ge-
verhindern, reicht es aus, dass diese Gruppen Sachkom- lesen haben. Denn eine Beschränkung, dass irgendetwas
petenz mitbringen. nicht erlaubt sei, ist in der ganzen Konvention nicht zu
finden. Vielmehr sollen sowohl Bürgerinnen und Bürger
Das langjährige Bestehen einer Organisation allein als auch Verbände einen umfassenden, weiten Zugang zu
muss nicht zwangsläufig zu besseren Kenntnissen und Gerichten erhalten. Wenn Sie also Verbänden nicht mehr
Erkenntnissen führen – anwesende Parteien natürlich Rechte als Bürgerinnen und Bürgern einräumen wollen,
ausgeschlossen! dann geben Sie diesen doch auch mehr Rechte!
Zweitens müssen alle Verfahrensfehler zur Aufhe-
Lutz Heilmann (DIE LINKE): Wir beraten heute in
bung einer Entscheidung führen können. Gerade im Um-
abschließender Lesung die Gesetzentwürfe zur Umset-
weltbereich haben diese erhebliche Auswirkungen, des-
zung der Åarhuskonvention. An unserer Bewertung die-
halb wurde Åarhus geschaffen.
ser Gesetzentwürfe hat sich nichts geändert. Insgesamt
wird das Gesetzespaket der Åarhuskonvention nicht ge- Drittens sollte es keine Beschränkungen für Umwelt-
recht. Es wird vielmehr deutlich, dass sich Koalition, verbände aufgrund ihrer satzungsgemäßen Ziele geben.
Regierung und Bundesrat einig sind, Bürgerinnen und Ist es denn so schlimm, wenn sich ein Vogelschutzverein
6264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) auch für die Reinheit unserer Flüsse einsetzt? Bei Ihnen und Fauna. Insoweit könnte die naturschutzrechtliche (C)
besteht ja anscheinend die große Sorge, die Verbände Verbandsklage künftig völlig wirkungslos werden, weil
würden ausufernd von ihrem Klagerecht Gebrauch ma- sie nicht mehr angewendet werden kann. Damit hätten
chen. Die Zahl der Klagen im Naturschutz, wo es eine wir dann eine eindeutige Verschlechterung des Rechts
Verbandsklage bereits gibt, belegt das Gegenteil. auf Verbandsklage erreicht. Das heißt also, dass kein er-
leichterter und schon gar kein weiter Zugang zu den Ge-
Glauben Sie im Ernst, dass der Bund Naturschutz aus
richten mit der Regelung aus den Reihen der großen
Bayern in Zukunft gegen eine Kläranlage in Mecklen-
Koalition erzielt wird. Sie streben so ziemlich das Ge-
burg klagt? Ich frage mich, ob Sie überhaupt wissen, wo-
von Sie reden, wenn Sie über Umweltverbände spre- genteil des von Arhus avisierten Ziels an, die Beteili-
chen. Ich weiß ja, dass Sie sich bei BDI und DIHK gung der Öffentlichkeit an allen umweltrelevanten Ver-
besser auskennen. Die Realität der Umweltverbände waltungsentscheidungen nachhaltig zu verbessern.
sieht doch so aus, dass hier durch Spenden finanziert eh- Das ökologische Beratungsgremium der Bundesre-
renamtliche Arbeit geleistet wird. Das ist bürgerschaftli-
gierung, der Sachverständigenrat für Umweltfragen un-
ches Engagement, wie es im Buche steht – und wie es in
ter der Leitung des von uns allen geschätzten Professors
diesem Haus ständig eingefordert wird. Aber wenn sich
die Menschen dieses Landes für die Umwelt einsetzen, Koch, hat uns kürzlich erneut in seiner unnachahmlichen
dann passt es Ihnen nicht und Sie behindern dieses bür- Klarheit die Tatsachen vor Augen geführt: Der Gesetz-
gerschaftliche Engagement, wo es nur geht. entwurf weist erhebliche europarechtliche Defizite auf.
Rechtsbehelfsgesetz und Öffentlichkeitsbeteiligungsge-
Ich bin mir sicher, dass Sie mit diesem Gesetz vor setz gehen nicht mit den europäischen Vorgaben kon-
dem EuGH nicht durchkommen werden. Ein Wort noch form. Ich zitiere wörtlich aus Professor Kochs Brief an
dazu: Wir finden es unverantwortlich ein Gesetz zu er- die Vorsitzende des Umweltausschusses zur Beratung
lassen, bei dem Sie davon ausgehen, dass es letztlich des Arhusgesetzespaketes vom 31. Oktober 2006:
beim EuGH landen wird. Soll das ein verantwortungsbe-
wusstes Ausüben ihrer Mandate sein? Mitnichten! Für Das eigentlich zentrale Anwendungsfeld einer Ver-
die Gesetzgebung ist das Parlament zuständig. Die Ge- bandsklage liegt dort, wo Rechtsvorschriften des
richte wachen darüber, dass Gesetze richtig angewandt Umweltrechts gerade keine individuellen Rechtspo-
werden. Das Ganze nennt man dann Gewaltenteilung, sitionen der einzelnen Bürger/innen begründen,
ein Grundpfeiler unserer Verfassung. Sie aber missbrau- sondern ausschließlich zum Schutz des Allgemein-
chen die Rechtsprechung für politische Entscheidungen. wohls – etwa im Naturschutz, im Gewässerschutz
und im Klimaschutz – erlassen worden sind, In die-
(B) Mein abschließendes Fazit: Die vorliegenden Gesetz- sen Fällen können mögliche Rechtsverstöße nicht (D)
entwürfe werden dem Ziel der Aarhuskonvention nicht vor Gericht gebracht werden – es sei denn, man
gerecht.
räumt „qualifizierten“ Teilen der Öffentlichkeit ein
entsprechendes Verbandsklagerecht ein. Für das
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziel sowohl der Arhuskonvention wie auch der
In unserer ersten Debatte zum Thema habe ich von der maßgeblichen EU-Regelungen in der Beteiligungs-
offensichtlichen Überzeugung der großen Koalition ge- Richtlinie, nämlich für die konsequente Durchset-
sprochen, den Bürgerinnen und Bürgern nicht zuzu- zung des Umweltrechts, ist es wesentlich, dass ge-
trauen, als gleichwertig Beteiligte in Planungsprozessen rade keine Rechtsschutzlücken bestehen. Deshalb
zu besseren Planungsergebnissen und damit maßgeblich kommt es darauf an, dass die Verbandsklagerechte
zur Verbreiterung der Akzeptanz vor allem von Großpro- jedenfalls dort eröffnet werden, wo individuelle
jekten beizutragen. Heute will ich zum zweiten Baustein Rechte nicht verletzt sein können, sondern nur sol-
bei der Umsetzung der Arhusrichtlinie sprechen, dem che Normen, die alleine dem Wohl der Allgemein-
Rechtsbehelfsgesetz. Der springende Punkt dieses Ge- heit dienen. … Der Gesetzentwurf des Umwelt-
setzes ist sicher das Verbandsklagerecht, das wir ja be- rechtsbehelfsgesetzes setzt nun voraus, dass
reits aus dem Naturschutz kennen. Der entscheidende
Deutschland berechtigt ist, die den Verbänden euro-
Unterschied soll nun allerdings sein, dass nicht die Be-
parechtlich verbindlich eingeräumten Rechte auf
lange der Natur einklagbar sein sollen, sondern aus-
schließlich eine Verletzung von persönlichen, also sozu- solche zu reduzieren, die vom Mitgliedstaat auch
sagen menschlichen Rechten. den einzelnen Bürgern zuerkannt werden. Der
Wortsinn der Richtlinie besagt dies ersichtlich
Aus Juristenkreisen wird uns nun zugetragen, dass nicht.
sich die Verbandsklage im Naturschutz verschlechtern
wird, wenn der Gesetzentwurf zum Rechtsbehelf in der Ich sage Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
vorliegenden Fassung verabschiedet wird. Es steht näm- der großen Koalition: Mit der Verabschiedung dieser Ge-
lich zu befürchten, dass künftig die Verbandsklage im setzentwürfe geben Sie ein verheerendes Signal für die
Naturschutz praktisch wirkungslos ist, weil die Umwelt- beginnende deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Sie hal-
klage nach dem Rechtsbehelfsgesetz als allgemeine ten offenbar wenig von der Umsetzung der europäischen
Klage der naturschutzfachlichen Verbandsklage vorgeht. Vorgaben in deutsches Recht. Damit machen Sie
Die Umweltklage beinhaltet aber nur umweltrelevante Deutschland vom Öko-Vorreiter zum Umwelt-Nacht-
Rechtsverletzungen gegen Personen, nicht gegen Flora wächter. Na dann, gute Nacht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6265

(A) Anlage 9 gangsfristen für eine Marktöffnung eingeräumt werden (C)


können.
Zu Protokoll gegebene Reden
An dieser Stelle möchte ich auf die im Juli ergebnis-
zur Beratung des Antrags: Für solidarische und los verlaufenen Verhandlungen der Welthandelsorgani-
entwicklungspolitische kohärente Wirtschafts- sation eingehen. Der derzeitige Stand ist für uns alle sehr
partnerschaftsabkommen (Tagsordnungspunkt 18) unbefriedigend. Um Bewegung in die Verhandlungen zu
bringen, erklärte sich die EU mit dem Auslaufen der
Anette Hübinger (CDU/CSU): Zum 31. Dezember Agrarexporthilfen bis Ende 2013 einverstanden. Doch
2007 laufen die Ausnahmeregelungen für die einseitigen von anderer Seite bewegte sich in den Gesprächen we-
Handelspräferenzen an die Länder aus Afrika, dem kari- nig. Das ist sehr bedauerlich. Deshalb ist es umso drin-
bischen Raum und dem Pazifischen Ozean, den so ge- gender, die bereits im Dezember letzten Jahres in Hong-
nannten AKP-Staaten, durch die Europäische Union aus. kong getroffenen Zusagen, erstens eine stärkere
Diese sollen durch neue Wirtschaftspartnerschaftsab- handelsbezogene Entwicklungshilfe und zweitens den
kommen ersetzt werden, deren Verhandlungen derzeit in am wenigsten entwickelten Ländern einen zoll- und quo-
die letzte Phase gehen. Konkrete Textentwürfe für die tenfreien Marktzugang zu ermöglichen, schnell rechtlich
Regionalabkommen sind bereits in der Beratung. Und verbindlich werden zu lassen. Die WPAs bieten dazu die
jetzt kommen die Damen und Herren von der Fraktion Möglichkeit.
Die Linke, stellen in einem Antrag einen pauschalen Und jetzt glauben die Damen und Herren der Fraktion
Forderungskatalog auf und verlangen einen Stopp der Die Linke, dass eine Verlängerung der WTO-Ausnahme-
Verhandlungen. Damit gefährden sie nicht nur die Ver- regelung einfacher zu verhandeln wäre als die WTO-
handlungen, sondern auch die bisher erreichten Verhand- konformen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwi-
lungsergebnisse. Sie riskieren, dass diese Länder ab schen der EU und den AKP-Staaten. Wir jedenfalls wer-
2008 dem freien globalen Wettbewerb ohne entwick- den uns dafür einsetzen, dass die WTO-Verhandlungen
lungspolitische Abfederungen überlassen werden. wieder in Gang kommen; denn multilaterale Verabre-
Bereits mit der Gründung der Welthandelsorganisa- dungen sind kalkulierbarer, besser überprüfbar und wett-
tion im Jahr 1995 war es notwendig geworden, die ver- bewerbstreuer. Natürlich stellen neue wirtschaftliche
traglichen Vereinbarungen zwischen der EU und den Rahmenbedingungen große Herausforderungen an alle
AKP-Staaten neu zu regeln. Deshalb haben im Jahr 2000 Beteiligten. Das wissen wir am besten aus unserer eige-
die AKP-Staaten und die EU im Cotonou-Abkommen nen Erfahrung mit der deutschen Wiedervereinigung und
vereinbart, ab 2008 neue Wirtschaftspartnerschaftsab- dem europäischen Integrationsprozess.
(B) kommen zu schließen. Diese sollen dann den Regeln der Um die Anpassungsprobleme der AKP-Staaten zu be- (D)
Welthandelsorganisation entsprechen. Die WPAs ver- wältigen, stellt die EU technische und finanzielle Mittel
knüpfen erstmals handels- und entwicklungspolitische zu Verfügung. 730 Millionen Euro wurden im 9. Europäi-
Ansätze, um eine höhere Kohärenz der Handels- und schen Entwicklungsfonds für Maßnahmen im Bereich
Entwicklungspolitik zu erreichen. der makroökonomischen Stabilisierung, der Steuerrefor-
Die Linke verlangt in ihrem Antrag, sich dieser Ver- men, der Zollverwaltung und der Investitionen bereitge-
einbarung zu widersetzen. Wir jedoch schließen Verträge stellt. Im 10. EEF, der zeitgleich mit den Wirtschafts-
mit dem Ziel ihrer Erfüllung. Der Handel ist für das wirt- partnerschaftsabkommen in Kraft treten wird, wird sich
schaftliche Wachstum einer Volkswirtschaft von enor- die Summe auf 22,6 Milliarden Euro erhöhen, die als
mer Bedeutung. Und wirtschaftliches Wachstum nimmt Hilfe an die AKP-Staaten gehen werden. Erst kürzlich
eine Schlüsselrolle bei der Armutsbekämpfung ein. wurde im europäischen Ministerrat vereinbart, ab dem
Schätzungen zufolge wird, um die Armut in Afrika bis Jahr 2012 die handelsbezogene Entwicklungshilfe auf
2015 zu halbieren, ein jährliches Wachstum von 2 Milliarden Euro zu erhöhen. Auch davon werden die
8 Prozent benötigt. AKP-Länder erhebliche Mittel – circa 1,2 Milliarden
Euro – erhalten.
Natürlich bedeutet eine Öffnung des Marktes nicht
Im Bereich der technischen Hilfe wurden, um die re-
automatisch mehr Handel für Entwicklungsländer. Und
gionalen Verhandlungen zu begünstigen, in vier Regio-
mehr Handel bedeutet auch nicht automatisch weniger
nen „Regional Preparatory Task Forces“ gebildet. Die
Armut. Solch eine Schwarz-Weiß-Malerei wäre fatal.
Behauptung, die AKP-Staaten würden mit ihren Proble-
Der Antrag der Linken lässt leider eine differenzierte
men allein gelassen, trifft einfach nicht zu. Für die Be-
Darstellung der Tatsachen vermissen. Um Entwick-
wertung unserer Entwicklungsarbeit sind Regierungs-
lungsländern faire Chancen auf dem Weltmarkt einzu-
führung, Demokratieentwicklung, Rechtsstaatlichkeit
räumen, bedarf es vielmehr einer individuell ausgerich-
und die Achtung der Menschenrechte tragende Faktoren.
teten Marktöffnung. Die jeweiligen Bedürfnisse und
Der Erfolg und die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe
Voraussetzungen der Vertragspartner müssen berück-
werden entscheidend durch diese Elemente beeinflusst.
sichtigt werden. Und genau dieses Konzept liegt den
Deshalb werden wir Ländern, die Menschenrechte und
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zugrunde. Die
Rechtsstaatlichkeit vehement verletzten, nicht kommen-
neuen WTO-konformen Freihandelsabkommen sehen
tarlos unsere Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen.
eine gegenseitige Marktöffnung vor, mit der Option ei-
ner asymmetrischen Ausgestaltung. Das heißt zum Bei- Und auch in diesem Punkt unterscheidet sich unsere
spiel, dass je nach Entwicklungsstand längere Über- Entwicklungspolitik von der Fraktion Die Linke. Demo-
6266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) kratie und Rechtsstaatlichkeit lassen sich nicht beliebig ziele lassen sich nicht allein durch mehr Mittel für Ent- (C)
interpretieren, sondern beruhen auf universell gültigen wicklungszusammenarbeit und eine gesteigerte ODA-
Grundsätzen. Quote erreichen, sondern vor allem durch gerechtere
Handelsbedingungen. Dabei ist aber auch klar, dass
Die neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen selbst beste Handelsbedingungen nichts helfen, so lange
werden auch in dieser Hinsicht die AKP-Staaten stimu- die Entwicklungsländer nicht in der Lage sind, zu produ-
lieren, Reformen und Demokratieentwicklung voranzu- zieren und mit der nötigen Infrastruktur über Straßen,
treiben. Auf diese Weise wird auch mehr privatwirt- Häfen und Flughäfen ihre Waren zu exportieren. Des-
schaftliches Engagement staatliche Entwicklungshilfe halb kommen den in der letzten WTO-Runde vereinbar-
ergänzen können. Die Wirtschaftspartnerschaftsabkom- ten handelsbezogenen Hilfen – Stichwort: Aid for
men zwischen der Europäischen Union und den AKP- Trade – eine besondere Bedeutung zu.
Staaten werden in einer neuen Dimension handelspoliti-
sche Vereinbarungen unter entwicklungspolitischen Ge- Wir begrüßen, dass sich die Bundesministerin für
sichtspunkten verbinden. Es sind federnde Verträge, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus-
den Rahmen für unsere zukünftigen wirtschaftlichen und drücklich dafür ausgesprochen hat, die Mittel in diesem
handelspolitischen Beziehungen bilden. Sie passen sich Bereich zur Verfügung zu stellen – unabhängig von der
der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung an und wir- Frage, ob es noch zu einem erfolgreichen Abschluss der
ken im Sinne eines entwicklungspolitischen Instrumen- WTO-Runde insgesamt kommt oder nicht. Gleiches gilt
tes. für die anderen dort getroffenen positiven Beschlüsse
wie das Auslaufen der Exportsubventionen. Denn nur
Die Bundesregierung wird sich auch im Rahmen der mit einer Abschaffung der Exportsubventionen und aller
deutschen EU-Ratspräsidentschaft für den erfolgreichen handelsverzerrenden internen Stützungen eröffnen sich
Abschluss der EU-AKP-Verhandlungen einsetzen. Die faire Chancen für Entwicklungsländer.
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen sollen zu einer
nachhaltigen Entwicklung in dieser Region beitragen Letztlich muss also beides geleistet werden: Wir brau-
und so auch der Erreichung der Millenniumsziele, der chen mehr Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, um
Armutsbekämpfung, in den AKP-Ländern dienen. Fal- die ärmsten Länder in die Lage zu versetzen, zu produ-
sche Behauptungen und undifferenzierte Darstellungen zieren und Handel zu treiben, und wir brauchen gerechte
von Fakten sind hierbei nicht dienlich. Die CDU/CSU- Welthandelsregeln, damit lokale Märkte nicht durch Ex-
Fraktion lehnt daher den Antrag der Fraktion Die Linke portdumping gestört werden und die Exportprodukte der
ab. Entwicklungsländer auch in der EU und in den anderen
Industrieländern ohne Hindernisse verkauft werden kön-
(B) nen. Was wir jedoch nicht brauchen, ist dieser Antrag (D)
Dr. Sascha Raabe (SPD): Es steht der Antrag der der Linkspartei, wonach die Entwicklungsländer sich auf
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für solidarische und ihre regionalen Märkte zurückziehen und sich nicht am
entwicklungspolitische kohärente Wirtschaftspartner- Wettbewerb ausrichten sollen. Natürlich ist es notwen-
schaftsabkommen“ zur Debatte. Thematisch geht es hier dig, den Entwicklungsländern Außenschutz für ihre im
um die zurzeit stattfindenden Verhandlungen zwischen Aufbau befindlichen Industriezweige einzuräumen und
der Europäischen Union und den ehemaligen Kolonien besonders die für die Ernährungssicherheit wichtigen
im Afrikanischen, Karibischen und Pazifischen Raum, Agrarbereiche zu schützen.
AKP, die zu einem erfolgreichen Abschluss der so ge-
nannten Economic Partnership Agreements, EPA, führen In mehreren Anträgen zu den WTO-Verhandlungen
sollen. Seit 1975 wurden die politischen und ökonomi- hat sich die SPD-Bundestagsfraktion bereits klar dafür
schen Beziehungen zwischen den beiden Blöcken durch und für ein „special and differential treatment“ der Ent-
eine Reihe fünfjähriger Loméabkommen geregelt. Diese wicklungsländer ausgesprochen. Allerdings – und da
sind von der Welthandelsorganisation, WTO, für wettbe- liegt der große Unterschied zur Linkspartei – sehen wir
werbswidrig erklärt worden. Das letzte Loméabkommen die besonderen Schutzrechte der Entwicklungsländer
endete 2000 und wurde durch das Cotonouabkommen nicht als Selbstzweck, damit die Entwicklungsländer für
ersetzt. Darin sagten die EU den AKP-Staaten zu, das alle Zeiten vor Wettbewerb geschützt und somit ausge-
Präferenzsystem bis Ende 2007 beizubehalten und es schlossen sind, sondern wir sehen sie als Entwick-
dann durch neue, WTO-konforme Wirtschaftspartner- lungschance mit dem Ziel, dass die Entwicklungsländer
schaftsabkommen zu ersetzen. eines Tages wettbewerbsfähig sind. Die Globalisierung
soll eben nicht nur den Industrienationen nützen, son-
Die EPAs sollen kein rein handelspolitisches Instru- dern auch Länder, die wir jetzt noch Entwicklungsländer
ment sein, sondern entwicklungs- und handelspolitische nennen, sollen eines Tages im Wettbewerb stehen und
Aspekte verknüpfen. Uns Europäern ist selbstverständ- somit zu echtem Wohlstand kommen können. Der An-
lich klar, dass es für die über 70 AKP-Staaten um sehr trag der Linkspartei lässt im Inhalt genau die Kohärenz
viel mehr geht als für uns. Schließlich gehen etwa fehlen, die er im Titel einfordert.
40 Prozent der AKP-Exporte in die EU, während umge-
kehrt die AKP-Länder einen für die EU relativ kleinen Die Linkspartei und einige NGOs sollten zur Kennt-
Absatzmarkt darstellen. Dennoch liegt es im beiderseiti- nis nehmen, dass die betroffenen Länder selbst keines-
gen Interesse, die EPA-Verhandlungen erfolgreich abzu- wegs einen Stopp der EPA-Verhandlungen oder ein ver-
schließen. Schließlich kann uns Hunger und Armut in ändertes Mandat fordern. Die afrikanischen Staaten sind
Afrika nicht egal sein. Die Millenniumsentwicklungs- heutzutage zum Glück selbstbewusst genug, um für sich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6267

(A) selbst sprechen zu können und brauchen keine Bevor- 1996 auf 854 Millionen in 2005 angestiegen ist. Nur in (C)
mundung durch die Linkspartei. Unabhängig von der Asien sei die Zahl der Hungernden tatsächlich gesunken,
Frage der WTO-Konformität haben viele AKP-Länder aufgrund von freiem Handel und wirtschaftlicher Ent-
mittlerweile selbst erkannt, dass ihnen das bisherige Prä- wicklung in China und Indien. Auch der UNCTAD-Jah-
ferenzsystem keineswegs nur geholfen hat. Im Gegenteil resbericht 2006 attestiert, dass der Schlüssel für eine
sind durch Fehlanreize höchst korruptionsanfällige Ren- nachhaltige Armutsbekämpfung eine langfristige Ver-
tenökonomien geschaffen worden, die Hunger und Ar- besserung der Wirtschaftslage ist. Die geforderte Aufsto-
mut zementiert haben. ckung der handelsbezogenen Entwicklungshilfe, Büro-
kratieabbau bei den Zollverfahren, ein quotenfreier
Für mich sind alle armen Menschen auf der Welt Marktzugang und vereinfachte Schlichtungsverfahren
gleich viel Wert. Deswegen halte ich es auch für richtig, sind Instrumente, die den Entwicklungsländern Chancen
dass wir nicht nur den ehemaligen Kolonien der EU ei- eröffnen, am Handel teilzunehmen. Das vorläufige
nen möglichst quoten- und zollfreien Marktzugang für Scheitern der Doharunde ist daher vor allem für die Ent-
ihre Produkte einräumen, sondern allen Entwicklungs- wicklungsländer ein Rückschlag. Es zeigt einmal mehr,
ländern. Dies fördert zum einen die Wettbewerbsfähig- dass in unserer globalisierten Weltwirtschaft noch die
keit der AKP-Staaten und eröffnet zugleich vielen ande- adäquaten ordnungspolitischen Rahmenbedingungen
ren Entwicklungsländern Lateinamerikas und Asiens fehlen.
neue Chancen. Auch der Süd-Süd-Handel soll durch den
Abbau von Handelsbarrieren und Zollschranken gestärkt Wer das Gezerre bei den WTO-Verhandlungen be-
werden. Deshalb ist es richtig, die bisherigen Präferenz- trachtet, mag schnell desillusioniert sein. Zu viele natio-
systeme für die AKP-Staaten, die oft zulasten anderer ar- nale Eifersüchteleien, undurchschaubare Allianzen und
mer Länder gingen, umzuwandeln in Wirtschaftspartner- oftmals auch der schiere Unverstand blockieren die not-
schaftsabkommen und gleichzeitig auf WTO-Ebene wendigen Veränderungen. Aber das bedeutet nicht, dass
ähnliche Regelungen für alle Entwicklungsländer anzu- diese deshalb unmöglich wären. Es ist eben einfacher,
streben. auf Demonstrationen die Probleme zu beklagen und dies
bereits als Lösung anzubieten, als die notwendigen
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich auch weiter-
strukturellen Veränderungen auch gegen Widerstände
hin für die wirtschaftliche Entwicklung und für die Wett-
durchzusetzen.
bewerbsfähigkeit von Entwicklungsländern einsetzen.
Deshalb können wir dem Antrag der Linkspartei nicht Auf der anderen Seite müssen sich die Marktteilneh-
zustimmen. mer und damit auch die einzelnen Volkswirtschaften auf
die globalisierten Märkte einlassen und sich ihnen öff-
(B) Hellmut Königshaus (FDP): Der Antrag spricht ein nen. Das gilt ganz besonders für die Staaten der Erde, die (D)
sehr wichtiges Thema an, nämlich die Wirtschaftspart- bisher kaum vom internationalen Warenaustausch profi-
nerschaftsabkommen zwischen der EU und den AKP- tiert haben, also vor allem die Staaten Zentralafrikas.
Staaten. Leider suchen die Antragssteller einmal mehr Diesen Staaten muss und wird die weltweite Staatenge-
ihr Heil in der Abschottung. Richtig ist aber: Das Gegen- meinschaft durch verstärkte Entwicklungszusammenar-
teil würde den Entwicklungsländern am meisten dienen. beit helfen. Deutschland kann da mit gutem Beispiel vo-
Sie wollen gewiss das Beste, aber sie schaden damit in rangehen. Aber diese Staaten müssen auch selbst das
Wirklichkeit den Ärmsten der Armen, den am schwächs- Feld bereiten, damit diese Saat aufgehen kann.
ten entwickelten Volkswirtschaften der Welt. Denn diese
Entwicklungszusammenarbeit kann nur dann einen
würden doch vom internationalen Austausch am meisten
wirksamen Beitrag zur nachhaltigen Überwindung von
profitieren.
Armut und Unterentwicklung leisten, wenn die Entwick-
Die einseitigen Handelspräferenzen der Loméver- lungsländer selbst eine sozial und ökologisch verantwor-
träge zugunsten der AKP-Staaten verstießen gegen tungsvolle Politik verfolgen, die die Leistungen des Ein-
WTO-Handelsvereinbarungen, sodass eine grundsätzlich zelnen im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung
neue Vertragsgrundlage erforderlich wurde. Mit dem anerkennt und den Aufbau demokratischer und rechts-
Abschluss des Cotonouabkommens im Jahr 2000 wurde staatlicher Gesellschaftsstrukturen fördert. Überall dort,
das Sonderverhältnis der EU zu den AKP-Staaten in wo derartige ordnungspolitische Rahmenbedingungen
Form von WTO-konformen Wirtschaftspartnerschafts- geschaffen wurden, konnten selbst ehrgeizige Entwick-
abkommen fortgesetzt. Bis Ende 2007 sollen nun die lungsziele schnell erreicht werden, und dort, wo das Ge-
Verhandlungen mit sechs einzelnen Regionalgruppen ab- genteil geschah, konnte man erleben, dass vormals blü-
geschlossen sein, damit bis zum 1. Januar 2008 das Co- hende Volkswirtschaften einen rapiden Absturz und eine
tonou-Abkommen umgesetzt werden kann. Eine ent- beängstigende Verarmung der Bevölkerung erlitten, wie
scheidende Phase der Verhandlungen über die etwa in Simbabwe.
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen fällt also in die Zu-
ständigkeit der Bundesregierung durch die deutsche Das vornehmste Ziel der Entwicklungspolitik muss
Ratspräsidentschaft. sein, sich selbst langfristig überflüssig zu machen. Dies
ist gewiss eine Binsenweisheit, aber sie gerät in der Pra-
Der Zugang zu den internationalen Märkten ist ein xis oftmals aus dem Blickfeld. Entwicklungshilfe darf
wichtiges Instrument der Entwicklungspolitik. Die neu- nicht Abhängigkeiten schaffen und zur Weltsozialhilfe
esten Zahlen der FAO zeigen, dass die Zahl der Men- werden. Gute Entwicklungspolitik setzt daher bei der
schen ohne ausreichende Nahrung von 840 Millionen in Armutsbekämpfung auf die Bekämpfung der Ursachen
6268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) und somit vor allem auf die Stärkung der Eigeninitiative schen Rat, Kommission und Europäischem Parlament (C)
der Partner. Dabei darf der Grundsatz von Good Gover- beschlossene „Europäische Konsens über die Entwick-
nance nicht zu einer begleitenden Floskel werden, son- lungspolitik“ noch der Verfassungsvertrag sehen hin-
dern muss vielmehr zu einer verbindlichen Vorausset- sichtlich der Komplementarität der Europäischen Ent-
zung jeder Unterstützung werden. In diesem wicklungszusammenarbeit Veränderungen vor. Wenn
Zusammenhang muss auch eine sinnvolle Entschul- der Grundsatz der Komplementarität europäischer Ent-
dungspolitik vorangetrieben werden. Dabei liegt die Be- wicklungszusammenarbeit Bestand haben soll, muss
tonung auf „sinnvoll“. Leider ist dies nicht überall der sich die Europäische Kommission wieder auf ihre Kern-
Fall. aufgaben konzentrieren.
Die Beispiele vieler erfolgreicher Schwellenländer Im Mittelpunkt der Arbeit der EU-Kommission muss
belegen, dass es möglich ist, unter den richtigen Rah- die Geberkoordination stehen. Sie soll koordinierend
menbedingungen die Entwicklungsziele zu erreichen. dann tätig werden, wenn mehrere Mitgliedstaaten ge-
Leider zeigt sich aber vereinzelt auch, dass diese dann meinsam ein Projekt oder ein Programm durchführen
im Rahmen der Welthandelsorganisation keineswegs oder unterstützen wollen. Die Entwicklungspolitik der
durchgängig die Grundsätze vertreten, denen sie ihren Europäischen Union muss sich auf solche Länder und
eigenen Aufschwung verdanken. Der zweifelhafte Pro- Themen beschränken, die von den nationalen entwick-
tektionismus, wie er in der brasilianischen Zuckerpolitik lungspolitischen Aktivitäten nicht abgedeckt werden
zum Ausdruck kommt, mag hier als Beispiel dienen. können oder wo die Europäische Union eine originäre
Während Voraussetzungen für eine Teilhabe am inter- Kompetenz hat, etwa bei der Förderung des internationa-
nationalen Warenaustausch in den Entwicklungsstaaten len Handels oder grenzüberschreitender regionaler Ini-
geschaffen und gefördert werden, muss gleichzeitig die tiativen und Organisationen. Das ist bei den Wirtschafts-
Globalisierung als Entwicklungsfaktor für die ganze partnerschaftsabkommen zweifellos der Fall.
Welt vorangetrieben werden. Das entwicklungspoliti- Aber der EEF muss endlich im Interesse der Effekti-
sche Potenzial des freien Welthandels ist noch lange vität der EU-Außenhilfe und zur demokratischen Legiti-
nicht ausgeschöpft. Die Chancen der Globalisierung mierung durch parlamentarische Kontrolle in den EU-
müssen für eine schnelle Einbeziehung der Entwick- Haushalt integriert werden. Die Erfahrungen seit der Er-
lungsländer genutzt und Handelsbarrieren müssen zu ih- richtung des Fonds haben gezeigt, dass die Fondsstruk-
ren Gunsten aufgehoben werden. Dies setzt vor allem tur des EEF und seine Finanzierung außerhalb des EU-
einen weiteren Abbau des Industrie- und Agrarprotektio- Haushaltes einer effektiven Hilfeleistung entgegenste-
nismus der entwickelten Welt sowie von Exportsubven- hen. Aufgrund mangelnder Absorptionskapazitäten der
tionen voraus. Empfängerländer und einer unzureichenden Flexibilität (D)
(B)
In einem Punkt stimme ich den Antragsstellern zu: des EEF-Systems blieben die Auszahlungen weit hinter
Wir brauchen mehr Transparenz bei den Verhandlungen. der zugesicherten Gesamtdotation zurück, mit der Folge,
Aber genau da liegt das Problem. Die Wirtschaftspart- dass sich nicht gebundene und nicht ausgezahlte Restsal-
nerschaftsabkommen werden von dem Europäischen den in beträchtlicher Höhe angesammelt haben.
Entwicklungsfonds finanziert und der unterliegt nicht Mit der Integration des EEF in den EU-Haushalt wür-
der Kontrolle der nationalen Parlamente oder des Euro- den die AKP-Staaten mehr Eigenständigkeit erlangen, da
päischen Parlaments. Um die Transparenz bei den Ver- die Abhängigkeit von Beiträgen der Mitgliedstaaten zum
handlungen herzustellen, sollte die Intransparenz der EEF, die nach freiem Ermessen und nach eigenem Inte-
EU-Entwicklungszusammenarbeit beendet werden. Sie, resse geleistet werden, beendet wird. Ferner würde die
insbesondere die Kollegen der Koalition, sollten aufhö- Budgetierung des EEF für die Transparenz sämtlicher
ren, jede Extra-Million an die EU zu bejubeln, sobald sie Ausgaben an Drittländer sorgen, die bereits innerhalb
nur ja auf die ODA-Quote angerechnet werden kann. von Europe Aid verwaltungstechnisch gebündelt sind.
Das Grundproblem ist doch Folgendes: Seit Jahren Dem Argument, die Aufrechterhaltung der partner-
findet eine schleichende Europäisierung der entwick- schaftlichen Sonderbeziehungen zu der AKP-Region be-
lungspolitischen Aktivitäten ohne eine entsprechende dinge die Beibehaltung der bisherigen Strukturen, be-
vertragliche Erweiterung der Rechtsgrundlagen statt. gegnet die Kommission selbst damit, dass die seit
Die EU verhält sich entwicklungspolitisch faktisch wie 50 Jahren bestehenden engen Beziehungen zu einem
ein zusätzlicher Geber, der in denselben Ländern und echten Besitzstand, im Sinne der „Acquis“, geworden
denselben Themenbereichen wie die Mitgliedstaaten sei, der mit der Budgetierung des EEF nicht verloren
selbst tätig ist. Der Grundsatz der Subsidiarität wird zu- ginge. Zudem ist zu fragen, ob solche „Besitzstände“
nehmend missachtet. weiter verfestigt werden sollen oder ob sie nicht viel-
mehr einer regelmäßigen Überprüfung bedürfen, ob und
Mit dem Argument, entwicklungspolitische Ziele wieweit sie noch zu rechtfertigen sind.
wirksamer verfolgen zu können, wird der Ruf nach einer
stärkeren Übertragung nationalstaatlicher Entwicklungs- Die Integration des EEF in den EU-Haushalt würde
politik nach Brüssel immer lauter. Die Mitgliedstaaten nicht nur für Budgetklarheit sorgen, sondern würde
haben sich jedoch aus gutem Grund im Hinblick auf den durch die damit gewährleisteten Kontrollrechte des Eu-
Grundsatz der Subsidiarität ausdrücklich gegen eine sol- ropäischen Parlaments zu Transparenz und mehr Legiti-
che Ausweitung der gemeinschaftlichen Entwicklungs- mität der Europäischen Entwicklungszusammenarbeit
politik entschieden. Weder der im November 2005 zwi- führen. Darüber hinaus ist die unterschiedliche Behand-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6269

(A) lung der AKP-Staaten einerseits und der restlichen Ent- entwicklungspolitisch kohärente Verhandlungen formu- (C)
wicklungsländer andererseits heute nicht mehr zu recht- liert wird.
fertigen. Entweder sind diese Staaten und Gebiete
bedürftig – dann sollten sie nach den allgemeinen Krite- Sollte der Bundestag uns folgen, wäre er in guter Ge-
rien im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ge- sellschaft: Der EU-Ausschuss der französischen National-
fördert werden – oder sie sind es nicht; dann sollten auch versammlung – übrigens über alle Parteigrenzen hinweg –
keine Steuermittel mehr zur Verfügung gestellt werden. und etliche Abgeordnete des britischen Parlaments stellen
So müssen wir auch die Wirtschaftspartnerschaftsab- diese Forderung ebenfalls auf. Und auch wenn Frau
kommen beurteilen, nämlich als nötigen ersten Schritt, Wieczorek-Zeul noch so oft betont, dass die AKP-Regie-
der nicht auf die AKP-Länder beschränkt bleiben darf. rungen den Abschluss von EPA anstreben und das gültige
Verhandlungsmandat der EU-Kommission nicht infrage
Heike Hänsel (DIE LINKE): „Wir müssen uns ein- stellen, haben die AKP-Regierungen doch ihre Kritik an
setzen für faire Bedingungen im Welthandel.“ Das sagte der Verhandlungsführung der EU-Kommission mehrfach
die Bundeskanzlerin in ihrer wöchentlichen Videobot- überdeutlich geäußert, zum Beispiel auf der Handelsmi-
schaft am 7. Oktober, in der sie die Schwerpunkte der nisterkonferenz der Afrikanischen Union im April dieses
deutschen EU-Ratspräsidentschaft beschreibt. Das klingt Jahres. Dort wurde ganz klar kritisiert, die EU berücksich-
zwar gut. Gemeint ist jedoch nicht etwa, faire Entwick- tige Entwicklungsbelange in den Verhandlungen nicht
lungs- und Handelsbedingungen für die Partnerinnen ausreichend.
und Partner im Süden zu schaffen; im Gegenteil: Bun-
In den EPA-Verhandlungen stehen sich ungleiche
desregierung und EU-Kommission geht es darum, EU-
Partner gegenüber. Auf der einen Seite die EU-Kommis-
ansässigen Unternehmen den Weg in die Märkte der
Schwellen- und Entwicklungsländer zu ebnen und dabei sion, die einen der mächtigsten Wirtschaftsblöcke ver-
alle Regulierungen – in der EU und in den Ländern des tritt, auf der anderen die AKP-Staaten, von denen viele
Südens – zu beseitigen, die im globalen Wettbewerb da- zu den am wenigsten entwickelten Staaten der Welt ge-
bei hinderlich sein könnten, schwächere Konkurrenten hören. Zur Kritik an der Verhandlungsführung der EU
aus dem Weg zu räumen. gehört ja gerade, dass sie diese Asymmetrie und die
hohe Abhängigkeit der AKP-Staaten voll ausspielt und
Trotz aller Beschwörungen der Entwicklungsministe- die AKP-Staaten entsprechend unter Druck setzt. 2007
rin, die wir auch gestern wieder im Ausschuss gehört ha- läuft die Verlängerung des Präferenzsystems von Lomé
ben, teile ich die Kritik vieler Nichtregierungsorganisa- aus und die AKP-Staaten haben viel zu verlieren: Sie
tionen: Auch in den Verhandlungen zu den EPA, den führen 40 Prozent ihrer Exporte in die EU aus, während
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU das umgekehrt nur für 3 Prozent gilt. Auch die Auszah- (D)
(B)
und den AKP-Staaten, geht es in erster Linie um aggres- lungen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds sind
sive Marktöffnung für EU-Konzerne. letztlich an die Unterzeichnung der EPA geknüpft. Frau
Frau Wieczorek-Zeul bezeichnete gestern im Aus- Wieczorek-Zeuls Hinweis ist deshalb zynisch. Die AKP-
schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Staaten haben keine Wahl. Deshalb ist es genau richtig,
wicklung die EPA als Alternative zur Doharunde der wenn die Initiative für eine Neuformulierung des Ver-
Welthandelsorganisation (WTO) – in dem Sinne, dass handlungsmandats der EU-Kommission von Europa aus-
dort die Verknüpfung von Entwicklung und Handel vor- geht.
bildhaft gelinge. Eines ist daran wahr: Die Energie, mit
In den Dokumenten der Europäischen Union und in
der die EU-Kommission an den EPAs verhandelt, hängt
unserem Ausschuss ist ständig die Rede von Politikko-
tatsächlich mit der Blockadesituation in der WTO zu-
härenz. Der Europäische Entwicklungskonsens fordert,
sammen. Dabei geht es der EU-Kommission aber weni-
dass die Ziele der Entwicklungszusammenarbeit auf al-
ger um Entwicklung, sondern vor allem um die Durch-
setzung von Handelsliberalisierungen. Es ist schließlich len Politikfeldern der EU Berücksichtigung finden müs-
nicht umsonst der Handels- und nicht der Entwicklungs- sen. Die Praxis sieht völlig anders aus. In den EPA-Ver-
kommissar der EU, der die Verhandlungen mit den handlungen ist von Kohärenz nichts zu sehen. Sollte sich
AKP-Staaten führt. Noch weit über die Agenda von die EU-Kommission mit ihrer aktuellen Verhandlungsli-
Doha hinaus strebt die EU-Kommission Freihandelsab- nie durchsetzen, würden Entwicklungsziele massiv un-
kommen mit den Regionalgruppen der AKP-Staaten an. terlaufen. Als Folge der EPA wären die Produzenten in
Sie will eine sehr weitgehende und überwiegend rezi- den AKP-Staaten einem ungleichen Wettbewerb mit den
proke Handelsliberalisierung durchsetzen, obwohl das effizienteren und überdies oft subventionierten Produ-
Abkommen von Cotonou noch von „Differentiation“ zenten der EU ausgesetzt, in dessen Ergebnis sie von ih-
spricht, also von der Berücksichtigung des Entwick- ren lokalen und nationalen Märkten verdrängt würden.
lungsgefälles zwischen den Vertragspartnern. Zusätzlich Der EU-Ausschuss der Assemblée Nationale spricht von
fordert die EU, die Bereiche Wettbewerbspolitik, Inves- einem vierfachen Schock, der auf die AKP-Staaten zu-
titionen und öffentliches Beschaffungswesen, die die komme: für die Landwirtschaft, für im Aufbau befindli-
Länder des Südens erfolgreich aus den WTO-Verhand- che Industrien, für die Haushalte (aufgrund sinkender
lungen heraushalten konnten, mit in die Verhandlungen Zolleinnahmen) und für die Handelsbilanzen. Aminata
um die EPA einzubeziehen. Die Linke fordert deshalb, Traoré, ehemalige Kultusministerin Malis, bezeichnete
dass der EU-Kommission das Verhandlungsmandat ent- die Freihandelsabkommen gar als die „Massenvernich-
zogen und dass ein neues Mandat für solidarische und tungswaffen“ Europas.
6270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Die Linke setzt sich für eine andere EU-Außenhan- umgekehrt nur der kleinste Teil der EU-Waren den Weg (C)
delspolitik gegenüber den Ländern des Südens ein, die in die AKP-Länder.
dem UN-Menschenrecht auf Entwicklung, dem Schutz
heimischer und regionaler Märkte und den international Partnerschaft kann unter solchen Rahmenbedingun-
festgelegten Zielen der Armutsbekämpfung verpflichtet gen schnell zum Euphemismus werden. Die Probleme,
ist. In deren Mittelpunkt darf nicht der Wettbewerb, son- die sich im Rahmen der EPA-Verhandlungen stellen, lie-
dern muss der solidarische Austausch mit den wirt- gen für mich auf drei Ebenen.
schaftlich schwächeren Partnern stehen. Ich unterstrei-
a) Die ökonomischen Risiken liegen aufgrund der un-
che deshalb unsere Forderung, die wir heute hier im
gleichen Gewichte eindeutig auf der Seite der AKP-Län-
Bundestag und zugleich gemeinsam mit vielen Abgeord-
der. Wir müssen diese Risiken für die ärmsten Länder
neten in anderen EU-Ländern stellen, dass der EU-Kom-
begrenzen und in Potenziale umwandeln. Dies kann aber
mission das Mandat zu den EPA-Verhandlungen entzo-
nur mit einem eindeutigen Entwicklungsmandat gesche-
gen und dass ein neues, entwicklungspolitisch
hen. Die EPAs müssen den Marktzugang zur EU verbes-
kohärentes Mandat formuliert wird. Sowohl in der Euro-
sern. Die EU-Agrarsubventionen müssen so einge-
päischen Union als auch in ihren Partnerstaaten dürfen
schränkt werden, dass mit dem Agrardumping Schluss
soziale und ökologische Standards nicht der Wettbe-
gemacht wird. Damit wird Druck von Millionen von
werbsfähigkeit geopfert werden. Es darf kein Druck auf
Produzenten in den AKP-Ländern genommen, die mit
die Verhandlungspartner ausgeübt werden, ihre Binnen-
der hoch subventionierten europäischen Lebensmittelin-
bzw. regionalen Wirtschaftsräume durch Liberalisierung
dustrie nicht konkurrieren können.
zu gefährden. In volkswirtschaftlich, ökologisch, sozial
oder kulturell sensiblen Bereichen dürfen keine Liberali- b) Während die EPAs für die AKP-Länder wirtschaft-
sierungen verlangt werden. Alle Verhandlungen müssen lich äußerst bedeutend sind, haben sie für die EU vor al-
künftig offen und öffentlich geführt werden. Sie müssen lem eine politische Bedeutung. Auf dieser Ebene liegen
von einer regelmäßigen sozialen, ökologischen und kul- aus meiner Sicht auch die Hauptgefahren. Nach dem
turellen Folgenabschätzung auf der Grundlage von ge- Scheitern der WTO-Verhandlungen gilt es, sehr genau
meinsam mit zivilgesellschaftlichen Gruppen erarbeite- zu beobachten, welche Exempel bei bilateralen und bire-
ten Maßstäben begleitet werden. Dies wäre ein gionalen Handelsabkommen statuiert werden. Tragen
wesentlicher Beitrag zur Umsetzung der UN-Millen- die EPAs dazu bei, die Chancen für ein zukünftiges mul-
niumsziele. tilaterales Abkommen zu erhöhen, oder nehmen sie Ent-
scheidungen vorweg, die im Gegensatz zu den Zielen
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Co- der Dohaentwicklungsrunde stehen? Für mich ist klar,
(B) tonouabkommen von 2000 regelt die wirtschafts- und dass im Rahmen der EPA keine Themen wie Investitio- (D)
handelspolitische Zusammenarbeit der Europäischen nen, Wettbewerbspolitik und öffentliches Beschaffungs-
Union, EU, mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des wesen verhandelt werden dürfen, die als so genannte
Pazifiks, AKP, – neu. Es sieht den Abschluss von Wirt- Singapurthemen von der WTO-Entwicklungsrunde aus-
schaftspartnerschaftsabkommen, EPA, – vor. Sie haben genommen wurden. Gleichzeitig dürfen keine weitge-
das erklärte Ziel, die Armut zu bekämpfen und eine henden Abkommen in den Bereichen geistiger Eigen-
nachhaltige Entwicklung zu fördern. Doch die traurige tumsrechte, TRIPS, und Dienstleistungen abgeschlossen
Wahrheit ist, dass diese entwicklungspolitische Ausrich- werden, die das Lager der Entwicklungsländer für die
tung im bisherigen Verhandlungsprozess nicht konse- weiteren Verhandlungen im WTO-Prozess nachhaltig
quent und kohärent umgesetzt worden ist. spalten.

Wir Grünen wollen, dass es in diesen Verhandlungen c) Ich möchte auf ein ganz besonderes Problem hin-
Fortschritte gibt und mit den AKP-Staaten belastbare weisen. Obwohl die EPAs im Zusammenhang mit dem
Entwicklungspartnerschaftsabkommen abgeschlossen wer- Cotonouabkommen stehen, werden sie vom EU-Han-
den. Immerhin sind 39 der 50 so genannten LDCs zu- delskommissar und nicht von Louis Michel, dem Ent-
gleich AKP-Länder. Ich verwende mit Bedacht den Be- wicklungskommissar, verhandelt. Dieser sitzt am Kat-
griff „Entwicklungspartnerschaftsabkommen“, denn nur zentisch der EPA-Verhandlungen. Es war schon absurd,
darum kann es gehen! Und wir müssen noch nicht einmal dass der Entwicklungskommissar der EU an den WTO-
einen neuen Namen erfinden: EPA bedeutet für Entwick- Ministertreffen nicht teilnehmen durfte. Dass er bei den
lungspartnerschaftsabkommen; das passt perfekt! Partnerschaftsabkommen aber nicht mindestens gleich-
berechtigt mitverhandelt, ist nicht hinnehmbar. Wer,
Die EU muss ihre Strategie überdenken und die Part- wenn nicht die EU-Entwicklungspolitikerinnen und -po-
nerschaft mit den AKP-Ländern vom Kopf auf die Füße litiker, sollen denn für die Entwicklungsverträglichkeit
stellen: Zukunft durch Entwicklung geht vor Freihandel. der Abkommen auf EU-Seite eintreten? Wenn ich das
Entscheidend ist, dass die Zusammenarbeit zur Armuts- Ganze auf deutsche Verhältnisse übertrage: Vom Wirt-
und Hungerbekämpfung beiträgt. Wir wissen: Wir haben schaftsministerium erwarte ich nie und nimmer eine Ent-
es bei den Verhandlungen zwischen der EU und den wicklungsagenda; dort steht die „Kampftruppe der deut-
AKP-Staaten mit sehr ungleichen Partnern zu tun. Das schen Unternehmerschaft“. Dies mag für bestimmte
Nationaleinkommen der AKP-Länder macht gerade ein- Aufgaben seine Berechtigung haben, in Verhandlungen
mal 3 Prozent von dem der EU aus. Während mehr als mit den ärmsten Ländern macht dies aber überhaupt kei-
40 Prozent der AKP-Exporte in die EU gehen, findet nen Sinn.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6271

(A) Glücklicherweise ist in Deutschland für die EPAs das wird nach Abschluss der Messungen das Abbauziel ver- (C)
Entwicklungsministerium zuständig. Daraus erwächst kündet und mit der Selbstverpflichtung jedes einzelnen
eine besondere Verantwortung für die deutsche EU-Rats- Ressorts begonnen. Hier waren die Medien schlicht und
präsidentschaft. Das entwicklungspolitische Mandat für einfach falsch informiert, wenn dieser Tage in der Zei-
die EPAs muss entschieden gestärkt werden. Ich hoffe tung von der Verkündung des Abbauziels in 2008 ge-
darüber hinaus, dass von der deutschen EU-Präsident- schrieben steht. Hüten Sie sich bitte vor diesen voreili-
schaft starke Impulse für die WTO-Entwicklungsrunde gen Falschmeldungen!
ausgehen. Es muss endlich Schluss sein mit dem ent-
wicklungsfeindlichen Protektionismus und der fehlgelei- Bedenken Sie einfach nur, dass die Holländer heute
teten Agrarsubventionspolitik der EU. Nur neue und nach sechsjähriger Vorlaufzeit mit ihren SKM-Erfolgen
weit reichende EU-Angebote können die WTO-Ver- aufwarten. Wenn uns also Zeitvergeudung vorgeworfen
handlungen wieder beleben. wird, so dürfte dies frühestens im Jahr 2012 erfolgen.
Doch wir freuen uns natürlich über Kritik und Druck von
außen, zeigt es doch nur das fraktionsübergreifende Inte-
Anlage 10 resse an diesem wichtigen Thema.

Zu Protokoll gegebene Reden Parallel zur Implementierung des erfolgreichen SKM-


Modells, dessen Einführung auf europäischer Ebene die
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Bundeskanzlerin während ihrer Ratspräsidentschaft an-
die Statstik der Verdienste und Arbeitskosten strebt, betreibt die Bundesregierung auch materielle De-
(Verdienststatistikgesetz – VerdStatG) (Tages- regulierung – wie das heute vorliegende Gesetz beweist.
ordnungspunkt 19)
Ein rasches Erstes Mittelstandsentlastungsgesetz hat
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Die Reform der das BMWi vor der Sommerpause verabschiedet, schon
Lohnstatistik ist ein lobenswertes Beispiel für den Büro- bald wird das Zweite Mittelstandsentlastungsgesetz in
kratieabbau der großen Koalition. Die Wirtschaft wird den Deutschen Bundestag eingebracht. Damit machen
entlastet, ohne dass es zu wesentlichen Einschnitten in wir also deutlich, dass wir nicht bis zum Vorliegen der
die Leistungsfähigkeit der amtlichen Statistik kommt. Es Messergebnisse des jüngst vorgestellten deutschen Stan-
stellt einen weiteren wichtigen Schritt zur Entlastung der dard-Kosten-Modells abwarten, sondern schon jetzt die
Wirtschaft von statistischen Berichtspflichten dar. Wirtschaft von Bürokratie befreien.

Der Gesetzentwurf reiht sich ein in das Maßnahmen- Auch die übrigen Ressorts werden eigene Bürokratie-
(B) paket zum Bürokratieabbau, welches im Zuge des Ersten entlastungsgesetze vorlegen. Hier ist jedes Haus am Zug, (D)
Mittelstandsentlastungesetzes auf den Weg gebracht auch schon vor Festlegung des jeweiligen prozentualen
wird. Anstelle der bisher vierteljährlichen und jährlichen Abbauziels.
Verdiensterhebung soll nur noch die vierteljährliche Er-
hebung durchgeführt werden. Der neue Normenkontrollrat hat ab Oktober seine Ar-
beit begonnen. So werden wir in Zukunft eine exakte
Verdiensterhebungen in der Landwirtschaft werden Kostenbelastung für die Wirtschaft bei Gesetzentwürfen
nur noch alle vier Jahre durchgeführt; in der Zwischen- vor Augen haben und Bürokratie vermeiden können. Der
zeit erfolgen Schätzungen durch das Statistische Bun- Normenkontrollrat wird sich zugleich auch bestehende
desamt. Besondere Verdiensterhebungen im Handwerk Gesetz vorknöpfen und uns konkrete Bürokratieabbau-
entfallen künftig, da sie nach EG-Recht nicht nötig sind. ziele aufzeigen.
Die aus EG-rechtlichen Gründen weiterhin erforderli- In der Vergangenheit wurde die Bürokratiekostendis-
che vierteljährliche Verdiensterhebung wird somit bei kussion regelmäßig vor dem Hintergrund einer wenig
unveränderter Stichprobengröße gleichmäßiger auf die fundierten Debatte geführt. Die Ermittlung der Gesamt-
Gesamtwirtschaft verteilt. Dies verringert die Statistik- belastung wurde nahezu ausschließlich auf Basis subjek-
lasten, insbesondere im besonders betroffenen verarbei- tiver Einschätzungen vorgenommen. Nun werden wir
tenden Gewerbe. Eine insgesamt gerechtere Verteilung erstmalig mit fundierten Zahlen arbeiten können. Dabei
und vor allem eine Entlastung der kleinen und mittleren ist die Einführung des SKM für uns aber auch ein Entde-
Unternehmen des produzierenden Gewerbes werden da- ckungsverfahren. Ich begrüße es dabei außerordentlich,
mit erreicht. Damit begrüßen wir die geplante Stoßrich- dass die so genannte Nullmessung durch die Beamten
tung des Gesetzes, nämlich die Erhebungen auf den mithilfe des Statistischen Bundesamtes selbst durchge-
Dienstleistungssektor auszudehnen, ohne den Stichpro- führt wird. Das hat auch etwas mit Mentalitätswechsel
benumfang zu erhöhen. zu tun, den wir uns nicht einfach teuer durch externe Be-
Auch wenn dieser Tage interessengelenkt versucht rater einkaufen, sondern den wir uns – auch wenn es mü-
wird, das Bürokratieabbauprojekt zu zerreden, so sage hevoll sein kann – selbst aneignen.
ich Ihnen als Mitglied der Koalitionsfraktion und mit In-
formationen aus erster Hand, dass die Bundesregierung, Die Beamten in den Ressorts sind durch fundierte
respektive das Bundeskanzleramt, auf Kurs ist. Schulungen auf das Messverfahren vorbereitet worden.
Die Schulungen sind gut angekommen; daher verwun-
Die Identifizierung bestehender Informationspflich- dern mich ehrlich gesagt Äußerungen über angebliche
ten der Wirtschaft ist abgeschlossen. Im nächsten Jahr fehlende fachliche Qualifizierungen.
6272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Noch ein, zwei Bemerkungen zur Rolle des Statisti- übermittelt werden. Damit sind wir in der Lage, die EG- (C)
schen Bundesamtes: Das Amt verfügt über die notwen- Verordnungen für ein integriertes System der Verdienst-
digen Erfahrungen im Umgang mit den gefragten Erhe- und Arbeitskostenstatistik zu erfüllen.
bungsmethoden und steht regelmäßig in Kontakt mit der
Die Neuregelungen, die wir jetzt beschließen, umfas-
Wirtschaft. Das Amt wird zentral den Messprozess steu-
sen: den Wegfall einer jährlichen Verdiensterhebung, die
ern. Das bedeutet eine Ressourcen sparende Umsetzung
im produzierenden und im Dienstleistungsgewerbe bis-
des Verfahrens. Last, but not least werden die Unterneh-
her neben den unterjährigen Erhebungen durchgeführt
mer nicht mit einer Vielzahl einzelner und unkoordinier-
wurden; die Verdiensterhebungen in der Landwirtschaft,
ter Erhebungen durch verschiedene Akteure belastet.
die jetzt nicht mehr jährlich, sondern nur noch alle vier
Denn die eigentliche Anwendung des Standardkos- Jahre durchgeführt werden; den Wegfall der besonderen
tenmodells ist im Grunde Datenerhebung, Datenaufbe- Verdiensterhebungen im Handwerk, die eigentlich zur
reitung und Datenauswertung. Dies ist das originäre Ar- Erfüllung der Verpflichtungen nach EG-Recht gar nicht
beitsgebiet der amtlichen Statistik. Die Bundesregierung nötig sind; und die mehrjährlichen Verdienststruktur- und
nutzt im Sinne moderater Haushaltspolitik bestehendes, Arbeitskostenerhebungen werden gemäß den einschlägi-
entsprechend geschultes Personal. Und dem Amt liegen gen EG-Verordnungen auf die gesamte Wirtschaft ausge-
zahlreiche, für die SKM-Messung benötigte Informatio- dehnt. Dadurch werden bei gleich bleibendem Ge-
nen bereits vor. samtaufwand die Berichtspflichten gleichmäßiger auf die
Gesamtwirtschaft verteilt, was sich vor allem für kleine
Ich gebe zu, dieser gewaltige Prozess ist nach außen und mittelgroße Unternehmen des produzierenden Ge-
hin weniger sichtbar. Doch nicht alles, was nach außen werbes als Entlastung auswirkt, wie insgesamt die
getragen wird, muss auch gut sein. Tag für Tag vollzieht Summe aller Maßnahmen des Verdienststatistikgesetzes
sich aber diese Reform unter Eifer und Nachdruck der zu einer deutlichen Entlastung der Wirtschaft führen
politisch Verantwortlichen. Wir als Regierungsfraktion wird.
begleiten diesen Prozess kritisch und als starker Partner.
Weil aber die Berichtspflichten jetzt für die Unterneh-
men reduziert werden, ergibt sich aufseiten der Statisti-
Doris Barnett (SPD): Das Verdienststatistikgesetz, schen Ämter der Länder und des Bundes auch ein verrin-
das wir heute verabschieden, löst das Lohnstatistikgesetz gerter Erhebungsaufwand und damit eine Entlastung.
ab. Aber es ist mehr als nur eine neue Verpackung! Es Sicher, es wird – wie immer bei solchen Gesetzen – zu-
wird die Wirtschaft, insbesondere das Handwerk, nach- nächst zu Mehrkosten bei den Ämtern in der Einfüh-
haltig entlasten, ohne auf die notwendige Datenbasis zu rungsphase kommen. Wenn wir allerdings die bisherigen
verzichten, die ja zu vielerlei Entscheidungen Grundvo- Aufwendungen zur Durchführung des geltenden Lohn-
(B) raussetzung ist. (D)
statistikgesetzes zugrunde legen und sie mit den nun-
Gerade in der heutigen Zeit, in der für unser Land als mehr zu verarbeitenden Daten und Zeiträumen verglei-
Standort wichtige wirtschaftspolitische Planungsent- chen, werden wir feststellen, dass alle Geld sparen
scheidungen fallen, sind aussagekräftige Statistiken zu werden. Die Länder werden der größte Nutznießer sein,
Arbeitsverdiensten und Arbeitskosten notwendig. Aber sie werden jährlich rund 590 000 Euro einsparen kön-
nicht nur die korrekte Datenlage – auch die Erhebung nen, auch wenn diese Summe nicht sofort beim Finanz-
der Daten ist für die Wirtschaft ein Faktor, und zwar ein minister ankommt, weil zunächst Umstellungskosten ge-
nicht unerheblicher Kostenfaktor. Und der wird umso gengerechnet werden müssen.
mehr akzeptiert, je enger die mit ihm verbundenen Sta- Auch im Haushalt des Statistischen Bundesamtes
tistiken an die Bedürfnisse seiner Nutzer angepasst sind. wird mit jährlichen Einsparungen von 20 000 Euro ge-
Das zehn Jahre alte, vor fünf Jahren zuletzt geänderte rechnet, auch hier lasse ich die einmaligen Umstellungs-
Lohnstatistikgesetz ist für eine zeitgemäße Verdienst- kosten außer Acht.
erhebung nicht mehr tauglich. Einerseits erfordert das Für die Wirtschaft enthält das Gesetz – und das will
EG-Recht eine Anpassung der nationalen Rechtsgrund- ich auch gar nicht unterschlagen – kostenbe- und -entlas-
lagen gemäß der Berichtspflicht. Andererseits ist die tende Elemente. Aber in der Summe aller gesetzlichen
jetzt noch geltende Rechtslage nicht flexibel genug, um Änderungen wird es zu weniger Kosten und Aufwand
auf einfachere Art Erhebungsmethoden zu verändern für die Wirtschaft kommen. Natürlich müssen wir immer
und auch effizienter zu gestalten. damit rechnen, dass durch unser Gesetz eventuell bei
dem einen oder anderen Unternehmen möglicherweise
Darüber hinaus ist es für uns wichtig, die aufgrund
die Kosten steigen und sich das auch für den Kunden be-
europäischer und auch deutscher Anforderungen vorzu-
merkbar macht. Allerdings dürfte das wohl die absolute
nehmenden Datenerhebungen gut aufeinander abzustim-
Ausnahme sein, die die Regel eher bestätigt!
men, um die Belastungen für die Betriebe gering zu hal-
ten. Dafür sorgen unter anderem die Möglichkeiten der Die jetzt von uns zu verabschiedende Reform der
automatisierten Datengewinnung aus dem betrieblichen Lohnstatistik ist Teil des Maßnahmenkatalogs der Bun-
Rechnungswesen, mit der so genannten Erhebungssoft- desregierung in deren Programm „Bürokratieabbau und
ware „eSTATISTIK.core“. Angaben für die Verdienst- bessere Rechtsetzung“ in der Fassung des Eckpunktepa-
erhebung können somit elektronisch aus den Lohnab- piers zum Mittelstandsentlastungsgesetz. Ich bin über-
rechnungssystemen zusammengestellt und papierlos an zeugt, dass wir mit dieser Gesetzesnovelle wieder einen
eine zentrale Annahmestelle der statistischen Ämter Schritt – über dessen Größe ich gar nicht spekulieren
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6273

(A) will – zu einer besseren Verwaltung und somit Regie- Darüber sind vor allem die folgenden Punkte zu be- (C)
rungshandeln kommen. Das haben wir uns vorgenom- mängeln: Der geplante Stichprobenumfang der verschie-
men im Interesse des Standorts Deutschland – und das denen Verdiensterhebungen ist zu weit. Danach sollen
setzen wir jetzt um. Ich wäre froh, wenn sich daran mög- pro Stichprobe 40 500 respektive 34 000 Unternehmen
lichst viele Kolleginnen und Kollegen beteiligen wür- herangezogen werden. Diese Stichprobenumfänge lassen
den, ich lade Sie auf jeden Fall gerne dazu ein. sich nicht aus den zugrunde liegenden EU-Verordnungen
ableiten. Unter der Zielsetzung einer geringen Belastung
für die Unternehmen bei statistischen Berichtspflichten
Martin Zeil (FDP): Wir beraten heute in zweiter und
– natürlich weiter unter der gleichzeitigen Gewährung
dritter Lesung über das neue Verdienststatistikgesetz,
aussagekräftiger Daten – wäre eine Reduzierung des
dass das geltende Gesetz über die Lohnstatistik zum
Stichprobenumfangs in allen Erhebungen des Verdienst-
1. Januar 2007 ablösen soll. Unter der Maßgabe der eu-
statistikgesetzes auf die Hälfte der Grundgesamtheit
ropäischen Verordnungen ist es das Ziel des neuen Ge-
sinnvoll. Daraus würde sich ein Entlastungseffekt für die
setzes, die gegenwärtige Wirtschaftsstruktur in ihrer
Unternehmen ergeben bzw. damit könnten über
ganzen Breite zu erfassen und der gestiegenen Bedeu-
20 000 Unternehmen von Berichtspflichten verschont
tung des Dienstleistungssektors auch in der statistischen
bleiben.
Erfassung Rechnung zu tragen. Gleichzeitig sollen mit
dem neuen Gesetz kleine und mittelgroße Unternehmen Die Möglichkeit, in Zukunft im Rahmen der statisti-
von Berichtspflichten entlastet werden. schen Berichtspflichten vermehrt Daten elektronisch zu
übermitteln, ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Die
Damit ist das neue Verdienststatistikgesetz ein Schritt
hier zur Anwendung kommende Software eSTATIS-
in die richtige Richtung. Wir begrüßen dabei ausdrück-
TIK.core kann mittel- bis langfristig eine geeignete da-
lich die geplante Entlastung durch die Reduzierung der
tentechnische Voraussetzung bieten. Wir nehmen aber
Verdiensterhebung und die Reduzierung der Erhebungen
auch hier die Bedenken der Unternehmen sehr ernst, die
im Bereich der Landwirtschaft und des Handwerks. Wir
anmerken, dass sich das automatisierte Datengewin-
begrüßen auch die Reduzierung der Kosten bei den sta-
nungsverfahren eSTATISTIK.core noch in der Erpro-
tistischen Landesämtern und dem Statistischen Bundes-
bungsphase befindet und ein voller Einsatz in den Unter-
amt.
nehmen bereits zu Beginn des nächsten Jahres sehr
Ich will Ihnen aber auch ganz klar sagen, warum wir unrealistisch ist. Die teils erheblichen Kosten, die mit
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Es muss der Umstellung auf den Betrieb von eSTATISTIK.core
nämlich noch einmal deutlich gemacht werden, dass Sie verbunden wären, halten vor allem viele kleinere Unter-
mit diesem Gesetz Gefahr laufen, Bürokratie auf- und nehmen von der Umstellung ab. Zudem ist der Melde-
(B) nicht abzubauen. Ich möchte Sie an Ihre Koalitionsver- weg häufig noch technisch fehleranfällig. (D)
einbarung erinnern, in der Sie das Ziel festgeschrieben
Lassen Sie mich zum Schluss noch anmerken, dass
haben, die milliardenschweren Bürokratielasten in unse-
mit der Ablösung des Lohnstatistikgesetzes durch das
rem Land zu reduzieren und neue zu vermeiden. Das
neue Verdienststatistikgesetz die Chance hätte ergriffen
leisten Sie mit diesem Gesetz nicht. Zum einen wird
werden müssen, eine umfassende Revision der komplet-
durch den Gesetzentwurf der Mittelstand vermehrt in die
ten Unternehmensstatistik einzuleiten. Gerade im Be-
Pflicht genommen, zum anderen bleiben Chancen der
reich der amtlichen Statistik sind viele Gesetze und Ver-
Entlastung – die sich hier durchaus geboten hätten – un-
ordnungen nicht aufeinander abgestimmt. Dazu wird in
genutzt. Ich will Ihnen das näher erläutern: Da der Anteil
vielen Bereichen das Potenzial von Datenbanksynergien
der kleineren und mittleren Unternehmen im Dienstleis-
nicht ausreichend genutzt, obwohl mit dem Verwal-
tungssektor höher ist als in denjenigen Wirtschaftszwei-
tungsdatenverwendungsgesetz die rechtliche Grundlage
gen, die von Berichtspflichten entlastet werden, wird es
für den Datenaustausch geschaffen wurde.
in der Summe mit der Ausdehnung der Berichtspflicht
auf den Dienstleistungssektor zu einer Zunahme der Be- Abschließend möchte ich sagen, dass die Belange der
lastung für eben diese kleineren und mittleren Unterneh- Wirtschaft und der Länder hätten ernster genommen
men kommen. Das sollte man wissen und auch entspre- werden müssen. Das neue Verdienststatistikgesetz wurde
chend berücksichtigen. Ein zentrales Ziel des nicht genutzt, die Unternehmen und Bürger in diesem
Verdienststatistikgesetzes, den durch Bürokratiekosten Land umfassender zu entlasten. Aus diesen Gründen leh-
überproportional belasteten Mittelstand von Berichts- nen wir das Gesetz ab.
pflichten zu verschonen, wird damit verfehlt.
Es muss aber auch angemerkt werden, dass eine bun- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Es kommt
desländerspezifische Erhebung nicht notwendig gewe- manchmal vor, dass jemand genau das Gegenteil von
sen wäre. Es ist zu bedauern, dass die Bundesregierung dem tut, was er ständig erzählt. Das ist diesmal bei der
im Vorfeld einen Änderungsvorschlag des Bundesrates Bundesregierung der Fall. Bisher hat die Bundesregie-
abgelehnt hat. Die Länder befürchten hier einen starken rung beklagt, es gebe zuviel amtliche Statistik und diese
Anstieg der Arbeitsbelastung in den statistischen Lan- würde kleine und mittlere Unternehmen übermäßig be-
desämtern. Die Bedenken der Länder sollten ernst ge- lasten und wirtschaftliches Wachstum hemmen. Diese
nommen werden. Da das EU-Recht keine Ausweitung Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage. Darauf
auf Landesebene vorsieht, fordern wir, auf eine solche komme ich gleich. Zunächst zum vorliegenden Entwurf
zu verzichten. des Verdienststatistikgesetzes. Damit soll die Erhebung
6274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) der Arbeitsverdienste und Arbeitskosten auf nahezu die haben. Danach fallen im produzierenden Gewerbe Be- (C)
gesamte Wirtschaft ausgeweitet werden. Bisher erfolgte triebe mit weniger als 50 tätigen Personen aus der bishe-
dies nach dem alten Lohnstatistikgesetz von 1951 nur in rigen Berichtspflicht heraus. Wenn nun aber keine ver-
der Industrie und einigen Teilen des Dienstleistungsge- lässlichen Daten über die Situation der kleinen
werbes. Unternehmen vorliegen, wie soll dann eine vernünftige
Wirtschaftspolitik für diesen Bereich gemacht werden?
Die Erfassung der Arbeitsverdienste und Arbeitskosten Vielleicht ist das auch nur ein Zeichen der Ehrlichkeit,
ist politisch sinnvoll. Eine ordentliche und verlässliche dass die Politik der großen Koalition eine Politik des
Statistik ist unabdingbar für eine verantwortungsvolle großen Kapitals ist.
Wirtschaftspolitik. Mit diesem Verdienststatistikgesetz
soll nun auch die Teilzeitbeschäftigung erfasst werden. In
einer Zeit, in der die Mini- und Midijobs, von denen man Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nicht leben kann, um sich greifen, ist das nur zu begrüßen. Bundeskanzlerin Merkel hatte zu Beginn ihrer Regie-
Die Linke stimmt deshalb dem vorliegenden Gesetzes- rungszeit angekündigt, sie wolle die Herkulesaufgabe
entwurf zu – bei aller Kritik, die wir an einzelnen Punkten Bürokratieabbau mit neuer Kraft angehen. In Würdigung
haben. Ich nenne hier nur die unnötige Streichung be- des vorliegenden Gesetzentwurfs kann ich dazu feststel-
stimmter Erhebungen im Handwerk. In Zukunft wird es len: Frau Merkel ist sicherlich kein neuer Herkules, denn
einen weniger differenzierten Einblick in die dortige Kraft, Mut und Kondition reichen bei ihr beim Bürokra-
Lage geben. tieabbau nicht einmal zum Abarbeiten von Standards.
Meine Begründung für diese Einschätzung ist ganz
Sie sehen, meine Damen und Herren von Union und
einfach. Mit dem Gesetzentwurf soll das geltende Lohn-
SPD, wir machen unsere Ankündigung wahr und beglei-
statistikgesetz durch ein neues Verdienststatistikgesetz
ten die Vorhaben der Bundesregierung in punkto Büro-
abgelöst werden. Ein erklärtes Ziel der Bundesregierung
kratieabbau konstruktiv und stimmen zu, wo etwas in die
ist es, damit die Wirtschaft von Berichtspflichten zu ent-
richtige Richtung geht. Allerdings muss man sagen: Die
lasten. So weit, so löblich.
Bundesregierung hat dieses Gesetz nicht aus rein freien
Stücken vorgelegt. Sie folgt damit zu großen Teilen den Aber: Das Ergebnis dieser Bemühungen ist mehr als
Maßgaben der EU, die Verdienststatistik an EG-Recht mager. Anstelle der bisher vierteljährlichen und jährli-
anzupassen. chen Verdiensterhebungen wollen Sie die Wirtschaft nur
noch zu den vierteljährlichen Erhebungen über Ver-
Ich sagte es bereits: Der bisherige Kurs der Bundesre- dienste und Arbeitszeiten verpflichten.
gierung bestand darin, eine Kampagne zum Abbau von
Statistikpflichten zu führen. Sie hat dies mit dem Mode- Ich muss keine Prophetin sein, um Ihnen vorhersagen
(B) wort Bürokratieabbau gerechtfertigt und behauptet, vor zu können, dass in der Wirtschaft wegen dieses Resultats (D)
allem die mittelständischen Unternehmen würden von sicherlich keine Sektkorken knallen werden.
Statistikpflichten quasi erdrückt. Was daran Propaganda
ist und was Realität, das hat jüngst eine verlässliche Un- Dabei ginge es auch anders. Wir hatten Ihnen in den
tersuchung gezeigt. Das Deutsche Institut für Wirt- Beratungen vorgeschlagen, lediglich die jährliche Erhe-
schaftsforschung hat mithilfe der statistischen Ämter die bung verpflichtend beizubehalten und stattdessen auf die
Belastung der Unternehmen durch die amtliche Statistik vierteljährlichen Datenerhebungen zu verzichten. Ein-
repräsentativ ermittelt – übrigens im Auftrag des Bundes- mal Aufwand statt fünfmal Aufwand. Das wäre eine tat-
wirtschaftsministeriums. Wir mussten lange auf eine sol- sächliche Entlastung der Wirtschaft, mit der viel Zeit
che verlässliche Untersuchung warten. Alle anderen jün- und Geld hätte gespart werden können. Die Koalition
geren Studien basierten lediglich auf der subjektiven bleibt aber lieber beim Klein-Klein und hat nicht den
Einschätzung einzelner Unternehmer. Was ist nun bei Mut aufgebracht, sich unserem Vorschlag anzuschließen
der DIW-Untersuchung heraus gekommen? 85 Prozent und den Bürokratieabbau damit wirklich einmal voran
der knapp 3,5 Millionen Unternehmen in Deutschland zu bringen. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf
meldeten 2004 überhaupt keine Daten an die statisti- auch ab.
schen Ämter. Die anderen etwa 500 000 befragten Un- Der kleinmütige Umgang prägt Ihr Verhältnis zum
ternehmen mussten durchschnittlich eine Stunde im Bürokratieabbau auch in der Gesamtschau. Kein Wun-
Durchschnitt für Fragen der amtlichen Statistik aufwen- der, dass das Handelsblatt vom vergangenen Dienstag
den. Bei kleinen Unternehmen bis neun Beschäftigte be- Ihre Bemühungen bereits als drohenden Flop bezeich-
trug der durchschnittliche Meldeaufwand lediglich eine nete. Die Kritik am Handeln der Bundesregierung ist
halbe Stunde im Monat. Es ist also nichts dran an dem vernichtend: Sie benennen keine konkreten Entlastungs-
Märchen einer erdrückenden Statistiklast für die kleinen ziele. Sie befassen die falschen Leute mit den anstehen-
und mittleren Unternehmen. den Aufgaben, und Sie kaprizieren sich aufs Messen von
Kosten und nicht auf die faktische Kostenreduzierung.
„Gute Politik braucht gute Statistik“, sagt der Vize-
präsident des statistischen Bundesamtes. Auf die gute Schon wird gespottet, bisher sei unter Ihrer Aegide le-
Politik im Interesse der Menschen warten wir vergeb- diglich eine „Bürokratieabbau-Bürokratie“ entstanden.
lich. Dafür hat die große Koalition begonnen, eine gute Für tatsächliche Änderungen aber fehlt Ihnen der Ehr-
und gesellschaftlich notwendige Statistik abzubauen. Ich geiz. Die Niederlande haben uns vorgemacht, dass es
nenne hier nur das erste Mittelstandsentlastungsgesetz, auch anders geht: Sie haben nicht nur ein ehrgeiziges
das Union und SPD vor der Sommerpause beschlossen Ziel formuliert, sondern werden dieses Ziel – Reduzie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6275

(A) rung der Bürokratiekosten um ein Viertel – voraussicht- Also zur Sache: (C)
lich auch erreichen. Dies entspräche übertragen auf die
deutschen Verhältnisse einem jährlichen Entlastungspo- Die Anstrengungen, den Hochschulpakt zu verhan-
tenzial von 20 Milliarden Euro. deln, mögen ja gelegentlich Züge des Unmöglichen
tragen. Aber es ist doch die Bundesministerin Schavan,
Dieses Potenzial für innovative Entwicklungen und die die Bemühungen um den Hochschulpakt beharrlich
mehr Beschäftigung nutzbar zu machen, wäre ein loh- vorantreibt, ja die sogar die Idee zu diesem Hochschul-
neswertes Projekt. Darum appelliere ich an Sie: Verwal- pakt hatte.
ten und vermessen Sie nicht länger den Bürokratieabbau,
sondern werden Sie initiativ. Dann können Sie auch mit Da macht es wenig Sinn, sondern verläuft sich als Op-
unserer Unterstützung rechnen, die wir Ihnen heute noch positionsmasche, schon auf halbem Wege dahin sein
versagen müssen. Scheitern zu beschwören – dies nur an die Adresse der
Grünen und der Linken. Aus Ihren Anträgen lese ich
jedenfalls nur bedingt das Bemühen heraus, den Hoch-
Anlage 11 schulpakt zum Erfolg zu führen. Sie überfrachten schon
die Anfangsmühen mit neuen Forderungen – nach mehr
Zu Protokoll gegebene Reden Geld die einen und nach Kriterien, die wirklich erst dann
relevant werden, wenn man sich länder- und bundessei-
zur Beratung der Anträge: tig in Grundsätzlichem einig geworden ist. Nun gehört
– Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen – das Schlechtreden zum Oppositionsritual, aber nützen
Studienplätze bedarfsgerecht und zügig aus- tut das hier niemandem.
bauen Schließlich ist eine höhere Studierquote im gesamt-
– Die Qualität der Hochschullehre sichern – staatlichen Interesse (das konstatieren immerhin auch
den Hochschulpakt 2020 erfolgreich ab- die Grünen) und deshalb ist es auch gut, dass es mit dem
schließen und weiterentwickeln Hochschulpakt endlich eine verabredete Zusammenar-
beit zwischen Bund und Ländern geben wird. Im Übri-
– Hochschulpakt 2020 – Kapazitätsausbau und gen wäre das in der Tat beinahe am starren Willen eini-
soziale Öffnung ger Ministerpräsidenten gescheitert, die hier in
(Tagesordnungspunkt 20 a bis c) außerordentlicher Weise auf ihrer Länderzuständigkeit
beharrten – aber es waren Bildungs- und Wissenschafts-
politiker aller politischen Couleur, die sich dann doch er-
Monika Grütters (CDU): Hochschulpolitik hat ein- folgreich für die jetzigen Varianten im föderalistischen
(B) mal mehr in der Republik Konjunktur – und das ist auch Gefüge eingesetzt haben. (D)
gut so, möchte man sagen, auch wenn das Bundesland,
aus dem dieser Spruch seine Wirkung bezieht, sich in Im aktuell zu vereinbarenden Hochschulpakt werden
Sachen Hochschulpolitik zur Zeit nicht gerade mit Ruhm also endlich beide Seiten in die Pflicht genommen, und
bekleckert … es ist der Bund, der seine Vorleistungen schon erbracht
hat, indem hier 565 Millionen Euro als Finanzierungs-
Aber nachdem wir in der vergangenen Plenarwoche hilfe für zusätzliche Studienplätze und 700 Millionen Euro
die laufenden Verhandlungen um den Hochschulpakt in für Programmittel für Forschungsprojekte an den Unis
der Aktuellen Stunde diskutiert haben, steht er heute zur Verfügung gestellt wurden. Da können Sie gerne
erneut auf der Agenda des Bundestages. Das zeigt die mehr, noch mehr fordern – als Opposition kommen Sie
enorme Bedeutung, die die Wissenschaft im Bewusst- ja nicht in die Verlegenheit, zu sagen, wessen Ressort
sein und auch in der bundesrepublikanischen Wirklich- dafür geschröpft werden soll. Und immerhin fließen
keit hat. durch diese Regierung erhebliche zusätzliche Mittel in
Grüne und Linke beantragen – und das ist lobenswert, Wissenschaft und Forschung – so etwas hat es vorher nie
interessant und auch ein wenig kurios –, die bisher be- gegeben! Da ist der Ruf nach immer mehr gerade einmal
reitgestellten Bundesmittel für den Ausbau der Studien- billig.
platzkapazitäten zu erhöhen. Immerhin, darin schwingt Die Bundesmittel in Höhe von 565 Millionen Euro zur
ja ein kleiner Teil Anerkennung für die Anstrengungen Kapazitätserhöhung müssen komplementär von den Län-
mit, die in der Tat von der Bundesregierung in dieser dern gegenfinanziert werden, also könnten insgesamt
Sache unternommen werden. Schön. Man fragt sich aber sogar 1,3 Milliarden Euro in die Universitäten fließen –
auch verwundert, warum denn die Grünen in der kürz- wenn, ja wenn die Länder ihrer so eifersüchtig einge-
lich zu Ende gegangenen Legislatur so gar nicht auf die klagten Verantwortung für die Hochschulen tatsächlich
Idee gekommen sind, sich einmal bundespolitisch mit gerecht würden.
den Hochschulen und den Studierendenzahlen auseinan-
der zu setzen. Und zu der Linken kann ich nur sagen, Und was für eine Chance besteht in der Ausformulie-
dass Sie ganz brav die sozialpolitische Rede hier halten, rung der inhaltlichen Erwartungen an einen Hochschul-
die Sie meinen, Ihrer Klientel schuldig zu sein – auch pakt: Frauenförderung, wachsende Internationalisierung,
das ist in Ordnung, hat aber mit Hochschulpolitik im Einführung des Lecturers, Mobilität zwischen den Län-
Jahr 2006 nur bedingt zu tun. Der Nachholbedarf Ihrer- dern, usw. Sie, die Linken, haben ja durchaus Recht,
seits an diesem sensiblen Punkt ist aber auch unsererseits wenn Sie so etwas thematisieren – wie Sie sehen, sind
nachvollziehbar. Sie nicht die Ersten, die das tun.
6276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen der wird das funktionieren, wenn sich die Länder nicht wirk- (C)
Studierendenzahlen könnten die Länder darüber hinaus lich endlich einigen. Das Druckmittel des Bundes ist das
endlich auch einmal ein Miteinander üben: Etwas mehr Geld, das nur dieser tatsächlich bereits für diese Aufgabe
als ein Drittel der zusätzlichen Studienanfänger aus dem zur Verfügung gestellt hat. Vielleicht können sich manche
Westen könnten im Osten studieren. Nur hängt die Wan- Länder nicht vorstellen, dass dieses Geld eventuell gar
derung der Studierenden von Faktoren ab, die bewusst po- nicht fließt, falls sie sich nicht noch rechtzeitig einigen?
litisch gestaltet werden können und müssen, zum Beispiel
die Attraktivität der Studienorte, konkrete Bedingungen Dass wir bei allem schrillen Beharrungsvermögen der
des Studiums, Studienfinanzierung und Zulassungsfragen. Länder auf ihrer Zuständigkeit für die Wissenschaft im
Rahmen der Föderalismusreform wenig Hoffnung hatten,
Für eine Mitverantwortung des Westens für den Osten dass ausgerechnet das zuständige Gremium KMK diese
hat Hessen ein erstklassiges Angebot gemacht und vorge- zusätzlichen Steuerungsaufgaben angemessen bewältigen
schlagen, 25 Prozent der Gesamtsumme an die ostdeut- würde – dieses unser Misstrauen wird nun leider einmal
schen Unis zu überweisen. Baden-Württemberg – Herr wieder allzu deutlich bestätigt. Hatte man uns nicht hier
Minister Frankenberg hat das hier in der Aktuellen Stunde in der Anhörung ein allmähliches Abrücken vom Ein-
erwähnt – plant bilaterale Vereinbarungen zwischen sei- stimmigkeitsprinzip in Aussicht gestellt? Nichts davon.
nen Unis und jeweils einer aus dem Osten. Das hat es Aber schon der damalige Kanzler Helmut Kohl hatte die
noch nie gegeben und sicher hätten noch vor kurzem viele KMK als den „letzten Hort der Reaktion“ bezeichnet.
das für unmöglich gehalten.
Stattdessen also „haltlose Länderegoismen“, wie die
Ein größerer Anteil als der bisherige unserer Studieren- FAZ so treffend titelte. Die gilt es in der Tat zu überwin-
den könnte phasenweise im Ausland studieren, das könnte den – und das dürfte sogar auch eine Aufgabe an uns alle
man sogar belohnen – so würde auch unser Bildungs- sein, die wir ja aus den Wahlkreisen all dieser Bundes-
system noch internationaler. länder kommen.
Alle diese Möglichkeiten sind natürlich nicht kosten- Das ist aber auch ein Appell an Sie, die Sie uns die
neutral zu haben. Aber in diesem Kontext seitens der heutigen Anträge beschert haben: Zwar sind die Grünen
Oppostion Kritik an den Verhandlungen zum Hochschul- ja auch in den Ländern nicht in der Regierungsverant-
pakt zu üben, ist schlichtweg unlauter: Denn unterfinan- wortung, denn dann könnten Sie immerhin Ihre Kritik
ziert sind die Hochschulen schon jetzt, und das ist ein aus dem „exekutiven Off“ in eine konstruktive Politik
Versäumnis aller Länder! umwandeln. Aber in der Gesamtverantwortung für ein
Und klar, hier kann ich mir als Berliner Abgeordnete Gelingen des Hochschulpaktes stehen Sie auch. Also,
auch einen Seitenhieb auf die KMK nicht verkneifen helfen Sie mit, wahr zu machen, was möglich ist. Helfen
(B)
(von den Vorschlägen bekannter Karlsruher Richter ganz wir alle mit, die Länder auf einen guten gemeinsamen (D)
zu schweigen): Die Stadtstaaten haben ein Problem, weil Weg zu bringen. Das sind wir nämlich alle unseren Stu-
es in der Natur der Sache liegt, dass sie über ihrem Lan- dierenden in Deutschland und unseren Hochschulen
deskinder-Soll ausbilden, auch in finanziell schwierigen schuldig.
Zeiten. Insbesondere die Hauptstadt. Wir haben in Berlin
bereits einen flächendeckenden Numerus clausus und Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit Recht dür-
trotzdem wurden hier in diesem Wintersemester bereits fen wir sagen: Kein bildungs- und forschungspolitisches
sechs von sieben Studienbewerber wieder weggeschickt. Thema hat den Deutschen Bundestag in den vergange-
Das können wir uns eigentlich alle nicht leisten. Und das nen Monaten im Plenum wie in den Ausschüssen derart
ist auch nur mit einer gemeinsamen Anstrengung zu beschäftigt wie das ebenso notwendige wie weit rei-
stemmen. Da ist es auch verständlich, dass Länder mit chende Projekt des Hochschulpaktes. Dieses Projekt,
einen höherem Anteil an Nicht-Landeskindern zunächst schon unter Rot-Grün als zweites Standbein neben der
diese Studienplätze ausfinanzieren wollen, bevor sie Exzellenzinitiative in der Aufwertung von Wissenschaft,
neue zur Verfügung stellen. Aber es kann beim Hoch- Forschung und Lehre in Deutschland in die Diskussion
schulpakt andererseits auch nur um neue, „frische“ Stu- gebracht und mit vorbereitet, ist bereits Gegenstand von
dienplätze gehen, wenn man dem Ansturm gerecht wer- zahlreichen Parlamentsdebatten gewesen, zuletzt noch
den will. Soll allerdings die Qualität gewahrt bleiben vor knapp zwei Wochen in der Aktuellen Stunde des
und will man über den Bacherlor-/Master-Abschluss, Bundestages. Wir haben im zuständigen Ausschuss kon-
also den Bolognaprozess, auch endlich die Absolventen- tinuierlich dazu Berichte der Regierung erhalten und mit
(und nicht nur die Anfänger-)Quote erhöhen, dann muss der Regierung diskutieren können.
auch neues Geld in das System. Eine vernünftige Idee ist
es hier, einen erheblichen Anteil der zur Verfügung ste- Anforderungen und Eckpunkte an einen solchen
henden Mittel in neue Fachhochschul-Studienplätze zu Hochschulpakt sind von den Fraktionen, die die Regie-
investieren. Das entspricht nicht nur den Bedürfnissen rung tragen, frühzeitig in die Diskussion gebracht wor-
des Arbeitsmarktes, sondern auch der Nachfrage unter den. Die SPD-Bildungspolitiker haben im März 2006
den Abiturienten, und es ist eben weniger kostenintensiv mit einem Zehn-Punkte-Katalog für einen ehrlichen
als universitäre Studienplätze. Hochschulpakt die Vorlage gegeben. Die CDU-Bil-
dungspolitiker haben im Juli 2006 nachgezogen.
Es ist eben eine Vielzahl von Aufgaben, die erledigt
werden muss an den deutschen Hochschulen und nicht Nach dem in diesem speziellen Punkt erfolgreichen
alle kann der Hochschulpakt lösen. Und schon gar nicht Abschluss der Föderalismusreform, der nicht zuletzt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6277

(A) durch den hartnäckigen Einsatz der SPD-Bildungspoliti- teln“, selbst wenn sich auch die SPD dort noch vieles an- (C)
ker und der SPD-Fraktion insgesamt überhaupt erst die deres gewünscht hat. Das Gebot der Einstimmigkeit der
Grundlage dafür geschaffen hat, dass mit einer neuen Länder mag die Verhandlungen nicht leichter machen,
Gemeinschaftsaufgabe „Wissenschaft“ in Art. 91 b des aber bietet bei erfolgreichen Verhandlungen dann auch
Grundgesetzes die rechtlichen Grundlagen für einen die Gewähr, dass alle Länder in gleicher verbindlicher
Hochschulpakt geschaffen werden konnten, gibt es ge- Weise auf den Hochschulpakt verpflichtet sind. Sehen
meinsame Verhandlungen von Bund und Ländern über wir hier also die Chance und weniger das Risiko.
die Umsetzung eines solchen Vorhabens. Noch in die-
sem Jahr, im Dezember, beim abschließenden Jahrestref- Dies gilt umso mehr, als sich angesichts der politi-
fen zwischen den Ministerpräsidenten und der Bundesre- schen Konstellationen der letzten Zeit und in der Breite
gierung in Form der Bundeskanzlerin soll es zu einem der Länder keine Partei über die andere erheben kann.
Abschluss des Hochschulpaktes kommen. In der über- Wenn die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, der
nächsten Woche, am 20. November 2006, soll die Vor- wir Sozialdemokraten in alter Verbundenheit natürlich
lage hierzu aus den Verhandlungen der Länder unter- noch besonders nahe stehen, jetzt zu überschießenden
einander und mit dem Bund zu einem erfolgreichen Forderungen kommen sollte, so dürfen wir Ihnen noch
Abschluss geführt werden. sagen, dass die mittelfristigen Finanzplanungen wie die
Grundstrukturen von Exzellenzinitiative und Hochschul-
In dieser Situation legen jetzt die drei Oppositions- pakt noch in gemeinsamen Regierungszeiten angelegt
fraktionen ihrerseits Anträge vor, die noch einmal in der und damit auch verantwortet und durch den Wechsel in
Analyse die Notwendigkeit eines Hochschulpaktes be- den Oppositionsstatus bei Bündnis 90/Die Grünen weder
gründen, den quantitativen wie qualitativen Zustand des vergessen noch obsolet geworden sind. Vor einem zu
deutschen Hochschulwesens und seiner Entwicklung kurzen Gedächtnis sei hier gewarnt.
analysieren und gleichzeitig Anforderungen an den
Hochschulpakt definieren. Man könnte etwas ketzerisch- Wenn die FDP und die Linkspartei vom Bund so viel
ironisch sagen, dass eine solche Vorlage, in die absolute mehr Mittel für den Hochschulpakt einfordern, so wol-
Schlussrunde der Verhandlungen platziert, sicherlich len wir nicht vergessen, dass beide Parteien in Landesre-
nicht zu früh kommt, um es positiv auszudrücken. Ob sie gierungen in verantwortlicher Stelle mitwirken und ihre
besonders hilfreich und wegweisend sein können zu die- Glaubwürdigkeit für eine deutliche Erhöhung des Hoch-
sem Zeitpunkt, darf gleichwohl bezweifelt werden. Aber schulpaktes um so größer ist, je mehr sie hierfür ihr
machen wir das Beste daraus. Engagement in ihren Landesregierungen erfolgreich
nachweisen können und je drängender aus ihren Landes-
Hierzu fünf Bemerkungen: regierungen die Forderungen nach zusätzlichen Länder-
(B) mitteln komplementär zu einem gleichen Anteil Bundes- (D)
Erstens. Allen drei Anträgen der Oppositionsfraktio- mittel durch Ministerpräsidenten, Finanzminister und
nen, so weit sie von ihrem politischen Spektrum auch Bildungsminister zusammen laut geäußert werden. Wir
auseinander liegen mögen, ist eigen, dass sie eine große haben allerdings den Eindruck, dass mit dem Finanzvo-
Übereinstimmung in der Analyse und der Beschreibung lumen, das der Bund hier in die Debatte für die Jahre
der qualitativen und quantitativen Anforderungen an die 2007 bis 2010 bringt, durchaus das Maß getroffen ist,
Hochschulentwicklung der Zukunft haben, die Defizite was auch von den Ländern ernsthaft ins Auge gefasst
im deutschen Hochschulsystem und die Finanzierungs- wird und faktisch dann bedient werden kann, so schwie-
lücken übereinstimmend und richtig beschreiben und rig dies auch noch werden mag.
auch die politischen Perspektiven und Chancen eines
Wachstums der Zahl der Studierenden und der Studien- Im Übrigen gehen Forderungen aus Linkspartei und
plätze in einer Weise herausarbeiten, dass sich denen FDP dann umso mehr in die Irre, wenn gleichzeitig in
auch die SPD und sicherlich auch die CDU/CSU von der den Ländern, in denen sie an der Regierungsmacht betei-
Zielsetzung her anschließen können. Hier liegt, jenseits ligt sind, – dies gilt insbesondere für die FDP in Nieder-
des traditionellen Wechselspiels zwischen die Regierung sachsen, in Nordrhein-Westfalen und in Baden-
tragenden und gegen die Regierung opponierenden Frak- Württemberg –, Kapazitätslücken an Hochschulen ent-
tionen im Bundestag, durchaus eine Chance, die nicht standen sind bzw. sogar ein Abbau an Studienplätzen
selbstverständlich ist. Im Interesse der Studierenden und vorgenommen wird. Diesen beiden Fraktionen möchten
der Hochschulen ziehen alle Parteien des Deutschen wir deshalb sagen: Der Ernstfall ist da. Die Glaubwür-
Bundestages im Grundsatz in die gleiche Richtung, auch digkeit Ihrer Anträge bemisst sich auch an dem wahr-
wenn es bei der Übereinstimmung in den Zielen, in der nehmbaren Einsatz Ihrer Landesregierungen für das, was
Bewertung und der Wahl der Instrumente natürlich die Sie hier im Bundestag fordern. Hic pacta, hic salta!
notwendigen politischen Unterschiede gibt.
Drittens. Aus den Forderungskatalogen der drei Op-
Zweitens. Wenn es denn wirklich ein Hochschulpakt positionsanträge wird erkennbar, dass es nicht nur um
zwischen Bund und Ländern werden soll, stehen beide Quantitäten, sondern auch um Qualitäten in Bezug auf
politischen Ebenen in gleicher Weise in der Verantwor- den Hochschulpakt geht. Tatsächlich erwarten auch wir
tung, sind in gleicher Weise auf dieses Ziel verpflichtet Sozialdemokraten – und dies haben wir schon in unseren
und müssen auch ihren Anteil verbindlich, nachvollzieh- zehn Eckpunkten für den Hochschulpakt im März 2006
bar und effizient einbringen und umsetzen. In diesem ausgedrückt und in vielen Parlaments- und Ausschusssit-
Zusammenhang ist es müßig, jetzt noch an den Regelun- zungen immer wieder massiv eingefordert –, dass die
gen der Föderalismusreform in Art. 91 b „herumzukrit- Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern nicht nur
6278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) eine kurze, der Diplomatie zwischen Bund und Ländern gungen der Länder ankommen müssen, ist die eigentli- (C)
genügende Umkleidung eines bloßen Finanztransfers ist, che und schwierigste Aufgabe bei diesem Pakt. Lassen
sondern auch Verbindlichkeit, Transparenz in Finanzie- Sie mich an dieser Stelle ein ausdrückliches Dankeschön
rung und Umsetzung sowie auch qualitative Ziele ein- speziell an den Kollegen Zöllner aus Rheinland-Pfalz
schließt. Die Bundesregierung, die notwendig treuhän- richten, der in dieser Angelegenheit von Anfang an aktiv
derisch die Verhandlungen für das Parlament und den gewesen ist und auch über die Veränderung in seinen üb-
durch die Mehrheitsfraktionen repräsentierten Regie- rigen Aufgaben hinaus an der Verantwortung für die Ver-
rungswillen wahrnimmt, hat uns im Parlament und im handlungen um diesen Verteilungsschlüssel festhält. Wir
Ausschuss immer wieder dargelegt, dass auch sie insge- wünschen jeden Erfolg für ihn und seinen Kollegen
samt – hier die Ministerin für die Regierung – darauf Olmert von der CDU-Seite, der jetzt kurzfristig das Ver-
dringen, dass wichtige qualitative Zielsetzungen im ge- handlungsgeschäft vom Kollegen der CDU aus Baden-
meinsamen Hochschulpakt von Bund und Ländern ver- Württemberg übernehmen musste.
bindlich verabredet werden. Zu nennen sind hier die Ab-
Wenn die Oppositionsanträge hier jetzt noch in letzter
sicherung der Frauenförderung, die Verbesserung der
Sekunde fordern, dass die Bundesbildungsministerin mit
Lehre durch Erhöhung der Lehrkapazitäten und neue
detaillierten eigenen Vorschlägen in diese Verhandlun-
Personalkategorien wie den Lecturer sowie der Ausbau
gen hineingehen soll, unterstellen Sie erst einmal, dass
des Schwerpunktes in den technisch-naturwissenschaft-
es solche Vorschläge nicht gegeben hat, und zum zwei-
lichen Fächern und die Stärkung der Fachhochschulen.
ten, dass die Bundesbildungsministerin besonders geeig-
Die SPD hat in Penetranz, aber mit guter Begründung
net sei, den Interessenausgleich zwischen den Ländern
gefordert, dass auch die Fortführung der Juniorprofessu-
hier herbeizuführen. Wir gehen davon aus, dass die Bun-
ren als innovatives Element an den Hochschulen im
desbildungsministerin tatsächlich nichts unversucht
Hochschulpakt verbindlich abgebildet sein müsste. Wir
lässt, insbesondere drei Interessenlagen aus der Vielfalt
wollen der Opposition gerne versichern, dass wir ebenso
der Länder besonders gerecht zu werden: den Kapazi-
wie sie darauf setzen, dass diese Ankündigungen der
tätsauslastungen in den neuen Bundesländern, den
Bundesregierung auch in dem Pakt, den wir für den
besonderen Bedingungen in den Stadtstaaten und den
20. November 2006 und dann zum Abschluss des Jahres
Kapazitätsvorleistungen und nachweisbaren Kapazitäts-
in der ratifizierten Form erwarten, ihren Niederschlag
erweiterungen in den Flächenländern. Wir dürfen ge-
finden.
spannt sein, welche Erfolgsformel hier am Ende gefun-
Wir erwarten auch, dass in diesem Pakt eindeutig ab- den werden kann.
gesichert wird, dass der Ausbau der Lehrkapazitäten in Viertens. Alle drei Anträge der drei Oppositionsfrak-
der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern tionen weisen mit Recht darauf hin, dass der aktuell ver- (D)
(B) qualitativ im Vordergrund steht. Mit den ins Auge ge-
handelte Paktzeitraum 2007 bis 2010 nur ein erster
fassten Mitteln in Höhe von mindestens 565 Millionen Schritt sein kann und der Hochschulpakt nicht umsonst
Euro durch den Bund und die mindestens gleiche als Hochschulpakt 2020 die eigentliche Ausbauphase
Summe durch die Länder, was dann in der ersten Säule mit jährlich dann über 40 000 Hochschulplätzen ab 2010
einem Umfang von 1,13 Milliarden Euro für die Jahre umfasst. Wir halten es allerdings für einen falschen An-
2007 bis 2010 entspricht, würde diese Priorität für den satz, jetzt schon Finanz- und Verteilungsvolumina für
Ausbau der Hochschulkapazitäten klar erfüllt sein. Da- 2011 und die Folgejahre in die Debatte zu bringen und
neben steht dann die zweite, aus Sicht der SPD aller- darauf zu dringen, dass diese in die aktuellen Verhand-
dings auch mit Recht an zweiter Stelle stehende Säule lungen des Hochschulpaktes mit eingebracht werden.
von 700 Millionen Euro, die über die Programmpau- Das Entscheidende ist doch, das mühsam erkämpfte In-
schale bis 2010 die Forschungsstärke der Hochschulen strument des Hochschulpaktes, wie es überhaupt erst
absichern und ausbauen soll und damit auch über diesen durch den Einsatz bei der Föderalismusreform ermög-
Weg zur verbesserten Einheit von Forschung und Lehre licht werden konnte, im ersten Schritt erfolgreich zu be-
sowie zur Entlastung der Hochschulen bei den For- wältigen. Jedem muss doch klar sein, dass ohne einen
schungsaufwendungen führen soll, auf dass die Hoch- solchen Pakt für den Abschnitt 2007 bis 2010 die Chan-
schulen an der anderen Stelle auch ihren Anteil über die cen für den eigentlichen Pakt bis 2020 nur umso schlech-
Bundes- und Landesmittel hinaus zum Ausbau der Lehr- ter werden können. Deshalb kommt es für die SPD auch
kapazitäten erbringen können. Ich will hier aber auch gar entscheidend darauf an, dass dieser erste Schritt wirklich
kein Geheimnis daraus machen, dass im Zweifelsfall die gelingt. Zugleich wollen wir aber genauso deutlich ma-
eindeutige Priorität bei der Sicherung der Mittel für den chen, dass das Ergebnis für diesen ersten Paktabschnitt
direkten und unmittelbaren Ausbau der Hochschulkapa- – und hier vor allen Dingen die Umsetzung in den Jahren
zitäten liegen muss und im Zweifelsfall die Programm- 2007/2008/2009 – entscheidend dafür sein wird, unter
pauschalen erst an zweiter Stelle kommen. welchen Vorzeichen dann der wesentlich bedeutsamere
und auch vom Finanzvolumen her zwingend erweiterte
Dass die eigentliche Schlüsselaufgabe bei dem Hoch- zweite Teil des Hochschulpaktes bis 2020 wirklich zu-
schulpakt konkret darin liegt, die verschiedenen Vo- stande kommen kann und in welcher Form dort quantita-
raussetzungen und Entwicklungstendenzen in Studien- tive und qualitative Ziele dann verhandelt und in beleg-
kapazitäten zwischen den Bundesländern so bare Vereinbarungen umgesetzt werden.
auszubalancieren, dass die zusätzlichen Mittel auch
wirklich in Form von zusätzlichen Studienplätzen und Fünftens. Dies gilt umso mehr, als wir Sozialdemo-
dem Belohnen von überproportionalen Studienanstren- kraten schon in unseren zehn Eckpunkten für einen ehrli-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6279

(A) chen Hochschulpakt drei zentrale Anliegen durchbuch- schulen in Quantität und Qualität auf die Höhe der Zeit (C)
stabiert haben: Erstens. Gute Hochschule braucht gute kommen.
Lehre und ein Hochschulpakt mit Substanz ist nur so
viel wert, wie er den Ausbau der Quantitäten mit dem Uwe Barth (FDP): In der Analyse sind wir uns mit
Ausbau der Qualitäten für alle verbindet. den beiden anderen Antragstellern, aber auch der Bun-
Zweitens. Wir wollen einen Ausbau der Quantitäten desregierung und den Ländern weitgehend einig: Die
und Kapazitäten ohne soziale Schlagseite. Mehr Studien- Studierendenzahlen werden in den nächsten Jahren an-
plätze, die dann von immer weniger Studenten aus sozia- steigen. Nach den Schätzungen der KMK um circa 20
len und finanziellen Gründen wahrgenommen werden bis 30 Prozent auf bis zu 2,7 Millionen Studierende.
können, wären ein schlechter Scherz. Die Weiterent-
Dieser voraussehbare Anstieg der Zahl hochqualifi-
wicklung und Stärkung des BAföG muss deshalb ein in-
zierter junger Menschen ist insbesondere für unsere älter
tegraler Bestandteil einer langfristigen Strategie zum
werdende Gesellschaft eine großartige Möglichkeit, ihre
Aufbau und Ausbau von Hochschulkapazitäten sein. Die
wirtschaftliche und kulturelle Position in Europa und der
SPD hat im Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU im
Welt zu behaupten. Zugleich besteht für Bund und Län-
Streit durchgesetzt, dass es keine strukturellen Ver-
der die Herausforderung, die notwendige Zahl von Stu-
schlechterungen beim BAföG geben darf. Wir alle zu-
dienplätzen zur Verfügung zu stellen, den Bolognapro-
sammen müssen jetzt daran arbeiten, in absehbarer Zu-
zess weiterzuführen und dabei die Qualität der
kunft zu einer gemeinsamen und ausbauorientierten
Hochschullehre mindestens zu erhalten. Die mangel-
Zukunftsstrategie für das BAföG zu kommen.
hafte Qualität der Hochschullehre ist ein mitentscheiden-
Drittens. Wir Sozialdemokraten haben mit Genugtu- der Faktor für die in Deutschland viel zu große Zahl der
ung aufgenommen, dass speziell im Forderungskatalog Studienabbrüche.
der FDP, die ja ein nicht ganz unbedeutender Koalitions-
partner der CDU in so wichtigen Flächenländern wie Die Hochschulen und damit auch die Hochschullehre
Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden- sind in Deutschland seit Jahrzehnten unterfinanziert.
Württemberg ist, das Modell des Vorteilsausgleichs und Diese Unterfinanzierung ist in den letzten Jahren immer
des Stammlandsprinzips zwischen den Bundesländern krasser geworden: Deutschland wendet nur knapp
mit aufgenommen worden ist. Die Frage deshalb an die 1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Hoch-
FDP: Dürfen wir die Hoffnung haben, dass Sie an dieser schulen auf, 0,6 Prozent für die Hochschullehre. Zum
Stelle den Kollegen Zöllner aus Rheinland-Pfalz, der Vergleich: Die Vereinigten Staaten stecken 2,7 Prozent
dieses Modell für die SPD-geführten Bundesländer ihres riesigen Bruttoinlandsprodukts in die Hochschulen
schon seit längerem in die Debatte gebracht hat, jetzt (OECD 2003). Bei den jährlichen Ausgaben pro Studie-
(B)
auch tatsächlich mit aller Kraft unterstützen? Wenn das renden für die Lehre liegt Deutschland mit 6 342 US- (D)
Modell des Vorteilsausgleichs noch nicht hundertprozen- Dollar deutlich unter dem OECD-Durchschnitt, der
tig im aktuell entstehenden Hochschulpakt verankert 6 822 US-Dollar beträgt.
werden kann und auch die von der SPD angeregte und Betrachtet man die Aufwendungen im Verhältnis zum
von der FDP aufgenommene Idee, den Bund stärker an Bruttoinlandsprodukt, so wird das Defizit noch deutli-
der Finanzierung der ausländischen Studierenden zu be- cher: Die Ausgaben pro Studierenden liegen bei
teiligen, parallel hierzu dann Schritt für Schritt aufge- 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf der Be-
baut werden könnte, so besteht doch die Hoffnung, dass völkerung und liegen damit deutlich unter dem entspre-
damit jedenfalls eine verbreiterte Allianz für die weite- chenden OECD-Mittel von 34 Prozent (OECD 2005).
ren Verhandlungen zum möglichen zweiten Teil des Und das, obwohl es in Deutschland vergleichsweise we-
Hochschulpaktes mit gelegt sein könnte. nig Studenten gibt!
Zum guten Schluss: Am 20. November 2006, in nicht Wir stehen daher vor einer dreifachen Aufgabe: Es
einmal zehn Tagen, soll das Abschlusskonzept für den muss ein ausreichendes Angebot von Studienplätzen für
Hochschulpakt 2007 bis 2010 vorgelegt werden. Wir die zunehmende Zahl von Studierenden geschaffen wer-
dürfen und wir müssen hoffen, dass sich die Länder ihrer den. Der Bolognaprozess mit seinen erhöhten Anforde-
gestiegenen Verantwortung in der Form würdig zeigen, rungen an die Hochschullehre muss erfolgreich weiter-
dass sie einen Hochschulpakt mit Verstand und Perspek- geführt werden. Die chronische Unterfinanzierung der
tive zusammen mit dem Bund verhandeln und dann am deutschen Hochschulen muss zumindest in der Tendenz
20. November 2006 der Öffentlichkeit vorstellen kön- beendet werden.
nen. Für die weiteren Beratungen der jetzt noch in letzter
Sekunde vorgelegten Anträge der Oppositionsfraktio- Mit großem Recht hat der Bundespräsident in seiner
nen wünschen wir uns jedenfalls, dass in der nächsten Berliner Rede die Verbesserung des Bildungswesens
Sitzung des Bildungsausschusses, die sich voraussicht- zum zentralen Prüfstein der Zukunftsfähigkeit des Föde-
lich am 22. November 2006 mit dem erfolgreichen Ab- ralismus erklärt. Hier entscheidet sich die Zukunftsfä-
schluss des Hochschulpaktes befassen kann, gemeinsam higkeit unserer Gesellschaft. Hier entscheidet sich die
festgestellt wird: Der Hochschulpakt für 2007 bis 2010 Frage, ob Deutschland auch in Zukunft in der globali-
mag dann nicht jedem Wunsch von allen entsprechen sierten Wissensgesellschaft mithalten kann. Die Hoch-
können, aber er ist erfolgreich auf den Weg gebracht und schulbildung, die dafür sorgen muss, dass der steigende
sorgt jedenfalls dafür, dass für die Studierenden in Bedarf unserer Gesellschaft an hochqualifizierten Men-
Deutschland neue Perspektiven entstehen und die Hoch- schen gedeckt werden kann, spielt dabei eine Schlüssel-
6280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) rolle. Es geht dabei nicht nur um Bildungspolitik. Nach ben. Ein Ausgleich unter den Ländern ist auch dringend (C)
den Berechnungen der OECD und des Sachverständi- nötig. Während zum Beispiel Bayern nach dem aktuel-
genrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen len Bildungsfinanzbericht der Bund-Länder-Kommis-
Entwicklung (SVR) sind circa 50 Prozent des möglichen sion nur 0,56 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für
Wirtschaftswachstums heute bildungsbedingt. die Hochschulen ausgibt, sind dies zum Beispiel in Thü-
ringen 1 Prozent und in Berlin sogar 1,64 Prozent. Die
Die mittel- und langfristige Finanzierbarkeit des Sozial-
wirtschaftsschwachen Länder bilden den akademischen
staates steht auf dem Spiel, wenn es jetzt nicht gelingt,
Nachwuchs für die wirtschaftsstarken Länder aus. Das
die Chancen, die die junge Generation durch ihre Bil-
kann so nicht funktionieren. Ein erster Schritt zu einem
dungsbereitschaft bietet, zu ergreifen. „Umso billiger an-
solchem System ist von Rheinland-Pfalz mit dem Vor-
dere sind – umso besser müssen wir sein“ (Westerwelle).
teilsausgleich unter den Bundesländern vorgeschlagen
Auch den Grünen stimme ich ausdrücklich zu, wenn worden. Jedes Bundesland ist für die Studienfinanzie-
sie feststellen, dass es für die Gesellschaft teurer ist, die rung derjenigen verantwortlich, die in seinem Gebiet die
Hochschulbildung nicht zu finanzieren, als ihre Finan- Hochschulzugangsberechtigung erworben haben. Die
zierung – und ich füge hinzu: jetzt kraftvoll – anzugehen. Zahlungen erfolgen aufgrund von berechneten Durch-
schnittsbeträgen. Dadurch würde ein Ausgleich für die
Wir haben die Absicht des Koalitionsvertrages, eine Bundesländer geschaffen, die Studienplätze bereitstel-
„Bund-Länder-Initiative zur Sicherung der Qualität und len. Wir wollen diesem Modell gerne folgen unter der
der Bewältigung der steigenden Studierendenzahlen“ zu Voraussetzung, dass das Geld nach dem Prinzip „Geld
starten, begrüßt. Ohne die Hilfe des Bundes geht es folgt Student“ den Hochschulen unmittelbar zukommt.
nicht. Die Länder sind alleine nicht in der Lage, die ge- Zumindest im Rahmen der Föderalismusreform 2 müs-
samtstaatliche Verantwortung im Hochschulbereich aus- sen hierfür die Weichen gestellt werden.
zufüllen. Aber selbst der von der Bundesregierung jetzt
angebotene Hochschulpakt steht auf der Kippe. Unsere Wir lassen es aber nicht bei allgemeinen Forderun-
Warnungen bei der Föderalismusreform, das unselige gen, sondern schlagen einen konkreten Weg vor. In ei-
Einstimmigkeitsprinzip der KMK auch noch auf die nem solchen Rahmen kann und soll der Bund die Zah-
Wissenschaftsförderung, also auch auf die Hochschulen, lungen für die Bildungsausländer übernehmen. Dieses
auszudehnen, wurden von der Bundesregierung wider Geld soll den Hochschulen zusätzlich zugute kommen.
besseres Wissen auch in den eigenen Reihen niedergebü- Der Anteil der Bildungsausländer, das heißt derjenigen
gelt. Ich sage ganz klar: Scheitert der Hochschulpakt, Studierenden, die ihre Hochschulzugangsberechtigung
dann ist diese Koalition insgesamt hochschulpolitisch nicht in Deutschland erworben haben, betrug 2005 circa
gescheitert. 9,5 Prozent. Sie verursachen Studienkosten in Höhe von
(B)
Der Hochschulpakt, auch wenn er schließlich in ei- circa 1,26 Milliarden Euro. Dieses Geld – zusätzlich in (D)
nem vermutlich schlechten Kompromiss zustande die Hochschullehre eingespeist – könnte zu der dringend
kommt, ist nicht hinreichend, um die Probleme der benötigten Trendwende bei der Unterfinanzierung der
Hochschulen zu lösen. Zumindest muss er aber möglich Hochschulen führen.
machen, dass der Erhalt der Studienplätze an den ost- Dies kann nur gelten, wenn die Länder ihre selbst ge-
deutschen Hochschulen gesichert wird. Aus demografi- wollte und bei der Föderalismusreform durchgesetzte
schen und finanziellen Gründen sind sie derzeit vom Ab- Verantwortung wahrnehmen, die Mittel für die Hoch-
bau bedroht. Es ist nationales Interesse, sie im Hinblick schulen auf dem notwendigen hohen Niveau dauerhaft
auf die zukünftigen Studierendenzahlen zu erhalten. festzuschreiben.
Dazu gehört ein aktives Hochschulmarketing für diese
ausgezeichneten Standorte bei Studieninteressenten ge- Der Hochschulpakt muss geschlossen werden. Dies
rade in den alten Bundesländern. kann aber nur ein erster Schritt sein. Lassen Sie uns auf
dem Weg zu einem neuen Finanzierungssystem, das die
Wir brauchen darüber hinaus ein Umsteuern bei der
Qualität der Hochschulen, die notwendigen Studien-
Hochschulfinanzierung. Dabei geht es uns nicht nur um
plätze und damit die Zukunft unseres Landes in der Wis-
mehr Geld, sondern vor allem um eine neue Qualität bei
sensgesellschaft dauerhaft sichert, gemeinsam voran-
der Hochschulfinanzierung. Wir brauchen echte Anreize
kommen.
für die Hochschulen, gut ausgestattete Studienplätze be-
reitzustellen, um wirkliche Verbesserungen zu erreichen.
Dies kann nur durch ein neues Hochschulfinanzierungs- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): In der letzten Sit-
system geschehen. Die FDP hat Möglichkeiten dafür be- zungswoche haben wir in einer Aktuellen Stunde schon
reits seit langem aufgezeigt Es geht um Bildungsgut- einmal über den Hochschulpakt diskutiert. Die damals
scheine oder Bildungsschecks nach dem Muster „Geld deutlich gewordene Übereinstimmung der Oppositions-
folgt Student“. Ganz aktuell haben sich die hochschulpo- fraktionen bei einigen zentralen Fragen des Paktes zeigt
litischen Sprecher der FDP-Landtagsfraktionen einstim- sich auch an den heute vorliegenden Anträgen: Die Linke
mig für die Einführung eines Bildungsgutscheinsystems fordert – ebenso wie FDP und Bündnis 90/Die Grünen –
zur Hochschulfinanzierung ausgesprochen. Sogar die eine wesentlich bessere finanzielle Ausstattung des Pak-
Vertreter der „Netto-Studentenexporteure“ wie Baden- tes insbesondere für die erste Säule und mehr Transpa-
Württemberg, Bayern und Hessen sind dazu bereit, ihren renz in den Verhandlungen. Wir kritisieren gemeinsam,
Landeskindern Budgets in Form von Bildungsgutschei- dass von der Bundesregierung bisher kaum Vorschläge
nen für die künftige Hochschule mit auf den Weg zu ge- unterbreitet wurden, wie mit der Verteilung der Mittel
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6281

(A) zwischen den Bundesländern umgegangen werden soll. Nachfragen stets mitgeteilt, dass sie diese Auffassung (C)
Schließlich weisen wir auch gemeinsam auf die Mängel nicht teilt. Studiengebühren seien nicht sozial selektiv.
des neu gestalteten Art. 91 b des Grundgesetzes hin: Die Schließlich könnten Studierende Studienkredite in An-
Verhandlungen zum Hochschulpakt zeigen deutlich, spruch nehmen.
dass es unsinnig ist, für Hochschulprogramme des Bun-
des die Zustimmung aller sechzehn Bundesländer einzu- Diese Behauptung ist an Naivität kaum zu übertref-
fordern. fen. Auch hier gibt es klare Belege, dass in diesem Fall
der nach dem Studium drohende Schuldenberg gerade
Für Die Linke möchte ich noch eine weitere zentrale Studierende aus einkommensschwachen Schichten von
Forderung ergänzen: Wir unterstützen das Ziel eines Ka- der Aufnahme eines Studiums abhält. Studienkredite
pazitätsausbaus an den Hochschulen. Die damit erfolgte sind also keine Lösung!
Öffnung muss für uns aber vor allem eine soziale Öff-
nung sein. Ihnen allen ist bekannt, dass die Zahl der Stu- Die Bundesregierung betont in all ihren Antworten
dierenden aus einkommensschwachen Familien derzeit auch stets ihr unerschütterliches Vertrauen gegenüber
nur bei rund 10 Prozent liegt. Das können wir bei der den Bundesländern, ausschließlich „sozial gerechte“
Gestaltung und Ausarbeitung des Paktes nicht einfach Studiengebührenmodelle zu verabschieden. Wir glau-
ignorieren. ben nicht an das Märchen von „sozial gerechten Studien-
gebühren“. Wenn wir die Bundesregierung auf gegentei-
Natürlich ist es richtig, dass die soziale Ausgrenzung lige Entwicklungen hinweisen – etwa die derzeitige
nicht erst an den Hochschulen, sondern bereits viel frü- Situation in NRW, wo wir einen Einbruch der Studienan-
her beginnt. Die mangelhafte Qualität der vorschuli- fänger- und Studienanfängerinnenzahlen in diesem Se-
schen Bildung und der fehlende Rechtsanspruch auf ei- mester zu verzeichnen haben –, dann weicht sie aus und
nen gebührenfreien Kita-Platz sind einige der Gründe. behauptet, dass dies noch keine gesicherten Daten seien.
Den größten Knick im Bildungstrichter verursacht nach Die Linke ist der Auffassung, dass die Bundesregierung
wie vor das gegliederte Schulsystem. Wir halten es für nicht mehr länger solche Ausweichspielchen betreiben
unverantwortlich, dass in den meisten Bundesländern darf. In den Verhandlungen zum Hochschulpakt gehört
keine Schritte unternommen werden, um das gegliederte auch die Studiengebührenfrage auf den Tisch.
Schulsystem endlich zu überwinden. Die Linke fordert
ein längeres gemeinsames und solidarisches Lernen an Drittes und letztes Beispiel ist der Zugang zu den
Schulen. In Berlin haben wir den Einstieg in die Ge- Hochschulen mit Berufsabschluss. Hier eine generelle
meinschaftsschule durchgesetzt. Öffnung zu beschließen, war eines der wenigen sinnvol-
len Vorhaben im Koalitionsvertrag. Bisher ist nichts pas-
Gegen die Ausgrenzungsmechanismen in Kita und siert. Wir wünschen uns eine klarere Positionierung der
(B) Schule kann die Bundesregierung aufgrund der aktuellen Bundesregierung. Sie muss die Bundesmittel des Paktes (D)
Kompetenzverteilung im Bildungswesen leider nur we- an die Bedingung knüpfen, dass die Bundesländer sich
nig ausrichten. Gegen soziale Ausgrenzungsmechanis- auf einen bundesweit einheitlichen offenen Zugang ver-
men im Hochschulbereich könnte sie aber sehr viel un- ständigen.
ternehmen. Von der Bildungsministerin hören wir in
dieser Hinsicht aber so gut wie nichts. Maßnahmen, die Wenn diese drei Punkte berücksichtigt werden und
zu einer sozialen Öffnung der Hochschulen beitragen grundsätzlich eine bessere finanzielle Ausstattung des
könnten, werden nicht angegangen. Paktes vorgenommen wird, dann würde der Pakt nicht
nur zu mehr und besseren Studienplätzen beitragen, son-
Ich möchte das an drei Beispielen deutlich machen. dern vor allem auch zu einer sozialen Öffnung der Hoch-
schulen führen.
Das erste Beispiel ist der Umgang mit dem BAföG:
SPD und Union haben sich in ihrem Koalitionsvertrag
darauf verständigt, das BAföG in seiner jetzigen Struk- Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tur zu erhalten. Das ist natürlich deutlich besser, als das Stellen Sie sich vor, im Juni hätte der Bundestag das
BAföG abzuschaffen, wie Ministerin Schavan vor den Kooperationsverbot im Wissenschaftsbereich beschlos-
Wahlen – damals als baden-württembergische Kultus- sen – so, wie es sich die Länder, die Bundesregierung
ministerin – gefordert hatte. Festzustellen ist aber auch: und große Teile der großen Koalition gewünscht haben.
Dieser Schritt reicht bei weitem nicht aus! Die Linke for- Dann müsste der Bund jetzt die Hände in den Schoß le-
dert eine Ausweitung des BAföG. Allen voran muss ein gen, während Zehntausende junge Menschen vor über-
Vollzuschuss gezahlt werden; kein 50-prozentiges Dar- füllten Hörsälen abgewiesen werden.
lehen. Außerdem sind die Bedarfssätze und Freibeträge
endlich an die gestiegenen Lebenshaltungskosten und Aber den größten Sündenfall der Föderalismusreform
Freibeträge anzupassen. Das wäre eine wichtige Maß- haben wir ja glücklicherweise verhindern können: Der
nahme, um den Hochschulzugang sozial zu öffnen. Bund kann dazu beitragen, allen Studierwilligen die
Hörsaaltüren zu öffnen. Und dieser Verantwortung müs-
Das zweite Beispiel ist die Frage von Studiengebüh- sen wir gemeinsam mit den Ländern gerecht werden!
ren. In immer mehr Bundesländern werden allgemeine Wir müssen jungen Menschen den Zugang zu einer ihrer
Studiengebühren eingeführt. Die Linke hält dies für den Eignung und Neigung entsprechenden Hochschulausbil-
vollkommen falschen Weg, gerade auch, weil es eine dung ermöglichen. Wir müssen Zigtausende zusätzliche
weitere soziale Hürde auf dem Weg zu einem Studium Abiturienten für den Arbeitsmarkt der Wissensgesell-
darstellt. Die Bundesregierung hat uns hier auf unsere schaft qualifizieren. Wir müssen die Studienkapazitäten
6282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) an den Hochschulen unverzüglich, nachhaltig und be- Beim Antrag der Linksfraktion sehe ich vor allem die (C)
darfsgerecht ausbauen. Gefahr, den Hochschulpakt mit so vielen zum Großteil
nicht konsensfähigen Wünschen und Zielen zu über-
Es besteht die große, reale Gefahr, dass die Bundesre- frachten, dass er allein daran scheitert. Zudem fordern
gierung und die Landesregierungen dieses Ziel verfeh- Sie, die Vollkostenfinanzierung schon im kommenden
len. Die auf unsere Initiative in der vergangenen Sit- Jahr auf alle Forschungsbewilligungen auszudehnen.
zungswoche angesetzte Aktuelle Stunde zum drohenden Dadurch steigern Sie jedoch den Finanzbedarf für den
Scheitern des Hochschulpakts hat uns diese Sorge nicht Forschungsanteil im Hochschulpakt weiter – im Zweifel
nehmen können. Daher legen wir Grüne mit diesem An- auf Kosten des Studienkapazitätsausbaus.
trag konkrete Forderungen vor, um mit einem wirksa-
men und gerechten Hochschulpakt die Studienkapazitä- Daher können wir weder dem Antrag der FDP noch
ten auszubauen: dem der Linksfraktion zustimmen.
Einig sind wir uns mit den beiden anderen Opposi-
Erstens. Bund und Länder müssen deutlich mehr Geld
tionsfraktionen darin, dass die Bundesregierung drin-
in den Kapazitätsausbau investieren. Maßgabe sind aus
gend mit einem verbesserten Angebot und strategischen
grüner Sicht die Zahlen des Wissenschaftsrates.
Leitzielen über den Hochschulpakt verhandeln muss.
Zweitens. Der Ausbau von Studienplätzen muss so- Wir müssen es gemeinsam mit den Ländern schaffen,
fort beginnen und er muss verbindlich über die Jahre des dass kein junger Mensch, der ein Studium beginnen
Spitzenbedarfs hinaus bis zum Jahr 2020 vereinbart wer- möchte, vor verschlossenen Hörsaaltüren stehen bleibt.
den.
Drittens. Die Mittel zum Studienplatzausbau müssen Anlage 12
nach einem intelligenten Schlüssel verteilt werden. Für
Zu Protokoll gegebene Reden
die einen Länder muss er Anreize setzen, Studienplätze
zu erhalten, für die anderen, zusätzliche Studienplätze zu zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
schaffen, und für weitere, Kapazitäten in anderen Län- Reform des Personenstandsrechts (Personen-
dern mitzufinanzieren. standsrechtsreformgesetz – PStRG) (Tagesord-
nungspunkt 21)
Viertens. Der Ausbau der Lehrkapazitäten und die
Weiterentwicklung der Personalstruktur muss mit inno-
vativen Instrumenten gelöst werden: Vorübergehende Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Mit dem
Doppelbesetzung von Professoren-Stellen, Einführung „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Personen-
(B) des Hochschuldozenten („Lecturer“), Weiterförderung standsrechts“ wurde die zunehmende Kritik an dem (D)
der Junior-Professur. Dabei muss auch die Förderung bisher geltenden Recht hinsichtlich des Beurkundungs-
von Frauen in der Wissenschaft stärker verankert wer- systems, der Beurkundungsmedien, des Beurkundungs-
den. inhalts und der Voraussetzungen für eine Registerbenut-
zung aufgegriffen und reformiert.
Fünftens. Wir brauchen eine bundesweite Service- Ohne dass die Personenstandsbuchführung an sich
agentur zum Bewerbungsmanagement bei zulassungsbe- und ihre Servicefunktion gegenüber dem Bürger beein-
schränkten Fächern. So können die vorhandenen Studien- trächtigt werden, fanden bei dem Gesetzentwurf die
plätze schnell, effizient und vollständig vergeben Bereiche Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und
werden. Damit für Studienberechtigte kein bundesweiter Kostenreduzierung besondere Berücksichtigung. Durch
„Suchwettbewerb“ zur Regel wird und die Hochschulen die Einführung elektronischer Personenstandsregister
Nachbesetzungsoffensiven von freien Kapazitäten gelin- anstelle der bisherigen Personenstandsbücher, die Be-
gen. grenzung der Fortführung der Personenstandsregister
durch das Standesamt und die Abgabe der Register an
Insofern FDP und Linkspartei Ähnliches fordern, sind
die Archive, die Ersetzung des Familienbuches durch
ihre Anträge unterstützenswert. Es bleiben jedoch Unge-
Beurkundungen in den Personenstandsregistern, die
reimtheiten und offene Fragen: Das Konzept „Geld folgt
Reduzierung der Beurkundungsdaten auf das für die
Studierenden“ der FDP überzeugt da, wo es von der
Dokumentation des Personenstandes erforderliche Maß
Heinrich-Böll-Stiftung abgeschrieben ist. Dort, wo Sie
sowie die Neuordnung der Benutzung der Personen-
abweichen, haben Sie leider nicht zu Ende gedacht: Sie
standsbücher wird der laut gewordenen Kritik an der
wollen, dass jedes Land für die Studienkosten seiner
bisherigen Praxis Rechnung getragen.
Abiturienten zahlt, egal wo sie studieren. Damit beloh-
nen sie jedoch Länder wie Bayern, die sich mit einer Mit moderner Technik können nunmehr die Abläufe
niedrigen Abiturientenquote einen schlanken Fuß ma- schneller und kostengünstiger bewerkstelligt werden.
chen. Und Sie müssen sich die Frage gefallen lassen: Die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation
Wie ist Ihr flammendes Plädoyer für mehr Studierende gestatten es, das mit großem Verwaltungsaufwand
mit der kalten Politik Ihres NRW-Wissenschaftsminis- geführte Familienbuch, das im Wesentlichen sowieso
ters zu vereinbaren? Die von Minister Pinkwart ein- Beurkundungen enthält, die primär bereits in den
geführten Studiengebühren führen nachweislich zu Geburten-, Heirats- und Sterbebüchern enthalten sind,
weniger Studienanfängern und zu einem Verdrängungs- abzuschaffen, sodass der bisherige Berg von Familien-
wettbewerb auf dem Ausbildungsmarkt. büchern, der permanent infolge der erheblich gestiege-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6283

(A) nen Mobilität in der Gesellschaft und dadurch deutlich Um Missverständnissen vorzubeugen und aufgrund (C)
häufigeren Wohnortwechseln der Bevölkerung von einem der Tatsache, dass ich gerne aus meiner Rede zur ersten
Standesbeamten zum anderen auf dem Postweg unter- Lesung des PStRG falsch zitiert werde, möchte ich auch
wegs war, entfällt, ohne dass ein Datenverlust eintritt. nochmals kurz auf die Angaben zur Religionszugehörig-
Das in Zukunft schnellere Ausstellen von Personen- keit eingehen. In meiner ersten Rede hatte ich erwähnt,
standsurkunden und das leichtere Einsehen von Regis- dass allgemein immer wieder die Kritik geäußert wurde,
tern garantieren einen besseren Service gegenüber dem dass Beurkundungsangaben auf das erforderliche Maß
Bürger. reduziert werden sollten. Hierbei wurde unter anderem
als nicht personenstandsrelevante Angabe auch die Reli-
Grundsätzlich ist der vorliegende Gesetzentwurf, der gionszugehörigkeit genannt. Ich möchte darauf hinwei-
schon wichtige Änderungen für die Praxis berücksich- sen, dass diese Kritik weder von der CDU/CSU noch
tigt, zu begrüßen, dennoch möchte ich eindringlich auf von mir persönlich geäußert wurde, wir selbstverständ-
die Beschlussempfehlung des Innenausschusses hin- lich aber diesen Kritikpunkt aufgegriffen und geprüft
weisen, die auf Betreiben der Koalitionsfraktionen Än- haben. Aufgrund der Tatsache, dass die Angaben zur Re-
derungsmaßgaben, wie beispielsweise in einem neu ligionszugehörigkeit freiwillig, also entweder auf
einzuführenden Abschnitt 6 die Länderöffnungsklausel, Wunsch der Eltern – § 21 Abs. 1 Nr. 4 PStRG – oder auf
enthält. Die Länderöffnungsklausel wurde bereits vom Wunsch des Kindes – § 27 Abs. 3 Nr. 5 PStRG – in das
Bundesrat in Ergänzung des Lebenspartnerschaftsge- Geburtenregister eingetragen werden, sehen wir als
setzes vorgeschlagen – Bundestagsdrucksache 16/1831, CDU/CSU keine Veranlassung, diese Angaben aus dem
Seite 81 f. – und die Bundesregierung hat diesem Vor- Angabenkatalog zu streichen. Die betroffenen §§ 57, 59,
schlag entsprechend zugestimmt – Bundestagsdrucksache 60, 65 Abs. 2 und 3 des PStRG unterliegen demnach
16/1831, Seite 114. Mit der Länderöffnungsklausel wird ebenso der freiwilligen Eintragung, da hier nur Angaben
sichergestellt, dass das Personenstandsgesetz, das die zur Religionsgemeinschaft aufgenommen werden, so-
Begründung und die Beurkundung von eingetragenen fern sie sich schon aus dem Registereintrag ergeben. In-
Lebenspartnerschaften einheitlich beim Standesbeamten sofern haben wir für das Anliegen der katholischen und
bzw. beim Standesamt vorsieht, keine Anwendung der evangelischen Kirche Verständnis, die Angaben zur
findet, wenn landesrechtliche Vorschriften – bis zum Religionszugehörigkeit im Angabenkatalog zu belassen.
1. Januar 2009 – bestehen, die vorsehen, dass die jewei- Das Personenstandsreformgesetz ist eine längst über-
ligen Erklärungen für eine eingetragene Lebenspartner- fällige Maßnahme, die langfristig erhebliche Kosten
schaft auch gegenüber einer anderen Urkundsperson einspart, und ein wichtiger Schritt zu einer modernen
oder einer anderen Behörde abgegeben werden können. Verwaltung mit Bürgernähe. Mit diesem Gesetz können
(B) die Länder nunmehr zur Tat schreiten und die Moder- (D)
Diese Maßnahme ist ausdrücklich zu begrüßen, da
nisierung ihrer Verwaltung weiter vorantreiben. Aus
sich die landesrechtlichen Regelungen, zum Beispiel in
diesem Grunde bitte ich Sie, dem Gesetzentwurf mit den
Baden-Württemberg – Landratsämter und Bürgermeis- Maßgaben der Beschlussempfehlung des Innenausschus-
terämter – und in Bayern – Notare –, bewährt haben. In ses zuzustimmen.
Bayern beispielsweise ist durch das Gesetz zur Ausfüh-
rung des Lebenspartnerschaftsgesetzes die Zuständigkeit
für die Mitwirkung bei Begründung und Beurkundung Gabriele Fograscher (SPD): Heute beraten wir in
von Lebenspartnerschaften auf die Notare übertragen zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zur Re-
worden. Rund 1 500 im Lebenspartnerschaftsbuch regis- form des Personenstandsrechts. Dieser Entwurf ist noch
trierte Lebenspartnerschaften bestätigen die durchweg in der letzten Wahlperiode eingebracht worden. Obwohl
positive Resonanz der Beteiligten, die Akzeptanz und dieses Thema politisch nicht brisant ist, betrifft es aber
die Qualifikation der Notare. Die Kompetenz der Notare jeden einzelnen Bürger und jede einzelne Bürgerin in
bei der Beratung über Möglichkeiten und Folgen des unserem Land im täglichen Leben. Bei Geburt, Umzug,
Rechtsinstituts der Lebenspartnerschaft, insbesondere Hochzeit, Scheidung, Kindern und Tod spielt das Perso-
im Familien- und Erbrecht, werden von den künftigen nenstandsrecht eine wichtige Rolle.
Lebenspartnern besonders geschätzt, was sich nicht zu- Gegenstand des Gesetzentwurfes ist die grundlegende
letzt an den Paaren aus anderen Bundesländern und auch Reform des Personenstandsrechts. Schwerpunkt der Re-
aus dem Ausland zeigt, die die Begründung ihrer Part- form ist die Nutzung der elektronischen Medien für die
nerschaft vor einem bayerischen Notar wünschen. Viele Registerführung und die elektronische Kommunikation
Paare schätzen überdies die Diskretion der Notarlösung mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie mit Behörden
und das vielleicht doch ein oder andere Mal stilvollere und anderen Stellen über Personenstandsvorgänge.
und angenehmere Ambiente in den Räumlichkeiten ei-
nes Notariats, die meist doch nicht den Charme eines Der Gesetzentwurf sieht die Ablösung des geltenden
nüchternen Funktionalbaus haben. Personenstandsgesetzes durch ein neues Personenstands-
gesetz und die damit zusammenhängenden Änderungen
Diese derzeit noch auf Bayern beschränkte Bürger- im Bundesrecht vor. Als Schwerpunkte der Reform sind
nähe mit hoher Beratungskompetenz sollte der Bevölke- zu nennen: Einführung elektronischer Personenstandsre-
rung durch das Personenstandsrechtsgesetz nicht wieder gister anstelle der bisherigen Personenstandsbücher; Be-
entzogen werden bzw. sollte auch der Bevölkerung in grenzung der Fortführung der Personenstandsregister
ganz Deutschland zugute kommen. durch die Standesämter und Abgabe der Register an die
6284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Archive; Ersetzung des Familienbuches durch Beurkun- schaftlichen Anerkennung der Lebenspartnerschaften (C)
dungen in den Personenstandsregistern; Reduzierung der gekommen, die heute bereits einen nicht kleinen Teil der
Beurkundungsdaten auf die Daten, die zur Dokumenta- Form des Zusammenlebens von Menschen ausmachen.
tion des Personenstandes notwendig sind; Neuordnung Leider war dieses aber mit den Bundesländern nicht zu
der Nutzung der Personenstandsbücher und Schaffung erreichen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen müssen.
einer rechtlichen Grundlage für eine Testamentsdatei.
Der Gesetzentwurf ist längst überfällig und stellt ei-
Die Umstellung auf elektronische Register bedeutet nen ersten, aber sehr wichtigen und recht umfassenden
zum einen Erleichterungen für die Mitarbeiterinnen und Schritt zur Modernisierung des Personenstandswesens
Mitarbeiter in den Standesämtern und Archiven und zum dar. Deshalb stimmt die SPD-Bundestagsfraktion dem
anderen eine Verbesserung des Services für die Bürge- geänderten Entwurf in der Ausschussfassung zu.
rinnen und Bürger. Dieses ist durchaus zu begrüßen.
Aber mit dem In-Kraft-Treten des Personenstands-
Natürlich entstehen durch die Umstellung auf elektro- rechtsreformgesetzes sollte dieses Thema nicht beendet
nische Medien Kosten, die sich vorrangig auf die kom- sein. Im Rahmen des weiteren Zusammenwachsens in
munalen Haushalte auswirken. In der Umstellungsphase, Europa müssen wir weitere Schritte unternehmen, um
die mit fünf Jahren berechnet wird, werden jährlich circa nicht ein rückständiges Personenstandsrecht zu haben.
17 Millionen Euro für die Anschaffungen und Umstel-
lungen – Lehrgänge etc. – anfallen. Aufgrund der wachsenden Mobilität der Bürgerinnen
und Bürger in der Europäischen Union werden wir mit-
Nach Beendigung der Umstellung stehen jährlich telfristig zu einer Angleichung der Vorschriften im Per-
Mehrausgaben von etwa 14 Millionen Euro einem Ein- sonenstandsrecht in Europa kommen müssen. Hier kön-
sparvolumen von etwa 18 Millionen Euro gegenüber, nen wir von Ländern wie Slowenien lernen, die im
was einer durchschnittlichen jährlichen Entlastung der Hinblick auf die Digitalisierung und die Vereinfachung
Kommunen von etwa 4 Millionen Euro entspricht. Er- des Personenstandsrechts eine Vorreiterrolle einnehmen.
hebliche Einsparungen in Höhe von etwa 42 Millionen
Euro sind auch bei den Standesämtern durch den Weg- In diesem Zusammenhang halte ich es für sinnvoll,
fall des Familienbuches zu erwarten. Diese Einsparun- zum Beispiel die ereignisbezogenen Register durch per-
gen werden voraussichtlich im sechsten Jahr der Reform sonenbezogene Register zu ersetzen. Somit würde jeder
eintreten. Summa summarum kommt es zu einem jährli- Mensch ein Register bei seiner Geburt erhalten, das sein
chen Einsparvolumen von etwa 46 Millionen Euro für Leben lang weitergeführt wird und auch beim Umzug
die Standesämter ab voraussichtlich 2014. mitwandert. Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine gute
Grundlage für eine solche Systemumstellung. Es gibt be-
(B) Nach den Ausschussberatungen gibt es einige Ände- reits viele Länder in Europa, die personenbezogene Re- (D)
rungen zu dem ursprünglichen Entwurf. Diese sind aber gister führen und damit sehr erfolgreich sind. Deshalb
überwiegend technischer Natur. sollten wir uns bei unseren Nachbarländern informieren
und von ihnen lernen.
Eine entscheidende Änderung gegenüber dem ehema-
ligen rot-grünen Entwurf ist die so genannte Länderöff- Der vorliegende Gesetzentwurf löst das geltende Per-
nungsklausel. Zunächst war vorgesehen, dass auch ein- sonenstandsrecht von 1937 in der Fassung von 1957 ab.
getragene Lebenspartnerschaften vor dem Standesamt zu Nach langen Beratungen bringen wir heute die Perso-
schließen sind. Damit wären unterschiedliche Regelun- nenstandsreform zum Abschluss und können ein
gen in einzelnen Bundesländern abgeschafft worden und 50 Jahre altes Gesetz ablösen.
das Schließen von Lebenspartnerschaften – seit 2001
gibt es 15 000 – würde dem gleichen Verfahren wie die Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle auch bei
Eheschließung unterliegen. meinen Mitberichterstatterinnen und Mitberichterstat-
tern der anderen Fraktionen und auch beim Bundesin-
Leider hat sich vor allem Bayern, wo eingetragene nenministerium für die konstruktive Zusammenarbeit
Lebenspartnerschaften von einem Notar beurkundet bedanken. Einen wertvollen Beitrag aus der Praxis für
werden, gegen diese Regelung gestellt. Somit steht es die Beratungen hat auch der Bundesverband der Deut-
nun jedem Bundesland frei, Erklärungen zur eingetrage- schen Standesbeamtinnen und Standesbeamten geleistet.
nen Lebenspartnerschaft gegenüber dem Standesamt, ei- Auch ihnen gilt mein Dank.
ner anderen Urkundsperson oder anderen Behörde abzu-
geben.
Gisela Piltz (FDP): Heute abend zu später Stunde
Die Länder sind aber verpflichtet, durch landesrecht- soll eine weit reichende Reform des Personenstands-
liche Regelungen sicherzustellen, dass die Beurkundun- rechts in zweiter und dritter Lesung verabschiedet wer-
gen fortlaufend dokumentiert werden und Mitteilungs- den. Leider fand schon die erste Lesung zur Nachtzeit
pflichten, die das Personenstandsrecht voraussetzt, statt. Damit werden wir den grundlegenden Änderungen
erfüllt werden. Zudem muss sichergestellt werden, dass im Bereich des Personenstandsrechts nicht gerecht.
ein Lebenspartnerschaftsregister eingerichtet wird.
Die FDP begrüßt eine Vereinfachung und Verbesse-
Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass es zu einer rung des Personenstandsdrechts. Die Modernisierung
bundeseinheitlichen Regelung zur Beurkundung von und Entbürokratisierung in diesem Bereich ist eine For-
eingetragenen Lebenspartnerschaften gekommen wäre. derung, die wir Liberale schon lange stellen und etwas,
Damit wäre es zu einer größeren rechtlichen und gesell- was wir immer unterstützt haben. Gerade angesichts der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6285

(A) Verbesserung der technischen Möglichkeiten ist eine schaften in ganz Deutschland der Weg zum Standesamt (C)
Reform in diesem Bereich dringend notwendig. Der ermöglicht werden. In den einzelnen Bundesländern in
Übergang vom Papierbuch zur elektronischen Register- Deutschland sind unterschiedliche Behörden für Begrün-
führung ist zu begrüßen. Die fortschreitende Entwick- dung und Registrierung von Lebenspartnerschaften zu-
lung im Bereich der elektronischen Medien sollte auch ständig. In den jeweiligen Landesausführungsgesetzen
für die Verwaltung nutzbar gemacht werden. Mit der sind als zuständige Behörde unter anderem der Notar,
Einrichtung von elektronischen Personenstandsregistern die Gemeinden, die Kreisverwaltungen oder der Stan-
wird der Weg hin zu einem wesentlich kostengünstigeren desbeamte zu lesen. Diese Uneinheitlichkeit bedeutet ei-
elektronischen Datenaustausch der Standesämter unter- nen erheblichen Aufwand im Vergleich mit Eheschlie-
einander und mit anderen Behörden geebnet. Dieser Weg ßungen, für die immer das Standesamt zuständig ist.
geht in die richtige Richtung. Wir müssen diesen Weg Gleichgeschlechtliche Paare müssen sich jeweils vor Ort
aber konsequent weitergehen. Unter den Gesichtspunk- erkundigen, wer zuständig ist. Das ist weder bürger-
ten der Deregulierung, Verwaltungsvereinfachung und freundlich noch sachgerecht. Darüber hinaus führen die
Kostenreduzierung muss die öffentliche Verwaltung wei- unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundes-
ter an sich arbeiten. In diesem Zusammenhang möchte ländern zu komplizierten Folgeproblemen, da die Aus-
ich die Bundesregierung dazu auffordern, im Bereich führungsgesetze unzureichend aufeinander abgestimmt
des E-Government deutlich aktiver zu werden. Deutsch- sind.
land hinkt bei der Nutzung der neuen Medien in der öf-
fentlichen Verwaltung im internationalen Vergleich nach Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen Änderungsan-
wie vor hinterher. Warum ist es immer noch nicht mög- trag gestellt, in dem durch die vorgeschlagenen Ände-
lich, dass sich die Bürger sämtliche Anträge online auf rungen eine einheitliche Behördenzuständigkeit geschaf-
den heimischen Computer herunterladen und ausdru- fen wird. Damit wird für die Entgegennahme der
cken? Erklärung, eine Lebenspartnerschaft führen zu wollen,
im gesamten Bundesgebiet der Standesbeamte zustän-
Positiv erwähnen möchte ich, dass die Bürger da- dig. Bereits in der ersten Lesung Mitte dieses Jahres ha-
durch, dass die Urkunden nicht mehr nur von dem Re- ben wir Liberale unsere Bedenken hinsichtlich einer
gister zu führenden Standesamt ausgestellt werden kön- Länderöffnungsklausel deutlich gemacht. Gegen die
nen, deutlich schneller als bisher an die benötigten Einführung sprechen aus datenschutzrechtlicher Sicht
Personenstandsurkunden gelangen können. Auch die Bedenken, die ich hier noch einmal deutlich machen
Reduzierung der Beurkundungsdaten geht in die richtige möchte: Zentrale Datenbestände wecken generell Be-
Richtung. Leider ist der Gesetzentwurf hier aber nicht so gehrlichkeiten, die mit einer zunehmenden Automatisie-
konsequent, wie das insbesondere die Union in der ers- rung der Datenverarbeitung eher noch wachsen als ab-
(B) ten Lesung versprochen hatte. Entgegen Ankündigungen nehmen. Bei einem zentralen Register ist auch der Druck (D)
des Kollegen Stephan Mayer – ausweislich des Proto- zur Einrichtung automatischer Abrufverfahren wesent-
kolls –, die Angaben zur Religionszugehörigkeit zu strei- lich größer als bei zahlreichen dezentralen Registern mit
chen, wird dieses Merkmal weiterhin – auf Wunsch – einem entsprechend geringerem Datenbestand. Vor allen
aufgenommen. Das stößt auch auf die Ablehnung des Dingen hätte ich mir Aufklärung darüber gewünscht,
Bundesverbandes der Deutschen Standesbeamtinnen wieso die Einrichtung eines elektronischen Personen-
und Standesbeamten e. V. Leider war die CDU/CSU im standsregisters notwendig ist. Denn auch bei der Ein-
Innenausschuss nicht in der Lage, dies zu erklären. Wir richtung der vorgesehenen dezentralen elektronischen
hätten uns hier mehr Konsequenz gewünscht. Personenstandsregister können Daten in kürzester Zeit
verschlüsselt übermittelt werden, ohne dass ein Direkt-
Leider ist davon abgewichen worden, dass bundes- zugriff anderer Behörden erforderlich ist. Wie realistisch
weit das Standesamt für Begründung und Registrierung diese Begehrlichkeiten einzuschätzen sind, zeigt die Be-
von eingetragenen Lebenspartnerschaften zuständig sein gründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.
soll. So war es noch in dem ersten Entwurf dieses Geset- Dort heißt es nämlich, dass im Zuge einer breiteren, ge-
zes vorgesehen. Hier musste die große Koalition – wie in gebenenfalls internationalen Datennutzung die bereits
so vielen Fällen – dem Druck der Ministerpräsidenten im Verlaufe der Arbeiten an diesem Entwurf aufgewor-
nachgeben. Nicht nur in diesem Fall hätte ich mir ein fene Frage zu erörtern sei, ob es sinnvoll und zulässig
klares Votum der Bundesregierung gewünscht. Noch auf sei, bei der Beurkundung der Geburt ein persönliches
dem Verbandstag 2006 des LSVD hat Bundesjustizmi- Identifikationsmerkmal zu vergeben, das aus einem
nisterin Zypries unter dem Stichwort „Wir wollen das Nummerncode bestehen könne. Dieser Code wäre als
Standesamt für alle“ eindeutig erklärt, dass die Lebens- Kennziffer für die betreffende Person bereichsübergrei-
partnerschaft zukünftig wie die Ehe in allen Bundeslän- fend nutzbar, ohne dass es regelmäßig weiterer Identi-
dern vor dem Standesbeamten geschlossen werden soll. tätsangaben und -nachweise bedürfe. Auch wenn dies
Dieses Vorhaben hat sich jetzt in Luft aufgelöst. Durch „nur“ die Begründung des Gesetzentwurfs ist und als
die Einführung einer Länderöffnungsklausel in das Le- solche nicht mit beschlossen wird, so erinnert mich das
benspartnerschaftsgesetz sollen die Länder weiter selbst doch an die Personenkennziffer der DDR, und es wird
bestimmen können, welche Behörde für die Begründung klar, in welche Richtung die Regierung in nächster Zeit
und Registrierung von Lebenspartnerschaften zuständig gehen wird.
ist. Damit würde die Unübersichtlichkeit und der Flick-
enteppich bei der Schließung der Lebenspartnerschaften Mit dem Gesetzentwurf zum Personenstandsrecht
beibehalten. Aus unserer Sicht sollte den Lebenspartner- geht die Bundesregierung in die richtige Richtung. Wir
6286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Liberalen hätten uns aber an der einen oder anderen Grundsatz der Datensparsamkeit wird hier also wieder (C)
Stelle eine Änderung des jetzt vorgelegten Gesetzes ge- abgewichen, doch warum eigentlich?
wünscht. Leider hat die große Koalition es nicht für not-
wendig erachtet, auf unsere Argumente einzugehen. Nun, die Gesetzesbegründung liefert einen Hinweis:
Demgemäß ist es uns nicht möglich, diesem Gesetzent- es sei die Frage zu erörtern, heißt es da, ob bei der Ge-
wurf ohne die von uns eingebrachten Änderungen zuzu- burt ein persönliches Identifikationsmerkmal vergeben
werden solle, etwa in Form eines Nummerncodes.
stimmen.
Einigen von Ihnen wird geläufig sein, worauf das hin-
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Angesichts der gestiege- ausläuft: die Personenkennziffer, wie man sie aus dem
nen Mobilität in unserer Gesellschaft ist die Ersetzung Personenstandsgesetz der DDR kennt. Aber man will an-
des papiernen Personenstandsbuchs durch einen elektro- scheinend noch weiter gehen: Diese Personenkennziffer
nischen Registereintrag sinnvoll und richtig. Wir begrü- soll sowohl bereichsübergreifend als auch international
ßen ausdrücklich, dass dabei weitgehend dem Grundsatz genutzt werden können. Was heißt das? Soll diese Perso-
der Datensparsamkeit Genüge getan wurde: Erstens soll nenkennziffer mit anderen, zentral geführten Dateien
es nur eine Stelle geben, die das elektronische Personen- verknüpft werden können? Soll es ein EU-weites Perso-
standsbuch führt, daneben ist nur eine Sicherungskopie nenregister geben? Das sind offene Fragen, die befürch-
an einem anderen Ort vorgesehen. Zweitens werden ei- ten lassen, dass uns hier ein Trojanisches Pferd unterge-
nige Angaben nicht mehr zwingend erfasst, so der Be- jubelt werden soll, hin zu noch mehr zentralisierter
rufsstand und die Religionszugehörigkeit der Eltern. Die Erfassung der Bürgerinnen und Bürger. Wir werden die-
Abschaffung des Familienbuchs, des Geburtsscheines ses Trojanische Pferd im Auge behalten!
und der Abstammungsurkunde gehören ebenfalls zu den
begrüßenswerten Neuerungen. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die CDU/CSU konnte sich nie mit der
Es gibt allerdings einige Punkte, die wir an diesem Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Lebenspart-
Gesetzentwurf weiterhin strikt ablehnen. Es tun sich nerschaft anfreunden. Nur mit Widerwillen hat sie das
auch einige Widersprüche im Gesetzentwurf auf. So Reformgesetz in den unionsregierten Bundesländern
wird sowohl im Gesetzestext selbst als auch in der Be- umgesetzt. Die diskriminierende Einstellung der CDU/
gründung daran festgehalten, dass die Standesämter und CSU gegenüber Lesben und Schwulen wurde in der De-
mit ihnen die elektronischen Personenstandsbücher von batte um das Personenstandsreformgesetz im Innenaus-
allen anderen Behörden strikt getrennt sein sollen. Dies schuss erneut deutlich. Die Interessen der Notare wiegen
wird, ganz richtig, mit den besonders sensiblen Daten in eben mehr als das überfällige Ende einer langen Ge-
diesen Büchern begründet. Man muss sich dann aber die schichte der Verfolgung und Diskriminierung.
(B) Frage stellen, warum der Gesetzentwurf zur Übermitt- (D)
lung an andere Behörden ermächtigt, wenn diese die Da- Nach dem Willen der Koalitionsfraktionen soll das
ten „zur Erfüllung ihrer Aufgaben“ benötigen. Warum Glück der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft
können die Behörden nicht benannt werden, die auf Da- nicht in allen Bundesländern im feierlichen Rahmen der
ten aus den Personenstandsbüchern angewiesen sind? Trauzimmer der Standesämter besiegelt werden. Durch
Warum können anderweitige Zwecke, für die diese Da- die Öffnungsklausel darf Bayern weiterhin das Standes-
ten gebraucht werden, nicht benannt werden? Warum amt zur No-go-Area für Schwule und Lesben erklären.
diese unbestimmte Mitteilungspflicht? Außerdem fehlt In Rheinland-Pfalz werden Schwule und Lesben, die
jeder Hinweis darauf, dass Betroffene von der Mittei- eine Lebenspartnerschaft eingehen wollen, weiter ins
lung ihrer Daten an Dritte unterrichtet werden müssen, Kreisamt geschickt.
von einer Einverständniserklärung ganz zu schweigen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kom-
Es ist zuletzt in der Anhörung des Innenausschusses men Sie endlich im toleranten und modernen Deutsch-
von den Sachverständigen klar gesagt worden, dass es in land an. Ganz gleich, ob Heteroehe oder gleichge-
Zeiten erleichterten elektronischen Datenverkehrs eine schlechtliche Lebenspartnerschaft, was zählt, ist die
Anpassung des Datenschutzes geben muss. Dass Daten Liebe und die Bereitschaft, füreinander einzustehen in
technisch leicht zu übermitteln sind, darf nicht automa- guten und in schlechten Zeiten.
tisch heißen, dass sie es auch rechtlich sein müssen. Dem
Dass das Lebenspartnerschaftsgesetz ein grünes
Recht auf informationelle Selbstbestimmung muss Ge-
Gesetz war, wird dadurch deutlich, dass die SPD das
nüge getan werden. Das berücksichtigt der Gesetzent-
vorliegende Gesetz begrüßt und keinen Konflikt mit dem
wurf nicht.
Koalitionspartner eingeht. Im Antrag der Koalitionsfrak-
Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen, der tionen heißt es wörtlich:
unseren Widerspruch hervorruft: Es soll nämlich auch Die bisher bereits bestehenden abweichenden Zu-
eine weitere Datensammlung geschaffen werden, das so ständigkeitsregelungen in verschiedenen Bundes-
genannte Geburtenregister nach § 21 des neuen Perso- ländern haben sich bewährt.
nenstandsgesetzes. Hier wird ohne erkennbaren sachli-
chen Grund eine Doppelstruktur aufgebaut: In das Ge- Das glatte Gegenteil ist der Fall. Die unterschiedli-
burtenregister sollen Eheschließung und Verpartnerung chen Zuständigkeiten schaffen Verwaltungswirrwarr und
ebenso eingetragen werden wie die Geburt von Kindern. sind vor allem diskriminierend. Wir sagen den Schwulen
Dabei werden Eheschließung und Verpartnerung selbst und Lesben: Eure Beziehung ist genauso viel Wert wie
noch mal in ein eigenes Register eingetragen. Vom die Ehe und wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass bun-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6287

(A) deseinheitlich in allen Ländern die Standesämter für die EU-Chemikalienverordnung REACH sagen können, (C)
gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft zuständig denn die Beratungen sind in diesen Tagen in die Schluss-
sind. phase gekommen.
Das Personenstandsrechtsreformgesetz enthält eine Im Jahr 2001 nahm dieses größte und umfassendste
weitere Diskriminierung. Wir wollten ein Widerspruchs- Gesetzesvorhaben der Europäischen Union seinen
recht für eingetragene Lebenspartnerschaften gegen die Anfang. Seither sind die Kommission, das Europäische
Weitergabe ihres Familienstandes an die Kirchen. Die Parlament, die Mitgliedstaaten mit all ihren Gremien
Weitergabe dieser Daten, die aus kirchensteuerrechtli- und nicht zuletzt hunderte nationaler und internationaler
chen Gründen nicht erforderlich ist, kann zum Verlust Interessengruppen mit den Verhandlungen, der Aus-
des Arbeitsplatzes führen. Der Ständige Rat der Deut- arbeitung, den Neuverhandlungen und nicht enden wol-
schen Bischofskonferenz hat in einer Erklärung vom lender Kompromissfindung beschäftigt. Oft genug
24. Juni 2002 festgestellt, das Rechtsinstitut der Lebens- schien es, als seien Umwelt-, Gesundheits- und Wirt-
partnerschaft widerspräche der Auffassung über Ehe und schaftsaspekte einfach nicht auf einen Nenner zu bringen
Familie, wie sie die katholische Kirche lehre. In Lebens- und es stellte sich die Frage, ob sich die EU mit diesem
partnerschaften lebende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Jahrhundertgesetzeswerk nicht schlicht und ergreifend
im kirchlichen Dienst machen sich deshalb eines übernommen hätte. Zu undurchdringlich schien das Ge-
schwerwiegenden Loyalitätsverstoßes schuldig, der die flecht unterschiedlicher und gegensätzlicher Interessen.
kirchlichen Arbeitgeber nach gefestigter Rechtspre-
chung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses berech- Aber Ende vergangenen Jahres hat es der EU-Wettbe-
tigt. Anstatt dass Sie diese diskriminierende Praxis der werbsrat unter tatkräftiger Mitwirkung der neuen deut-
katholischen Kirche kritisieren, liefern Sie die Daten für schen Bundesregierung trotzdem geschafft, einen aus-
die mögliche Entlassung. gewogenen, sehr tragfähigen Kompromiss zu REACH
Von der CDU habe ich nichts anderes erwartet. Sie ist auszuhandeln. Den meisten Kritikpunkten konnte hierbei
und bleibt eine rückwärtsgewandte Partei, ohne Zugang zur Zufriedenheit der meisten Beteiligten Rechnung getra-
und Verständnis für eine moderne und tolerante Gesell- gen werden.
schaftspolitik. Von der SPD bin ich enttäuscht. Sie waren Nun liegt es – das ist offensichtlich – in der Natur
eben doch nur die Getriebenen des grünen Reformwil- eines Kompromisses, dass nicht jeder jedes seiner An-
lens. liegen in Gänze verwirklicht sehen wird. Ein guter Kom-
Eine Anmerkung zum Datenschutz. Die vorgesehene promiss zeichnet sich dadurch aus, dass alle Beteiligten
Möglichkeit der Länder, zentrale elektronische Per- den Verhandlungstisch mit dem Gefühl verlassen, das
sonenstandsregister einzurichten halten wir für proble- Beschlossene mittragen zu können. Der Gemeinsame
(B) matisch. Zentrale Datensammlungen sind hier nicht Standpunkt des Wettbewerbsrats ist ein solch guter (D)
erforderlich. Wir sehen die Gefahr, dass die Sicherheits- Kompromiss.
behörden hier den automatisierten Zugriff fordern und
irgendwann auch erhalten. Die Koalitionsfraktionen legen mit ihrem Antrag ein
klares Bekenntnis zu diesem Gemeinsamen Standpunkt
Es wird Sie nicht verwundern, auch wenn das Gesetz ab. Indem wir heute über unsere Position abstimmen,
vernünftige Regelungen zum Bürokratieabbau enthält, möchten wir ausdrücklich ein Signal für die Schluss-
die noch aus dem früheren rot-grünen Entwurf stammen, verhandlungen in der EU absenden, gerade nach dem für
lehnen wir den Gesetzentwurf der großen Koalition ab. meine Fraktion äußerst unbefriedigenden Ergebnis im
Er diskriminiert Lesben und Schwule und ist daten- Umweltausschuss des Europäischen Parlaments.
schutzrechtlich problematisch.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein paar Punkte nen-
nen, in denen der Gemeinsame Standpunkt des Rates
Anlage 13 eine grundlegende Verbesserung der Verordnung gegen-
über früheren Entwürfen bedeutet.
Zu Protokoll gegeben Reden
Wir haben erreicht, dass die Zulassung von Stoffen
zur Beratung der Anträge: nicht generell befristet wird. Ich bin der Auffassung,
– REACH – den gemeinsamen Standpunkt dass die ursprünglich vorgesehene Befristung auf fünf
weiter verfolgen Jahre vor dem Hintergrund, dass es die Europäische
Chemikalienagentur realistisch geschätzt schaffen wird,
– REACH – letzte Chance zur Verbesserung etwa zehn bis 15 Stoffe pro Jahr zu bearbeiten, ein büro-
des Umwelt- und Verbraucherschutzes im kratischer Irrsinn ist. Bei circa 150 Stoffen, die das
europäischen Chemikalienrecht nutzen Zulassungsverfahren durchlaufen müssen, würde gerade
– REACH – Chance für eine fortschrittliche ein Drittel der Stoffe geschafft sein, wenn die ersten
Chemikalienpolitik nutzen Zulassungen auslaufen und das Verfahren neu beginnen
muss. Das Verfahren gemäß Gemeinsamem Standpunkt
(Tagesordnungspunkt 25 a bis c) ermöglicht eine nochmalige Überprüfung nach einer im
Einzelfall festzulegenden Frist, wenn – und nur dann –
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Ein altbekanntes Informationen darauf hindeuteten, dass eine Gefährlich-
Sprichwort sagt: „Was lange währt, wird endlich gut.“ keit für Umwelt und Gesundheit besteht. Die Genehmi-
Ich hoffe sehr, dass wir genau das auch bald über die gung kann in diesem Fall bei der Erkenntnis, dass eine
6288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) solche Gefahr besteht, widerrufen werden. Das nenne kleinvolumige Stoffe wäre ein weiterer Wunsch für die (C)
ich eine vernünftige Lösung. zweite Lesung im Europäischen Parlament gewesen.
Wir haben erreicht, dass in größerem Maße neben der Aber auf der Grundlage des Gemeinsamen Stand-
Menge eines Stoffs auch die Gefährlichkeit und dessen punkts besteht nun die Chance, das Verfahren nach sehr
Exposition berücksichtigt werden. Mit dem Gemeinsa- langwierigen Verhandlungen kurzfristig abzuschließen.
men Standpunkt wurden Verwendungs- und Exposi- Bei dieser Aufgabe den Gemeinsamen Standpunkt durch-
tionskategorien als wichtiges Kommunikationsmittel in zusetzen, dafür hat der Umweltminister die unein-
der Verordnung verankert. So sollen sich der Umfang geschränkte Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion.
der bei der Registrierung anzugebenden Daten sowie die Damit könnten wir – und das geht ganz besonders an die
Informationspflichten in der Lieferkette weitergehend an Adresse der Kollegen und Kolleginnen der Grünen und
der Verwendung des Stoffes und seiner Exposition orien- der Linken – zeitnah beginnen, den Weg eines noch siche-
tieren. Damit sind die aus REACH erwachsenden Pflich- reren Umgangs mit chemischen Stoffen zu beschreiten.
ten vor allem auch für mittelständische Unternehmen Sie fordern deutliche Verschärfungen von REACH. Ich
handhabbar. sage Ihnen: Daran scheitert REACH, und dann wird es
weniger statt mehr Umwelt- und Gesundheitsschutz ge-
Im Bereich der Zulassung hat der Wettbewerbsrat ben, als wir heute haben. Nur mit dem Kompromiss des
erreicht, dass über die Gefährlichkeit eines Stoffes als Gemeinsamen Standpunkts können wir für diese und
Bewertungsmaßstab hinaus bei der Zulassungsentschei- kommende Generationen ein hohes Schutzniveau für die
dung insbesondere die sichere Handhabung in Form der menschliche Gesundheit und die Umwelt gewährleisten.
adäquaten Kontrolle des Risikos eines sehr gefährlichen
Stoffes zur Grundlage gemacht wird. Wenn ein gefähr- Der Gemeinsame Standpunkt war ein ausgewogener
licher Stoff sich in einem geschlossenen und sicheren Kompromiss zwischen dem ursprünglichen Verordnungs-
Stoffkreislauf befindet, kann auch allein die theoretische vorschlag der Kommission und der Position des Europäi-
Substitutionsmöglichkeit noch kein Grund für das Ver- schen Parlaments aus erster Lesung. Der Umweltaus-
sagen der Zulassung sein. Das hätte dann mit einem schuss des Europäischen Parlaments hat nun aber den
sinnvollen Schutzszenario für Umwelt und Gesundheit Gemeinsamen Standpunkt wieder weiter verschärft. Die
wenig zu tun. gefundenen und mit großer Mehrheit verabschiedeten
Vorschläge zur Registrierung sowie zum Schutz von
Wir haben erreicht, dass für Stoffe in der produktbe- Betriebsgeheimnissen wurden abgelehnt. Das Zulas-
zogenen Forschung und Entwicklung die Meldepflichten sungsverfahren wurde massiv weiter verschärft. Es geht
erheblich vereinfacht werden und Forschungsprogram- nun nicht mehr um die sichere Verwendung eines Stoffs,
(B) me bei der Notifizierung nicht mehr vorzulegen sind. sondern nur noch um Verbote bestimmter Stoffgruppen, (D)
Wenn wir Innovation wollen, dürfen wir das Potenzial selbst dann, wenn es keinen geeigneten Ersatz gibt. Die
hierfür nicht hemmen, indem wir die zur Verfügung ste- Befristung der Zulassung auf fünf Jahre wurde wieder
henden Stoffe minimieren und Forschungskosten und auf den Tisch gebracht, ungeachtet der Unmöglichkeit
Zeitaufwand immens erhöhen. einer praktischen Umsetzung. Wo bleibt da die Verein-
barkeit der eigentlichen Ziele von REACH, nämlich
Die ursprünglich vorgesehenen Informationspflichten Gesundheits- und Umweltschutz zu verbessern und
haben Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse von Unter- gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen
nehmen in inakzeptabler Art und Weise gefährdet. Wir Wirtschaft zu befördern?
haben erreicht, dass der Know-how-Schutz verbessert
wird, indem sensible Unternehmensdaten vertraulich Die zweite Lesung im Europäischen Parlament steht
bleiben können. Nur so können auch langfristig faire kurz bevor. Hinter den Kulissen brodelt es. Manchmal
Wettbewerbsbedingungen gewährleistet werden. Auch sieht es so aus, als könne REACH an dieser Stelle noch
dieser Punkt ist besonders wichtig für die Schluss- scheitern. Wir haben es also noch nicht geschafft. Des-
verhandlungen im Europäischen Parlament, da der Um- halb halte ich es für ausgesprochen wichtig, dass wir vor
weltausschuss in Brüssel wettbewerbsgefährdende Be- dieser zweiten Lesung ein entsprechendes Signal nach
lastungen für die Wirtschaft beschlossen hat, die es jetzt Brüssel senden. Der Gemeinsame Standpunkt ist ein
zu verhindern gilt. fairer und tragfähiger Kompromiss. Umwelt und Ge-
sundheitsschutz werden im Vergleich zum Status quo
Ich könnte diese Liste fortsetzen. erheblich aufgewertet und auch die chemische Industrie,
die anfangs mit großer Skepsis auf REACH reagiert hat,
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Punkte, die kann sich mit den jetzt gefundenen Regelungen arran-
wir gerne anders geregelt gesehen hätten. So konnte zum gieren. Jetzt ist es an uns, den Gemeinsamen Stand-
Beispiel mit dem Gemeinsamen Standpunkt für die Regis- punkt, der in nicht unerheblichem Maße ein deutscher
trierung von Stoffen mit Jahresmengen zwischen zehn Standpunkt ist, auch zu vermitteln. Wer glaubt, das Paket
und 100 Tonnen keine wesentliche Erleichterung bei den nochmals aufschnüren zu können, hat schon verloren.
Testanforderungen erreicht werden. Diese treffen beson- Ein wiederholtes Aufschnüren des gefundenen Kompro-
ders kleine und mittelständische Unternehmen. Bei den misses würde bedeuten, dass eine Einigung in weite
Testanforderungen hätten wir uns auch im Interesse Ferne rückt. Die Konsequenz wäre, dass Hunderte von
eines besseren Tierschutzes mehr gewünscht; dies bleibt Altstoffen langfristig unregistriert blieben. Das kann
ein Thema für die weitere praktische Umsetzung von nicht in unserem Interesse sein. Deshalb muss der Deut-
REACH. Die Eindämmung der Registrierungskosten für sche Bundestag sich nachdrücklich für die Beibehaltung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6289

(A) des Gemeinsamen Standpunkts als Grundlage für die zu- ner bringen: Wollen wir mehr Sicherheit im Umgang mit (C)
künftige Ausgestaltung von REACH aussprechen. Das besonders gefährlichen chemischen Stoffen? Reicht uns
können wir heute tun, indem wir den Antrag der Regie- also die Zusage, dass solche Gefahrstoffe bei planmäßi-
rungsfraktionen beschließen. Dafür bitte ich Sie um Ihre gem Einsatz keinen Kontakt mit Mensch und Umwelt
Unterstützung. haben? Oder können wir nicht ruhiger schlafen, wenn
solche – ich nenne sie einmal Gruselstoffe – gar nicht
Heinz Schmitt (Landau) (SPD): REACH, die Ver- erst eingesetzt werden? Wäre es nicht besser, solche
ordnung für eine neue, eine fortschrittliche Chemiepoli- Stoffe, wo immer möglich, auch konsequent durch weni-
tik in Europa, ist auf der Zielgeraden. Die zweite Lesung ger bedenkliche Stoffe zu ersetzen?
im Europäischen Parlament hat begonnen. Wenn Rat und Auch einem strengeren Vorgehen beim Verfahren der
Parlament noch einige gegensätzliche Positionen ausräu- Zulassung kann ich viel abgewinnen. Es ist zwar noch
men, können die neuen Regeln für den Umgang mit nicht ganz klar, worauf sich Rat und Parlament verständi-
Chemikalien in absehbarer Zeit an den Start gehen. gen werden. Aber ich bin sicher: Sie werden sich einigen.
Die Regierungskoalition hat heute einen Antrag Politik ist nicht das Wünschenswerte. Das hat jeder
vorgelegt, der vor allen Dingen eines zum Ausdruck hier im Haus schon das eine oder andere Mal erfahren.
bringen soll: Wir wollen mehr Sicherheit beim Umgang Politik ist die Kunst des Möglichen. Daher waren und
mit chemischen Stoffen in Europa. Und: Wir stehen zu sind auch bei REACH Kompromisse in vielen Einzelfra-
REACH. Wir stehen zu dieser Reform. gen erforderlich. Wir dürfen dabei aber nicht das Große
und Ganze aus den Augen verlieren. Ich will daher noch-
Bei einem so großen Vorhaben waren in den zurück- mals betonen, wie wichtig es ist, dass REACH startet.
liegenden Jahren naturgemäß die Ansichten über die
Ausgestaltung sehr unterschiedlich. Von daher war zu REACH wird – wie immer die Details letztendlich
erwarten, dass bis zuletzt um Details gerungen wird. aussehen – in jedem Fall den Umgang mit chemischen
Stoffen in Europa sicherer machen. Wir wissen heute
Mitte dieses Jahres hat nun der Rat einen gemein- über die Chemikalien auf dem europäischen Markt einfach
samen Standpunkt zu REACH verabschiedet. Dieser ent- viel zu wenig. Das wird sich mit REACH ändern. Chemi-
hielt natürlich Kompromisse. Im Oktober hat der Um- kalien werden nun systematisch erfasst. An zentraler
weltausschuss im Europäischen Parlament dazu Stellung Stelle werden Daten zu chemischen Stoffen gesammelt
genommen. Mit großer Mehrheit hat er sich dafür ausge- und gespeichert, Daten, die wiederum für andere Berei-
sprochen, einige zentrale Punkte in REACH zu verän- che, etwa für den Verbraucherschutz und den Arbeits-
dern. schutz, dringend gebraucht werden. REACH wird dafür
(B) Ich will nicht verheimlichen, dass mir als Umwelt- sorgen, dass wir in Zukunft die Risiken von Stoffen bes- (D)
politiker viele Forderungen der Kollegen im europäi- ser kennen und damit umgehen können.
schen Parlament sympathisch sind: dass eine allgemeine In Zukunft ist die chemische Industrie für ihre Pro-
Sorgfaltspflicht stärker betont werden soll, dass mehr dukte verantwortlich. Die Beweislast wird umgekehrt.
getan werden soll, um Alternativen zu Tierversuchen zu Gefährliche Stoffe, die sich im Körper ansammeln und
entwickeln und dass man bei der Zulassung von beson- Krebs oder Mutationen auslösen können, dürfen in Zu-
ders gefährlichen Stoffen stärker darauf achten soll, kunft nur dann weiterverwendet werden, wenn zumin-
diese Chemikalien zu ersetzen. Damit könnte ich persön- dest der sichere Umgang mit diesen Stoffen garantiert
lich sehr gut leben. ist. Das ist vorteilhaft für kleinere und mittlere Unter-
Der Umweltausschuss fordert außerdem, dass es ge- nehmen:
nerell mehr Daten für Stoffe geben soll, die in kleineren Es soll möglich sein, dass ein Stoff nur einmal re-
Mengen hergestellt werden. Auch damit bin ich einver- gistriert werden muss. Dieses Prinzip – ein Stoff – eine
standen, wenn es um Stoffe geht, mit denen Menschen Registrierung – soll so ausgestaltet sein, dass auch dem
und Umwelt unmittelbar in Berührung kommen. Tierschutz sehr weit gehend entsprochen wird. Un-
Das wäre von der Wirtschaft auch problemlos zu leis- vermeidbare Versuche an Wirbeltieren sollen danach
ten. Denn unsere Chemieindustrie hat sich schon seit tatsächlich nur einmal durchgeführt werden.
Jahren selbst verpflichtet, den sicheren Umgang mit che- Das alles sind bedeutende Fortschritte in der europäi-
mischen Stoffen zu gewährleisten. Die geforderten Da- schen Chemiepolitik, bedeutende Fortschritte für mehr
ten für kleinvolumige Stoffe sind ja eigentlich schon da. Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutz.
Dort allerdings, wo es keinen Kontakt mit Mensch und
Umwelt gibt, macht es durchaus Sinn, die Registrierung Noch ein Blick auf die anderen Anträge zu REACH,
zu erleichtern. die wir heute behandeln: Sie, meine Damen und Herren
von der Linken, sollten sich mal überlegen, was es be-
Wenn die Industrie also belegen kann, dass etwa deuten würde, auf Maximalpositionen und auf Total-
Stoffe nur in einem geschlossenen Prozess eingesetzt konfrontation gegenüber der Wirtschaft zu bestehen. So
werden, dann halte ich es für vertretbar, auf umfangrei- kann man das nicht angehen, um Erfolg zu haben. Es
chere Daten zu verzichten. sind auch viele kleine Betriebe, die REACH umzusetzen
haben.
Knackpunkt zwischen den beiden Gesetzgebern war
und ist bis zuletzt die Frage der Zulassung: Man kann Dieses neue System muss auch für den Mittelstand
die Kontroverse vielleicht auf einen sehr einfachen Nen- handhabbar und praktikabel sein. Daher kann REACH
6290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) nur mit der Wirtschaft und nicht gegen sie gelingen. rung eines Stoffes sollte sich stärker an Risiken und nicht (C)
Sonst stehen Sie am Ende mit hehren Zielen, aber mit nur an Mengen orientieren, wie es auch der Ministerrat
leeren Händen da und REACH würde auf den letzten beschlossen hat. Das ist eine langjährige Forderung der
Metern scheitern. Das wäre ein zu hoher Preis. Das darf FDP. An dieser Regelung gilt es festzuhalten. Allerdings
nicht passieren. Deshalb: REACH muss kommen. muss ich an dieser Stelle betonen, dass auch der Kom-
promiss im Ministerrat zu Belastungen der Unternehmen
Michael Kauch (FDP): Ziel der FDP – und ich denke, führen wird. Die für das Registrierungsverfahren be-
der Mehrheit dieses Hauses – ist eine neue europäische schlossenen Testanforderungen für die Stoffe von 10 bis
Chemikalienpolitik, die Umwelt und Gesundheit effek- 100 Tonnen sind teuer und bürokratisch. Trotzdem war
tiver schützt und zugleich unbürokratisch und mittel- der gefundene Kompromiss ein Fortschritt. Er darf nicht
standsfreundlich ist. aufgeweicht werden. Aber genau das wäre der Fall,
wenn sich die Vorstellungen des Umweltausschusses des
Wie dieses Ziel zu erreichen ist, darüber gehen die Europäischen Parlaments durchsetzen würden. Wir brau-
Meinungen auseinander. Ein Ausdruck dafür sind die chen eine praxisgerechte Ausgestaltung des Registrie-
jüngsten Beschlüsse des Umweltausschusses des Euro- rungsverfahrens.
päischen Parlaments. Sie sind eindeutig ein Rückschritt
im Vergleich zum gemeinsamen Standpunkt des Rates Für Deutschland ist der künftige Weg, der mit REACH
aus dem letzten Jahr und gefährden die Wettbewerbs- gegangen werden soll, von entscheidender Bedeutung,
situation gerade deutscher, vornehmlich kleiner und mit- weil wir der mit Abstand wichtigste Chemiestandort in
telständischer Unternehmen. Europa sind. REACH wird nicht nur Auswirkungen auf
die chemische Industrie haben, sondern auf alle Indus-
Insbesondere die Verschärfungen im Bereich der Zu- triezweige, die Chemikalien oder chemische Produkte
lassung werden zu Belastungen führen, die eine Vielzahl verwenden.
von Unternehmen in ihrer wirtschaftlichen Existenz ge-
fährden. Für die FDP stand von Anfang an fest: Gesundheits-
schutz gewährleisten, ohne Arbeitsplätze zu gefährden.
Dabei waren wir mit dem im Rat gefundenen Kom- REACH muss im Interesse des Umwelt- und Gesund-
promiss bereits einen gutes Stück vorangekommen. Die heitsschutzes wirkungsvoll und im Interesse der betrof-
FDP-Bundestagsfraktion unterstützt im Wesentlichen die fenen Unternehmen praktikabel sein. Sonst droht eine
politische Position des EU-Ministerrates. Diese sollten Schwächung der Innovationsfähigkeit der deutschen
die Bundesregierung und die deutschen Abgeordneten Wirtschaft. Wir appellieren an die Abgeordneten des
des Europäischen Parlaments im weiteren Verfahren Europäischen Parlaments, den Beschlüssen ihres Um-
unterstützen. Denn der Kompromiss im Rat enthält we- weltausschusses nicht zuzustimmen. Insbesondere die (D)
(B) sentliche Fortschritte im Vergleich zu vergangenen Ent-
deutschen Abgeordneten sollten sich ihrer Verantwor-
würfen einer europäischen Chemikalienverordnung. Er tung bewusst sein.
verwirklicht zudem langjährige Forderungen der FDP.
An diesem Kompromiss muss festgehalten werden.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wir reden
Das gilt insbesondere für die unbefristete Zulassung heute über eines der wichtigsten Umweltgesetze in der
von Stoffen. Eine Befristung würde besonders die wei- Geschichte der Europäischen Union. Wie Sie wissen,
terverarbeitende Industrie belasten. Investitionen der wurden bislang nur etwa 4 000 Stoffe darauf geprüft, ob
Unternehmen würden damit infrage gestellt werden. In sie Gesundheit oder Ökosysteme schädigen. Auf dem
Deutschland wäre hier unter anderem die Automobil- EU-Markt befinden sich jedoch etwa 100 000 so ge-
industrie negativ betroffen. Die nun wieder vom Um- nannte Altstoffe, die vor 1981 auf den Markt kamen.
weltausschuss des Europäischen Parlaments ins Spiel Etwa 30 000 davon werden gegenwärtig mit mehr als ei-
gebrachte Befristung auf fünf Jahre muss verhindert ner Tonne Jahresproduktion eingesetzt. Mit ihnen läuft
werden. faktisch ein Großversuch an Mensch und Umwelt.
Gleiches gilt für die vom Rat beschlossene Risiko- In den letzten Jahrzehnten haben auch als Folge die-
bewertung des Einzelfalls. Diese Position war und ist ser Politik Allergien sowie Brustkrebs- und Atem-
richtig. Es wäre der falsche Weg, wenn, wie der EP-Aus- wegserkrankungen zugenommen. Giftcocktails lassen
schuss fordert, trotz Nachweises einer sicheren Verwen- sich selbst noch in der Muttermilch nachweisen.
dung zusätzlich der Nachweis erbracht werden müsste,
dass keine Ersatzstoffe vorliegen. Eine Entscheidung für Die EU-Kommission wollte mit dieser unhaltbaren
eine zwingende Substitution darf nicht Bestandteil von Situation Schluss machen. Doch der Richtlinienvor-
REACH werden. Aus Gründen der Chemikaliensicher- schlag war von Anfang an ein mit harten Bandagen
heit ist sie nicht notwendig. Vielmehr werden die Unter- umkämpftes Werk. Umwelt- und Verbraucherorganisa-
nehmen vor große Herausforderungen gestellt. Die tionen sowie Gewerkschaften standen mächtigen Lobby-
Folge: Bestimmte Stoffe werden aus dem Markt ge- organisationen der chemischen Industrie gegenüber.
drängt, ohne dass dies aus Sicht von Umwelt und Ge- Letztere haben nichts unversucht gelassen, um beim
sundheit erforderlich wäre. langwierigen Gesetzesverfahren die wirtschaftlichen In-
teressen der Chemiekonzerne durchzusetzen.
Wir bedauern darüber hinaus, dass die bereits vom
EU-Parlament beschlossenen Fortschritte im Registrie- Und sie waren erfolgreich: Der ursprüngliche Kom-
rungsverfahren nicht aufgegriffen wurden. Die Registrie- missionsentwurf wurde infolge der ersten Lesung dras-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6291

(A) tisch verschlechtert. Von den 30 000 als relevant be- werden könne, möchte man einen Antrag der großen (C)
trachteten Chemikalien müssten nach diesem Entwurf Koalition, der tatsächlich das Gegenteil dessen ist, offen-
nun nur noch 12 000 gründlich überprüft werden. Zudem sichtlich nachts – wenn alles schläft – durchs Parlament
wanderte die Beweislast bezüglich der Unbedenklichkeit mogeln.
von den Herstellern wieder zurück zu den Behörden. Ge-
nau dies sollte jedoch durch REACH eigentlich umge- An fehlender Bedeutung des Themas Chemiepolitik
kehrt werden. jedenfalls kann der späte Aufsetzungstermin sicher nicht
gelegen haben: Die Neugestaltung der europäischen
In der ersten Lesung hatte sich das EU-Parlament zu- Chemikalienpolitik ist nach dem Emissionshandel das
mindest noch dafür ausgesprochen, gefährliche Chemi- bedeutendste und ambitionierteste europäische Umwelt-
kalien zu ersetzen, wenn es sicherere Alternativen gibt. gesetzgebungsverfahren der letzten Jahre. Es ist für den
Aber selbst diese einzige positive Veränderung zum Schutz von Umwelt und Gesundheit von genauso zentra-
Kommissionsentwurf wurde vom Rat kassiert. ler Bedeutung wie für die europäische Chemieindustrie.
Insgesamt stellte sich damit die Frage, ob ein solches Wenn man sich den Antrag der großen Koalition ein-
Chemikalienrecht nicht hinter das bisherige zurückfallen mal genau anschaut, wird schnell klar, dass sie sich of-
würde. Schließlich würden die niedrigen Registrierungs- fensichtlich nur mit allergrößter Mühe überhaupt auf ei-
und Zulassungskriterien nun ebenfalls für die Neustoffe
nen gemeinsamen Antrag haben einigen können. Im
gelten, welche gegenwärtig noch einem vorbildlichen
Ergebnis hat die große Koalition heute einen Antrag vor-
Registrierungsverfahren unterliegen.
gelegt, der eine ambitionierte Umweltpolitik noch im-
Nunmehr hat der Umweltausschuss des Europaparla- mer als Gängelung der Wirtschaft sieht und eben nicht
ments am 10. Oktober 2006 einen wichtigen Schritt für als Chance begreift, dass sich die Wirtschaft durch öko-
den besseren Schutz von Umwelt und Gesundheit vor logische Innovationen rechtzeitig Zukunftsmärkte si-
gefährlichen Chemikalien getan: Er sprach sich mit gro- chert. So begrüßt sie die Entscheidung des europäischen
ßer Mehrheit dafür aus, dass Chemieunternehmen ge- Wettbewerbsrates als einen insgesamt tragfähigen Kom-
fährliche Chemikalien ersetzen müssen, wenn sichere promiss, obwohl die Beschlüsse hinsichtlich der Verbes-
Alternativen zur Verfügung stehen. serung des Umwelt- und Gesundheitsschutzes mehr als
enttäuschend waren. Nicht ohne Grund hat Wirtschaft-
Zudem hat sich der Umweltausschuss für die Auf- minister Michael Glos die Einigung im Rat damals mit
nahme einer allgemeinen Sorgfaltspflicht in den Verord- den Worten begrüßt, dass es gelungen sei, eine wirt-
nungsentwurf entschieden. Danach würden die Chemie- schaftsfreundliche Lösung bei REACH durchzusetzen.
produzenten für die Sicherheit all ihrer Produkte Vor allem die Tatsache, dass nach der gemeinsamen Po-
(B) – unabhängig von der jährlich hergestellten Menge – sition des europäischen Rates gefährliche Chemikalien (D)
verantwortlich gemacht. Verbraucher sollen zudem mehr auch dann zugelassen werden können, wenn es sicherere
Informationen über jene Chemikalien bekommen, die in Alternativen gibt, ist kein Anreiz zu Entwicklung neuer
den von ihnen erworbenen Alltagsgegenständen enthal- Stoffe. Eine ökologische Industriepolitik oder ein New
ten sind. Deal sieht für uns Grüne tatsächlich anders aus. Ihr Han-
Insgesamt wurde mit den Veränderungen zwar im Be- deln in der Chemiepolitik wäre tatsächlich wohl weitaus
reich der Testanforderungen nicht das ursprüngliche treffender als „no deal“ zu bezeichnen.
Schutzniveau des Kommissionsentwurfs erreicht. REACH
wurde aber in wichtigen Teilen verbessert. Wir bedauern, dass im Verlaufe des europäischen
Gesetzgebungsverfahrens von der Vorlage eines ersten
Aus diesem Grund – das ist auch der Inhalt unseres Entwurfes bis hin zur gemeinsamen Position des Minister-
Antrags – fordern wir die Bundesregierung auf, im EU- rates für Wettbewerb am 13. Dezember 2005 der Verord-
Wettbewerbsministerrat darauf hinzuarbeiten, dass die nungsentwurf immer weiter zugunsten kurzfristiger wirt-
umwelt- und gesundheitsfreundlichen Positionen des schaftlicher Ziele abgeschwächt wurde. Es ist derzeit
Umweltausschusses des Europaparlaments übernommen offen, ob das erklärte Ziel von REACH, den Umwelt-
werden. Die Bundesregierung muss dazu insbesondere und Gesundheitsschutz zu verbessern, überhaupt noch
ihren Widerstand gegen die Substitution gefährlicher erreicht werden kann. Nach derzeitigem Verhand-
Stoffe aufgeben. lungstand auf europäischer Ebene bedeutet es vor allem
aber eines: Eine verpasste wirtschaftliche Chance.
Die letzte Chance zu einem fortschrittlichen europäi-
schen Chemikalienrecht darf nicht vergeben werden. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die
noch bestehenden Spielräume auszuschöpfen, um noch
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zu einer Verbesserung des Umwelt- und Verbraucher-
Dass die große Koalition diesen Tagesordnungspunkt ur- schutzes in der REACH-Verordnung zu kommen. Herr
sprünglich für die Zeit von 3 Uhr bis 3.35 Uhr auf die Minister Gabriel, lassen Sie ihren Ankündigungen zur
Tagesordnung des Deutschen Bundestages hat setzen ökologischen Industriepolitik nun Taten folgen und grei-
lassen, spricht Bände: Vor dem Hintergrund der bemer- fen sie unter anderem den Vorschlag des Europäischen
kenswerten Ankündigung des Umweltministers von Parlamentes zur Stärkung der allgemeinen Sorgfalts-
vergangener Woche, dass man nur durch eine aktive pflicht auf. Setzen sie sich dafür ein, dass Hersteller, Im-
ökologisch-industriepolitische Strategie den umweltpoli- porteure und nachgeschaltete Anwender sicherstellen
tischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht müssen, dass ihre Substanzen der Umwelt und der
6292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) menschlichen Gesundheit nicht schaden und sich zu ent- lichen Quellen sei derzeit keine Bedrohung zurückkeh- (C)
sprechenden Maßnahmen verpflichten. render Personen festzustellen. Ernsthafte und wahllose
Bedrohungen für Leben, körperliche Unversehrtheit
Zu unseren zentralen Forderungen an die Bundesre- oder Freiheit, die auf allgemeiner Gewalt oder öffent-
gierung gehört vor allem aber auch, den Substitutionsan- licher Gewalt beruhen, fänden gegenwärtig nicht mehr
reiz für Unternehmen zu stärken, indem eine Zulassung statt. Der UNHCR erhebt gegen die Rückführung von
gefährlicher Chemikalien nur befristet erteilt wird. Auch ausreisepflichtigen Personen nach Togo dementspre-
muss der verpflichtende Ersatz gefährlicher Stoffe vor- chend auch keine Einwände.
geschrieben werden. Gefährliche Stoffe dürfen zukünftig
nur dann zugelassen werden, wenn es tatsächlich keine Wie vom UNHCR angeregt, findet gleichwohl seitens
sicheren Alternativen gibt, ihr Nutzen das Risiko nach- des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach
weislich überwiegt und die Risiken beherrschbar sind. § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes in jedem Einzelfall
Wenn die Märkte der Zukunft tatsächlich grün sind, eine Prüfung statt, ob dem ausreisepflichtigen Ausländer
wie Sie, Herr Minister Gabriel, es in Ihrem Memoran- ausnahmsweise nicht doch Gefahren drohen, die einen
dum für „Ökologische Industriepolitik“ erwarten, dann subsidiären Schutz begründen könnten. Dabei werden
müssen Sie auch wirksame Anreize für ökologische In- auch exilpolitische Aktivitäten oder regimekritische Äu-
novationen schaffen. Das gilt in ganz besonderem Maße ßerungen berücksichtigt. Die Prüfungen laufen in allen
für die Chemieindustrie. Denn die von Ihnen, Herr Mi- Außenstellen des Bundesamtes ausgesprochen gewis-
nister Gabriel, eingeforderte Notwendigkeit einer dritten senhaft und haben trotzdem in keinem einzigen Fall zu
industriellen Revolution wird nicht vom Himmel fallen. einem Abschiebeschutz geführt.
Deshalb fordern wir Sie auf: Unterstützen Sie unseren Ganz im Gegenteil ist am 19. September 2006 sogar
Antrag und schaffen Sie auch in der Chemieindustrie ein EU-Sammelcharter erfolgreich durchgeführt worden,
wirksame Anreize für echte ökologische Innovation. der mit ausreisepflichtigen Ausländern aus verschiedenen
EU-Ländern besetzt war und der von der EU kofinan-
ziert wurde. Bisher ist nicht ansatzweise bekannt, dass
Anlage 14 irgendeinem der zurückgeführten Ausländer ein Leid
Zu Protokoll gegebene Reden angetan worden wäre. Schon alleine das zeigt die Frag-
würdigkeit Ihres Antrages: Andere EU-Mitgliedstaaten
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des organisieren einen Sammelcharter zur Rückführung von
Berichts zu dem Antrag: Bundesweiter Ab- Togolesen, an dem wir uns dankenswerterweise beteili-
schiebestopp für Flüchtlinge aus Togo (Tages- gen dürfen, und Sie wollen einen Abschiebestopp durch-
(B) ordnungspunkt 24) setzen. Sie schaden den Interessen unseres Landes. Das (D)
ist die zentrale Konsequenz, die man aus Ihrem Antrag
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der Antrag der ziehen muss!
Fraktion Die Linke für einen Abschiebestopp von
Flüchtlingen aus Togo reiht sich ein in eine Vielzahl von Es gab bisher nur ein Bundesland, das sich für einen
Versuchen, mit denen auf unterschiedlichste Art und Abschiebestopp entschlossen hatte, Mecklenburg-Vor-
Weise erreicht werden soll, eine vernünftige Steuerung pommern. Das dürfte sich mit dem Regierungswechsel
der Zuwanderung zu unterlaufen und die konsequente nun auch erledigt haben. Ich will aber schon verdeut-
Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer zu verhindern. lichen, dass selbst Ihre Genossen in Schwerin wussten,
Sie wollen die Rückführung von Personen verhindern, wie schwach Ihre Argumente waren. Mecklenburg-
deren Asylverfahren rechtskräftig abgelehnt wurde und Vorpommern hatte für die Innenministerkonferenz im
die jetzt zum Teil nicht unerhebliche Sozialleistungen in Frühjahr 2006 das Thema „Situation in Togo“ für die
Anspruch nehmen. Sie wollen die Rückführung von Per- Tagesordnung angemeldet, dann aber kurz vor der Ta-
sonen verhindern, die zum Teil schwarz arbeiten und die gung das Thema von sich aus wieder zurückgezogen und
– auch solche Fälle sind darunter und sollen zuförderst den Abschiebestopp auf sechs Monate befristet. Ich gehe
abgeschoben werden – nicht unerhebliche Straftaten in davon aus, dass beim nächsten EU-Sammelcharter jetzt
Deutschland verübt haben. Um es zusammenzufassen: auch ausreisepflichtige Togolesen aus Mecklenburg-
Ihr Antrag ist völlig unverantwortlich! Vorpommern dabei sein werden.

Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, in Togo herrsche Ich will nochmals eines ganz klar betonen: Zu einer
ein Klima des Terrors und der Angst und es seien dem- glaubwürdigen Steuerung der Zuwanderung gehört auch
entsprechend abschieberelevante Schlussfolgerungen zu eine konsequente Rückführungspolitik. Dass es sehr
ziehen. Sie erwähnen in Ihrem Antrag auch die aktuelle wohl eine erhebliche Sogwirkung haben kann, wenn
Stellungnahme des UNHCR, des Hohen Flüchtlings- eine solche Rückführungspolitik nicht konsequent
kommissars der Vereinten Nationen, vom 7. August 2006. durchgeführt und Illegalen Hoffnung gemacht wird, sie
Sie unterschlagen aber, was er dort festgestellt hat und könnten sich trotz Ausreisepflicht sich in einem Land
was ihrem Antrag diametral widerspricht. weiter aufhalten, kann man an der Situation vor den
Küsten Spaniens und Italiens eindrucksvoll beobachten.
Die Sicherheitslage hat sich gegenüber der Einschät- Wer Legalisierungskampagnen für Illegale durchführt,
zung von 2005 nämlich entscheidend verbessert. Die der darf sich nicht wundern, wenn Schlepper und
Situation in Togo habe sich stabilisiert, heißt es in der Schleuser darauf sofort reagieren. Dass wir einen erheb-
Stellungnahme des UNHCR. Basierend auf verläss- lichen Rückgang beim Missbrauch des Asylrechts und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6293

(A) der Zuwanderung von Illegalen in Deutschland haben, kreten Einzelfall eventuell bestehende Gefährdungen. (C)
hängt auch mit unserer konsequenten Steuerung der Zu- Insbesondere solchen Personen wird Abschiebeschutz
wanderung zusammen. Und das heißt auch, dass wir gewährt, bei denen eine neuerliche Verfolgung wegen
Schleuserbanden keine Chance geben, den Menschen in ihrer vormaligen politischen oder auch exilpolitischen
Afrika Hoffnungen zu machen, dass sie, wenn sie Aktivitäten nicht mit hinreichender Sicherheit ausge-
Schleusern nur viele Dollars geben, auf Dauer in schlossen werden kann. So wird uns dies vonseiten des
Deutschland bleiben. Der Kampf gegen Schleuser und Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge versichert,
Schlepper setzt neben einer Bekämpfung von Flucht- dessen Amtsleitung unser volles Vertrauen hat. So sieht
ursachen in den Heimatländern der Flüchtlinge eben es auch der Bundesminister des Inneren. Wir erwarten
auch voraus, dass sich dort herumspricht, dass es wegen ungeachtet dessen, dass auch in aller Zukunft mit der
einer konsequenten Zuwanderungspolitik keinen Sinn notwendigen Sensibilität letztlich nach dem Motto „Im
macht, sich auf einen manchmal leider eben auch lebens- Zweifel nie“ anstehende Abschiebungen im Einzelnen
bedrohlichen Weg zu machen. weiterhin auf das Sorgfältigste geprüft werden.
In diesem Zusammenhang will ich die gemeinsame Aus den genannten Gründen gibt es auf Grundlage
deutschfranzösische Initiative für eine „zirkulierende“ der heutigen Situation in Togo und vorbehaltlich neuerer
Migration hervorheben. Es mögen sich dabei noch ei- Erkenntnisse durch neue Berichte bzw. Ereignisse ak-
nige Fragen und Verbesserungsvorschläge ergeben, aber tuell jedenfalls keine Veranlassung, dem Antrag der
sie ist eine glaubwürdigere Alternative als der Antrag, Fraktion der Linken zuzustimmen.
den die Linke hier heute zur Abstimmung stellt.
Ich freue mich, dass unsere Argumentation im Aus- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die verschiede-
schuss zumindest auch die Kollegen von der FDP-Frak- nen Bemühungen um eine Verbesserung der Menschen-
tion überzeugt hat. Wir haben insofern mit einer sehr rechtslage in Togo haben – begrenzt – Früchte getragen.
breiten Mehrheit den Antrag der Fraktion Die Linke im So wurden laut Auswärtigem Amt politische Gefangene
Innenausschuss abgelehnt. Ich darf Sie herzlich bitten, freigelassen, Gerichtsverfahren beschleunigt, Bewe-
diesem Votum des Innenausschusses zu folgen. gungs- und Meinungsfreiheit verbessert und bessere
Grundlagen für eine freie Presse geschaffen.
Rüdiger Veit (SPD): Niemand darf in einen Staat
abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Frei- Die Präsidentschaftswahlen vom 24. April 2005 waren
heit bedroht ist. So gebietet es die Genfer Flüchtlings- allerdings eine Farce. Sie haben erhebliche Rückschläge
konvention und in Anknüpfung daran auch der seit dem im Menschenrechtsbereich mit sich gebracht. Togo hat
1. Januar 2005 in der umfassenden Form geltende § 60 den bereits mehrfach von der Genfer VN-Menschen-
(B) Abs. l des Aufenthaltsgesetzes. Das sollte und wird auch rechtskommission angeforderten Folterbericht immer (D)
hier niemand in diesem Hohen Hause bezweifeln. noch nicht abgegeben. Trotz verschiedener öffentliche
Absichtserklärungen von Staatspräsident und Regierung
Nach allem, was wir aus Berichten des Auswärtigen fehlen nach Einschätzung der Opposition noch über-
Amtes oder auch von Nichtregierungsorganisationen zeugende Aktionen, die eine ernsthafte Bereitschaft be-
– namentlich des UNHCR – wissen, hätten vor diesem legen, das politische Leben auf eine eindeutig neue
Hintergrund vor einem bis eineinhalb Jahren wegen der Grundlage zu stellen. Die Teilhabe der wichtigsten Op-
aktuellen Lage und der menschenrechtswidrigen Über- positionsparteien am Staatsgeschehen erscheint zurzeit
griffe in Togo Rückführungen von Flüchtlingen dorthin noch ausgeschlossen. Hier obliegt es der Regierung von
nicht stattfinden sollen und dürfen. Togo, im Rahmen ihrer Führungsrolle ernsthaft aktiv zu
Betrachtet man indessen die aktuellen Lageberichte des werden.
Auswärtigen Amtes – zuletzt vom 23. Februar 2006 – und Ohne Frage ist die Menschenrechtslage in Togo
denjenigen des UNHCR – zuletzt vom 7. August 2006 – schwierig. Allerdings geht der jüngste UNHCR-Bericht
hat sich die politische und auch die Sicherheitslage in unzweideutig von einer wesentlichen Verbesserung der
Togo insgesamt nachhaltig verbessert. Die Berichte Menschenrechtslage aus. Der Antrag der Linkspartei ist
geben jedenfalls keine Anhaltspunkte mehr dafür her, insofern in seiner Analyse der politischen und men-
dass insbesondere zurückkehrende Flüchtlinge im allge- schenrechtlichen Situation in Togo nicht mehr auf dem
meinen mit staatlicher oder nichtstaatlicher Verfolgung aktuellen Stand. Der UNHCR hat seine Stellungnahme
wegen ihrer Rasse, Religion, wegen ihrer Staatsangehö- vom August 2005 überarbeitet und ist nunmehr auf der
rigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Grundlage langwieriger Recherchen zu der Einschät-
Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Überzeugung zu zung gelangt, dass sich die Sicherheitslage in Togo trotz
rechnen hätten. einzelner verbleibender Probleme entscheidend verbes-
Insofern bedarf es keines generellen Abschiebestopps sert hat. Auch Pro Asyl teilt diese Bewertung.
vonseiten einzelner Bundesländer gemäß § 60 a Abs. l
Vor diesem Hintergrund bezweifelt die FDP, dass ein
des Aufenthaltgesetzes für die Dauer von sechs Monaten
genereller Abschiebestopp, wie ihn die Linkspartei fordert,
und für die Zeit darüber hinaus keiner entsprechenden
die richtige Antwort ist. Wir sind allerdings der Auffas-
Zustimmung des Bundesministers des Inneren gemäß
sung, dass die Menschenrechtslage in Togo weiterhin
§ 23 des Aufenthaltgesetzes.
der kritischen Aufmerksamkeit bedarf. Gerade vor dem
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle muss
BAMF, prüft zudem vor jeder Abschiebung im kon- die Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft
6294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) werden. Für Togo besteht nach weitgehend übereinstim- Ende der nächtlichen Entführungen und Morde von Op- (C)
mender Auffassung kein derartig allgemeines Schutzbe- positionsmitgliedern fest. Stattdessen wiederholt der
dürfnis mehr. Natürlich müssen wir leider davon aus- UNHCR seine Aussage vom Sommer 2005, dass sich
gehen, dass es politische Verfolgung in Togo auch heute die Struktur und Rolle der Armee – die Herrschaft des
noch gibt. Aber dafür besteht nach wie vor das Recht für Diktators Gnassingbé militärisch abzusichern – nicht
politisch Verfolgte, in Deutschland einen Asylantrag zu verändert habe. Strukturelle Reformen des politischen
stellen. Systems sind bisher ausgeblieben.
Der generelle Abschiebestopp ist ein politisches Wer vor diesem Hintergrund behauptet, die Lage in
Instrument im Falle einer akuten Entwicklung, die Togo habe sich entspannt, stellt ein durch Einschüchte-
rasches Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht rung und polizeiliche Willkür und Verfolgung entstande-
inflationär verwendet werden. Dauerhafte Probleme mit nes Klima der Angst als innenpolitischen Frieden dar.
der Menschenrechtslage in einem bestimmten Land kön- Die Diktatur Gnassingbés ist lediglich sensibler gegen-
nen damit nicht gelöst werden. Dazu ist das Asylrecht über der internationalen Öffentlichkeit geworden. Immer-
das richtige Instrument. Die FDP lehnt daher den Antrag hin hat die EU dem Regime in Lomée circa 55 Millionen
der Linkspartei ab. Euro in Aussicht gestellt, wenn diese einen nationalen
Dialog mit der Opposition beginnt. Demokratische Fort-
Sevim Dagdelen (DIE LINKE): In einer Nacht- und schritte hat dieser Dialog bis heute nicht gebracht.
Nebelaktion Anfang diesen Jahres wurde der togoische
Flüchtling Alassane Moussbauo aus Deutschland abge- Flüchtlingen, die exilpolitisch in Deutschland tätig
schoben. Sofort nach seiner Ankunft musste er untertau- waren und abgeschoben werden sollen, sind jedoch wei-
chen, weil das Militär dem Oppositionellen drohte, ihn terhin einer beträchtlichen Bedrohung ausgesetzt. Das
zu „eliminieren“. Sein Fall war Anlass für den Abschie- hat die fatale Abschiebung von Alassane Moussbauo ge-
bestopp des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Wäh- zeigt. Wie viele untergetauchte, gefolterte oder sogar er-
rend der Abschiebestopp vor wenigen Wochen ausgelau- mordete Flüchtlinge sind nötig, damit eine Gefährdung
fen ist, befindet sich Alassane Moussbauo immer noch von abgeschobenen Flüchtlingen vom Auswärtigen Amt
auf der Flucht. Über 700 Flüchtlinge könnten sein und verantwortlichen Politikern wahrgenommen wird?
Schicksal bald teilen. Sie könnten wieder in ein Land Ich möchte an dieser Stelle auf ein Urteil des Freiburger
abgeschoben werden, in dem ihnen konkret Gefahr für Verwaltungsgericht im März dieses Jahres hinweisen: Es
Leib, Leben und Freiheit droht Ein Abschiebestopp in stellte fest, dass es im Asylrecht keiner Lebendversuche
einem Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern zulasten von Flüchtlingen braucht, um die systematische
macht Sinn, wenn Abschiebungen nicht bundesweit aus- Repression von abgeschobenen Flüchtlingen beweisen
(B) gesetzt werden. Deshalb hat Die Linke diesen Antrag ge- zu können. (D)
stellt und fordert die Bundesregierung auf, die Erteilung
Wenn die konkrete Gefahr für Leib und Leben von
einer Aufenthaltserlaubnis für togoische Flüchtlinge
Mitgliedern der Opposition bzw. denjenigen, die dafür
nach § 23 AufenthG zu ermöglichen und sich gegenüber
gehalten werden, nicht ausgeschlossen werden kann, ist
den Bundesländern für einen Abschiebestopp nach
jede Abschiebung von Flüchtlingen nach Togo ein sol-
§ 60 a Abs. l AufenthG einzusetzen.
cher „Lebendversuch“!
Bisher windet sich die Bundesregierung immer mit
dem Verweis auf die Einzelfallprüfung aus ihrer Verant- Die CDU/CSU-Fraktion hat im Innenausschuss je-
wortung. Aber auch eine Einzelfallprüfung kann eine doch deutlich gemacht, dass sie an einer Klärung der Ge-
Gefährdung von abgeschobenen Flüchtlingen nicht ein- fährdung für abgeschobene Flüchtlinge nicht interessiert
deutig ausschließen. Zu willkürlich und zu unberechen- ist. Vom Primat abzuschieben, egal was mit den Flücht-
bar verfolgt das togolesische Regime die Opposition. In lingen passiert, will die Union nicht abrücken. Das
der Vergangenheit waren von Verfolgung nicht nur deren macht der Vorschlag des bayerischen Innenministers
ranghohe Vertreter betroffen, sondern auch einfache Op- Günther Beckstein in der aktuellen Bleiberechtsdebatte,
positionsmitglieder. Selbst der bloße Verdacht einer Mit- irakische Flüchtlinge von dieser Regelung auszuschlie-
gliedschaft reichte aus, um in den Zugriff des Regimes ßen und konsequent abzuschieben, nochmals deutlich.
zu gelangen. Außerdem beobachtet das Regime genau
Wenn doch aber widersprüchliche Aussagen zur Men-
die exilpolitischen Tätigkeiten von togolesischen Flücht-
schenrechtssituation in Togo vorliegen, dann müssen Sie
lingen in Deutschland.
wenigstens bereit sein, auf Grundlage einer aktualisierten
Die Menschenrechtssituation hat sich seit den Aus- Fassung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes zu ent-
schreitungen im Frühjahr 2005 nicht wesentlich verbes- scheiden. Wir müssen vom Auswärtigen Amt fordern, die
sert. In der Diskussion im Innenausschuss hat Herr aktuelle Situation zu prüfen und den Lagebericht zu kor-
Grindel dies bestritten und auf den aktuellen Bericht des rigieren. Der Berichterstatter der SPD hat richtigerweise
UNHCR vom 7. August 2006 verwiesen. Im Gegensatz die Aussagen des Freiburger Verwaltungsgerichts ernst
zu ihm habe ich diesen Bericht jedoch genau gelesen. Es genommen und eine weitere Klärung des Sachverhalts
kann sein, dass sich die großen Führer der Opposition gefordert. Leider hat die SPD sich dann ihrem Koaliti-
gegenwärtig in Lomée sicher fühlen. Das sagt aber onspartner gebeugt und den Antrag der Bundestagsfrak-
nichts darüber aus, ob sich die Situation von einfachen tion Die Linke im Innenausschuss abgelehnt. Ich finde es
Oppositionellen außerhalb der Hauptstadt verbessert hat. skandalös, dass das Recht auf Schutz vor Verfolgung dem
Im Gegenteil: Der UNHCR stellt an keiner Stelle ein Koalitionszwang geopfert wird.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6295

(A) Bevor Alassane Moussbauo zwangsweise abgescho- Seither hat sich die allgemeine Sicherheitslage in (C)
ben wurde, hatte es etliche Warnungen und Hinweise zu Togo zwar etwas beruhigt: dies beschreibt auch der
seiner Gefährdung gegeben. Erst nach langen Protesten UNHCR in seinem jüngsten Bericht vom August 2006.
vor allen von Flüchtlingsgruppen war die SPD in Meck- Angriffe von Milizen während und nach den Präsident-
lenburg-Vorpommern bereit, die Menschenrechtssitua- schaftswahlen hatten zur Folge, dass mehrere zehntau-
tion in Togo realistisch einzuschätzen und Abschiebun- send Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden und
gen auszusetzen. Ich halte die Bedrohung für Flüchtlinge zum Teil ins Ausland flüchten mussten. Nach Angaben
aus Togo weiterhin für sehr hoch. Stellungnahmen von humanitärer Hilfsorganisationen hatten bis August
Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen zeigen 40 000 Menschen in den Nachbarländern Benin und
dies und unser Antrag stützt sich darauf. Abschiebungen Ghana Zuflucht gesucht. Ende 2005 befanden sich noch
von Menschen, die vom Regime in Togo für Oppositio- immer mehrere tausend Flüchtlinge in den Nachbarlän-
nelle gehalten werden könnten, sind unverantwortlich. dern Togos, Zahlreiche Ausländer haben das Land ver-
„Lebendversuche“ lehnt die Linke ab. Deswegen fordern lassen. Immer wieder gibt es Berichte von Übergriffen
wir die Bundesregierung auf, alles zu tun, um einen bun- gegen Personen, die aus Benin und Ghana nach Togo zu-
desweiten Abschiebestopp durchzusetzen. rückgekehrt sind. Auf der Grundlage einer veränderten
Lagebeurteilung, wonach sich insbesondere die Sicher-
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): heitslage gegenüber dem Sommer 2005 verbessert habe,
Die instabile Menschenrechtslage auch im Jahr nach den spricht sich UNHCR aktuell nicht mehr grundsätzlich
Präsidentschaftswahlen in Togo muss sich in der Zahl gegen Rückführungen nach Togo aus. Gemeint sind al-
der Anerkennung von Asylgesuchen von Togoern durch lerdings überwiegend die togoischen Flüchtlinge, die
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nieder- sich in die Nachbarstaaten gerettet hatten. Keineswegs
schlagen. Ein Abschiebestopp, ob nun bundesweit oder intendiert ist mit dem UNHCR-Bericht die Abschiebung
für ein halbes Jahr von einem einzelnen Bundesland ver- von abgelehnten togoischen Asylbewerbern aus Europa
hängt, kann immer nur der letzte „Strohhalm“ sein, um in großem Stil. Denn mit einer Stabilisierung der Lage
Flüchtlingen einen Aufschub der Abschiebung zu ge- und einer Beendigung der massiven Menschenrechtsver-
währen, weil ihnen allgemeine Gefahren für Leib und letzungen ist in unmittelbarer Zukunft nicht zu rechnen.
Leiben drohen. Ebenso wenig ist damit zu rechnen, dass es schnell zur
Ausbildung rechtsstaatlicher Strukturen kommt. Daher
Seit mehr als drei Jahrzehnten leidet die togoische bleiben wir dabei, dass sich an der Entscheidungspraxis
Bevölkerung darunter, dass es kein rechtsstaatliches Sys- des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Hin-
tem in Togo gibt. Die Sicherheitskräfte können sich ge- blick auf togoische Asylbewerber grundlegend etwas än-
setzeswidrig verhalten, ohne eine Ahndung durch staatli- dern muss.
(B) (D)
che Stellen befürchten zu müssen und ohne für
Übergriffe zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese
völlige Straflosigkeit prägt auch im Jahr 2006 noch die Anlage 15
Situation im Lande. Eigentlich müsste dies alles zur
Asylanerkennung bzw. zur Zuerkennung von Abschie- Zu Protokoll gegebene Reden
bungshindernissen durch das Bundesamt für Migration zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
und Flüchtlinge für in Deutschland asylsuchende Togoer Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetz
führen. Das Gegenteil ist der Fall. Innerhalb von vier (Tagesordnungspunkt 27)
Jahren wurden gerade einmal 159 Togoer vom Bundes-
amt als Flüchtlinge anerkannt.
Gitta Connemann (CDU/CSU): „Handwerk hat gol-
Nach Berichten von UNHCR und anderen Menschen- denen Boden“, so sagt der Volksmund. Golden ist am
rechtsorganisationen ist es in Togo seit dem Tod des Prä- Handwerk ohne Frage die Qualität seiner Arbeit. Die
sidenten Gnassingbé Eyadéma und dem sich daran an- Herkunftsbezeichnung „Made in Germany“ steht in der
schließenden Staatsstreich seines Sohnes Faure Welt für Prädikatsleistung, zu Recht. Denn in unseren
Gnassingbé im Februar 2005 zu gravierenden und syste- Handwerksbetrieben werden die denkbar besten Pro-
matischen Menschenrechtsverletzungen gekommen. In dukte und Dienstleistungen erzeugt, von hervorragend
den Wochen und Monaten vor und nach der Präsident- ausgebildeten Betriebsinhabern und deren Mitarbeitern.
schaftswahl vom 24. April 2005 war ein extremer An- Die Nachfrage nach diesen qualitativ hochwertigen Leis-
stieg exzessiver Gewaltanwendung durch Sicherheits- tungen ist vorhanden.
kräfte und bewaffnete Banden zu verzeichnen; Der Volksmund irrt jedoch, soweit es um die Vergü-
vergleichbare Gewaltausbrüche hat es in Togo in den tung dieser handwerklichen Leistungen geht. Golden ist
letzten Jahren nicht gegeben. Auch nach der offiziellen dieser Boden schon lange nicht mehr immer. Ertrag und
Bekanntgabe der Wahlergebnisse durch das Verfassungs- Qualität stehen nicht mehr stets in einem ausgeglichenen
gericht hielten die Repressionen gegen die Bevölkerung Verhältnis.
an. Zahlreiche Personen wurden durch Schüsse und
Schläge getötet oder verletzt. Oppositionelle und mut- Das Handwerk ist geprägt durch seine Vielfalt: Viel-
maßliche Oppositionelle wurden inhaftiert und gefoltert. falt an Fertigkeiten, Vielfalt an Qualifikationen, aber
Der Regierung nahe stehende Milizen drangen wahllos auch einer Vielfalt an Herausforderungen. Die hand-
in Häuser ein, die Bewohner wurden geschlagen und be- werkliche Expertise muss sich insbesondere gegenüber
raubt und die Häuser verwüstet. den Anforderungen des innereuropäischen und interna-
6296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) tionalen Wettbewerbs behaupten. Und dies ist nicht im- wirtschaft beschäftigt. Im Jahr 2004 verringerte sich die (C)
mer leicht bei einer Unternehmensphilosophie, die wir in Jahresdurchschnittszahl auf 634 930, im Jahr 2005 fiel
den mittelständischen Handwerksbetrieben antreffen, ei- sie auf 572 655.
ner Philosophie, die den Menschen in den Mittelpunkt
Ein Kernelement des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
stellt, den Kunden und insbesondere die Mitarbeiter.
ist der Kontrollmechanismus. Nur durch beständige
Ein Handwerker, der heute erfolgreich sein will, wird Kontrollen kann die Zielsetzung des Entsendegesetzes
eben nicht mehr nur an seiner fachlichen Qualität gemes- auch realisiert werden. Eine Ausweitung darf daher kei-
sen. Vielmehr muss er sein Denken und Handeln dem in nesfalls zulasten der Effizienz von Kontrollen in der
einem stetigen Wandel begriffenen Markt anpassen. Dies Baubranche führen. Sollten die Kontrollen rückgängig
bedeutet eine große Herausforderung an die Unterneh- sein, besteht die Gefahr, dass ein Anstieg von Schwarz-
mensführung des Betriebsinhabers. Er muss den Markt arbeit mit der Bekämpfung des Lohndumpings einher-
aufmerksam beobachten, Veränderungen rechtzeitig er- geht.
kennen und sein Unternehmen entsprechend umstruktu- Wir wissen um die kriminellen Energien Einzelner.
rieren. Er muss aktiv auf seine Kunden zugehen und Bedauerlicherweise sind diese Energien eine Variable,
neue Märkte erschließen. Dies sind keine Neuigkeiten. die es zu berücksichtigen gilt. Eine Negierung dieser
Es verdeutlicht allein unsere Verpflichtung, für diese Energien wäre fatal für die heimischen Betriebe. Illegale
Handwerker Rahmenbedingungen zu schaffen, mit de- Beschäftigungen, Scheinselbstständigkeiten und Lohn-
nen diese der Vielfalt der Herausforderung genügen kön- dumping müssen weiterhin bekämpft werden. Das
nen. Handwerk selbst fordert dazu auf, den Kontrollmecha-
Die Vielfalt des Handwerks verpflichtet zur genauen nismus zu bewahren. Diese Forderung muss ernst ge-
Betrachtung der einzelnen Branchen. Die Anforderun- nommen werden.
gen, Steuerungsbedürfnisse und Wettbewerbsbedingun- Unter Kenntnis dieser Fakten debattieren wir heute
gen der einzelnen Sparten unterscheiden sich massiv. die Ausweitung des Entsendegesetzes auf die Branche
Was der einen Branche gut tut, bringt die andere in Ge- der Gebäudereiniger. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
fahr. Dies gilt auch für die Ausweitung des Arbeitneh- soll laut der Gesetzesvorlage der Bundesregierung auf
mer-Entsendegesetzes. Grundlage der EU-Entsenderichtlinie auf das Gebäude-
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurde für die Be- reinigerhandwerk ausgeweitet werden. Damit soll eine
triebe der Bauwirtschaft und der Seeschifffahrtsassistenz Benachteiligung der entsandten Arbeitnehmerinnen und
in Kraft gesetzt. Das zuständige Ministerium kann da- Arbeitnehmer vermieden und zugleich verhindert wer-
nach auf Antrag einer Tarifvertragspartei durch Rechts- den, dass durch unfairen Wettbewerb insbesondere die in
(B) verordnung einen Tarifvertrag auf alle inländischen Deutschland ansässigen kleinen und mittleren Unterneh- (D)
nicht-tarifgebundenen und aus dem Ausland entsandten men sowie die bei ihnen bestehenden Arbeitsplätze ge-
Arbeitnehmer erstrecken. Es wird kein Tarifausschuss zu fährdet werden.
der Entscheidung gehört und es gibt keinerlei materielle Mit der Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendege-
Voraussetzungen für den Erlass. setz würde das Gebäudereinigerhandwerk Zugang zum
Es war eine kluge Entscheidung zum Schutz der in Instrument der Mindestlohn-Verordnung erhalten. Dies
diesen Branchen beschäftigten Arbeitnehmer. Denn im entspricht einem zentralen Anliegen der Branche.
Ausland ansässige Arbeitgeber in diesen Branchen sind Denn das Gebäudereinigerhandwerk ist ähnlich auf-
dadurch verpflichtet, den entsandten Arbeitnehmer nach gestellt wie die Baubranche. Auch hier sind die Arbeit-
in Deutschland geltenden Bedingungen zu beschäftigen. nehmer an wechselnden Einsatzorten tätig, woraus ein
Diese gesetzliche Regelung hat sich als ein Instrument verstärktes Schutzbedürfnis der Mitarbeiter resultiert.
gegen das Lohn- und Sozialdumping von ausländischen Das Gebäudereinigerhandwerk ist wie das Baugewerbe
Anbietern in der Baubranche erwiesen. lohnkostenintensiv und steht damit in besonderer Weise
Die Erfahrungen aus der Baubranche zeigen jedoch im Wettbewerb mit Anbietern aus Ländern mit deutlich
auch, dass die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsende- niedrigerem Lohnniveau. Darüber hinaus gilt bei den
gesetzes kein Allheilmittel ist. Die Absicht, Lohndum- Gebäudereinigern bereit ein bundesweiter Lohntarifver-
ping zu unterbinden, hat nicht zur abschließenden Siche- trag mit einheitlichen Strukturen. Die Vergleichbarkeit
rung bestehender Arbeitsplätze geführt. mit dem Baugewerbe ist offensichtlich. Daneben besteht
zwischen den Tarifvertragsparteien Einigkeit über die
Die Zahl der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe Aufnahme der Branche in das Arbeitnehmer-Entsende-
ohne -nebengewerbe ist kontinuierlich zurückgegangen: gesetz und über die Durchsetzung der dort vorgeschrie-
Von 1996 bis 2002 ist ein Drittel der ursprünglich etwa benen Arbeitsbedingungen.
1,3 Millionen Arbeitsplätze weggefallen. Der Anteil
Denn die Beschäftigten des Gebäudereinigerhand-
ausländischer Entsendearbeitnehmer von gut 16 Prozent
werks müssen vor der unfairen Konkurrenz mit unterta-
ist in diesem Zeitraum gleich geblieben. Während die
riflich entlohnten Arbeitnehmern geschützt werden. Der
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in
Grundsatz der Gleichbehandlung muss zwingend für
West- und Ostdeutschland jeweils um 1,0 Prozent zuge-
diese 850 000 Beschäftigten gelten.
nommen hat, erlitt die Baubranche einen Beschäfti-
gungsverlust von 0,2 Prozent. So waren in 2003 im Das Gebäudereinigerhandwerk hat selbst die Forde-
Jahresdurchschnitt 683 163 Arbeitnehmer in der Bau- rungen formuliert „unter das Arbeitnehmerentsende-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6297

(A) gesetz zu fallen“, UDH, 18. Juli 2006. Das Gebäu- der heute debattierte Gesetzesentwurf der Bundesregie- (C)
dereinigerhandwerk erfüllt die tarifrechtlichen rung liefert insoweit für das Gebäudereinigerhandwerk
Voraussetzungen. Als eine Reform im Arbeitsrecht ist einen klugen Beitrag.
die Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes im
Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vorgesehen. Wir sollten diesem Antrag deshalb nach Überweisung
Der Vorlage der Bundesregierung ist daher zuzustim- in die Ausschüsse dem Grunde nach zustimmen.
men.
Anette Kramme (SPD): Gestatten Sie mir eingangs
Die Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ein Zitat: „Ohne Aufnahme in das Entsendegesetz ist
wird zur Stärkung des Gebäudereinigerhandwerks im in- nach gemeinsamer Einschätzung der Tarifvertrags-
nereuropäischen Wettbewerb beitragen. Das Handwerk parteien in Kürze damit zu rechnen, dass das Gebäude-
erwartet faire Wettbewerbsbedingungen – insbesondere reinigerhandwerk als ‚Musterbeispiel‘ für den breiten
für den Mittelstand. Dabei muss eines klar sein: Bauge- Einsatz osteuropäischer Billigarbeitnehmer gelten wird.
werbe und Gebäudereiniger bilden nicht zwingend ein Nur Dank der 3 + 2 + 3-Regelung (…) konnte das zum
Vorbild für andere Branchen. aktuellen Zeitpunkt noch vermieden werden.“ Ich habe
Insoweit führe ich vor allem ordnungspolitische Be- aus einem Schreiben des Bundesinnungsverbands des Ge-
denken an. Wir müssen uns vor der Illusion hüten, dass bäudereinigerhandwerks aus dem vergangenen Jahr zi-
die staatliche Festlegung von Mindestlöhnen ein Allheil- tiert.
mittel ist. Die Wirkungen des Entsendegesetzes dürfen Ich bin froh, dass wir dieser Forderung nun endlich
nicht überschätzt werden. Die Zahlen sprechen für sich. nachkommen. Bislang verpflichtet das Arbeitnehmer-
Die Erstreckung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf Entsendegesetz nur im Ausland ansässige Arbeitgeber
die Baubranche hat nicht zu einem Stoß des Abbaus von des Baugewerbes, ihren nach Deutschland entsandten
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bestimmte hier
nissen geführt, sondern diesen allenfalls verlangsamt. zwingend geltende tarifvertragliche Rahmenbedingun-
Durch seine Ausweitung werden die allgemeinen gen zu gewähren.
Wettbewerbsbedingungen nicht verbessert. Dies muss
Die Erfahrungen hier sind positiv. Auch seitens des
aber unser Ziel sein: ein nachhaltiger Fortschritt für die
Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie wurde dies
Wettbewerbssituation von Handwerksbetrieben. Die Er-
festgestellt. Ohne das Entsendegesetz hätten wohl rund
weiterung soll lediglich gleiche Lohn- und Arbeitsbedin-
250 000 deutsche Bauarbeiter ihren Job verloren. Das
gungen für in- und ausländische Anbieter herstellen. Ob
stellte Michael Knipper, Hauptgeschäftsführer des
dieser Weg für eine Branche sinnvoll ist, muss einzeln
(B) geprüft werden. Für die Gebäudereinigerbranche hat es Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, im vergan- (D)
genen Jahr fest.
sich als sinnvoll erwiesen.
Die Arbeitgeberseite und auch der Freistaat Bayern
Es geht uns darum, Beschäftigungsrisiken zu min-
versuchten im Vorfeld mit ihren Forderungen die Ein-
dern. Ob ein ausländischer Arbeitnehmer zu den niedri-
beziehung der Gebäudereiniger in das Entsendegesetz
gen Löhnen seines Heimatlandes ein Gut in Deutschland
auszuhöhlen. So sollte die Möglichkeit der Allgemein-
produziert, oder ob er es im Heimatland herstellt und es
verbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz,
nach Deutschland exportiert, erzielt im Hinblick auf die
nicht aber die spezielle Rechtsverordnungsermächtigung
Beschäftigungsrisiken das gleiche Ergebnis.
nach dem Entsendegesetz vorgesehen werden. Einigt
Es zeigt sich, dass die Ausweitung des Entsendegeset- sich der Tarifausschuss nicht, kommt die AGVE nicht
zes mit Bedacht umgesetzt werden muss. Denn eine zustande. In die Röhre schauen die Gebäudereiniger, die
Ausweitung per se auf alle Branchen führt ausschließlich gerade eine solche Situation künftig vermeiden wollen.
zur Abschottung der kartellierten Lohnsetzung am Ar- Ich zitiere aus einem „Zeit“-Interview mit dem Verbands-
beitsmarkt gegen die Konkurrenz von Außen. chef der Gebäudereiniger vom August diesen Jahres:
Dies muss durch eine verantwortliche Erweiterung Bislang musste der Tarifausschuss aus BDA und
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes verhindert werden. DGB unserem Tarif zustimmen. Beim Entsendege-
Das Handwerk bildet mit seinen kleinen und mittleren setz kann sich der Minister jedoch über das Veto
Betrieben ohne Zweifel den Kern der deutschen Wirt- von BDA oder DGB hinwegsetzen. Die BDA fühlt
schaft. Handwerk ist und war immer einem stetigen sich als Kontrollinstanz für unseren Tarifabschluss.
Wandel ausgesetzt. Gleichzeitig wahrt es traditionelle … Was geht es andere an, wenn sich Arbeitgeber
Fertigkeiten auf höchstem Niveau. und Arbeitnehmer einer Branche einigen?
Etwa 4,8 Millionen Menschen sind im Handwerk tä- Bayern forderte zudem eine Befristung des Ände-
tig. Für diese Menschen sind vernünftige und prakti- rungsgesetzes bis zum 31. Dezember 2009. Das wäre
kable Rahmenbedingungen unerlässlich. Unternehmer schon angesichts der 2009, spätestens aber 2011 aus-
im Handwerk gehen einer hohen moralischen Verpflich- laufenden Übergangsfristen zur Dienstleistungsfreiheit
tung nach. für die EU-Beitrittsstaaten nicht hinnehmbar gewesen.
Der Betrieb stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Die Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegeset-
Diese moralische Verpflichtung darf nicht zum Wettbe- zes auf die Gebäudereiniger ist ein erster Schritt in die
werbsnachteil mutieren. Dies gilt es zu verhindern. Und richtige Richtung. Ich sage aber hier und heute ganz klar,
6298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) dass wir es hierbei nicht bewenden lassen dürfen. Es gibt Das bedeutet faktisch die Einführung von Mindest- (C)
weit mehr Branchen, die von Lohn- und Sozialdumping löhnen durch die Hintertür!
betroffen sind.
Mit der Ausweitung des Gesetzes wären statt heute
Auch wenn es sich vielleicht die Klientel der FDP 800 000 Beschäftigten künftig doppelt so viele Arbeit-
nicht vorstellen kann, es gibt Menschen, die jeden Mor- nehmer davon betroffen, nämlich zusätzliche 850 000 im
gen aufstehen, 40 oder sogar mehr Stunden pro Woche Bereich der Gebäudereiniger.
arbeiten und am Monatsende oft kaum 1 000 Euro aufs Bundesminister Müntefering macht kein Geheimnis
Konto bekommen. Nehmen wir das Sicherheitsgewerbe, daraus, dass er die Einführung von tariflichen Mindest-
wo es zum Teil Stundenlöhne von drei Euro gibt. Oder löhnen in allen Branchen für „das Optimale“ hält – „Die
die Friseurin in Kassel, die sich mit einem Stundenlohn Welt“ vom 24. August 2006. Weiter sagt er, es wäre gut,
von 5,30 Euro netto über Wasser halten muss. Oder die wenn man dies für möglichst viele Branchen organisie-
Spülhilfe, die bei einer 40-Stunden-Woche gerade ein- ren könnte. Es gebe „Dutzende und Hunderte“, die in
mal 762 Euro monatlich erhält. Erklären Sie diesen einer vergleichbaren Situation wie die rund 850 000 Ge-
Leuten doch einmal, warum ein Josef Ackermann bäudereiniger seien. „Da muss man jetzt versuchen, das
11,9 Millionen Euro im Jahr verdient, zusammen mit Feld Zug um Zug aufzurollen.“
Kapitalerträgen und weiteren Bezügen sogar 15 bis
20 Millionen Euro! Dass es darum geht, bestätigt auch die Einbeziehung
in die Verordnungsermächtigung, nach der der Bundes-
Die „Geiz-ist-geil“-Mentalität hat schon längst Ein- minister für Arbeit und Soziales ohne Einvernehmen der
zug gehalten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das Sozialpartner auf Antrag nur einer Tarifvertragspartei
sprichwörtliche Fass ohne Boden finden wir immer häu- tarifliche Regelungen auf Außenseiter erstrecken kann.
figer. Für die Einbeziehung des Gebäudereinigerhandwerks
jedenfalls brauchen sie diese Regelung nicht, da es hier
Wir brauchen eine untere Auffanglinie. Das dürfen bereits einen allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag
wir nicht auf die lange Bank schieben. Schon allein weil ergibt. Im Übrigen ginge eine Anwendung der Verord-
wir in drei oder maximal in fünf Jahren die Arbeitneh- nungsermächtigung auch über die Aussagen im Koali-
merfreizügigkeit haben werden. tionsvertrag hinaus, nach dem die Einbeziehung weiterer
Auch wenn Frau Merkel verlauten ließ, es werde kei- Branchen in das Entsendegesetz nur erfolgen soll, wenn
nen flächendeckenden, einheitlichen Mindestlohn geben, zuvor der Tarifvertrag nach den Regeln des Tarif-
ist für die SPD die Diskussion damit keinesfalls beendet vertragsgesetzes für allgemeinverbindlich erklärt wurde.
und schon gleich gar nicht zu den Akten gelegt. Es ist also nur ein erster Schritt. Weitere werden folgen,
(B) (D)
um eine Branche nach der anderen einzubeziehen, ob
An dieser Stelle kommt für gewöhnlich der Aufschrei freiwillig oder unfreiwillig. Der unterste tariflich verein-
von der FDP, wir würden damit Arbeitsplätze zerstören barte Lohn wird so über das Entsendegesetz faktisch
bzw. Beschäftigungsmöglichkeiten verhindern. Ich zum Mindestlohn aller Beschäftigten der jeweiligen
werde jedoch nicht müde, es immer wieder zu erwähnen: Branche erklärt.
Die Erfahrungen in anderen Ländern belegen das Gegen-
teil. Allen wissenschaftlichen Forderungen nach einer De-
regulierung des Arbeitsmarktes zum Trotz beschreitet
In Großbritannien zum Beispiel, wo der gesetzliche die große Koalition mit diesem Gesetzentwurf den
Mindestlohn den Lebenshaltungskosten entsprechend falschen Weg in Richtung zusätzlicher Regulierung. Damit
angepasst und damit erheblich, nämlich um 40 Prozent, setzt die große Koalition den fatalen Weg staatlichen
angehoben wurde, stieg trotzdem die Beschäftigungs- Dirigismus der letzten Bundesregierung fort.
rate. Laut IAT, Institut Arbeit und Technik, hat sich dort
die Lage von rund 1,5 Millionen Beschäftigten verbes- Erneut – wie schon zuvor etwa beim Thema
sert oder wurde zumindest abgesichert. Kündigungsschutz – gibt die Union den Ritter von der
traurigen Gestalt. Ich zitiere aus dem CDU/CSU-Regie-
Mit der Einbeziehung des Gebäudereinigerhandwerks rungsprogramm 2005 bis 2009 vom 11. Juli 2005: Auf
in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sind wir auf einem Seite 18 steht dort klar und unmissverständlich: „Die
guten Weg, um Lohn- und Sozialdumping Einhalt zu ge- Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle
bieten. Lassen Sie uns diesen Weg im Interesse der Branchen und gesetzlichen Mindestlöhne über die Hin-
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam wei- tertür können einen Missbrauch der europäischen
tergehen. Dienstleistungsfreiheit nicht verhindern. Deshalb setzen
wir auf schnelle, wirksame und grenzüberschreitende
Kontrollen und werden zur Bekämpfung des Miss-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das Arbeitnehmer-
brauchs der Niederlassungsfreiheit die Zusammenarbeit
Entsendegesetz gilt derzeit nur für die Baubranche und
der zuständigen Stellen, Ordnungsämter und Kammern
die Seeschiffahrtsassistenz und soll nun auf die Branche
verbessern.“
der Gebäudereiniger ausgedehnt werden. Erst einmal auf
diese Branche, muss man hier deutlich sagen, denn im Nun weiß natürlich jeder, dass die 180-Grad-Wendung
Grunde ist der Gesetzentwurf von der Koalition, jeden- der CDU/CSU – wider besseres Wissen – der Koalitions-
falls vom federführenden Ministerium, als Türöffner vereinbarung mit der SPD geschuldet ist. Aber, liebe
gedacht. Nach und nach sollen weitere Branchen folgen. Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie können
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6299

(A) nicht beliebig den ökonomischen Sachverstand ein- oder Arbeit bezahlbar bleibt. Die Einführung eines Mindest- (C)
ausschalten. Ich sehe keinen Grund, warum das, was Sie lohnes durch Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsende-
damals für richtig erkannt haben, nicht auch heute weiter gesetzes bewirkt das Gegenteil.
richtig sein sollte.
Fest steht: Dieser Gesetzentwurf ist ein Konjunktur- Werner Dreibus (DIE LINKE): Der vorliegende
programm für die Schwarzarbeit. Er wird die Arbeits- Gesetzentwurf stellt zutreffend fest, dass neben der Bau-
losigkeit – besonders in den neuen Ländern – durch die branche auch das Gebäudereinigerhandwerk vor Lohn-
Erhöhung der Lohnkosten für einfache Tätigkeiten ver- dumping geschützt werden sollte. Ebenso zielt der Ge-
schärfen. setzentwurf darauf ab, die ungleiche Entlohnung von
inländischen und nach Deutschland entsandten Beschäf-
Auch wenn seitens der Koalition immer betont wird, tigten zu unterbinden. Beide Zielsetzungen unterstützt
Ziel des Gesetzentwurfes sei, dass ausländische Gebäude- meine Fraktion ohne Vorbehalte.
reinigungsfirmen, die ihre Beschäftigten vorübergehend
nach Deutschland schicken, sich an deutsche Tarifver- Anzufügen ist aber, dass neben dem Gebäudereiniger-
träge halten müssten, steht doch fest: Die Ausweitung handwerk auch viele andere Branchen unter Lohn-
des Gesetzes zwingt nicht nur ausländische Unterneh- dumping leiden: Sicherheit, Tourismus, Landwirtschaft,
men dazu, deutsche Tariflöhne zu zahlen, sondern auch Einzelhandel – in diesen und anderen Wirtschaftsbereichen
die nicht tarifgebundenen heimischen Betriebe. Und da- zahlen viele Unternehmen Löhne, die nicht zum Leben
mit werden ganz konkret sozialversicherungspflichtige reichen.
Arbeitsplätze gefährdet.
Löhne von drei, vier, fünf Euro brutto die Stunde sind
Wer das nicht glauben will, der richte seinen Blick auf in Deutschland weit verbreitet. Aktuelle Berechnungen
die bisherigen Erfahrungen mit dem Arbeitnehmer- gehen von etwa 6 Millionen Menschen aus, die derzeit in
Entsendegesetz. Dieses war von Anfang an vor allem Vollzeit weniger als drei Viertel des durchschnittlichen
protektionistisch motiviert und ausgerichtet auf Konser- Bruttoeinkommens in Deutschland verdienen. Darunter
vierung der Struktur in der Bauindustrie. Schauen wir sind mehr als drei Millionen Beschäftigte, die sich mit
uns nun die Entwicklung der Beschäftigung in der Bau- einem Armutslohn – weniger als der Hälfte des durch-
industrie an, so muss man feststellen: Die gut gemeinte schnittlichen Bruttoeinkommens – begnügen müssen.
Absicht, Lohndumping zu unterbinden, hat nicht dazu Darüber hinaus arbeiten mehrere Millionen Menschen in
geführt, die bestehenden Arbeitsplätze durch das Entsen- geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und in Teil-
degesetz zu sichern. Aufgrund des Strukturwandels und zeit zu Niedrig- und Armutslöhnen.
der Nachfrageschwäche ist die Zahl der Beschäftigten im
(B) Baugewerbe seit Bestehen des Entsendegesetzes konti- Der SPD-Parteivorstand leitet daraus die Forderung (D)
nuierlich und deutlich zurückgegangen. Nicht vermin- nach Mindestlöhnen ab, die „garantieren, dass Menschen,
dert hat sich aber der Anteil ausländischer Entsende- die Vollzeit arbeiten, von den Löhnen menschenwürdig
arbeitnehmer. Ein positiver Trend in der Bauindustrie hat leben können“; Positionspapier „Gerechter Lohn für
sich erst jüngst durch die leichte konjunkturelle Erho- gute Arbeit“. Weil das so ist, ist es vollkommen unver-
lung eingestellt. ständlich, dass die SPD-Fraktion einen Gesetzentwurf
mit trägt, der durch seine Formulierung nahe legt, dass
Statt zusätzliche und schädliche Eingriffen in die das Problem von Niedriglöhnen und Lohndumping vor
Wirtschaft und in die Tarifautonomie sollte die Bundes- allem bei den Gebäudereinigern auftritt.
regierung daher besser betriebliche Bündnisse für Arbeit
zulassen. Die deutsche Volkswirtschaft leidet unter über- Die Position von Kanzlerin Merkel zum Mindestlohn
bordender Bürokratie, hohen Steuer- und Abgabenlasten kann ich in diesem Zusammenhang nur als ignorant
und einer hohen Regelungsdichte im Arbeitsrecht. Um bezeichnen: Wer den Mindestlohn pauschal ablehnt, der
von größeren und offeneren Märkten zu profitieren, sagt Millionen Menschen, die Politik wolle an ihrer
braucht der Arbeitsmarkt ein höheres Maß an Flexibili- Misere nichts ändern und sie müssten deshalb trotz Arbeit
tät, als ihm bisher zugestanden wird. Wir helfen nieman- weiter in Armut leben.
dem, wenn notwendige strukturelle Anpassungen, die im Unter Punkt C führt der Gesetzentwurf selbst eine
Einzelfall auch Härten mit sich bringen können, durch Alternative zur beschränkten Ausweitung des Entsende-
Protektionismus auf Kosten aller aufgeschoben werden. gesetzes ein: den gesetzlichen Mindestlohn. Meine Frak-
Im Gegenteil, wir müssen uns rechtzeitig bemühen, tion hat zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
einen Arbeitsmarkt mit wirklichen Wiedereinstiegs- im Oktober einen konkreten Vorschlag unterbreitet, der
chancen auch für Geringqualifizierte zu schaffen. Jede sich in weiten Teilen mit den Vorstellungen der DGB-
Ausweitung des Entsendegesetzes hat im Ergebnis zur Gewerkschaften deckt.
Folge, dass sich die Arbeit verteuert und weitere Arbeits-
plätze ins Ausland gehen, in die Schwarzarbeit abge- Wir sehen unseren Vorschlag aber auch durch die
drängt werden oder ganz wegfallen. Der von Ihnen ein- Anhörung der Koalitionsarbeitsgruppe „Arbeitsmarkt“
geschlagene Weg der Abschottung wird das bestätigt. Der Kollege Brandner wird in der Presse mit
grundsätzliche Problem des Lohngefälles und des Gefäl- den Worten zitiert: „Die Experten haben verdeutlicht,
les der Arbeitskosten in Europa nicht lösen. Im Gegen- dass ein gesetzlicher Mindestlohn am praktikabelsten
teil. Er wird zulasten von Wachstum und Wohlstand ins- wäre“, „Handelsblatt“, 6. Oktober 2006. Und Minister
gesamt gehen. Personalabbau verhindern Sie nur, wenn Müntefering hat zugestanden, dass differenzierte Branchen-
6300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) mindestlöhne intransparent wären und zu Abgrenzungs- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland (C)
problemen führen würden. wird damit die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen
versagt. So wäre es das Mindeste gewesen, das Arbeit-
Unsere Forderung lautet deshalb: Das eine tun und nehmer-Entsendegesetz mit dem vorliegenden Entwurf
das andere nicht lassen. Ohne Probleme kann der auch für die Zeitarbeitsbranche zu öffnen.
Abschluss tariflicher Mindestlöhne per Entsendegesetz
gefördert und zugleich eine verbindliche, allgemeingül- Noch ist nicht aller Tage Ende, die Beratungen im
tige gesetzliche Untergrenze für Löhne definiert werden. Ausschuss stehen noch aus. Wie drängend das Problem
Wie hoch dieses Mindesteinkommen sein muss, hat der ist und wie notwendig eine größer angelegte Lösung ist,
Gesetzgeber bereits an anderer Stelle festgelegt: Es ist will ich Ihnen deshalb an dieser Stelle nur anhand einer
dasjenige Einkommen, das nicht gepfändet werden kann, Zahl verdeutlichen: Im Jahr 2004 waren in Deutschland
also etwa 1 000 Euro netto im Monat. Bei üblicher 18,4 Prozent oder rund 3,6 Millionen Vollzeitbeschäf-
Arbeitszeit entspricht dies in etwa einem Stundenlohn tigte zu Löhnen unterhalb der Niedriglohnschwelle tätig,
von acht Euro brutto. Armut trotz Arbeit ist für viele Menschen in der Bundes-
republik Realität. Wir alle sind deswegen aufgefordert,
nicht nur in Debatten unserer Betroffenheit darüber Aus-
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
druck zu verleihen, sondern auch im Sinne dieser Men-
begrüßen, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf
schen für bessere Mindestarbeitsbedingungen tätig zu
das Gebäudereinigerhandwerk ausgedehnt werden soll.
werden.
Dies ist ein wichtiger Schritt zur Vermeidung von Lohn-
dumping in dieser Branche. Denn damit werden auch im
Ausland ansässige Arbeitgeber dazu verpflichtet, sich Gerd Andres, Parl. Staatssekretär im Bundesminis-
nach den hier geltenden tariflichen Bedingungen zu terium für Arbeit und Soziales: Die Europäische Union
richten. So werden nicht nur die Arbeitnehmer und Ar- ermöglicht dauerhaften Frieden und Freiheit in Europa.
beitnehmerinnen geschützt, sondern auch hier ansässige Mit der Erweiterung im Osten haben sich für die deut-
Unternehmen, die sonst gegen die Unterbietungskonkur- sche Wirtschaft große Chancen eröffnet. Nicht wenige
renz tariflich ungebundener Unternehmen keine Chance Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
besäßen. fürchten in diesem Zusammenhang aber, dass auslän-
dische Billigkonkurrenz ihre Jobs bedroht. Und das gilt
So gut und richtig aber dieser Umstand für sich be- nicht nur im Baubereich.
trachtet auch ist: Die Koalition bleibt damit weit hinter
ihren Möglichkeiten zurück. Denn Lohndumping ist kein Mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz besteht ein ef-
Alleinstellungsmerkmal im Gebäudereinigerhandwerk, fektives und flexibles Instrumentarium zur Verhinderung
sondern eine zunehmend um sich greifende Erscheinung von Lohndumping. Bislang besteht im Wesentlichen nur
(B) in vielen Handwerks- und Dienstleistungsbranchen. Die im Baubereich die Möglichkeit, tarifvertraglich fest- (D)
Durchsetzung von Mindestlöhnen – in welcher Variante gelegte Mindestlöhne und Urlaubsbedingungen auch auf
auch immer – wurde vorgestern von der Kanzlerin für aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer zu erstrecken.
diese Wahlperiode ad acta gelegt. Dabei wäre die gene- In der Baubranche werden die wesentlichen Mindest-
relle Anwendung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes arbeitsbedingungen über Mindestlohnverordnungen auf
der erste notwendige und wirksame Schritt, um gegen alle in Deutschland tätigen Arbeitnehmer erstreckt. Hier-
Lohndumping und Schmutzkonkurrenz vorzugehen. mit haben wir gute Erfahrungen gemacht.
So zaghaft wie jetzt von der Bundesregierung vorge- Künftig sollen diese Möglichkeiten auch für das Ge-
gangen wird, wirkt es so, als würde man mit einer Nagel- bäudereinigerhandwerk genutzt werden können. Mit der
feile einen meterdicken Stahlblock durchtrennen wollen. Einbeziehung der Gebäudereiniger in das Arbeitnehmer-
Entsendegesetz wird eine Vereinbarung des Koalitions-
Wir fordern, den Anwendungsbereich des Arbeitneh- vertrages umgesetzt.
mer-Entsendegesetzes auf alle Branchen auszuweiten.
Das wäre im Sinne der zugrunde liegenden EU-Richtli- Die Anwendung der Entsenderichtlinie war vor zwei
nie, vor allem würde es aber für die Arbeitnehmerinnen Wochen Gegenstand von Beratungen auf europäischer
und Arbeitnehmer in zahlreichen Branchen eine greif- Ebene. In einer Entschließung hat das Europäische Par-
bare Verbesserung bringen. lament auf die Zielsetzungen der Richtlinie hingewiesen.
Ein Ziel der Richtlinie ist die Anwendung der im Gast-
Würde unser Vorschlag umgesetzt, dann könnten bei land maßgebenden Mindestlohnsätze und Arbeitsbedin-
Vorliegen eines bundesweit geltenden Tarifvertrages da- gungen auf entsandte Arbeitnehmer.
rin festgelegte Mindestlöhne und Urlaubsbestimmungen
sowohl auf Arbeitnehmer von nicht tarifgebundenen in- Das Europäische Parlament hat zugleich wirksame
ländischen Betrieben als auch auf Arbeitnehmer von Kontrollen zur Einhaltung dieser Mindestarbeitsbedin-
ausländischen Betrieben übertragen werden. gungen für unverzichtbar erklärt. Dies setzt voraus, dass
das Gastland vom entsendenden Unternehmen Doku-
Aber dies lässt der vorliegende Gesetzentwurf durch mente verlangen kann, um die Einhaltung der in der Ent-
seine Beschränkung nicht zu. Das verzagte Vorgehen der senderichtlinie festgelegten Beschäftigungsbedingungen
Bundesregierung führt deshalb aktuell sogar dazu, dass überprüfen zu können. Darüber hinaus muss im Gastland
der im Mai 2006 von den Arbeitgebern der Zeitarbeits- eine Person zur Verfügung stehen, die als Vertreter des
branche gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschafts- Entsendeunternehmens fungieren kann, um die Vor-
bund abgeschlossene Tarifvertrag über Mindestarbeits- schriften und Bedingungen der Entsenderichtlinie um-
bedingungen nicht in Kraft treten kann. Fast 1 Million setzen zu können. Über diese Bestimmungen herrscht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6301

(A) Konsens zwischen den Sozialpartnern auf nationaler und Etablierung von Agroforstsystemen im ökologischen (C)
auf europäischer Ebene, der durch die Entschließung des oder im traditionellen Landbau als alternative Form der
Europäischen Parlaments gestützt wird. Landnutzung gefordert. Entscheidend über die Weiter-
verfolgung dieser Form der Landbautechnik, die Ele-
Diese vom Europäischen Parlament für erforderlich
mente der Landwirtschaft mit denen der Forstwirtschaft
erklärten Kontrollinstrumente sind in Deutschland
verbindet, ist nach Ansicht der Union die praktische
im Arbeitnehmer-Entsendegesetz verankert. Auf dieser
Relevanz. Bevor diese Art der Landbewirtschaftung
Grundlage konnte die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“
bereits in der Vergangenheit die Einhaltung der Mindest- umgesetzt wird, sollten zunächst einmal gesicherte wis-
arbeitsbedingungen in der Baubranche überprüfen. Mit senschaftliche Erkenntnisse darüber gewonnen werden.
der Erstreckung des Gesetzes auf die Gebäudereiniger Grundsätzlich strebt die Union eine Ausweitung der
wird der Weg für wirksame und effektive Kontrollen Holznutzungspotenziale an, denn in Deutschland ist die
auch für diese Branche eröffnet. Nachfrage nach Holz in den vergangenen Jahren derart
Die Einbeziehung der Gebäudereiniger erfolgt im sprunghaft angestiegen, dass jede Form des Holz-
Gleichklang mit der bisher allein relevanten Baubranche. zuwachses willkommen ist. Zwar ist Deutschland das
Die Gründe hierfür sind bereits im Gesetzentwurf Land mit den größten Holzvorräten in Europa – nach
der Bundesregierung niedergelegt. Sie resultieren im den Ergebnissen der zweiten Bundeswaldinventur mit
Wesentlichen aus der Vergleichbarkeit der Bau- und der rund 3,4 Milliarden Kubikmeter –, aber der Pro-Kopf-
Gebäudereinigerbranche. Lassen Sie mich hierfür einige Verbrauch von Holz und Holzprodukten hat seit der Ver-
Beispiele nennen: abschiedung der Charta für Holz deutlich zugenommen.
Zudem stammt die aus erneuerbaren Energien gewon-
In beiden Branchen gibt es die für die Anwendung nene Wärme fast zu 95 Prozent aus Biomasse. In diesem
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes erforderliche Tarif- Bereich dominiert ganz klar Holz. Die Anzahl der Holz-
vertragsstruktur. Beide Branchen sind durch ständig pelletanlagen in Deutschland stieg allein im Jahr 2006
wechselnde Einsatzorte der Arbeitnehmer und ein damit um 28 000 auf circa 67 000. Man kann angesichts dieser
einhergehendes erhöhtes Schutzbedürfnis der Arbeitneh-
Steigerungsraten von über 70 Prozent zu Recht von einem
mer geprägt und in beiden Branchen ist die Arbeit ausge-
Energieholzboom sprechen. In den neuen Bundesländern
sprochen lohnkostenintensiv.
sind mit einem Investitionsvolumen von mehr als
Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, 20 Millionen Euro allein in den vergangenen zehn Jah-
wenn die Gebäudereiniger eine gleichberechtigte Be- ren 15 neue Verarbeitungsstätten wie zum Beispiel Säge-
handlung mit der Baubranche bei einer Einbeziehung in werke, Holzverarbeitungs- und Zellstoffwerke entstanden.
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wünscht. Dem kommt In den letzten Jahren ist zudem eine Wiederbelebung des
(B) die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf nach. Auch Brennholzmarktes zu verzeichnen, denn viele private (D)
der Bundesrat hat im ersten Durchgang keine Bedenken Haushalte steigen angesichts steigender Energiepreise
geäußert. wieder auf Kamin und Kachelofen um. Und wenn man
bedenkt, dass ein Kubikmeter Holz circa 230 Liter Heizöl
Mit der Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsende-
substituiert, dann ist sehr wohl nachvollziehbar, warum
gesetzes wird die Grundlage geschaffen, dass aus dem
die Bundesregierung den Ausbau dieser alternativen und
Ausland entsandte Gebäudereiniger hier nicht zu
ökologisch wertvollen Energiequelle „Holz“ vehement
Niedrigstlöhnen beschäftigt werden dürfen. Nur so kann
den inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorantreibt.
die Angst vor ausländischer Billigkonkurrenz genom- Die Bundesregierung verfolgt verschiedene For-
men werden. Auf der Grundlage des Arbeitnehmer- schungprojekte zu agroforstlichen Bewirtschaftungs-
Entsendegesetzes können in- und ausländische Arbeit- konzepten auf nationaler Ebene. Bei dem Projekt „Agro-
nehmer zu fairen Bedingungen beschäftigt werden. forst – neue Optionen für eine nachhaltige Landnutzung“
Diesen sozialen Schutz wollen die Menschen in Europa soll untersucht werden, ob diese Agroforstsysteme in
und den wollen die Menschen in Deutschland. Der Ihnen Gebieten, die von einem starken Rückgang der Land-
vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet die notwendigen wirtschaft und dem damit verbundenen Aufforstungs-
Regelungen. Er stellt damit einen wichtigen Beitrag für druck betroffen sind, als Alternative infrage kommen.
ein sozial gerechtes Europa dar. Der regionale Schwerpunkt dieser Projekte liegt in Baden-
Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern – also zwei
Regionen, die sich erheblich in ihren ökologischen so-
Anlage 16 wie land- und forstwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
unterscheiden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das mit 1,6 Millionen Euro geforderte Projekt „Agro-
zur Beratung des Antrags: Nachhaltige Res- wood“ soll im Rahmen dieses Verbundvorhabens klären,
sourcennutzung durch Agroforstwirtschaft (Zu- inwieweit agroforstwirtschaftliche Bewirtschaftungskon-
satztagesordnungspunkt 7) zepte mit Laubbäumen aus ökonomischer, ökologischer
und sozialer Sicht als Alternativen zu den bislang übli-
Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): Mit dem chen forstwirtschaftlichen bzw. agrarischen Nutzungen
vorliegenden Antrag „Nachhaltige Ressourcennutzung infrage kommen. Dieses Projekt wurde 2005 mit einer
durch Agroforstwirtschaft“ wird die Förderung und Laufzeit von vier Jahren aufgelegt.
6302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Außerdem wird vom BMBF unter dem Arbeitstitel keine aussagekräftigen Erkenntnisse bzw. belastbaren (C)
„DENDROM – Zukunftsrohstoff Dendromasse“ ein Pro- Zahlen über Erträge vor, welche die Bauern dazu bewe-
jekt zu den Fragen der nachhaltigen energetischen und gen würden, auf Agroforstsysteme zu setzen. Die Ak-
stofflichen Verwendung von Dendromasse aus Wald- zeptanz bei den Landwirten ist bisher sehr gering, trotz
und Feldgehölzen mit 1,7 Millionen Euro gefördert. Bei der von Forschern geschätzten Realisierung von Mehr-
diesem Vorhaben wird davon ausgegangen, das die erträgen von maximal 30 Prozent.
Nachfrage nach Dendromasse in Zukunft deutlich
ansteigen wird und nur ein Teil des Bedarfs durch die Der Antrag fordert konkret einen finanziellen Beitrag
Aktivierung von Holzreserven aus der Forstwirtschaft der Bundesregierung für Forschungsprojekte und zum
gedeckt werden kann. Dieses Vorhaben hat zum Ziel, Ausbau der Agroforstwirtschaft. Diese Subventionen
Grundlagenwissen und konkrete Handlungskonzepte zur sollen aus GA-Mitteln und aus ELER-Mitteln bereit-
Lösung des Konfliktes zu erarbeiten, der sich aus dem gestellt werden. Ich möchte Sie an dieser Stelle daran
klima- uns energiepolitisch erforderlichen Ausbau der erinnern, dass die Gelder über die 2. Säule aus der
Nutzung erneuerbarer Energien einerseits und der um- ELER-Verordnung dringend gebraucht werden, um die
weltpolitisch erforderlichen naturnahen Waldbewirt- Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes zu stärken. Die
schaftung andererseits ergibt. GA-Mittel sind längst verplant. Wenn ich mich recht ent-
sinne, war es Ministerin Künast von Bündnis 90/Die Grü-
Auf EU-Ebene hat das EU-Forschungsprojekt nen, die während ihrer Amtszeit die GA-Mittel erheblich
„Agroforstwirtschaft für Europa“, kurz SAFE genannt gekürzt hat. Es stellt sich in Anbetracht der begrenzten
(Silvorable Agroforestry for Europe), zwischen 2001 finanziellen Mittel die Frage, ob man sich in Deutsch-
und 2005 untersucht, wie sich verschiedene Baumarten land überhaupt ein subventioniertes Agroforstsystem
und Ackerkulturen in Europa kombinieren lassen. Die leisten kann und will.
Ergebnisse basieren im Wesentlichen auf Modellrech-
nungen und werden derzeit der Öffentlichkeit präsen- Für den Fall, dass sich aus den Versuchsprojekten pra-
tiert. Auf der Tagung zum Thema „Anbau und Nutzung xisrelevante Ergebnisse ziehen lassen und auf dieser
von Bäumen auf landwirtschaftlichen Flächen“ am 6. und Basis tatsächlich erwogen wird, eine Etablierung von
7. November in Tharandt in Sachsen-Anhalt wurden be- Agroforstsystemen in Deutschland umzusetzen, so
reits einige Erkenntnisse vorgestellt. Leider müssen könnte dies nach Auffassung der Union in Deutschland
viele dieser Aussagen relativiert werden, weil die Daten nur ohne Subventionierungen – seien es GA-Mittel oder
in diesen Modellen auf relativ kurzen Zeitreihen beru- EU-Mittel – umgesetzt werden. Einige Beispiele aus
hen. Auch die Aussagen zur Klimarelevanz sind entspre- Deutschland zeigen, dass Agroforstsysteme auch ohne
chend ungenau. Weiterführender Forschungsbedarf wird staatliche Beihilfen durchaus rentabel sein können. Ent-
(B) auch gesehen bei der Übertragung in Gebiete mit ande- scheidend sind die richtigen Strategien hinsichtlich der (D)
ren klimatischen Bedingungen. Wirtschaftlichkeit und Rentabilität. Diese liegen bei-
spielsweise in der Erschließung von Marktnischen – zum
Interessant sind die Ergebnisse einer SAFE-Umfrage Beispiel medizinale oder floristisch bedeutsame Pflan-
bei 270 Landwirten in sieben europäischen Ländern in zen –, der Herstellung besonders hochwertiger Produkte
insgesamt 14 Regionen. Tatsächlich erwog knapp jeder und der Direktvermarktung. Bei der Bewirtschaftung
zweite von ihnen die Einführung eines Agroforstsystems macht es oftmals Sinn, wenn sich Agrargemeinschaften
auf nur 20 Prozent ihrer Betriebsfläche. Durchaus posi- zu Verbünden zusammentun, damit beispielsweise die
tiv bewertet wurde von ihnen unter anderem die recht gemeinsame Anschaffung einer Erntemaschine finan-
einfache Umsetzung der Maßnahme, die Imageverbesse- ziert wird. Die Anschaffung einer Apfelauflesemaschine
rung und die sozialen Kontakte, die sich daraus ergaben. oder eines Haselnusssaugers muss sich lohnen.
Es gab aber ein entscheidendes Argument der Bauern
gegen diese Maßnahmen: Im ersten Jahr sanken die Er- Lassen Sie mich noch auf einige weitere Punkte des
träge pro Hektar, unter anderem auch deshalb, weil die vorliegenden Antrages eingehen, wo die CDU/CSU-
Bäume natürlich erst ab einem gewissen Alter „geerntet“ Bundestagsfraktion noch Gesprächsbedarf sieht. Der
werden können. Dieser finanzielle Hinderungsgrund be- Forderung im vorliegenden Antrag, dass im Falle von
wog die Mehrzahl der Landwirte, von dieser Form der zukünftiger Zulassung gentechnisch veränderter Baum-
Bewirtschaftung Abstand zu nehmen. und Gehölzsorten deren Verwendung in Agroforstsyste-
men ausgeschlossen werden solle, steht die CDU/CSU-
Am Beispiel Frankreichs wird deutlich, welche Rolle Bundestagsfraktion ebenfalls kritisch gegenüber. Die
die Subventionierung spielt. Nachdem 2001 die gesetz- Position der Union in Sachen Gentechnik ist Ihnen hin-
lichen Regelungen für die entsprechenden Fördermaß- reichend bekannt. Wir verschließen uns nicht grundsätz-
nahmen eingeführt wurden, entstanden 2002 immer lich der Gentechnik. Außerdem wollen Sie die rechtliche
mehr moderne Agrarforstsysteme. Übertragen auf Stellung des Pächters im Zusammenhang mit der An-
Deutschland ist sicherlich auch zu erwarten, dass bei pflanzung von Gehölzen und der bisher damit verbunde-
entsprechender Subventionierung zum Beispiel durch nen Wiederherstellung des Ursprungszustandes stärken.
Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Die Union hält gesetzliche Eingriffe in das bestehende
Küstenschutz“, GAK, diese Form der Landnutzung in Pachtrecht für problematisch.
Deutschland eine größere Rolle spielen wird.
Im Ergebnis würde ich deshalb vorschlagen, dass wir
Ich möchte festhalten: Bisher liegen für die Durch- diesen Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bera-
führung von Agroforstsystemen in Deutschland noch tung in die Ausschüsse überweisen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6303

(A) Dr. Gerhard Botz (SPD): Mit den modernen Agro- schaft“ für wenig sinnvoll. Gerade für die von der Frak- (C)
forstsystemen greifen wir mit neuen Wortschöpfungen tion des Bündnisses 90/Die Grünen geforderte Fach-
eine uralte Tradition der Flächenbewirtschaftung auf. öffentlichkeit erreiche ich mit den bereits vorhandenen
Streuobstwiesen und Ackerraine sind wohl die bekann- Strukturen das Ziel wesentlich einfacher und ohne Um-
testen Formen der traditionellen Agroforstnutzung. Sie wege. Hier muss das Rad nicht neu erfunden werden,
gehören nicht nur ins Kulturlandschaftsbild früherer wenn man auf intakte Strukturen und funktionierende
Zeiten, sondern prägen auch heute noch in einigen Institutionen zurückgreifen kann. Sehr vorsichtig wäre
Regionen unsere ländlichen Räume. Die Nutzung von ich in diesem Zusammenhang auch mit dem Versuch,
Gehölzen auf oder am Rande landwirtschaftlicher Fläche das Pachtrecht grundsätzlich zu ändern, um Landwirten
ist eine sinnvolle ökologische Bereicherung. Neben der derartige Wirtschaftsweisen zu erleichtern.
Erweiterung der biologischen Vielfalt der Flora, bieten
die Gehölzstrukturen Lebensraum für zahlreiche Tier- Die grundsätzlich positiven Ansätze der Agroforst-
arten und leisten einen großen Beitrag zum Artenschutz. wirtschaft sind durchaus in dem Antrag zur nachhaltigen
Ressourcennutzung durch Agroforstwirtschaft der Frak-
Ein wichtiger Punkt für die Landwirtschaft ist aber tion des Bündnisses 90/Die Grünen zu finden, doch es
zum Beispiel der Beitrag dieser Verfahren zum Boden- bleiben starke Bedenken und entsprechender Diskussions-
schutz. Gehölze tragen dazu bei, Bodenerosion durch bedarf zu den oben angeführten Punkten. Aus diesem
Wind und Wasser zu mindern, halten das Grundwasser Grund können wir dem Antrag in dieser Form nicht zu-
im Boden und vermindern ebenfalls die Auswaschungs- stimmen, empfehlen aber eine Überweisung des Antrages
gefahr von Düngemitteln in das Grundwasser, besonders „Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agroforstwirt-
in der vegetationsarmen Jahreszeit, und bilden eine Koh- schaft“ in den zuständigen Ausschuss für Ernährung,
lendioxidsenke. Nicht zuletzt in der aktuellen Debatte um Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
den Klimaschutz sollte dies alles mit bedacht werden.
In den zurückliegenden drei Jahrzehnten wurden Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die FDP steht
Bäume nicht als ein Teil der Feldbewirtschaftung verstan- dem Anliegen, die Einrichtung von Agroforstsystemen
den. Die Vernichtung von unseren traditionellen Agro- auch in Deutschland zu ermöglichen, positiv gegenüber.
forstsystemen in ganz Europa führte zu einem Verlust von Agroforstsysteme sind keine Wälder. Sie sind eine Son-
Wissen bei den Landwirten, zur Vereinfachung und Stan- derform der Ackernutzung, bei der abwechselnd mit
dardisierung von Landschaft, zu Umweltproblemen, zur ackerbaulich oder als Weide genutzten Flächen Gehölz-
Verminderung von Biodiversität und auch zum Verlust pflanzen angepflanzt werden.
von alternativen Einkommensquellen für die Landwirte.
Voraussetzung für die Einrichtung von Agroforstsys-
(B) Für unsere Landwirte ist mit Blick auf die zukünftige temen ist die Änderung des Bundeswaldgesetzes. Es (D)
Agrarpolitik wichtig, dass auch die ökonomischen Fak- muss sichergestellt werden, dass die für die Errichtung
ten stimmen. Hier gibt es gute Ansätze und Erfahrungen von Agroforstsystemen verwendeten Flächen nicht, wie
zu Agroforstsystemen aus England und Frankreich, je- die gegenwärtig geltenden Bestimmungen des Bundes-
doch ist die Nutzung in Deutschland bisher nur vereinzelt waldgesetzes es vorsehen, aus der agrarischen Nutzung
erprobt. Es scheint sich aber abzuzeichnen, dass ein ver- fallen.
ständiger Umgang und die gezielte Auswahl von Pflan-
zenkombinationen aus Gehölz und Ackerkultur teilweise Agroforstsysteme sind besonders geeignet, um schnell
sogar zu ansehnlicher Ertragssteigerung gegenüber der wachsende Holzarten zur energetischen Verwertung oder
herkömmlichen Nutzung von Agrarflächen führen kann. für die Papierherstellung anzubauen. Sie bieten zahlreiche
ökologische Vorteile, mindern die Erosion, bieten für
Hierzu – da stimme ich dem Antrag von Bündnis 90/ Weidetiere Schutz bei extremen Witterungsverhältnissen,
Die Grünen zu – fehlen uns noch fundierte Erkenntnisse. tragen zur Erhöhung der Biodiversität bei.
Ich halte es für sinnvoll, die Agroforstsysteme auch in
die Diskussion um die derzeit angestrebten Reformpläne Der Papierbedarf steigt weltweit. Für die nächsten
des Bundesministers für Landwirtschaft zur Ressortfor- zehn Jahre wird ein Anstieg um 50 Prozent prognosti-
schung einzubringen. Eine sinnvolle Verflechtung mit ziert. In der Papierherstellung ist insbesondere das im
bereits bestehenden Forschungsprogrammen des Bundes- Holz enthaltene Lignin störend, da es nur durch sehr
ministeriums für Bildung und Forschung, beispielsweise energieaufwendige Verfahren entfernt werden kann.
an der Universität Freiburg, ist hier meines Erachtens Daher ist es nahe liegend, dass mit gentechnischen
ebenfalls zu bedenken. Züchtungsverfahren versucht wird, den Ligninanteil im
Holz zu verringern. In den USA, Neuseeland und China
Die derzeitigen Entwicklungen auf dem europäischen gibt es entsprechende Forschungen.
Agrarsektor, aber auch in anderen Bereichen, zeigen
eine deutliche Abkehr von der Politik der grundsätz- Inzwischen gibt es auch Erfolge. In China ist es ge-
lichen finanziellen Förderungsmöglichkeit von neuen Ver- lungen, Pappeln mit einem um 50 Prozent verringerten
fahren. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass es Ligningehalt zu züchten. Parallel dazu gibt es Züchtun-
so etwas gibt, man es ausprobieren sollte, auch wenn der gen zur Herstellung von Insektenresistenz.
Staat nicht die finanzielle Gießkanne darüber hält.
Es dient dem Schutz unserer multifunktional genutz-
Ebenso erachte ich die Einrichtung einer speziellen ten Wälder, wenn für die Zelluloseherstellung Holz aus
„Informations- und Koordinationsstelle Agroforstwirt- Agroforstsystemen und Plantagen zur Verfügung steht.
6304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Transgene Bäume eignen sich nur für die Plantagen- besserung des Mikroklimas und Diversifizierung der (C)
wirtschaft oder zur Anpflanzung in Agroforstsystemen. landwirtschaftlichen Produktion – alles Effekte, die wir
Durch die Erzeugung von Sterilität kann eine Weitergabe im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsaspekten und mit
der für naturnahe Wälder unerwünschten genetischen der Stabilisierung der biologischen Vielfalt in Wald und
Eigenschaften verhindert werden. Es gibt erheblichen Flur bewirken wollen. Trotzdem werden in diesem
weiteren Forschungsbedarf, um Methoden für die Erzie- Hause sicherlich einige Abneigungen bestehen. Oft gilt
lung einer dauerhaften Sterilität zu entwickeln. der am Feldrand stehende Baum immer noch eher als
Hindernis. Mühevoll mussten zum Beispiel Ackerrand-
Erste Freisetzungsversuche von gentechnisch verän- streifen und die Anlage von Hecken oder Feldgehölzen
derten Pappeln sind in Deutschland vom forstgeneti- finanziell gefördert werden. Freiwillig passierte da fast
schen Institut in Großhansdorf in den Jahren 1996 bis nichts!
2001 erfolgreich durchgeführt worden. Pappeln werden
weltweit von Gentechnikern gern als Modellpflanze ge- Moderne Konzepte der Agroforstwirtschaft wider-
nutzt, weil sie schnell wachsen und weil die gängigen sprechen nicht den heute geläufigen Techniken und Ver-
gentechnischen Verfahren bei ihnen genauso gut wie bei fahren der landwirtschaftlichen Produktion, egal ob kon-
Ackerpflanzen funktionieren. Weitere Baumarten sind ventionell oder ökologisch produziert wird. Trotzdem
Kiefer, Fichte, Birke und Eukalyptus. stoßen diese Ideen und Konzepte bislang nur auf wenig
Gegenliebe, da sie weder in aktuelle Förderkulissen
Die 9. UNO-Klimakonferenz hat beschlossen, dass
passen noch ausreichend Kenntnisse und Erfahrungen
zur Reduktion von Treibhausgasen künftig auch gen-
verbreitet sind, die agroforstwirtschaftliche Verfahren
technisch veränderte Pflanzen eingesetzt werden kön-
von sich aus in die Praxis bringen würden.
nen. Die Nutzung von Holz aus Agroforstsystemen ver-
folgt zumeist auch klimapolitische Ziele und steht damit Dabei liegen durchaus schon aktuelle Erfahrungen
im Einklang mit den Beschlüssen der 9. UNO-Konfe- mit moderner, an hiesige Verhältnisse angepasster Agro-
renz. forstwirtschaft vor. Die Erträge der jeweils angebauten
landwirtschaftlichen Kulturen sind ähnlich, teilweise so-
Vor dem Hintergrund der vielfältigen, oft innovativen
Nutzungsmöglichkeiten von Agroforstsystemen ist der gar höher als bei herkömmlicher Produktion. Vor allem
die Wintergerste kann sehr gut in Agroforstsystemen
Antrag der Grünen völlig unbefriedigend. Er schließt
angebaut werden. In einer Studie der Universität Leeds
von vornherein die Anpflanzung von gentechnisch ver-
änderten Pflanzen aus, selbst wenn diese in der Gesamt- konnten sogar höhere Erträge nachgewiesen werden.
Dazu kommt noch die Nutzungsmöglichkeit der Bäume:
ökobilanz Vorteile gegenüber anderen Pflanzen haben.
Energie- oder Wertholz, Früchte oder Nüsse. Es gibt eine
(B) Wer so mit Scheuklappen an das spannende Thema ganze Reihe interessanter Projekte und Erfahrungen. So (D)
Agroforstsysteme herangeht, als erstes besonders attrak- kann offensichtlich der Schafbesatz auf einer Agroforst-
tive Nutzungsformen ausschließt, dem ist nur die Schaf- fläche im Vergleich zu einer Wiese mehr als verdoppelt
fung neuer Fördermöglichkeiten wichtig, nicht jedoch werden und trotzdem nachhaltig bleiben. Die Branden-
die Entwicklung wirtschaftlich konkurrenzfähiger und burger Technische Universität in Cottbus hat positive
ökologisch besonders geeigneter Landnutzungsformen. Erfahrungen mit Kurzumtrieb oder Pappeln in Tagebau-
Daher lehnt die FDP den Antrag ab. folgelandschaften. Möglicherweise bieten Agroforstsys-
teme auch einen Lösungsansatz für die viel diskutierte
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Wir sprechen Flächenkonkurrenz.
heute über ein Thema, das eigentlich uralt und sehr tra- Besonders interessant erscheinen die Konzepte im Hin-
ditionell ist, aber in Deutschland mittlerweile weitgehend blick auf eine nachhaltige und wirtschaftliche Nutzung
unbekannt. Hudewälder, extensiv bewirtschaftete Streu- von landwirtschaftlichen Grenzstandorten, die zuneh-
obstwiesen und ausgedehnte Hecken sind historische mend – bei sinkender öffentlicher Förderung – ganz aus
Agroforstsysteme, die bewusst die Nutzung von Bäumen der Produktion fallen könnten. Angesichts der wieder
und Sträuchern und der landwirtschaftlichen Fläche mit- steigenden Nutzungsintensität durch Energieerzeugung
einander verbinden. Die heute bei uns bestehende deut- aus Biomasse und den Anbau von nachwachsenden Roh-
liche Trennung von Landwirtschaft auf der einen Seite stoffen auf dem Acker ist schon jetzt der Flächenbedarf
und Forstwirtschaft auf der anderen Seite gab es nicht gestiegen.
immer und es gibt sie auch heute nicht überall.
So weit zu möglichen Potenzialen.
Die Agroforstwirtschaft spielt in der aktuellen Ent-
wicklungszusammenarbeit eine viel größere Rolle als Wo stecken die Probleme? Die Förderpolitik ist auf
bei uns. Das, was für landwirtschaftliche Probleme in europäischer Ebene der Agroforstwirtschaft gegenüber
anderen Ländern eine Lösung sein kann, kann doch auch offen – so zu finden in Art. 44 in der EU-Verordnung zur
für uns interessant sein und neue Chancen und Möglich- Entwicklung des ländlichen Raums, der ELER-Verord-
keiten erschließen. Also: Es lohnt sich, genauer hinzu- nung. Die deutsche Spezifizierung im Rahmen der
sehen. Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“
gibt dagegen nicht viel her, hier muss nachgebessert
Die positiven Effekte der Agroforstwirtschaft sind im werden!
Antrag der Grünen hinreichend beschrieben: Wind- und
Erosionsschutz, Förderung von Nützlingen durch zusätz- Des Weiteren muss das Waldgesetz geändert werden,
liches Lebensraumangebot, Kohlendioxidsenken, Ver- sollen Agroforstsysteme eine Chance bekommen. Eine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6305

(A) klare Abgrenzung von Wald- zu Agroforstflächen ist Das Prinzip der Agroforstwirtschaft ist nicht neu. (C)
hier erforderlich. Die Definition, nach der auf einer Bekannte Beispiele für traditionelle Agroforstsysteme
Agroforstfläche mindestens 50 Prozent landwirtschaft- sind Streuobstwiesen und Hecken. Sie gehören seit jeher
liche Kulturen stehen müssen, damit sie nicht als Wald, zur Kulturlandschaft. Aber in Deutschland gibt es heute
sondern immer noch als Acker oder Grünland gilt, kaum mehr Agroforstsysteme. Moderne und gleichzeitig
könnte zum Beispiel übernommen werden. nachhaltige Agroforstsysteme müssen so angelegt wer-
den, dass nicht nur ökologische Aspekte, sondern auch
Aber es bedarf auch zusätzlicher finanzieller Mittel, betriebswirtschaftliche Erfordernisse berücksichtigt wer-
um die Forschung und Erprobung solcher Agroforstwirt- den. Dazu gehört, dass der Einsatz moderner Landtech-
schaftssysteme zu unterstützen. Zumindest eine Prüfung nik ermöglicht wird. Dazu gehört auch, dass die Aus-
der Potenziale hat aus Sicht der aktuellen Diskussionen wahl der angebauten Kulturen sich am Markt orientieren
über eine sichere Versorgung aus ökologisch erzeugten, muss. Nach wie vor besteht Nachfrage nach Wertholz
erneuerbaren Energiequellen eine neue Motivation ge- und nach Früchten wie Holunder, Hasel- oder Wal-
wonnen. nüssen. Neu ist das rasant angestiegene Interesse an
Energieholz. Während auf der einen Seite das Land-
Doch was nützt ein guter Vorschlag, wenn ihn nie- schaftspflegeholz, das beim Schnitt von Hecken und
mand hört? Informationsveranstaltungen, Exkursionen anderen Gehölzstreifen anfällt, vielfach nach wie vor
und die Einrichtung einer Kommunikationsstelle würden einfach vor Ort verbrannt wird, denken etliche Land-
dazu dienen, die Potenziale der Agroforstwirtschaft be- wirte bereits darüber nach, wie sie auf ihren Äckern sys-
kannt zu machen. tematisch Energieholz produzieren können. Meist geht
Auf einen Aspekt möcht ich zum Schluss noch kurz es ihnen dabei um Kurzumtriebsplantagen. Aber auch
Ihre Aufmerksamkeit lenken. Auch beim Thema „nach- das so genannte Alley-Cropping – also regelmäßige
wachsende Rohstoffe in der Forstwirtschaft“ droht Gehölzstreifen auf größeren Ackerschlägen – kommen
uns wieder eine Diskussion über die Agrogentechnik. hier in Betracht. Letztlich kann jede Form der Agroforst-
Transgene Pappeln und Co. betrachtet Die Linke ge- wirtschaft auch der Produktion von Energieholz dienen.
nauso kritisch wie andere genetisch manipulierte Kultur- Es ist also nicht nur aus umweltpolitischen Gründen
pflanzen. Es gibt andere Lösungen für unsere land- und sinnvoll, diese Form der Landbewirtschaftung in
forstwirtschaftlichen Probleme. Dieser Antrag ist ein Deutschland und Europa zu etablieren. Um sich diesem
gutes Beispiel dafür. Ziel zu nähern, muss jedoch noch einiges an Vorarbeiten
geleistet werden. Wir wollen daher mit unserem Antrag
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die erreichen, dass die Bundesregierung die erforderlichen
(B) Landwirtschaft in Deutschland steht an der Schwelle Maßnahmen ergreift. Dazu gehört, dass die Forschung (D)
einer neuen Ära: Nicht allein qualitativ hochwertige zu Agroforstsystemen in Deutschland finanziell abgesi-
Nahrungsmittel werden von ihr erwartet, sondern auch chert wird. Diese Forschung muss vor allem regional
zunehmend ein Wirtschaftsgut, das die Landwirtschaft und betriebswirtschaftlich angepasste Agroforstsysteme
bisher eher eingekauft als produziert hat, nämlich Ener- entwickeln und optimieren. Denn bisher ist der Kennt-
gie. Darüber hinaus sollen Arbeitsplätze geschaffen, nisstand über Agroforstwirtschaft in Mitteleuropa noch
hohe Sozial- und Umweltstandards eingehalten und eine zu gering, um den Landwirten ausreichende Optionen
tourismusfreundliche Kulturlandschaft gestaltet werden. mit einer gesicherten wirtschaftlichen Perspektive bieten
zu können. Um die Landwirte überzeugen zu können,
Um diesen vielen Anforderungen gerecht zu werden, auf Agroforstsysteme zu setzen, ist es jedoch notwendig,
muss über neue Landnutzungsformen nachgedacht wer- ihnen Faustzahlen über Anbauvarianten und Erträge lie-
den. Zwangsläufig stößt man da auf das Thema Agro- fern zu können.
forstwirtschaft. Mit unserem Antrag wollen wir die Auf-
Außerdem muss die Bundesregierung eine „Informa-
merksamkeit der Politik auf dieses Thema lenken und
tions- und Koordinationsstelle Agroforstwirtschaft“ ein-
die erforderlichen Fördermaßnahmen auf den Weg brin-
richten. Sie muss die Aufgabe erfüllen, die vorliegenden
gen, damit es bei der Agroforstwirtschaft nicht bei einer Erkenntnisse über Agroforstsysteme der Fachöffentlich-
schönen Idee bleibt, sondern sie breiten Einzug in die
keit und der Landwirtschaft bekannt zu machen und
Praxis hält. Zwar gibt es inzwischen auch in Deutsch- Maßnahmen der aktiven Öffentlichkeitsarbeit für die
land eine Reihe von Landwirten, die auf diesem Gebiet Agroforstwirtschaft und der Forschungsförderung zu ko-
experimentieren. Von einem Durchbruch kann bisher ordinieren. Dies ist notwendig, um das Thema in der
aber noch keine Rede sein. Hierfür bleibt noch viel zu Forschung, in der Öffentlichkeit und bei den Landwirten
tun. Die EU legte bereits 2001 mit SAFE – Silvoarable stärker zu verankern.
Agroforestry for Europe – ein Forschungsprojekt auf,
das Grundlagen zur Beurteilung der Rentabilität von Außerdem muss sich die Bundesregierung dafür ein-
Agroforstsystemen liefern sollte. Dieses im Jahr 2005 setzen, dass die Förderung von extensiven Agroforst-
abgeschlossene Projekt hat gezeigt, dass Agroforst- systemen in die GAK aufgenommen wird. Die ELER-
systeme nicht nur aus Umweltsicht Vorteile bringen, Verordnung sieht in Art. 44 vor, dass Beihilfen zur Ein-
sondern auch wirtschaftlich interessant sein können. richtung von Agroforstsystemen auf landwirtschaft-
Denn der Ertrag aus Acker- und Baumkultur zusammen- lichen Flächen gewährt werden können. Eine Refinan-
genommen kann durchaus das heute übliche hohe Er- zierung mit EU-Mitteln ist also möglich – eine
tragsniveau erreichen oder übertreffen. Förderung mit Mitteln der GAK bisher allerdings nicht.
6306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Denn die konservative Mehrheit der Agrarminister in nung eines Stufenbeauftragten sowie eines Informations- (C)
Bund und Ländern hat die Förderung von Agroforst- beauftragten und eine verschuldensunabhängige Haftung
systemen im PLANAK für 2007 abgelehnt. Diese Ent- bis zu 120 Millionen Euro. Im Falle der vorgesehenen
scheidung müssen sie so schnell wie möglich korrigieren. Abgabe von Geweben an Dritte bedarf es einer Zulas-
sung gemäß Arzneimittelgesetz.
Nicht zuletzt muss die Bundesregierung im Bundes-
waldgesetz Agroforstsysteme gegenüber Wald abgren- Durch das Transplantationsgesetz, das bisher die
zen und dort festlegen, dass Agroforstsysteme nicht Entnahme von Organen regelt, sollen zukünftig auch
Wald im Sinne des Bundeswaldgesetzes sind. Dies ist Zellen und Gewebe, embryonale und fötale Organe
notwendig, um auszuschließen, dass landwirtschaftliche sowie Knochenmark erfasst werden.
Nutzflächen, die zu Agroforstsystemen aufgewertet wer-
den, zukünftig den Vorgaben des Bundeswaldgesetzes Durch vorgeschriebene Dokumentation soll es
unterliegen. Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung die zukünftig möglich sein, Gewebe vom Spender bis zum
angekündigte Änderung des Bundeswaldgesetzes zügig Empfänger und umgekehrt zu verfolgen, schwer-
vorlegt und diese Gelegenheit nutzt, um diese Änderung wiegende Zwischenfälle und unerwünschte Reaktionen
vorzunehmen. sollen Meldevorschriften unterworfen werden.

Der Tradition dieses Hauses folgend, werden die Re- Grundlagen für die Umsetzung der Geweberichtlinie
gierungsfraktionen unseren Antrag ablehnen. Das kann, sind im Arzneimittelgesetz bereits heute enthalten.
muss aber nicht heißen, dass die Kollegen damit auch Bereits seit der 12. und der 14. Novelle ist eine Herstel-
unsere Anliegen ablehnen. Ich möchte die Bundesregie- lungserlaubnis nicht nur für die Herstellung von Arznei-
rung und die Kollegen der Regierungsfraktionen daher mitteln, sondern auch für die Entnahme und Gewinnung
herzlich bitten, das Anliegen unseres Antrags ernst zu von zur Arzneimittelherstellung bestimmten Stoffen
nehmen und möglichst viel von dem zu realisieren, was menschlicher Herkunft wie Blut, Plasma, Gewebe und
wir hier beantragen. Damit würden Sie für unsere Kul- Zellen erforderlich, kam aber bislang aufgrund der Über-
turlandschaft und die Agrobiodiversität und letztlich gangsbestimmung noch nicht zum Tragen.
auch für die Landwirte und sogar für den Klimaschutz Jetzt regelt der Entwurf, dass Einrichtungen, die
etwas Gutes tun. Stoffe menschlicher Herkunft entnehmen oder gewinnen,
keine eigene Herstellungserlaubnis beantragen müssen,
sondern in die Erlaubnis des mit ihnen kooperierenden
Anlage 17 Herstellers einbezogen werden können.
Zu Protokoll gegebene Reden Von Anfang an war die Erarbeitung des Gesetzent-
(B)
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über wurfs von vielfältiger Kritik vonseiten der Fachverbände (D)
die Qualität und Sicherheit von menschlichen begleitet. Der Bundesrat hat eine ausführliche Stellung-
Geweben und Zellen (Gewebegesetz) (Tagesord- nahme vorgelegt. Es ist gut, dass das Gesundheitsminis-
nungspunkt 28) terium in den Vorgesprächen signalisiert hat, sich dieser
Kritik konstruktiv anzunehmen und etwaige Änderungen
vorzunehmen.
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Der heute vorliegende
Entwurf eines Gewebegesetzes legt Kriterien fest, die Werden die Bedingungen der künftig erforderlichen
der Sicherheit von Patientinnen und Patienten dienen, Herstellungserlaubnis oder Haftungsvorschriften für
denen Gewebe oder Zellen übertragen werden sollen. heute aktive Gewebeentnahmeeinrichtungen unerfüllbar
Zur Vermeidung der Übertragung von Krankheiten sol- sein? Werden ihren Platz industrielle Investoren einneh-
len Qualität und Sicherheit von Geweben und Gewebe- men, wird es eine zusätzliche Kommerzialisierung durch
zubereitungen verbessert werden. Ich denke, wir sind den Arzneimittelstatus von Geweben geben? Wird die
uns einig in diesem Ziel, dem die EU-Geweberichtlinie Unterstellung von Zellen und Geweben unter das Arz-
dient. Diese EU-Geweberichtlinie haben wir in nationa- neimittelgesetz deshalb den Vorrang der Organspende
les Recht umzusetzen. vor der Gewebegewinnung gefährden?
In Deutschland gibt es Gesetze, die verwandte Sach- Werden Gewebetransplantate mit dem Gewebegesetz
zusammenhänge regeln, vor allem Transplantations- erheblich teurer, und werden sie dies, ohne dass ein Zu-
gesetz, Transfusionsgesetz und Arzneimittelgesetz. Dass wachs an Sicherheit für Patienten zu erwarten ist? Wäre
die Geweberichtlinie innerhalb dieser Gesetze umgesetzt es genauso sicher, etwa Gewebetransplantate, die weder
werden soll, ist zwar durch die Richtlinie nicht zwingend be- noch verarbeitet werden, sondern nur konserviert
vorgegeben. Weil es aber mit diesen Regelungen lang- und zur Transplantation zwischengelagert werden, recht-
jährige gesetzgeberische und Vollzugserfahrung gibt, lich eher als Organe statt als Arzneimittel zu behandeln?
spricht vieles für den durch den Entwurf gewählten Weg
der Umsetzung innerhalb dieser Gesetze. Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereiche
werfen – auch ethische – Fragen auf. Es ist durchaus
Um das Ziel des Gesetzes, die Qualität und Sicherheit richtig, Begriffe wie menschliche Keimzelle, Embryo
von Zellen und Geweben, zu erreichen, sind unter ande- und Fötus so genau wie möglich zu definieren. Auch
rem hohe Anforderungen für Gewebeentnahmestellen eine Klarstellung, dass der menschliche Embryo – wie er
bzw. für Gewebeeinrichtungen vorgesehen, darunter die im Embryonenschutzgesetz und im Stammzellgesetz de-
Herstellungserlaubnis nach Arzneimittelgesetz, die Benen- finiert ist – ausdrücklich nicht zum Arzneimittel wird,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6307

(A) scheint notwendig und ethisch angemessen. Wir werden nunmehr abgetan werden. Es gibt jedoch nicht nur for- (C)
prüfen, ob durch den Entwurf sicher ausgeschlossen ist, male, sondern auch inhaltliche Gründe, dies nicht zu tun.
dass der Arzt, der eine Abtreibung vornimmt, in die wei-
tere Verwertung des Gewebes der abgetriebenen Embryo- Kernpunkte der Kritik an dem als Artikelgesetz kon-
nen und Föten eingebunden ist. zipierten Entwurf betreffen zum einen die arzneimittel-
rechtliche Ausrichtung der Umsetzung, die im Bereich
Eine zu diskutierende Frage ist die Knochenmarks- der Fortpflanzungsmedizin besonders bizarr ist. Es wer-
entnahme bei minderjährigen und nicht einwilligungs- den nämlich zum Beispiel menschliche Geschlechtszel-
fähigen volljährigen Personen, für die das Gewebegesetz len als Arzneimittel eingestuft. Zum anderen werden die
einen strafrechtlich relevanten Rechtfertigungsgrund unzureichenden Regelungen der Schnittstellen zur Organ-
schafft. Auch wenn die Empfänger nahe Verwandte sein transplantation und zu dem dafür vor rund zehn Jahren in
müssen, handelt es sich um einen fremdnützigen Eingriff Kraft getretenen Transplantationsgesetz gerügt. Hier
in die körperliche Unversehrtheit der Minderjährigen liegt das folgenschwerste Problem des vorgelegten Ent-
bzw. nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen. Wir werden wurfs. Denn mit der Unterstellung aller Zellen und Ge-
zu klären haben, ob dieser nur mit minimalem Risiko webe unter das Arzneimittelgesetz ist eine Kommerziali-
und minimaler Belastung einhergeht oder ob allein eine sierung dieses Bereichs verbunden. Hierdurch entsteht
Vorschrift zustimmungsfähig wäre, die nur bei einwil- ein erheblicher Konflikt mit der Praxis der Organtrans-
ligungsfähigen Minderjährigen eine Knochenmarks- plantation.
entnahme nach ihrer Aufklärung und Einwilligung sowie
der des gesetzlichen Vertreters zulässt. Ich will dieses Problem anschaulich darstellen, denn
wir müssen wissen, was wir tun, wenn wir menschliche
Wir haben uns auch damit zu befassen, ob der Daten- Körperteile zu Arzneimitteln machen wollen. In New
schutz eindeutig genug formuliert ist. York hat gerade ein Prozess für großes Aufsehen ge-
sorgt, in dem Beerdigungsunternehmen und Ärzte verur-
Die Frist zur Umsetzung der Geweberichtlinie hat am teilt wurden, die im großen Stil ein makaberes Geschäft
7. April 2006 geendet. Wir können uns daher keine Zeit mit Leichenteilen organisiert hatten. Der Rohstoff
lassen. Dennoch werden wir die Regelungen des Gesetzes Mensch wird je nach Mangelstatus bestimmter Gewebe
in den kommenden Beratungen und Sachverständigenan- bereits zu Schwindel erregenden Preisen gehandelt. Eine
hörungen sorgfältig auf den Prüfstand stellen. kommerzielle Ausrichtung der Gewebemedizin würde
sich darum notwendig negativ auf den Bereich der altru-
Wir werden die Richtlinie so umsetzen, dass das deut-
istischen Organspende auswirken. Wir wissen dabei,
sche Recht den europarechtlichen Anforderungen genügt.
dass das Spendenaufkommen in Deutschland im europäi-
(B) Wir werden prüfen, ob Kritik an dem erwarteten Verwal- schen Vergleich ohnehin nicht groß ist. Die Wartelisten (D)
tungsaufwand, an Kommerzialisierungsgefahr und unver-
dagegen werden länger und länger. Um eine postmortale
tretbaren Kosten für die Allgemeinheit berechtigt sein
Organspende, für die keine Einwilligung des Patienten
könnte. Insbesondere aber werden wir jede Vorschrift
selbst vorliegt, zu ermöglichen, müssen Ärzte gegenwär-
daraufhin prüfen, ob sie der Versorgung der Patienten mit
tig mit den Angehörigen sprechen, um von diesen eine
sicheren Zellen und Geweben dient.
Zustimmung zu erhalten (erweiterte Zustimmung). Auch
für Gewebespenden gilt diese Regelung gegenwärtig,
Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Die Verwendung von weil Gewebe als Transplantate jetzt unter das Transplan-
menschlichen Zellen und Geweben stellt in der moder- tationsgesetz fallen. Die Situation der mit dieser schwie-
nen Medizin einen stark wachsenden Sektor dar, der rigen Kommunikation betrauten Ärzte wird sich nach In-
große Chancen für die Behandlung schwerer Erkrankun- Kraft-Treten des vorliegenden Gesetzes weiter erschwe-
gen bietet, die zum Beispiel mit einer konventionellen ren. Künftig muss auch auf eine mögliche kommerzielle
Arzneimitteltherapie nicht geheilt werden können. Um Nutzung von Gewebespenden verwiesen werden. Ange-
für die Gewebemedizin, speziell die Beschaffung, Tes- hörige könnten damit den sehr abschreckenden Gedan-
tung, Verarbeitung, Lagerung und Verteilung von Gewe- ken eines „Ausschlachtens“ des Körpers verbinden.
ben und Zellen einheitliche Qualitäts- und Sicherheits-
standards festzulegen, ist in der Europäischen Union Auch eine formal-rechtliche Vorrangstellung der Organ-
2004 nach langer Diskussion eine EU-Richtlinie erlassen transplantation, wie sie jetzt im Gesetzentwurf vorgese-
worden, die bis zum 7. April dieses Jahres in nationales hen ist, wird nur mit sehr umfassenden Kontrollmecha-
Recht hätte umgesetzt werden sollen. Mit dem vorlie- nismen verhindern können, dass transplantierbare
genden Gesetzentwurf will die Bundesregierung die Ge- Organe in den lukrativeren Bereich der Gewebemedizin
weberichtlinie umsetzen. verschoben werden. Bereits bei der Untersuchung mög-
licher Spender müsste künftig kontrolliert werden, ob
Der Bundesrat hat eine eindrucksvolle Stellungnahme die Verwerfung von Organen für die Transplantation
zu diesem ausgesprochen komplexen Fachgesetz abge- nach objektiven medizinischen Gesichtspunkten erfolgt
geben. In den Beratungen des zuständigen und eigens ist. Schon jetzt funktionieren die Kontrollmechanismen
eingerichteten Unterausschusses standen zunächst nicht im Bereich der Organtransplantation nicht gut. Die Pro-
weniger als 87 Änderungsanträge zur Diskussion. Ange- bleme werden sich auch hier verschärfen, wenn in Zu-
nommen wurden schließlich 46. Da das Gesetz nach der kunft noch eine Wettbewerbssituation mit den Organisa-
Föderalismusreform nicht mehr zustimmungspflichtig tionen der Gewebemedizin hinzutritt. Bestehende
ist, können die Änderungsvorschläge der Länderkammer personelle und organisatorische Verflechtungen in bei-
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(A) den Bereichen erschweren Kontrollen und sind darum die überall im Körper vorhandenen Stammzellen durch (C)
kontraproduktiv. ausgefeilte Übungs- und Trainingsprogramme zur Ver-
mehrung und Übernahme defekter Funktionen.
Die weitreichenden Probleme, die sich durch das Ge-
webegesetz an der Schnittstelle zum Transplantationsge- Erstere Lösung führt zu neuen aufwändigen medika-
setz ergeben, können wir durch Änderungsanträge kaum mentösen Therapien und wird von investitionsbereiten
abwenden. Auch der Bundesrat hat neben den zahlrei- Akteuren der Pharmabranche mit großem Druck europa-
chen konkreten Vorschlägen zu einzelnen Regelungen weit gefördert. Die zweite Lösung ist das tägliche Ge-
deshalb seine Zuflucht in einer Generalkritik gesucht schäft der rehabilitativen Medizin, die mit Aktivierung,
und die Bundesregierung gebeten, die Geweberichtlinie Physiotherapie, Ergotherapie, Funktionstraining, Logo-
in einem eigenständigen Gesetz umzusetzen. Dieses pädie und vielen weiteren Verfahren sensationelle Er-
würde sich am Vorbild des Transplantationsgesetzes folge aufweist. Hier gibt es keine milliardenschweren In-
orientieren, das ja auch eine ganz eigene Regelungs- vestitionen, sondern personalintensive und von der
systematik im Vergleich zum Arzneimittelbereich mit Versorgungsforschung völlig vernachlässigte Chancen
seinen völlig anders gestalteten formalen Abläufen hat. für viele Patienten – das Ganze kostengünstig und fast
ohne Nebenwirkungen.
Was mich im Zusammenhang mit dem Gewebegesetz
sehr umtreibt, ist die knappe Zeitfrist, in der die parla-
mentarische Beratung jetzt abgeschlossen werden soll. Michael Kauch (FDP): Reichlich spät legt die Bun-
Wir entscheiden hier über wichtige Weichenstellungen desregierung den Gesetzentwurf zur Umsetzung der
und viele unter uns haben nicht genug Wissen, Erfah- Geweberichtlinie der EU vom 31. März 2004 vor. Sie
rung und Problemeinsicht, um was es dabei eigentlich legt ihn in einer Form vor, die sowohl vom Bundesrat als
geht. Hätten wir noch eine Enquete-Kommission zu me- auch – das ist das Entscheidende – von den fachlich
dizinethischen Fragen wie in den beiden vergangenen kompetenten Experten der Bundesärztekammer und der
Legislaturperioden, wäre das Thema Gewebegesetz Deutschen Stiftung Organtransplantation grundsätzlich
frühzeitig auf die Agenda gesetzt worden. Abgeordnete zurückgewiesen wird. Die Einwände sind so gravierend,
aus verschiedenen Fachausschüssen hätten sich mit der dass sich das Parlament ausreichend Zeit zur Beratung
Thematik beschäftigt, in der Diskussion mit Sachver- und zur Anhörung von Sachverständigen nehmen muss.
ständigen Fachwissen erworben und dieses dann wie zu-
Ein entscheidender Punkt ist die Frage, ob Gewebe
vor üblich in Form einer gutachtlichen Stellungnahme
tatsächlich generell unter das Arzneimittelgesetz fallen
einbringen und an Kolleginnen und Kollegen weiterge-
soll. Gewichtige Gründe sprechen dagegen. Eine der
ben können.
Konsequenzen liegt in deutlich erhöhten Anforderungen
(B) Das Gewebegesetz ist darum auch eine traurige Illus- an die Betriebsstätten und an Wirksamkeitsnachweise. (D)
tration für unseren derzeitigen Mangel an parlamentari- Beides erhöht die Kosten der Bereitstellung von Gewebe.
schen Instrumenten. Es darf nicht so bleiben, dass Das kann im Blick auf die Kostensituation im Gesund-
komplexe, ethisch hoch brisante Abwägungen des Ge- heitswesen nicht einfach en passant beschlossen werden.
setzgebers nur wenigen Abgeordneten aufgebürdet wer-
Hinzu kommen die Bedenken, ob eine mit der Einord-
den. Das Konzept der Forschungsministerin zum Deut-
nung als Arzneimittel verbundene Kommerzialisierung
schen Ethikrat bringt hier keine Abhilfe. Wir brauchen
für medizinethische Fragen ein Gremium, in dem wie in der Gewebespende auf einer frühen Stufe nicht die
Spendenbereitschaft der Bevölkerung beeinträchtigen
einer Enquete-Kommission regelmäßig Abgeordnete al-
kann oder die Konkurrenz zur Organspende erhöht. Ins-
ler Fraktionen, aus verschiedenen Fachausschüssen zu-
sammen mit Sachverständigen beraten, um dann ihre je- besondere der im Gesetz vorgesehene Vorrang der
Organspende vor der Gewebespende könnte durch kom-
weiligen Arbeitsgruppen rechtzeitig informieren und
merzielle Anreize zur Gewebespende aufseiten der
einbeziehen zu können.
Krankenhäuser konterkariert werden.
Ich will aber mit einem positiven Ausblick schließen:
Das Potenzial der Gewebemedizin zusammen mit dem Es spricht daher vieles dafür, dass beim Gewebe die
zugehörigen neuen Querschnittsgebiet der regenerativen Entnahmestufe nicht dem Arzneimittelgesetz unterliegen
Medizin ist enorm. Wir müssen jedoch aus den in der sollte. Hier müssen in einer Anhörung die Vor- und
Vergangenheit gemachten Fehlern im Gesundheitsbe- Nachteile deutlich herausgearbeitet werden. Eventuell
reich lernen: Wir brauchen nicht nur immer neue Geräte wäre es auch eine Option, zwischen Gewebespenden zur
und Produkte, wir brauchen auch eine aktivierende Me- Weiterverarbeitung und solchen zur Konservierung
dizin, die den Menschen ins Zentrum stellt und Ärzte zwecks Übertragung zu unterscheiden. Auch die EU-
nicht zu Anwendern und Bedienern von Technologie de- Richtlinie stellt an die Gewebeentnahme deutlich gerin-
gradiert. Es gibt zwei Wege zu neuen Zellen und Gewe- gere Anforderungen als an die Gewebeverarbeitung. Sie
ben für den Menschen: fordert keineswegs die pauschale Unterstellung unter das
Arzneimittelrecht.
Erstens. Man entnimmt diese anderen Menschen, be-
reitet sie auf, transplantiert sie und sorgt dafür, dass sie In jedem Fall brauchen wir hier Rechtssicherheit. Die
nicht als Fremdkörper abgestoßen werden. zwölfte AMG-Novelle in Verbindung mit der
14. Novelle hat das Gewebe zwar dem Arzneimittel-
Zweitens. Man nutzt die immanente Fähigkeit gesetz unterstellt, jedoch wegen der vorgesehenen Über-
menschlicher Gewebe zur Regeneration und stimuliert gangsfristen bisher ohne praktische Relevanz. Daher ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6309

(A) nun die Gelegenheit, im Zuge der umfassenden Umset- lich sollte der Grundsatz „Organspende hat Vorrang vor (C)
zung der EU-Richtlinie noch einmal neu nachzudenken. Gewebespende“ gelten. Mit Organspenden kann man,
zumindest auf legalem Wege, keinen Gewinn erzielen.
Völlig offen ist im Gesetz im Übrigen ein Allokations- Organspenden sind rein aufwandsorientiert finanziert.
mechanismus für die Gewebespende. Zumindest dann, Wenn die Bundesregierung jetzt durch das Gewebe-
wenn man sich für eine späte Kommerzialisierung gesetz Teile von eigentlich vermittlungspflichtigen
ausspricht, braucht es Antworten, wie wir sie von der Spenderorganen als Gewebeprodukte wirtschaftlich inte-
Organspende her kennen. Weiter ist zu prüfen, ob der ressanter als die eigentlich sinnvolle Organspende
von der Bundesregierung vorgesehene Vorrang der macht, schafft man eine Situation, die falsche Anreize gibt.
Organspende vor der Gewebespende tatsächlich in
dieser Form durchgesetzt werden kann. Aus Sicht der Bevölkerung wird sich bei einer zuneh-
menden Kommerzialisierung verständlicherweise die
Sorge bereiten aber auch einige Änderungsvorschläge Frage auftun, warum eine Organspende aus altruisti-
des Bundesrates. So trifft die vom Bundesrat geforderte schen, also aus nicht monetären Motiven erfolgen soll
Anonymität der Gewebespende auf Kritik der Deutschen und im Gegensatz dazu mit Gewebe ganz legal Geld ver-
Knochenmarkspenderdatei. Diese führt aus, dass es ge- dient werden kann, wie mit Arzneimitteln auch. Es ist zu
rade im Bereich der Stammzellspende aus Knochenmark befürchten, dass dies ein negatives Image auf Organ-
die Spendenbereitschaft oft erhöht, wenn dem Spender spenden wirft und so die ohnehin zu geringe Zahl der
der Empfänger bekannt gemacht wird. Eine ethisch zu Organspender weiter sinkt.
begründende Notwendigkeit zu dieser Änderung der
bestehenden Rechtslage ist nicht zu erkennen. Daher Die Bundesregierung will zu einem großen Teil das
sollte man sehr vorsichtig sein, in der Praxis erfolgreiche Transplantationsgesetz durch das Arzneimittelrecht er-
Regelungen ohne Not zu verändern und die Versorgung setzen. Die Spende und Entnahme werden dem Arznei-
der Betroffenen so zu gefährden. mittelrecht unterworfen. Damit macht das Gesetz die
Kliniken und Gewebebanken zu pharmazeutischen Un-
Dies sind einige der Aspekte, die der Gesundheitsaus- ternehmern und geht weit über die Forderungen der EU-
schuss bei der Beratung des Gesetzes beleuchten muss. Richtlinie hinaus. Für die Versicherten hat das weit-
Angesichts der grundlegenden Kritik der Experten reichende Folgen: Denn Kliniken, die bisher in der Lage
scheint eine ebenso grundlegende Überarbeitung des waren, Gewebe aufzuarbeiten und den eigenen Patienten
Gesetzentwurfes erforderlich. zu verabreichen, müssen nun erst als „pharmazeutischer
Betrieb“ zugelassen werden. Dadurch werden so hohe
Frank Spieth (DIE LINKE): Derzeit bewegt uns die Hürden aufgebaut, dass beispielsweise Brandopfer auf
notwendige Hauttransplantate Wochen warten müssen.
(B) Debatte zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz. Noch (D)
nie waren sich sämtliche gesundheitspolitischen Akteure Gleichzeitig wird ein kommerzielles Interesse geweckt;
so einig in der Ablehnung des Gesetzesvorhabens wie denn nach dem Arzneimittelgesetz gilt kein Handelsverbot.
derzeit. Immer mehr zeigt sich in den Expertenanhörungen Auf mögliche Interessenkonflikte, die etwa bei
zum so genannten Wettbewerbsstärkungsgesetz, dass gleichzeitigem Betrieb eines Krankenhauses und einer
niemand das Vorhaben in dieser Form will; dennoch Gewebeeinrichtung oder eines Transplantationszentrums
peitscht die Regierung den Gesetzentwurf durch das Par- auftreten könnten, wurde die Bundesregierung hinge-
lament. wiesen, unter anderem durch den Bundesrat. Es könnte
Ganz ähnlich verhält es sich auch bei dem hier vor- nach dieser unsinnigen Regelung wirtschaftlich sinnvol-
liegenden Gesetzentwurf, dem Gewebegesetz. Es geht ler sein, wenn ein Organ „in Einzelteilen“ verwertet
darin um Regelungen zur Entnahme von Organen und würde, als wenn eine Transplantation stattfände. Die Ab-
darum, was damit passieren soll. Auch in diesem Gesetz- läufe bei Gewebespende, -gewinnung, -vermittlung und
gebungsverfahren hagelt es Kritik: Bundesrat, Bundes- -verteilung, sollten daher voneinander getrennt sein.
ärztekammer, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, Insofern ist die arzneimittelrechtliche Zuordnung im
Transplantationsverbände, die Spitzenverbände der Regierungsentwurf ein absoluter Irrweg. Die Logik, was
Krankenkassen und andere sind sich in ihrer ablehnen- in fachlicher Hinsicht an einer Kochsalzlösung und an
den Haltung einig. Wieder zeigt sich eine unglaubliche entnommenem Lebergewebe so ähnlich ist, dass man
Beratungsresistenz der Regierung. Sie ist geprägt von einer beides zukünftig den gleichen rechtlichen Regelungen
pauschalen arzneimittelrechtlichen Ausrichtung und unterwerfen sollte, bleibt im Dunklen. In der EU jeden-
lässt notwendige juristische Differenzierungen bei den falls stünde die Bundesrepublik recht alleine da mit
doch medizinisch gänzlich unterschiedlichen Geweben dieser arzneimittelrechtlichen Regelung.
vermissen. Eine Organtransplantation ist die Übertra-
gung eines ganzen Organs. Eine Gewebetransplantation Sollte es tatsächlich der Bundesregierung darum
ist im Gegensatz dazu die Verpflanzung nur eines Teils gehen, neue kommerzielle Märkte aufzubauen, egal mit
eines Organs, wie etwa Herzklappen, Knochenmark oder welchem Produkt? Professor Dr. med. Jörg-Dietrich
Augenhornhaut. Hoppe, Präsident der Ärztekammer, befürchtet genau
dies: „Wenn das Gewebegesetz in seiner jetzigen Form
Aus ethischer Sicht ergeben sich neue Verwerfungen, in Kraft tritt, dann ist dem gewerblichen Markt für
wenn die entnommenen Organe zukünftig unter das Arz- Gewebetransplantate Tür und Tor geöffnet.“ Man kann
neimittelgesetz fallen und damit Teil des kommerzia- das ja – vorausgesetzt, man wirft alle ethischen Beden-
lisierbaren Arzneimittelhandels werden sollen: Eigent- ken über Bord – so wollen. Aber dann bitte ich Sie:
6310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006

(A) Seien Sie so ehrlich und sagen Sie, was sie wirklich wol- der Patienten bzw. der Qualitätssicherung führt. Im (C)
len, oder erklären Sie zumindest, welche Folgen ihre Gegenteil dürfte dies zu einer geringeren Reserve an
eigenen Gesetze haben werden. dringend nötigen Geweben führen.
Meine Fraktion wird aber aus den dargelegten Grün- Der vorliegende Gesetzentwurf bedarf also einer
den dagegen sein. grundlegenden Überarbeitung. Auch wenn die Frist für
die Umsetzung der Geweberichtlinie bereits abgelaufen
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist, darf nicht übereilt ein Gesetz verabschiedet werden,
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nach Ihren das dem Handel mit menschlichen Geweben Tür und Tor
Worten die EU-Geweberichtlinie umgesetzt werden. Um öffnet.
es gleich zu Beginn klar zu sagen: Die wirklich wichti-
gen Forderungen der EU-Richtlinie werden von Ihnen Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
nicht umgesetzt. desministerin für Gesundheit: Das Gesetz über die
Ziel der EU-Richtlinie sind europaweit vergleichbare Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und
hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Über- Zellen setzt abschließend die Inhalte der EG-Gewebe-
tragung menschlicher Gewebe. Wenn man dagegen Ih- richtlinie 2004/23/EG in nationales Recht um. Hierzu ist
ren Gesetzentwurf liest, gewinnt man aber den Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. Der Gesetz-
dass er weniger der Absicherung der in Deutschland entwurf der Bundesregierung enthält die maßgeblichen
schon bisher hohen Qualitätsstandards als vielmehr der Regelungen zur Wahrung und Verbesserung der Qualität
Kommerzialisierung des Umgangs mit Geweben dienen und Sicherheit von Gewebetransplantaten und sorgt für
soll: Der Entwurf unterstellt Gewebe pauschal dem Arz- ein hohes Gesundheitsschutzniveau, wie die EG-Gewebe-
neimittelgesetz. Dieser Weg wird von keinem anderen richtlinie es vorsieht.
europäischen Land gewählt. Damit eröffnen Sie einen Diese Notwendigkeit besteht für alle Gewebe und
legalen Markt für den Handel mit Geweben, der sich Zellen von Menschen, die in der Medizin zur Anwen-
potenziell nicht mehr an den medizinischen Bedürfnis- dung kommen, also nicht nur für Herzklappen, Augen-
sen der Betroffenen, sondern vielmehr an kommerziellen hornhäute und Knochen, sondern auch für menschliche
Interessen orientieren wird. Damit ist der bisherige Keimzellen sowie für fötale Gewebe und Organe. Alle
gesellschaftliche Konsens der Nichtkommerzialisierung diese Gewebe und Zellen können Krankheiten über-
in Gefahr. tragen. Sie müssen daher sehr sorgfältig entnommen und
Auch wird mit gravierenden Auswirkungen zu rech- be- oder verarbeitet werden. Mit dem neuen Recht stel-
len wir Gewebe und Zellen rechtlich den Blutprodukten
(B) nen sein, vor allem wenn der Vorrang der Organ- vor der (D)
Gewebespende weiterhin so halbherzig umgesetzt wird, gleich, die bereits nach der HIV/Blut-Katastrophe An-
wie es im Entwurf der Fall ist. Zwar ist – recht ver- fang der 90er-Jahre und auch nach der EG-Blutrichtlinie
steckt – festgelegt, dass eine Gewebeübertragung eine 2002/98/EG neuen Regelungen unterworfen worden sind.
mögliche Organtransplantation nicht beeinträchtigen
Grundlegende Anforderungen der EG-Richtlinie, die
darf. Dies wird aber durch keine ergänzende Regelung
sich eng an das EG-Arzneimittelrecht anlehnt, sind bereits
sichergestellt. Angesichts der Knappheit von Spender-
im nationalen Recht verankert, nämlich im Arzneimittel-
organen in diesem Land ist es sträflich, die nicht ge-
gesetz, im Transplantationsgesetz und im Transfusions-
werblichen Institutionen der Organtransplantation in ei-
gesetz. Die Bundesregierung hat sich entschlossen, auch
nen Wettbewerb mit gewerblichen Gewebeeinrichtungen
die verbliebenen Umsetzungsinhalte in diesen Gesetzen
zu schicken, den sie nicht gewinnen können.
zu regeln. Das ist gerechtfertigt und notwendig, da wir
Zudem müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, ob bereits in den Jahren 2004 und 2005 mit dem zwölften
Sie wirklich einen Handel mit Keimzellen und embryo- und 14. AMG-Änderungsgesetz wichtige Regelungs-
nalen Zellen wollen. Das Handelsverbot des Transplan- inhalte der EG-Geweberichtlinie gemeinsam mit den
tationsgesetzes dient hier wohl lediglich als Feigenblatt, Ländern im Arzneimittelgesetz umgesetzt haben. Des-
da aufgrund seines begrenzten Anwendungsbereichs ein halb halten wir es nicht für sinnvoll, jetzt ein völlig
solcher Handel nicht sicher verhindert werden kann. neues Gesetz für Gewebe und Zellen zu schaffen, das
Sobald ein Markt für embryonale Gewebe und Eizellen dieselben Regelungen enthalten müsste, die wir schon
besteht, werden sie damit – vorbei an allen ethischen haben oder jetzt ergänzen wollen. Auch die kommende
Bedenken – zu einer Ware. Auch hier werden im Ent- EG-Verordnung über Arzneimittel für neuartige Therapien
wurf die Vorgaben der Richtlinie, nämlich die Verhinde- wird Tissue-Engineering-Produkte, die Gewebezuberei-
rung einer Kommerzialisierung der Organ- und Gewebe- tungen sind, dem Arzneimittelrecht unterstellen. Zwischen
beschaffung, nicht umgesetzt. dieser Verordnung und der EG-Geweberichtlinie besteht
ein enger sachlicher Zusammenhang.
Auf der anderen Seite gaukeln Sie dem Bürger Si-
cherheit vor. Die Gewebeeinrichtungen undifferenziert Lassen Sie mich noch einmal betonen: Die Bundes-
den Zulassungs- und Erlaubnisvorschriften des Arznei- regierung wird mit dem Gewebegesetz ausschließlich
mittelgesetzes zu unterstellen, führt in der Praxis zu die Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen der EG-
einem Mehr an bürokratischem und finanziellem Auf- Geweberichtlinie umsetzen. Dies entspricht der Staats-
wand für diese Einrichtungen, ohne dass dieser Nachteil praxis und ist auch mit Blick auf die Umsetzungsfrist
zu einem erkennbaren Vorteil für die Therapiesicherheit unumgänglich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. November 2006 6311

(A) Der Gesetzentwurf ist mit Augenmaß vorbereitet durch das Embryonenschutzgesetz und das Stammzell- (C)
worden und verzichtet auf überzogene Regelungen. Das gesetz gesetzt werden, bleiben unberührt.
gilt vor allem auch für die arzneimittelrechtlichen Rege-
Ferner wird im Transplantationsgesetz der Vorrang
lungen. Hier geht es insbesondere um die Vorschriften
der Organspende verankert. Dadurch wird sichergestellt,
zur Genehmigung der Entnahme von Geweben in den
dass eine mögliche Organspende nicht durch eine Gewebe-
Krankenhäusern, die äußerst flexibel gestaltet sind und
entnahme beeinträchtigt werden darf. Darüber hinaus-
sogar eine Erleichterung gegenüber dem geltenden
gehende Forderungen, das Transplantationsgesetz zu än-
Recht darstellen. Den Fachkreisen verbleibt genügend
dern, das heißt Änderungen, die sich nicht aus der EG-
Spielraum, die konkreten Entnahme- und Herstellungs-
Geweberichtlinie ergeben, werden wir im Rahmen einer
bedingungen selber festzulegen, soweit sie nicht durch
späteren Novellierung des Transplantationsgesetzes dis-
EG-Recht vorgegeben sind. Solche fachlichen Empfeh-
kutieren.
lungen können dann auch Grundlage für die behörd-
lichen Entscheidungen sein. Wichtig ist auch ein weiterer Punkt: Der Bundesrat
empfiehlt, die Verordnungsermächtigung im Transplan-
Gelegentlich hört man Bedenken wegen der Kosten-
tationsgesetz und im Transfusionsgesetz zugunsten einer
belastung. Sie kann aber insgesamt als gering eingestuft
Richtlinienkompetenz der Bundesärztekammer zu strei-
werden. Wer heute schon qualitativ hochwertig Gewebe
chen. Dies ist aber aus rechtlichen Gründen nicht mög-
entnimmt und verarbeitet, hat weder einen hohen Auf-
lich. Europäische Richtlinien müssen durch die Mit-
wand noch hohe Kosten zu befürchten. Auch die Gebüh-
gliedstaaten immer verbindlich – also mindestens durch
ren für die arzneimittelrechtliche Herstellungserlaubnis
Rechtsverordnungen – umgesetzt werden.
und für die Produktzulassungen sind gering angesichts
des Wertes, den Gewebearzneimittel haben können. Eine Die Änderungswünsche des Bundesrates lassen
Kommerzialisierung des Gewebesektors ist nicht zu erkennen, dass die Länder mehrheitlich grundsätzlich
erwarten. Das war schon bisher nicht der Fall, obwohl unserer Konzeption, Gewebezubereitungen dem Arznei-
Gewebezubereitungen bereits nach geltender Rechtslage mittelgesetz zu unterstellen, folgen. Einer Reihe von Än-
grundsätzlich zulassungspflichtig sind. Es ist also davon derungswünschen stimmen wir zu. So soll zum Beispiel
auszugehen, dass auch in Zukunft Gewebe unter gemein- die Anonymität bei der Gewebespende grundsätzlich ge-
nützigen Bedingungen entnommen, be- oder verarbeitet wahrt werden. Ferner werden wir klarstellen, dass die
und verfügbar gemacht werden. Überwachung der Gewebe entnehmenden Einrichtungen
die örtlich zuständige Behörde vornimmt. Darüber hi-
Ein weiterer wichtiger Bereich ist das Transplantations-
naus soll im Transfusionsgesetz eine Vorschrift zu den
gesetz. Hier werden embryonale und fötale Organe und
Untersuchungslaboren entsprechend der Regelung im
Gewebe sowie Knochenmark und Zellen in den Anwen-
(B) dungsbereich des Gesetzes einbezogen. Hierzu werden Transplantationsgesetz aufgenommen werden. (D)
die für die Umsetzung des europäischen Rechts notwen- Ich halte das für eine gute Basis, um auch im weiteren
digen Regelungen getroffen. An dieser Stelle ist beson- Gesetzgebungsverfahren zu tragfähigen Lösungen zu
ders wichtig: Die ethischen Schranken, die vor allem kommen.
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