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Plenarprotokoll 17/46

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

46. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 4593 D
neten Ewa Klamt und Heinz Lanfermann
sowie der Bundesministerin für Bildung und Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Forschung, Dr. Annette Schavan . . . . . . . . . DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4596 B
4585 A
Wahl des Abgeordneten Joachim Spatz als Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 4597 D
stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 4599 B
Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4585 B
Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4601 B
Wahl des Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb
als Mitglied im Vermittlungsausschuss . . . . 4585 B Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4602 B

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-


nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4585 B
Absetzung des Tagesordnungspunktes 11 . . . 4587 B Tagesordnungspunkt 4:

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . 4587 B a) Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter


Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD: Nationalen Bildungs-
Tagesordnungspunkt 3: pakt für starke Bildungsinfrastruktu-
ren schaffen
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksache 17/1957) . . . . . . . . . . . . . . . 4604 A
CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbeugung b) Antrag der Abgeordneten Petra Hinz
gegen missbräuchliche Wertpapier- und (Essen), Krista Sager, Kai Gehring, weite-
Derivatgeschäfte rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Drucksache 17/1952) . . . . . . . . . . . . . . . . 4588 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsam für
gute Schulen und Hochschulen sorgen –
b) Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Kooperationsverbot von Bund und
Sahra Wagenknecht, Dr. Herbert Schui, Ländern in der Bildung abschaffen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 17/1984) . . . . . . . . . . . . . . . 4604 A
DIE LINKE: Banken regulieren – Spe-
kulationsblasen verhindern c) Beschlussempfehlung und Bericht des
(Drucksache 17/1151) . . . . . . . . . . . . . . . . 4588 B Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) . . . . . . . 4588 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4590 A Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer
4591 D
Abgeordneter und der Fraktion der
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ SPD: Studienpakt für Qualität und
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4592 C gute Lehre jetzt durchsetzen
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole b) Erste Beratung des von der Bundesre-
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie gierung eingebrachten Entwurfs eines
Hein, Dr. Petra Sitte und der Fraktion Gesetzes zur Weiterentwicklung der
DIE LINKE: Forderungen aus dem Organisation der Grundsicherung für
Bildungsstreik aufnehmen und die Arbeitsuchende
soziale Spaltung im Bildungssystem (Drucksache 17/1940) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 A
bekämpfen
c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai rung eingebrachten Entwurfs eines Drei-
Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung
Sager, weiterer Abgeordneter und der des Bundesausbildungsförderungsgeset-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zes (23. BAföGÄndG)
NEN: Konsequenzen aus dem Bil- (Drucksache 17/1941) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 A
dungsstreik ziehen – Bildungsauf-
bruch unverzüglich einleiten d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Drucksachen 17/109, 17/119, 17/131, rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
17/1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4604 B zes zur Schaffung eines nationalen Stipen-
dienprogramms (Stipendienprogramm-
Gesetz – StipG)
in Verbindung mit (Drucksache 17/1942) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 A

e) Erste Beratung des von der Bundesregie-


rung eingebrachten Entwurfs eines Bun-
Zusatztagesordnungspunkt 2: desbesoldungs- und -versorgungsanpas-
Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra sungsgesetzes 2010/2011 (BBVAnpG
Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeord- 2010/2011)
neter und der Fraktion der SPD: Frühkindli- (Drucksache 17/1878) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 B
che Bildung und Betreuung verbessern –
Für Chancengleichheit und Inklusion von f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Anfang an rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
(Drucksache 17/1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4604 C zes über die Verwendung von Verwal-
tungsdaten für Wirtschaftsstatistiken
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4604 D und zur Änderung von Statistikgesetzen
Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister (Drucksache 17/1899) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 B
(Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4605 D
g) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4607 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Änderungsprotokoll vom
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 4608 B
11. Dezember 2009 zum Abkommen
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ vom 23. August 1958 zwischen der Bun-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4609 C desrepublik Deutschland und dem
Großherzogtum Luxemburg zur Ver-
Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 4610 D meidung der Doppelbesteuerungen und
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 4612 A über gegenseitige Amts- und Rechts-
hilfe auf dem Gebiete der Steuern vom
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 4613 C Einkommen und vom Vermögen sowie
Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4614 D der Gewerbesteuern und der Grund-
steuern
Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4615 C (Drucksache 17/1943) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 C
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 4617 A
h) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 4618 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 13. Juli
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . 4619 C
2006 zwischen der Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland und der maze-
donischen Regierung zur Vermeidung
Tagesordnungspunkt 32: der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Vermögen
rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- (Drucksache 17/1944) . . . . . . . . . . . . . . . 4621 C
setzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Artikel 91 e) i) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
(Drucksache 17/1939) . . . . . . . . . . . . . . . . 4620 D brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 III

derung des § 33 des Gerichtsverfassungs- d) Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt


gesetzes (Aachen), Heinz Paula, Sören Bartol, wei-
(Drucksache 17/1462) . . . . . . . . . . . . . . . . 4621 D terer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD: Potenziale von Kultur und Touris-
j) Antrag der Abgeordneten Viola von mus nutzen – Kulturtourismus gezielt
Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bre- fördern
men), Volker Beck (Köln), weiterer Abge- (Drucksache 17/1966) . . . . . . . . . . . . . . . 4622 B
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: OSZE-Vorsitz für Re- e) Antrag der Abgeordneten Oliver Kaczmarek,
formen in Kasachstan nutzen Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Ab-
(Drucksache 17/1432) . . . . . . . . . . . . . . . . 4621 D geordneter und der Fraktion der SPD:
Hochwasserschutz europäisch und öko-
k) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, logisch nachhaltig umsetzen – Für ein
Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Ab- integriertes Hochwasserschutzkonzept
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/1974) . . . . . . . . . . . . . . . 4622 D
DIE GRÜNEN: Deklarationspflicht für
Palmöl in Lebensmitteln
(Drucksache 17/1780) . . . . . . . . . . . . . . . . 4621 D
Tagesordnungspunkt 33:
l) Antrag des Präsidenten des Bundesrech-
nungshofes: Rechnung des Bundesrech- a) Zweite und dritte Beratung des von der
nungshofes für das Haushaltsjahr 2009 Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
– Einzelplan 20 – eines Gesetzes über die Feststellung des
(Drucksache 17/1730) . . . . . . . . . . . . . . . . 4622 A Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver-
mögens für das Jahr 2010 (ERP-Wirt-
schaftsplangesetz 2010)
(Drucksachen 17/1294, 17/1752) . . . . . . . 4622 D
Zusatztagesordnungspunkt 3:
b) Zweite und dritte Beratung des von der
a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer eines Gesetzes zu den Änderungen vom
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 2. Oktober 2008 des Übereinkommens
NIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor- vom 3. September 1976 über die Inter-
schlag für eine Verordnung des Europäi- nationale Organisation für mobile Sa-
schen Parlaments und des Rates betref- tellitenkommunikation (International
fend die „Information der Verbraucher
Mobile Satellite Organization – IMSO)
über Lebensmittel“
(Drucksachen 17/1295, 17/1753) . . . . . . . 4623 A
KOM(2008) 40:
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
c) Zweite und dritte Beratung des von der
desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
des Grundgesetzes
Lebensmittelinformation verbessern – eines Zweiten Gesetzes zur Harmonisie-
Verbindliche Ampelkennzeichnung ein- rung des Haftungsrechts im Luftver-
führen kehr
(Drucksache 17/1987) . . . . . . . . . . . . . . . . 4622 A (Drucksachen 17/1293, 17/1836) . . . . . . . 4623 B

b) Antrag der Abgeordneten Beate Müller- d) Zweite und dritte Beratung des von der
Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
weiterer Abgeordneter und der Fraktion eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ungerech- 3. Dezember 2009 zwischen der Bundes-
tigkeiten bei Bagatellkündigungen kor- republik Deutschland und der Föderati-
rigieren – Pflicht zur Abmahnung ein- ven Republik Brasilien über Soziale Si-
führen cherheit
(Drucksache 17/1986) . . . . . . . . . . . . . . . . 4622 B (Drucksachen 17/1296, 17/1805) . . . . . . . 4623 C

c) Antrag der Abgeordneten Maria Anna Klein- e) – k)


Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unabhän- schusses: Sammelübersichten 90, 91, 92,
gige Patientenberatung ausbauen und 93, 94, 95 und 96 zu Petitionen
in die Regelversorgung überführen (Drucksachen, 17/1771, 17/1772, 17/1773,
(Drucksache 17/1985) . . . . . . . . . . . . . . . . 4622 C 17/1774, 17/1775, 17/1776, 17/1777) . . . 4623 D
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Annette Schavan, Bundesministerin


BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4638 D
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses: zu der Streitsache vor dem René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4640 C
Bundesverfassungsgericht 2 BvR 1099/10
(Drucksache 17/1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4624 C Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 0000 D
4642 A
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4643 D
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Zusatztagesordnungspunkt 5: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4645 A
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 4646 B
DIE LINKE: Schnellstmögliche Aufklärung
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 4648 A
des Angriffs des israelischen Militärs auf
einen internationalen Schiffskonvoi mit Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 4649 B
Hilfsgütern für Gaza . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4624 C
Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4650 A
Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 4624 D
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 4625 D
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 4626 D Tagesordnungspunkt 6:
a) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Karin
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 4627 C
Binder, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4628 D Verbraucherinformationsgesetz jetzt
verbraucherfreundlich ausgestalten
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 4630 A (Drucksache 17/1576) . . . . . . . . . . . . . . . 4651 A
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4631 A b) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4632 A NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucherinfor-
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4633 C mationsgesetz jetzt novellieren
(Drucksache 17/1983) . . . . . . . . . . . . . . . 4651 B
Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4634 C
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 4651 C
Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4635 C Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 4636 C BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4652 B

Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4637 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . 4654 A


Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 4655 B
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 4655 D
Tagesordnungspunkt 5:
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4656 A
Gutachten zu Forschung, Innovation Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 4657 B
und technologischer Leistungsfähigkeit
2010 Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . 4657 D
(Drucksache 17/990) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4638 C
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4658 A
Bundesbericht Forschung und Innova-
tion 2010 Lucia Puttrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 4658 D
(Drucksache 17/1880) . . . . . . . . . . . . . . . . 4638 C Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4659 A
c) Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und
Tagesordnungspunkt 7:
der Fraktion der SPD: Innovationslücke
schließen – Zügig ein tragfähiges Kon- – Beschlussempfehlung und Bericht des
zept zur Stärkung der Innovations- und Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
Validierungsforschung vorlegen der Bundesregierung: Fortsetzung der
(Drucksache 17/1958) . . . . . . . . . . . . . . . . 4638 C deutschen Beteiligung an der interna-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 V

tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 4681 B


auf der Grundlage der Resolution 1244
(1999) des Sicherheitsrates der Verein-
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4684 D
ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des
Militärisch-Technischen Abkommens
zwischen der internationalen Sicher-
heitspräsenz (KFOR) und den Regie-
Tagesordnungspunkt 9:
rungen der Bundesrepublik Jugosla-
wien (jetzt: Republik Serbien) und der a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Ausschusses für die Angelegenheiten der
(Drucksachen 17/1683, 17/2009) . . . . . . . 4660 C Europäischen Union
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
§ 96 der Geschäftsordnung CSU und der FDP: Europa 2020 – Die
(Drucksache 17/2010) . . . . . . . . . . . . . . . . 4660 D Wachstums- und Beschäftigungs-
strategie der Europäischen Union
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 4661 A braucht realistische und verbindliche
Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 4662 D Ziele
hier: Stellungnahme des Deutschen
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 4663 C Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 4665 A Gesetzes über die Zusammenarbeit
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ von Bundesregierung und Deut-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . schem Bundestag in Angelegenhei-
4666 C
ten der Europäischen Union
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4667 C
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:
Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4668 C Europa 2020 – Strategie für ein
nachhaltiges Europa
Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4670 A Gleichklang von sozialer, ökologi-
scher und wirtschaftlicher Entwick-
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ lung
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4671 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Fritz Kuhn, Marieluise Beck
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 4671 D (Bremen), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4673 D NEN: EU 2020 – Für ein ökologi-
sches und soziales Europa
(Drucksachen 17/1758, 17/882, 17/898,
17/2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4681 C
Tagesordnungspunkt 16:
b) Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich,
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Diether Dehm, Andrej Konstantin
schusses für Bildung, Forschung und Tech- Hunko, weiterer Abgeordneter und der
nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- Fraktion DIE LINKE: Europa 2020 – Ein
geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef nachhaltiges Europa nur mit tiefgrei-
Fell, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und fenden Reformen
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 17/1969) . . . . . . . . . . . . . . . 4681 D
Kernfusionsforschung kritisch überprüfen –
ITER-Vertrag kündigen Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4681 D
(Drucksachen 17/1433, 17/1949) . . . . . . . . . . 4671 D
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4683 B
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 4672 A
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 4687 A
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4676 A
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 4677 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4687 D
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4678 C Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 4689 A
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4679 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4690 A
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 4680 B Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4691 A
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Tagesordnungspunkt 10: mission für eine Verordnung des Euro-


päischen Parlaments und des Rates
a) Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, über die Bürgerinitiative
Gabriele Lösekrug-Möller, Iris Gleicke, KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10:
weiterer Abgeordneter und der Fraktion hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
der SPD: Langfristige Perspektive statt desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
sachgrundlose Befristung des Grundgesetzes
(Drucksache 17/1769) . . . . . . . . . . . . . . . . 4692 C Europäische Bürgerinitiative bürger-
b) Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, freundlich gestalten
Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer (Drucksache 17/1975) . . . . . . . . . . . . . . . 4708 C
Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Befristung von Arbeitsverhält- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm,
nissen eindämmen Alexander Ulrich, Andrej Konstantin Hunko,
(Drucksache 17/1968) . . . . . . . . . . . . . . . . 4692 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE: zu dem Vorschlag der Eu-
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4692 D ropäischen Kommission für eine Ver-
ordnung des Europäischen Parlaments
Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4694 B und des Rates über die Bürgerinitiative
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 4695 D KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10:
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 4697 A desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4698 A des Gesetzes über die Zusammenarbeit
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ von Bundesregierung und Deutschem
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4698 D Bundestag in Angelegenheiten der Eu-
ropäischen Union
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4699 D Europäische Bürgerinitiative bürger-
freundlich gestalten
(Drucksache 17/1967) . . . . . . . . . . . . . . . 4708 D

Zusatztagesordnungspunkt 6: c) Beschlussempfehlung und Bericht des


Ausschusses für die Angelegenheiten der
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP Europäischen Union zu dem Antrag der
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konse- Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von
quenten Walschutz fortsetzen und verbes- Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weite-
sern rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Drucksache 17/1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4701 A NIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor-
schlag der Europäischen Kommission
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4701 B für eine Verordnung des Europäischen
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4702 C Parlaments und des Rates über die Bür-
gerinitiative
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 4703 C KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10:
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 4704 A desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
Europäische Bürgerinitiative – Für
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4704 D
mehr Bürgerbeteiligung in der EU
Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4705 C (Drucksachen 17/1781, 17/2013) . . . . . . . 4708 D

Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4706 D Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . 4709 A


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 4707 D Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4710 C

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4711 C
Tagesordnungspunkt 12:
Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE) . . . . 4712 A
a) Antrag der Abgeordneten Michael Roth
(Heringen), Axel Schäfer (Bochum), Dr. Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 4713 A
Angelica Schwall-Düren, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: zu Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
dem Vorschlag der Europäischen Kom- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4713 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 VII

Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 4714 B des Sicherheitsrates der Vereinten Na-


tionen vom 24. März 2005 und Folgere-
Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4715 C solutionen
(Drucksache 17/1902) . . . . . . . . . . . . . . . 4730 A
b) Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
Tagesordnungspunkt 13: der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-
Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Operation in Darfur (UNAMID) auf
der Beteiligung bewaffneter deutscher Grundlage der Resolution 1769 (2007)
Streitkräfte an der United Nations Interim des Sicherheitsrates der Vereinten Na-
Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage tionen vom 31. Juli 2007 und Folgereso-
der Resolution 1701 (2006) vom 11. August lutionen
2006 und folgender Resolutionen, zuletzt (Drucksache 17/1901) . . . . . . . . . . . . . . . 4730 A
1884 (2009) vom 27. August 2009 des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
(Drucksache 17/1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4716 B AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4730 B
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4731 C
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4716 C
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 4732 D
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 4717 C
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 4733 A
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 4719 A
Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4734 B
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4720 B
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4735 A
4720 D
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 4721 C Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 4736 C

Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 4722 A

Tagesordnungspunkt 8:

Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs,


Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
Erste Beratung des von den Abgeordneten (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak-
Jens Petermann, Jan Korte, Ulla Jelpke, wei- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die An-
teren Abgeordneten und der Fraktion DIE erkennung des Menschenrechts auf saube-
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- res Trinkwasser und Sanitärversorgung
zes zur Änderung der Wehrdisziplinarord- weiterentwickeln
nung (Drucksache 17/1779) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4737 C
(Drucksache 17/572) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4723 A
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 4723 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4738 A
Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4738 C
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4724 A
Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4739 D
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4725 B
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4726 C Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4741 A

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 4727 C Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 4742 A

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 4728 D Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4743 A

Tagesordnungspunkt 15: Zusatztagesordnungspunkt 7:


a) Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
der Beteiligung bewaffneter deutscher FDP: Einen effizienten und schlagkräfti-
Streitkräfte an der Friedensmission der gen Europäischen Auswärtigen Dienst
Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) schaffen
auf Grundlage der Resolution 1590 (2005) (Drucksache 17/1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4744 B
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 17:


Antrag der Fraktion der SPD: Die Fußball-
weltmeisterschaft – Eine Chance für Süd-
afrika
Zusatztagesordnungspunkt 8: (Drucksache 17/1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4751 D
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union zu dem Antrag der Abgeord- Zusatztagesordnungspunkt 10:
neten Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord- Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
GRÜNEN: Den Europäischen Auswärtigen
setzes über die Einsetzung eines Nationalen
Dienst europäisch, handlungsfähig und
Normenkontrollrates
modern gestalten (Drucksache 17/1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4752 A
(Drucksachen 17/1204, 17/2012) . . . . . . . . . . 4744 B

in Verbindung mit
Tagesordnungspunkt 18:
Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe,
Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abge-
Zusatztagesordnungspunkt 9: ordneter und der Fraktion der SPD: Unsere
Meere brauchen Schutz
Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, (Drucksache 17/1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4752 B
Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu
dem Entwurf eines Beschlusses des Rates
über die Organisation und die Arbeitsweise Tagesordnungspunkt 19:
des Europäischen Auswärtigen Dienstes Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
und zum Vorschlag für eine Verordnung schusses für Arbeit und Soziales zu dem An-
des Europäischen Parlaments und des Ra- trag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus
tes zur Änderung der Verordnung (EG, Eu- Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge-
ratom) Nr. 1605/2002 des Rates über die ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Euro-
Haushaltsordnung für den Gesamthaus- päisches Jahr gegen Armut und soziale
haltsplan der Europäischen Gemeinschaft Ausgrenzung ernst nehmen
in Bezug auf den Europäischen Auswärti- (Drucksachen 17/889, 17/1246) . . . . . . . . . . . 4752 C
gen Dienst Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 4752 C
Ratsdok. 8029/10 und KOM(2010) 85 endg.,
Ratsdok. 8134/10: Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 4753 D
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 4754 D
desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4756 A
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun- Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 4757 A
desregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Den Europäischen Auswärtigen Dienst ent- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4758 B
militarisieren
(Drucksache 17/1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4744 C

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20:


4744 D
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . 4746 A Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4747 C GRÜNEN: Beteiligung der Energiekonzerne
an den Kosten für das Atommülllager Asse
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 4748 D (Drucksache 17/1599) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4758 D
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4759 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4749 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 4759 D
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4750 C Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4761 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 IX

Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 4761 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 4764 D


Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 4762 A Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4766 B
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . 4767 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4762 D
Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4767 D
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4769 A

Tagesordnungspunkt 21: Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4769 D
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe
Tagesordnungspunkt 23:
– zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph
Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der van Aken, Christine Buchholz, weiterer Ab-
Fraktion der SPD: Menschenrechtsver- geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
teidiger brauchen den Schutz der Euro- Freihandelsabkommen EU-Kolumbien-Peru:
päischen Union Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundes-
tages sichern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
(Drucksache 17/1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4770 D
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Ab- Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 0000 A
4771
geordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Schutz für Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4772 B
Menschenrechtsverteidigerinnen und Christian Lindner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 4773 A
Menschenrechtsverteidiger
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 4773 C
(Drucksachen 17/1048, 17/1165, 17/1936) . . 4763 D
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4774 A

Tagesordnungspunkt 22:
a) Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Tagesordnungspunkt 24:
Hacker, Dagmar Ziegler, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk
der SPD: Zivile Nutzung der Kyritz- Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordne-
Ruppiner Heide nach Abzug der Bun- ter und der Fraktion der SPD: Illegalen Holz-
deswehr einschlag durch eine durchgreifende EU-
(Drucksache 17/1961) . . . . . . . . . . . . . . . . 4764 C Verordnung wirksam verhindern
(Drucksache 17/1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4775 A
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Jan van Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4775 B
Aken, weiterer Abgeordneter und der Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4776 A
Fraktion DIE LINKE: Friedliche Zu-
kunft der Kyritz-Ruppiner Heide und Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 4777 A
Interessen der Region sichern Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 4778 A
(Drucksache 17/1972) . . . . . . . . . . . . . . . . 4764 C
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4778 D
in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 25:
Zusatztagesordnungspunkt 11:
Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-
Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord-
Undine Kurth (Quedlinburg), Agnes Malczak, neten Michael Schlecht, Alexander Ulrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kyritz-Rup- der Fraktion DIE LINKE: Euro-Zone refor-
piner Heide in ihrer Einheit erhalten – Vo- mieren – Staatsbankrotte verhindern
raussetzungen für eine chancenreiche Re- (Drucksachen 17/1058, 17/1602) . . . . . . . . . . 4779 C
gionalentwicklung
(Drucksache 17/1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4764 D Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4779 D
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4780 C Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 4790 C


Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4781 C Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4791 B
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 4782 A
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4783 A
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Zusatztagesordnungspunkt 12: des Gesetzes über die Einsetzung eines Na-
tionalen Normenkontrollrates (Zusatztages-
Antrag der Abgeordneten Bernd Scheelen, ordnungspunkt 10)
Nicolette Kressl, Joachim Poß, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD: Zu- Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4792 A
kunft öffentlich-rechtlicher Sparkassen si-
Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4794 B
chern – Privatisierung verhindern
(Drucksache 17/1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4784 A Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4795 D
Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 4796 B
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4784 C
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4796 D
Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4784 C

Anlage 5
Anlage 1 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4785 A des Antrags: Unsere Meere brauchen Schutz
(Tagesordnungspunkt 18)
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4797 D
Anlage 2 Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4799 A

Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4799 C


Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 4801 B
GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung zu
dem Antrag: Fortsetzung der deutschen Betei- Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 4802 A
ligung an der internationalen Sicherheitsprä- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
senz im Kosovo auf der Grundlage der Resolu- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4802 D
tion 1244 (1999) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des
Militärisch-Technischen Abkommens zwi-
schen der internationalen Sicherheitspräsenz Anlage 6
(KFOR) und den Regierungen der Bundesre-
publik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
(Tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4785 C den Anträgen:
– Menschenrechtsverteidiger brauchen den
Schutz der Europäischen Union
Anlage 3 – Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidi-
gerinnen und Menschenrechtsverteidiger
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Die Fußballweltmeisterschaft – (Tagesordnungspunkt 21)
Eine Chance für Südafrika (Tagesordnungs- Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4803 B
punkt 17)
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4805 A
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 4786 B
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4806 B
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 4787 D
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4807 A
Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4788 C
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4789 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4808 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 XI

Anlage 7 Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4810 C


Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 4811 B
des Antrags: Zukunft öffentlich-rechtlicher
Sparkassen sichern – Privatisierung verhin- Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4811 C
dern (Zusatztagesordnungspunkt 12)
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4809 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4812 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4585

(A) (C)

Redetext

46. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Die Sitzung ist eröffnet. Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-
vor wir in die Tagesordnung eintreten, gibt es wieder ei- Frühkindliche Bildung und Betreuung verbes-
nige Mitteilungen. sern – Für Chancengleichheit und Inklusion
von Anfang an
Die Kollegin Ewa Klamt und der Kollege Heinz
Lanfermann haben Ende Mai Ihre 60. Geburtstage ge- – Drucksache 17/1973 –
feiert. Dazu möchte ich Ihnen auch auf diesem Wege Überweisungsvorschlag:
noch einmal die guten Wünsche des ganzen Hauses Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
übermitteln. Rechtsausschuss
Finanzausschuss
(Beifall) Ausschuss für Arbeit und Soziales
(B) Ausschuss für Gesundheit (D)
Die FDP-Fraktion schlägt für den ausgeschiedenen Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Kollegen Hellmut Königshaus den Kollegen Joachim Haushaltsausschuss
Spatz als neues stellvertretendes Mitglied im Gemein-
samen Ausschuss vor. Sind Sie damit einverstanden? – ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Spatz ren
damit in den Gemeinsamen Ausschuss gewählt. Ergänzung zu TOP 32
Ebenfalls auf Vorschlag der FDP-Fraktion soll der a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Kollege Dr. Heinrich Kolb Nachfolger des ausgeschie- Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer
denen Kollegen Carl-Ludwig Thiele im Vermittlungs- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
ausschuss werden. Könnten Sie sich auch damit an- DIE GRÜNEN
freunden? –
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
(Jörg van Essen [FDP]: Aber sehr sogar, Herr ropäischen Parlaments und des Rates betref-
Präsident!) fend die „Information der Verbraucher über
Ermutigende Zwischenrufe aus den Reihen der FDP- Lebensmittel“ KOM(2008) 40
Fraktion. Widerspruch ist nirgendwo festzustellen. Dann hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
ist der Kollege Kolb damit in den Vermittlungsausschuss gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gewählt. gesetzes
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Lebensmittelinformation verbessern – Ver-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- bindliche Ampelkennzeichnung einführen
geführten Punkte zu erweitern:
– Drucksache 17/1987 –
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Abbau der Neuverschuldung durch sozial ge- Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit
rechte Belastung auch der starken Schultern Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
statt massiver Kürzungen bei Arbeitslosen
und jungen Eltern b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
(siehe 45. Sitzung) Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy
4586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion zu der Streitsache vor dem Bundesverfas- (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sungsgericht 2 BvR 1099/10
Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen – Drucksache 17/1997 –
korrigieren – Pflicht zur Abmahnung einfüh-
ren Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-
– Drucksache 17/1986 – Schwenningen)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
Rechtsausschuss LINKE:

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Schnellstmögliche Aufklärung des Angriffs
Anna Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt des israelischen Militärs auf einen internatio-
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nalen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
Unabhängige Patientenberatung ausbauen SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und in die Regelversorgung überführen
Konsequenten Walschutz fortsetzen und ver-
– Drucksache 17/1985 – bessern
Überweisungsvorschlag: – Drucksache 17/1982 –
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
Verbraucherschutz
CSU und der FDP
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Schmidt (Aachen), Heinz Paula, Sören Bartol, Einen effizienten und schlagkräftigen Euro-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD päischen Auswärtigen Dienst schaffen

Potenziale von Kultur und Tourismus nutzen – – Drucksache 17/1981 –


Kulturtourismus gezielt fördern ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– Drucksache 17/1966 – richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
(B) Überweisungsvorschlag: (D)
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Finanzausschuss
Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck (Bremen),
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Ausschuss für Arbeit und Soziales NIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Den Europäischen Auswärtigen Dienst euro-
Ausschuss für Bildung, Forschung und päisch, handlungsfähig und modern gestalten
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus – Drucksachen 17/1204, 17/2012 –
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Berichterstattung:
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Dietmar Nietan
Abgeordneter und der Fraktion der SPD Michael Link (Heilbronn)
Dr. Diether Dehm
Hochwasserschutz europäisch und ökologisch Manuel Sarrazin
nachhaltig umsetzen – Für ein integriertes
Hochwasserschutzkonzept ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Sevim Dağdelen, Jan van
– Drucksache 17/1974 – Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Überweisungsvorschlag: DIE LINKE
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und über die Organisation und die Arbeitsweise
Verbraucherschutz des Europäischen Auswärtigen Dienstes und
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zum Vorschlag für eine Verordnung des Euro-
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- päischen Parlaments und des Rates zur Ände-
sprache rung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/
Ergänzung zu TOP 33 2002 des Rates über die Haushaltsordnung für
den Gesamthaushaltsplan der Europäischen
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gemeinschaft in Bezug auf den Europäischen
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Auswärtigen Dienst
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4587
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ratsdok. 8029/10 und KOM(2010) 85 endg., Beratung des Antrags der Abgeordneten (C)
Ratsdok. 8134/10 Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth (Quedlinburg),
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über Ölkatastrophen vermeiden – Raubbau an
die Zusammenarbeit von Bundesregierung Mensch und Natur ausschließen
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten – Drucksache 17/1572 –
der Europäischen Union
überwiesen:
Den Europäischen Auswärtigen Dienst entmi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
litarisieren Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/1976 – Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Einsetzung eines Nationalen Normenkontroll- Haushaltsausschuss
rates
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
– Drucksache 17/1954 – überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) tung überwiesen werden.
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Innenausschuss Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike
Rechtsausschuss Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Finanzausschuss BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökolo-
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia gische Mindeststandards für die Waldbewirt-
schaftung einführen
Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Agnes
Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 17/1586 –
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überwiesen:
(B) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (D)
Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhal- Verbraucherschutz (f)
ten – Voraussetzungen für eine chancenreiche Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Regionalentwicklung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
– Drucksache 17/1989 – Ausschuss für Tourismus
Überweisungsvorschlag: Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
Verteidigungsausschuss (f)
Finanzausschuss überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sportausschuss (5. Ausschuss), dem Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus (6. Ausschuss), dem Ausschuss für Gesundheit (14. Aus-
Haushaltsausschuss schuss), dem Ausschuss für Menschenrechte und Huma-
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd nitäre Hilfe (17. Ausschuss) und dem Ausschuss für
Scheelen, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weite- Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sen werden.
Zukunft öffentlich-rechtlicher Sparkassen si- Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
chern – Privatisierung verhindern Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
– Drucksache 17/1963 – GRÜNEN
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Bericht der Bundesregierung über die Lage
weit erforderlich, abgewichen werden. behinderter Menschen und die Entwicklung
Der Tagesordnungspunkt 11 wird abgesetzt. Die Ta- ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
gesordnungspunkte 8 und 16 werden getauscht. vorlegen

Außerdem mache ich auf mehrere nachträgliche Aus- – Drucksache 17/1762 –


schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste überwiesen:
aufmerksam: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Sportausschuss
Der in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
tung überwiesen werden. Ausschuss für Tourismus
4588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- (C)
überwiesene nachfolgende Antrag soll nicht mehr dem nächst dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang
Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitberatung Schäuble.
überwiesen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
NIS 90/DIE GRÜNEN zen:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei allen
Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkom- verwirrenden Einzelheiten und Entwicklungen der De-
men über die Rechte von Menschen mit Behin- batte steht fest, dass wir aus den Krisen der Finanz-
derungen märkte und inzwischen auch der Euro-Zone zwei Konse-
– Drucksache 17/1761 – quenzen ziehen müssen: Wir müssen zum einen die zu
hohen öffentlichen Defizite reduzieren. Darüber haben
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) wir in dieser Woche schon ausreichend diskutiert. Wir
Sportausschuss werden auch weiter daran zu arbeiten haben. Zum ande-
Rechtsausschuss ren brauchen die Finanzmärkte strengere und effizien-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tere Regeln. Man hat ja in den letzten Wochen erlebt,
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
dass sich die dramatisch verschlechterten Refinanzie-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung rungsbedingungen Griechenlands, Portugals oder Spa-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit niens nur zum Teil mit den verschlechterten ökonomi-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schen Fundamentaldaten erklären lassen. Die lange
Ausschuss für Bildung, Forschung und vertretene Behauptung, dass Spekulation in der Regel
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Übertreibungen am Markt entgegenwirke, also eine sta-
Entwicklung bilisierende Funktion habe, stimmt so auch nicht mehr.
Ausschuss für Tourismus Nach den Erfahrungen der letzten Jahre müssen wir da-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union von ausgehen, dass die modernen Finanzmärkte in ihrer
Ausschuss für Kultur und Medien
Verflechtung und mit ihren innovativen Instrumenten
Darf ich zu alldem Ihr Einvernehmen feststellen? – – auch durch ausgeprägtes Herdenverhalten, das durch
Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so den elektronischen Handel noch verstärkt wird – die
beschlossen. Schwankungen auf den Märkten verschärfen. Da-
(B) durch können die Akteure auf den Finanzmärkten in Kri- (D)
Ich darf nun um Ihre Aufmerksamkeit bitten für die sensituationen die Volatilität auf den Märkten und die
Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b: Unsicherheit der Marktteilnehmer massiv verstärken.
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Im Übrigen haben die Akteure – auch das muss man
Gesetzes zur Vorbeugung gegen missbräuchli- einmal aussprechen – ein Interesse an Volatilität. An sta-
che Wertpapier- und Derivategeschäfte bilen, ruhigen Märkten verdienen die Spekulanten nicht
so viel. Die alte Börsenweisheit „Hin und her macht Ta-
– Drucksache 17/1952 – schen leer“ gilt offensichtlich nicht mehr, sondern das
Überweisungsvorschlag: Gegenteil gilt.
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss Mit dieser inhärenten Tendenz zur Volatilität können
Ausschuss für Arbeit und Soziales die modernen Finanzmärkte die Bemühungen der Poli-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und tik, in einer Krise rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
und die Lage zu stabilisieren, konterkarieren. Wir haben
Haushaltsausschuss das kurz vor dem und am 9. Mai 2010 erleben müssen.
Die rasante Geschwindigkeit, mit der sich die Situation
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael an den Finanzmärkten zuspitzte, drohte die Euro-Zone
Schlecht, Sahra Wagenknecht, Dr. Herbert Schui, auseinanderbrechen zu lassen. Also müssen wir das Kri-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE senverschärfungspotenzial der Finanzmärkte reduzie-
LINKE ren.
Banken regulieren – Spekulationsblasen ver-
Vor diesem Hintergrund legen wir heute unseren Ent-
hindern
wurf eines Gesetzes zur Vorbeugung gegen missbräuch-
– Drucksache 17/1151 – liche Wertpapier- und Derivategeschäfte vor, mit dem
Überweisungsvorschlag: die zurzeit gefährlichsten Finanzinstrumente verboten
Finanzausschuss (f) werden sollen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ungedeckte Leerverkäufe deutscher Aktien werden
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für verboten.
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
Auch dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann Ungedeckte Leerverkäufe von Staatsschuldtiteln
verfahren wir so. – also Anleihen der Länder der Euro-Zone, die an deut-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4589
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) schen Börsen gelistet sind; in Wahrheit sind das deutsche Ich bin alt genug, dass mir kein Zacken aus der Krone (C)
und österreichische Staatsanleihen – werden verboten. fällt, sofern ich eine haben sollte, wenn ich sage: Wir ler-
nen aus diesen Erfahrungen, und wir machen Erfahrun-
Der Handel mit Kreditderivaten, den sogenannten gen, die wir uns vor ein paar Monaten gar nicht hätten
CDS, auf Schuldtitel der Länder der Euro-Zone wird vorstellen können. – Ungeeignet wären wir nur dann,
verboten, sofern diesen kein Absicherungszweck zu- wenn wir nicht mehr in der Lage wären, aus neuen Er-
grunde liegt. fahrungen entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Das
unterscheidet uns von Ihnen.
Damit wir, weil das in seinen Auswirkungen auf die
Finanzmärkte kompliziert und sensibel ist, genauer steu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ern können, schlagen wir vor, das BMF durch Rechts-
verordnungen zu ermächtigen, Ausnahmen von und zu- Zu der Kritik der mangelnden Abstimmung will ich
sätzliche Maßnahmen zu den gesetzlichen Verboten sagen: In anderen europäischen Staaten, zum Beispiel in
vorsehen zu dürfen. Frankreich und Spanien, gibt es vergleichbare Regelun-
gen, auch in den USA, in Singapur – der singapurische
Wir ergreifen diese Maßnahmen, weil wir uns des Finanzminister war in diesen Tagen in Berlin –, in Hong-
Eindrucks nicht erwehren können, dass Leerverkäufe kong und in Japan. Im Übrigen haben Präsident Sarkozy
und CDS ohne Absicherungszweck am Ende Einfluss und die Bundeskanzlerin in diesen Tagen einen Brief an
auf den Ausgang der Geschäfte nehmen und so eine Ab- die Kommission geschrieben, in dem sie die Kommis-
wärtsspirale in Gang setzen. Vieles in der Wettbewerbs- sion auffordern, möglichst rasch Vorschläge für eine eu-
wirtschaft ist Wette auf den Eintritt ungewisser Ereig- ropäische Lösung vorzulegen. Als ich in der Sitzung der
nisse oder auch Spekulation; das ist nichts Negatives. Ecofin-Gruppe am 18./19. Mai zur Kenntnis nehmen
Aber wenn der Wettteilnehmer eine Einflussmöglichkeit musste, dass die Kommission bis Oktober braucht, um
auf den Ausgang der Wette hat, dann würde man im Vorschläge vorzulegen – das war für mich ausschlagge-
Fußball von einem Wettskandal sprechen. Genau das ha- bend –, haben wir uns entschieden, voranzugehen, in der
ben wir aber bei der missbräuchlichen Nutzung dieser festen Hoffnung und der Erwartung, dass das eine ge-
Instrumente feststellen müssen. Deswegen müssen diese meinsame europäische Regelung nicht erschwert, son-
Instrumente beseitigt werden. dern sie dadurch schneller zustande kommt. Genauso
waren wir bei der Bankenabgabe nicht Spalter in Eu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ropa, sondern Vorreiter und diejenigen, die europäische
Es gab im Vorfeld verständlicherweise eine Menge Regelungen zustande bringen.
Kritik. Ich sage aber noch einmal deutlich: Das Argu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) ment, dass durch mehr Regulierung das Angebot auf den (D)
Märkten verringert und damit die Fähigkeit der Märkte Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die in
zur korrekten Preisbestimmung beeinträchtigt wird, ist Rede stehenden Maßnahmen sind ein Teil der Bemühun-
zwar nicht von der Hand zu weisen, aber dagegen steht gen, mit einer strengeren Regulierung des Finanzsektors
das Argument der Missbrauchsmöglichkeiten, und ich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wir haben
glaube, dass dieses überwiegt. Deswegen haben wir uns aber auch bereits eine Fülle von Maßnahmen ergriffen,
entschieden, diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Im Übri- die bei den Ursachen ansetzen sollen.
gen habe ich bisher von interessierter Seite nur Kritik,
aber keine alternativen Vorschläge dazu gehört, wie man Wir brauchen robustere Eigenkapital- und Liquidi-
die krisenverschärfenden Wirkungen dieser Instrumente tätsregeln für die Finanzinstitute. Das ist vor allem der
kurzfristig in den Griff bekommen könnte. Basel-Prozess, der durch die Kommission und die Euro-
päische Union in europäische Rechtsetzung umgesetzt
Auch der Vorwurf des nationalen Alleingangs ist wird.
üblich, aber er beeindruckt mich nicht mehr so sehr.
Wir brauchen klügere Anreizsysteme. Das haben wir
(Joachim Poß [SPD]: Mit dem Argument ha- mit den Vergütungsregelungen schon auf den Weg ge-
ben Sie aber selbst lange argumentiert! – bracht.
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ungefähr die
Wir brauchen strengere Haftungsregelungen für die
letzten 15 Jahre! – Weiterer Zuruf von der
Finanzmarktakteure.
SPD: Könnte man so sagen!)
Wir brauchen eine durchschlagskräftigere Finanz-
– Den Einwurf von der Linkspartei nehme ich einfach marktaufsicht.
hin, aber die Sozialdemokraten muss ich daran erinnern,
dass ich erst seit einem knappen halben Jahr Bundes- Wir brauchen am Ende auch einen wirksameren
finanzminister bin. Deshalb sollten Sie genau aufpassen, Schutz der Steuerzahler und Sparer; darüber haben
gegen wen sich Ihre Argumente im Ergebnis wirklich wir gestern gesprochen.
richten.
Neben dem Restrukturierungsfonds für Banken brau-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – chen und wollen wir eine zusätzliche Belastung des Fi-
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nanzsektors durch eine international oder europäisch zu
NEN]: Auch in diesem letzten halben Jahr ha- vereinbarende Besteuerung; auch darüber sind wir uns
ben Sie so argumentiert, Herr Schäuble!) einig.
4590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) Ich glaube, dass wir mit all diesen Maßnahmen die wird eine Financial Activities Tax gefordert, dann wie- (C)
Probleme nicht gelöst haben, wohl aber auf dem richti- der eine Bankenabgabe. Auch über die Eigenkapital-
gen Weg sind. Ich werbe dafür, dass wir mit großer Of- quote der Banken wird diskutiert.
fenheit und großer Entschiedenheit diesen Weg weiter-
gehen. Deswegen bitte ich um eine zügige Beratung des Vielleicht will man aber auch eine Finanzmarkt-
Gesetzentwurfs. transaktionsteuer oder lieber doch nicht, wenn sie nicht
weltweit eingeführt wird. Oder man will sie vielleicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) doch, aber man glaubt nicht daran. Ich habe da noch die
Äußerung des Finanzministers im Ohr. Sicherheitshalber
Präsident Dr. Norbert Lammert: wird bereits eine Einnahmeposition in Höhe von 2 Mil-
Das Wort erhält nun der Kollege Manfred Zöllmer für liarden Euro aus der Finanztransaktionsteuer zur Haus-
die SPD-Fraktion. haltskonsolidierung eingesetzt.

(Beifall bei der SPD) Dann will man eine Reform der Bankenaufsicht.
Das sei ein zentrales Projekt der Koalition und völlig un-
verzichtbar. Plötzlich heißt es: Nein, das ist uns jetzt zu
Manfred Zöllmer (SPD): kompliziert. Weg damit!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Finanzminister Schäuble hat eben gesagt, diese Ko- Diese Bundesregierung handelt konsequent nach dem
alition sei in der Lage, dazuzulernen. Sehr schön! Aber Motto: Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit
machen Sie es doch einfach mal! Machen Sie es bei der ganzer Kraft.
Mehrwertsteuer für Hoteliers! Nehmen Sie die Reduzie-
(Beifall bei der SPD)
rung zurück!
Wo bleibt ein Konzept, in dem dieser Finanzmarkt- und
(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der
Bankensektor als Ganzes betrachtet wird und in dem
FDP)
Maßnahmen benannt werden, deren Zusammenwirken
Im Regierungsentwurf zum Verbot von Leerverkäu- analysiert werden, ein Konzept, das konsequent verfolgt
fen heißt es wörtlich: wird?
Die Finanzkrise hat das Vertrauen in die Finanz- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen drin-
märkte erschüttert und die Notwendigkeit weiterer gend Regeln für ein außer Kontrolle geratenes Finanz-
substanzieller Verbesserungen des Aufsichtsrechts system, das uns durch exzessive Spekulation ohne Risi-
zu Tage treten lassen. kobewusstsein, ohne Kontrolle und ohne Moral in die
(B) Richtig. Aber warum wurden eigentlich entgegen sozial- größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit geführt hat. (D)
Wir brauchen auch ein funktionierendes Finanzsystem,
demokratischen Warnungen im Februar dieses Jahres auf ein System, das dienende Funktion für die reale Wirt-
einmal Leerverkäufe wieder zugelassen, nachdem Peer schaft hat. Wir brauchen Rahmensetzungen. Wir brau-
Steinbrück dafür gesorgt hatte, dass diese Art der Fi- chen Leitplanken, die ein Ausbrechen der Finanzmärkte
nanzmarktgeschäfte als Konsequenz aus der Finanz- verhindern, und nicht ein kindisches Geplänkel à la
marktkrise verboten wurde? „Wildsau“ gegen „Gurkentruppe“.
(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister:
(Beifall bei der SPD)
Weil das eine Regelung war, die Ende Januar
auslief!) Die Finanzmarktkrise war 2008. Nun, Mitte 2010,
kommt dieser Entwurf eines Gesetzes gegen miss-
Die Politik dieser Bundesregierung gegenüber den Fi-
bräuchliche Wertpapier- und Derivategeschäfte. Leer-
nanzmarktakteuren richtet sich nach dem Motto: Ich lege
verkäufe waren schon am Crash von 1929 ursächlich be-
mich mal auf Grund und spiele U-Boot. – Gelegentlich
teiligt. Danach waren sie lange Zeit verboten, bis sie
taucht die Bundesregierung wieder aus dem Meer der
dann wieder zugelassen wurden. Diese Finanzwetten
politischen Stille auf, sondert ein paar markige Willens-
dienen nicht der Markttransparenz, wie viele Marktpu-
erklärungen ab und taucht dann erneut unter. Diese Re-
risten behaupten. Es sind Wetten auf Entwicklungen, die
gierung hat keinen Plan, kein Konzept, keine Vorstellung
kapitalstarke Investoren erst hervorrufen. Selbst der
von dem, was sie bei der Regulierung der Finanzmärkte
Chef von Goldman Sachs musste einräumen, dass viele
eigentlich erreichen will.
von den Banken entwickelte Finanzinstrumente volks-
(Beifall bei der SPD) wirtschaftlich ohne Nutzen sind. Deshalb müssen wir
den Zockern vorschreiben, was sie zu tun und was sie zu
Da verkündet Herr Schäuble, er wolle eine Banken- lassen haben.
abgabe. Dann taucht ein Herr Dobrindt aus Bayern auf
und sagt: „Wir wollen aber das Dreifache!“. Dass bis da- (Beifall bei der SPD)
hin überhaupt noch keine konkrete Summe genannt wor-
Meine erste Frage lautet deshalb: Warum jetzt, nach-
den ist, stört ihn nicht.
dem erst Anfang Februar dieses Jahres das bis dahin be-
Dann findet Frau Merkel, die Finanztransaktion- stehende Verbot von Leerverkäufen mit der Begründung
steuer sei eine reizende Idee. Anschließend taucht Herr aufgehoben wurde, die Lage an den Märkten sei hinrei-
Westerwelle auf und sagt: „Nur über unsere politische chend stabil? Unsere Kritik an der Aufhebung des Ver-
Leiche! Ohne uns! Die FDP macht da nicht mit.“ Da botes wurde weggewischt. Doch die Regierung kam
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4591
Manfred Zöllmer
(A) durch ihr Nichtstun immer mehr unter Druck, und mit (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!) (C)
dem Rettungsschirm für den Euro wurde der politische
und das sind im Wesentlichen Aktien deutscher und we-
Druck dann so stark, dass man etwas tun wollte, um es
niger ausländischer Emittenten sowie nur deutsche und
vorzeigen zu können. Deshalb wird jetzt dieser Gesetz-
österreichische Staatstitel.
entwurf eingebracht.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Herr
sind ein personifizierter Leerverkauf!)
Steinbrück hat doch nur eine Befristung ge-
macht! Das ist doch Geschichtsklitterung, was Bei Währungsderivaten sprechen wir von einem Anteil
Sie machen!) von 1,5 Prozent am weltweiten Umsatz, der in Deutsch-
Meine zweite Frage lautet: Warum nur in Deutsch- land getätigt wird. Warum ist die Bundesregierung
land? Warum hat es nicht den Versuch gegeben, diese eigentlich nicht in der Lage, eine solche Maßnahme eu-
Maßnahmen europaweit umzusetzen? ropaweit durchzusetzen? Wir brauchen dringend min-
destens eine europaweite Lösung; besser wäre es, wenn
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir weltweit die großen Finanzmärkte in dieses Verbot
einbeziehen könnten.
Der deutsche Alleingang hat viel Ärger und Unverständ-
nis bei den europäischen Partnern ausgelöst, Ärger, weil (Beifall bei der SPD)
nichts abgestimmt wurde, Unverständnis, weil Deutsch-
land seine Chancen als Motor bei der Regulierung der Die vierte Frage in dem Zusammenhang lautet: Wa-
Finanzmärkte, seitdem Schwarz-Gelb die Bundesregie- rum haben Sie den vorliegenden Entwurf eigentlich ge-
rung stellt, nicht nutzt. Damit es kein Missverständnis genüber dem Referentenentwurf abgeschwächt? Im
gibt: Die Kritik aus Europa am Verfahren ist richtig, die Referentenentwurf hatten Sie für bestimmte Papiere
Kritik am Inhalt der Maßnahme so nicht. noch ein Verbot vorgesehen; jetzt ist daraus eine Er-
mächtigung für die BaFin geworden, ein solches Verbot
(Beifall bei der SPD) auszusprechen. Warum sind Sie da zurückgerudert?
Deutschland hat sich vom Motor Europas zum Brem- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist doch
ser entwickelt. Das ist verheerend. Die für Europa so Unsinn!)
zentrale Achse von Frankreich und Deutschland besteht
nicht mehr. Die Ergebnisse haben wir in der Euro-Krise Diese Frage müssen Sie beantworten.
gesehen. Der französische Präsident konnte öffentlich Die fünfte Frage lautet: Was muss noch geschehen?
sagen, er habe sich zu 95 Prozent gegen Madame Non, Wir brauchen eine internationale Regelung. Wir brau-
also Frau Merkel, durchgesetzt. Die Verärgerung vieler chen eine wirkliche Reform dieser Märkte. Der vorlie- (D)
(B)
europäischer Länder über die Bundeskanzlerin ist nach gende Gesetzentwurf ist leider nur ein erster kleiner
wie vor groß. Leider ist Deutschland inzwischen ein Teil Schritt.
des Problems in Europa geworden, nicht ein Teil der Lö-
sung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Investor Warren
Buffett hat CDS einmal „finanzielle Massenvernich-
Die dritte Frage lautet: Was bringt das? Was soll tungswaffen“ genannt. Wir dürfen nicht zulassen, dass
durch diesen Gesetzentwurf geregelt werden? Es wird sie ihr Zerstörungswerk erneut entfalten können.
das Wertpapierhandelsgesetz dahin gehend geändert,
dass bestimmte Geschäfte verboten werden. Untersagt Vielen Dank.
werden ungedeckte Leerverkäufe von deutschen Aktien, (Beifall bei der SPD)
ungedeckte Leerverkäufe von Papieren von Staaten der
Euro-Zone und Kreditausfallversicherungen auf Ver-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
bindlichkeiten von Staaten der Euro-Zone, die keinen
Absicherungszwecken dienen. Die Aktivitäten an den Volker Wissing ist der nächste Redner für die FDP-
Märkten sollen transparenter werden. Dafür wird ein Fraktion.
zweistufiges Transparenzsystem über die BaFin eta- (Beifall bei der FDP)
bliert.
An ungedeckte Leerverkäufe heranzugehen, sie zu Dr. Volker Wissing (FDP):
untersagen, ist richtig. Wir Sozialdemokraten fordern Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
das seit langem. Es ist ein wichtiges politisches Signal Was in den letzten Jahren auf den Finanzmärkten pas-
an die Märkte. Es geht um den Handel mit Papieren, die siert ist, hat uns alle beeindruckt.
man gar nicht besitzt, um mit Kursmanipulationen Geld
(Manfred Zöllmer [SPD]: „Beeindruckt“ ist
zu verdienen – viel Geld. Daraus können sich systemi-
schön, ja!)
sche Risiken entwickeln. Im Zweifelsfall muss dann der
Steuerzahler das Risiko tragen. Wir haben das im Zu- Ich glaube, niemand hat wirklich vorhersehen können,
sammenhang mit Staatsanleihen hautnah erlebt. was da passiert ist, wie es sich entwickelt und zugespitzt
hat. Aber nun, Herr Kollege Zöllmer, stellen Sie sich
Verbot klingt gut, zupackend und problemlösend.
hier hin und erzählen uns die Geschichte,
Aber man muss wissen: All dies gilt nur für Wertpapiere,
die an einer deutschen Börse im regulierten Markt zuge- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ein Mär-
lassen sind, chen!)
4592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Volker Wissing


(A) dass Sie seit Jahren darauf warteten, dass endlich regu- wendig und ausgewogen. Er gibt den Aufsichtsbehörden (C)
liert wird, wo Sie doch elf Jahre lang den Finanzminister jene Instrumente an die Hand, die sie brauchen.
gestellt haben. Sie waren nicht nur in Regierungsverant-
wortung. Sie haben den Finanzminister gestellt. Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Joachim Poß [SPD]: Und Sie waren gegen Herr Kollege Wissing, lassen Sie eine Zwischenfrage
Regelungen!) zu?

Jetzt sagen Sie, die SPD warte seit elf Jahren und dränge Dr. Volker Wissing (FDP):
immer darauf, dass etwas passiert. Ja, gerne.
(Beifall bei der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Warum haben Sie das Ihren Finanzministern nie gesagt? Bitte schön, Herr Kollege Schick.
Das wäre doch ein einfacher Weg gewesen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei Abgeordneten der LINKEN) NEN):
Herr Kollege, Sie haben im Zusammenhang mit der
Deswegen wäre ein Stück Ehrlichkeit besser.
Befristung gesagt, man habe in der Großen Koalition die
(Joachim Poß [SPD]: Sie waren doch immer Lage falsch eingeschätzt. Das ist wahrscheinlich so.
dagegen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Un- Stimmen Sie mir zu, dass auch Ihre Koalition die Lage
sinn, was Sie erzählen!) falsch eingeschätzt hat? Denn schließlich hatten Sie das
Leerverkaufsverbot erst im Rahmen eines anderen Ge-
Sie haben es nicht gesehen, Sie haben es nicht erkannt. setzes vorgesehen und wollten das erst auf lange Sicht
Wir sind bereit, zu sagen: Auch wir haben nicht im- umsetzen. Jetzt haben Sie das kurzfristig ausgelagert,
mer darauf gedrängt, dass wir eine solche Regulierung, also die Lage offensichtlich auch falsch eingeschätzt.
wie wir sie heute für notwendig erachten, bekommen.
Aber Sie hatten die Verantwortung, und die werden Sie Dr. Volker Wissing (FDP):
auch im Nachhinein nicht los. Ich möchte Ihnen ausdrücklich widersprechen, Herr
Kollege Schick, und greife dabei auf das zurück, was
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mein Vorredner, der Kollege Zöllmer, gesagt hat. Wir ha-
der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Nicht ben versucht, eine internationale Abstimmung durch-
nur ein Heuchler, ein Superheuchler!) zuführen, um wenigstens in Europa einen möglichst
(B) breiten Konsens dafür zu erreichen. (D)
Deswegen wäre es angemessen, wenn Sie uns keine er-
fundenen Geschichten präsentierten, sondern zu Ihrer (Joachim Poß [SPD]: Davon weiß keiner et-
Verantwortung stünden. was, dass Sie das versucht haben! – Manfred
Zöllmer [SPD]: Davon weiß keiner was!)
Herr Kollege Zöllmer, es ist nicht wahr, dass das
Leerverkaufsverbot, das Herr Steinbrück angeordnet hat, Wenn man merkt, dass es notwendig ist, in einer be-
von dieser Bundesregierung aufgehoben worden ist, son- stimmten Situation und in Bezug auf eine wichtige
dern es ist von Herrn Steinbrück befristet worden. Frage, deren Lösung für uns notwendig ist, als Bundes-
republik Deutschland vorbildhaft einen Schritt voranzu-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehen, dann muss man das tun. Das ist keine Falschein-
Er hat die Lage falsch eingeschätzt – dazu kann man ste- schätzung der Lage, es ist eine sehr realistische
hen – und die Regelung befristet. Einschätzung der Lage, die diese Bundesregierung vor-
genommen hat. Wir sollten uns darauf konzentrieren, so
(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie hätten das doch weiterzumachen. Das ist der richtige Weg. Wir unterstüt-
verlängern können! Sie haben es nicht verlän- zen ihn voll und ganz.
gert! Was soll denn dieser Unsinn?)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dann ist es zu einer Zeit ausgelaufen, in der ein Auslau- Meine Damen und Herren, Märkte brauchen Regeln.
fen nicht zu verantworten war. Wir als Koalitionsfraktio- Sie brauchen einen klaren staatlichen Ordnungsrahmen,
nen haben nun die Regierungsverantwortung; Bundes- sonst ist immer die Gefahr gegeben, dass Systeme sich
minister Schäuble hat die Situation erkannt. Wir haben selbst zerstören. Wir dürfen uns aber auch nicht einre-
einen Gesetzentwurf zur Lösung dieses Problems vorge- den, dass mit der Regulierung der Märkte so, wie die
legt. Sozialdemokraten uns das vortragen, das Problem gelöst
Deswegen sollten wir zu mehr Sachlichkeit zurück- ist. Die Lösung der Euro-Krise liegt nicht allein in der
kehren und gemeinsam erkennen, wie richtig dieser Ge- Regulierung.
setzentwurf ist. (Joachim Poß [SPD]: Das sagt auch keiner!)
(Joachim Poß [SPD]: Sie waren doch gegen Wer sich vor Spekulationen schützen möchte, braucht
jede Maßnahme!) vor allem eines, einen gesunden Staatshaushalt.
– Wir hätten es nicht mit eingebracht, wenn wir dagegen (Joachim Poß [SPD]: Dem widerspricht kei-
wären, Herr Kollege Poß. Der Entwurf ist richtig, not- ner!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4593
Dr. Volker Wissing
(A) Wir können bestimmte Formen von Spekulation regulie- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) (C)
ren. In Teilen können wir sie auch verbieten. Wir können
aber die Märkte nicht zwingen, in öffentliche Anleihen Im Fall Hypo Real Estate haben wir festgestellt, dass die
zu investieren. Die Märkte haben dem Euro lange Zeit Finanzaufsicht Schwächen hat. Diese Schwächen müs-
das Vertrauen ausgesprochen. Sie haben es hingenom- sen beseitigt werden. Aber Sie sollten sich nicht hinstel-
men, dass Griechenland trotz des Vorlegens falscher len und mit dem Finger auf diese Koalition zeigen, denn
Zahlen in die Euro-Zone aufgenommen wurde. Sie ha- die Fehler sind in Ihrer Regierungsverantwortung ent-
ben die hohe Neuverschuldung der Euro-Länder über standen, meine Damen und Herren. Das muss doch klar
viele Jahre hinweg ziemlich geräuschlos akzeptiert. gesagt werden.

(Joachim Poß [SPD]: Quatsch mit Soße!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ja, sie haben auch lange Zeit die von Rot-Grün betrie-
bene Aufweichung der Euro-Stabilitätskriterien ohne Deswegen gehen wir jetzt die Dinge an, die Sie nicht
Verwerfungen hingenommen. in Angriff genommen haben. Sie haben im Regulie-
rungssystem und im Aufsichtssystem Lücken hinter-
(Joachim Poß [SPD]: Auch das ist Quatsch!) lassen, und diese Lücken müssen im Interesse sicherer,
Aber weder die Aufnahme Griechenlands noch die stabiler Finanzmärkte geschlossen werden. Das ist die
Aufweichung der Stabilitätskriterien waren Entschei- Aufgabe dieser Koalition. Mit dem heutigen Gesetzent-
dungen der Märkte. Das waren politische Entscheidun- wurf gehen wir weiter in die richtige Richtung, und dies
gen, im Übrigen solche, die die Sozialdemokraten, Herr unterstützen wir ausdrücklich.
Kollege Zöllmer, gemeinsam mit den Grünen, Herr Kol-
Die Freien Demokraten sehen direkte Eingriffe in
lege Schick, zu verantworten haben.
Marktgeschehen durchaus kritisch. Deswegen halten wir
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – es auch für richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf
Manfred Zöllmer [SPD]: Da ist nichts aufge- die notwendige Differenzierung vorsieht. Wir geben den
weicht worden! Nehmen Sie das einmal zur Finanzaufsichtsbehörden Instrumentarien an die Hand,
Kenntnis!) gegen Exzesse auf den Märkten vorzugehen; wir schaf-
fen aber keine Automatismen.
Auch das ist Teil der Wahrheit. Deswegen dürfen Sie
sich nicht hinstellen und uns, nachdem Sie elf Jahre Ver- Die Linkspartei wird uns gleich erzählen, dass man
antwortung für das Finanzressort getragen haben, erzäh- am besten alle Kapitalmarktprodukte verbietet. Das wird
len, dass man durch eine Schwächung der Märkte, so Herr Gysi gleich vortragen, so nach dem Motto: „Wenn
wie Sie sich das wünschen, das Problem lösen könnte. man nichts mehr isst, isst man auch nichts Falsches“. (D)
(B)
Aber dann, Herr Gysi, hat man ein anderes, ein noch
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ist sehr
größeres Problem. Deswegen muss man vernünftig vor-
schlecht auszuhalten, was Sie erzählen!)
gehen, und das tut diese Regierung: abgewogen, interna-
Sie haben mit dazu beigetragen, dass der Staat in die Ab- tional abgestimmt, wo eine internationale Abstimmung
hängigkeit von starken Märkten geführt worden ist, erforderlich ist, insbesondere bei Steuerfragen, aber auch
im nationalen Vorausgang, wenn es notwendig ist, bei-
(Joachim Poß [SPD]: Der Superheuchler aus
spielhaft zu zeigen, dass die Bundesrepublik Deutsch-
der Pfalz!)
land handlungsfähig und auch entschlossen ist, die not-
und dieses Problem löst man nicht allein, indem man re- wendigen Regulierungsmaßnahmen an den Märkten
guliert, und man löst es schon gar nicht, indem man die voranzutreiben.
Märkte schwächt, sondern indem man die Unabhängig-
keit des Staates wiederherstellt. Dies ist durch solide Herzlichen Dank.
Haushaltspolitik möglich, und das macht diese Koali- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Norbert Lammert:
der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Das Herr Kollege Gysi, wenn Sie nun noch Ergänzungen
nennen Sie solide?) zu den Vermutungen des Kollegen Wissing über Ihre be-
Meine Damen und Herren, wir mussten einige Fehler absichtigte Rede vortragen wollen, erhalten Sie jetzt das
korrigieren, die unter sozialdemokratischer Verantwor- Wort.
tung in Deutschland gemacht worden sind: Wir haben (Beifall bei der LINKEN)
ein Schuldenproblem, wir haben ein Währungsproblem,
wir haben deregulierte Finanzmärkte.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das größte Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, ich
Problem ist die Regierung!) hatte mich auch schon gewundert, wer Herrn Wissing
Wir werden diese Dinge Schritt für Schritt angehen. meine Rede zur Verfügung gestellt hat; dabei hatte ich
gar nicht vor, dies zu sagen.
Sie haben das Thema Bankenaufsicht angesprochen.
Auch das ist ein Thema, das diese Koalition auf den Weg Ich sehe übrigens mit großem Interesse, wie Frau
bringen wird. Homburger und Herr Kauder die ganze Zeit miteinander
4594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi


(A) sprechen. Ich sage Ihnen jetzt schon: Sie einigen sich für den Gipfel der Unverschämtheit; um es klar zu sa- (C)
trotzdem nicht. gen.
(Heiterkeit bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Aber kommen wir zum eigentlichen Problem: Die Fi- Sie haben gesagt: Wir werden euch das Geld für eure
nanzkrise ist noch längst nicht überwunden, obwohl Gläubiger und Eigentümer, das heißt für die Aktionäre,
viele hier so tun. Gegen den Euro wird weiter spekuliert. zur Verfügung stellen.
Die nächsten Spekulationsblasen drohen zu platzen, Nun hat die Regierung – das muss ich sagen – doch
und zwar wiederum in den USA. Da passiert jetzt näm- noch den ganzen Mut eines Jahrhunderts zusammenge-
lich Folgendes: Die Gewerbeimmobilien sind nicht mehr nommen und sich entschieden, den Entwurf eines Geset-
zu vermieten und nicht mehr zu verkaufen. Daher kön- zes zur Vorbeugung gegen missbräuchliche Wertpapier-
nen die Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden, die und Derivategeschäfte vorzulegen. Das Schwert ist aber
Banken bleiben darauf sitzen, und dann erleben wir die ziemlich stumpf und wird wohl eher wirkungslos blei-
nächste Krise. ben. Sie wollen zunächst ungedeckte Leerverkäufe
Ich frage mich immer, was die verantwortlichen Poli- verbieten; das ist völlig richtig.
tikerinnen und Politiker zum Beispiel der G-20-Staaten Herr Zöllmer, Sie haben gesagt, dass Sie das seit Jah-
eigentlich dagegen tun. Sie treffen sich in Südkorea und ren fordern. Sie hätten nur erwähnen sollen, dass erst Sie
teilen uns mit: Es wird gar nichts dagegen getan. Ich die Erlaubnis dazu gegeben haben. Das gehört zur Voll-
halte das für den Gipfel der Unverfrorenheit der Politik, ständigkeit einer solchen Aussage hinzu.
und zwar weltweit.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN) neten der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Das
ist völliger Unsinn!)
Auch die Euro-Krise ist nicht überwunden; in Spa-
nien spitzt sich die Lage weiter zu. Dort besteht eine Re- Leerverkäufe sollen also verboten werden, aber nur in
kordarbeitslosigkeit von über 20 Prozent. Wir erleben der Euro-Zone.
Sozialkürzungen, wir erleben Kaufkraftrückgang, die
Binnenwirtschaft droht zusammenzubrechen, mit allen (Joachim Poß [SPD]: Das war sehr wahr-
damit verbundenen Folgen. Ich sage Ihnen jetzt schon, scheinlich eine falsche Behauptung!)
Herr Schäuble: Dann treffen sich wieder alle EU-Finanz- Das heißt, außerhalb der Euro-Zone soll auch an unseren
minister und überlegen sich die nächste Spritze, weil es Börsen weiterspekuliert werden dürfen. Damit lösen Sie
(B) anders gar nicht zu handhaben ist. Wir kommen aus dem das Problem nicht. (D)
Gewurschtel überhaupt nicht heraus, wenn nicht die
Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik endlich einmal Das Zweite ist, dass Sie ungedeckte Kreditausfall-
wirklich umgestellt wird. versicherungen verbieten wollen, aber wiederum nur
für Verbindlichkeiten im EU-Markt. Das heißt, Sie sa-
(Beifall bei der LINKEN) gen: Wetten auf den Dollar und auf das Pfund können
fortgesetzt werden, auch was Pleiten anderer Staaten be-
Wegen der drohenden neuen Krise misstrauen sich die trifft. Warum sind Sie nicht in der Lage, diesbezüglich
Banken schon wieder gegenseitig. Sie leihen sich gegen- ein vollständiges Verbot auszusprechen und zu sagen:
seitig kein Geld mehr. Es ist doch interessant, dass am „Wir wollen nicht länger von Spekulationen leben, son-
Montag die Geschäftsbanken schon wieder 350 Milliar- dern Realwirtschaft in dieser Gesellschaft entwickeln“?
den Euro bei der Europäischen Zentralbank geparkt ha- Warum sind Sie dazu nicht in der Lage?
ben, obwohl sie bei dieser Zentralbank viel weniger Zin-
sen bekommen als bei anderen Banken. Sie trauen den (Beifall bei der LINKEN)
anderen Banken nicht mehr. Auch hier staut sich schon Immerhin hat in der FDP und der CDU/CSU ein Ge-
wieder vieles an, was zur nächsten Krise führt. sinnungswandel stattgefunden. Denn wenn wir solche
Zu G 20. Um es ganz klar zu sagen, Herr Schäuble: Maßnahmen früher ganz bescheiden gefordert haben,
Sie haben sich weder auf eine Bankenabgabe noch auf dann haben Sie uns immer gesagt: Das ist ein Teufels-
eine Finanzmarkttransaktionsteuer geeinigt. Sie haben werk gegen die Marktwirtschaft. – Ich stelle mit Erleich-
keine festeren Wechselkurse und keine Regulierung der terung fest, dass Sie dazulernen können.
Finanzmärkte festgelegt. Die Wettgeschäfte sind nicht Wenn Sie aber bei der jetzigen Halbherzigkeit blei-
beseitigt, die riesigen Spekulationen gehen weiter, ben, dann werden die Maßnahmen ziemlich wirkungslos
Hedgefonds können so weitermachen wie bisher. Dabei bleiben. Das ist unsere Sorge. Ich sage Ihnen, was das
ist wirklich nichts herausgekommen, außer Spesen. Hauptproblem ist. Das Hauptproblem ist ein strukturel-
(Beifall bei der LINKEN) les Ungleichgewicht innerhalb der Welt. Wenn Sie sich
die einzelnen Länder vor dem Hintergrund der Weltwirt-
Was ist das Signal? Was haben Sie damit bisher den schaft, des Weltfinanzmarktes ansehen, dann stellen Sie
Banken und den Spekulanten gesagt? Sie haben gesagt: fest, dass rapide so große Unterschiede, übrigens auch
Treibt es weiter so! Für die Verluste haftet ihr sowieso auf dem Finanzmarkt, geschaffen werden, auf die dann
nicht. Die bezahlen bei uns die Hartz-IV-Empfängerin- wiederum die Spekulanten spekulieren und damit riesige
nen und Hartz-IV-Empfänger. – Das halte ich übrigens Gewinne machen. Deshalb brauchen wir etwas anderes.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4595
Dr. Gregor Gysi
(A) Was ist eigentlich Ihre Antwort darauf? Ich kann ja cherungsniveau muss aber die Kommune bezahlen. Da- (C)
nicht nur über den vorliegenden Gesetzentwurf reden. mit machen Sie die Kommunen noch „pleiter“ als sie es
Herr Schäuble, Sie machen eine Agenda 2014. Sie fra- ohnehin schon sind. Auch das ist ein Schritt in die völlig
gen: Woher bekommen wir denn das Geld, das wir jetzt falsche Richtung.
dringend brauchen? Innerhalb einer Woche können Sie
ja Summen in Höhe von 480 Milliarden Euro beschlie- (Beifall bei der LINKEN)
ßen, um die Banken zu retten. Nun muss ja irgendwann Dann komme ich zum Mindestelterngeld.
einmal die Frage beantwortet werden: Was ist zu tun?
Sie sagen, Sie wollten die Ausgaben um 80 Milliarden (Zurufe von der CDU/CSU)
Euro reduzieren. Im Kern machen Sie keine einzige – Nein, lassen Sie mich über das Mindestelterngeld spre-
Steuererhöhung. Sie sagen damit: Wir werden die Lasten chen. Ich möchte noch einmal die Geschichte – –
ganz einseitig verteilen.
(Zurufe von CDU/CSU und FDP)
Was machen Sie im Sozialbereich? Ich habe wirklich
gestaunt. Ich fange einmal bei den Hartz-IV-Empfänge- – Ich wusste, dass Sie sich aufregen. Das hängt aber
rinnen und Hartz-IV-Empfängern an. doch zusammen. Sie machen doch das Sparpaket wegen
der Krise, und über diese Krise diskutieren wir hier. Hö-
(Zuruf von der CDU/CSU)
ren Sie einmal zu, Sie können mir doch nicht das Wort
– Hören Sie zu! – Da gibt es heute Pflichtleistungen. Sie verbieten!
haben Anspruch auf bestimmte Qualifizierungen. Sie
sollen angeblich nicht nur gefordert, sondern auch geför- (Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus
dert werden. Aus diesen Ansprüchen machen Sie eine [CDU/CSU]: Weil Sie keine Ahnung von dem
Ermessensleistung und sagen: Bei diesen Ermessensleis- Thema haben!)
tungen muss bis zum Jahre 2014 ein Betrag von Deshalb sage ich Ihnen: Jetzt reden wir über das Eltern-
16 Milliarden Euro gespart werden. Herr Schäuble, geld.
wenn man diese Summe sparen will, heißt das, dass es
deutlich weniger Maßnahmen gibt. Was heißt denn Er- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da hat er die
messen? Welche Willkür führen Sie denn da eigentlich falsche Rede gegriffen!)
ein? Dann sitzt da der Angestellte herum und sagt: Die Also, wie war das? – Die Bedürftigen bekamen zwei
gefällt mir besser, die gefällt mir weniger; die eine be- Jahre lang 300 Euro pro Monat. Dann hat die Große Ko-
kommt die Maßnahme, die andere nicht. – Was ist das alition – meine Damen und Herren von der SPD, das
denn für ein Rechtsdenken? Tauschen Sie nicht einen müssen auch Sie rechtfertigen – entschieden, das Eltern-
(B) Anspruch gegen eine Willkürentscheidung, wie Sie das geld von 300 Euro auf bis zu 1 800 Euro zu erhöhen, (D)
hier vorbereitet haben. nämlich für die Besserverdienenden. Aber weil sie das
(Beifall bei der LINKEN) Geld nicht hatte, hat sie gesagt, dafür kürzen wir das El-
terngeld von zwei Jahren auf zwölf Monate bzw.
Zum Zweiten streichen Sie das Übergangsgeld beim 14 Monate. Mehr als die Hälfte der Bezieherinnen und
Übergang von ALG I zu ALG II. Das heißt, Sie sagen Bezieher bekommt aber nur die 300 Euro. Das heißt, den
den Arbeitslosen: Du musst deinen Lebensstandard so- Ärmsten in der Gesellschaft habt ihr gesagt: Ihr be-
fort rapide senken; das Übergangsgeld wird gestrichen. kommt zehn oder zwölf Monate weniger die 300 Euro,
(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sind Sie beim damit wir den Besserverdienenden 1 800 Euro bezahlen
falschen Tagesordnungspunkt?) können. Das ist ein Skandal. Das hätte die SPD nie mit-
machen dürfen. Sagen Sie das doch wenigstens einmal!
Zum Dritten streichen Sie die Rentenbeiträge für
Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfän- (Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]:
ger. In der DDR waren das Lohnersatzleistungen! –
Manfred Zöllmer [SPD]: So ein Blödsinn!)
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Sie reden im-
mer das Gleiche!) Jetzt kommt der Höhepunkt, Sie sagen jetzt: Wir
streichen das Elterngeld für Hartz-IV-Empfängerinnen
– Hören Sie zu! – Das hat zwei Folgen. Die eine Folge und Hartz-IV-Empfänger vollständig. Sie bekommen
ist, dass Sie für die Betroffenen damit die Renten kürzen. nicht einmal mehr diese 300 Euro, keine zwölf Monate
Die haben sowieso schon so geringe Renten, und die wie bisher. Bei den Besserverdienenden bleibt jedoch im
kürzen Sie noch weiter. Die zweite Folge ist, dass diese, Kern alles beim Alten. Weiter gibt es bis zu 1 800 Euro.
wenn sie eine Rente unter dem Grundsicherungsniveau Außerdem streichen Sie den Heizkostenzuschuss für
beziehen, die Differenz doch wieder vom Staat bezahlt Geringverdienerinnen und Geringverdiener.
bekommen.
Ich will jetzt gar nicht darüber reden, was Sie bei den
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Was hat das
Bundesbeamten machen. 10 000 Stellen wollen Sie
mit dem Finanzmarkt zu tun?)
streichen. Was heißt das denn eigentlich, Herr Schäuble? –
Sie sparen also jetzt das Geld und geben es dann später Bekommen dann nur noch britische Anwaltsfirmen den
zur Aufstockung bis auf das Grundsicherungsniveau Auftrag, Gesetzentwürfe zu erarbeiten, weil Ihre Minis-
wieder aus. Da gibt es nur einen Unterschied: Jetzt terien das nicht mehr können? Was soll dabei denn ei-
müssten Sie das bezahlen, die Differenz beim Grundsi- gentlich herauskommen?
4596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi


(A) (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
noch etwas zum Wertpapiergeschäft, Herr bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
Gysi?) geordneten der SPD)
Abgesehen davon erhöht es – sage ich einmal – auch in Das, was jetzt von der Regierung vorliegt, ist doch
jeder Hinsicht die Arbeitslosigkeit. Sie wollen auch noch sinnvoll. Das kann man einmal anerkennen.
die Bezüge der Beamten kürzen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Zurufe von der CDU/CSU)
Ich glaube, es wäre allerdings auch möglich gewesen,
anzuerkennen, dass das eine Korrektur einer bisherigen
Präsident Dr. Norbert Lammert: Position ist, und zwar in zweierlei Hinsicht.
Herr Kollege!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Diese Größe, das zuzugeben, kann man in diesen Zeiten
Herr Präsident, ich weiß, Sie wollen mir sagen, dass besitzen.
die Redezeit abgelaufen ist.
(Jörg van Essen [FDP]: Herr Wissing hat das
ja begründet!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ja, so ist es. Die erste Korrektur, die vorgenommen wird, ist wich-
tig. Herr Schäuble, auch Sie persönlich haben in den
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): letzten Monaten immer gesagt: Wir müssen alles inter-
Ja, ich weiß das, ich sehe es. Lassen Sie mich deshalb national abstimmen. Sie haben bei den verschiedenen
zum Schluss sagen: Die beiden Verbote sind vernünftig, Vorschlägen, die aus der Opposition kamen, argumen-
tiert: Jetzt einmal nicht voreilig; das muss man interna-
(Zurufe von der CDU/CSU: Danke!) tional angehen! Es ist richtig, dass Sie das jetzt korrigie-
ren und sagen: An vielen Stellen muss Deutschland
wenn auch nicht vollständig. Sie reichen nicht aus. Sie
vorangehen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Sie mit
werden sehen, dass sie eher wirkungslos bleiben. Wenn
diesem Gesetz einen ersten Schritt in diese Richtung ma-
Sie nicht den Mut haben, eine Millionärsteuer, einen hö-
chen. Aber geben Sie zu: Es ist eine Korrektur Ihrer
heren Spitzensteuersatz, eine Finanztransaktionsteuer,
Position.
eine höhere Erbschaftsteuer etc. einzuführen, dann set-
zen Sie ein Signal, nämlich dass Sie den Bankern, den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(B) Spekulanten und den Vermögenden sagen: Ihr könnt Kri- Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine Ergän- (D)
sen verursachen, solange ihr wollt, ihr haftet dafür nicht, zung!)
das bezahlen in Deutschland die Hartz-IV-Empfängerin-
nen und Hartz-IV-Empfänger. Ich sage Ihnen: Das ist Die zweite Korrektur ist wichtig, weil sie das finanz-
dreist und nicht hinnehmbar! marktpolitische Paradigma korrigiert, das in den letzten
Jahren geherrscht hat: Immer wenn mehr Handelsmög-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans lichkeiten geschaffen werden, stellt das für die Märkte
Michelbach [CDU/CSU]: Da lache ich ja!) eine Verbesserung dar. Es ist richtig, dass auch dieses
Paradigma korrigiert wird; denn manchmal geht es nur
Präsident Dr. Norbert Lammert: um mehr Herdentrieb und Instabilität. Wir müssen jetzt
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Gerhard unterscheiden: Was ist für eine Stabilisierung der Fi-
Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nanzmärkte wirklich nützlich? Was bringt zusätzliche
Instabilität? Das macht die Finanzmarktpolitik schwie-
rig: Man muss eine genaue Unterscheidung treffen; das
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ist jetzt die Aufgabe. Herr Gysi, das leisten Sie nicht. Es
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, dass diese Korrektur endlich vorgenommen
ist ja verständlich, wenn man nur ein bestimmtes Set von wird.
Textbausteinen hat, Herr Gysi.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und Dann kommen wir zu der Frage: Wie werden die Kor-
der FDP) rekturen vorgenommen? Sie kommen nicht um den ers-
ten Punkt herum: Internationale Abstimmung bedeutet
Ich glaube aber nicht, dass wir die Märkte wieder in den
zwar nicht, dass man alles gemeinsam macht; aber Sie
Griff bekommen, wenn wir immer alles mit allem zu-
haben nicht einmal das Mindestmaß an Information ge-
sammenrühren und nur über die Sozialfragen reden.
leistet. Ich kann der französischen Finanzministerin ein-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nur fach nur zustimmen: Es wäre besser gewesen, diese
über die Sozialfragen?) Maßnahme vorher mit den betroffenen Staaten in der
Euro-Zone abzustimmen. Das haben Sie nicht gemacht.
Es geht heute Morgen um die Finanzmarktregulierung,
und dann muss man auch einmal über die Finanzmarkt- Dabei geht es nicht nur um eine Frage der außenpoli-
regulierung reden. So, wie Sie es machen, gewinnen wir tischen Höflichkeit: Sie haben mit Ihrem Verbot die
den Kampf nicht. Märkte massiv verunsichert; das ist das Problem. Der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4597
Dr. Gerhard Schick
(A) haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion rekapitalisieren und in Deutschland eine Schulden- (C)
stellte sich an dem Abend hin bremse für Banken einzuführen. Das muss man national
machen, denn das ist eine nationale Schwierigkeit. Das
(Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!)
wäre die Priorität, über die Sie endlich reden sollten.
– ich würde mit dem Lob für den Mann nicht zu voreilig
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sein – und gab gegenüber den Märkten und der Öffent-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
lichkeit bekannt, dass es ein Verbot geben wird. Bevor es
irgendeine Information darüber gab, was wirklich verbo- Es ist ganz wichtig, dass wir folgende Frage noch ein-
ten werden soll, herrschte an den Märkten zwei Stunden mal diskutieren: Wie kann man das, was jetzt bei den
zusätzliche Panik; denn aufgrund einer unbedachten Äu- Leerverkäufen getan wird, auch bei der Bankenregulie-
ßerung aus Ihren Reihen wusste niemand, was genau rung entsprechend unterstützen? Bisher fehlt in der Ver-
passieren sollte. Erst zwei Stunden später gab es eine handlungsposition der Bundesregierung, dass wir ent-
Pressemitteilung der BaFin, sodass die Finanzmarktak- sprechende Geschäfte im Eigenhandel systematisch mit
teure wussten, was die Bundesregierung plant. Das ist mehr Eigenkapital unterlegen. Das muss eine Priorität
brandgefährlich, gerade in einer Woche wie dieser: Ei- dieser Regierung bei den Verhandlungen in Basel sein,
nerseits argumentieren Sie, dass man wegen der Labilität ist es aber bisher nicht. Das, was wir hier machen, ist nur
der Märkte etwas tun muss; andererseits verschärfen Sie die Marktregulierung. Wir müssen dasselbe auf der Ban-
die Lage. Das ist purer Dilettantismus. So etwas darf kenseite angehen.
sich eine Regierung nicht erlauben.
Deswegen ist die Aufforderung von unserer Seite,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn Sie jetzt zugeben, dass man national vorangehen
und bei der SPD) soll: Legen Sie uns einmal vor, was Ihre Prioritäten sind!
Geben Sie eine Perspektive! Verunsichern Sie nicht
Ich bin bei den Reden aus der Koalition – von Ihnen, dann, wenn Sie getrieben sind, weiter die Märkte mit
Herr Finanzminister, und Ihnen, Herr Wissing – beson- kurzfristigen Aktionen, die dann auch noch dilettantisch
ders bei einem Punkt unruhig geworden. Der Präsident durchgeführt werden.
des Bankenverbands hat es so ausgedrückt:
Stabilität in der Finanzmarktpolitik werden Sie mit
Nachdem die Mannschaft endgültig die Orientie- der Vorgehensweise der letzten Wochen genauso wenig
rung verloren hatte, beschloss man …, die Schlag- wie mit dem erreichen, was Sie vor der NRW-Wahl ge-
zahl zu erhöhen. macht haben, sondern es braucht jetzt einen klaren Fahr-
Jetzt beschleunigen Sie. Aber welche Prioritäten setzen plan. Wir sind bereit, daran mitzuwirken. Aber diesen
Sie? Fahrplan müssen Sie jetzt vorlegen. Davon haben wir
(B) (D)
heute Morgen von der Regierungskoalition noch nichts
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Entscheidendes gehört.
kann ich Ihnen sagen!)
Danke schön.
– Ich bin auf Ihre Rede nachher gespannt; denn ich habe
Ihre Prioritäten noch nicht gehört. – Ich glaube zwar, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass es richtig ist, bei den Leerverkäufen zu handeln; und bei der SPD)
aber die Priorität muss doch auf der Stabilisierung un-
seres instabilen Bankensystems liegen. Das sagen uns Präsident Dr. Norbert Lammert:
übrigens alle internationalen Beobachter. Die Kapitali- Das Wort erhält nun der Kollege Hans Michelbach für
sierung der deutschen Banken ist viel zu niedrig. Sie re- die CDU/CSU-Fraktion.
den nicht darüber, weil es unangenehm wäre und Sie sa-
gen müssten, dass hier eine Rekapitalisierung notwendig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ist. Herr Finanzminister, ich würde mir wünschen, dass neten der FDP)
es dort einmal klarere Zielvorgaben gibt.
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):
In der Schweiz hat man viel klarere Zielvorgaben ge-
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch
macht; das konnten wir beim Besuch einer Delegation
heute debattieren wir in dieser ersten Lesung über die
des Finanzausschusses in der Schweiz in der Diskussion
Lehren aus der Krise und einen neuen Ordnungsrahmen
nachvollziehen. Sagen Sie doch einmal den Leuten: Der
für unser Finanzsystem. Zweifellos hat die Finanz-,
Hebel bei der Deutschen Bank ist 50:1. Der Finanz-
Währungs- und Schuldenkrise das Vertrauen in die
staatssekretär aus Kanada hat bei Ihrer Konferenz ge-
Märkte nachhaltig erschüttert.
sagt: Die Leverage Ratio in Kanada beträgt 20:1. Wir ha-
ben es in Deutschland mit einem extrem gefährlichen Bankenkrise, Boni-Wildwuchs, intransparente Speku-
Geschäftsmodell zu tun. Wir wissen: Wenn die Deutsche lationen, die Nachrichten über europäische Staaten vor
Bank wackelt, dann ist es gefährlich. Wir müssen uns dem Staatsbankrott und die Gefahr der Ansteckung, der
also klarmachen, dass es jetzt das Wichtigste ist, die Kauf von Staatsanleihen durch die EZB, die Entwick-
deutschen Banken zu stabilisieren. Die Eigenkapital- lung der Risiken und die Auswirkungen auf die Real-
quote deutscher Banken beträgt im Durchschnitt wirtschaft und die Kreditfinanzierung haben viele Men-
2,6 Prozent, der Hebel 38:1. Das ist doch nicht stabil. schen in unserem Land verunsichert. Sie haben Angst
Deswegen muss jetzt endlich Priorität haben, die Eigen- um das Ersparte. Das hat zu Skepsis gegenüber unserer
kapitalunterlegung zu stärken, die deutschen Banken zu Währung geführt.
4598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) Diesen großen Herausforderungen für Stabilität, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
Wachstum und Beschäftigung müssen wir uns mit vol- der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/
lem Engagement stellen. Zuallererst geht es jetzt darum, DIE GRÜNEN]: Sie haben das damals vorge-
Vertrauen wiederherzustellen und zukünftige Krisen schlagen!)
durch gesetzliche Maßnahmen zu verhindern. Es geht
Die Befristung ist ausgelaufen, bevor wir zu Lösun-
um Krisen- und Missbrauchsbekämpfung, nicht um radi-
gen auf internationaler Ebene kommen konnten. Da die
kale Marktablehnung. Darum geht es.
Lösungen auf internationaler Ebene noch nicht Platz ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- griffen haben, hat der Bundesfinanzminister eine Vorrei-
neten der FDP) terrolle übernommen.

Wir wollen eine Balance zwischen der Sicherung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Marktstabilität und der Bewahrung des Nutzens dynami- der FDP)
scher Märkte. Herr Gysi, Herr Zöllmer, Herr Dr. Schick, Das ist hervorragend. Inzwischen hat der französische
es liegt im Wesen von marktwirtschaftlichen Prozessen, Staatspräsident Sarkozy gemeinsam mit der Bundes-
dass diese nicht endgültiger Natur sind, keine letzten kanzlerin einen Brief an den EU-Kommissionspräsiden-
Wahrheiten sind. Marktwirtschaft fördert aber Wohl- ten Barroso geschrieben, in dem das gefordert wird, was
fahrtszuwachs, auch beim dienenden Faktor des Finanz- der Bundesfinanzminister vorgeschlagen hat.
marktes. Das darf man nie vergessen. Ohne Instrumente
gegen Wechselkurs- und Rohstoffpreisschwankungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
gibt es keine globale Wirtschaft. Wir in Deutschland sind wie des Abg. Björn Sänger [FDP])
die Profiteure der globalen Wirtschaft. Wer nicht bereit ist, selbst voranzugehen und mit Tat-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kraft zu überzeugen, der kann auch andere nicht über-
der FDP) zeugen. Von uns als einer der stärksten Wirtschaftsnatio-
nen wird die Übernahme der Vorreiterrolle immer
Moderne Volkswirtschaften ohne moderne Finanzpro- wieder gefordert. Diese Rolle wird durch die Bundesre-
dukte sind nicht denkbar oder nur unter erheblichen gierung, speziell durch den Bundesfinanzminister wahr-
Wohlfahrts- und Wachstumseinbußen. Es geht also nicht genommen.
um Radikallösungen, sondern um gezielte Krisen- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
Missbrauchsbekämpfung. Dafür kämpfen unser Bundes-
wie des Abg. Björn Sänger [FDP])
finanzminister, Dr. Wolfgang Schäuble, und diese Koali-
tion in großer Einheit. Darin lassen wir uns in diesem Wenn betroffene Finanzmarktteilnehmer nun behaup-
(B) Haus von niemandem überbieten. Das ist die Wahrheit. ten, unsere Maßnahmen nützten nichts, dann sage ich: (D)
Warten wir die Ergebnisse erst einmal ab. Derivate, Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- briefungen, ungedeckte Leerverkäufe, CDS sind nicht
neten der FDP) das Gleiche wie ein Kredit, sondern sie sind eine Wette
Wir wollen einen neuen Ordnungsrahmen, der es auf die Zukunft. Es ist doch ein Unterschied, ob man re-
unserer modernen Volkswirtschaft ermöglicht, durch ale Gegenwerte oder ungedeckte Leerverkäufe ohne
moderne Finanzprodukte auf internationalen, dynami- Substanz hat.
schen Märkten für Wohlstand und Wachstum zu sorgen. Man muss immer wieder verdeutlichen, was unge-
Wir wollen eine Balance zwischen der Sicherung der deckte Leerverkäufe sind. Mit ungedeckten Leerver-
Marktstabilität und der Bewahrung des Nutzens dieser käufen können Anleger auf sinkende Kurse von Wertpa-
dynamischen Märkte. Maxime unseres Handelns ist da- pieren spekulieren, ohne diese überhaupt zu besitzen.
bei, dass es in Zukunft kein Finanzmarktprodukt und Bei ungedeckten Kreditausfallversicherungen können
keinen Finanzmarktteilnehmer geben darf, der nicht be- Investoren eine Versicherung auf den Zahlungsausfall ei-
aufsichtigt oder reguliert wird. Das ist unser Grundsatz, nes Gläubigers abschließen, ohne im Besitz einer Forde-
an dem wir uns orientieren müssen. rung zu sein. Das ist der wesentliche Punkt. Man muss
reale Substanz und Verbriefungen ohne Transparenz und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ohne realwirtschaftlichen Hintergrund unterschiedlich
Sie machen der Bundesregierung Vorwürfe. Aber Sie betrachten. Darum geht es letzten Endes. In der Finanz-
müssen doch einräumen, dass in den sieben Jahren Rot- wirtschaft muss verstanden werden, dass wir einen Ord-
Grün das Volumen der Derivatemärkte um Hunderte nungsrahmen brauchen, der zwischen den einzelnen Pro-
von Billionen US-Dollar gestiegen ist. Derzeit umfasst dukten und den Finanzteilnehmern differenziert.
es rund 700 Billionen US-Dollar. Wir brauchen einen neuen Ordnungsrahmen, um für
(Manfred Zöllmer [SPD]: Wo denn? In New die realwirtschaftlichen Werte Platz zu schaffen. Wir
York oder in London?) sind auf einem guten Weg, um die internationalen Ab-
stimmungsprozesse weiter voranzutreiben. Es wäre na-
Das ist die Wahrheit. Ihr damaliger Finanzminister türlich am besten, wenn man zu Lösungen ohne Wettbe-
Steinbrück hat die ungedeckten Leerverkäufe nicht ab- werbsverzerrungen kommen würde, indem man sie
geschafft, sondern er hat sie befristet. Es handelte sich international durchsetzt. Wir übernehmen eine Vorreiter-
um nichts anderes als um eine Befristung. Auch das ist rolle, die vielleicht dazu führen wird, dass auf europäi-
die Wahrheit. scher Ebene, vielleicht auch auf Ebene der G 20, interna-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4599
Dr. h. c. Hans Michelbach
(A) tionale Abstimmungsprozesse stattfinden, die uns in die Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Lage versetzen, unser Ziel einer neuen, soliden Markt- Ich auch, Herr Kollege. Darüber haben wir keinen
ordnung auch auf den internationalen Finanzmärkten Streit.
durchzusetzen. Ich betrachte nationale, deutsche Allein-
gänge deshalb immer mit Skepsis. Wenn sie aber zum Dr. Carsten Sieling (SPD):
Ziel führen, gehen sie in die richtige Richtung. Ziel
bleibt weiterhin das Zustandekommen zumindest euro- – Das habe ich fast erwartet. – Wenn das Tempera-
päischer Regelungen. ment einmal mit einem von uns durchgeht, dann müssen
wir das aushalten, finde ich. Klar gibt es Grenzen, die
Wir müssen uns immer wieder die folgenden Fragen nicht überschritten werden dürfen. Aber ich will aus-
stellen: Welche Rolle spielen Finanzmärkte in einer mo- drücklich dazu auffordern, diese Debatte mit Redebeiträ-
dernen Wirtschaft? Welche Formen der Finanzmärkte und gen lebendiger und nachvollziehbarer zu machen;
welche Finanzprodukte wollen wir? Darauf aufbauend
müssen wir schließlich fragen: Was ist der angemessene (Iris Gleicke [SPD]: Wir müssen aufpassen,
und notwendige Ordnungsrahmen für diese gewünschten dass die nicht alle zurücktreten!)
Formen der Finanzmärkte? Welcher Ordnungsrahmen ist denn dieses Problem, diese Thematik ist wirklich schwer
notwendig, damit die Finanzmärkte einen Nutzen für die verständlich.
Allgemeinheit entfalten, ohne unerwünschte Instabilität
zu verursachen? Das sind die Fragen, die gestellt werden Zu Anfang möchte ich den Punkt ansprechen, dass
müssen. Auf diese Fragen werden wir konsequente Ant- Bundesminister Schäuble uns in seiner Einleitung vorhin
worten geben. gebeten hat, für eine zügige Beratung zu sorgen. Für die
SPD-Fraktion will ich ausdrücklich sagen, dass wir dem
Heute machen wir in diesem Sinne einen guten An- entsprechen wollen und entsprechen werden. In den Vor-
fang. Deswegen bitte ich Sie, dass wir nach dieser ersten besprechungen haben wir einer Fristverkürzung bereits
Lesung den Gesetzentwurf, diese Missbrauchsbekämp- zugestimmt; denn es ist dringend notwendig, dass wir zu
fung vorantreiben und damit einen Erfolg für das Ge- Ergebnissen kommen. Es ist für uns eine Selbstverständ-
meinwohl in Deutschland, für unsere Wirtschaft und hin- lichkeit, dass wir einer zügigen Beratung zustimmen.
sichtlich unserer Arbeitsplätze erreichen.
Aber man muss auch sagen – darüber ist in dieser De-
Herzlichen Dank. batte einige Male diskutiert worden; ich will darauf noch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einmal eingehen –, warum dieser Zeitdruck entstanden
ist. Dieser Zeitdruck darf nicht dazu führen – auch dazu
Präsident Dr. Norbert Lammert: will ich gleich etwas sagen –, dass die Qualität und die
(B)
Bevor ich dem Kollegen Carsten Sieling für die SPD- Wirksamkeit dieses Vorhabens leiden. Deshalb werden (D)
Fraktion das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, wir uns einige Dinge genau anschauen müssen. Ich darf
dass mir nachweislich der angereichten Protokolle deut- hier aber einmal sagen, dass der jetzige Zeitdruck da-
lich geworden ist, dass manche Zwischenrufe in dieser durch entstanden ist, dass wir eine Bundesregierung ha-
Debatte nicht nur eine Spur temperamentvoller ausgefal- ben, die eine Regierung des Attentismus gewesen ist, die
len sind, als das für die meisten Redebeiträge festzustel- nicht gehandelt hat und viel Zeit hat verstreichen lassen.
len war, sondern sie gelegentlich auch hart an der Grenze (Beifall bei der SPD)
dessen waren, was wir hier eigentlich als parlamentari-
sche Umgangsformen für angemessen halten. Ich will Das jetzt auf Vorgängerregierungen zu schieben – ich
doch noch einmal darum bitten, das für den Rest der Re- komme gleich beim Beispiel der Leerverkäufe noch ein-
debeiträge zu diesem wichtigen und uns gemeinsam na- mal darauf zu sprechen, weil dazu Unsinn ohne Ende er-
türlich besonders sensibilisierenden Tagesordnungspunkt zählt wird –, gleicht einem Märchen. Ich finde es wichtig
im Bewusstsein zu behalten. und richtig, dass man hier klar sagt: Die Lage ist von der
Bundesregierung offensichtlich falsch eingeschätzt wor-
Falls sich nun irgendjemand angesprochen fühlt, sich den. Als Kollege Wissing hier auf die Zwischenfrage ge-
aber vergewissern möchte, ob er Anlass für diese Be- antwortet hat: „Nein, wir haben das immer realistisch
merkung war, stehe ich für präzisere Auskünfte gern zur gesehen“, fand ich es interessant, ins ganze Plenum zu
Verfügung. schauen. Bundesfinanzminister Schäuble hat genickt, als
(Heiterkeit bei der SPD – Nicolette Kressl gesagt wurde, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat.
[SPD]: Unentgeltlich!) Meine Damen und Herren in der Koalition, einigen Sie
sich wenigstens darauf, was Sie in der Vergangenheit
– Auch das. falsch gemacht haben und jetzt richtig machen können
Nun hat der Kollege Sieling das Wort. und wollen, damit wir zu vernünftigen Ergebnissen
kommen. Noch nicht einmal in der Einschätzung der
jüngsten Vergangenheit sind Sie sich einig.
Dr. Carsten Sieling (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Debatte habe ich den Eindruck, dass ich
Vielen Dank für diesen Hinweis. Aber ich muss sagen, noch einmal die Beschlüsse und Programme der Sozial-
dass ich es sowohl als Redner als auch als Zuhörer im demokratie zum Thema Leerverkäufe lesen muss, weil
Parlament eigentlich immer gut finde, wenn es Zwi- der eine oder andere Beitrag nahelegte, die Leerverkäufe
schenrufe gibt. seien eine sozialdemokratische Erfindung; so war, glaube
4600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Carsten Sieling


(A) ich, die Formulierung von Herrn Gysi. Ich darf an dieser Regierung ohne Beteiligung der Sozialdemokraten gege- (C)
Stelle einmal sagen: Leerverkäufe haben sich über Jahre ben. Da hat man die Befristung nicht verlängert, sondern
und Jahrzehnte in der Nachkriegszeit entwickelt. Ihre man hat es ins Leere laufen lassen.
Zahl hat zugenommen, und unterschiedliche Prozesse
(Beifall bei der SPD)
haben dazu geführt, dass sie sich ökonomisch so entwi-
ckelt haben. Sie sind aber nicht politisch genehmigt wor- So gesehen: Klagen Sie hier nicht die Falschen an! Fas-
den, und es sind keine Gesetze dazu entwickelt worden. sen Sie sich an die eigene Nase! Stimmen Sie die FDP
um! Wir haben viel Zeit verloren. Wir haben jetzt Zeit-
Sie haben das vielleicht mit den Hedgefonds ver-
druck. Der Bundesfinanzminister muss uns bitten, be-
wechselt; auch darüber wird hier ja immer diskutiert.
schleunigt zu beraten, weil Sie geschlafen haben, weil
Manche bringen Hedgefonds und Private Equity durch-
Sie diese Situation falsch eingeschätzt haben und nicht
einander. Ich rate: Lassen Sie dieses Durcheinander. Bei
das gemacht haben, was wir als Sozialdemokraten mit
den Hedgefonds haben wir in Deutschland eine strenge
Finanzminister Steinbrück umgesetzt hatten. Das muss
Regelung durchgesetzt. An den Leerverkäufen sind nicht
hier sehr deutlich gesagt werden.
wir schuld. Dabei geht es um Marktbewegungen, die
passiert sind und jetzt beschränkt werden müssen. Da- Ich will einen Blick auf diesen Gesetzentwurf werfen.
rum diskutieren wir hier. Lassen Sie uns das gemeinsam Wir alle, die sich intensiver damit befassen, haben uns
machen. sicherlich angeschaut, was in den Referentenentwürfen
stand. Es gibt eine Änderung in diesem Gesetzentwurf.
(Beifall bei der SPD)
Ich vermisse in der Begründung des Gesetzentwurfes
Nun sagt Kollege Michelbach: Das habt ihr doch sel- eine Erklärung, warum es diese Änderung gegeben hat.
ber nicht gemacht. Ich darf noch einmal sagen: Als die Kollege Zöllmer hat vorhin schon darauf hingewiesen,
Krise 2008 ausgebrochen ist, hat der damalige Bundes- dass es im Bereich der Derivategeschäfte zu einer Än-
finanzminister Steinbrück derung gekommen ist.
(Joachim Poß [SPD]: In der Großen Koali- Wenn man ein bisschen recherchiert, findet man eine
tion!) stolze Presseerklärung des Bundesverbandes der Wert-
papierfirmen an den deutschen Börsen, also einer Verei-
auf der rechtlichen Grundlage in der Großen Koalition nigung, die selber damit zu tun hat. Herr Schäuble, Sie
mit CDU/CSU dieses befristete Verbot gemacht. haben angesprochen, dass es bei den Spekulanten ein In-
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Be- teresse an Volatilitäten, an Schwankungen, an Unsicher-
fristungen gemacht! Das ist richtig! – Gegen- heiten, an Zeitmöglichkeiten gibt, um viel Geld zu ver-
ruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Es ging gar dienen. Hier will ich sagen: Da haben sich einige von
(B) (D)
nicht anders in der Großen Koalition als be- denen geäußert, die ein Interesse an so etwas haben.
fristet!) Diese sagen ganz klar, dass die Änderung, die Sie sehr
kurzfristig in Ihren Gesetzentwurf eingebaut und nicht
Es ging darum, schnell zu handeln und dieses umzuset- begründet haben, auf Ihre Initiative vorgenommen wor-
zen. Das ist passiert. den ist. In der entsprechenden Presseerklärung heißt es:
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Er Wir begrüßen nachdrücklich, dass der nunmehr auf
hat es nicht abgeschafft, sondern befristet!) den Weg gebrachte Gesetzentwurf, entgegen dem in
– Das ist wahr. der letzten Woche seitens des BMF vorgestellten
Diskussionsentwurf, Derivategeschäfte auf deut-
(Joachim Poß [SPD]: Es ging doch gar nicht sche Aktien und Staatsschuldpapiere der Eurozone,
anders! Das wäre an Ihnen gescheitert!) die nicht der Absicherung bestehender Positionen
Dann ist das befristete Verbot ausgelaufen. Darüber dienen, sowie Derivategeschäfte auf den Euro
kann Kollege Poß mehr sagen. Ich bin ja neu gewählter … nicht mehr mit einem allgemeinen gesetzlichen
Abgeordneter. Ich höre aus meiner Fraktion, dass CDU/ Verbot belegt … sein sollen.
CSU in der Großen Koalition damals nicht bereit gewe- Außerdem weisen Sie ganz stolz darauf hin, dass Sie
sen sind, für ein Verbot solcher Leerverkäufe zu stehen. dies „in letzter Minute“ erreicht hätten.
Die FDP darf hier, glaube ich, gar nicht reden, weil sie
immer dagegen gewesen wäre, weil sie die Tiefe der Herr Bundesminister, Sie müssen uns erläutern, wa-
Krise gar nicht erkannt hat. rum Sie diese Ausnahme gemacht haben.

Ich möchte an einen anderen wichtigen Punkt erin- (Joachim Poß [SPD]: Das wird Herr
nern. Das befristete Verbot von Leerverkäufen war aus- Dautzenberg gleich machen!)
gelaufen und ist von der Großen Koalition verlängert Ich kann sie nicht nachvollziehen. Ich kann nicht erken-
worden. Es ist in der Zeit der Großen Koalition ein wei- nen, dass die Wirkungskraft dieses Gesetzes durch diese
teres Mal ausgelaufen und wieder verlängert worden. Änderung zugenommen hat, vielmehr habe ich die Be-
(Joachim Poß [SPD]: So ist es!) fürchtung, dass seine Wirkungskraft dadurch eher ge-
schwächt worden ist. Das können wir uns nicht erlauben.
Dann ist es – diesmal zu einem unglücklichen Zeitpunkt; Wir müssen beim Thema Leerverkäufe konsequent vor-
denn er liegt nach dem 27. September 2009 – im Januar gehen. Herr Kollege Dautzenberg, vielleicht können Sie
2010 wieder ausgelaufen. Zu dieser Zeit hat es eine neue uns nachher erklären, warum Sie diese Änderung vorge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4601
Dr. Carsten Sieling
(A) nommen haben. Ich habe den Eindruck, dass schon wie- Gewinn in Höhe der Differenz des Verkaufspreises zu (C)
der Lobbyisten vor der Tür standen und sich auch ein dem späteren Eindeckungspreis zu erzielen.
gutes Stück durchgesetzt haben. Das geht so nicht.
Meine Damen und Herren, bitte ändern Sie das. Neben diesem individuellen wirtschaftlichen Erfolg
weisen derartige Verkaufsgeschäfte aber vor allem einen
(Beifall bei der SPD) Informationsgehalt dahin gehend auf, dass sie dem
Ich hoffe, Sie können uns das so gut erklären, dass wir Markt indirekt die Einschätzung des Marktteilnehmers
an dieser Stelle vielleicht zu einer Rückänderung kom- vermitteln, wie dieser die Werthaltigkeit des Unterneh-
men, sodass wir das beschleunigte Verfahren wirklich mens bewertet. Auf diese Weise kann das Entstehen von
realisieren können. Bewertungsblasen verhindert werden. Des Weiteren wir-
ken Leerverkäufe im Rahmen einer effektiven Preisbil-
Zum Schluss möchte ich gerne darauf hinweisen: Es dung als Gegengewicht zu übertriebenen Käufen überbe-
ist richtig, dass ein nationaler Weg gegangen worden werteter Wertpapiere, indem die Verkaufsorder durch
ist. Kollege Michelbach hat in anderen Debatten zur Erhöhung des Angebots auf dem Kapitalmarkt den Kurs
Finanztransaktionsteuer und ähnlichen Themen immer des Wertpapiers nach unten korrigiert.
gesagt: –
(Manfred Zöllmer [SPD]: Was wollen Sie uns
jetzt sagen?)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege. – Warten Sie es ab.
(Manfred Zöllmer [SPD]: Okay!)
Dr. Carsten Sieling (SPD):
Ich komme zum Schluss. – Es geht darum, internatio- Im Übrigen versorgen gedeckte Leerverkäufe den Markt
nale Lösungen zu finden, nationale Wege sind nicht mit zusätzlicher Liquidität, indem sie dem Markt mittels
möglich. – Jetzt wird ein nationaler Weg gegangen. Das des Wertpapierdarlehens Wertpapiere zuführen, die die-
Problem ist: Es fehlt eine Strategie, um wenigstens auf sem ansonsten entzogen wären. So weit die orange Seite.
europäischer Ebene zu einer Verständigung zu kommen.
Dieses Thema darf kein Thema bleiben, mit dem sich je- Ungedeckte Leerverkäufe ermöglichen aber, in kurzer
des Land allein beschäftigt. Sie brauchen ein Konzept. Zeit eine große Zahl von Wertpapieren zu verkaufen,
Das fehlt uns; das ist in dieser Debatte deutlich gewor- ohne dass diese zuvor durch ein mit Kosten verbundenes
den. Bitte bleiben Sie nicht bei diesem Gesetzentwurf Wertpapierleihgeschäft beschafft werden müssen. Leer-
stehen, sondern treffen Sie endlich auch Entscheidungen verkäufe können die Kurse von Wertpapieren derart unter
zur Verbesserung des Anlegerschutzes, zur Einführung Druck bringen, dass deren Emittenten in Finanzierungs-
(B)
einer Finanztransaktionsteuer und vielen anderen wichti- schwierigkeiten geraten. Bei ungedeckten Leerverkäufen (D)
gen Themen, damit die Finanzmärkte in Deutschland ist es auch grundsätzlich möglich, mehr Wertpapiere zu
und in Europa vernünftig reguliert werden. verkaufen als am Markt verfügbar sind. Das ist die oliv-
grüne Seite der Leerverkäufe.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Handelt es sich bei diesen Papieren zudem um Pa-
(Beifall bei der SPD) piere von Unternehmen der Finanzwirtschaft, dann kann
das Finanzsystem als Ganzes in Gefahr geraten. Mit ei-
Präsident Dr. Norbert Lammert: nem Verbot ungedeckter Leerverkäufe wird also den Ri-
Björn Sänger ist der nächste Redner für die FDP- siken für die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Fi-
Fraktion. nanzmärkte im Kern entgegengewirkt. Dies zu
erreichen, ist das Ziel der Bundesregierung und auch In-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
halt dieses Gesetzentwurfs.
Björn Sänger (FDP): Bisher wurden diese Leerverkäufe durch die BaFin
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- untersagt. Dabei ist es fraglich, ob die bisher herangezo-
ren! Jedes Ding hat zwei Seiten, so auch Finanzinstru- gene gesetzliche Grundlage überhaupt hinreichend dafür
mente wie Leerverkäufe. Sie sind ein bisschen wie ein ist. Daher ist dieser Gesetzentwurf richtig und wichtig,
Unimog – Sie kennen dieses Gerät –: Wenn man ihn weil durch ihn eben eine Arbeitsgrundlage geschaffen
orange anstreicht und vorne einen Schneepflug befestigt, wird.
ist er ein sehr sinnvolles und nützliches Kommunalfahr-
Neben dieser Richtigkeit und Wichtigkeit des Verbots
zeug. In olivgrün und mit einer Raketenabschussrampe
von Leerverkäufen von Aktien wird auch der Handel mit
hinten drauf sieht das Ganze schon etwas anders aus.
ungedeckten CDS verboten, weil bei diesem Finanzin-
Betrachten wir zunächst die orange Seite. Leerver- strument derjenige, der einen ungedeckten CDS kauft,
käufe können bei den am Kapitalmarkt gehandelten ein hohes Interesse daran hat, dass die Kreditwürdigkeit
Wertpapieren zu einer effizienten Preisbildung beitra- desjenigen, dessen Kredite versichert werden, infrage
gen. Marktteilnehmer, die der Ansicht sind, ein be- gestellt wird. Das haben wir bei der Euro-Krise erlebt.
stimmtes Wertpapier sei überbewertet und spiegele nicht Das führt eben zu negativen Markttendenzen bis hin zu
den wahren Wert des Unternehmens wider, haben die Marktmanipulationen. Dies wird durch den Gesetzent-
Möglichkeit, Aktien dieses Unternehmens leer zu ver- wurf geregelt. Damit schützen wir unseren Wohlstand
kaufen, um bei Eintritt des erhofften Kursverlaufs einen und bewahren wir uns die Freiheit.
4602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Björn Sänger
(A) (Manfred Zöllmer [SPD]: Herr Sänger, eine 19.15 Uhr für die Kinder vielleicht besser angebracht ge- (C)
Stufe tiefer würde auch reichen!) wesen.
Der Gesetzentwurf ist im Übrigen kein Ausdruck ei- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da
nes unbedachten Vorpreschens Deutschlands, kommt aber das Sandmännchen!)
(Manfred Zöllmer [SPD]: Freiheitsschutzge- Bei dem Zerrbild wären sie aber wahrscheinlich nicht
setz!) eingeschlafen. Man sollte sich hier wirklich den Realitä-
ten stellen, auf die wir uns mit diesem Gesetzentwurf be-
da in Griechenland, Italien und Großbritannien ähnliche ziehen. Von daher ist das ein wichtiger Beitrag zur Regu-
temporäre Verbote durch die Finanzmarktaufsicht erlas- lierung von Finanzmärkten und Finanzmarktprodukten.
sen wurden. In Irland und Schweden wird ein solches Dies wurde im Koalitionsvertrag zwischen den Koali-
Verbot geprüft, in Österreich besteht ein solches Verbot tionsvertragspartnern auch vereinbart.
durch die Aufsichtsbehörde, in Belgien existiert ein ge-
setzliches Verbot, und die französische Finanzministerin (Manfred Zöllmer [SPD]: Den Koalitionsvertrag
hat am 4. Juni erklärt, dass sich Frankreich hinsichtlich haben Sie doch schon weggeschmissen!)
des Verbots dieser Leerverkäufe mit Deutschland einig
Herr Kollege Schick, das ist auch keine Korrektur,
ist. Das, was hier erzählt wurde, wonach das in Europa
sondern eine Ergänzung um weitere Punkte, die durch
nicht in Einklang zu bringen sei, ist also wirklich ein
die zeitlich befristete Ermächtigung des damaligen Bun-
Märchen.
desministers bisher nicht erfasst wurden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Das
GRÜNEN]: Aber es war in anderen Gesetzen
ist nicht abgestimmt!)
eingeplant!)
Wir werden uns allerdings darüber unterhalten müs- Das, was damals, zu Beginn der Finanzmarktkrise, ver-
sen, ob man das Ziel, das mit diesem Gesetzentwurf er- ordnet worden ist, bezog sich ausschließlich auf einige
reicht werden soll, nicht vielleicht auch mit einem mil- Finanztitel an den deutschen Börsen. Mit diesem Gesetz-
deren Mittel erreichen kann, nämlich mit einem sachlich entwurf sollen alle in Deutschland gehandelten Aktien
auf bestimmte Finanzinstrumente zu beziehenden und und staatlichen Schuldtitel erfasst werden. Staatliche
befristeten behördlichen Leerverkaufsverbot. Dazu ha- Schuldtitel waren bisher nicht von dem in einer Verord-
ben wir ja auch eine entsprechende Anhörung geplant. nung geregelten Leerverkaufsverbot erfasst. Denn es ist
In jedem Fall ist die Herstellung einer eindeutigen eine neue Erkenntnis, dass Schuldtitel anderer Staaten
(B) Gesetzeslage zu begrüßen, um eben auch Unsicherheiten unter Umständen nicht mehr das gewährleisten, was man (D)
hinsichtlich der Zulässigkeit von Maßnahmen der Auf- ursprünglich mit staatlichen Schuldtiteln verbunden hat.
sichtsbehörde, wie sie in der Vergangenheit aufgetreten Von daher ist es eine vollumfängliche Regelung, die bis-
sind, zu vermeiden. her in keiner Weise vorgesehen war.
Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Insofern ist es keine Korrektur, sondern eine Ergänzung
und Weiterentwicklung der Regulierung von Finanz-
märkten und Finanzprodukten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Deshalb geht die Kritik, dass die Regelung zu spät
Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/CSU-Fraktion. komme und dass das Ganze nicht passiert wäre, wenn
frühere Regelungen verlängert worden wären, fehl. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geht fehl, weil es ein vollumfänglicher Ansatz ist und
neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Der Leo bisher eben keine Eingriffsmöglichkeiten bis hin zum
erklärt es! – Manfred Zöllmer [SPD]: Jetzt klä- Verbot bestanden haben.
ren Sie uns doch einmal auf, Herr Kollege! –
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wie die Regelungen wirken sollen und welche Tatbe-
NEN]: Jetzt werden alle offenen Fragen beant- stände davon erfasst werden, haben meine Vorredner
wortet!) schon dargelegt. Es wurde bereits darauf hingewiesen,
dass es um ungedeckte Leerverkäufe geht. Die politi-
Leo Dautzenberg (CDU/CSU): schen Forderungen auch aus Ihrer Fraktion, Herr Gysi,
beziehen sich auf ein Verbot aller Leerverkäufe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem von den Koali- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die gehandelt
tionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir werden!)
einen Teil des Primats der Politik hinsichtlich der Fi-
nanzmarktinstrumente zurückgewinnen. Von daher ist – Die gehandelt werden: also auch die gedeckten. Das
das der richtige Ansatz. geht doch fehl. Ein Finanzmarktprodukt an sich ist we-
der negativ noch positiv. Entscheidend ist, mit welcher
Herr Kollege Zöllmer, es war schwer erträglich, um Zielsetzung es eingesetzt wird. Manche Zielsetzung
9.15 Uhr eine Märchenstunde zu erleben. Das wäre um muss bekämpft und eingeschränkt werden. Dazu gehö-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4603
Leo Dautzenberg
(A) ren in der Konsequenz auch Verbote, wenn damit Ver- messungsgrundlage entwickeln müssen. Neben dem re- (C)
werfungen am Markt eingeschränkt werden müssen, die gulatorischen Ansatz im Hinblick auf Leerverkäufe
mit Grundsicherungsgeschäften im Grunde nichts mehr müssen wir den gesamten Bereich der Derivate, die nicht
zu tun haben, weil sie durch vielfältige Ableitungen zu über Börsen, sondern over the counter gehandelt werden,
rein spekulativen Finanzprodukten geworden sind. Das erfassen und regulieren; bei diesen OTC-Geschäften
müssen wir einschränken. vereinbaren zwei Parteien etwas, von dem andere gar
nichts wissen, sodass keinerlei Transparenz hergestellt
Ein weiterer Schritt, den wir vollziehen, ist ein natio- wird.
naler Dreiklang aus einer effektiveren Aufsicht, für die
wir eine zeitnahere Umsetzung anstreben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Manfred Zöllmer [SPD]: Die ist beerdigt!) Das ist in unserem eigenen Interesse, insbesondere
wenn man sich die Größenordnungen vor Augen hält. In
– die ist doch nicht beerdigt –, der Bundesrepublik Deutschland werden Derivate im
(Manfred Zöllmer [SPD]: Doch sicher! Das Wert des 35-Fachen unseres Bruttoinlandsprodukts ge-
war zu schwierig!) handelt. Man kann davon ausgehen, dass der überwie-
gende Teil davon keine der Volkswirtschaft dienende
einer Bankenabgabe, die in einen Restrukturierungs- Funktionen erfüllt, sondern rein spekulativ ist. Wenn man
fonds fließt, und dem Insolvenzrecht für Kreditinstitute, diese Geschäfte mit einer Finanzmarkttransaktionsteuer
um demnächst auch systemisch relevante Banken abwi- besteuern will, muss man sie erst einmal transparenten
ckeln und neu strukturieren zu können. Formen zuführen, nämlich Clearingstellen und Börsen-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und handelssystemen. Sonst hat man gar keine Grundlage für
der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wann kommt die Bemessung einer Finanzmarkttransaktionsteuer.
der Gesetzentwurf?) Herr Zöllmer, auch Ihr diesbezüglicher Vorwurf war
– Die Eckpunkte liegen vor, Herr Kollege. falsch. Herr Barnier, der zuständige EU-Kommissar,
hatte ursprünglich vor, Maßnahmen in diesem Bereich
(Manfred Zöllmer [SPD]: Wann kommt das?) erst im Herbst auf den Weg zu bringen. Die letzte Ta-
– Seien Sie doch ruhig! Das wird schon zur Sommer- gung des Ecofin hat, auch dank des Beitrags unseres Fi-
pause kommen. Dann werden die ersten Referentenent- nanzministers, dazu geführt, dass Herr Barnier jetzt un-
würfe vorliegen. verzüglich europäische Maßnahmen auf den Weg
bringen muss, um entsprechende Handelsplattformen zu
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und die Volatilitä- schaffen.
(B) ten gehen weiter!) (D)
Wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese Handels-
– Sie erwarten eine hohe Volatilität. Insofern spekulieren plattformen in Kontinentaleuropa angesiedelt werden.
Sie falsch. Wir werden den Gesetzentwurf schon zum Bisher gibt es zur Abwicklung dieser Geschäfte nur pri-
richtigen Zeitpunkt vorlegen. vatwirtschaftlich organisierte Institutionen in New York,
die sich teilweise jeder Transparenz entziehen. Es muss
Das alles sind weitere nationale Maßnahmen, um
weiterhin an den Grundlagen gearbeitet werden, damit wir
unsere Vorstellungen in diesem Bereich konsequent
eine vernünftige Bemessungsgrundlage als Voraussetzung
durchzusetzen. Von einigen Kollegen wurde gesagt, das
der Wirksamkeit einer Finanzmarkttransaktionsteuer fest-
seien Alleingänge. Ich habe eine Liste mitgebracht, auf
legen können; sonst würde vieles fehlgehen.
der 20 Staaten aufgeführt sind, in denen es bereits Rege-
lungen zum Verbot von Leerverkäufen gibt. Es sind also Sie sehen anhand all dieser Maßnahmen, dass wir uns
keine nationalen Alleingänge. Selbst wenn es so wäre, bemühen, konsequent das umzusetzen, was wir uns vor-
wäre der Ansatz, auf nationaler Ebene zu beginnen und genommen haben. Vom Kabinett, von der Regierung er-
dann internationale Bündnispartner in diesen Fragen zu warten wir – wie ich eben schon gesagt habe –, dass wir
finden, richtig. Denn es geht um Entwicklungen, die noch zur Sommerpause die ersten Referentenentwürfe
nichts mehr mit der dienenden Funktion eines Finanz- bekommen.
markts für die Volkswirtschaft und die Menschen zu tun
Darüber hinaus erwarten wir ein Anlegerschutzge-
haben. Dies gilt es einzuschränken und zum Teil auch zu
setz. Die Eckpunkte dazu sind ebenfalls klar. Wir wollen
verbieten.
den Anlegerschutz weiter verstärken sowie härtere Sank-
Dabei haben wir neben dem Gesetzentwurf weitere tionen bei Falschberatung und falschen Angaben in Pro-
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir beraten zurzeit duktinformationsblättern.
die Regelungen zu Vergütungsstrukturen. Das ist ein
Eine weitere für unsere Wirtschaftskultur in Deutsch-
weiterer Ansatz, um Nachhaltigkeit in der Wirtschaft zu
land wichtige, wenngleich sehr spezielle Frage betrifft
erreichen und auch für Finanzinstitute und die Versiche-
die Vorgaben zur Vermeidung des Anschleichens an An-
rungswirtschaft zu nachhaltigen Vergütungssystemen zu
teilsmehrheiten bei Unternehmensübernahmen.
kommen, statt Kurzzeitbetrachtungen anzustellen, die
vielleicht noch zur Störung der Finanzmärkte beitragen. (Joachim Poß [SPD]: Das fordern die Sozial-
demokraten auch schon länger!)
Als weiterer Aspekt in der Diskussion über die
Finanztransaktionsteuer ist zu beachten, dass wir so- Die Beispiele Porsche/VW und Schaeffler/Continental
wohl national als auch international eine vernünftige Be- haben gezeigt, wie es nicht sein soll.
4604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Leo Dautzenberg
(A) Das alles sind Maßnahmen, die wir ergreifen werden. Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (C)
Damit sind wir auf einem guten Wege, und auch Sie DIE GRÜNEN
könnten Ihren Beitrag zur Effizienz dieses Gesetzent-
wurfs leisten. Konsequenzen aus dem Bildungsstreik zie-
hen – Bildungsaufbruch unverzüglich einlei-
Vielen Dank. ten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksachen 17/109, 17/119, 17/131, 17/1977 –
Berichterstattung:
Präsident Dr. Norbert Lammert: Abgeordnete Tankred Schipanski
Ich schließe die Aussprache. Swen Schulz (Spandau)
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Nicole Gohlke
auf den Drucksachen 17/1952 und 17/1151 an die in der Kai Gehring
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
sind die Überweisungen so beschlossen. Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie
den Zusatzpunkt 2 auf: Frühkindliche Bildung und Betreuung verbes-
sern – Für Chancengleichheit und Inklusion
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst von Anfang an
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
– Drucksache 17/1973 –
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Nationalen Bildungspakt für starke Bildungs- Rechtsausschuss
Finanzausschuss
infrastrukturen schaffen Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
– Drucksache 17/1957 – Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Haushaltsausschuss
Hinz (Essen), Krista Sager, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
(B) DIE GRÜNEN die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich (D)
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
Gemeinsam für gute Schulen und Hochschu- ren.
len sorgen – Kooperationsverbot von Bund
und Ländern in der Bildung abschaffen Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion das Wort.
– Drucksache 17/1984 –
Überweisungsvorschlag: Dagmar Ziegler (SPD):
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Herren! Vor anderthalb Jahren haben Bund und Länder
beschlossen, dass ab 2015 10 Prozent des Bruttoinlands-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- produkts in Bildung und Forschung investiert werden
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung sollen, 3 Prozent in Forschung und 7 Prozent in Bildung.
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Heute, anderthalb Jahre danach und drei Bildungsgipfel
später, wäre es allerhöchste Zeit, dass endlich verbindli-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst
che und konkrete Vereinbarungen zustande kommen, um
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels,
dieses Ziel umzusetzen. Das ist die Aufgabe, die die
Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Bundeskanzlerin heute Nachmittag zu bewältigen hätte,
Fraktion der SPD
aber nicht – wenn man allen Presseverlautbarungen
Studienpakt für Qualität und gute Lehre Glauben schenken darf – bewältigen wird. Zwei Fragen
jetzt durchsetzen müssten heute konkret und verbindlich beantwortet wer-
den: Wie kann das Erreichen des 7-Prozent-Ziels für Bil-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole dung gerecht und nachhaltig finanziert werden, und wie
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, können zusätzliche Bildungsaufwendungen so investiert
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE werden, dass sie den größtmöglichen Effekt für mehr
Chancengleichheit und bessere Bildung erzielen?
Forderungen aus dem Bildungsstreik auf-
nehmen und die soziale Spaltung im Bil- (Beifall bei der SPD)
dungssystem bekämpfen
Die Bundeskanzlerin hätte dafür sorgen müssen, dass
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Bund und Länder zu verbindlichen Vereinbarungen
Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, weiterer kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4605
Dagmar Ziegler
(A) (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr! Wo ist len; denn sie sind zum großen Teil die Betroffenen. Die- (C)
sie denn?) ses Versäumnis hat die Bundesregierung zu verantwor-
ten.
Dazu gehört, dass es bei der Bildungsfinanzierung keine
Abstriche geben darf, weder beim Volumen noch beim Wenn Sie es mit der Bildungsrepublik Deutschland
Zeitplan. Konkret bedeutet das: Wir brauchen 13 Milliar- wirklich ernst meinten, dann müssten Sie sich für einen
den Euro zusätzlich für die Bildung, und zwar 2015 und nationalen Pakt von Bund, Ländern und Kommunen für
nicht erst 2018 oder 2020, wie das beispielsweise Bayern die Bildung einsetzen, nämlich für einen Bildungspakt,
und Baden-Württemberg wollen oder wie es aus der Be- der verbindliche Vereinbarungen für den Ausbau der Bil-
schlussvorlage der B-Länder hervorgeht. Die Finanzie- dungsinfrastruktur enthält – und zwar entlang der kom-
rungsfrage braucht eine dauerhafte Lösung. Dazu gehört pletten Bildungskette, von der frühkindlichen Bildung
auch eine Lösung für die Schieflage zwischen der Finanz- über den Ausbau der Ganztagsschulen bis zur Ausstat-
ausstattung der Länder und Kommunen einerseits und ih- tung der Hochschulen –, und einen Bildungspakt, der
ren Aufgaben in der Bildungspolitik andererseits. Die bundesweit einheitliche Standards festschreibt, um die
Bundesregierung trägt eine große Mitschuld an dieser Teilhabe an Bildung für alle sicherzustellen, und zwar
Schieflage. abgestimmt und ergänzend zur Neubemessung der Kin-
derregelsätze. Deshalb fordern wir zum x-ten Mal: Ma-
(Beifall bei der SPD) chen Sie Nägel mit Köpfen! Verbrennen Sie das Geld
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat dieses Miss- nicht in sinnlosen Projekten, die an den öffentlichen Bil-
verhältnis noch verstärkt. Deswegen steht die Bundesre- dungsinfrastrukturen völlig vorbeigehen und Bildung
gierung heute in der Verantwortung, die Länder und die nicht verbessern! Investieren Sie nicht in sinnlose Bil-
Kommunen bei der Realisierung zusätzlicher Bildungs- dungsbündnisse und Bildungskonten, sondern in Ganz-
aufwendungen zu unterstützen. Die 5,2 Milliarden Euro, tagsschulen und die frühkindliche Bildung! Dann wür-
die der Bund angeboten hat, reichen nicht, um das Errei- den Sie die Bildung tatsächlich voranbringen, und dann
chen des 10-Prozent-Ziels abzusichern. hätten Sie unsere Unterstützung. So haben Sie die Chan-
cen der Ausübung von Regierungsverantwortung wieder
Völlig klar ist, dass zusätzliche Bildungsaufwendun- einmal leichtfertig verspielt. Noch schlimmer: Sie haben
gen solide finanziert werden müssen. Was nicht geht, ist damit unsere Kinder und unsere Jugendlichen ein weite-
das, was Sie machen, nämlich bei den Familien und den res Mal hinters Licht geführt.
Arbeitslosen zu kürzen, um die Bildungs- und die Haus-
haltspolitik in Einklang zu bringen. Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
(B) (D)
Richtig wäre, von starken Schultern mehr zu verlangen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wir haben schon im vergangenen Jahr einen Bildungs-
soli als Aufschlag auf die Spitzensteuer für sehr hohe Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
Einkommen vorgeschlagen, zweckgebunden für Bil- möchte ich gerne der Bundesministerin für Bildung
dung. Das wäre ein gerechter Weg. Im Übrigen haben und Forschung zu ihrem heutigen Geburtstag gratulie-
wir erwartet, dass Frau Merkel und Frau Schavan nicht ren.
nur von mehr Bund-Länder-Kooperation in der Bildung (Beifall)
ständig reden, sondern ernsthaft den Versuch unterneh-
men, eine Grundgesetzänderung zur Aufhebung des Ko- Ich verbinde die guten Wünsche für das neue Lebensjahr
operationsverbotes in der Bildungspolitik auf den Weg mit der heimlichen Hoffnung, dass ein Teil dieser Wün-
zu bringen. Auch davon ist nichts zu sehen. sche vielleicht schon heute Abend in Erfüllung gehen
könnte.
(Beifall bei der SPD)
(Heiterkeit)
Der heutige Bildungsgipfel hätte ein Infrastrukturgip-
fel werden müssen. Das Fundament für erfolgreiche Bil- Nun erteile ich das Wort dem Bayerischen Staatsmi-
dungsbiografien wird schon vor der Schule gelegt, wie nister für Unterricht und Kultus, Herrn Dr. Ludwig
wir wissen. Deshalb ist es unverantwortlich, wenn die Spaenle.
Bundesregierung die Kommunen mit den Schwierigkei-
ten, die sie selber mit verursacht hat, beim Ausbau der Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister (Bayern):
U-3-Betreuung alleine lässt. Dieses Thema hätte zur Herr Präsident! Hohes Haus! Mit dem dritten Bil-
Chefsache werden müssen. Der Rechtsanspruch auf Kin- dungsgipfel, der heute Nachmittag hier in Berlin stattfin-
derbetreuung für unter Dreijährige darf nicht zur Dispo- den wird, stehen wir vor einem sehr wichtigen Punkt in
sition stehen. Es reicht nicht aus, ständig zu sagen: „An der Weiterentwicklung des zentralen Themas „Bildung
dem gesetzlichen Anspruch wird nicht gerüttelt“, wenn in der Bundesrepublik Deutschland“. Mit der Leitent-
man Länder und Kommunen bei der Umsetzung völlig scheidung, die letztlich auf die Festschreibung des
alleine lässt. 10-Prozent-Zieles ausgerichtet ist, sorgen wir für eine
(Beifall bei der SPD) zentrale Weichenstellung. Die Leitentscheidung, dauer-
haft in Bildung zu investieren, wird nämlich weit über
Es wäre anständig und notwendig gewesen, heute die diese Legislaturperiode hinaus von grundlegender Be-
kommunalen Spitzenverbände mit an den Tisch zu ho- deutung sein. Ich wiederhole: Diese Leitentscheidung ist
4606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle (Bayern)


(A) eine ganz zentrale Weichenstellung. Sie ist Ausdruck der Das ist die formale, verfassungsrechtliche Situation. Die (C)
Notwendigkeit in einem Land, in dem die Begabung der politische Begründetheit liegt darin, dass wir mit der Be-
jungen Menschen und das lebenslange Lernen der zen- handlung des Themas Bildung näher an den Menschen
trale Rohstoff sind, eine entsprechende Priorisierung sind. Durch die demokratisch verfasste Kontrolle auf
dauerhaft sicherzustellen. dem Gebiet von Bildung und Erziehung, Wissenschaft
und Forschung in den Ländern agieren wir in einem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kernbereich der Menschen. Sie sind davon direkt betrof-
der FDP) fen und nehmen ihn deshalb auch politisch wahr. Wenn
Die Festschreibung des 10-Prozent-Ziels ist deshalb man die Landtagswahlergebnisse der vergangenen Jahre
politisch unumstößlich. Ich bin der Überzeugung, dass tiefer analysiert, dann erkennt man, dass die Frage, wie
dies auch heute Nachmittag zum Ausdruck kommen die Bildungspolitik im jeweiligen Land beurteilt wurde,
wird. Das ist die Kernaussage. für die Wahlentscheidung der Menschen immer eine
wichtige Rolle gespielt hat. Diese unmittelbare demo-
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber da- kratische Gebundenheit der Bildungspolitik und ihrer
von merkt man nichts!) Kontrolle an den Souverän in den Ländern ist für uns der
Es geht um eine Leitentscheidung, die Auswirkungen eigentliche Kern. Dadurch ist die Bildungspolitik im fö-
weit in die Zukunft haben wird. Es ist in dieser Form et- deralen Gefüge richtig eingeordnet.
was Neues in der bildungspolitischen Debatte und in der Deshalb ist für uns die Frage eines Herangehens an
bildungspolitischen Praxis in diesem Land. die Verfassung zum jetzigen Zeitpunkt völlig falsch ge-
Wichtig ist außerdem die Frage, wie wir das notwen- stellt. Natürlich ist es immer möglich oder sogar gebo-
dige Miteinander zwischen den Kompetenzträgern – das ten, über Aufgabenverteilungen zwischen Bund und
sind die Länder – und dem Bund, der seine Aufgaben Ländern intensiv zu diskutieren. Aber gerade der Be-
komplementär wahrnimmt, weiterentwickeln. Die Kul- schluss, den die Kultusministerkonferenz in enger Ab-
tusministerkonferenz hat am Donnerstag vor 14 Tagen in stimmung mit der Bundesregierung in München gefasst
München im Zusammenwirken mit dem BMBF – ich darf hat, macht deutlich, dass der Arbeitsauftrag lautet, die
mich den Glückwünschen für Frau Bundesministerin Verantwortung in der Kompetenzverteilung – gemein-
Schavan anschließen – hier Maßstäbe gesetzt. Es ist in sam, komplementär oder auch allein – auszuschöpfen
komplementärer Ausschöpfung der Kompetenzen von und in politische Wirklichkeit zu übersetzen.
Bund und Ländern gelungen, ein Papier vorzulegen, in Der Maßnahmenkatalog, der, wie gesagt, weit in die
dem die gesamte bildungspolitische Agenda – von der Zukunft reicht, auch weit über die Legislaturperiode des
frühkindlichen Bildung über den gesamten Katalog des Bundes und der einzelnen Länder hinausreicht, zeigt, (D)
(B) Kerngeschäfts von Bildung und Erziehung bis hin zur
dass in der Berufsorientierung, beim Übergang von den
Wissenschaftspolitik und der Forschungsförderung – auf- allgemeinbildenden Schulen in die berufliche Bildung,
geführt ist. Dadurch ist ein Maßnahmenbündel auf den beim Übergang auch vom sekundären in den tertiären
Tisch gelegt worden, wie es in dieser Form, abgestimmt Sektor – in Umsetzung etwa des Bologna-Prozesses; ein
zwischen Bund und Ländern, seit langem, wenn es über- Kernelement ist dabei auch der Mobilitätspakt – sich die
haupt jemals der Fall gewesen ist, nicht vorgekommen ist. Kompetenzen der Länder und die Kompetenzen des
Auch das ist eine Leitentscheidung. Bundes ergänzen können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Natürlich ist es geboten – ich sage es noch einmal –,
neten der FDP)
über die Verteilung von Aufgaben und das richtige Set-
In diesem Beschluss sind die Kompetenzebenen und zen von Gewichten im verfassungsrechtlichen Gefüge
die damit verknüpften Aufgabenstellungen – das war ein nachzudenken und zu urteilen. Bevor wir diese Debatte
Auftrag an die Kultusministerkonferenz vonseiten der intensiver führen, sollten wir aber den Weg der Wahr-
Ministerpräsidenten und der Frau Bundeskanzlerin – er- nehmung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten,
schöpfend dargelegt. Der Bund legt hier seine Projekte der erfolgreich beschritten wird und für den heute Nach-
auf den Tisch. Es handelt sich dabei um eine detaillierte mittag ein weiterer wichtiger Meilenstein gesetzt wird,
Liste von Maßnahmen – ich habe die entsprechenden fortsetzen. Ich weiß um die besondere Verantwortung
Themenstellungen angerissen – in den Feldern, in denen der Länder. Es geht darum, dass die Letztgestaltungs-
Bund und Länder ihre Kompetenzen zusammen oder er- kompetenz in der Bildungspolitik in gesamtstaatlicher
gänzend wahrnehmen. Außerdem liegt eine Liste von Verantwortung wahrgenommen wird. Das ist die beson-
Maßnahmen vor, die die Länder in Eigenverantwortung dere Aufgabe, die die Länder in der Bildungspolitik zu
durchführen. Das ist aus unserer Sicht – ich darf das leisten haben.
auch als amtierender Präsident der Kultusministerkonfe-
renz sagen – der Weg, wie wir Bildungspolitik auf natio- Ich möchte es an einem Beispiel deutlich machen.
naler Ebene verantwortlich gestalten. Natürlich haben wir einen bunten Strauß von Schulorga-
nisationsformen, für die der jeweilige Souverän in den
Die Verortung der Bildungspolitik in den Ländern ist Ländern entsprechend den Wahlergebnissen die Grund-
nicht umsonst Kern der Kulturhoheit der Länder und lage geschaffen hat. Die Kultusministerkonferenz hat
damit Herzstück, Tabernakel, des Föderalismus in der vor einem halben Jahrzehnt einen Strategiewechsel auf
Bundesrepublik Deutschland. Warum? Weil es dabei um den Weg gebracht. Mindestbildungsstandards betreffend
die Sicherung der Eigenstaatlichkeit der Länder geht. Inhalte und Fächer, die landesweit gelten, von Rostock
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4607
Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle (Bayern)
(A) bis zum Bodensee – daran muss sich eine Schule, gleich zum Beispiel die falsche Sprache zum falschen Zeit- (C)
welcher Organisationsform, orientieren, wenn sie etwa punkt gewählt hat.
einen mittleren Abschluss oder auch das Abitur verlei-
hen will –, werden in der Regel 16 : 0 verabschiedet. Das Die Länderhoheit und das von der Kultusministerkon-
ist der Weg, mit dem wir Bildungsföderalismus prakti- ferenz ausgehandelte Regelungssystem – damit meine ich
kabel machen. Die Inanspruchnahme des verfassungs- ausdrücklich nicht die Bildungsstandards, sondern alle
mäßig garantierten Rechts auf Freizügigkeit darf nicht Regelungen, die es vorher schon gegeben hat und die
zulasten von Familien mit Kindern gehen. Das ist ein nicht aufgehoben worden sind – sind mehr und mehr zu
Weg, wie wir Kulturföderalismus auf der Höhe der Zeit einem Korsett geworden, das Innovation im Schulsys-
interpretieren. Deshalb sind wir der Meinung, dass das tem eher hemmt als ermöglicht
Ausschöpfen des komplementären Miteinanders von (Beifall bei der LINKEN)
Bund und Ländern, fußend auch auf den Ergebnissen,
die am heutigen Nachmittag zu verabschieden sein wer- und das die soziale Schieflage im Bildungswesen nicht
den, der richtige Weg ist, Bildungspolitik in der Bundes- abbaut, sondern verschärft. Dabei habe ich Verständnis
republik Deutschland zukunftszugewandt zu organisie- für die Länder, denn ich war lange genug Landespoliti-
ren. kerin.

Vielen Dank. Die lautstarke Forderung nach mehr Einheitlichkeit


bedeutet nämlich nicht, dass „einheitlich“ immer auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gleich „gut“ ist. Fakt ist: Die öffentliche Schule in der
Bundesrepublik kann heute in allen Ländern nicht mehr
Präsident Dr. Norbert Lammert: das leisten, was sie leisten müsste. Ein Grund dafür ist
die strukturelle Unterfinanzierung des gesamten Bil-
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein ist die nächste Red-
dungsbereiches von der frühkindlichen Bildung bis hin
nerin für die Fraktion Die Linke.
zur Weiterbildung.
(Beifall bei der LINKEN) Was gute Schulen können, wenn sie denn dürfen, was
sie zu leisten in der Lage sind, das hat die Verleihung des
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Deutschen Schulpreises am gestrigen Tage eindrucksvoll
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! dargestellt. Den Stiftern dieses Preises gehört dafür
Lieber Herr Dr. Spaenle, das Kooperationsverbot zwi- Dank, den Schulen gebührt hohe Anerkennung und
schen Bund und Ländern war – daran gibt es nichts zu Wertschätzung.
rütteln – ein Flop.
(B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (D)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Es bleibt zu hoffen, dass die Kanzlerin, die gestern den
ten der SPD) ersten Preis übergeben hat, die eindrucksvollen Bilder
Es hat die Bildungslandschaft nicht reicher und auch von der Preisverleihung in den heutigen Bildungsgipfel
nicht vielfältiger gemacht. Es hat den Föderalismus nicht mitnimmt und vielleicht bei den Ländern eine größere
befördert, aber die Finanzierbarkeit von guter Bildung Aufgeschlossenheit für eine wirkliche Gemeinschafts-
erheblich erschwert. aufgabe Bildung erreichen kann. Das wäre ein schönes
Geburtstagsgeschenk für die Ministerin.
Alle Oppositionsfraktionen haben Anträge zum Ko-
operationsverbot vorgelegt, die Linke schon früher, die Ich bin mir aber nicht sicher, ob dies das Ziel der
beiden anderen Oppositionsfraktionen zur heutigen Sit- Kanzlerin ist. Vielmehr scheint es mir, als ob die Bil-
zung. Es wird Zeit, dass sich endlich auch die Koalition dungsgipfelkette zum neuen Steuerungsinstrument zwi-
bewegt. Es wird Zeit, dass sich auch die Länder bewe- schen Bund und Ländern wird. Das wäre in der Tat fatal.
gen. Denn dabei geht es in erster Linie nicht um Qualität,
sondern um Rechenkünste und viel beschriebenes Pa-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten pier, und dabei gab es bisher immer eine ziemlich ergeb-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nislose Feilscherei. Das kann für eine Bildungsrepublik
nicht der Weg in die Zukunft sein.
Wir hoffen, dass mit diesen Anträgen in der Politik eine
Debatte angestoßen wird, in der man die Sorgen und (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Nöte der Menschen in diesem Land ernst nimmt und sich Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
einmal der Frage stellt, warum die Kritik am zerglieder-
ten Schulsystem beständig wächst. Die Zusagen vom Dresdener Gipfel im Jahre 2008
sind bislang uneingelöst. Sie stehen nach wie vor nur auf
Worum geht es? Wir verlangen von den Menschen in dem Papier. Das kann man im Übrigen auch in der jüngst
unserem Land immer mehr Mobilität. Wenn man der Ar- veröffentlichten Klemm-Studie nachlesen. Vielmehr be-
beit nachziehen muss oder auch will, läuft man Gefahr, steht durch das Sparpaket der Bundesregierung die Ge-
dass die Kinder in einem anderen Bundesland auf andere fahr, dass neue Bildungskürzungen auf den Weg ge-
Schulformen, Schulbücher und Lehrpläne treffen, dass bracht werden, auch wenn die Regierung etwas anderes
die Abschlüsse nicht anerkannt werden oder aber dass behauptet. Zum Beispiel sollen bei der Arbeitsförderung
sie nur über Umwege erreicht werden können, weil man im kommenden Jahr 2 Milliarden Euro und bis 2013
4608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Rosemarie Hein


(A) schon 5 Milliarden Euro eingespart werden. Dahinter Nein, ich habe jetzt nicht aus einer Rede von Roman (C)
stehen massive Kürzungen bei Ausbildung, Weiterbil- Herzog oder Otto Graf Lambsdorff zitiert, sondern aus
dung und Umschulung. Das aber trifft gerade jene Men- der Hauptstadtrede 2009 von Ministerpräsident Kurt
schen, die darauf besonders angewiesen sind. Und dabei Beck. Meines Erachtens sind in dieser Rede wichtige
gibt es keine Kompensationsmaßnahmen. Was die Bun- Zeichen gesetzt worden, und zwar deswegen, weil wir in
desregierung hier vorhat, ist Bildungskürzung durch die der Bundesrepublik Deutschland nicht verkennen dür-
Hintertür. fen: Die Menschen haben von Zuständigkeitsdebatten,
von Quoten, von Verteilungsschlüsseln und von Struk-
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
turfragen die Nase voll. Deswegen sollten wir dies jetzt
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
ganz unaufgeregt so zur Kenntnis nehmen und daran
Die Linke legt den Schwerpunkt darauf, dass das öf- eine moderne Bildungspolitik ausrichten.
fentliche Bildungswesen wieder seiner Aufgabe gerecht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
werden kann, dass die soziale Schieflage abgebaut wird
der CDU/CSU)
und dass Bildungsbenachteiligungen nach Möglichkeit
gar nicht erst entstehen können. Sie entstehen zu einem Ich darf deswegen auch, Frau Bundesbildungsminis-
großen Teil innerhalb des Bildungssystems und nicht terin Schavan, aus Ihrem Interview in der heutigen Stutt-
schon vorher. garter Zeitung zitieren:
Bildung in dieser Hinsicht muss zu einer echten Ge- Ich bin realistisch genug, jetzt keine Kraft darauf zu
meinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen verschwenden, bei der Föderalismusreform einen
– und zwar im Rahmen eines kooperativen Föderalis- neuen Anlauf zu unternehmen. Ich setze aber schon
mus – werden. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Fi- darauf, dass künftige Debatten vom Willen zu einer
nanzierung – sie ist heute nicht möglich –, statt sich im- möglichst intensiven Zusammenarbeit aller staatli-
mer nur neue Hilfsprogramme auszudenken. Unter den chen Ebenen geprägt werden. Für diese Zusammen-
gegebenen Umständen geschieht an Komplementärför- arbeit setze ich mich ein.
derung fast nichts mehr zwischen Bund und Ländern.
Dies wiederum, eine starke Bildungspartnerschaft zwi-
Ich hoffe, dass wir im Interesse der Lehrenden und schen Bund, Ländern und Kommunen zu schmieden,
der Lernenden in eine produktive Debatte kommen, von entspricht genau dem Geist des Koalitionsvertrages; da-
der die Lehrenden und Lernenden am Ende auch etwas für steht diese Regierung.
haben: dass das Bildungssystem in Deutschland besser
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und nicht, wie es bislang immer war, weiter verschlech-
tert wird. Am Tag des Bildungsgipfels ist es natürlich ganz klar,
(B) (D)
dass hierauf der Blick gerichtet werden muss. Das 10-
Danke schön.
Prozent-Ziel darf nicht aufgeweicht werden. Das ist poli-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- tischer Inhalt dieser Regierung, und dafür müssen wir
neten der SPD) auch heute auf diesem Bildungsgipfel intensiv werben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Präsident Dr. Norbert Lammert: der CDU/CSU)
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Patrick
Meinhardt das Wort. Ich füge hinzu, sowohl aus der Sichtweise des Bun-
destages als auch aus der Sichtweise dieser Regierungs-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten koalition: Wir haben fest in unserem Regierungspro-
der CDU/CSU) gramm verankert, dass wir das 10-Prozent-Ziel im Jahr
2015 erreichen wollen. Eine Verschiebung auf einen spä-
Patrick Meinhardt (FDP): teren Zeitpunkt wäre aus unserer Sicht fatal. Vielmehr
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr müssen wir erreichen, dass dieses Ziel so schnell wie
geehrter Herr Präsident! Zu der 1001. Strukturdebatte in möglich in die Realität umgesetzt wird.
diesem Haus möchte ich gleich zu Beginn eine wohl-
Wir als Regierung haben dafür einen Riesenbestand-
überlegte Antwort geben. Ich zitiere:
teil auf den Weg gebracht.
Meine Erfahrung: Der Föderalismus hat in der Bun-
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
deshauptstadt wenig Freunde. … Im Bundestag ist
GRÜNEN]: Das Sparprogramm?)
der Föderalismus nicht beliebt und unverstanden.
12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung ist
Meine Erwartung – die ist stärker als meine Hoff-
der höchste Aufwuchs, den eine Bundesregierung in der
nung – ist: dass sich das ändert, dass erkannt wird,
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je für diese
die Bundesrepublik Deutschland hat als föderaler
Investition in die Zukunft festgelegt hat.
Staat die gute Entwicklung genommen in Jahrzehn-
ten, der Föderalismus hat zur Dynamik, zum Erfolg (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
unseres Landes geführt.
Die Bereitschaft, 40 Prozent der Finanzierungslücke,
Stellen Sie sich bitte einen Moment ein Bundesbil- der 13 Milliarden, zu übernehmen, was als Ziel des letz-
dungsamt vor. Also, der Föderalismus hat Deutsch- ten Bildungsgipfels festgeschrieben worden ist, muss als
land vorangebracht. wesentlicher Bestandteil in die Verhandlungen heute
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4609
Patrick Meinhardt
(A) Nachmittag eingebracht werden. Das ist ein deutliches Bremer Bildungschaos in ganz Deutschland – nicht (C)
Zeichen, das die Bundesregierung gesetzt hat, dass sie mit den Liberalen, nicht mit den Vernünftigen in der Bil-
nämlich bereit ist, sich dort an der Finanzierung zu betei- dungspolitik, nicht mit dieser Regierung der Mitte!
ligen, wo es Schwierigkeiten gibt; denn an diesen
40 Prozent darf zukünftig irgendwo in der Bundesrepu- Vielen Dank.
blik Deutschland eine zusätzliche Bildungsinvestition (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
nicht scheitern. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir haben mit der BAföG-Modernisierung ein kla- NEN]: Gut, dass Sie 5 Prozent haben! Das ist
res Zeichen gesetzt, ebenso mit dem Stipendienpro- noch zu viel für Sie!)
gramm – beides sind für uns zwei Seiten ein und dersel-
ben Medaille –, Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Priska Hinz erhält nun das Wort für die Fraktion
GRÜNEN]: Da haben Sie im Bundesrat blo- Bündnis 90/Die Grünen.
ckiert!)
um ein gerechteres Bildungssystem in der Bundesrepu- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
blik Deutschland sicherzustellen. Das sind Maßnahmen, NEN):
die auch heute auf dem Bildungsgipfel besprochen wer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
den müssen, weil sie dieses Land bildungspolitisch vor- Meinhardt, es geht bei dieser Debatte um die Verbesse-
anbringen. rung der Bildung und nicht um Strukturen. Uns wäre
wirklich wichtig, wenn auch die Bundeskanzlerin, als sie
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Bildungsrepublik ausrief, die Verbesserung der Bil-
der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann dung im Auge gehabt hätte. Sie ist vor drei Jahren mit
[SPD]: Da haben Sie bei der Anhörung nicht großem Mediengetöse herumgereist
zugehört!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich bin auch sehr froh, dass in den letzten zwei Tagen NEN]: Wie immer!)
auf der europäischen Ebene durch massive Einfluss-
nahme der Bundesrepublik Deutschland verhindert wer- und hat dann mit großer Geste zum ersten Bildungsgip-
den konnte, was immer eine große Sorge von uns war, fel eingeladen. Man hätte denken können, die Bundes-
nämlich die Festschreibung europäischer verbindlicher kanzlerin meint es wirklich ernst.
Bildungsinhalte und Bildungsziele. Denn eines muss in
(B) diesem Hohen Haus klar sein: Wenn wir auf Schulen (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Das (D)
Länderkompetenzen draufsatteln, wenn wir auf Schulen tut sie!)
zusätzlich Bundeskompetenzen draufsatteln, was manch Nur, das Problem dabei ist – damit komme ich zu dem
einer ja will, und dann auch noch Leitlinien der europäi- Punkt –, dass sie es hätte besser wissen müssen. Denn
schen Ebene darauf packen, worin soll denn dann eigent- die Bundeskanzlerin hat in der Großen Koalition zusam-
lich noch die Freiheit für die Schule vor Ort bestehen? men mit der SPD einen großen Teil der gesamtstaatli-
Wir brauchen keinen zusätzlichen europäischen Bil- chen Verantwortung für die Bildung an die Länder abge-
dungszentralismus. geben. Daran krankt die Bildungsrepublik, daran krankt
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – jeder Bildungsgipfel, der seitdem stattfindet.
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN]: Aber für europäische Qualifika-
tionsnachweise waren Sie doch auch!) Das schlägt sich auch in dem Streit auf dem heutigen
Gipfel nieder. Lediglich Auflistungen, Herr Kultus-
Ich glaube, der Weg muss in die entgegengesetzte minister Spaenle, haben die Länder und der Bund zu-
Richtung führen. Wichtig ist: Wir brauchen vor Ort von stande bekommen. Sie haben ja vorhin vorgetragen, man
den richtigen Menschen die richtigen Entscheidungen. habe sich auf eine Liste verständigt. Aber in dieser Liste
Deswegen ist das Ziel, mehr Eigenverantwortung für steht vor allen Dingen, welche Schwerpunkte jedes Land
Bildungseinrichtungen, und zwar sowohl für Schulen setzt und was der Bund machen will, was aber von den
als auch für Hochschulen, sicherzustellen; denn nur mit Ländern zum Teil wieder in Abrede gestellt wird. Das ist
mehr Eigenverantwortung schaffen wir es, dass die doch keine gesamtstaatliche Strategie für bessere Bil-
Menschen die Bildungsfreiheit vor Ort selbst spüren. dung in diesem Land. Das ist wirklich Murks. So kom-
Ich zitiere zum Schluss den Präsidenten des Deut- men wir nicht weiter auf dem Weg zu einer besseren Bil-
schen Lehrerverbandes, Josef Kraus, aus dem Jahre dung.
2007:
Es ist notwendig, dass endlich das Kooperationsver-
Hätte man etwa 1969 … einen verfassungsrechtlich bot aufgekündigt wird, damit der Bund Angebote ma-
garantierten Bildungszentralismus gehabt, dann chen kann und sich Bund und Länder gemeinsam ver-
hätte ganz Deutschland jetzt PISA-Ergebnisse wie ständigen können, wie die übergreifenden Probleme in
Bremen. der Bildung in diesem Land gelöst werden können.
(Lachen des Abg. René Röspel [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
4610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Priska Hinz (Herborn)


(A) Koordinierte Programme brauchen wir zum Beispiel in verändert wird, dass Länder und Kommunen in die Lage (C)
der frühkindlichen Bildung, und dies nicht nur bei der versetzt werden, durch die Steuereinnahmen ihrem Teil
Beantwortung der Frage, wie viele Plätze wir brauchen, der Verantwortung für die Bildungsaufwendungen ge-
sondern auch, wie die frühkindliche Bildung qualitativ recht zu werden. Sie als Regierung sind in der Bring-
verbessert werden kann, wie die Schulabbrecherzahlen schuld, ein solches Steuersystem einzuführen, das zu
tatsächlich gesenkt werden können, die pädagogische mehr Geld für Bund, Länder und Kommunen führt.
Konzeption der Ganztagsschulen verbessert und der
Übergang von Schule in Ausbildung gestaltet werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kann. Diese Dinge gehen alle an: die Länder und den sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Bund. Denn ansonsten hat der Bund – und damit die ge- Frau Schavan, was nützt es Ihnen als Bundesbil-
samte Gesellschaft – hinterher die Folgekosten zu tra- dungsministerin eigentlich, wenn Sie Ihre 12 Milliar-
gen. Deswegen ist es notwendig, dass wieder kooperiert den Euro vor Kürzungen bewahren – das ist ja richtig;
werden darf. Das ist keine Auslöschung des Föderalis- wir sind der Meinung, dass mindestens 12 Milliar-
mus, sondern wäre ein kooperativer Föderalismus. Das den Euro für die Bildung ausgegeben werden müssen –,
wäre gut für die Bildung in diesem Land. Sie das Geld aber gar nicht ausgeben können, weil die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Länder Ihre Programme blockieren und Sie nicht die
Möglichkeit haben, tatsächlich da in Bildung zu inves-
Was passiert jetzt stattdessen? Es wird viel Energie tieren, wo es notwendig ist, nämlich von Anfang an, von
darauf verschwendet, dass man versucht, Umwege zu der frühkindlichen Bildung über die Schulbildung bis
gehen; denn ohne den Bund geht es auch nicht. Im hin zur beruflichen Bildung und Weiterbildung?
Konjunkturprogramm II sind Mittel für energetische Sa-
nierungen von Schulbauten vorgesehen. Findige Schul- Der amtierende Ministerpräsident Koch hat das 10-Pro-
träger schaffen es, mit diesen Mitteln ihre Schulbauten zent-Ziel für die Bildung als Erster infrage gestellt. Es
so zu verändern, dass guter Ganztagsunterricht stattfin- sieht so aus, als ob er damit erfolgreich sein wird. Es
den kann. Denn von Bundesseite darf nichts mehr für sieht so aus, als ob die Unionsländer alle mitziehen und
Ganztagsschulen aufgelegt werden. Man muss also über- der Bildungsgipfel heute Mittag insgesamt von dem Ziel
legen, wie man die Vorlagen gestaltet, damit es tatsäch- Abschied nehmen wird. Das wäre allerdings das größt-
lich auf eine energetische Sanierung hinausläuft. mögliche Fiasko, nicht für die Bundeskanzlerin – das
kann man verschmerzen –, sondern für die Kinder in die-
Die Bundesbildungsministerin will lokale Bildungs- sem Land, weil sie dann weiter auf qualitative Verbesse-
bündnisse fördern. Die Länder sind im Moment noch rungen im Bildungssystem hoffen müssten. Es muss uns
dagegen; mal schauen, wie sich das entwickelt. Sie will doch darum gehen, dass wir weniger Schulversager ha-
(B) auf diese Weise – was eigentlich richtig ist – Kinder in ben, dass wir bessere Bildung bekommen. Deshalb ist es (D)
sozial benachteiligten Gebieten fördern. Das ist ein ge- notwendig, das Kooperationsverbot aufzukündigen, die
samtgesellschaftliches Anliegen und damit etwas, was Steuerbasis zu verändern und den Bildungs-Soli einzu-
Bund und Länder gemeinsam anpacken sollten. Da der führen; dann kann man eine gesamtstaatliche Bildungs-
Bund aber keine Mittel dafür geben kann, dass in diesen strategie auflegen. Das sollte der Bildungsgipfel heute
Schulen individuelle Förderung stattfindet, sollen jetzt Nachmittag beschließen.
Fördervereine entstehen, die dann gefördert werden. Fin-
den Sie einmal Elternvereine gerade in diesen Gebieten! Danke schön.
Das ist völliger Humbug. Das ist eine Umwegfinanzie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rung, die gemessen an dem gesellschaftlichen Problem, sowie bei Abgeordneten der SPD)
das wir zu bewältigen haben, völlig unwürdig ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/
Ein weiterer Grund, weshalb die Hürde beim Bil-
CSU-Fraktion.
dungsgipfel so hoch ist, ist die immer prekärer werdende
finanzielle Lage der Länder. Darüber wollen wir nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
hinweggehen. 13 Milliarden Euro soll die Lücke 2015 neten der FDP)
betragen, um das 10-Prozent-Ziel zu erreichen; und das
ist niedrig angesetzt. Wir wissen schon jetzt, dass es un- Michael Kretschmer (CDU/CSU):
geheuer schwer werden wird, diese Lücke zu füllen, weil Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor weni-
Länder wie Schleswig-Holstein und Hessen bereits ei- gen Tagen hat die Bundesregierung Entwürfe vorgelegt,
gene Sparanstrengungen unternehmen und gerade im wie sie 80 Milliarden Euro einsparen möchte. Heute fin-
Bildungsbereich sparen. Das heißt, sie werden kaum det der Bildungsgipfel statt. Das ist der richtige Zeit-
zum Aufwuchs beitragen. Das Problem ist natürlich, punkt, um über Bildung zu sprechen und an die Fakten
dass der Bund daran eine Mitschuld trägt. Wenn man zu erinnern.
wie die FDP und die CDU Steuergeschenke an die Hote-
liers verteilt, dann muss man sich nicht wundern, wenn Fakt ist, dass mit dem großen Einsparungspaket der
die Länder Stipendienprogramme und BAföG-Erhöhun- Bundesregierung in nahezu jedem Bereich gekürzt wer-
gen im Bundesrat blockieren, weil sie das notwendige den muss, um dieses Land aus der Verschuldungsfalle
Geld für die Komplementärfinanzierung nicht aufbrin- herauszuführen, nur in einem Bereich nicht, bei Bildung
gen können. Deshalb ist es wichtig, dass die Steuerbasis und Forschung. Im Gegenteil, dort wird Geld draufge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4611
Michael Kretschmer
(A) legt. Das ist ein klares Bekenntnis dieser Koalition zur Wir müssen Bundesforschungsministerin Annette Schavan (C)
Zukunftsorientierung. Ich halte das für eine großartige sehr dankbar dafür sein, dass das gelungen ist.
Angelegenheit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP)

Fakt ist auch, dass der erste Bundeshaushalt der Bun- Bund und Länder werden heute gemeinsam vereinbaren,
desforschungsministerin Annette Schavan im Jahr 2006 dass es beim 10-Prozent-Ziel bleibt; Bildung und For-
ein Volumen von 8 Milliarden Euro hatte und wir in die- schung sind uns wichtig. Das ist doch eine große Ange-
sem Jahr über 11 Milliarden Euro verfügen können. Das legenheit, ein richtiger Weg. Der zentrale Punkt ist nicht,
sind 3 Milliarden Euro mehr in vier Jahren. Dies ist ein ob das Ziel wie vorgesehen erreicht wird oder ein oder
gewaltiger Aufwuchs, der zeigt, wie ernst es uns ist. Wir zwei Jahre später.
heben die Mittel über die Jahre weiter an. (Dagmar Ziegler [SPD]: Oder 20 Jahre
später!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Der zentrale Punkt ist, dass Bund und Länder gemein-
Wir werden in den nächsten Jahren, bis 2013, 12 Milliar- sam an dem 10-Prozent-Ziel festhalten. Dieses Signal
den Euro zusätzlich für Bildung und Forschung ausgege- wird vom Bildungsgipfel ausgehen, der heute hier in
ben haben. Das ist mehr als der Aufwuchs, den Rot-Grün Berlin stattfindet.
in der gesamten Regierungszeit zustande gebracht hat.
Auch das ist ein Signal dafür, wie ernst es der Union mit Wir haben in den vergangenen Jahren mehrfach ge-
diesem Thema ist. zeigt, dass Bund und Länder gemeinsam handeln kön-
nen: beim Hochschulpakt, beim Pakt für Forschung und
(Beifall bei der CDU/CSU) Innovation und auch jetzt, bei der dritten Säule des
Hochschulpakts. Klar ist: Wir setzen in diesem Bereich
Angesichts der notwendigen Sparanstrengungen finde
Akzente und werden das auch in Zukunft tun.
ich es traurig, dass die Opposition Fundamentalkritik an-
bringt, um in die Zeitungen und ins Fernsehen zu kom- Ich will es einmal ganz deutlich sagen: Wenn das
men; das ist der Lage des Landes nicht angemessen. Ganze auf Pump finanziert wird, ergibt es ein Gebäude,
das nicht lange halten wird. Aus diesem Grund stehe ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ganz klar dazu, dass wir auf Bundesebene die Regeln so
Ich finde es richtig, dass wir über Fakten sprechen und fassen, dass wir mit dem vorhandenen Geld auskommen,
uns über Inhalte streiten; aber man muss die Realitäten auch kürzen, und die richtigen Prioritäten setzen. Wir
(B) in diesem Land anerkennen. Die Realitäten sind, dass müssen die entsprechende Diskussion auch in den Län- (D)
wir erstens aus der Verschuldungsfalle heraus müssen, dern führen. Ich lege ganz klar eine Priorität auf den Fö-
dass kein Weg an einer Konsolidierung des Haushaltes deralismus. Kollege Meinhardt, du hast es angespro-
vorbeiführt, und dass diese Regierung zweitens ganz chen. Ich möchte klar betonen: Der Freistaat Sachsen hat
klar auf Bildung und Forschung setzt. Sie sollten das an- nach der Wiedervereinigung im Bildungsbereich sehr
erkennen; zumindest wäre es redlich, das zu tun. stark vom Föderalismus profitiert. Unser Partnerland
war Baden-Württemberg, das von Brandenburg war
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nordrhein-Westfalen. Innerhalb von 15 Jahren ist es im
Bildungsniveau zu einem Unterschied von einem ganzen
Wir konzentrieren uns mit den Maßnahmen gerade Jahr gekommen: Ein Schüler in Sachsen hat gegenüber
bei der Bildung auf die Bereiche, von denen wir glauben, einem Schüler in Brandenburg einen Bildungsvorsprung
dass wir hier die stärkste Wirkung erzielen und am meis- von einem Jahr. Das ist das Ergebnis von unterschiedli-
ten zu sozialer Gerechtigkeit beitragen können, etwa cher Bildungspolitik.
auf den Bereich der frühkindlichen Bildung. Aus diesem
Grund haben wir gemeinsam mit den Ländern – Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Staatsminister Spaenle hat das eindrucksvoll vorgetra- Ich kann nur dafür werben, dass auch in Zukunft ein
gen – eine ganze Reihe von Punkten vereinbart, die der Wettbewerb um die besten Ideen möglich ist, aber dass
Bund in den nächsten Jahren angehen wird, um damit wir es gleichzeitig schaffen, gemeinsam zu handeln.
seinen Beitrag zu leisten. Deswegen sind solche Veranstaltungen wie der Bil-
In der Diskussion über den Bildungsgipfel kommt im- dungsgipfel wichtig, genauso wie die dort getroffenen
mer wieder die Frage auf, ob der Bund den Ländern gemeinsamen Vereinbarungen. Ich wünsche der Veran-
nicht mehr Geld zur Verfügung stellen müsse, damit das staltung heute Nachmittag viel Erfolg. Wir müssen es in
Ziel eines Anteils der Bildungsausgaben am Bruttoin- Zukunft schaffen, gemeinsam Prioritäten in diesem Be-
landsprodukt von 10 Prozent erreicht wird. Zunächst reich zu setzen und zusätzliches Geld in die Hand zu
einmal: Es ist eine große Leistung, dass es überhaupt ge- nehmen. Es ist für die Zukunft dieses Landes von exis-
lungen ist, das Thema Bildung auf drei Ministerpräsi- tenzieller Bedeutung, dass wir auf Bildung und For-
dentenkonferenzen hintereinander zu einem zentralen schung setzen. Nur so können wir den internationalen
Thema zu machen. Wettbewerb gewinnen.
Vielen Dank.
(Dagmar Ziegler [SPD]: Was nützt das denn
ohne Beschluss?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
4612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben. Vom Bildungsgipfel … müsse ein Signal der (C)
Das Wort hat nun Swen Schulz für die Fraktion der Geschlossenheit ausgehen … Angesichts von Wi-
SPD. derständen aus den Ländern erinnerte Schavan da-
ran, dass das 10-Prozent-Ziel gemeinsam vereinbart
(Beifall bei der SPD) wurde.

Swen Schulz (Spandau) (SPD): Wie soll das denn gehen? Sie haben den Ländern doch
das dafür notwendige Geld weggenommen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Bildung an einem kritischen Punkt angelangt. Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
bisherigen Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin waren
von den Ergebnissen her enttäuschend und schwach. Die Koalition hat den Bildungsgipfel durch eine unse-
Aber alle haben gesagt: Im Juni 2010 wird und muss die- riöse Haushalts- und Finanzpolitik an den Rand des
ser Gipfel erfolgreich sein. Scheiterns manövriert.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Heute Nachmittag ist der Bildungsgipfel. Er droht zu
Patrick Meinhardt [FDP]: Das waren die so-
scheitern. Das berühmte 10-Prozent-Ziel, also 10 Pro-
zialdemokratischen Länder!)
zent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und For-
schung zu investieren, droht auf den Sankt-Nimmer- Das haben wir immer gesagt, auch hier im Deutschen
leins-Tag verschoben zu werden. Die Rede von Minister Bundestag. Wir haben vor den Folgen dieser Haushalts-
Spaenle hat mich nicht optimistischer gestimmt. Er hat und Finanzpolitik gewarnt. Aber wo war Frau Schavan
erklärt, das 10-Prozent-Ziel solle festgeschrieben wer- als Bildungsministerin mit Gesamtverantwortung? Wo
den, aber er sagte nicht, wann. Das ist ein entscheidender hat Frau Schavan im Kabinett bei Finanzminister
Unterschied. Früher wurde immer von 2015 gesprochen. Schäuble, bei Bundeskanzlerin Merkel Einspruch gegen
diese Politik erhoben? Nichts kam.
Natürlich – das will ich fairerweise sagen – trägt die
Bundesregierung nicht alleine die Verantwortung dafür. Das Schlimme ist – das bringt einen fast zur Ver-
Es gibt da Kandidaten wie den hessischen Ministerpräsi- zweiflung –: Es geht so weiter.
denten Koch, der noch jede Möglichkeit genutzt hat, um
bei der Bildung zu kürzen und dem Bund Knüppel zwi- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
schen die Beine zu werfen. Aber die CDU/CSU und die Sie lernen nicht aus Ihren Fehlern. Im Zusammenhang
FDP hier im Deutschen Bundestag, so wie sie hier sit- mit dem von der Bundesregierung beschlossenen Spar-
(B) zen, tragen die Verantwortung für die desolate finan- paket brüsten Sie sich damit, Frau Schavan – auch der (D)
zielle Situation der Länder und Kommunen. Kollege Kretschmer hat das getan –, Ihr Haushalt bleibe
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unangetastet.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Er wächst
GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und sogar!)
der FDP – Patrick Meinhardt [FDP]: Nach elf
Jahren SPD-Regierung! – Zuruf von der CDU/ Doch durch das Sparpaket werden wieder einmal die
CSU: Das ist lächerlich!) Länder und Kommunen belastet. Wenn Sie mir nicht
glauben, dann glauben Sie vielleicht dem CDU-Minister
– Sie sagen, das sei lächerlich. Ich will an das soge- Laumann aus Nordrhein-Westfalen. Er hat – die entspre-
nannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz erinnern: Mil- chende Pressemeldung liegt mir vor – vor „Belastungen
liardengeschenke für Hoteliers und andere zulasten von der Länder und Kommunen durch das Sparpaket des
Ländern und Kommunen. Bundes“ mit den absehbaren Konsequenzen für Bildung
in den Ländern und in den Kommunen gewarnt. Das ist
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
keine verantwortungsvolle Politik, Frau Schavan.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Patrick Meinhardt [FDP]: Heuche- (Beifall bei der SPD)
lei!)
Das Problem ist, dass sich Frau Schavan immer dann,
Das ist der Hintergrund für die kritische Haltung der wenn es ernst wird, wegduckt.
Länder mit Blick auf den Bildungsgipfel. Die Länder sa-
gen: Wir würden gerne mehr in Bildung und Forschung (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
investieren. Aber es geht nicht; uns fehlt das Geld. Das gilt auch bei den Themen „Föderalismus“ und „Ko-
Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan, ich kann Sie operationsverbot von Bund und Ländern“, das im
auch an Ihrem Geburtstag nicht vor Kritik bewahren. Es Grundgesetz festgeschrieben ist. Frau Schavan, Sie tin-
klingt nachgerade wie Hohn, wenn Sie im Morgenmaga- geln durch die Lande und sagen in jedem Interview: Das
zin der ARD – das entnehme ich einer entsprechenden Grundgesetz muss geändert werden. Eine Kooperation
Meldung – erklären, dass Sie trotz des allgemeinen zwischen Bund und Ländern muss ermöglicht wer-
Sparzwangs an dem Ziel festhalten, den. – Ich habe Ihnen im März hier im Deutschen Bun-
destag angeboten – Sie sind nicht nur Ministerin, son-
die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 dern auch Mitglied des Deutschen Bundestages –:
auf 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuhe- Lassen Sie uns gemeinsam eine überparteiliche Initiative
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4613
Swen Schulz (Spandau)
(A) zur Änderung des Grundgesetzes ergreifen. Ich habe Ih- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): (C)
nen das auch schriftlich zukommen lassen. Ihre Antwort, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
die irgendwann kam, hat deutlich gemacht, dass Sie Kollegen! Meine Damen und Herren von der Opposi-
nichts unternehmen wollen. Viel reden, wenig handeln – tion, es überrascht mich immer wieder, wenn ich Ihre
das ist das Motto Ihrer Regierungszeit, Frau Schavan. Anträge lese, wie viel Sie vorgeben, von guter Bildungs-
politik zu verstehen, und mit wie vielen guten Ratschlä-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Sie immer kommen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Patrick Meinhardt [FDP]: Das überrascht uns
Aber ich will fair bleiben: Es gibt durchaus einige alle!)
Aktivitäten der Regierungskoalition. Doch leider sind
sie durch Mutlosigkeit, Halbherzigkeit und – auch das Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass gerade Sie
muss gesagt werden – durch Stümperei gekennzeichnet. uns erzählen wollen, wie gute Bildungspolitik aussieht.
Ich will zwei der aktuellsten Beispiele herausgreifen: Egal welche seriöse wissenschaftliche Untersuchung zu
BAföG-Novelle und nationales Stipendienprogramm. den Ergebnissen von Bildungs- und Forschungspolitik
Wir befinden uns hier in einem laufenden Gesetzge- ich mir ansehe: Im Vergleich aller deutschen Bundeslän-
bungsverfahren. In dieser Woche hatten wir jeweils eine der kommen immer wieder gerade die Länder, die von
Sachverständigenanhörung zu diesen Themen. SPD, Grünen und Linken regiert werden, besonders
schlecht weg.
Beim Thema BAföG haben alle Sachverständigen
durch die Bank weg die Haltung der SPD unterstützt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nehmen wir nur den aktuellen Ländercheck des Stifter-
(Patrick Meinhardt [FDP]: Sie waren auf der
verbandes für die Deutsche Wissenschaft. Brandenburg,
falschen Veranstaltung!)
wo ich wohne und das seit 20 Jahren von der SPD regiert
Sie haben gesagt: Die BAföG-Novelle geht zwar in die wird, gehört „bundesweit zu den Schlusslichtern in Sa-
richtige Richtung; aber hier wird zu kurz gesprungen. chen Forschung“, und auch die Hochschulen schnitten
Was Sie anbieten, ist zu wenig. Die Anhörung zum „eher mäßig“ ab – Zitat Märkische Allgemeine vom
Thema „nationales Stipendienprogramm“ ist für Sie 9. Juni 2010.
nachgerade peinlich verlaufen. Es war ein Desaster für (Dagmar Ziegler [SPD]: Sie wissen doch auch,
die Regierungskoalition. warum!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Und Sie wollen uns etwas von guter Bildungspolitik er-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE zählen?
(B) GRÜNEN – Patrick Meinhardt [FDP]: Sie le- (D)
ben in einer Fantasiewelt!) Keine andere Bundesregierung hat so viel für bessere
Bildungs- und Forschungspolitik getan und wird so viel
Der Gesetzentwurf ist von den Sachverständigen in der dafür tun wie die jetzige. Nehmen wir als Beispiel die
Luft zerrissen worden. Ich will jetzt nicht in den Sprach- Weiterentwicklung der Bologna-Reform. Heute werden
gebrauch abdriften, der derzeit in der Koalition gepflegt wir mit den Ländern ein Programm für bessere Studien-
wird, und von Gurkentruppe und Wildsäuen sprechen; bedingungen und mehr Qualität in der Lehre beraten.
aber was Sie im Bereich Bildung abliefern, haben die Wir werden in den nächsten Jahren insgesamt 2 Milliar-
Bürgerinnen und Bürger wirklich nicht verdient. Das den Euro für eine verbesserte Hochschullehre investie-
muss anders werden. ren.
Die SPD hat einen Antrag zum Bildungsgipfel vorge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
legt. Es ist ein durchdachtes Konzept. Auch ein Finan- der CDU/CSU)
zierungskonzept ist dabei, das den Ländern und den
Dies war ein wichtiges Ergebnis der nationalen Bologna-
Kommunen erlaubt, jenseits aller parteipolitischen Strei-
Konferenz im vergangenen Monat. Nun mag der eine
tereien und unterschiedlichen Auffassungen in Bildung
oder andere sagen, dass 2 Milliarden Euro zu wenig
zu investieren. Das Scheitern des Bildungsgipfels, wie es
seien. Aber es ist ein Anfang und ein wichtiger Schritt
sich abzeichnet, wäre für die Bürgerinnen und Bürger
auf dem Weg Deutschlands zur Bildungsrepublik.
ein Desaster. Machen Sie es endlich durch eine vernünf-
tige Politik möglich, damit der Bildungsgipfel doch noch Meine Damen und Herren von der SPD und den Grü-
ein Erfolg wird. nen, Sie sind Ihrer Verantwortung damals nicht gerecht
geworden und kommen heute mit erhobenem Zeigefin-
Herzlichen Dank. ger.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das mag Ihrer Oppositionsrolle geschuldet sein – das
verstehe ich –, ist aus meiner Sicht aber völlig unnötig.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Heute nämlich wird der Bund seiner Verantwortung ge-
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak- recht.
tion.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fordern immer wieder – wenigstens da sind Sie sich ei-
4614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) nig – die Abschaffung von Studienbeiträgen. Mittler- sieht, muss auch die dazugehörige Verantwortung über- (C)
weile fließen mehr als 1,2 Milliarden Euro aus Erlösen nehmen und das dafür erforderliche Geld in die Hand
der Studienbeiträge in die Hochschullehre. Diese Ein- nehmen. Wenn ich zum Beispiel sehe, wie viele Bundes-
nahmen decken bundesweit mehr als ein Drittel der Kos- mittel aus dem Hochschulpakt nach Brandenburg flie-
ten zusätzlicher Hochschulinvestitionen. ßen, wodurch massiv Studierende ins Land gelockt wer-
den, dort aber nicht gleichzeitig in entsprechendem
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Maße eigene Investitionen mit dem Ziel des Ausbaus der
Das macht es nicht besser!)
Kapazitäten getätigt werden, dann ärgert mich das maß-
Hochschulen im Verantwortungsbereich liberaler Minis- los.
ter konnten dadurch bemerkenswerte Verbesserungen er-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zielen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nur ganz kurz zum sogenannten Bildungsstreik. Die
der CDU/CSU) Koalition hat in der Vergangenheit die Kritik der strei-
kenden Studierenden wirklich ernst genommen. Wir ha-
Sie wollen allen Hochschulen diese Einnahmequelle ben dies auch durch konkretes Handeln bewiesen:
streitig machen, ohne uns die Frage zu beantworten, wie BAföG-Novellierung, nationales Stipendienprogramm
die zu erwartenden Einnahmeverluste für die Hochschu- und der „Qualitätspakt Lehre“ sind wichtige Ergebnisse
len aufgefangen werden sollen. Auch das Deutsche Stu- der nationalen Bologna-Konferenz.
dentenwerk bestätigt, dass Studienbeiträge
Die heutige Bund-Länder-Konferenz ist die Chance
(Dagmar Ziegler [SPD]: Gebühren!) gerade für die von SPD, Linken und Grünen regierten
durchaus zielgerichtet eingesetzt werden und eine erheb- Länder, den blumigen Worten ihrer Genossen und Par-
liche positive Wirkung in den Hochschulen entfalten. teifreunde im Bundestag endlich auch Taten folgen zu
lassen und entsprechende eigene Anstrengungen auf
An dieser Stelle nenne ich auch das nationale Stipen- dem Weg zur Bildungsrepublik Deutschland zu unter-
dienprogramm. Der Deutsche Hochschulverband sieht nehmen. Der Bund jedenfalls wird seinen Beitrag leis-
in seiner Pressemeldung vom 8. Juni 2010 „Deutschland ten.
endlich auf dem richtigen Weg“. Er bezeichnet dieses
Vorhaben als „ein hervorragendes Projekt, dessen Vor- Ich bedanke mich.
teile bislang nicht ausreichend erkannt“ wurden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) der CDU/CSU – Patrick Meinhardt [FDP]: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D)
Recht hat der Hochschulverband!) Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Ein Experte sprach in der Anhörung in dieser Woche von Linke.
einem genialen Gesetz; Sie haben es gehört. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD –
Patrick Meinhardt [FDP]: Das ist die Trend- Nicole Gohlke (DIE LINKE):
wende! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das war ironisch gemeint!) Über eine viertel Million Menschen streikten und de-
Ein weiterer sprach von einem großen Wurf in der Stu- monstrierten im Juni 2009 für bessere Bildung.
dienfinanzierung.
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: So kann man LINKE])
mit Sachverständigen nicht umgehen!)
Ihr Slogan war damals: Geld für Bildung statt für Ban-
Wenn das Gesetz keinen Erfolg habe, koste es den Steu- ken. Sie wehrten sich dagegen, dass ein milliarden-
erzahler auch nichts. – Sie sehen, die Experten begrüßen schweres Rettungspaket für Banken über Nacht ermög-
auch diesen Schritt der Koalition auf dem Weg zur Bil- licht wurde, gleichzeitig aber angeblich kein Geld für
dungsrepublik. Bildung da war. Ein Jahr später: Wieder werden Ret-
tungspakete im Umfang von mehreren Hundert Milliar-
Das ständige Gegeneinanderausspielen bei der
den Euro geschnürt, diesmal für verschuldete Euro-Län-
BAföG-Erhöhung ist sehr durchsichtig und unsinnig.
der. Aber nicht etwa, dass die Bevölkerung der in Not
Mit dem nationalen Stipendienprogramm werden neue
geratenen Staaten etwas davon hat; nein, das Geld fließt
Mittelgeber akquiriert und damit zusätzliches Geld für
wieder an die Banken, bei denen sich die Staaten ver-
Bildung zur Verfügung gestellt. Das Hemmnis für eine
schuldet haben.
Inanspruchnahme des BAföG, die Verschuldung, gibt es
dann gar nicht erst. Gestern waren erneut 70 000 Schülerinnen und Schü-
ler, Studierende, Auszubildende, Eltern und Lehrkräfte
(Willi Brase [SPD]: Sie waren doch bei der
auf der Straße, weil die Gründe für die Proteste auch ein
Anhörung!)
Jahr später nicht aus der Welt sind. Im Gegenteil: Sie ha-
Ich erwarte, dass auch die Länder ihre Hausaufgaben ben sich sogar noch verschärft. Zwar versprechen die
machen. Wer die Zuständigkeit für die Bildung bei sich Bundesregierung und Frau Schavan, dass die Bildung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4615
Nicole Gohlke
(A) der einzige Bereich sei, der von ihren rigiden Sparplä- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C)
nen ausgenommen werden soll. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
Es könnten sehr viele Lehrkräfte eingestellt werden,
Dabei scheint die Regierung jedoch zu vergessen, dass ohne dass bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst
die Finanzierung der Bildungsprojekte alles andere als oder den Hartz-IV-Bezieherinnen und -Beziehern ge-
sicher ist. Nahezu alle Projekte sind Bund-Länder-Pro- kürzt werden muss. Ich denke, Ihr Versuch, die Betroffe-
gramme, und die Länder sind – übrigens auch dank der nen mit der Gegenüberstellung „Bildung oder Sozialleis-
Schuldenbremse der Großen Koalition – quasi pleite. tungen“ gegeneinander auszuspielen, wird scheitern.
Während Sie von sicheren Bildungsinvestitionen reden,
haben viele Länder bereits den Rotstift gezückt. In Hes- Vielen Dank.
sen sollen die Hochschulen 30 Millionen Euro einspa- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
ren. In Bayern, Herr Spaenle, wurden die Zuschüsse für neten der SPD)
die Studentenwerke um ein Drittel gekürzt. Die Univer-
sität Lübeck steht vor der Schließung. In Sachsen ist
trotz steigender Schülerzahlen mittelfristig der Abbau Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
von 4 500 Lehrerstellen geplant. In NRW gibt es in die- Das Wort hat nun Kollegin Monika Grütters für die
sem Jahr 7 600 Ausbildungsplätze weniger als im Jahr CDU/CSU-Fraktion.
zuvor. Selbst die Minierhöhung des BAföG um 2 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
zent scheint den Ländern zu viel. – Das ist die Realität in neten der FDP)
diesem Land. Das, Herr Meinhardt, ist die Bildungsfrei-
heit vor Ort, die Sie so preisen.
Monika Grütters (CDU/CSU):
Die Regierung hat versprochen, in den nächsten Jah- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche
ren 12 Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und For- Debatten hier haben rituellen Charakter. Bei der Bildung
schung zu investieren. Schauen wir uns das einmal ge- läuft das immer so: da Bildungsgipfel, dort Bildungs-
nauer an. 12 Milliarden Euro in vier Jahren, das macht streik, hier Bildungsdebatte. Machen wir also das Beste
3 Milliarden Euro pro Jahr. Die Hälfte davon fließt aller- daraus; das haben wir ja schon öfter getan. Schließlich
dings in die Forschung und nicht zusätzlich in die Bil- hat für uns die Bildung – das hat nicht zuletzt die
dung. Die Wahrheit ist, dass dank des Kooperationsver- Sparklausur erwiesen – tatsächlich die höchste Priorität,
botes von diesem Geld keine einzige Lehrkraft, keine und zwar nicht nur in großen Reden.
(B) einzige Betreuungskraft neu eingestellt werden wird. Im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(D)
Gegenteil: Bei denen, die das Geld am nötigsten brau-
chen, kommt kaum etwas an. An den Hochschulen sol- Deshalb ist für uns bei dem heutigen Treffen der Kanzle-
len mit dem nationalen Stipendienprogramm nur die rin mit den Ministerpräsidenten vor allen Dingen eine
vermeintlich besten Studierenden, mit der Exzellenzini- Botschaft wichtig. Diese heißt: Das 10-Prozent-Ziel
tiative nur die vermeintlich besten Hochschulen unter- steht.
stützt werden. Die chronische Unterfinanzierung besteht
allerdings weiter. Dafür tragen Sie die Verantwortung, da (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
Sie die Haushalte der Länder in Not gebracht haben und GRÜNEN]: Aber bis wann?)
sich selbst mit dem völlig absurden Kooperationsverbot
Ich bin Minister Spaenle dankbar, dass er das hier betont
die Möglichkeit genommen haben, einzugreifen.
hat. Herr Schulz, von einem Minister aus einem von Ih-
Wenn Sie jetzt betonen, dass Schülerinnen und Schü- rer Partei regierten Land habe ich ein solches Statement
ler sowie Studierende von den Sparplänen ausgenom- hier so jedenfalls noch nicht gehört.
men sind, und damit letztlich Ihre brutalen Kürzungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst, bei den
Arbeitslosen und bei den Familien rechtfertigen, dann ist Die 12 Milliarden Euro, die wir zusätzlich für Bil-
das einfach nur zynisch. dung und Forschung ausgeben, müssen natürlich durch
einen Beitrag der Länder ergänzt werden. Wir alle wis-
(Beifall bei der LINKEN) sen, wie es um die Finanzen der Länder steht. Wir alle
wissen, wie wichtig aufgrund der schwierigen föderalis-
Wenn Sie wirklich nicht wissen, woher Sie mehr Geld tischen Situation der enorme Beitrag des Bundes ist.
für Bildung bekommen können, habe ich ein paar Vor- Noch nie, Herr Schulz, ist ein Etat in der Bundesrepublik
schläge für Sie. In Würzburg gibt es den berühmten so stark gestiegen wie dieser, und das sogar vor dem
Aldi-Süd-Hörsaal. Diese Spende von Aldi wird als sehr Hintergrund dieser Einsparungen. Der Schwerpunkt Bil-
großzügiger und mildtätiger Akt gepriesen. Aber wuss- dung war für diese Legislaturperiode verabredet und
ten Sie, dass die beiden Aldi-Brüder zusammen ein Ver- wird eingehalten, auch und gerade in der Finanzkrise.
mögen von über 32 Milliarden Euro haben? Das sind nur
zwei von vielen Milliardären in Deutschland. Ich sage Ihnen, Herr Schulz, will ich sagen – wir beide kom-
Ihnen: Mit einer ordentlichen Vermögensteuer könnten men aus Berlin –: Hier in Berlin wird im Vergleich zu
noch sehr viele Hörsäle gebaut und instand gesetzt wer- den anderen Bundesländern das meiste Geld pro Kopf
den. der Schüler in die Schulen gesteckt, nur mit einem fata-
4616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Monika Grütters
(A) len Ergebnis: Bei PISA landen Sie grundsätzlich und im- (Dagmar Ziegler [SPD]: Nein!) (C)
mer zielsicher auf Platz 16.
Das kann man ja verstehen. Ich glaube, keiner von uns,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) außer vielleicht den Linken, würde eine zentralistische
Bildungspolitik wollen. Da gäbe es einen Aufstand in
Machen Sie lieber Ihre Hausaufgaben und gewöhnen Sie der Republik. Ich finde, wir haben mit sehr guten Pakten
sich eine Perspektive an, die nicht „arm, aber sexy“, son- und Einzelinstrumenten – ich habe sie gerade erwähnt –
dern „arm, aber schlau“ heißt. eine sehr gute Umgehungsstraße um das Kooperations-
verbot gebaut. Die einzelnen Komponenten werden mit
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und den Ländern immer vernünftig vereinbart. Frau Ministe-
der FDP) rin Schavan hat ihren Stil, mit Entschiedenheit und Res-
pekt mit den Ländern umzugehen. All diese Instrumente
Herr Rossmann war für den Antrag, den wir heute
hat es in keiner vorigen Regierung, sondern nur unter ih-
auch debattieren, federführend verantwortlich. Ich finde
rer Verantwortung gegeben.
es gut, Herr Rossmann, dass Sie auch die Leistungen der
ehemaligen und der jetzigen Bundesregierung in der Bil- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
dungspolitik anerkennen. Ansonsten finde ich Ihren Na-
tionalen Bildungspakt etwas schwammig. Frühkindliche Ich gebe zu: Gerade was den Föderalismus und das
Bildung, Schulen stärken, gehaltvolles Studium sichern, Kooperationsverbot angeht, unter dem wir alle eher lei-
das sind unser aller Ziele. Genauso steht es auch in der den, sollten Vorschläge zur Weiterentwicklung gerade
Koalitionsvereinbarung. Wie Sie wissen, ist – zusätzlich aus dem Bildungsbereich kommen. Wir sollten die Ko-
zu unseren finanziellen Anstrengungen – noch nie so operationsmöglichkeiten, wie ich finde, im Grundgesetz
viel in diesem Bereich getan worden. Frau Gohlke, ich sogar erweitern. Bisher steht da nur, dass Bund und Län-
darf daran erinnern: Trotz rückläufiger Schülerzahlen der die Zusammenarbeit im Bildungsbereich so gestal-
wird nicht weniger, sondern mehr Geld in die Bildung ten, dass es um die Feststellung der Leistungsfähigkeit
gesteckt. Früher hieß es immer: weniger Schüler, weni- geht. Ich fände es gut – das hat auch Frau Schavan im-
ger Geld. Jetzt ist das umgekehrt. Das sollten auch Sie mer wieder betont –, wenn die Leistungsfähigkeit unse-
nicht kleinreden. res Bildungssystems nicht nur gemeinsam festgestellt,
sondern auch gemeinsam sichergestellt würde.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Uns geht es um Teilhabe und Chancen durch Bil-
Zu diesem Zweck findet heute der Bildungsgipfel der
dung. Wenn Sie wissen wollen, was wir neben der enor-
(B) men Summe, die wir bereitstellen, tun, sage ich Ihnen: Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten statt. Ich (D)
kenne keinen Kanzler, der jedes Jahr solch einen Bil-
Wir sorgen für verpflichtende Sprachkurse, wir bauen
dungsgipfel durchgeführt hat, außer Angela Merkel.
die Zahl der Krippenplätze aus – wir haben gerade erst
den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz beschlos- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
sen –, und wir stärken die Hausaufgabenbetreuung, die Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sich an eine ganz bestimmte soziale Schicht richtet. Wir NEN]: Ja, ja! Wir könnten auch noch mehr
wollen der Armut nicht zuletzt mit solchen Instrumenten Bildungsgipfel machen! Aber das bringt
und ganz bewusst mit Bildung entgegenwirken. nichts! – Priska Hinz [Herborn] [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn dabei nichts
Nun zu den Hochschulen. Die anderen Anträge, die herauskommt, können sie sich noch zehn Jahre
heute auf der Tagesordnung stehen, haben wir schon im treffen! Das hilft ja nicht!)
Dezember letzten Jahres beraten. Dafür gibt es den
Hochschulpakt. Dafür gibt es die Exzellenzinitiative. – Noch einmal: Es ist das erste Mal, dass ein Kanzler
Dafür haben wir das BAföG erhöht. Dafür wird jetzt ein einmal im Jahr zu solchen Themen einen Gipfel durch-
Stipendienprogramm vorgeschlagen. Dafür stellt Frau führt. Da sehen Sie alle blasser aus als wir.
Schavan bzw. der Bund, der für die Lehre an den Hoch-
schulen am allerwenigsten zuständig ist, 2 Milliarden Zum Antrag der SPD kann ich nur sagen: Viel Neues
Euro zur Verfügung. Sie, Herr Rossmann, haben sich auf ist Ihnen nicht eingefallen. Es ist aber gut, dass die bis-
herigen Leistungen, wie Herr Rossmann geschrieben
den Wissenschaftsrat und einen Mehrbedarf in Höhe von
hat, zumindest anerkannt werden. Ich finde, Ihr Antrag
13 Milliarden Euro bezogen. Das ist gut und schön. Nur,
ist ein Schrei nach noch mehr Geld. Aber ich wieder-
bisher ist gar nichts passiert. Ich finde, es ist enorm, dass
hole: Dieser Etat war bei keiner vorigen Bundesregie-
der Bund, der für diesen Bereich am allerwenigsten zu-
rung besser ausgestattet. Keine Regierung, an der Sie be-
ständig ist, dafür 2 Milliarden Euro zur Verfügung stellt.
teiligt sind oder waren, hat jemals so viel Geld in die
Noch etwas, Herr Schulz: Wegducken sieht anders Bildung investiert wie wir.
aus. Damit bin ich beim berühmten Kooperationsver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bot. Frau Hein, Sie haben gesagt, es sei ein Flop. Ich
würde es anders formulieren und sagen: Ich finde, es ist Herr Rossmann, ich finde, Ihren Wunsch nach einem
in der Bildungspolitik in der Tat eine Krux, dass die Län- Nationalen Bildungspakt sollten Sie zunächst Ihren eige-
der auf ihre Bildungshoheit beharren, übrigens auch all nen fünf Bildungsministern vorlegen. Ich wäre gespannt,
die Länder, in denen Sie regieren. was aus deren Reihen dazu käme.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4617
Monika Grütters
(A) Das Bundesbildungsressort hat noch nie über ein so Wir müssen hier über Parteigrenzen hinweg einmal (C)
großes Budget verfügt. Ich finde, wir sollten gemeinsam reflektieren, was eigentlich passiert ist: Das ist ein Bun-
das Beste daraus machen und das nicht schlechtreden. desprogramm zur Förderung von Lehre, bei dem die
Länder keine finanzielle Zusicherung mehr machen.
Vielen Dank. Haben wir uns die Bund-Länder-Zusammenarbeit ei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gentlich so vorgestellt, dass es nicht einmal mehr eine
10-Prozent-Verpflichtung gibt, wie es sie beim Ganz-
tagsschulprogramm und bei anderen Programmen auch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gab?
Das Wort hat nun Ernst Dieter Rossmann für die
SPD-Fraktion. (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Was
sagen die SPD-Ministerpräsidenten dazu?)
(Beifall bei der SPD)
Ich werbe dafür, dass sich auch die Länder daran beteili-
gen müssen. Wenn sich die Länder weigern, sich mit ei-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): nem kleinen finanziellen Anteil zu beteiligen, dann ver-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bil- weigern sie sich eigentlich auch der Landeskompetenz.
dungsgipfel sind ja gut, aber sie müssen auch zu Ergeb-
nissen führen; denn sonst entlarvt sich dies natürlich als Den wirklichen kooperativen Föderalismus macht
ein PR-Instrument. Wir befinden uns dicht an der Kante. aus, dass Bund und Länder auch eine finanzielle Schick-
Auf dem ersten wurden große Versprechen gemacht, auf salsgemeinschaft sind. Deshalb habe ich nicht nur die
dem zweiten auch, und auf dem dritten wird es wieder kleine Freude, dass es heute eine konkrete Vereinbarung
bei Versprechen bleiben. Herr Dr. Spaenle, noch einmal gibt, sondern ich habe auch die Bedenken, dass es auf
zu sagen, dass man ein 10-Prozent-Ziel hat, ist nichts, diesem Weg so nicht weitergehen kann.
was die Welt noch bewegt, sondern bewegt würde sie, Das Zweite. Frau Grütters, Sie haben angesprochen,
wenn das damit unterlegt würde, wie man das erreichen dass in dem SPD-Vorschlag zu diesem Bildungsgipfel
will. heute nichts Konkretes stände.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Monika Grütters [CDU/CSU]: Nichts Neues!)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Ich will folgende Behauptung aufstellen: Die Bildungs-
gipfel der Zukunft werden nur dann gut sein, wenn auf
Unsere große Sorge ist, dass dies heute nicht damit un- ihnen jeweils ein konkretes Projekt Thema ist, das zwi-
(B) terlegt wird; aber wir warten ab. schen Bund und Ländern als Leuchtturm für eine Wei- (D)
Mein erster Punkt. Ich will gerne so fair sein, anzuer- terentwicklung verabredet wird. Dadurch, dass man
kennen, dass es bei diesem Bildungsgipfel heute ein 40 Seiten zu dem aufschreibt, was die Länder und der
konkretes Ergebnis in Bezug auf die Förderung guter Bund an kleinen Dingen tun wollen, wird weniger aus-
Lehre geben könnte, nämlich die Anerkennung der drit- gestrahlt, als wenn Sie sich zum Beispiel ein gemeinsa-
ten Säule an den Hochschulen. Frau Grütters, das Di- mes Bund-Länder-Programm für die Schulsozialarbeit
lemma ist aber, dass sich an dieser Stelle einmal mehr vorgenommen, dieses mit ausreichenden Mitteln ausge-
zeigt, dass wir zu spät kommen. Wir beide wissen, dass stattet und an der Schlüsselstelle – Entwicklung des
wir in der Großen Koalition 2005 in Ihrem schönen Lie- Schulwesens in Richtung einer integrativen, inklusiven
bermann-Haus einen Antrag auf Förderung guter Lehre und ganztägig lernenden und lebenden Schule – begrün-
an den Hochschulen erarbeiten wollten, Ihr Fraktions- det hätten. Das wäre ein Leuchtturm und einem Bil-
vorsitzender aber sagte: Der Bund hat bei der Lehre dungsgipfel angemessen gewesen. Leider ist dies nicht
nichts zu suchen. – Dadurch haben wir vier Jahre verlo- möglich gewesen. Das ist aber das, was in unserem An-
ren. trag steht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dieses Mal haben Sie es nicht geschafft. In Zukunft
DIE GRÜNEN – Monika Grütters [CDU/ muss auf einem Bildungsgipfel ein wirklicher Leucht-
CSU]: Ich bestreite das nicht!) turm erkennbar sein, durch den die Bildungslandschaft
mit verändert wird. Es gibt Beispiele dafür, zum Beispiel
Das muss man auch einmal sagen können, damit nicht das Ganztagsschulprogramm, für das 4 Milliarden Euro
noch einmal Jahre verloren gehen, weil man glaubt, man zur Verfügung gestellt wurden und das ausstrahlt, und
dürfe Bestimmtes nicht anpacken. Deshalb lautet die die Hochschulpakte, die ebenfalls ausstrahlen. Die zu-
erste Kritik, dass wir zu spät kommen. künftigen Bildungsgipfel brauchen solche Zuspitzungen;
denn sonst werden sie langweilig und auch in der Öffent-
Die zweite Kritik lautet: Für die Hochschulen wäre es lichkeit immer nur noch als Niederlagen begriffen.
gut, wenn wir uns ein bisschen mehr am Wissenschafts-
rat orientieren könnten, statt den Wissenschaftsrat damit Drittens. Durch diesen Bildungsgipfel wird natürlich
zu übertrumpfen, dass wir die Maßnahmen über zehn aufgezeigt, dass für die Bildung bei uns auch in der mitt-
Jahre strecken. Ich will aber gerne zugeben: Zehn Jahre leren Perspektive zu wenig finanzielle Mittel zur Verfü-
ist bei dem, was zwischen Bund und Ländern gefördert gung stehen. Deshalb sind die Länder der Meinung – das
wird, eine neue Qualität; denn an anderer Stelle haben ist schon von vielen Kollegen aus den verschiedensten
wir bisher keine Zusage über zehn Jahre. Fraktionen ausgeführt worden –, dass sie Bildungsfinan-
4618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) zierungsverluste erlitten haben. Deshalb fordern sie hö- habe: Niemand in Deutschland muss Angst haben, dass (C)
here Umsatzsteueranteile. der Bundestag schulgesetzliche Kompetenzen haben
wollte. Im föderativen Aufbau in Deutschland bleiben
Ich will für die SPD politisch auf einen Punkt auf- die schulgesetzlichen Kompetenzen bei den Ländern und
merksam machen. Ihre Philosophie ist, die Bildung da- damit nahe an den Menschen. Man fragt sich aber, wa-
rüber zu fördern, dass Sie die Haushalte und die Sozial- rum nicht auch im Schulbereich, wie es in Hochschule
ausgaben im Haushalt begrenzen. Sie wollen Armut über und Wissenschaft schon jetzt möglich ist – heute präsen-
Bildung verhindern. Dem steht aber eine Einsicht entge- tieren Sie einen weiteren Erfolg in diesem Bereich, näm-
gen, die sich in einem Satz ausdrücken lässt: Wo es Ar- lich die dritte Säule im Hochschulpakt –, eine Koopera-
mut gibt, kann Bildung nicht gedeihen. Deshalb kann tionsmöglichkeit von Bund und Länder eingeführt wird.
man die Sozialpolitik nicht gegen die Bildungspolitik
ausspielen, sondern beides ist wichtig. Ich komme auf einen konkreten Punkt zurück, Frau
Grütters, die Schulsozialarbeit. Die einen verweisen da-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem rauf, dass das Bundesjugendhilfegesetz schon jetzt ent-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sprechende Möglichkeiten bietet. Andere stellen dann
Es ist nicht richtig, von der sozialen Sicherheit zur Bil- fest, dass die Förderung einer bestimmten Schule aber
dung umzuverteilen. Bildung gedeiht besser ohne Ar- gar keine Sozialarbeit ist, sondern die Ganztagsschule
mut. Es ist wichtig, eine Umverteilung vom Reichtum unterstützt. Wäre es nicht absurd, wenn wir dort zu ähn-
zur Bildung vorzunehmen. lichen Abgrenzungsschwierigkeiten kommen wie wir es
in Bezug auf die Konjunktur erlebt haben, wo man ge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nau darauf achten musste, ob die energetische Sanierung
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der an Schulen einen Anteil von 49 Prozent oder 51 Prozent
LINKEN) hatte?
Darum geht es den Grünen mit dem Bildungssoli. Das
wollen wir mit dem Aufschlag auf die Reichensteuer und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie mit der Vermögensteuer. Wir müssen eine Umvertei- Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
lung weg von denen vornehmen, die keinerlei Sorge um
ihre Bildungschancen und die ihrer Kinder haben müs- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
sen, hin zu denjenigen, die in Armut leben und deshalb Deswegen ist als Geste Ihrerseits darüber nachzuden-
auch ihren Kindern keine Bildungschancen bieten kön- ken, ob Sie diese Kooperationsmöglichkeit, die sich in
nen. Das ist sowohl konzeptionell als auch politisch und der Wissenschaft so gedeihlich entwickelt hat, nicht
sozial der fundamentale Unterschied zu dem, was auch im Bereich Schule zulassen wollen. Auch das ist
(B) Schwarz-Gelb in diesem Parlament mit exekutiert. (D)
ein Wunsch für den heutigen Tag des Bildungsgipfels.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Danke schön.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dies wird umso wichtiger, weil von den B-Ländern, DIE GRÜNEN)
also den CDU/CSU- und FDP-regierten Ländern in
Deutschland, zum heutigen Bildungsgipfel in der Per- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
spektive etwas „Spektakuläres“ vorgeschlagen wird, um Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
es ironisch zu sagen. Herr Spaenle, man will das Ziel CSU-Fraktion.
halten. Fraglich ist aber, was Sie schon erreicht haben
und welche Ziele Sie noch setzen müssen. Sie wollen im (Beifall bei der CDU/CSU)
Dezember 2014 auf einer Konferenz Einzelheiten festle-
gen. Dazu kann ich nur sagen: Im Dezember 2014 ist al- Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
les zu spät. Wenn Sie das Ziel, ab 2015 die Ausgaben für Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-
Bildung und Forschung zu erhöhen, tatsächlich ernst neten! Sicherlich kann man sagen, Herr Rossman, das
nehmen, dann müssen Sie es schon im Dezember 2011 man zu spät kommt, aber die spannende Frage ist, wer
und im Dezember 2012 weiter angehen, um zu richtigen zu spät gekommen ist. Unter Rot-Grün hat es in der Bil-
Vereinbarungen und Überprüfungen zu kommen. Bis dungspolitik 1998 bis 2005 einen Aufwuchs um gerade
Dezember 2014 zu warten ist eine politische Lachnum- 1,2 Milliarden Euro gegeben.
mer.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der – Ja, natürlich. Lesen Sie doch die Haushaltszahlen
LINKEN) nach! Sie haben mit 6,5 Milliarden Euro angefangen und
mit 7,6 Milliarden Euro aufgehört. Das ist richtig. – In
Lassen Sie es sich heute noch einmal durch den Kopf ge- dieser Zeit haben Sie nur ein Prestigeobjekt fertig be-
hen, ob Sie wirklich mit einer solchen Position der CDU/ kommen, nämlich das Ganztagsschulprogramm. Ganz
CSU-geführten Länder in einen Bildungsgipfel gehen anders nach 2005: Es gab mit Ministerin Schavan einen
wollen. Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik der Bundes-
republik Deutschland.
Ein letzter Punkt, weil ich im Zusammenhang mit
dem Bildungsföderalismus Herrn Spaenle angesprochen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4619
Eckhardt Rehberg
(A) Wir haben von 2006 bis heute, bis 2010, eine Erhöhung Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss bewegen (C)
von fast 3 Milliarden Euro auf rund 11 Milliarden Euro sich zwischen 5 und 13 Prozent. Ich nenne jetzt einmal
vorgenommen. Das ist eine Steigerung um fast ein Drit- nur die Länder, die nicht am oberen Rand liegen: Das
tel in fünf Jahren. sind Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thürin-
gen, die vier Länder, die bei PISA ganz vorn stehen, zu-
Herr Rossmann, Sie haben gesagt, wir seien in einer
fällig unionsgeführte Länder mit kontinuierlicher Schul-
finanziellen Schicksalsgemeinschaft, und beklagen
politik und mit unterschiedlichen Schulsystemen. Bei
gleichzeitig, dass der Bund in einem Programm des drit-
den Ausgaben pro Schüler stehen diese vier Länder nicht
ten Paktes den Hochschulen nur einen Anteil von
unbedingt an der Spitze. Das zeigt, dass viel Geld nicht
10 Prozent abverlangt. Ich frage Sie: Welchen Einfluss
gleichzeitig gute Bildung bedeutet.
haben Sie als der verantwortliche Bildungspolitiker in
der SPD-Bundestagsfraktion auf Ihre Ministerpräsiden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten?
In Punkt 6 des Beschlussentwurfes der A-Länder für Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
den Bildungsgipfel, der in wenigen Stunden beginnt, Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
heißt es, dass die Erreichung des 10-Prozent-Zieles bis Kollegen Rossmann?
2015 mit den vorhandenen Ressourcen nicht sicherge-
stellt werden kann. Das heißt, die A-Länder stellen den Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
Zeitpunkt 2015 infrage. Gerne.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Es geht noch weiter. Ich finde es fatal, was hier in den
Bitte schön.
letzten Tagen abgelaufen ist. Mich stellt auch das, was
von den B-Ländern im Beschlussentwurf steht, nicht im-
mer zufrieden. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Herr Rehberg, Sie haben unsere gemeinsame Sorge
(Dagmar Ziegler [SPD]: Also!) angesichts von 80 000 jungen Menschen ohne Schulab-
Aber was die A-Länder in Punkt 7 machen, ist ein reines schluss und vielen Hunderttausend Menschen ohne ab-
Geschacher um Mehrwertsteuerpunkte. geschlossene Berufsausbildung angesprochen. Deshalb
stellt sich für uns die Frage, ob Sie garantieren können,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass das Bundesinstrumentarium, durch das bisher im
Wir stehen in der Bildungspolitik vor verschiedenen Rahmen von Arbeitsförderungsgesetzen die Nachholung
(B)
Herauforderungen: erstens die demografische Ent- des Hauptschulabschlusses gefördert wurde, beibehal- (D)
wicklung; zweitens insbesondere in den neuen Bundes- ten wird. Denn sonst besteht nicht nur die von Ihnen auf-
ländern eine verschärfte Situation. In Mecklenburg-Vor- gezeigte Kritik vonseiten des Bundes gegenüber den
pommern scheiden jeden Monat 1 400 Beschäftigte aus Ländern, von denen der Bund mehr erwartet, sondern es
Altersgründen aus dem Arbeitsleben aus, ca. 16 000 im besteht auch Kritik in diesem Hause, weil wir die Sorge
Jahr. Die Zahl der Schulabgänger in den nächsten Jahren haben, dass im Rahmen dessen, was Sie als Ihr Sparkon-
liegt zwischen 9 000 und 12 000 pro Jahr. Das zeigt, dass zept vorgestellt haben, dieses Bundesinstrumentarium
das Thema Bildung die eigentliche soziale Frage des angegriffen werden könnte. Es wäre hilfreich, wenn Sie
21. Jahrhunderts ist. jetzt ein Wort dazu sagen könnten, ob es unter Ihrer Ver-
antwortung erhalten bleibt, und zwar in dem Rahmen,
(Dagmar Ziegler [SPD]: Das stimmt!) den wir uns in der Großen Koalition mühsam erarbeitet
Wenn wir – dafür steht der Bund – in Zukunft keinen haben.
Fachkräftemangel wollen, dann müssen wir bei der früh- (Beifall bei der SPD)
kindlichen Bildung, der Berufsorientierung und der
Hilfe für benachteiligte Jugendliche ansetzen.
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
Ein Blick auf den Aufwuchs der Bildungsausgaben Herr Rossmann, die Bundesregierung hat ein Eck-
zwischen den Jahren 2006 und 2008, wo die Steuerein- punktepapier zum Haushalt 2011 und zur mittelfristigen
nahmen auch für die Länder stark geflossen sind, zeigt: Finanzplanung für die nächsten Jahre vorgelegt. Am
Der Bund hat massiv aufgestockt, die Länder hingegen 7. Juli dieses Jahres wird es einen Regierungsentwurf
waren sehr verhalten. Diejenigen Länder, die nicht er- zum Haushalt 2011 geben, und im September beginnen
kennen, dass in die Bildung investiert werden muss, wer- wir mit den Haushaltsberatungen. Dann wird Ende No-
den ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung nicht ge- vember/Anfang Dezember der Haushalt hier im Deut-
recht. schen Bundestag verabschiedet. Da ich davon ausgehe,
dass der Vermittlungsausschuss an der einen oder ande-
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter
ren Stelle bemüht wird, kann ich Ihnen heute nicht sa-
Rossmann [SPD]: Wem sagen Sie das?)
gen, wie der Haushalt endgültig aussieht. Ich kann Ihnen
Einigen Ländern, liebe Kolleginnen und Kollegen ge- aber mit Sicherheit sagen, dass die Bundesregierung und
rade von der Opposition, scheint nicht aufzufallen, dass die Regierungsfraktionen – das war auch Gegenstand der
die Schulabbrecher- und Ausbildungsabbrecherquo- Gespräche am Wochenende – fest zur Erreichung des
ten zwischen 20 und 25 Prozent liegen. Die Zahlen der 10-Prozent-Ziels stehen und dass wir in dieser Legisla-
4620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Eckhardt Rehberg
(A) turperiode insgesamt 12 Milliarden Euro für Bildung Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der (C)
und Forschung mehr ausgeben werden, 400 Millionen Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1957 mit dem Titel
Euro für Bildung pro Jahr und 350 Millionen Euro für „Nationalen Bildungspakt für starke Bildungsinfrastruk-
die Forschung pro Jahr. Herr Rossmann, dies ist mehr als turen schaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
ehrgeizig. Insoweit habe ich überhaupt keine Sorge, dass stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
die Gruppen, die Sie angesprochen haben, nicht weiter- den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stim-
hin die Förderung erfahren, die sie bisher erfahren ha- men der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Die
ben. Es wird eher noch mehr sein. Linke und der Grünen abgelehnt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tagesordnungspunkt 4 b und Zusatzpunkt 2: Inter-
fraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Als Haushälter möchte ich noch eine Anmerkung zu Drucksachen 17/1984 und 17/1973 an die in der Tages-
dem Vorwurf unseriöser Haushaltspolitik machen. Wir ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
haben gemeinsam in der Großen Koalition Konjunktur- Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der
pakete geschnürt. Wir haben gemeinsam ein Bürgerent- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
lastungsgesetz auf den Weg gebracht. Wir haben – das
halte ich in gesellschaftspolitischer Hinsicht für hoch ver- Tagesordnungspunkt 4 c: Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
antwortlich – die Sozialbeiträge nicht erhöht, sondern der
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/1977.
Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
einen Zuschuss in Höhe von 17 Milliarden Euro gegeben, empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
insbesondere auch deswegen, weil das sozial gerecht ist, SPD auf Drucksache 17/109 mit dem Titel „Studienpakt
weil die oberen 10 Prozent der Steuerpflichtigen 60 Pro- für Qualität und gute Lehre jetzt durchsetzen“. Wer
zent und die unteren 50 Prozent der Steuerpflichtigen stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
nicht einmal 8 Prozent des Steuervolumens aufbringen dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
müssen, während man schon ab dem ersten Euro des ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und der Lin-
Bruttolohns Sozialabgaben zahlen muss. Zur Erinnerung ken gegen die Stimmen der SPD bei Stimmenthaltung
derjenigen, die uns unseriöse Haushaltspolitik vorwerfen: der Grünen angenommen.
Dieser Haushalt 2010 ist im Wesentlichen der Steinbrück-
Haushalt. Insoweit trifft der Vorwurf unseriöser Haus- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
haltspolitik die SPD selber. Wer mit einem Finger auf an- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
dere zeigt, auf den weisen vier Finger zurück. Die Linke auf Drucksache 17/119 mit dem Titel „Forde-
rungen aus dem Bildungsstreik aufnehmen und die so-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ziale Spaltung im Bildungssystem bekämpfen“. Wer
(B) ruf von der SPD: Drei!) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt (D)
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Eine Anmerkung zur Langzeitwirkung von Steuer- ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
politik. Mitte 2000 ist eine große Steuerreform von Rot- Fraktion Die Linke angenommen.
Grün auf den Weg gebracht worden. Dies hat bewirkt,
dass im Jahr 2001 die fehlenden Einnahmen aus der Kör- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
perschaftsteuer aus den Einnahmen der Lohnsteuer finan- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
ziert werden mussten, weil Sie die großen Unternehmen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/131
noch reicher gemacht haben, indem Sie die Veräußerung mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Bildungsstreik
von Kapitalbeteiligungen steuerlich freigestellt haben. ziehen – Bildungsaufbruch unverzüglich einleiten“. Wer
Das wirkt bis heute nach. Ihre Steuerpolitik hat im ersten stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
Jahr zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 24 Milliar- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
den Euro und im letzten Jahrzehnt zu Steuerminderein- ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und der Lin-
nahmen in Höhe von insgesamt 120 Milliarden Euro ge- ken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung
führt. Unter den Nachwirkungen leiden heute Länder und der SPD angenommen.
Kommunen nach wie vor. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 l sowie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Das Schmankerl dieser Geschichte ist: Die entscheiden-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
den Stimmen kamen von der PDS bzw. der Linken aus
derung des Grundgesetzes (Artikel 91 e)
Schwerin. Man hat sich mit fünf Ortsumgehungen kau-
fen lassen und hat dann Ja zu diesem Steuerreformpaket – Drucksache 17/1939 –
gesagt. Wer über die Finanzausstattung von Ländern und Überweisungsvorschlag:
Kommunen redet, der muss auch an den Sommer des Innenausschuss (f)
Jahres 2000 denken. Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Herzlichen Dank. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Technikfolgenabschätzung
Ich schließe die Aussprache. Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4621
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: (C)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
entwicklung der Organisation der Grund- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
sicherung für Arbeitsuchende Verbraucherschutz
– Drucksache 17/1940 – g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) derungsprotokoll vom 11. Dezember 2009 zum
Innenausschuss Abkommen vom 23. August 1958 zwischen der
Rechtsausschuss Bundesrepublik Deutschland und dem Groß-
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie herzogtum Luxemburg zur Vermeidung der
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Doppelbesteuerungen und über gegenseitige
Ausschuss für Gesundheit Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der
Ausschuss für Bildung, Forschung und Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
Technikfolgenabschätzung sowie der Gewerbesteuern und der Grund-
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
steuern
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 17/1943 –
gebrachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigsten
Überweisungsvorschlag:
Gesetzes zur Änderung des Bundesausbil- Finanzausschuss (f)
dungsförderungsgesetzes (23. BAföGÄndG) Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 17/1941 –
Überweisungsvorschlag: h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Ausschuss für Bildung, Forschung und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Technikfolgenabschätzung (f) kommen vom 13. Juli 2006 zwischen der Re-
Auswärtiger Ausschuss gierung der Bundesrepublik Deutschland und
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
der mazedonischen Regierung zur Vermei-
Ausschuss für Arbeit und Soziales dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Steuern vom Einkommen und vom Vermö-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
– Drucksache 17/1944 –
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaf- Finanzausschuss (f)
(B) fung eines nationalen Stipendienprogramms Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (D)
(Stipendienprogramm-Gesetz – StipG)
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
– Drucksache 17/1942 – Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33
Überweisungsvorschlag: des Gerichtsverfassungsgesetzes
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) – Drucksache 17/1462 –
Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bre-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- OSZE-Vorsitz für Reformen in Kasachstan
gebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- nutzen
und -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011
(BBVAnpG 2010/2011) – Drucksache 17/1432 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/1878 – Auswärtiger Ausschuss (f)
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Innenausschuss (f) k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales Behm, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Ab-
Verteidigungsausschuss geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend GRÜNEN
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Deklarationspflicht für Palmöl in Lebensmitteln
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 17/1780 –
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Überweisungsvorschlag:
Verwendung von Verwaltungsdaten für Wirt- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
schaftsstatistiken und zur Änderung von Sta- Verbraucherschutz (f)
tistikgesetzen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
– Drucksache 17/1899 – Entwicklung
4622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) l) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- Überweisungsvorschlag: (C)
desrechnungshofes Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Finanzausschuss
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsjahr 2009 Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Einzelplan 20 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
– Drucksache 17/1730 – Technikfolgenabschätzung
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
DIE GRÜNEN Abgeordneter und der Fraktion der SPD
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu- Hochwasserschutz europäisch und ökologisch
ropäischen Parlaments und des Rates betref- nachhaltig umsetzen – Für ein integriertes
fend die „Information der Verbraucher über Hochwasserschutzkonzept
Lebensmittel“
KOM(2008) 40 – Drucksache 17/1974 –
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gesetzes Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Lebensmittelinformation verbessern – Ver- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
bindliche Ampelkennzeichnung einführen
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
– Drucksache 17/1987 – ten Verfahren ohne Debatte.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
Verbraucherschutz (f) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
Ausschuss für Gesundheit überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
(B) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate (D)
Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy Ich komme nunmehr zu den Tagesordnungspunkten 33 a
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion bis 33 k sowie zu Zusatzpunkt 4. Es handelt sich um die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.
Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen
korrigieren – Pflicht zur Abmahnung einfüh- Tagesordnungspunkt 33 a:
ren
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
– Drucksache 17/1986 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Überweisungsvorschlag: über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) ERP-Sondervermögens für das Jahr 2010
Rechtsausschuss (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2010)
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
– Drucksache 17/1294 –
Anna Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
NIS 90/DIE GRÜNEN ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Unabhängige Patientenberatung ausbauen und schuss)
in die Regelversorgung überführen – Drucksache 17/1752 –
– Drucksache 17/1985 – Berichterstattung:
Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Dieter Jasper
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
Verbraucherschutz
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla sache 17/1752, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
Schmidt (Aachen), Heinz Paula, Sören Bartol, auf Drucksache 17/1294 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD gen, die dem Gesetz zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Potenziale von Kultur und Tourismus nutzen –
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Kulturtourismus gezielt fördern
Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der SPD an-
– Drucksache 17/1966 – genommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4623
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Dritte Beratung zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf (C)
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der Dritte Beratung
zweiten Beratung angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Tagesordnungspunkt 33 b: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes wurf ist einstimmig angenommen.
zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des Tagesordnungspunkt 33 d:
Übereinkommens vom 3. September 1976
über die Internationale Organisation für mo- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
bile Satellitenkommunikation (International gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Mobile Satellite Organization – IMSO) zu dem Abkommen vom 3. Dezember 2009
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
– Drucksache 17/1295 – und der Föderativen Republik Brasilien über
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Soziale Sicherheit
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- – Drucksache 17/1296 –
schuss)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/1753 – ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
Berichterstattung: – Drucksache 17/1805 –
Abgeordneter Dr. Herbert Schui
Berichterstattung:
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- Abgeordnete Jutta Krellmann
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1753, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
auf Drucksache 17/1295 anzunehmen. Ich bitte diejeni- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1805,
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
Handzeichen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – sache 17/1296 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
(B)
men des Hauses bei Stimmenthaltung der Linksfraktion chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- (D)
angenommen. setzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Dritte Beratung
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu- Enthaltungen? – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzent-
vor angenommen. wurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c: Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 e bis
33 k, zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
schusses.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungs- Tagesordnungspunkt 33 e:
rechts im Luftverkehr
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– Drucksache 17/1293 – ausschusses (2. Ausschuss)
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Sammelübersicht 90 zu Petitionen
schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 17/1771 –
– Drucksache 17/1836 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Berichterstattung: tungen? – Die Sammelübersicht 90 ist einstimmig ange-
Abgeordnete Ingo Wellenreuther nommen.
Sebastian Edathy
Marco Buschmann Tagesordnungspunkt 33 f:
Halina Wawzyniak Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Ingrid Hönlinger ausschusses (2. Ausschuss)
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Sammelübersicht 91 zu Petitionen
empfehlung auf Drucksache 17/1836, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1293 an- – Drucksache 17/1772 –
4624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (C)
tungen? – Die Sammelübersicht 91 ist ebenso einstim- tungen? – Die Sammelübersicht 93 ist gegen die Stim-
mig angenommen. men der Linksfraktion mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Nachdem wir nun über alle Sammelübersichten zu
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Petitionen abgestimmt haben, kommen wir zu einer wei-
ausschusses (2. Ausschuss)
teren abschließenden Beratung ohne Aussprache.
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
– Drucksache 17/1773 –
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
tungen? – Die Sammelübersicht 92 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-
Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. sungsgericht 2 BvR 1099/10

Tagesordnungspunkt 33 i: – Drucksache 17/1997 –

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Berichterstattung:


ausschusses (2. Ausschuss) Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen)
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
– Drucksache 17/1775 – empfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzuge-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Franz
tungen? – Die Sammelübersicht 94 ist mit den Stimmen Mayer mit der Prozessvertretung zu betrauen. Wer
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
Grünen und bei Stimmenthaltung der Linken angenom- sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
men. von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Lin-
ken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
(B) Sammelübersicht 95 zu Petitionen (D)
Schnellstmögliche Aufklärung des Angriffs
– Drucksache 17/1776 – des israelischen Militärs auf einen internatio-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- nalen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza
hält sich? – Die Sammelübersicht 95 ist mit den Stim- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
men von CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Jan van Aken von der Fraktion Die Linke das Wort.
SPD und der Grünen sowie Stimmenthaltung der Linken
angenommen. (Beifall bei der LINKEN)
Tagesordnungspunkt 33 k:
Jan van Aken (DIE LINKE):
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ausschusses (2. Ausschuss) ren! Ich bin heilfroh – das muss ich zunächst einmal sa-
Sammelübersicht 96 zu Petitionen gen –, dass unsere Kolleginnen und unsere Freunde, die
auf den Hilfsschiffen für Gaza waren, wieder heil zurück
– Drucksache 17/1777 – in Deutschland sind. Am Montag sind neun Menschen
erschossen worden. Unser Mitgefühl gehört ihren Ange-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
hörigen und Freunden.
tungen? – Die Sammelübersicht 96 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der drei Der Angriff auf die Schiffe war ein Verbrechen. Ein
Oppositionsfraktionen angenommen. griechischer Aktivist, der sich auf einem der Schiffe be-
fand, hat das sehr treffend und auch sehr einfach gesagt:
Mir wurde gerade gesagt, ich hätte bei der Abstim-
Dieses Meer ist frei. Seit 4 000 Jahren fahren wir auf
mung die Sammelübersicht 93 übersehen.
diesem Meer. Es ist ein Verbrechen, auf einem freien
(Zurufe von der SPD: Richtig!) Meer auf hoher See Schiffe zu entern, Menschen zu er-
schießen, zu verletzen und zu entführen. – Weil das eine
Ich rufe also noch den Tagesordnungspunkt 33 h auf:
Freiheitsberaubung und ein Kriegsverbrechen ist, haben
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- wir auch hier in Deutschland Strafanzeige gestellt.
ausschusses (2. Ausschuss)
(Beifall bei der LINKEN)
Sammelübersicht 93 zu Petitionen
Ich möchte heute aber vor allem nach vorne schauen
– Drucksache 17/1774 – und fragen: Was können wir jetzt tun, um das unendliche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4625
Jan van Aken
(A) Leid in Gaza zu beenden? Die Hilfsflotte hatte von vorn- leben können, sich frei bewegen können und auch selbst (C)
herein zwei Ziele. Einmal ging es um ganz praktische wirtschaften können.
Hilfe. Es ging darum, dringend benötigte Güter – Ze-
(Beifall bei der LINKEN)
ment, Rollstühle, Medikamente und Dachziegel – nach
Gaza zu bringen. An all dem mangelt es dort, weil Israel Dazu gehört natürlich auch eine Idee, wie man dann
seit Jahren rechtswidrig den Gazastreifen einschnürt, ab- die Sicherheit Israels garantieren kann. Niemand
riegelt und kaum noch etwas durchlässt. möchte, dass nach der Aufhebung der Blockade mit den
Transporten auch Waffen und Raketen nach Israel kom-
Die Hilfsflotte war aber auch eine politische Aktion.
men. Die Lösung ist ganz einfach. Da könnten doch
Die Welt sollte an das Leid in Gaza, an die menschliche
Kontrollen durch die Vereinten Nationen sein: Inspektio-
Tragödie, erinnert werden. Das ist ja eine der größten
nen auf jedem Schiff, das Gaza anläuft, durch unabhän-
humanitären Katastrophen unserer Zeit. Die Hilfsflotte
gige Kontrolleure. Dadurch kann verhindert werden,
wollte auf die illegale Blockade des Gazastreifens auf-
dass Waffen nach Gaza gelangen.
merksam machen. Israel blockiert fast alles – nicht nur
Waffen und Raketen, sondern auch Baumaterial für Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
Schulen und Häuser, lebensnotwendige Medikamente keine Waffen mehr exportieren sollte, auch nicht in den
und selbst das tägliche Brot. Nahen Osten.
60 Prozent der Menschen in Gaza können sich nicht (Beifall bei der LINKEN)
mehr selbst ernähren. Wenn sie Glück haben, dann be-
Deutschland verkauft FUCHS-Panzer in die Vereinig-
kommen sie Lebensmittelhilfe von den Vereinten Natio-
ten Arabischen Emirate, Sturmgewehre nach Saudi Ara-
nen. Wenn sie kein Glück haben, dann müssen sie hun-
bien und Kriegsschiffe nach Israel. Wie wollen Sie denn
gern. Die Vereinten Nationen berichten, dass unter den
Frieden im Nahen Osten schaffen, wenn Sie immer wie-
Kindern in Gaza Mangelernährung und Wachstumsstö-
der neue Waffen in die Region schicken? Wir sind dafür,
rungen weiter zunehmen. Zwei von drei Neugeborenen
dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportiert –
sind schon unterernährt und leiden an Blutarmut.
und schon gar nicht in den Nahen Osten.
Die Landwirtschaft in Gaza liegt völlig am Boden. Es
Ich danke Ihnen.
gibt nicht genügend Saatgut, keine Bewässerungsanla-
gen und kaum noch Land. Denn fast die Hälfte des (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
fruchtbaren Bodens kann zum Beispiel deshalb nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mehr beackert werden, weil er zur Schutzzone erklärt
wurde. Kein Bauer darf mehr auf das Land. Niemand Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) darf säen und ernten. Und am Ende hungern die Kinder Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die (D)
von Gaza. Das muss doch endlich ein Ende haben. CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU)
Genauso ist es mit der Fischerei. Man muss sich das
einmal vorstellen: Ein Land mit einem so langen Küsten- Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
streifen am Mittelmeer muss jetzt illegal Fisch importie- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
ren, der durch die Tunnel aus Ägypten kommt. Die eige- Uns alle haben die dramatischen Ereignisse der vergan-
nen Fischer dürfen nur noch drei Meilen weit genen Woche vor der Küste des Gazastreifens erschüttert
hinausfahren. Die guten Fanggründe sind viel weiter und mit tiefer Sorge erfüllt. Wir sind bestürzt über den
draußen. Verlust von Menschenleben; dazu hätte es nicht kommen
Die Lage in Gaza ist verzweifelt. Es liegt auch an uns, dürfen. Wir sind froh, dass die beteiligten Bundesbürger
und die beiden Kolleginnen der Linksfraktion wieder
das jetzt zu beenden. Ich freue mich, dass alle Parteien
im Bundestag hier einer Meinung sind. Aber jetzt müs- wohlbehalten in Deutschland sind. Die deutsche Bot-
sen wir auch etwas daraus machen. Die Bundesregierung schaft in Israel verdient für ihre erstklassige konsulari-
muss auch einmal die israelische Regierung drängen, sche Arbeit unser Lob und unsere Anerkennung.
endlich die Blockade vollständig aufzuheben und Trans- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
porte durchzulassen. bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Der Vorfall hat uns wieder einmal vor Augen geführt,
Im Moment ist die Regierung Netanjahu doch auf ei-
wie angespannt die Lage im Nahen Osten ist. Die Bun-
ner Art Kamikaze-Kurs. Die Blockade von Gaza stärkt
deskanzlerin hat zu Recht angemahnt, dass es in dieser
nur die Extremisten und die Feinde Israels. Der Angriff
schwierigen Situation zu keiner weiteren Eskalation kom-
auf die Schiffe hat Israel weltweit vollständig isoliert.
men darf. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Bundeskanzle-
Bei dem Versuch, Gaza zu erdrosseln, schnürt sich Israel
rin deshalb dankbar, dass sie mit ihren Gesprächen mit
im Moment selbst die Luft ab.
dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, dem tür-
Jetzt müssen wir gemeinsam mit unseren Nachbarn kischen Ministerpräsidenten Erdoğan und dem palästi-
bzw. mit der EU solange Druck auf Israel ausüben, bis nensischen Präsidenten Abbas einen wichtigen Beitrag
die Blockade endlich beendet wird, bis endlich die an- zur Beruhigung der Lage geleistet hat. Auch das belast-
derthalb Millionen Menschen in Gaza wieder in Würde bare Verhältnis von Bundesaußenminister Westerwelle
4626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Andreas Schockenhoff


(A) zu seinem israelischen Kollegen Lieberman ist in diesen (Zuruf der Abg. Inge Höger [DIE LINKE] – (C)
Tagen zum Tragen gekommen. Weitere Zurufe von der LINKEN)
Zur weiteren Entspannung der Situation brauchen wir Warum sind Sie nicht hellhörig geworden, als der Minis-
zweierlei: Erstens ist dies eine schnellstmögliche Auf- terpräsident der Hamas in Gaza, Ismail Hanija, schon
klärung der Vorkommnisse mittels einer umfassenden, vor der Aktion ihr mögliches Scheitern als „einen Sieg
transparenten und neutralen internationalen Untersu- für Gaza“ bezeichnet hat? Wieso wurden Sie nicht stut-
chung. Daran sollten Vertreter des Nahostquartetts betei- zig, als die Hamas die Annahme der Güter, die Israel von
ligt werden. Es ist gut, dass sich die Bundesregierung den Schiffen abgeladen und auf Lastwagen verfrachtet
hier um eine gemeinsame Haltung in der EU bemüht. hat, verweigerte?
Zweitens müssen wir den Friedensprozess voranbringen.
Die sogenannte Hilfsflotte war dazu sicherlich nicht för- Warum lassen Sie es unkommentiert, dass der Hamas
derlich. offensichtlich nicht an der humanitären Lage der Bevöl-
kerung im Gazastreifen gelegen ist und dass sie Lastwa-
(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Eine Provoka- gen mit Medikamenten, Nahrungsmitteln, Rollstühlen
tion!) und Kinderspielzeug am Grenzübergang Kerem Scha-
lom auf ihre Abfertigung warten lässt? Warum themati-
Eine Zwei-Staaten-Lösung bleibt das richtige Ziel. sieren Sie eigentlich nie die schweren Menschenrechts-
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Präsident Abbas die verletzungen unter der Herrschaft der Hamas? Die
indirekten Friedensgespräche mit Israel fortsetzen will. Antwort ist, dass es Ihnen weniger um die Menschen in
Es kann jedoch zu keinem dauerhaften Frieden kommen, Gaza geht als um Ihre Solidarität mit den islamistischen
wenn es keine Normalisierung der Beziehungen zwi- Extremisten der Hamas.
schen den verfeindeten Palästinensergruppen Hamas und
Fatah gibt. Hamas muss das Existenzrecht Israels end- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lich anerkennen. neten der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE]: So ein Unsinn! Schade, am Beginn
Ohne Frage ist die Blockade des Gazastreifens durch war Ihre Rede so vernünftig! – Weitere Zurufe
Israel für den Friedensprozess nicht hilfreich. Israel hat von der LINKEN)
ein legitimes Interesse daran, dass keine Waffen und Ra-
keten, die dann wieder auf israelische Städte abgefeuert Das haben Sie mit Ihrer einseitigen Parteinahme im Nah-
werden könnten, in den Gazastreifen geschmuggelt wer- ostkonflikt eindeutig unter Beweis gestellt.
den. Gleichzeitig aber ist die humanitäre Situation im
Gazastreifen unhaltbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Die Grenzen müssen für normale Hilfsgüter offen Das Wort hat nun Rolf Mützenich für die SPD-Frak-
sein. Beides muss sichergestellt werden: der Schutz der tion.
israelischen Bevölkerung vor Angriffen islamistischer
Extremisten und die Versorgung der Bevölkerung des (Beifall bei der SPD)
Gazastreifens. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die
Bemühungen der Bundesregierung, dies zu erreichen. Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Die EU ist mit ihrer Mission am Grenzpunkt Rafah Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zwischen dem Gazastreifen und Ägypten bereits vor Ort. Leider müssen wir erneut – dies war häufig im Hinblick
Es ist noch zu klären, inwieweit die Kontrolle der nach auf den Nahen Osten so – über einen traurigen, schmerz-
Gaza einfahrenden Schiffe durch die EU möglich ist. haften und weitreichenden Vorfall reden. Nachdem end-
lich indirekte Gespräche zwischen Israel und Palästina
Meine Damen und Herren, „eine einseitige Partei- unter Vermittlung der USA in Gang gekommen waren,
nahme in diesem Konflikt wird nicht zu seiner Lösung hat der Einsatz von Gewalt wieder vieles infrage gestellt.
beitragen“. So steht es im Positionspapier der Linken Ich sage von dieser Stelle aus eindeutig in Richtung Iran:
zum Nahostkonflikt vom 20. April dieses Jahres. Sicher- Wenn es, wie es der Iranische Rote Halbmond angekün-
lich steht die Verhältnismäßigkeit der israelischen Ak- digt hat, zu einem solchen Schiffskonvoi – unter Um-
tion in Zweifel. Die Linke muss sich aber fragen lassen, ständen mit Begleitung von Revolutionsgarden – kom-
ob sich ihre Abgeordneten als deutsche Volksvertreter men wird, trägt dies zu einer nachhaltigen Eskalation im
nicht vor den Karren der radikal-islamistischen Hamas Nahen und Mittleren Osten bei. Wir sagen klar: Dies leh-
haben spannen lassen. nen wir ab. Wir bitten, die Konsequenzen zu bedenken.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
neten der FDP) FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ging es Ihnen wirklich um die humanitäre Hilfe?
Wieso fanden Sie es nicht verwunderlich, dass die Orga- Herr van Aken, auch wir beklagen die Toten. Ich hätte
nisatoren der Flotte nicht bereit waren, die Güter im is- mir aber gewünscht, Sie hätten auch an die Verletzten
raelischen Hafen Aschdod zu löschen und sie von dort auf beiden Seiten erinnert. Auch dies gehört zur Realität
nach Gaza zu bringen? bei diesem schrecklichen Vorfall.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4627
Dr. Rolf Mützenich
(A) Ich weiß, vieles ist noch ungewiss. Aber schon heute sammenhang wieder eine Rolle spielen kann, kann mög- (C)
lässt sich sagen: Weder ist durch diesen Einsatz die Si- licherweise einen Weg auch für die israelische Regie-
cherheit Israels gestärkt noch ist die humanitäre Situa- rung bedeuten.
tion im Gazastreifen verbessert worden. Beides ist nicht
erreicht worden. Ich bedauere, dass die Menschen im Meine Damen und Herren, ich mache mir Sorgen
Gazastreifen, die so dringend Hilfe brauchen, wieder über die Rolle der Türkei, nicht so sehr deswegen, weil
zum Spielball aller Seiten in diesem Konflikt geworden das eine oder andere, was jetzt in der öffentlichen De-
sind. Ich hätte mir gewünscht, dass man, bevor man eine batte in der Türkei passiert, möglicherweise eine Rolle
solche Aktion unterstützt, die Konsequenzen bedacht spielt. Wir müssen aufpassen, dass wir von hier aus nicht
hätte. Sie waren vorhersehbar. die falschen Signale an die türkische Regierung geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Regierung Erdoğan hat eine Menge Positives für
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- das Verhältnis zu Israel getan. Dazu zählen die Einla-
SES 90/DIE GRÜNEN) dung des israelischen Präsidenten in das türkische Parla-
ment, aber auch die Vermittlungsbemühungen zu Syrien.
Meine Damen und Herren, der Einsatz des israeli- Das sollten wir weiter unterstützen; denn wir brauchen
schen Militärs war unverhältnismäßig und ist nicht zu die Türkei in der Bearbeitung des Nahostkonfliktes.
rechtfertigen. Dies haben wir von Anfang an gesagt. Ich
möchte in diesem Zusammenhang zwei Punkte anspre- Vielen Dank.
chen. Die israelische Regierung kann davon ausgehen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dass die Solidarität insbesondere von Deutschland ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
genüber Israel unteilbar ist. Aber sie muss über die Kon- CDU/CSU und der FDP)
sequenzen ihres Handelns nachdenken und sollte insbe-
sondere den Partnern den Spielraum für ihre Politik nicht
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
verengen. – Das ist die eine Seite.
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Stinner für die
Zum Zweiten müssen wir der israelischen Regierung FDP-Fraktion.
klarmachen, dass nicht jede Herausforderung von außen
mit Militär beantwortet werden kann und darf. Genau (Beifall bei der FDP)
das Gegenteil ist der Fall. Die israelische Regierung
muss die Politik befördern. Ich habe es schon einmal an Dr. Rainer Stinner (FDP):
anderer Stelle gesagt: Die Bundeskanzlerin hat die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Worte in Richtung Israel mit guten Absichten gewählt. große Mehrheit dieses Hauses eint das Grundverständ-
(B) Aber ich glaube, dass sie in der israelischen Regierung (D)
nis, dass wir als Deutsche eine besondere Verantwortung
missverstanden worden sind. Dies war kein Freifahr- insbesondere für die Sicherheit Israels und eine beson-
schein für eine unkluge Politik. Ich hätte mir gewünscht, dere Beziehung zu Israel haben.
man hätte stärker darauf hingewiesen, dass ein solches
Handeln wie jetzt vor der Küste des Gazastreifens nicht (Zuruf von der LINKEN: Für den Frieden!)
von uns durch solche Worte mit gedeckt ist. Ich bin der neuen Bundesregierung sehr dankbar da-
Wir vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion verlangen für, dass es ihr gelungen ist, sowohl zu Israel – bis vor
eine unabhängige, transparente und internationale Unter- einigen Jahren völlig unvorstellbar – eine tiefe Bezie-
suchung über den gesamten Verlauf der Aktion. Dies be- hung auf Regierungsebene aufzubauen, als auch Ähnli-
trifft sowohl die Vorbereitung der Aktion, die Einschif- ches in ebensolcher Qualität mit der Palästinenserseite
fung, die Fahrt, aber auch die Erstürmung durch zu tun. Das ist ein Fortschritt, und das wird unserer Rolle
israelisches Militär. Dies gehört zusammen; ich finde, als Vermittler durchaus gerecht.
das alles muss man sagen. Ich würde mir wünschen, dass Meine Damen und Herren, ich habe sehr großes Ver-
das von allen Seiten so gesehen wird. ständnis dafür, dass im Zentrum jeder israelischen Poli-
Die Abriegelung des Gazastreifens muss aufgehoben tik die Sicherheit stehen muss. Das ist völlig klar, wenn
werden. Wir müssen Israel klar sagen, dass die Abriege- man die Situation dort kennt. Ich sage aber auch sehr
lung das Gegenteil dessen bewirkt hat, was intendiert deutlich, dass es jedenfalls der gegenwärtigen Regierung
war. Man hat weder die Hamas geschwächt, noch hat Israels nicht gelingt, mir klarzumachen, dass jede ihrer
man offensichtlich den Waffenhandel in diesem Gebiet Handlungen langfristig im Interesse Israels ist.
unterbunden, noch hat man den Soldaten Schalit freibe- Gerade die enge Partnerschaft zu Israel verpflichtet
kommen. All das sind Dinge, die wir gegenüber Israel uns als Deutsche, dass wir nicht jede Handlung der je-
deutlich machen müssen. weiligen israelischen Regierung kritiklos hinnehmen.
Zum Schluss will ich sagen: Wir vonseiten des Deut- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
schen Bundestages, aber auch vonseiten der Bundesre-
gierung müssen alles dafür tun, dass UN-Hilfslieferun- Unsere Verantwortung als Freund und Unterstützer Is-
gen in den Gazastreifen zugelassen werden, ob über den raels ist es, in aller Offenheit mit Israel zu kommunizie-
Land- oder den Seeweg. Ich glaube, dass die Europäi- ren, aber auf der Basis einer völlig ungebrochenen und
sche Union einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann. selbstverständlichen Unterstützung, die wir diesem Land
Der Vorschlag, dass das Nahostquartett in diesem Zu- angedeihen lassen wollen.
4628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Rainer Stinner


(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die katastrophale humanitäre Lage treibt leider der (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hamas weitere Unterstützer zu. Das kann wirklich nicht
im Interesse Israels sein; denn die Hamas – wir wissen
Es sollte sich aber keiner der Illusion hingeben, dass das und sind uns darüber im Klaren – erkennt nach wie
auf diesen Schiffen nur wohlmeinende Pazifisten gewe- vor nicht das Recht Israels an, in Frieden und Freiheit zu
sen sind, denen allein an der Versorgung des Gazastrei- leben.
fens gelegen ist. Nein, nein, es gab natürlich noch jede
Menge andere Motive im Hintergrund. Natürlich wa- Was ist zu tun?
ren dort auch Leute beteiligt, deren Motivlage eindeu-
Erstens. Es muss eine internationale Untersuchung
tig – eindeutig! – gegen Israel gerichtet ist. Das muss
durchgeführt werden; ich habe dies bereits angespro-
man der Vollständigkeit halber zu diesem Fall natürlich
chen.
auch sagen.
Zweitens. Die Blockade des Gazastreifens in der ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
genwärtigen Form muss aufgehoben werden. Dabei ist
Wir schließen uns der Forderung an, dass es eine in- auf israelische Sicherheitsinteressen umfassend Rück-
ternationale Untersuchung der Vorfälle gibt. Bevor diese sicht zu nehmen; auch das ist gesagt worden. Hier muss
vorliegt, enthalte ich mich jeder abschließenden Beurtei- eine Änderung herbeigeführt werden.
lung der einzelnen Aspekte der Aktion. Auch Präsident Drittens. Wir müssen an der Umsetzung der Resolu-
Obama hat das gestern noch einmal sehr deutlich gefor- tionen 1815 und 1860 arbeiten.
dert. Ich finde es richtig, dass dabei das Quartett durch-
aus eine wichtige Rolle spielen kann und soll. Ich wäre Viertens. Wir müssen noch stärker als bisher auf die
froh, wenn wir das Quartett etwas revitalisieren könnten. Beteiligten einwirken, wirklich den Friedensprozess an-
Die Bundesregierung hat dazu Anstöße gegeben – das zustoßen. Dabei kann die Bundesregierung aufgrund ih-
begrüße ich sehr –, das könnte aber durchaus noch aus- rer wirklich guten Vorarbeit – nicht isoliert – entspre-
geweitet werden. chende Impulse geben.
Dieser Vorfall hat über die unmittelbare Wirkung für Wir müssen jede weitere Eskalation vermeiden. Die
die Betroffenen hinaus, die Toten und die Verwundeten Gerüchte, die Herr Mützenich angesprochen hat, sind
– schrecklich, wie wir einvernehmlich feststellen –, er- geradezu erschreckend, so erschreckend, dass ich gar
hebliche politische Weiterungen. nicht wiederholen will, was da eventuell auf uns zu-
kommt. Wir müssen das unter allen Umständen verhin-
Erstens lassen Sie mich sagen, dass mich als beken- dern.
(B) nenden Unterstützer Israels erschreckt, mit welcher Ge- (D)
schwindigkeit es der gegenwärtigen israelischen Regie- Wir müssen aus eigenem deutschen und europäischen
rung gelingt, Freunde und Partner in aller Welt zu Interesse alles dafür tun, um die Eskalation im Nahen
verlieren. Das kann nicht im Interesse Israels sein. Das Osten abzubauen und Friedensbrücken zu schlagen;
müssen wir als Freunde Israels auch sehr deutlich sagen. dazu dient humanitäre, aber auch politische Arbeit. Wir
Ich unterscheide sehr klar zwischen unserem Commit- unterstützen die Bundesregierung dabei.
ment zu Israel und den Handlungen der jeweiligen israe- Herzlichen Dank.
lischen Regierungen, die ich mir erlaube jeweils ganz
genau zu betrachten und anzuschauen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Zweitens. Auch wenn im Gazastreifen keine direkte Dr. Rolf Mützenich [SPD])
Hungersnot herrscht, so ist dennoch die humanitäre Lage
dort nur mit dem Wort „katastrophal“ zu bezeichnen.
Der Leiter der UNRWA-Mission gibt darüber beredtes Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Zeugnis. Auch Präsident Obama hat das gestern Abend Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
sehr deutlich gemacht. Er hat es mit einem sehr deutli- Bündnis 90/Die Grünen.
chen Statement und auch mit einem entsprechenden fi-
nanziellen Commitment versehen. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Drittens profitiert davon – leider – ausgerechnet die NEN):
Hamas. Denn der Hamas gelingt es, durch das von ihr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kontrollierte Tunnelsystem die Waren zu beschaffen und meine, dass die tragischen Ereignisse vor der Küste Ga-
die Bevölkerung mit Waren zu versorgen. Und die UN, zas am 31. Mai eines bewirkt haben: Das Thema Gaza
die UNRWA, die eindeutig – das wissen wir, und das steht wieder auf der politischen Tagesordnung. Aller-
müssen wir deutlich sagen – gegen jeden fundamentalis- dings muss man direkt hinzufügen: Der Preis, der dafür
tischen Islam ist, die dafür steht und jeden Tag dafür bezahlt wurde, ist sehr hoch, ich meine, zu hoch. Neun
kämpft, versetzen wir nicht in die Lage, entsprechende Menschen sind gestorben, viele wurden verletzt. Bei al-
Hilfen zu ermöglichen. Das kann so nicht weitergehen, lem Verständnis, das ich für Israels berechtigte Sicher-
das hilft nämlich nur der Hamas. Das muss geändert heitsinteressen habe – ich habe mein Verständnis sehr oft
werden. an verschiedener Stelle zum Ausdruck gebracht –: Aus
meiner Sicht ist Israels Armee bei der Aufbringung des
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Schiffes zumindest mit unverhältnismäßiger Gewalt vor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4629
Kerstin Müller (Köln)
(A) gegangen – meine Fraktion verurteilt das scharf –, das Punkt ist der andauernde Beschuss Israels durch Qas- (C)
muss man einfach klar sagen. sam-Raketen. Natürlich hat Israel ein berechtigtes Inte-
resse, den Beschuss zu stoppen. Aber Israel selbst sagt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass zwar die Anzahl der Raketenangriffe reduziert
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
wurde, aber der Beschuss selbst nicht gestoppt wurde.
Ich schließe mich Herrn Stinner und anderen an: Ich
halte es für extrem wichtig, dass Israel einer internatio- Herr Stinner, Sie haben es angesprochen: Beabsichtigt
nalen Untersuchung der Vorgänge zustimmt, gerade ist auch eine Schwächung der radikal-islamistischen Ha-
wenn es anderer Meinung ist, gerade weil die internatio- mas. Aber die Blockade schwächt sie nicht, sondern sie
nalen politischen Folgen des Angriffs auf die Gazaflotte stärkt sie politisch und ökonomisch. Warum? Die Blo-
so verheerend sind. Es ist nicht nur so, dass die Gewalt- ckade verhindert die legale Einfuhr von allem, was über
eskalation von der ganzen Welt scharf verurteilt wurde. die absolute Grundversorgung hinausgeht. Es gibt also
keine Hungerkrise. Das sagen alle, auch John Ging von
Auch ich will erwähnen – Herr Mützenich hat es der UNRWA. Es soll jede legale wirtschaftliche Ent-
schon getan –: Das bisher hervorragende und wichtige wicklung unterbunden werden. John Ging nennt das eine
Verhältnis Israels zur Türkei wurde schwer beschädigt. Krise der Würde. Es gibt zwar keine Hungerkrise, aber
Die Türkei war bisher eine wichtige Brücke für Israel in eine Krise der Würde. Die Menschen sollen am Leben
die islamische Welt. Nun ist man dabei, sie systematisch erhalten werden, ohne in Würde zu leben. Die israeli-
zu zertrümmern. schen Militärs sagen das ganz offen: no humanitarian
Das, was jetzt passiert – auch der Iran fühlt sich beru- crisis. Sie wollen keine Entwicklung und keinen wirt-
fen, in Begleitung der Revolutionsgarden Schiffe nach schaftlichen Wohlstand. Das Ergebnis sind 40 Prozent
Gaza zu bringen –, könnte zu einer weiteren Eskalation Arbeitslosigkeit in Gaza. 80 Prozent der Menschen in
führen. Es ist völlig klar: Das muss unbedingt gestoppt der Region sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen.
werden. 98 Prozent der legalen Wirtschaft liegen danieder. Ich
sage sehr deutlich: Das hat mit berechtigten Sicherheits-
Ich war nicht auf der Gazaflotte. Ich will Ihnen sagen, interessen nichts mehr zu tun. Dadurch wird eine Bevöl-
dass mir entsprechende Anfragen vorlagen; aber ich kerung kollektiv bestraft. Das ist völkerrechtswidrig und
habe mich bewusst entschieden, mich nicht daran zu be- deshalb nicht akzeptabel.
teiligen, und zwar, weil mir die Zusammensetzung der
Aktivisten zu undurchsichtig erschien und die Gefahr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bestand – ich meine, das hätte man von Anfang an er- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge-
kennen können –, für andere Ziele instrumentalisiert zu ordneten der FDP)
(B) werden, die ich nicht teile. (D)
Andererseits – jetzt kommt die Absurdität – begüns-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tigt diese Blockade eine von der Hamas kontrollierte il-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der legale Schattenwirtschaft. Über die rund 600 Tunnel
CDU/CSU und der FDP) kommen alle nur erdenklichen Güter. Man bekommt al-
Ich lasse mich nicht von der Hamas instrumentalisieren. les in Gaza. Man muss nur das Geld haben. Aber es hat
Das ist einfach eine völlig falsche Politik. nur derjenige das Geld, der mit der Hamas kooperiert. Es
kann auch nur der Unternehmer etwas anbieten, der sich
Frau Höger und Frau Groth, ich sage dazu aber auch: mit der Hamas arrangiert. Das heißt, diese Unternehmer
Ich gehe davon aus, dass Sie die besten Absichten hat- profitieren, Hamas blüht auf, und die Zivilbevölkerung
ten. Ich nehme da keine Gleichsetzung vor; das fände ich verarmt.
völlig falsch. Ich denke aber, man darf nicht die Augen
davor verschließen, dass es andere gab, die Sympathien Organisationen wie die UNRWA, die praktisch das
für Hamas, für islamistische Gruppierungen hatten, und Bollwerk gegen das Islamisierungsprojekt der Hamas im
dass man von diesen dann vereinnahmt wird. Dann muss Gazastreifen sind und die nicht den illegalen Zement der
man überlegen, ob es gut ist, da mitzumachen. Hamas zum Bau von Schulen benutzen wollen, können
keine Schulen bauen. Sie müssen Eltern abweisen, die
Ich war zeitgleich in der Region und habe Gespräche ihre Kinder auf UN-Schulen und nicht auf Koranschulen
geführt. Ich bin davon überzeugt, dass es nur einen Weg schicken wollen. Dazu sage ich: Die Blockade der Israe-
gibt, um eine weitere Eskalation zu verhindern: Israel lis ist eine Blockade der UNO. Dadurch wird das Ganze
muss die Blockade des Gazastreifens beenden, weil sie vollends absurd. Das nennt man politisch kontraproduk-
inhuman und völkerrechtswidrig ist. Vor allem ist die tiv. Das sage ich jetzt an die Adresse Israels gerichtet.
Blockade im Hinblick auf Israels berechtigte Sicher-
heitsinteressen völlig kontraproduktiv. Ich will ganz zum Schluss für eine interfraktionelle
Initiative werben. Es gibt einen Punkt, den John Ging
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
immer wieder hervorhebt: Lassen Sie uns gemeinsam
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
dafür sorgen, dass die UN ein Mandat dafür bekommen,
FDP und der LINKEN)
mit Israel einen legalen Zugang nach Gaza über den See-
Ich möchte, weil es mir wichtig ist, das klar begrün- weg auszuhandeln, damit die Güter der UNO über einen
den: Die Freilassung von Gilad Schalit ist ein berechtig- legalen Seeweg anlanden können. Dann kann man wei-
tes Interesse von Israel; aber nach eigener Aussage gibt tere Konfrontationen auf See vermeiden. Das wäre ein
es hier wegen der Blockade null Fortschritt. Ein anderer erster wirksamer Schritt zur Aufhebung der Blockade.
4630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist es noch zu früh, weil die Fakten sehr ungenau sind. (C)
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, dass Sie sich an der
Aufklärungsarbeit nicht nur dadurch beteiligen, dass Sie
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- energisch Aufklärung fordern – das wollen auch wir –,
NEN): sondern auch dadurch, dass Sie sachliche Beiträge leis-
Das ist mein letzter Satz. – Ich hoffe, dass am Ende ten und nicht versuchen, eine Showveranstaltung zu ins-
zenieren, um Ihr Ziel zu erreichen, nämlich Israel an den
auch die Israelis verstehen werden, dass eine solche
Politik eigentlich in ihrem Interesse ist. Pranger zu stellen. Das werfe ich Ihnen vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
und bei der SPD) der FDP)
Wir machen uns große Sorgen. Deshalb sind alle An-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: strengungen für die Zukunft der Region aller Mühe wert.
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/ Frau Kollegin Müller, ich denke, dass ein großer Teil der
CSU-Fraktion. Vorschläge, die Sie unterbreitet haben, auch bei uns auf
positive Resonanz stößt. Wir wollen im Parlament, im
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auswärtigen Ausschuss und von vielen anderen Stellen
neten der FDP) aus Initiativen ergreifen, die dazu beitragen, dass diese
Vorschläge Unterstützung erfahren.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Ich stelle fest: Die humanitäre Situation im Gazastrei-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
fen ist uns nicht egal, sondern uns ist klar, dass sie ein
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat
weiteres Engagement der internationalen Gemeinschaft
diese Aktuelle Stunde beantragt. Auch wir wollen heute
bedingt. Gerade als Freund Israels – Herr Kollege
die Gelegenheit nutzen – Andreas Schockenhoff hat das
Stinner hat deutlich gemacht, dass es keinen Zweifel da-
für unsere Fraktion schon getan –, über den Gesamtzu-
ran gibt, dass der Großteil des Hauses eng an der Seite
sammenhang der Situation im Nahen Osten zu diskutie-
Israels steht – müssen wir die konkreten Probleme lösen
ren.
und unseren israelischen Freunden offen sagen, wo sie
Ich möchte nun zunächst einmal eine Grundsatzbemer- Fehler gemacht haben.
kung machen. Sie von der Linkspartei lehnen Auslands-
einsätze kategorisch ab. Wenn es um Friedensmissionen In der Außenpolitik kommt es oft auf die Art und
oder um Stabilisierungsmissionen in Krisenregionen auf Weise an. Auch in einer solchen Debatte, wie wir sie
(B) der Welt geht, sind Sie konsequent dagegen. Eine radi- heute führen, dürfen wir keinen Zweifel daran lassen, (D)
kal-pazifistische Haltung kann und möchte ich nicht dass die Verteidigung des Staates Israel für uns im Mit-
grundsätzlich verurteilen, weil es für sie gute Argumente telpunkt aller Überlegungen steht. Aus meiner Sicht und
gibt. auch aus Sicht meiner Fraktion gibt es keine Äquidistanz
zu den beteiligten Gruppierungen, sondern wir stehen in
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aber?) dieser Frage fest an der Seite Israels. Gerade weil wir an
der Seite Israels stehen, haben wir die Möglichkeit, kriti-
Aber – nun komme ich zu dem Aber – vor diesem Hin- sche Punkte offener und zielgenauer anzusprechen.
tergrund verstehe ich nicht, wie Sie sich nicht nur theo-
retisch, sondern auch ganz praktisch an dem Versuch be- Ich richte meinen ausdrücklichen Dank an die Bun-
teiligen konnten, im Rahmen eines Auslandseinsatzes desregierung, an Staatssekretär Hoyer und an unseren
die Seeblockade aufzubrechen. Außenminister, der in schwierigen Zeiten mit dem israe-
lischen Außenminister Liebermann eng zusammenarbei-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tet. Ich habe ihn bisher nicht kennen gelernt, aber den
neten der FDP – Lachen bei Abgeordneten der
Schilderungen der Medien zufolge ist er ein handfester
LINKEN)
Politiker mit Ecken und Kanten und sicherlich einer, der
Wenn das Ihre Definition von Auslandseinsätzen in Zu- in der einen oder anderen Debatte undiplomatische
kunft sein soll, dann können Sie für sich keine radikal- Wege geht. Das belastbare, persönliche Verhältnis zwi-
pazifistische Haltung in Anspruch nehmen. Es ging kei- schen unserem Außenminister und dem israelischen Au-
neswegs – das sagen viele der Organisatoren selbst – nur ßenminister hat dazu beigetragen, dass Deutschland in
um eine politische oder humanitäre Aktion, sondern es dieser schwierigen Situation eine besonders gute Rolle
ging um eine konfrontative Aktion, auch um Israel welt- spielen kann.
weit an den Pranger zu stellen.
Es ist auch bemerkenswert, dass wir, anders als die
Ich möchte mich den Vorverurteilungen in keiner Türkei und andere Beteiligte, als Vermittler stärker ein-
Weise anschließen, sondern ich fordere auch für unsere greifen können und kein falsches Spiel spielen wie die
Fraktion – das ist auch schon getan worden – eine rück- Türkei, die auf der einen Seite die Situation beklagt und
haltlose Aufklärung, die zu Ergebnissen kommt. Aber auf der anderen Seite zugelassen hat, dass Aktivisten tä-
das, was wir durch Gesprächspartner aus Israel und auch tig werden. Vor diesem Hintergrund sage ich klar: Ich
durch Medienvertreter zugetragen bekommen, lässt mo- bin der Meinung, dass wir dem Verhalten der Türkei in
mentan keinen eindeutigen Schluss zu. Ich denke, dass den nächsten Monaten mehr Aufmerksamkeit schenken
jede Vorverurteilung schädlich ist. Für eine Beurteilung müssen; denn die innenpolitische Debatte, die in der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4631
Philipp Mißfelder
(A) Türkei durch die Flottillenaktion ausgelöst wurde, stellt Rafah aufzumachen und auf diesem Weg Landzugänge (C)
ein großes Problem dar, das uns Monate, wenn nicht so- zum Gazastreifen zu schaffen. Ich glaube, auch das ge-
gar längere Zeit, beschäftigen wird. Wir können nicht hört zur Wahrheit, mit der wir uns auseinanderzusetzen
akzeptieren, dass ein NATO-Partner unsere außenpoliti- haben.
schen Interessen in den Grundfesten erschüttert und un-
sere Politik an der Seite Israels hintertreibt. Wir wissen aber auch noch etwas anderes. Wir ken-
nen beispielsweise die Zahl der zugelassenen Lkw-
Herzlichen Dank. Transporte. Sie betrug im April 2010 2 647. Das sind
mehr als 70 Prozent weniger als im Durchschnitt der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Monate Januar bis Mai 2007. Ich will jetzt gar nicht
mehr auf die Äußerungen von John Ging eingehen, der
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: bei uns in Berlin zu Besuch war. Er hat gesagt, dass das,
Das Wort hat nun Christoph Strässer für die Fraktion was im Moment in Gaza ankommt, nicht mehr als ein
der SPD. Tropfen auf den heißen Stein ist. Ich finde, das muss
man bei dieser ganzen Diskussion in den Vordergrund
(Beifall bei der SPD)
stellen, weil das geändert werden muss.

Christoph Strässer (SPD): 65 Prozent der Menschen leben unter der Armuts-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- grenze. 37 Prozent leben in extremer Armut. Für 60 Pro-
nächst möchte ich auf den Begriff der Aufklärung einge- zent der Haushalte ist die Lebensmittelversorgung nicht
hen, und zwar nicht philosophisch, sondern ganz kon- gesichert. Weitere 16 Prozent leben am Rand der Versor-
kret. Wir fordern sie zu Recht. Ich stelle aber fest, dass gungssicherheit. 300 000 Menschen sind nach Angabe
es bereits Antworten gibt. Für mich als Jurist ist es so: von UNOCHA nicht in der Lage, sich ausreichend Le-
Wenn ich Aufklärung fordere, dann deshalb, weil ich bensmittel, Trinkwasser und Hygieneartikel zu besorgen.
nicht weiß, was passiert ist. Das geht in beide Richtun- 10 000 Menschen haben keinen Zugang zu fließendem
gen. Ich würde mir wünschen, dass man an die Aufklä- Wasser. Täglich fließen dennoch 80 Millionen Liter Ab-
rung der Vorkommnisse ergebnisoffen herangeht, ohne wasser ungeklärt bzw. nur teilweise geklärt in den Bo-
Vorverurteilung, in welche Richtung auch immer. Ich den. Leidtragende sind wie immer die Ärmsten der Ar-
sage das bewusst in Richtung derjenigen, die diese Ak- men, Frauen, Kinder und Kranke.
tion vorbereitet und durchgeführt haben; denn ich würde Diese Zustände – darüber sind sich alle internationa-
gerne wissen, was an den Meldungen dran ist, dass es len Organisationen einig – müssen verändert werden.
eine türkische Organisation gibt, die die Aktion beein- Deshalb ist es gut und zu begrüßen, dass die Bundesre-
(B) flusst hat, die dem Dschihad und der Hamas nahestehen gierung, die EU und auch die internationale Staatenge- (D)
soll, und dass auch andere Kräfte mitgewirkt haben. meinschaft angekündigt haben, ihre Unterstützung der
All das würde ich gerne wissen. Ich denke, es ist sinn- palästinensischen Menschen im Gazastreifen deutlich
voll und vernünftig, die Situation im Sinne derjenigen auszuweiten. Besser wäre es natürlich, wenn die Ursache
aufzuklären, die ich persönlich respektiere. Das sage ich für dieses Dilemma beseitigt würde. Die Ursache ist
ganz offen. Es ist wichtig, aufzuklären, was an Bord des nach meiner Überzeugung die Blockade des Zugangs
Schiffes, bei der Vorbereitung der Aktion und später pas- zum Gazastreifen. Sie ist kontraproduktiv für das Anse-
siert ist. Das muss ergebnisoffen Inhalt einer solchen hen Israels. Es ist völlig klar, dass wir dabei zu berück-
Untersuchung sein. Ich werbe dafür, das intellektuell sichtigen haben, dass es nicht darum gehen kann, über
redlich zu machen und nicht an der einen oder anderen den Weg der Öffnung des Gazastreifens Terrorismus und
Stelle zu sagen: Ich weiß bereits die Antwort. Deshalb Waffen in diese Region zu exportieren.
fordere ich eine Aufklärung. – Ich finde, das geht nicht. Ich glaube, man muss vor der Bewertung dieses Vor-
Deshalb sollten wir uns darauf verständigen, über diese falls die notwendigen Aufklärungsmaßnahmen durch-
Fragen intensiv zu diskutieren, wenn diese Aufklärung führen. Ich sage es noch einmal: Es wäre am besten,
durchgeführt worden ist. wenn es gelänge, die Abriegelung zu beenden und den
Es gibt Dinge, die wissen wir nicht. Es gibt aber auch Menschen im Gazastreifen eine Perspektive zu verschaf-
Dinge, Fakten, die wir kennen. Ich will sie einmal auf- fen.
zählen, weil die humanitäre Lage in Gaza aus meiner Ich weiß nicht – die Völkerrechtler sind sich darüber
Sicht der eigentliche Kern all dessen ist, worüber wir uns uneins –, ob die Seeblockade Gazas völkerrechtlich legi-
in den letzten Tagen und Wochen unterhalten haben und timiert ist. Wenn sie zulässig ist – ich finde, das ist die
uns in Zukunft unterhalten werden: Wir haben die Abrie- klare Botschaft und die klare Aussage, zu der man keine
gelung des Gazastreifens seit 2007. In den Jahren 2008 Untersuchung braucht –, ist es die Verpflichtung des
und 2009 ist im Rahmen der Aktion „Gegossenes Blei“ Staates, der sie durchführt, nämlich Israels, die Versor-
sozusagen eine komplette Abriegelung der Zugänge zum gung der Zivilbevölkerung des blockierten Landes si-
Gazastreifen vorgenommen worden. Ich sage ganz be- cherzustellen. Das ist die Aufgabe Israels. Dieser Auf-
wusst: Wir reden immer über die Zugänge von und nach gabe wird Israel nicht gerecht. Deshalb müssen wir dafür
Israel. Ich finde, unser Appell und unsere Aufmerksam- sorgen, dass diese Blockade aufhört.
keit müssten auch auf Ägypten gerichtet werden; denn
auch Ägypten, sozusagen das Brudervolk der Palästinen- Ich persönlich bin der Meinung – ich sage das zum
ser, ist verpflichtet, humanitär zu wirken, die Grenze bei Schluss –, dass diese Aktion zu verurteilen ist, wenn sich
4632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Christoph Strässer
(A) herausstellen sollte, dass diese Aktion von Hamas und gung. Darüber wird auf internationaler Ebene gegenwär- (C)
anderen unterstützt worden ist. Ich verurteile aber nicht tig sehr intensiv diskutiert. Die Bundesregierung hat eine
– das sage ich ausdrücklich – den Mut und den Respekt, Beteiligung des Nahost-Quartetts vorgeschlagen. Das
den viele Menschen auf der Welt gezeigt haben, geleitet Quartett aus USA, Vereinten Nationen, EU und Russland
von Desmond Tutu, Pax Christi und anderen. Sie haben vereint die entscheidenden Akteure und ist nach unserer
auf dem Wege einer friedlichen Zuführung über die Auffassung das beste Gremium, um die internationale
Grenzen hinweg humanitäre Hilfe geleistet. Dafür haben Akzeptanz einer solchen Untersuchung zu sichern.
diese Menschen meinen Respekt. Meinen Respekt haben
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sie aber nicht, wenn sie sich von anderen Organisationen
der CDU/CSU)
vor den Karren spannen lassen.
Es bleibt dabei: Ohne angemessene internationale Be-
Herzlichen Dank.
teiligung wird die Glaubwürdigkeit einer Untersuchung
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht gesichert werden können. Das gilt übrigens aus-
DIE GRÜNEN) drücklich nicht nur in Bezug auf das israelische Vorge-
hen. Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang für die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Anmerkungen, die eben von verschiedenen Kolleginnen
Das Wort hat nun Staatsminister Werner Hoyer. und Kollegen dazu gemacht worden sind. Man darf sich
auch nicht vor den Karren der Hamas spannen lassen.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: An Bord der Schiffe befanden sich elf deutsche
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Staatsangehörige, darunter die Kolleginnen Groth und
möchte Ihnen heute die Haltung der Bundesregierung zu Höger und auch unser früherer Kollege Professor Paech.
den Ereignissen vom 31. Mai 2010 vor Gaza darstellen Ein deutscher Staatsangehöriger wurde bei der israeli-
und Sie über die von der Bundesregierung ergriffenen schen Aktion verletzt. Die Bundesregierung hat rasch
Maßnahmen unterrichten. Ich bedanke mich für die Re- gehandelt und versucht, unseren Staatsangehörigen Hilfe
debeiträge von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, zukommen zu lassen. Das AA und die Botschaft in Tel
der Grünen und der FDP, weil sie einen breiten Grund- Aviv waren seit den frühen Morgenstunden des 31. Mai
konsens in der Bewertung darstellen und auch mahnen, gegenüber den israelischen Stellen um Kontakt und
bei der Interpretation nicht voreilige Schlussfolgerungen Zugang zu den deutschen Staatsangehörigen bemüht. Te-
lefonate des Bundesaußenministers und auch der Bun-
(B) zu ziehen und nicht der Gefahr zu erliegen, auf einem (D)
Auge blind zu werden. deskanzlerin haben diesen Bemühungen weiteren Nach-
druck verliehen. Bereits in der Nacht zum 1. Juni
Die dramatischen Ereignisse vom 31. Mai 2010 wer- konnten die Kolleginnen Groth und Höger mit drei wei-
fen ein Schlaglicht auf die angespannte Situation im Na- teren Deutschen ausreisen. Am 2. Juni folgten die übri-
hen Osten. Die Bundesregierung ist, ebenso wie Sie alle, gen sechs Deutschen, darunter auch der Verletzte, der in
über den Verlust von Menschenleben zutiefst bestürzt. die Türkei ausreisen konnte. Wir sind froh, dass wir Sie
Wir wissen auch: Was sich dort am 31. Mai abgespielt wieder wohlbehalten unter uns sehen können, meine Da-
hat, ist in erster Linie ein Symptom für viel tiefer lie- men.
gende Probleme. Wenn die internationale Gemeinschaft
erneute gewaltsame Auseinandersetzungen verhindern (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir
will, darf sie diese Probleme nicht aus den Augen verlie- auch, Herr Staatsminister!)
ren.
Ich habe eingangs auf die tiefer liegenden Probleme
Bislang ist die Faktenlage noch nicht vollständig ge- der Region hingewiesen. So schlimm die Ereignisse vom
klärt. Klar ist: Am 31. Mai 2010 brachte die israelische 31. Mai 2010 sind, wir dürfen gerade in dieser Situation
Marine circa 70 Seemeilen vor der Küste von Gaza den Friedensprozess nicht aus den Augen verlieren.
sechs Schiffe der sogenannten Free-Gaza-Flottille auf. Ohne Fortschritte auf dem Weg zur Zwei-Staaten-Lö-
Bei dieser Aktion kamen neun Menschen ums Leben, sung wächst das Risiko einer erneuten Eskalation in der
und es gab circa 30 Verletzte. Der VN-Sicherheitsrat hat Region. Nur die Feinde des Friedens würden hiervon
ebenso wie die Europäische Union die Anwendung von profitieren. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Eu-
Gewalt verurteilt. Die Bundesregierung unterstützt diese ropäischen Union und dem Quartett werden wir weiter-
Erklärungen der Vereinten Nationen und der Europäi- hin alles tun, damit die indirekten Gespräche fortgesetzt
schen Union in vollem Umfang. und in richtige Verhandlungen überführt werden können.
Die Bundesregierung hat frühzeitig ihrerseits Stellung Wir leisten hierzu auch konkrete Beiträge. Ein Bei-
genommen. Wir haben dabei insbesondere eine umfas- spiel ist die Durchführung des Deutsch-Palästinensi-
sende, transparente und neutrale Untersuchung des Vor- schen Lenkungsausschusses am 18. Mai 2010 hier in
falls gefordert. Für die Glaubwürdigkeit des Untersu- Berlin unter Vorsitz von Ministerpräsident Salam Fajjad
chungsergebnisses ist eine überzeugende internationale und Außenminister Guido Westerwelle. Ziel war es, un-
Beteiligung nach unserer Auffassung unerlässlich. Das sere Unterstützung für den Aufbau eines palästinensi-
haben wir auch Israel gegenüber deutlich gemacht. Es schen Staates deutlich zu machen und durch eine noch
geht nun um die Ausgestaltung einer solchen Beteili- intensivere Zusammenarbeit zu untermauern. Minister-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4633
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
(A) präsident Salam Fajjad hat den Lenkungsausschuss in Zugleich ist die Europäische Union bereit, nach besten (C)
Berlin zu Recht als historisches Ereignis bezeichnet. Kräften dazu beizutragen, dass den israelischen Sicher-
heitsbedenken Rechnung getragen wird. Das Argument,
Wir Deutsche wollen uns nicht überheben. Aber wir Sicherheit für Israel und Versorgung des Gazastreifens
sind in einer besonderen Situation. Unsere Freundschaft ließen sich nicht miteinander vereinbaren, lässt sich
zu Israel wird niemand in Zweifel ziehen. Umgekehrt nicht länger rechtfertigen.
sollte jeder wissen, dass wir in der arabischen Umwelt
Israels über ein beachtliches Vertrauen verfügen. Dies Herzlichen Dank.
zusammengenommen ergibt ein Kapital, das die Bun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
desrepublik Deutschland in die Bemühungen der Völ- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
kergemeinschaft, hier zu einer friedlichen Lösung zu NISSES 90/DIE GRÜNEN)
kommen, einbringen muss.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]) Das Wort hat nun Annette Groth für die Fraktion Die
Linke.
Gleichzeitig verdeutlichen die Ereignisse des 31. Mai
2010 erneut die Notwendigkeit der Öffnung des Zugangs (Beifall bei der LINKEN)
zum Gazastreifen. Die derzeitige Situation ist nicht ak-
zeptabel, und vor allem ist sie kontraproduktiv. Es gibt Annette Groth (DIE LINKE):
keine Alternative zu einer Öffnung der Übergänge für Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrter Präsident!
humanitäre Lieferungen und Güter für den Aufbau der Ich war auf zwei Schiffen der Free-Gaza-Flottille, erst
zivilen Infrastruktur. Wir brauchen eine fundamentale auf der keinen Challenger 1 unter US-amerikanischer
Veränderung bzw. Verbesserung des Zugangs nach Gaza. Flagge mit 16 Passagieren, und am 29. Mai bin ich auf
Wohlgemerkt, das ist keine neue Position. Wir vertreten die Mavi Marmara umgestiegen. Ich möchte betonen,
diese Auffassung seit langem, ebenso wie unsere Partner dass alle Passagiere auf allen Schiffen unterschrieben
in der Europäischen Union. Der VN-Sicherheitsrat hat haben, dass es eine friedliche Mission ist und dass wir
die entsprechenden Parameter in seiner Resolution 1860 keine Gewalt anwenden werden.
formuliert. Alle Elemente dieser Resolution müssen um-
gesetzt werden, der Zugang nach Gaza ebenso wie die (Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder
Einstellung von Angriffen aus dem Gazastreifen auf Is- [CDU/CSU]: Auch noch vertragsbrüchig!)
rael und die Unterbindung des Waffenschmuggels. Ich bin überzeugte Pazifistin und hätte nie gedacht, dass
(B)
Ein erster Schritt könnte darin besehen, dass die ge- es zu solch einer Gewalt mit neun Toten kommen (D)
könnte.
genwärtige Positivliste durch eine Negativliste ersetzt
wird, in der solche Güter aufgeführt sind, die aus Sicher- Ich bin sehr froh, dass ich nicht Zeugin von Schieße-
heitsgründen nicht nach Gaza eingeführt werden dürfen; reien oder anderen Gewalttaten wurde. Aber ich wurde
das wäre zumindest gegenüber dem derzeitigen Zustand Zeugin einer äußerst menschenunwürdigen Behandlung
eine Verbesserung. Aber es bleibt dabei: Notwendig ist vonseiten der israelischen Soldaten. So habe ich gese-
eine fundamentale Verbesserung des Zugangs im Inte- hen, dass Verletzte auf der Treppe zum oberen Deck mit
resse der Menschen im Gazastreifen, aber auch, um die dem Kopf nach unten transportiert wurden; für Schwer-
Perspektive für eine politische Lösung zu schaffen. verletzte kann das tödlich sein. Viele Männer hatten ihre
Hände stundenlang mit Kabelbindern auf dem Rücken
Die Ereignisse des 31. Mai 2010 sind Anlass zur gefesselt. Ich war eine der wenigen Frauen, deren Hände
Trauer. Aber sie müssen auch Anstoß sein, unsere Be- ebenfalls auf dem Rücken gefesselt wurden. Der Toilet-
mühungen für den Frieden weiter zu verstärken. Wir tenbesuch wurde willkürlich erlaubt oder verboten. Ein
werden diese Fragen in den nächsten Tagen und Wochen israelischer Soldat hat eine palästinensische Israelin mit
mit unseren Partnern in der Europäischen Union behan- den Worten beschimpft: Solche Leute wie ihr gehören
deln. Heute, zu dieser Stunde, findet eine Sondersitzung alle ins Meer geworfen.
des PSK unter Vorsitz von Catherine Ashton, der Hohen
Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Si- Nur durch eine internationale Untersuchung können
cherheitspolitik, statt. Am kommenden Montag werden die Vorwürfe widerlegt werden, die mittlerweile gegen
wir uns im EU-Außenministerrat in Luxemburg mit dem uns vorgebracht werden. Durch diese Vorwürfe soll an-
Thema Gaza befassen. scheinend auch vom rechtswidrigen Angriff auf die Flot-
tille und von der Rechtswidrigkeit der Blockade abge-
Was wir brauchen, ist eine fundamentale Änderung lenkt werden.
der israelischen Gazapolitik. Die Rechnung, dass eine
Politik der Isolation irgendetwas Positives bewirken (Beifall bei der LINKEN)
könnte, ist nicht aufgegangen. Das Gegenteil ist Realität. Dem deutschen Free-Gaza-Bündnis gehören neben
Deshalb muss diese Isolation beendet werden. der IPPNW – das sind die Internationalen Ärzte für die
Verhütung des Atomskriegs – auch die katholische Frie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie densbewegung Pax Christi an.
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Terroristen!)
4634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Annette Groth
(A) In einer Presseerklärung betonte das deutsche Free- Peter Beyer (CDU/CSU): (C)
Gaza-Bündnis gestern, dass die türkische Hilfsorganisa- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
tion IHH eine von weltweit 3 000 Nichtregierungsorga- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bilder der
nisationen ist, die beim Wirtschafts- und Sozialrat der Ereignisse vom frühen Morgen des 31. Mai 2010, als
Vereinten Nationen einen beratenden Status haben. eine Gruppe von insgesamt acht Schiffen durch die is-
(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Terroristen!) raelische Marine aufgebracht wurde, haben uns erneut
deutlich gemacht, wie weit Frieden im Nahen Osten der-
Dazu muss eine Organisation demokratische und trans- zeit noch entfernt ist. Durch die Instabilität der Verhält-
parente Entscheidungsprozesse nachweisen. Die Vor- nisse wird unsere Sorge vor einer weiteren Eskalation in
würfe, der Free-Gaza-Bewegung gehörten auch Parteien der Region und einem endgültigen Ende des Friedens-
mit rechten Tendenzen an, scheinen haltlos und tenden- prozesses im Nahen Osten verstärkt.
ziös.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister
Noch ein Punkt ist mir sehr wichtig. Überall werden haben ihre Bestürzung über die Ereignisse umgehend
nun israelische Videos gezeigt. Die israelische Marine zum Ausdruck gebracht. Auch ich möchte den Angehö-
hat die absolute Bildhoheit über die Vorfälle. Der deut- rigen der Toten meine Anteilnahme aussprechen und zu-
sche Journalist Mario Damolin, der für die FAZ auf ei- dem unseren konsularischen Beamten und Mitarbeitern
nem Schiff der Flottille war, konnte einen Chip seiner dafür danken, dass sie trotz schwierigster Umstände da-
Kamera retten. Alles andere Bildmaterial der Aktivisten für gesorgt haben, dass eine sehr schnelle Rückführung
und auch von mir hat die israelische Marine eingesteckt. aller Deutschen, die an Bord der Schiffe gewesen sind,
binnen 48 Stunden sichergestellt wurde.
Inzwischen wurde bewiesen, dass die israelischen
Videos manipuliert waren. Das Komitee zum Schutz von Wir alle sind bestürzt über den Verlust menschlichen
Journalisten hat inzwischen gegen die Bearbeitung und Lebens. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die zu-
Verbreitung des Bildmaterials protestiert, das den rund nächst gemeldeten Abläufe und die sich die Tage darauf
60 ausländischen Journalisten und Journalistinnen abge- abzeichnenden Fakten über das tatsächliche Geschehen
nommen wurde. Inzwischen haben auch die israelischen stark voneinander abweichen: Anfangs war von 20 getö-
Streitkräfte eingeräumt, dass es sich bei den Aufnahmen teten Aktivisten die Rede. Kurze Zeit später wurden er-
eines Gesprächs, bei dem angeblich ein Aktivist die Mi- heblich weniger Opfer gemeldet. Videos zeigen zudem,
litärs aufforderte, nach Auschwitz zurückzukehren, um dass Soldaten sofort, nachdem sie sich an Bord der
eine Fälschung handelt. Diese Fälschung wurde leider „Mavi Marmara“ begeben hatten, und offenbar auch ko-
auch von einigen deutschen Medien übernommen. ordiniert mit massiver Gewalt konfrontiert worden sind.
(B) Meine große Sorge gilt zurzeit Hanin al-Suabi, Free- (Zuruf von der LINKEN: Eine Unterstellung! – (D)
Gaza-Aktivistin und Mitglied der Knesset. Man will ihre Weitere Zurufe von der LINKEN)
Immunität aufheben und ihr die israelische Staatsbürger-
schaft aberkennen. Außerdem kursiert im Internet ein Es kam dazu, dass ein Soldat in völliger Absicht über die
Mordaufruf. Ein Likud-Abgeordneter will sie wegen Reling des Schiffes geworfen worden ist.
Hochverrats anklagen. Hanin ist äußerst gefährdet, und Die furchtbare Eskalation der Gewalt macht noch ein-
ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten, mal deutlich, wie sehr man gerade in diesem Konflikt
mitzuhelfen, sie in das parlamentarische Schutzpro- vorschnelle Rückschlüsse auf das tatsächliche Gesche-
gramm aufzunehmen. hen vermeiden muss.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ich möchte mit einem Zitat von Bischof Tutu schlie- der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)
ßen:
Klarheit über die wirklichen Ereignisse kann nur eine in-
Wenn du dich in Situationen der Ungerechtigkeit ternationale, unabhängige, transparente und vollständige
neutral verhältst, hast du dich auf die Seite des Un- Untersuchung der Abläufe unter Geltung des allgemei-
terdrückers gestellt. nen Völkerrechts geben. Darüber herrscht in diesem
Hause größtenteils Konsens, wie auch die bisherigen Re-
Die ehemalige israelische Kultusministerin Schulamit debeiträge gezeigt haben. Das ist sehr zu begrüßen.
Aloni betonte, dass ein Staat, der ein anderes Volk unter-
drückt, nicht in Sicherheit leben kann. Als Menschen- Vor einer Bewertung des Geschehens muss eine Auf-
rechtspolitikerin und -aktivistin werde ich mich natürlich klärung aller Umstände stattfinden. Hier gilt das Motto
weiterhin für die Aufhebung der Blockade einsetzen, „Sorgfalt vor Schnelligkeit“. Das muss für unsere Prinzi-
und dafür werbe ich um Ihre Unterstützung. pien und die Hierarchie in den Prinzipien gelten. Diesen
Weg werden wir gemeinsam mit unseren europäischen
Ich danke Ihnen. Freunden und amerikanischen Partnern unterstützen.
(Beifall bei der LINKEN) Wo unsere Hilfe gewünscht wird und wo wir helfen
können, etwa bei unabhängigen Kontrollen des Küsten-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gebietes vor Gaza, da sollten und werden wir unseren
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Peter Freunden zur Seite stehen. Lassen Sie mich aber auch ei-
Beyer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. nes deutlich sagen: Beschuldigungen und Vorverurtei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4635
Peter Beyer
(A) lungen schüren den Konflikt und sind in hohem Maß Herzlichen Dank. (C)
verantwortungslos.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Christoph Strässer [SPD]: Beidseitig!) neten der FDP)
Eine vorschnelle und einseitige Bewertung der Gesche-
hensabläufe in die eine oder in die andere Richtung, um Vizepräsidentin Petra Pau:
damit durchsichtige politische Zwecke zu verfolgen Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Günter
Gloser.
(Zurufe von der LINKEN)
(Beifall bei der SPD)
– erschreckenderweise gibt es hier noch einige, die dies
tun –, ist auch Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Günter Gloser (SPD):
den Frieden in der Region gar nicht wollen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
(Zuruf von der LINKEN: Das ist ja unglaub- Kollegen! Meine Kollegen Rolf Mützenich und
lich! Unterstellung!) Christoph Strässer und auch andere Kolleginnen und
Kollegen haben bereits etwas zur internationalen Auf-
Alle Seiten müssen endlich den friedlichen Weg zur klärung der Vorfälle gesagt. Im Zusammenhang damit
Konfliktlösung beschreiten. Dazu gibt es keine Alterna- sage auch ich: Israel als der einzige demokratische Staat
tive. in der Region sollte von sich aus erkennen, dass es einer
Die in Gaza seit 2007 herrschende Hamas ist eine Or- internationalen Aufklärung der Vorgänge bedarf, bevor
ganisation, die Terror täglich als Mittel der Politik ein- eine Bewertung vorgenommen werden kann.
setzt. Seit 2007 herrscht damit in Gaza ein Regime, das Ich möchte die Vorgänge aber auch zu der Entwick-
die Existenz Israels auch weiterhin nicht anerkennt. Die lung des Nahost-Friedensprozesses in Beziehung setzen.
Bedrohung Israels durch Raketenbeschuss und Spreng- Natürlich ist dieser Prozess durch die jüngsten Vorfälle
stoffanschläge ist real und unmittelbar. Fest steht, dass erneut beeinträchtigt worden. Das dürfen wir nicht ein-
die Blockade Gazas den Friedensprozess nicht einfacher fach hinnehmen; denn eine Einigung zwischen Israelis
macht. Um die Situation heute verstehen zu können, und Palästinensern ist nach wie vor nötig und alternativ-
muss man aber auch die Umstände betrachten, die zur los. Die Gewalt beider Seiten bei der Erstürmung des
Blockade Gazas durch Israel geführt haben. Schiffes war dabei ein Rückschlag, der vor allem die
Ein Import über den Landweg nach Anlaufen des Ha- Position Israels geschwächt und die Unterstützung für
fens von Aschdod wäre auch im Fall der sogenannten radikale Kräfte auf arabischer Seite wesentlich verstärkt
(B) Friedensflottille möglich gewesen. Das haben wir in den hat. Es braucht deshalb nicht noch einmal betont zu wer- (D)
heutigen Redebeiträgen schon mehrfach gehört. Er den, dass diese Aktion den Sicherheitsinteressen Israels
wurde jedoch von den Organisatoren des Konvois abge- großen Schaden zugefügt hat.
lehnt. Das wirft die hier und heute nicht abschließend zu Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass sich der
klärende Frage nach der wahren Absicht der Organisato- palästinensische Präsident einem sofortigen Stopp der
ren des sogenannten humanitären Konvois auf. gerade aufgenommenen Gespräche verweigert hat. Das
erfordert Mut und zeigt, dass zumindest in Teilen der Fa-
Richtig ist: Humanitäre Güter müssen die Menschen
tah weiterhin die Überzeugung besteht, dass es ohne ei-
in Gaza erreichen können. Zur Lösung der schwierigen
nen Ausgleich mit Israel keinen palästinensischen Staat
Situation braucht es jedoch mehr als widersprüchliche,
geben wird. Auch das muss berücksichtigt werden.
offensichtlich wenig durchdachte und damit letztlich
auch fahrlässige Einzelaktionen. Mehr denn je brauchen Es wäre übertrieben, zu sagen, dass die indirekten
wir starke demokratische Partner in der Region. Wir Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinen-
Deutsche haben in der Vergangenheit Israel und in den sern im Westjordanland auf einem guten Weg waren, bis
letzten Jahren auch die Türkei als solche verlässlichen die Ereignisse der letzten Woche wieder einmal alles in-
Partner kennen und schätzen gelernt. Beide Staaten sind frage stellten. Aber nach langem Zögern und Taktieren
entscheidende Stabilitätsfaktoren in der Region. Die wurden endlich wieder erste Schritte getan. Wir und die
Bundeskanzlerin hat in Telefonaten mit Regierungschef israelische Regierung müssen zu diesem Punkt zurück-
Erdogan und Premierminister Netanjahu Deutschlands kommen und darüber hinausgehen; denn die Gespräche
Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass eine Eskala- sind der einzige Weg zum Ziel. Die Frage ist also nicht,
tion stattfindet. ob Israel einen Ausgleich mit den Palästinensern finden
wird, sondern wann. Denn bis zum Erreichen dieses Aus-
Die jüngsten Ereignisse sind eine eindringliche Mah-
gleichs wird der Konflikt mit den Nachbarn nicht gelöst,
nung an uns alle und an die internationale Staatenge-
wird die Sicherheit Israels, der wir als Deutsche – auch
meinschaft, die Verhältnisse in Gaza nachhaltig zu ver-
ich unterstreiche das hier noch einmal – ganz besonders
bessern. Der Weg zum Frieden führt dabei nicht über
verpflichtet sind, nicht erreicht werden können.
Einzelaktionen, sondern über Verhandlungen und Kom-
promisse aller Beteiligten, wobei auch das Nahostquar- Wir Deutschen können dazu mehr beitragen, als viele
tett eine prominente Rolle spielen sollte. Beide Seiten Skeptiker vielleicht meinen: zum einen – das ist in ver-
müssen den Ausgleich suchen, damit die Blockade Ga- schiedenen Gesprächen und Beiträgen deutlich gewor-
zas beendet werden kann, ohne dass dadurch die Sicher- den –, indem wir mit unseren israelischen Partnern in
heit Israels gefährdet wird. engstmöglichem Kontakt bleiben, zum anderen, indem
4636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Günter Gloser
(A) wir mit der Palästinenserregierung im Westjordanland Darin kann ich Amos Oz nur zustimmen. (C)
zusammenarbeiten, um dort eine glaubwürdige Alterna-
tive zur Hamas aufzubauen und zu stärken. Ich sage, ge- Vielen Dank.
rade als Vertreter der Opposition, ganz deutlich, dass ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
das Auswärtige Amt und den Außenminister in zwei DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Punkten ausdrücklich unterstütze: CDU/CSU und der FDP)
Erstens ist es gut, dass Außenminister Westerwelle
vor kurzem vier arabische Länder besucht hat, unter an- Vizepräsidentin Petra Pau:
derem Syrien und Libanon. Herr Staatsminister Hoyer,
die SPD fordert seit langem, die Beziehungen gerade zu Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Patrick Kurth
Syrien zu intensivieren und den deutschen Einfluss dort das Wort.
durch vertiefte Gespräche und Kooperationen zu stär- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ken. Dass damit jetzt offenbar begonnen wurde, ist posi- der CDU/CSU)
tiv; aber weitere Schritte müssen folgen.
Der zweite positive Punkt ist die Einrichtung des Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Deutsch-Palästinensischen Lenkungsausschusses, der Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Mitte Mai dieses Jahres erstmals und gleich auf Minister- Herren! Die Vorgänge vom 31. Mai sind bestürzend. Ich
ebene tagte. Das ist eine sehr praktische und zugleich bedauere genauso wie meine Vorredner die Toten und
symbolisch ungeheuer wichtige Unterstützung der kon- Verletzten auf beiden Seiten. Wir haben gesehen, dass
struktiven Kräfte rund um den palästinensischen Minis- die Situation dort sehr viel labiler ist als gedacht. Wir
terpräsidenten Fajjad. sollten, wenn wir über diesen Tag sprechen, auch über
Wir dürfen aber – damit komme ich zurück zum die Vorbedingungen und die Gesamtlage sprechen. Die
Thema – bei alledem den Gazastreifen nicht vergessen. Situation im Nahen Osten insgesamt ist bekannt. Die Si-
Der Unterschied im Lebensstandard zwischen Gaza und tuation im Gazastreifen ist mehr als unbefriedigend. Die
Westbank wächst dramatisch. Die ideologische, wirt- Blockade des Gazastreifens führt ohne Zweifel zu einer
schaftliche und räumliche Trennung trägt Tag für Tag unerträglichen humanitären Situation der dort lebenden
dazu bei, genauso wie die Blockade des Gazastreifens Menschen. Herr Staatsminister Hoyer, herzlichen Dank
durch Israel. für Ihre sehr klaren Worte heute. Sie waren in dieser
Klarheit, auch für einige von uns, möglicherweise über-
Ich will es noch einmal ganz klar sagen: Israel hat raschend.
(B) seine selbstgesteckten Ziele mit dieser Blockade nicht (D)
erreicht. Die Hamas bekommt alles, was sie braucht, Vor diesem Hintergrund muss klar sein, dass friedli-
durch Schmuggel: Waffen, Geld und Material. Zugleich cher Protest und friedliche Demonstrationen, die dazu
wird aber die Bevölkerung des Gazastreifens in Elend dienen, auf diese Situation aufmerksam zu machen, zu
und Arbeitslosigkeit und damit in absoluter Abhängig- akzeptieren sind. Aber im Gazastreifen ist eine Organi-
keit von der Hamas gehalten. Deshalb gehört die Blo- sation an der Macht, die gewaltsam agiert, die Vernich-
ckade aufgehoben. Die Kontrollen müssen zugleich tung Israels offen propagiert und vor bestimmten Aktio-
deutlich verbessert werden. Das sollte nicht durch Israel nen – auch vor Angriffen auf israelische Ziele – nicht
allein, sondern unter anderem auch mit europäischer zurückschreckt. Das sind die Umstände. In dieser Situa-
Hilfe geschehen. Nur wenn das gelingt, können Gaza tion fährt ein Konvoi mit mehreren Tausend Tonnen
und Westbank wieder zusammengeführt werden und Hilfsgütern und einigen Hundert Aktivisten an Bord los.
dann gemeinsam einen unabhängigen, lebensfähigen Dabei waren Aktivisten – die meisten sicherlich mit eh-
und friedlichen Palästinenserstaat bilden. renwerten Motiven, manche mit Kalkül, manche naiv –,
knallharte Provokateure und manche, die schon vorher
Mich hat in der letzten Woche ein Zitat des israeli- gesagt haben, sie wollten zu Märtyrern werden. Laut tür-
schen Schriftstellers Amos Oz besonders beeindruckt. Er kischen Medien waren 40 der türkischen Teilnehmer ge-
hat hervorgehoben, dass es falsch ist, die Hamas nur mit waltbereit. Drei der Getöteten hatten vorher bekundet,
militärischen Mitteln zu bekämpfen, denn die Hamas sei dass sie auf diesem Trip als Märtyrer sterben wollen.
nicht nur eine terroristische Organisation, sondern eben Das sind die Fakten, die man bei aller Kritik an dem is-
auch eine Idee, nämlich die verzweifelte und falsche raelischen Vorgehen nicht vergessen darf.
Idee, dass man den palästinensischen Interessen mit Ge-
walt gegen Israel dienen könne. Dazu schreibt Amos Oz Sie wissen, dass Israel angeboten hat, die Hilfsliefe-
weiter: rung zu prüfen und auf dem Landweg nach Gaza zu ver-
senden. Das Angebot wurde ausgeschlagen. Sie wissen,
Um eine Idee zu besiegen, muss man etwas Besse-
dass der Kapitän mehrfach gewarnt und aufgefordert
res präsentieren, eine Idee, die attraktiver und ak-
wurde, abzudrehen; das wurde bewusst ignoriert bzw.
zeptabel ist. Israel wird die Hamas nur dann los,
negativ beschieden. Eine Konfrontation und die mediale
wenn es sich mit den Palästinensern rasch über die
Aufmerksamkeit sollten also bewusst provoziert werden.
Errichtung eines unabhängigen Staates …
In diesem Kontext durchbrechen die Schiffe die Blo-
– gemeint ist Palästina – ckade.
verständigt. (Zurufe von der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4637
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) Es handelt sich dabei allerdings nicht um einen Sitzstreik jeder, der bei dieser Aktion ums Leben gekommen ist, (C)
in Deutschland, sondern um ein Geschehen im Nahen ein Toter zu viel gewesen ist, dass es nicht gut ist, dass
Osten. Ein kleiner Flügelschlag kann dort zum Erdbeben Verletzte zu beklagen sind, und dass es internationale
führen. Die Region ist hochsensibel. Die Akteure sind Untersuchungen geben muss. Es ist auch schon deutlich
grundsätzlich nervös. Es reichen dort wenige Aktionen geworden – Christoph Strässer, Frau Müller und auch
aus, um eine blutige Auseinandersetzung zu provozie- andere haben darauf hingewiesen –, dass die Politik, die
ren. Das sind die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. Israel in Bezug auf den Gazastreifen und zum Teil auch
in Bezug auf die Westbank verfolgt, sicherlich nicht er-
Man darf also deutlich sagen, dass auch Fehler und folgversprechend ist, zumindest hat sie nicht das ge-
manche Vorhaben der Aktivisten zu dieser Eskalation bracht, was Israel sich erhofft hat. Diverse Zahlen dazu
massiv beigetragen haben. Keiner der Beteiligten wollte sind schon genannt worden.
eine derartige Eskalation; davon kann man ausgehen. Ich
schließe mich denjenigen an, die argumentieren, hier Man könnte hinzufügen: Sogar wir, Deutschland, sind
handele es sich um eine fatale Kette von Fehleinschät- betroffen; denn Deutschland versucht, in der Mitte des
zungen, die im Ergebnis von keiner Seite in diesem Aus- Gazastreifens – Herr Niebel kennt den Fall – eine Klär-
maß gewollt war. Genau hier spiegeln sich die verfah- anlage aufzubauen. Dass dies nicht gelingt, liegt daran,
rene Situation und die fragile Lage im Nahen Osten dass die Lieferung der Teile, die dafür notwendig sind,
wider. Ein kleiner Funke kann ausreichen, um eine große an einem Grenzübergang von Israel aufgehalten wird.
Explosion zu verursachen. Was hätte aus diesem Vorfall Ich bin Herrn Niebel sehr dankbar dafür, dass er dazu
nicht alles werden können! Manche haben es gezielt an- sehr deutliche Worte findet. Insofern kann ich sehr vie-
gestrebt, manche haben es in Kauf genommen. lem zustimmen, was hier gesagt worden ist.
Natürlich bestanden an diesem Montag auch auf un- Nichtsdestoweniger ist immer die Frage, welches
serer Seite Ängste über das Schicksal derjenigen – ihre Mittel man eigentlich anwendet und welche Möglichkei-
Identität war ja zunächst unbekannt –, die auf den Boo- ten man hat, um auf solche Missstände aufmerksam zu
ten waren. Wir stellten uns die Fragen: Was passiert als machen. Mich stört an dieser ganzen Aktion mit dem
Reaktion darauf zum Beispiel im Gazastreifen? Welche Konvoi, dass es sich meiner Meinung nach um eine un-
Mittel setzt möglicherweise Israel ein? Welche Reaktion zuverlässige Vermischung von politischer Agitation und
kommt aus der Türkei? Wie wirkt sich das auf die Stabi- von Hilfsgüterlieferung handelt.
lität der Regierung aus? Bricht eine neue Spirale der Ge- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist eine
walt aus? – Meine Damen und Herren, mit Blick auf die Glaubensfrage!)
Toten und auf die Folgen, die an diesem Tag innerhalb
weniger Stunden hätten eintreten können, war der Preis Das diskreditiert viele Hilfsorganisationen, die seriös ar-
(B) (D)
der Aktion eindeutig zu hoch. beiten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Fragen Sie sich doch einmal, warum das Rote Kreuz
Geschadet hat dieser Vorfall dem gesamten Friedens- eigentlich bei fast allen Regierungen dieser Welt akzep-
prozess im Nahen Osten. Eines ist schon jetzt klar: Die- tiert ist. Das hat etwas damit zu tun, dass das Rote Kreuz
ser Vorfall hat den gerade erst wieder aufkeimenden strikte Neutralität wahrt. Das Rote Kreuz ist sogar in
Friedensprozess zurückgeworfen. Der Anstoß für neue Ländern tätig, in denen fast niemand anders tätig sein
Bemühungen im Nahostfriedensprozess muss jetzt erfol- kann. Ich streite überhaupt nicht ab, dass politischer Pro-
gen, eine fundamentale Änderung der israelischen Gaza- test legitim ist. Darüber gibt es für mich überhaupt keine
politik inbegriffen. Der erste Schritt muss sein – diese Diskussion. Ich glaube nur, dass die Vermischung von
Auffassung teilt man offensichtlich fraktionsübergrei- beidem schlecht ist. Dadurch werden nämlich auf der ei-
fend –, eine unabhängige internationale Untersuchung nen Seite neutrale Organisationen diskreditiert, und auf
des Vorfalls durchzuführen. der anderen Seite dient es dem Zweck nicht. Auf mögli-
che Folgen dieser Aktion ist ja sehr deutlich hingewiesen
Herzlichen Dank. worden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜND- ken, Sie sind hier nie zimperlich mit Ihrer Wortwahl, und
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie sind auch relativ schnell dabei, uns alles Mögliche zu
unterstellen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir sagen
Für die Unionsfraktion spricht der Kollege Holger immer die Wahrheit! Das ist das Problem da-
Haibach. bei!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich würde gern der Frage nachgehen wollen: Wer war ei-
der FDP) gentlich dabei? Hätte man das nicht vorher wissen kön-
nen? – In der ARD-Sendung Report Mainz vom 7. Juni
Holger Haibach (CDU/CSU): 2010 wurde unter anderem ein Interview mit Frau Groth
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ausgestrahlt. In diesem Interview antwortete Frau Groth
Herren! Ich glaube, wir sind uns alle darüber einig, dass auf die Frage, wer mit ihr reise:
4638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Holger Haibach
(A) …, fragen Sie doch die Dame von Pax Christi. Die a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (C)
kennt sich da vielleicht eher aus als ich. gierung
Auf die Frage, ob sie sich nicht vor der Fahrt über die Gutachten zu Forschung, Innovation und
Mitreisenden informiert habe, antwortete sie: „Ich be- technologischer Leistungsfähigkeit 2010
ende das jetzt!“ Ich unterstelle Ihnen die besten Absich-
ten, aber es ist zumindest fahrlässig, wenn man weiß, – Drucksache 17/990 –
dass sich die Gruppe an Bord offensichtlich sehr multi- Überweisungsvorschlag:
pel zusammensetzt. Unter anderem waren dort – das Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
wird nicht bestritten – Mitglieder einer in der Türkei täti- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gen Partei, Funktionäre der BBP. Das ist eine Partei, de- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ren demokratische Legitimation – um es ganz vorsichtig Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu formulieren – extrem zweifelhaft ist. Das müssen Sie Ausschuss für Tourismus
jetzt nicht mir glauben, aber Sie können natürlich gern b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
Ihrer eigenen Fraktion glauben, Frau Groth. gierung
Mit Genehmigung der Präsidentin möchte ich aus ei- Bundesbericht Forschung und Innovation
ner Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke aus dem 2010
Jahr 2007 mit der Überschrift „Türkische Rechtsextreme
in Deutschland“ zitieren; wohlgemerkt: Ich zitiere nicht – Drucksache 17/1880 –
die Antwort der Bundesregierung, sondern die Vorbe- Überweisungsvorschlag:
merkungen der Fragesteller. Darin heißt es: Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Als „Graue Wölfe“ … werden die Anhänger der Sportausschuss
rechtsextremen „Partei der Nationalistischen Bewe- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
gung“ MHP und der von dieser abgespaltenen isla- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
misch-nationalistisch orientierten „Großen Ein- Ausschuss für Kultur und Medien
heitspartei“ BBP aus der Türkei bezeichnet.
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Weiter unten heißt es: Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Das Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein- Fraktion der SPD
Westfalen bescheinigt der Bewegung der „Grauen
(B) Wölfe“ eine rassistisch-nationalistische Orientie- Innovationslücke schließen – Zügig ein tragfä- (D)
rung, Antisemitismus … eine stark islamisch ge- higes Konzept zur Stärkung der Innovations-
färbte Ideologie, Gewaltbereitschaft und am Füh- und Validierungsforschung vorlegen
rerprinzip ausgerichtete totalitäre Strukturen.
– Drucksache 17/1958 –
Die „Grauen Wölfe“ … vertreten einen ausgepräg- Überweisungsvorschlag:
ten Rassismus gegenüber nicht türkisch-islami- Ausschuss für Bildung, Forschung und
schen Bevölkerungsteilen der Republik Türkei wie Technikfolgenabschätzung (f)
Kurden, Aleviten und christlichen Minderheiten. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
„Zu den ‚Feinden‘ gehören Armenier, Griechen, Ju- Haushaltsausschuss
den, Freimaurer, Nachkommen von Sabbatei Zwi,
Europäer, Amerikaner, Russen und Kurden“ … Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Dies kommt nicht von mir, sondern von Ihnen. Es ist aus Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
dem Jahr 2007. Sie hätten wissen können, mit wem Sie
sich dort aufs Schiff begeben haben. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schavan, der ich auch von hier aus recht herzlich zu ih-
rem heutigen Geburtstag gratuliere.
Insofern: Für mich gibt es überhaupt keine Diskus-
sion darüber, dass politischer Protest vollkommen legi- (Beifall)
tim ist. Aber vermischen Sie das nicht mit Hilfsleistun-
gen; denn Sie diskreditieren dann alle diejenigen, die in
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
neutraler und guter Absicht Hilfe leisten.
dung und Forschung:
Danke sehr. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Bundesbe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richt Forschung und Innovation 2010 wird mit Blick auf
die Entwicklung des Forschungsstandorts Deutschland
Vizepräsidentin Petra Pau: Bilanz gezogen: Bilanz über den Zusammenhang zwi-
Die Aktuelle Stunde ist beendet. schen Forschung und Innovation, Bilanz über den Zu-
sammenhang zwischen Forschung und wirtschaftlicher
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a bis 5 c auf: Entwicklung in Deutschland.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4639
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) Die Daten sind erfreulich und eindeutig. Es gibt eine der deutschen Wirtschaft beträgt. Aus diesem Grunde ist (C)
erhebliche Dynamik am Forschungsstandort Deutsch- dieses Thema nicht nur ein Ressortthema. Wir sind nicht
land. Seit 2005 sind die Investitionen für Forschung sei- Weltmeister niedriger Löhne, sondern wollen Weltmeis-
tens der öffentlichen Hand um 21 Prozent gestiegen, und ter der Innovationskraft sein. Denn davon hängt die
wir haben damit zugleich – das ist ja immer Ziel unserer Wirtschaft von morgen ab.
öffentlichen Investitionen – Dynamik bei den Investitio-
nen seitens der Unternehmen erreicht. Diese Investitio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nen sind nämlich um 19 Prozent gestiegen. Seit der Wie- Neben der Dynamik im Bereich der Finanzen und der
dervereinigung, also in den letzten 20 Jahren, hat es neuen Impulse bei der strukturellen Entwicklung ist es
nicht einen so hohen Anteil von Forschung und Entwick- eine weitere positive Entwicklung, dass sich immer
lung am BIP gegeben, nämlich 2,7 Prozent. Das ist eine mehr junge Leute für eine hochqualifizierte Ausbildung
überaus gute und dynamische Entwicklung in den letzten im Wissenschafts- und Forschungsbereich interessieren.
Jahren. Der Anteil der Studienanfänger eines Jahrgangs ist im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahr 2009 auf über 43 Prozent gestiegen. Diejenigen, die
schon länger bildungspolitische Debatten führen, wis-
Durch den Bericht wird deutlich, dass wir uns natür- sen, wie viele Jahre von allen gefordert wurde, einen An-
lich mit Trends außerhalb Deutschlands beschäftigen teil von 40 Prozent zu erreichen. Mittlerweile liegt der
müssen. Anteil aber bereits bei 43 Prozent – Tendenz steigend.
Erstens. Die Gewichte verschieben sich. Länder wie Das ist der dritte zentrale Faktor: Die jungen Leute, die
China, Indien und Brasilien legen hier deutlich zu, inves- sich für ein wissenschaftliches Studium interessieren
tieren konsequent, sind übrigens auch an internationalen und in die Forschung gehen möchten, werden von uns
Kooperationen stark interessiert. Deshalb war es richtig, ermutigt, diesen Weg zu gehen.
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir im Koalitions- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
vertrag festgelegt haben: Bei der Internationalisierung
unserer Forschungspolitik wollen wir einen Schwer- Wer den Bundesbericht Forschung und Innovation
punkt bei den Entwicklungs- und Schwellenländern le- 2010 liest, stellt sofort eine Verbindung zwischen dem
gen. Wir werden auch in den nächsten Jahren alles tun, Wissenschafts- und dem Bildungssystem her. Die Bun-
um mit den besten, also mit exzellenten Partnern Koope- desregierung und die sie tragenden Fraktionen haben da-
rationen auf internationaler Ebene zu schmieden. für gesorgt – dies wird auch in fünf oder sechs Jahren im
90 Prozent des Wissens wird außerhalb Deutschlands Bundesbericht stehen –, dass in den nächsten Jahren die
generiert. Das heißt: Die Internationalisierung bleibt in eindeutige Priorität im Bereich von Bildung und For-
(B) dieser Legislaturperiode ein zentrales Projekt. schung liegt. Das hat es so noch nie gegeben. Das lassen (D)
wir uns auch nicht kleinreden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der zweite Trend, der beschrieben wird, betrifft die
Investitionen innerhalb Deutschlands. Die Zahl der Pu- Natürlich liegt die Priorität im Bereich der Finanzen; das
blikationen und Patente ist in Deutschland in den letzten zeigen die 12 Milliarden Euro. Das ist in Zeiten wie die-
Jahren um 20 Prozent gestiegen. Es ist also eine deutlich sen keine Kleinigkeit; darauf ist heute Morgen mehrfach
positive Entwicklung zu erkennen. Diejenigen unter uns, hingewiesen worden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt
die international unterwegs sind, spüren, dass es ein ho- aber auch bei neuen Impulsen und der Umsetzung unse-
hes Interesse am Forschungsstandort Deutschland gibt. rer Konzepte.
Außerdem gibt es ein hohes Interesse an Forschungsko- Ich möchte in diesem Zusammenhang eines aus-
operationen mit unseren Universitäten. Unsere Devise in drücklich erwähnen: Ich habe mir die Debatte, die heute
dieser Legislaturperiode lautet also – davon sind wir fest Morgen geführt wurde, angehört. Manchmal denke ich,
überzeugt –: Forschung bedeutet Arbeit an der Quelle dass mancher mit seinen Textbausteinen irgendwo hän-
künftigen Wohlstands. Die strukturelle Weiterentwick- gen geblieben ist.
lung des Wissenschaftssystems hat für uns deshalb Prio-
rität. Wir werden neue Allianzen zwischen Wissenschaft (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
und Wirtschaft schmieden. Das Karlsruher Institut für der FDP)
Technologie und die Entwicklung neuer Zentren der Ge-
Das ist im Computerzeitalter leichter möglich; da kön-
sundheitsforschung in verschiedenen Regionen Deutsch-
nen Sie immer wieder auf die entsprechende Taste drü-
lands sind Beispiele für strukturelle Innovation. Wir in-
cken, und es kommt immer wieder das gleiche Zeug he-
vestieren nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern
raus.
setzen auch neue Konzepte um. Wir schmieden Allian-
zen und wollen das Wissenschaftssystem strukturell wei- Wir haben uns doch alle weiterentwickelt: in der Gro-
terentwickeln. Denn das stärkt unsere internationale ßen Koalition, in den Ländern, in denen jetzt fast alle,
Position. die hier vertreten sind, irgendwie Verantwortung tragen.
Jeder weiß, wie kompliziert es ist, auch nur eine kleine
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Reform so umzusetzen, dass die Bürger am Ende sagen:
Das alles hat ein solches Gewicht, weil der Anteil von Das ist gut. Jeder weiß, wie schwierig es mit den Finan-
Gütern, Produkten, Dienstleistungen und Verfahren, die zen ist; jeder weiß, dass es in dieser Gesellschaft in na-
auf Forschung basieren, 45 Prozent der Wertschöpfung hezu keiner einzigen bildungspolitischen Frage einen
4640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) Konsens gibt, sondern Pluralität, Vielfalt. Das kann man Ich werbe dafür, dass wir diesen Weg zur Bildungsre- (C)
auch gut finden; ich finde es in Ordnung. publik Deutschland weitergehen, an einem Strang zie-
hen, klare Akzente setzen und damit auch deutlich ma-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- chen: Wir wissen, welches die zwingend notwendige
wie des Abg. Patrick Meinhardt [FDP] Voraussetzung für den Forschungsstandort Deutschland
Aber man muss doch bereit sein, darüber zu diskutieren, ist, nämlich gute Bildung für jedes Kind und jeden Ju-
sich dem zu stellen, statt immer die gleiche Feststellung gendlichen.
zu treffen, dass der Bildungsstandort nicht vorankomme.
Vielen Dank.
Dieser Bildungsstandort Deutschland ist in den letz-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten Jahren vorangekommen, und er ist es nicht nur im
Hinblick auf Geld. Dies zeigt auch der Vergleich der
letzten PISA-Studie mit der ersten PISA-Studie. Diese Vizepräsidentin Petra Pau:
habe ich als Präsidentin der Kultusministerkonferenz Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPD-
vorgestellt und weiß deshalb noch ganz genau, was darin Fraktion.
stand. In diesen zehn Jahren ist enorm viel passiert. Wir
(Beifall bei der SPD)
konstatieren den Rückgang der Schulabbrecherzahlen,
eine größere Spitzengruppe und eine Verringerung der
Zahl derer, die am unteren Ende sind. René Röspel (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Deshalb rate ich uns dringend: Wenn es uns gelingen Herren! Frau Schavan, erlauben Sie mir, Ihnen heute
soll, diese Dynamik am Forschungsstandort Deutschland auch namens der Fraktion ganz herzlich zum 55. Ge-
zu erhalten, dann müssen jetzt alle auch einmal über ih- burtstag zu gratulieren. Ich wünsche Ihnen alles Gute.
ren Schatten springen,
Jetzt wird es wieder politisch: Wenn man wie ich schon
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fast elf Jahre hier stehen darf und immer wieder über die
dann müssen wir sensibler wahrnehmen, was sich ver- Einbringung eines Bundesberichtes Forschung und Inno-
bessert hat und auf welchen Gebieten wir gut geworden vation oder des Berichtes der Expertenkommission For-
sind. Dazu zählt, das Flaggschiff berufliche Bildung schung und Innovation debattieren kann – das ist eine Ex-
stärker herauszustellen, zum Beispiel im europäischen pertenkommission, die sich die Forschungslandschaft
Kontext. Deutschland sozusagen von außen, unabhängig anguckt –,
dann kann man als Bildungs- und Forschungspolitiker
(Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!) hier durchaus relativ gut gelaunt stehen, denn die letzten (D)
(B)
Wir müssen wirklich an einem Strang ziehen, wenn es elf Jahre sind nicht schlecht gewesen.
darum geht, die wohl 200 verschiedenen Maßnahmen zu Ich habe als Wissenschaftler noch die bleierne Zeit
bündeln, die sich mit dem Übergang von der Schule in der 90er-Jahre erlebt, als der Bildungs- und For-
den Beruf befassen und die es auf allen möglichen Ebe- schungsetat unter dem damaligen Forschungsminister
nen gibt, von jeder einzelnen Kammer bis hin zum Bund Rüttgers und ehemaligen Ministerpräsidenten von Nord-
und zu den Ländern. Der erste wichtige Schritt ist ge- rhein-Westfalen entweder stagnierte oder sogar gekürzt
schehen. Diese Aufgaben gemeinsam zu lösen, dafür wurde. Diese Zeit ist seit dem Jahr 1989 glücklicher-
werbe ich. weise vorbei, als Rot-Grün die Regierung übernahm –
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Steht das auch im Forschungsbericht?) 1998 war das!)
Ich lasse dann auch nicht zu und halte es für wirklich- – ich bitte um Entschuldigung, seit 1998; ich habe beides
keitsfremd, ewig so zu tun, als konzentrierten wir uns miterlebt –
auf Maßnahmen, die mit den wirklichen Nöten im Bil-
dungssystem nichts zu tun haben. Nein, wer sich die vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gesehene Verwendung der 6 Milliarden Euro für Bildung
und Bildung und Forschung in dieser Republik einen an-
anschaut, erkennt genau zwei Schwerpunkte. Der erste
deren Stellenwert erhalten haben, nicht nur was die Stei-
Schwerpunkt betrifft etwas, das 60 Jahre lang nicht ge-
gerung der Finanzmittel anbelangt. Man kann sowohl im
leistet worden ist, die Stärkung der Lehre an Hochschu-
Bericht der EFI als auch im BuFI sehr gut nachvollzie-
len. Das kommt den Studierenden zugute. Die anderen
hen, wie das aussah.
50 Prozent der Mittel sollen der Stärkung der Förderung
für Benachteiligte zugutekommen. Das sind unsere bei- Ich bin sehr froh, dass wir das in der Großen Koali-
den Schwerpunkte: einerseits die Studierenden – dritte tion ab 2005 haben fortsetzen können. Die Zuwächse
Säule Hochschulpakt –, sind weiter gestiegen. Ich bin sehr zufrieden, dass auch
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in der neuen Regierung erkannt worden ist, dass Bildung
Das ist ja schön!) und Forschung eine zentrale Aufgabe in dieser Republik
ist. Kompliment für die 12 Milliarden Euro! Wir sehen
andererseits die Förderung der Benachteiligten mit all sie noch nicht ganz. In den Erläuterungen zum Sparpaket
den Maßnahmen, die schon auf dem Weg sind, ein- vom Montag steht – ich habe es mir extra herausge-
schließlich der Bildungslotsen. schrieben –:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4641
René Röspel
(A) Wir halten an unserem Ziel fest, 12 Milliarden Euro tostromverbrauches stammen mittlerweile aus erneuer- (C)
zusätzlich für Forschung, Bildung und Entwicklung baren Energien.
bis 2013 bereitzustellen.
Dies schafft Arbeitsplätze in einer Dimension, wie
Das klingt etwas anders, als wenn man sagen würde: wir das bis dato nicht gekannt haben. Es hat zu einem
Wir werden das auch tun. Technologieschub geführt, wie es ihn vorher nicht gab.
Zu Recht widmet der EFI-Bericht extra ein Kapitel dem
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Wir Bereich Fotovoltaik, um nicht nur die Bedeutung für die
tun das!) Arbeitsplätze, sondern auch für Ostdeutschland insge-
Möglicherweise klingt in dieser Formulierung die Unsi- samt herauszustellen. Denn dort findet die entspre-
cherheit mit, chende Produktion in erhöhtem Maße statt.
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Das ist die Empfehlung von EFI. Was ist die Antwort
Kleinkrämer!) der schwarz-gelben Regierungspolitik? Sie kürzen die
Mittel für Förderungen und Anreizprogramme im Be-
ob das alle Beteiligten auch wirklich mittragen können. reich der erneuerbaren Energien und der Solarstromein-
Denn – dies ist heute Morgen mehrmals gesagt worden – speisung. Der Bundesrat hat jetzt ein Veto eingelegt. Wir
Sie hauen den Ländern über die Steuerpolitik, die Sie in werden sehen, was dabei herauskommt. Das einzig Gute
letzter Zeit gemacht haben, die Finanzierungsmöglich- an dieser Maßnahme, die Perspektiven verhindert und
keiten weg. die Schaffung neuer Industrien und die Entwicklung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten neuer Technologien behindert, ist, dass es Ihnen wahr-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) scheinlich wie mir geht: Wir bekommen im Wahlkreis
mit, wie viele Unternehmen mittlerweile im Bereich der
Rot-Grün hat 1998 nicht nur die Mittel erhöht, son- erneuerbaren Energien arbeiten.
dern auch inhaltlich neue Schwerpunkte gesetzt. Das
Wahlprogramm der SPD hieß damals: „Arbeit, Innova- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tion und Gerechtigkeit“. Das heißt, wir wollten Bildung DIE GRÜNEN)
und Forschung einen neuen Stellenwert geben. Wenn Da spricht mich ein Unternehmer mit 200 Beschäftigten
man den BuFI aufschlägt, findet man sehr schnell unter an, dessen Unternehmen Wechselrichter für die Erzeu-
dem Stichwort „Die drei Reforminitiativen von Bund gung von Solarenergie herstellt. Da kommen Vertreter
und Ländern“ drei sehr wesentliche Initiativen, die in eines Stahlwerkes auf mich zu, das Elektroband für die
den letzten Jahren die Bildung vorangebracht haben: Erzeugung von Energie durch Windkraftanlagen produ-
Das ist erstens der Pakt für Forschung und Innova- ziert und Arbeitsplätze sichert, die umweltfreundlich
(B) (D)
tion, mit dem die außeruniversitären Wissenschaftsein- und standortnah sind. Diese Regierung aber hat nichts
richtungen und -organisationen deutlich gefördert wer- anderes im Sinn, als diesen Technologiezweig in höchs-
den. tem Maße zu verunsichern.

Das ist zweitens der Hochschulpakt für mehr Studien- Ein weiteres Problem, auf das im Bericht der Exper-
plätze und bessere Studienbedingungen. tenkommission, über den wir heute auch diskutieren,
hingewiesen wird, ist der mangelnde Technologietrans-
Das ist drittens die Exzellenzinitiative, die die For- fer, der in Deutschland stattfindet, also der Übergang
schungslandschaft in Deutschland tatsächlich bewegt von Forschungsergebnissen in kommerziell nutzbare
hat. Produkte wie MP3-Player, Faxgeräte und Ähnliches.
Alle drei Reforminitiativen sind übrigens Ergebnisse Wir legen heute als SPD-Fraktion einen Antrag vor
rot-grüner Regierungspolitik, unterschrieben von Edelgard – nachdem wir lange Jahre in der Großen Koalition da-
Bulmahn, der SPD-Bildungsministerin, in 2005. Wir rüber diskutiert haben und nicht weitergekommen sind –,
freuen uns, dass diese Initiativen sehr weit vorne im Bun- der sich dem Thema Validierungsforschung widmet. Wir
desbericht Forschung und Innovation ihren Platz finden. wollen also die Innovationslücke zwischen der Identifi-
zierung von Forschungsergebnissen und der Anwendung
EFI, also die Expertenkommission Forschung und
in kommerziellen Produkten, wie sie auch die EFI be-
Innovation, weist uns immer wieder darauf hin, dass wir
nennt, schließen. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesen
neue Technologien fördern müssen. Auch unter Rot-
Antrag nach der Überweisung in die Ausschüsse unter-
Grün und in der letzten Legislaturperiode gab es sicher-
stützen würden.
lich Defizite. Aber Rot-Grün hat sich das 1998 auf die
Fahnen geschrieben. Wir haben das Projekt der ökologi- Ein anderes Thema: EFI fordert auch im zweiten Jahr
schen Erneuerung der Gesellschaft auf den Weg ge- eine steuerliche Förderung von FuE-Maßnahmen in Un-
bracht. Das war damals im Wesentlichen – ich darf daran ternehmen. Die SPD hat da immer ein bisschen zurück-
erinnern – das 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm. haltend reagiert und gesagt, das müsse eine zusätzliche
Wir haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz erarbeitet, Maßnahme sein, das müsse noch oben drauf kommen.
übrigens gegen großen Widerstand der Opposition, wenn Wir hätten sehr viel Verständnis dafür, wenn diese Bun-
ich mich richtig entsinne. Es ist mittlerweile weltweit desregierung sagen würde, im Moment sind diese zu-
anerkannt. Im Bereich der erneuerbaren Energien, bei sätzlichen Mittel nicht finanzierbar. Aber es war genau
der Solartechnologie und der Windkraftenergie, sind wir diese Bundesregierung, allen voran Ministerin Schavan,
Weltmeister bzw. Marktführer. 15 Prozent unseres Brut- die im Oktober 2009 gesagt hat, diese FuE-Förderung
4642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

René Röspel
(A) müsse mit mindestens 2 Milliarden Euro kommen. Auf steigerin, ist Physikerin. Das sind genau diejenigen, die (C)
meine Anfrage beim Bundesministerium der Finanzen, am meisten gebraucht werden.
ob denn nun endlich die steuerliche Förderung kommt
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/
und wie die Ausfälle finanziert werden sollen, habe ich
CSU und der FDP)
bis heute noch keine Antwort erhalten. Das ist übrigens
parlamentsrechtswidrig. Der Sache werde ich noch ein- Werte Koalition, ich komme zum Schluss. Gratulation
mal nachgehen. zu 12 Milliarden Euro! Wir werden sehen, ob Sie das
Geld bekommen werden. Wir wissen allerdings über-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haupt noch nicht, wofür Sie es ausgeben wollen.
DIE GRÜNEN)
(Zurufe von der CDU/CSU)
EFI hat im Bericht des Jahres 2009 – man kann nicht
immer nur den Bericht aus 2010 anschauen, sondern Das ist mein letzter Kritikpunkt. Wenn ich am Anfang
muss auch schauen, was sozusagen noch an Resten aus sagte, dass es 1998 von Rot-Grün eine Strategie und ein
den letzten Jahren aufzuarbeiten ist; wir sind ja nicht nur Projekt gegeben hat, muss ich jetzt feststellen: Heute
dazu da, Papiere zu verabschieden, sondern wir müssen sehe ich kein Konzept. Sie haben keine Ideen, Sie haben
sie auch lesen – zum ersten Mal das Thema Fachkräfte- keine Konzepte, und Sie wissen auch nicht, wohin Sie
mangel in das Zentrum des Berichts gestellt. Sie schreibt: wollen – außer, dass Sie sich im Moment mit Gemüse-
und Tiernamen bezeichnen. Ich fordere Sie auf: Hören
Die Aufgaben für die F- und I-Politik Deutschlands Sie auf, sich wie die Kesselflicker zu streiten! Arbeiten
im nächsten Jahrzehnt liegen … im Umbau des Bil- Sie zusammen! Machen Sie eine gute Forschungspolitik;
dungssystems. denn die Krise bietet die Chance und die Notwendigkeit,
eine gute Forschungs- und Bildungspolitik zu machen,
In keinem anderen Industrieland sind die Bildungschan-
die für die Menschen und nicht für Ihre Regierung da ist.
cen so von der sozialen Herkunft abhängig wie in
Deutschland. Von 100 Akademikerkindern werden 88 Vielen Dank.
ein Studium aufnehmen. Bei gleicher Begabung werden
von 100 Arbeitnehmerkindern nur 23 ein Studium auf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nehmen. Das liegt nicht daran, dass diese dümmer sind, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sondern daran, dass die Bedingungen es nicht zulassen, LINKEN)
dass sie auch eine Chance zur Aufnahme eines Studiums
bekommen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat nun
(B) Das sind nicht die ewig gleichen Textbausteine, son- für die FDP-Fraktion das Wort. (D)
dern das sagt eine unabhängige Expertenkommission.
Sie fordert deshalb, dass das Bildungssystem verändert (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und reformiert sowie das im Rahmen der Föderalismus-
reform geschaffene Kooperationsverbot aufgehoben Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
werden soll. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, auch im Namen
Die Antwort der schwarz-gelben Regierung ist: Sie
meiner Fraktion wünsche ich Ihnen herzlichen Glück-
zementieren in den Ländern ein völlig veraltetes Bil-
wunsch zu Ihrem Geburtstag! Wir wünschen Ihnen Ge-
dungssystem und führen Studiengebühren ein. Damit le-
sundheit, Mut und Kraft für die Aufgaben in dem Be-
gen Sie genau denen einen Stein in den Weg, die darauf
reich, den Sie hier vertreten.
angewiesen sind, möglichst wohnortnah und kosten-
günstig zu studieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesbericht
[SPD]) Forschung und Innovation zeigt, dass Deutschland ein
führender Forschungs- und Industriestandort ist und
Oder kann jemand von den Zuschauern hier mal eben so auch künftig Schrittmacher für Forschung, Entwicklung
locker 1 000 Euro pro Jahr allein an Gebühren für das und Innovation sein wird. Die Weichen zu einem effi-
Studium seines Kindes aufbringen? – Damit grenzen Sie zienten Forschungs- und Innovationssystem sind richtig
aus. gestellt. Eines ist gewiss: Wir wollen damit das Leben
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Menschen besser und lebenswerter gestalten, für die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wirtschaft in unserem Land Wertschöpfungspotenziale
eröffnen, Arbeitsplätze schaffen sowie talentierte und
Das trifft übrigens genau diejenigen, die wir dringend hochqualifizierte Menschen fördern und deren Poten-
brauchen. Das schreibt EFI auch in ihrem Bericht. Das ziale nutzen.
trifft nämlich gerade Ausländer und Bildungsaufsteiger,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
also jene, die aus bildungsfernen Schichten kommen. Sie
der CDU/CSU)
studieren überdurchschnittlich oft ingenieur- und natur-
wissenschaftliche Fächer. Ich zähle übrigens auch zu Wir sind uns doch alle einig: Ein einfaches Weiter-so
diesen. Ich bin Bildungsaufsteiger und habe Biologie kann es nach der Empfehlung der Expertenkommission
studiert. Unsere zweite Rednerin, ebenfalls Bildungsauf- Forschung und Innovation nicht geben. Die Zielrichtung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4643
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) ist, dass unser Forschungs- und Innovationssystem seine stellern zu sprechen. Es war sehr beeindruckend, zu (C)
Stärken noch besser ausspielt. Dazu zählt natürlich auch sehen, wo und in welchem Umfang Forschung und Ent-
die Aufdeckung aller stillen Reserven, insbesondere wicklung in deutschen bzw. in Deutschland ansässigen
– das will ich hervorheben – in der Grundlagenfor- Unternehmen stattfindet. 90 Prozent der Ausgaben für
schung. Diese bildet ein riesiges Potenzial für spätere Forschung und Entwicklung der deutschen Wirtschaft
Anwendungen in der Wirtschaft. Wir brauchen – es ist investiert die Industrie. Es ist ein unglaubliches Poten-
wichtig, das an dieser Stelle immer wieder zu sagen – zial an Innovationskraft vorhanden. Das ist ein gutes
vor allen Dingen Mut, auch Mut zu neuen Wegen. Zeichen. Es lässt auch in Krisenzeiten den Kurs der
deutschen Wirtschaft hin zu Forschung und Entwicklung
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
erkennen.
der CDU/CSU)
Lassen Sie mich eines feststellen: Für den heutigen
Wir müssen forschende Unternehmen unabhängig
und künftigen Wohlstand spielt die industrielle Kompe-
von der Größe unterstützen. Hier geht es um die soge-
tenz unserer Volkswirtschaft eine entscheidende Rolle.
nannten Cluster; das ist ein schreckliches Wort, aber es
Das schließt eine enge Verflechtung von kleinen und
bringt die Verbindung zum Ausdruck. Wir müssen deut-
mittelständischen Unternehmen mit Großunternehmen,
lich machen: Wir wissen, wo der Bund die Wirtschaft
die sogenannten Cluster, ein. Deutschlands Stärke ist die
und deren Innovationsvorhaben unterstützen soll.
Verbindung aus bestehender Produktionskompetenz und
Mit unserem Antrag „Brücken bauen – Grundlagen- der Anwendung immer wieder neuer Technologien.
forschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft
Es geht darum, die Innovationskraft gerade jener Be-
nahebringen“ fordern wir die Bundesregierung auf, ein
reiche zu stützen, die letztendlich die Grundlage für die
Konzept zur Validierungsförderung vorzulegen. Ein sol-
Steigerung des Steueraufkommens in unserem Land
ches Konzept liegt uns jetzt vor und wird 2011 umge-
schaffen. Die Zahlen zum tatsächlichen Steueraufkom-
setzt.
men in unserem Land in den vergangenen fünf Jahren
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich zeigen, wie stabil und belastbar eigentlich unser Funda-
freue mich, dass auch Sie so positiv zu diesem Instru- ment auch während der letzten Krise war.
ment stehen und es eigentlich unterstützen.
Für uns heißt das: Der Weg, den wir mit der Bereit-
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, stellung von 12 Milliarden Euro für Bildung, Forschung
aber man muss es auch richtig umsetzen!) und Entwicklung eingeschlagen haben, ist richtig. Wir
dürfen uns auf keinen Fall beirren lassen. Das ist der
Ich verstehe allerdings nicht so richtig, warum Sie mit Weg in die Zukunft; da sind wir uns einig. Ich will mit
Ihrem Antrag den Aufbau neuer und großer bürokrati- einem Zitat von Frau Marie von Ebner-Eschenbach (D)
(B)
scher Strukturen fordern. schließen, die so treffend bemerkt hat:
(René Röspel [SPD]: Sie haben es nicht ver- Wer aufhört, besser werden zu wollen, hört auf, gut
standen!) zu sein!
Es geht doch darum – das ist mein Verständnis der Sache –, Ich bedanke mich.
mit diesem neuen Förderinstrument Wissenschaftler zu
unterstützen, die ihre eigenen Forschungsergebnisse auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ihre wirtschaftliche Anwendbarkeit hin untersuchen
wollen. Es soll doch eine Bewegung aus der Wissen- Vizepräsidentin Petra Pau:
schaft heraus entstehen, mit flachen Strukturen, kurzen Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Frak-
Antragswegen und vor allen Dingen schnellen Entschei- tion Die Linke.
dungswegen, gerade ohne einen Aufbau neuer Verwal-
tungsstrukturen. Die Devise muss lauten: einfach, (Beifall bei der LINKEN)
schnell und gut. Alles andere – ich glaube, da sind wir
uns einig – ist sehr kontraproduktiv. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sprechen heute zwei Berichte – das ist schon gesagt wor-
der CDU/CSU)
den – zum Thema Innovation. Der Bericht der Bundesre-
Allerdings muss die Validierungsförderung technolo- gierung ist eine fette Datensammlung von mehr als
gieoffen ausgestaltet werden und vor allen Dingen auf 600 Seiten mit gelegentlichem Hang, sich selbst auf die
die Potenziale der akademischen Forschung ausgerichtet Schulter zu klopfen. Das Expertengutachten wiederum
sein. Es ist der falsche Weg, der Validierungsförderung ist viel stärker problemorientiert, aber es ist in vielen Be-
von vornherein Fesseln anzulegen, indem man sie, wie reichen auch nicht wirklich innovativ. Viele Vorschläge
Sie sagen, zunächst auf „wenige, dynamische For- des Expertengutachtens werden nämlich längst disku-
schungsfelder“ ausrichtet. Wir werden aber in der nächs- tiert, zum Teil wird die Umsetzung schon angegangen.
ten Woche im Ausschuss Gelegenheit haben, die vorlie-
Meine Hauptkritik an beiden Berichten besteht darin,
genden Vorschläge mit Ihnen intensiv zu diskutieren.
dass Innovationsförderung von bereits vorhandenen
Lassen Sie mich etwas zu den Forschungs- und Ent- Subventionen abgekoppelt betrachtet wird. Insbesondere
wicklungsleistungen Deutschlands sagen. Ich hatte ges- Großunternehmen in der Bundesrepublik werden durch
tern Gelegenheit, die ILA zu besuchen und mit den Aus- Forschungsprogramme, Lohnsubventionen, Entlastun-
4644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Petra Sitte


(A) gen bei Arbeitgeberanteilen zur Sozial- und Krankenver- (Beifall bei der LINKEN) (C)
sicherung und natürlich auch durch massive Steuersen-
kungen öffentlich unterstützt. Das sind drei- bis Drittes Ziel: Absenkung der Zahl der Studienabbrü-
vierstellige Milliardensummen, die der öffentlichen che. Was steht in dem Gutachten? „Auch die Zahl der
Hand dadurch in den letzten Jahren verloren gegangen Studienabbrüche konnte … nicht spürbar reduziert wer-
sind. den.“ Das sind immer Zitate, meine Damen und Herren.
Nötig sind also im Vorfeld von Studienentscheidungen
Die öffentliche Hand ihrerseits finanziert also längst Vorbereitungs- und Beratungsangebote. Das Studium
direkt und indirekt Kernaufgaben von Unternehmen. selber muss viel flexibler gestaltet werden. In anderen
Dennoch, so der Bericht der Expertenkommission, sind Ländern sind Teilzeitstudien überhaupt kein Thema
die Ergebnisse nicht befriedigend. Die Expertenkommis- mehr. Bei uns fällt jeder Studierende automatisch aus der
sion sagt uns, ein Umdenken sei dringend notwendig. BAföG-Förderung heraus, wenn ein Teilzeitstudium an-
Die Linke wiederum sagt: Sicherster Garant für Innova- gestrebt wird. Das wird nicht anerkannt.
tion ist ein qualifiziertes und ausfinanziertes öffentliches
Bildungs- und Wissenschaftssystem. Viertes Ziel: Senkung der Studienzeiten und Überar-
beitung von Lehrinhalten, Verbesserung der Betreuungs-
(Beifall bei der LINKEN) relation. Die Reform wurde, so die Experten – ich zitiere
Innovationsschübe sind vor allem von Menschen zu er- wieder –, „kaum für grundlegende inhaltliche und didak-
warten, die immer wieder und immer weiter lernen, tische Änderungen … genutzt“. Anforderungen seien für
Menschen, die eine klare Berufsperspektive haben, exis- Lehrende und Studierende unangemessen und unerfüll-
tenzsichernde Einkommen beziehen, auch im qualifi- bar. Ebenso wie das Gutachten votiert die Linke aus-
zierten und hochqualifizierten Bereich, und zwar unter drücklich für die Mitgestaltung der Beteiligten, um nicht
Arbeitsbedingungen, die Engagement und Kreativität weiterhin am Studienalltag vorbei zu reformieren. Für
herausfordern und fördern. eine bessere Qualität des Studiums sind am Ende mehr
Wahl- und Vertiefungsmöglichkeiten entscheidend. Da-
Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, so das für brauchen Hochschulen mehr Freiräume bei der Aus-
Expertengutachten, setzt neue Potenziale frei. Das ist als gestaltung und Festlegung der Dauer beispielsweise von
Feststellung so neu nicht. Natürlich grüßt das Murmel- neuen Studiengängen in Prüfungs- oder in Studienord-
tier längst aus der Furche. Darüber geht noch ein weite- nungen.
rer Ministeringeburtstag ins Land. Aber das Gutachten
bewertet unter dieser Prämisse die aktuelle Studienre- Fünftes Ziel der Reform: Abbau von Hindernissen,
form, auch bekannt unter dem Begriff Bologna-Reform. die den Wechsel zwischen Hochschulen in Deutschland
(B) Das Urteil des Gutachtens? Überschrift: „Bologna reicht und dem Ausland erschweren. Bisher gibt es – ich zitiere (D)
nicht.“ Das heißt, das Gutachten gibt uns ein weiteres wieder das Gutachten –:
Alarmsignal. Deshalb habe ich beschlossen, in meinem
Redebeitrag die Reformziele durchzugehen. Immerhin … keine deutliche Erhöhung des Ausländeranteils
hat die Ministerin vorhin ausdrücklich gesagt, man sei … Selbst in Masterprogrammen … nimmt dieser
mit dem Bildungsstandort Deutschland ziemlich weit seit 2001 deutlich ab.
vorangekommen. Daraus folgt: Studienleistungen müssen großzügig ge-
Erstes Ziel der Bologna-Reform: Öffnung der Hoch- genseitig anerkannt werden, und die Finanzierung von
schulen, vor allem für Jugendliche aus einkommens- Auslandsaufenthalten von deutschen Studierenden muss
schwächeren Familien. Was steht dazu in dem Gutach- ausgebaut werden.
ten? Ich zitiere: „Erste Ergebnisse nähren diese
Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es
Hoffnung nicht.“ Das heißt, soziale Auswahlmechanis-
derzeit zahlreiche Aktionen gibt, bei denen es um mehr
men setzen sich an den Hochschulen fort. Die Linke ist
und bessere Bildung geht. Am Willen seitens der Studie-
daher nicht nur gegen Studiengebühren. Nein, wir wol-
renden oder der Schüler und Schülerinnen mangelt es of-
len mittelfristig ein insgesamt harmonisiertes System der
fensichtlich nicht. Das Gutachten titelt „Bologna-Re-
Bildungsförderung, das Schülerinnen und Schüler, Aus-
form reformieren“, aber ohne verbindliche Zusagen ist
zubildende, Studierende und natürlich auch Berufstätige
dieses Ziel nicht erreichbar. Das ist die klare Botschaft
zur Fortbildung ermutigt.
des vorliegenden Gutachtens. Deshalb sind wir der Mei-
(Beifall bei der LINKEN) nung – Frau Hein hat das eben in Bezug auf das Koope-
rationsverbot erläutert –, dass Bund und Länder in der
Zweites Ziel der Bologna-Reform: Erhöhung der Zahl Pflicht stehen, etwas gemeinsam zu unternehmen. Wenn
der Studienanfängerinnen und -anfänger, vor allem von der Bologna-Prozess die Hochschulen nicht als Kern des
Frauen in naturwissenschaftlichen und technischen deutschen Innovationssystems stärkt, dann werden auch
Richtungen. Was steht in dem Gutachten? „Die noch so ausgeklügelte Unternehmensförderungen diesen
Erwartung … wurde bislang enttäuscht.“ Ich finde, Inte- Verlust nicht wettmachen. Innovationskraft gewinnt aus
resse kann nicht früh genug geweckt werden. Dazu be- solch einer Reform allemal mehr Schub, weil wissen-
darf es vielfältiger individualisierter Angebote, insbe- schaftlich kompetente, inspirierte und kreative Men-
sondere für Mädchen. Ein G-8-Abitur beispielsweise schen mehr Dynamik und mehr Energie freisetzen.
verengt eben das Zeitfenster für solche individualisierten
Angebote. Danke schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4645
Dr. Petra Sitte
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. zieren. Bei der Hotelsubventionierung sind Sie noch ran- (C)
Dr. Peter Röhlinger [FDP]) gegangen wie die „Wildsau“. Bei der steuerlichen For-
schungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen
Vizepräsidentin Petra Pau: haben Sie sich aber als innovationspolitische „Gurken-
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Frak- truppe“ herausgestellt.
tion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Worum wäre es eigentlich gegangen? Kleine und
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehr- mittlere Unternehmen profitieren einfach nicht in ange-
tes Geburtstagskind! Frau Schavan, ich hätte schon er- messener Weise von der Projektförderung – das zeigt die
wartet, dass Sie hier nicht einfach die Bildungsdebatte Statistik –, weil der Förderung ein aufwendiges Verfah-
von heute Morgen fortführen, ren mit vielen Anträgen vorausgeht. Deswegen ist es
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES sinnvoll, dass man die Projektförderung zielgenau er-
90/DIE GRÜNEN und der SPD) gänzt und dabei auch junge Start-ups, die noch keine Ge-
winne machen, berücksichtigt. Man muss dafür sorgen,
sondern auch etwas zu den offenen Fragen in der For- dass das Geld nicht für unnötige Mitnahmeeffekte ver-
schungspolitik sagen. Eine offene Frage ist doch, dass plempert wird, für große Konzerne, die sowieso an na-
die Expertenkommission mehrfach angemahnt hat, dass tionalen und europäischen Forschungstöpfen sitzen. Ge-
wir neben der Projektförderung auch eine steuerliche nau diese Bedingungen erfüllt das Konzept der Grünen.
Forschungsförderung für kleine und mittlere Unterneh- Sie hätten es einfach übernehmen können. Sie hätten
men brauchen. Was ist denn damit? Die Grünen haben noch nicht einmal Lizenzgebühren dafür zahlen müssen.
schon in der letzten Legislaturperiode ein zielgenaues
und praktikables Konzept vorgelegt. Es ist ein Treppen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
witz und sagt viel über den traurigen Zustand der Koali- Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das
tion aus, dass ausgerechnet eine sogenannte bürgerliche funktioniert nicht, Frau Sager!)
Regierung in dieser Frage kläglich versagt und nichts zu-
Ihre falsche Steuerpolitik gefährdet jetzt auch andere
stande bringt.
sehr wichtige forschungspolitische Vorhaben. Der Pakt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für Forschung und Innovation steht seit Juni des letzten
sowie bei Abgeordneten der SPD) Jahres unter Finanzierungsvorbehalt. Diverse Länder ha-
ben gesagt, dass sie ihren Beitrag zum 5-prozentigen
Ausgerechnet die angebliche Wirtschaftspartei FDP Aufwuchs bei den Forschungseinrichtungen und For- (D)
(B) sieht den Zustand unseres Landes eher durch die Sub-
schungsorganisationen nur dann erbringen können, wenn
ventionierung von Hotelübernachtungen gesichert. Das ihnen die Mittel dafür nicht durch die Steuerpolitik des
ist doch wirklich ein Witz. Bundes entzogen werden. Frau Schavan, ich kann Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht verstehen: Dass Sie die Bundesmittel für den Be-
und bei der SPD – Zurufe von Abgeordneten reich Forschung erhöht haben – lassen Sie sich das nicht
der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Albert wegnehmen! –, das kann keiner bestreiten.
Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Das ist im- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
mer dieselbe Leier! – René Röspel [SPD]: Das
war innovativ!) Als erfahrene Landespolitikerin hätten Sie aber erkennen
müssen, dass es Sie in Ihrem Bereich auf ganz bittere
– Ja, das werden wir Ihnen so lange vorhalten, bis Sie
Weise einholt, wenn den Ländern die Finanzierungsbasis
das revidiert haben. Dafür haben Sie immerhin
für die Forschungs- und Bildungsprogramme entzogen
1 Milliarde Euro ausgegeben.
wird. Das ist doch die Situation, vor der wir stehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Albert Rupprecht [Weiden]
und bei der SPD)
[CDU/CSU]: Sie haben zig Milliarden sinnlos
verschwendet!) Ich finde, dass der Forschungsbericht der Bundesre-
Jetzt sind die Kassen leer. Sie haben sich von den gierung mit über 600 Seiten für politische Entscheidun-
Lobbyisten der Großkonzerne überreden lassen, beson- gen zum Teil leider wenig aussagefähig ist. Er enthält
ders teure Konzepte zu entwickeln. Mit diesen teuren einfach zu wenig Wirkungsbewertung. Die Forschungs-
Konzepten konnten Sie die Finanzierungsvorbehalte von prämie hat offensichtlich nicht funktioniert. Aber ein In-
Herrn Schäuble erst recht nicht überwinden. Ich fürchte, strument, das nicht funktioniert, kann man doch nicht
das Zeitfenster ist jetzt geschlossen. Sie können schlecht einfach unter den Teppich kehren, man kann nicht ein-
für Arbeitslosengeld-II-Bezieher die Rentenbeiträge fach aufhören, darüber zu reden, sondern man muss da-
streichen und gleichzeitig millionenschwere Steuerge- raus politische Schlüsse ziehen. Das muss doch einer
schenke für Autokonzerne und Pharmakonzerne be- kritischen Bewertung unterzogen werden, und zwar öf-
schließen. Das sieht Ihr Konzept leider vor. fentlich. Ich finde es richtig, dass die Expertenkommis-
sion gesagt hat: Wir brauchen mehr Wirkungsforschung,
Ich würde dieses Trauerspiel gern mit den Worten und wir brauchen mehr Koordination in der Forschungs-
charakterisieren, mit denen Sie untereinander kommuni- politik. Wir brauchen keine Zentralisierung, aber Ko-
4646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Krista Sager
(A) ordination. Das ist etwas, was auch der Wissenschaftsrat (René Röspel [SPD]: Sehr gut!) (C)
angemahnt hat.
Das ist ein historischer, ein einzigartiger Meilenstein.
Das EFI-Gutachten empfiehlt eine Sache, die ich für Die Frau Ministerin hat absolut recht: Diese historische
besonders wichtig halte, nämlich die bessere Verknüp- Leistung lassen wir uns nicht zerreden.
fung der Hightech-Strategie mit der Entwicklung wis-
sensbasierter Dienstleistungen. Dem widmen Sie gerade (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einmal eine halbe Seite in Ihrem eigenen Bericht. Das Es ist der einzige Bereich, der vom Sparen ausgenom-
halte ich für grundfalsch. Bei vielen gesellschaftlichen men wird. Sie wissen sehr wohl, dass es nicht ohne ist,
Herausforderungen, gerade im Umweltbereich, kommen dafür im Parlament Mehrheiten zu finden; denn jeder
Sie nur zu adäquaten Lösungen, wenn Sie Technik, wis- Bereich hat natürlich seine Schwerpunkte und Interes-
sensbasierte Dienstleistungen und Know-how zu einem sen. Trotzdem wird es von der Unionsfraktion und auch
systemischen Produkt bündeln. Gerade beim Export in von der FDP-Fraktion mitgetragen. Es ist ein ganz klares
Schwellenländer – wie China – haben Sie durch die Zeichen, das wir trotz Euro-Krise, trotz Schuldenbremse
Kombination von Technik, Know-how und wissensba- und trotz Sparpaket diese Priorität setzen.
sierten Dienstleistungen den Vorteil, dass sie diese Pro-
dukte dann nicht mehr so einfach kopieren können wie Wenn die Opposition behauptet, dass das Sparpaket
ein rein technisches Produkt. Das heißt, wir haben da- keine Linie hat und unsozial ist,
durch eine große Chance, dass die Wertschöpfung und (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
die Beschäftigung tatsächlich in Deutschland bleiben. [SPD])
Diesem Zusammenhang – das hat sich auch im Spitzen-
clusterwettbewerb gezeigt – sollten wir wirklich mehr dann ist das schlichtweg falsch. Die Linie ist vollkom-
Aufmerksamkeit widmen. Ich bitte Sie dringend, die men klar: Vorrang für Forschung und für Bildung. Da-
Empfehlungen der Expertenkommission da ernst zu neh- rüber hinaus glaube ich, dass wir uns hier einig sind,
men. dass es nichts Sozialeres gibt, als in den Bereich Bildung
zu investieren. Genau das machen wir.
Ein letztes Wort, Frau Schavan. Ich hätte bei Ihrem
Streit mit der französischen Kollegin im Wettbewerbsrat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gerne Mäuschen gespielt, als es um ITER gegangen ist. neten der FDP)
Über ITER werden wir heute noch sprechen; dem will
ich nicht vorgreifen. Ich will nur sagen: Dass Sie den Der EFI-Bericht und auch der Innovationsbericht der
deutschen Forschungsetat davor schützen wollen, dass Bundesregierung bestätigen den Aufbruch in der For-
schungspolitik, seit die Union regiert, also seit 2005.
(B) aufgrund der großen Kostenlücke noch 900 Millionen (D)
Euro Zusatzkosten für Deutschland entstehen, ist aus (René Röspel [SPD]: Ein bisschen vorher
Sicht einer nationalen Bildungs- und Forschungsministe- auch!)
rin verständlich und auch richtig. Aber wir dürfen diese
große Kostenlücke von über 4 Milliarden Euro für Auch das noch einmal zur Klarheit, Herr Röspel: Die
Euratom nicht in den EU-Forschungsetat verlagern. Pakte tragen alle die Unterschrift der Ministerin
Denn dann haben wir für sehr lange Zeit die energiepoli- Schavan. Kein einziger Pakt wurde von Frau Bulmahn
tischen und forschungspolitischen Weichen auf der EU- unterschrieben.
Ebene blockiert bzw. falsch gestellt. (René Röspel [SPD]: 21. Juni 2005 vereinbart!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Okay!)
sowie bei Abgeordneten der SPD) Vorher wurde diskutiert. Frau Schavan hat ihre Unter-
Das darf nicht passieren. Machen Sie nicht eine Politik schrift daruntergesetzt und die Finanzierung organisiert.
nach dem Sankt-Florians-Prinzip. Das ist das Entscheidende.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sowie bei Abgeordneten der SPD) neten der FDP)
Wir haben die Forschungsausgaben des Bundes seit
Vizepräsidentin Petra Pau: 2005 um satte 21 Prozent erhöht. Seit 2005 bekommen
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Albert kleine Unternehmen zwei Drittel mehr Bundesförderung
Rupprecht. Auch ihm gratulieren wir zu seinem heutigen als in der Vergangenheit. Ich glaube, das ist beachtlich.
Geburtstag. Deutschland gehört endlich wieder zur internationalen
Spitzengruppe. Nur in den USA, in China und in Japan
(Beifall – René Röspel [SPD]: Ist das jetzt ver- wird mehr für Forschung ausgegeben als in Deutschland.
pflichtend?)
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Finnland,
Schweden, Korea!)
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
Vielen herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Wir sind an vierter Stelle; das ist ein exzellentes Ergeb-
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Röspel, es bleibt da- nis. Diese Ausgaben zeigen Erfolge. Die deutsche For-
bei: Bildung und Forschung haben bei uns absolute Prio- schung an den Universitäten und Forschungseinrichtun-
rität. gen ist in vielen Bereichen wieder Weltspitze.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4647
Albert Rupprecht (Weiden)
(A) Auch die private Wirtschaft – das ist ebenfalls wich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
tig – hat die Forschungsausgaben in diesem Zeitraum um neten der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
19 Prozent erhöht. Wenn die Bayer AG die Forschung DIE GRÜNEN]: Warum kürzen Sie dann im
aus den USA nach Deutschland zurückverlagert, weil es Solarbereich?)
in Deutschland die besten Forschungsnetzwerke und die
besten Köpfe gibt – man hat das gestern so begründet, egal ob bei der Kernfusion, bei der Gentechnologie, bei
als wir dort zu Besuch waren; einige Kollegen waren da- den Nanotechnologien oder anderswo.
bei –, dann zeigt das, dass wir in der Politik einen guten Seit 2005 reparieren wir, was zuvor in 20 Jahren der
Job machen. Technologiefeindlichkeit in Deutschland kaputtgemacht
wurde.
(Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel
[SPD]: Aber sicherlich nicht nur diese eine (René Röspel [SPD]: Aha! Gibt es deswegen
Koalition!) in Bayern jetzt gentechnische Pflanzen?)
An dieser Stelle möchte ich mich bei den zehn nam- Das war vor allem die „Leistung“ der Grünen und der
haften deutschen Großunternehmen bedanken, die zuge- Antitechnologiebewegung, die in den letzten Jahrzehn-
sagt haben, dass sie jeden Euro, den sie sich durch eine ten insbesondere von den Grünen und Teilen der SPD
steuerliche Forschungsförderung ersparen werden, min- mitgetragen worden ist.
destens eins zu eins in zusätzliche Forschung am Stand-
ort Deutschland investieren werden. Ich finde, das ist ein (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
vorbildliches Angebot an den Standort Deutschland. Ich Warum kürzen Sie jetzt die Solarförderung?)
finde auch, dass es ein ganz tolles Stück gelebter Patrio- Die christlich-liberale Koalition hat die klare Ansage
tismus ist. gemacht, dass wir die Ausgaben für Forschung massiv
Geld ist wichtig, aber Geld ist nicht alles. Es braucht erhöhen werden. Im EFI-Gutachten werden hierzu, wie
vor allem die richtige mentale Einstellung, es braucht wir meinen, sehr vernünftige und sehr gute Vorschläge
Gesinnung, es braucht ein Stück Begeisterung für Tech- gemacht. Diese Vorschläge entsprechen unserem Geist.
nik, Innovation und Fortschritt, und es braucht in einer Deswegen fühlen wir uns bestätigt.
älter werdenden Gesellschaft jugendliche Dynamik im (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bereich Forschung und Innovation, um Wohlstand und Ach ja? Wo bleibt denn die steuerliche For-
soziale Sicherheit zu erhalten. Das heißt aber auch, dass schungsförderung?)
es Risiken gibt. Technische Neuerungen gibt es nicht
ohne Risiken. Aber wir haben den Glauben, dass der Zur steuerlichen Forschungsförderung. Das Konzept
(B) menschliche Verstand Wege finden kann, die Risiken der Grünen – darüber haben wir bei mehreren Veranstal- (D)
zu bewerten und zu begrenzen. Falschinformationen, tungen diskutiert – wurde von der Wirtschaft und den
Irrationalität und Angstmacherei helfen nicht. Betroffenen regelmäßig versenkt.

Im Antrag der Grünen zu ITER, über den wir hier im (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Parlament heute noch diskutieren werden, heißt es – ich Nein! Nur von den Großkonzernen! Das ver-
zitiere –, wechseln Sie!)

dass die Menge radioaktiven Inventars in Fusions- Das Konzept der Unionsfraktion hingegen, dessen Eck-
reaktoren etwa genauso hoch ist wie in Kernspal- punkte wir ausformuliert haben, wurde durch die Bank
tungsreaktoren. positiv bewertet.

Sie schreiben also, die Menge sei etwa genauso hoch wie (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
bei der Kernfusion. Wo ist es denn? Was bringen Sie denn zu-
stande? – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Wo bleibt denn Ihr Gesetzent-
NEN]: Stimmt!) wurf?)
Sehr geehrte Damen und Herren, man kann zu ITER Übrigens ist dieses Konzept beinahe in Gänze deckungs-
stehen, wie man mag, aber das ist schlichtweg bewusste gleich mit dem der FDP.
Panikmache. Es geht bei der Fusion nicht um eine End-
lagerung hochradioaktiven Materials, wie es bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai
Kernspaltung der Fall ist, sondern es geht ausschließlich Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist
um die Zwischenlagerung in Größenordnungen von ma- das ein BDI-Entwurf oder ein schwarz-gel-
ximal 100, 150 Jahren. ber?)

(René Röspel [SPD]: Na dann! Das hört sich ja Im EFI-Gutachten sind folgende Vorschläge formu-
schon viel, viel besser an!) liert: wettbewerbsfähiger Wagniskapitalmarkt, mehr
Gründungen im Bereich der Hochschulen und For-
Das ist ein Riesenunterschied. Diese Unsachlichkeit, schungseinrichtungen, Verbesserungen beim Technolo-
diese Irrationalität, diese Angstmacherei schadet gietransfer – das ist die Daueraufgabe schlechthin – und
Deutschland massiv. Das Land der besten Ingenieure, das ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz, um den Forschungsor-
Land der besten Techniker der Welt kann sich irrationale ganisationen mehr Freiraum zu geben. All dies sind
Technologiefeindlichkeit nicht leisten, Punkte, die wir in unserem Koalitionsvertrag verankert
4648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Albert Rupprecht (Weiden)


(A) haben und mit denen wir uns im Augenblick befassen. zielgerichteten Einsatz öffentlicher Forschungsmittel (C)
An einigen dieser Themen arbeiten wir derzeit, einige ausgeglichen. Gerade in den neuen Ländern ist der An-
Beschlüsse haben wir in den letzten Wochen bereits ge- teil der staatlichen FuE-Förderung daher nur sehr schwer
fasst. Zum Beispiel haben wir die Validierungsförderung wegzudenken.
eingeführt, die Wissenschaftlern dabei helfen soll, die
Marktchancen ihrer Forschungsergebnisse besser ein- Ein wichtiges Instrument der Forschungsförderung
schätzen zu können. für Ostdeutschland sind die EFRE-Mittel der Europäi-
schen Union, aus denen heute sage und schreibe
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschlands For- 13 Prozent der öffentlichen FuE-Ausgaben in Deutsch-
schung ist zurück an der Weltspitze. Diese Spitzenstel- land finanziert werden. 2014 läuft diese Förderperiode
lung werden wir ausbauen, zum einen durch die Bereit- aus. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie
stellung von mehr Geld, zum anderen aber auch durch sich schon jetzt dafür starkmacht, dass auch nach 2014
ein ganz klares Ja zu Forschung und technischer Fortent- in ausreichendem Umfang Mittel aus europäischen
wicklung in Deutschland. Strukturfonds für Forschung und Entwicklung in struk-
Herzlichen Dank. turschwächeren Regionen zur Verfügung stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)
Es gibt viele ermutigende Zeichen aus den neuen Län-
Vizepräsidentin Petra Pau: dern: Forschungscluster sind entstanden und funktionieren
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die gut, Innovationsfelder, wie der Bereich der Fotovoltaik,
SPD-Fraktion. durch den in Deutschland Arbeitsplätze in nennenswerter
Größenordnung geschaffen wurden, funktionieren eben-
(Beifall bei der SPD) falls, und wir beobachten eine immer regere Forschungs-
aktivität bei kleinen und mittelständischen ostdeutschen
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Unternehmen. Das reicht aber bei weitem noch nicht aus.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Die Zahl der Patentanmeldungen liegt deutlich unter der
und Herren! Allen Geburtstagskindern herzlichen in den alten Ländern – und die Höhe der Forschungsin-
Glückwunsch zum Geburtstag! vestitionen sowieso.
(René Röspel [SPD]: Es werden ja immer Wer eine stabile wirtschaftliche und positive Entwick-
mehr!) lung in Ostdeutschland will – und das liegt in unser aller
Es gibt politische Mantras, die wir alle sehr gerne mit- Interesse –, der muss hier weiter investieren und die
(B) einander singen. Eines davon lautet: Bildung, Forschung richtigen Akzente setzen, zum Beispiel durch eine zu- (D)
und Entwicklung sind die Zukunftsthemen für unser sätzliche steuerliche FuE-Förderung speziell für kleine
Land. Das stimmt. Im Bereich Forschung und Entwick- und mittlere Unternehmen. Das käme gerade dem Osten
lung sind wir auf einem guten Weg. Herr Rupprecht, zugute. Das ist eine Zukunftsfrage – genauso wie die
nicht zuletzt dank der Regierungsbeteiligungen der SPD Ausbildung unserer jungen Menschen und das Halten
in den letzten Jahren sind wir dem 3-Prozent-Ziel deut- von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchs-
lich näher gekommen. Das 3-Prozent-Ziel im Bereich wissenschaftlern.
von Forschung und Entwicklung ist mittlerweile breiter Gerade in Zeiten des demografischen Wandels, den
gesellschaftlicher Konsens. Frau Schavan, ich kann nur man in Ostdeutschland, aber nicht nur da, schon sehen
hoffen, dass dieses Ziel durch die Ergebnisse des heuti- kann, wird es wichtiger, wissenschaftliche Fachkräfte zu
gen Bildungsgipfels nicht konterkariert und auf den halten. Ich frage Sie: Sind wir in diesem Bereich wirk-
Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden. lich zukunftsfähig aufgestellt? Schaffen wir es, unseren
(Beifall bei der SPD – Dr. Thomas Feist gut ausgebildeten Akademikerinnen und Akademikern
[CDU/CSU]: Reden Sie lieber mal mit Ihren hier eine Perspektive zu bieten?
Ländern!) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja!)
Bei aller Freude über die einhellige rhetorische Zu viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Schwerpunktsetzung in diesem Bereich muss ich sagen: sehen an den Forschungseinrichtungen nur begrenzte
Es gibt in der deutschen Forschungslandschaft Aspekte, Perspektiven. Viele sind in Teilzeit eingestellt und arbei-
die unser besonderes Augenmerk und die eine oder an- ten trotzdem fast Vollzeit. Der übergroße Teil ist befristet
dere kritische Bemerkung verdienen. Ein Blick auf die eingestellt – und das ohne eine wirklich längerfristige
Ausgaben für Forschung und Entwicklung, aufgeschlüs- Perspektive. Ich höre immer mehr Berichte von Post-
selt nach Bundesländern, macht deutlich, dass von docs, die auch an bundesdeutsch finanzierten Einrich-
gleichmäßigen Forschungsausgaben in Deutschland tungen Stipendienangebote bekommen. Sie sind darüber
keine Rede sein kann. Wir beobachten bei den FuE-In- nicht gerade erbaut.
vestitionen ein Auseinanderklaffen zwischen wirtschaft-
lich starken und wirtschaftlich schwachen Ländern. Pri- Zukunftssicherheit sieht anders aus. Glauben Sie wirk-
vate FuE-Investitionen – das sind immerhin zwei Drittel lich, dass man topausgebildete, promovierte Wissen-
der gesamten FuE-Mittel – sind natürlich eng an die schaftler Ende 20, Anfang 30, vielleicht mit Familie, mit
Wirtschaftskraft der jeweiligen Region gekoppelt. Diese einem Stipendium dauerhaft binden kann – ohne Einzah-
Diskrepanzen werden zumindest teilweise durch den lung ins Rentenversicherungssystem, bei freiwilliger
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4649
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) Krankenversicherung? Meine Erfahrungen lassen mich nalen Herausforderungen in Zukunft nicht mehr bewälti- (C)
hier stark zweifeln. gen kann. Das ist deutlich genug und für uns im Aus-
schuss Anlass zu sehr viel Arbeit.
Ich kann der Bundesregierung nur raten: Nehmen Sie
diese jungen, engagierten, topausgebildeten Menschen Vor diesem Hintergrund bin ich, schon bevor mir das
in den Blick. Sie sind wesentlich für den Forschungs- EFI-Gutachten bekannt war, in den letzten Wochen und
standort Deutschland. Verbessern Sie Ihre Arbeits- und Monaten in Gesprächen mit Rektoren und Präsidenten
Forschungsbedingungen. von Instituten und Forschungseinrichtungen der Frage
(Beifall bei der SPD) nachgegangen, wo der Schuh drückt und womit wir hel-
fen können. Ich kann dazu feststellen, Frau Professor
Auch der Bund hat hier Möglichkeiten, die endlich ge- Schavan: Finanzielle Probleme haben sie Gott sei Dank
nutzt werden sollten. nicht. Das ist ein gutes Zeichen. Sie wissen von unserem
In Sachen Forschung und Entwicklung ist jetzt leider Programm und geben an, dass sie im Vergleich mit frü-
die konservative Regierung am Zuge. heren Jahren gut auskommen, dass aber in struktureller
Hinsicht der Schuh drückt. In diesem Bereich sollte vie-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gut so! Zum les geändert werden.
Glück!)
Deshalb sollten wir, glaube ich, hier einer Bringschuld
Für uns alle können wir nur hoffen, dass Sie die richti- nachkommen. In der vergangenen Legislaturperiode
gen Weichenstellungen vornehmen. Es hängt nicht weni- wurde die Initiative zu einem Wissenschaftsfreiheitsge-
ger als die Zukunft unseres Landes davon ab. setz vorgelegt. Ich habe mit dem Geburtstagskind, Frau
Vielen Dank. Professor Schavan, vereinbart, dass ich sozusagen anläss-
lich ihres Geburtstages in Abstimmung mit dem Staatsse-
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ kretär das Versprechen abgebe, dass wir das jetzt ange-
CSU: Darauf können Sie sich verlassen!) hen. Sie haben es bereits angesprochen, Herr Rupprecht:
Es ist höchste Zeit. Wir sind am Anfang einer Wahlpe-
Vizepräsidentin Petra Pau: riode. Ich denke, solche Vorhaben muss man zu Beginn
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die einer Wahlperiode angehen.
FDP-Fraktion. Ich bin dafür, dass wir von Anfang an die beteiligten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Akteure mit einbeziehen. Dazu gehört im Gesetzge-
bungsverfahren selbstverständlich die Opposition, dazu
Dr. Peter Röhlinger (FDP): gehören aber auch die Institute, deren Präsidenten und
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und die Akteure in den zahlreichen Einrichtungen. Das Wis- (D)
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar, senschaftsfreiheitsgesetz kann wirksam werden, wenn
dass ich zu diesem Thema einige Worte sagen kann. insbesondere ihr, liebe Gäste auf der Tribüne, hoffentlich
davon Gebrauch macht. Dabei geht es nicht um etwas
Im Laufe der heutigen Diskussion habe ich festge- Hochtrabendes, wie es der Titel vermuten lässt, sondern
stellt, dass wir gut aufgestellt sind: Biologen, Physiker, um sehr triviale Fragen, zum Beispiel um Baumaßnah-
Ingenieure und ein Tierarzt. Wir bedienen uns einer an- men und – spätestens dann, wenn wir von der linken
deren Sprache als die anderen Ausschüsse, dabei würde Seite des Hauses damit konfrontiert werden – um Lohn-
es naheliegen, dass wir botanische und zoologische Be- und Gehaltsforderungen. Ich glaube, wir sollten das Ge-
griffe ins Spiel bringen. Herr Röspel, wir sollten weiter- setz nicht isoliert betrachten, sondern als einen großen
hin so miteinander umgehen. Komplex und als Chance, auf diesem Gebiet zusammen-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der zuarbeiten.
CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Ich kenne In dem Sinne wünsche ich uns auf der Grundlage des
sogar die ganzen Fremdwörter!) Gutachtens und hinsichtlich der Bringschuld, die wir ha-
– Mir gefällt die Atmosphäre in unserem Ausschuss ben, weiterhin eine gute Zusammenarbeit.
ganz gut; wir kommen doch ganz gut zurecht. Ich denke, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die bisherigen Redebeiträge sind – verglichen mit dem,
was man sonst in diesem Hohen Hause zu hören be-
kommt – anerkennenswert. Vizepräsidentin Petra Pau:
Es ist schön, dass Sie gemerkt haben, dass Sie die Re-
Die von der Bundesregierung eingerichtete Experten- dezeit überschritten haben. Aber heute ist weder Ihr Ge-
kommission Forschung und Innovation, kurz EFI, hat burtstag noch war es Ihre erste Rede. Es bleibt dabei:
dieses Jahr ihr drittes Gutachten zu Forschung, Innova- Wir haben keine Mindestredezeit, sondern eine verabre-
tion und technologischer Leistungsfähigkeit Deutsch- dete Redezeit. Ich hoffe, dass wir uns bei unserem
lands vorgelegt. Die Bundesregierung hat sich dem Ur- nächsten Zusammentreffen in dieser Konstellation da-
teil unabhängiger Experten gestellt. Diese bestätigen, rauf einigen können.
dass unser Innovations- und Wachstumskurs richtig ist.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Tankred
Die Sachverständigen haben festgestellt, dass unser Schipanski das Wort.
gesamtes Wissenschaftssystem in den alten Strukturen
staatlicher Aufsicht und Detailsteuerung die internatio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
4650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Tankred Schipanski (CDU/CSU): Biotechnologie, Nano- und Werkstofftechnologien, opti- (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu- sche Technologien und Photonik, verbunden. Bei der kon-
nächst ein paar Worte an die Opposition: Frau Sitte, Bo- kreten Ausgestaltung dieser Forschungsschwerpunkte hat
logna steht heute gar nicht auf der Tagesordnung. die Bundesregierung darauf geachtet, Felder zu vermei-
den, die von einem internationalen Subventionswettlauf
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das steht in gekennzeichnet sind. Es geht uns darum, den Ausbau von
dem Bericht drin!) Spitzentechnologien und wissensintensiven Dienstleis-
– Ja, aber in dem EFI-Gutachten steht, dass wir bei Bo- tungen an bereits existierenden wirtschaftlichen Schwer-
logna auf einem guten Weg sind. punkten zu orientieren.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieser Bericht lässt sich mit den Worten „Exzellenz
Aber meilenweit vom Ziel entfernt!) schaffen – Talente sichern“ zusammenfassen.
Wir haben dieses Thema hier im Hause mehrfach disku- Im Folgenden will ich drei Themenfelder kurz anrei-
tiert und hatten einen Bologna-Gipfel, auf dem wir die ßen, und zwar die Technologie- und Gründerförderung,
Anregungen aufgegriffen und die Probleme einer Lö- die Netzwerkförderung und die Nachwuchsförderung.
sung zugeführt haben. Die Programme „EXIST“, „ZIM“, „KMU-innovativ“
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und „INNO-KOM-Ost“ funktionieren, was die Techno-
neten der FDP) logie- und Gründerförderung angeht, gut. Das bestätigt
uns auch dieser Bericht.
Bei dem Kollegen Röspel von der SPD hat man den
Eindruck, dass er bei Rot-Grün 1998 stehengeblieben ist Wir haben eine umfassende Netzwerkförderung. Da-
und nicht wahrnimmt, was die christlich-liberale Koali- bei geht es um Netzwerke zwischen Forschungseinrich-
tion macht. Wir haben mittlerweile den Bundesbericht tungen und Hochschulen. Ich verweise auf Aachen,
Forschung und Innovation 2010 vorliegen, der die For- Jülich sowie die Fachhochschulen in Düsseldorf, Köln
schungs- und Innovationskraft unseres Landes umfäng- und Bonn, wo das hervorragend funktioniert. Ich ver-
lich zeigt, und zwar ganz im Sinne dessen, dass Innova- weise aber auch auf Cluster und Netzwerke wie das
tion, Erneuerung und Forschung den Gewinn neuer schon angesprochene „Solarvalley Mitteldeutschland“
Erkenntnisse bedeuten. oder das „Automotive Cluster“.
Beides kann man staatlich nicht verordnen. Herr Röspel, ich möchte diesbezüglich richtigstellen,
dass wir im Solarbereich nicht Einspeisevergütungen
(René Röspel [SPD]: Ach! Das wusste ich sinnlos gekürzt, sondern eine Überförderung abgebaut
(B) noch nicht!) und dies mit einer Innovationsallianz Photovoltaik ver- (D)
Staat und Politik können lediglich Rahmenbedingungen bunden haben, in die wir 100 Millionen Euro zusätzliche
setzen und Impulse geben. Diesbezüglich werden uns Forschungsgelder investieren werden.
von der Expertenkommission Forschung und Innovation
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
– kurz EFI – gute Erfolge attestiert. Gleichzeitig gibt es
René Röspel [SPD]: Sie gefährden bestehende
laut EFI aber auch noch Bereiche, in denen wir unsere
Strukturen und wollen als Symbol neue auf-
Anstrengungen verstärken müssen. Wir nehmen diese
bauen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
Empfehlungen ernst und werden unser Ziel, die Innova-
GRÜNEN]: Das sieht der Bundesrat aber an-
tionskraft Deutschlands auf einem international wettbe-
ders!)
werbsfähigen Niveau zu halten, mit allem Nachdruck
verfolgen. Frau Kolbe, zu Ihrer Sorge um die Entwicklung in
Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigen ein den ostdeutschen Bundesländern kann man nur sagen,
Blick auf die Zahlen in dem EFI-Gutachten sowie die dass wir extra ein Programm Innovationsförderung in
Ausführungen unserer Bundesministerin und des Kolle- den neuen Ländern aufgelegt haben. 2008 standen dafür
gen Rupprecht. Auch die inhaltliche Grundausrichtung 81 Millionen Euro zur Verfügung, 2009 waren es
unserer Forschungssysteme ist positiv zu bewerten. Es 130 Millionen Euro, und 2010 haben wir 143 Millionen
gibt zwei Trends, die uns dieses Gutachten aufzeigt: ers- Euro dafür im Haushalt vorgesehen. Das ist ein Er-
tens Nachhaltigkeit durch Technologie und zweitens ein folgsprogramm, und wir können die Wirkungen in den
Querschnittsdenken als Antwort auf das Ineinandergrei- neuen Bundesländern auch sehen.
fen der wissenschaftlichen Disziplinen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bei den politischen Rahmenbedingungen geht es um
eine klare Schwerpunktsetzung; genau dies empfiehlt Mein letzter Punkt betrifft die Nachwuchsförderung.
uns auch die Expertenkommission. Mit der Hightech- Uns ist klar, dass junge Wissenschaftler gute Rahmenbe-
Strategie wurden die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Sie dingungen brauchen. Dazu gehören Familien- und Karrie-
beinhaltet die Forschungsschwerpunkte Gesundheit und replanung, Kindergartenplätze, aber auch, dass man über
Ernährung, Klima und Energie, Mobilität, Kommunika- Befristungsregelungen im Arbeitsrecht nachdenken
tion und Sicherheit. muss. Für uns ist es wichtig, Akademiker in Deutschland
zu halten und neue aus dem Ausland anzuwerben. Kol-
Diese Forschungsschwerpunkte der Hightech-Strate- lege Röhlinger hat bereits unsere Initiative für das Wis-
gie werden durch unsere Schlüsseltechnologien, nämlich senschaftsfreiheitsgesetz umfänglich vorgestellt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4651
Tankred Schipanski
(A) Ich darf abschließen. Der Bericht enthält folgende (Beifall bei der LINKEN) (C)
Kernbotschaften: Exzellenz schaffen, Talente sichern.
Deutschland hat eine sehr gute Forschungsinfrastruktur, Caren Lay (DIE LINKE):
hohe Kreativität, Erfindergeist und Innovationsbereit-
schaft. Wir haben die Forschungsschwerpunkte richtig Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
gesetzt, müssen aber nunmehr unsere Projekte und Ini- Herren! Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher
tiativen bündeln. Dabei gilt es, laufende Programme wollen wissen, was in ihren Lebensmitteln drin ist. Viele
kontinuierlich zu evaluieren und gegebenenfalls nach- wollen zum Beispiel nichts mehr von Unternehmen kau-
zujustieren, Kompetenzzentren aufzubauen und die fen, die einst Gammelfleisch in Umlauf gebracht haben.
universitäre Forschung weiter zu intensivieren. Innova- Und wer isst schon gerne in einem Lokal, in dem er da-
tionskraft ausbauen, Zukunft sichern, mit diesem Leit- mit rechnen muss, dass im Essen Salmonellen unterwegs
bild werden wir die deutsche Forschungslandschaft wei- sind? Diese Ansprüche der Verbraucherinnen und Ver-
terhin erfolgreich gestalten. braucher sind völlig berechtigt.

Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist unsere Aufgabe als Politik, sie umzusetzen. Dafür
brauchen Verbraucherinnen und Verbraucher zuverläs-
sige Informationen. Genau das sicherzustellen darf man
Vizepräsidentin Petra Pau: doch von einem Verbraucherinformationsgesetz erwar-
Ich schließe die Aussprache. ten. Doch in der Praxis ist es eine einzige Fehlanzeige.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (Beifall bei der LINKEN)
den Drucksachen 17/990, 17/1880 und 17/1958 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- In der Praxis – das hat der Praxistest von Greenpeace,
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. aber auch von vielen anderen zum Vorschein gebracht –
Dann ist so beschlossen. dient das Gesetz nicht den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern. Im Gegenteil: Es schützt Behörden und Un-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: ternehmen vor den Verbrauchern. Das ist schon ein star-
kes Stück, finde ich. Die Linke will das ändern.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Karin Binder, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer (Beifall bei der LINKEN)
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Ursachen für die Untauglichkeit des Gesetzes lie-
(B) Verbraucherinformationsgesetz jetzt verbrau- gen auf der Hand. Erstens, die langen Wartezeiten. Wer (D)
cherfreundlich ausgestalten will schon Wochen und Monate auf eine Antwort war-
ten? Gerade im Lebensmittelbereich kommen die Infor-
– Drucksache 17/1576 –
mationen dann viel zu spät.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Zweitens, die hohen Kosten. Viele Verbraucherinnen
Verbraucherschutz (f) und Verbraucher lassen sich davon abschrecken.
Innenausschuss
Rechtsausschuss Drittens, bürokratische Umwege. Verbraucherinnen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und Verbraucher müssen die Informationen – so ist un-
sere Auffassung – auch direkt von den Unternehmen be-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole kommen und sollten nicht den Umweg über die Behör-
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer den wählen müssen.
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Viertens, die Passivität der Behörden. Wir wollen,
dass die Behörden von sich aus informieren. Das heißt,
Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellie- die Behörden müssen aktiv vor Risiken warnen und dür-
ren fen nicht darauf warten, dass Verbraucherinnen und Ver-
braucher nachfragen.
– Drucksache 17/1983 –
Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) Gängige Praxis ist aber, dass die Behörden Informa-
Innenausschuss tionen unter Verschluss halten, indem sie gebetsmühlen-
Rechtsausschuss artig auf das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis der Un-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ternehmen verweisen. So kann praktisch jede Anfrage,
die irgendwie mit einem Unternehmen zu tun hat, abge-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wimmelt werden. Deshalb sage ich: Wir brauchen eine
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre neue, eine moderne Informationskultur. Die Geheimnis-
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. krämerei in den deutschen Amtsstuben muss endlich ein
Ende haben.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)
4652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Caren Lay
(A) Hier sind unsere Vorschläge: verabschiedet, das man evaluieren kann. Interessant ist, (C)
dass jetzt Kataloge mit Maximalforderungen vorgelegt
Erstens. Transparenz muss die Regel sein. Wenn das
werden. Bundestagsdrucksachen gehen ja nicht verloren;
öffentliche Interesse überwiegt, dann müssen auch Be- man kann darin immer wieder nachlesen. Just diejenigen
triebs- und Geschäftsgeheimnisse veröffentlicht werden. Teile der Opposition stellen nun Forderungen auf, die
Zweitens. Ganz wichtig ist uns, dass der Informa- Vorgängerregierungen angehörten, also richtig viel Zeit
tionsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher hatten, ihre heutigen Forderungen umzusetzen.
nicht auf den Lebensmittelbereich beschränkt wird. Ge-
(Ulrich Kelber [SPD]: Bei einer Vorgängerre-
rade in der Finanzkrise – um hier ein Beispiel zu nen-
gierung haben Sie das doch verhindert, Frau
nen – muss der Informationsanspruch auch für Finanz-
Klöckner! Sie ganz persönlich!)
produkte gelten. Ich darf darauf verweisen, dass bei der
Debatte zum VIG vor zwei Jahren nicht nur die Linke, Man schaue sich einmal die Entwürfe an, die unter
sondern auch die jetzt regierende FDP diese Forderung anderem unter Frau Künast vorgelegt worden sind; bis
erhoben hat. Wir sind gespannt, wie sie sich heute dazu 2005 war ja Rot-Grün an der Regierung. Frau Künast
positioniert. und die SPD hätten alle Chancen gehabt,
Drittens. Information ist ein Recht für alle Menschen (Ulrich Kelber [SPD]: Ja! Danach haben Sie es
und darf nicht am Geldbeutel scheitern. Daher fordern ja verhindert!)
wir weitgehend kostenfreien Zugang. Das Verursacher-
prinzip muss auch für Unternehmen gelten. etwas durchzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN) (Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind der Hemm-
schuh für Verbraucherinformationen!)
Wer gegen die Vorschriften verstößt oder Risiken
schafft, muss auch für die Folgekosten aufkommen. Sie erinnern sich noch daran, dass der damalige Wirt-
schaftsminister Clement den Entwurf von Frau Künast
Das Verbraucherministerium hat einen breiten Dialog nicht durchgehen ließ.
zu der Novellierung des Verbraucherinformationsgeset-
zes angekündigt. Das gilt jetzt offenbar nicht mehr: Sie (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sind der Einladung zur Konferenz zur Novellierung des Der Bundesrat hat das doch verhindert! Die
Gesetzes, die unsere Fraktion durchführt, leider nicht ge- CDU-Länder haben das doch blockiert!)
folgt. Gestern wurde auch eine Anhörung zum VIG im Wir sind mit dem, was wir heute vorlegen, viel weiter als
Ausschuss abgelehnt, obwohl sie seit langem vereinbart Sie mit dem, was Sie damals in das parlamentarische
(B) war. Ich finde, ein breiter Dialog sieht anders aus. Verfahren eingebracht haben. Dies ist ein guter Tag für (D)
Meine Damen und Herren, das Verbraucherinforma- die Verbraucherinnen und Verbraucher, da wir uns dem
tionsgesetz muss geändert werden. Das duldet im Inte- Verbraucherinformationsgesetz zuwenden.
resse der Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
schub. Ulrich Kelber [SPD]: Es ist schon dreist, den
Vielen Dank. anderen das vorzuwerfen, was man selber ver-
hindert!)
(Beifall bei der LINKEN)
Heute hat in unserem Ministerium eine sehr konstruk-
tive Runde mit Verbrauchervertretern und mit Vertretern
Vizepräsidentin Petra Pau: verschiedener Betroffenenverbände stattgefunden. Wie
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin wir alle wissen, gibt es natürlich eine Bandbreite; es gibt
Julia Klöckner. unterschiedliche Interessen. Zum einen sagen die Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- braucherverbände: Wir brauchen überhaupt keine Be-
neten der FDP) triebs- und Geschäftsgeheimnisse. Zum anderen sagen
die Unternehmensvertreter: Wir möchten gar nichts
nach draußen geben; denn wir fürchten Industriespio-
Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- nage etc. – Ich bin mir sicher, dass die Wahrheit weder
desministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- auf der einen noch auf der anderen Seite liegt; sie liegt
braucherschutz: vielmehr meistens in der Mitte.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Ich freue mich sehr, dass wir heute hier zusam- (Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen machen Sie
menstehen und dass wir das einlösen, was wir nach nichts, wie üblich!)
Verabschiedung des Entwurfs des Verbraucherinforma- Es ist ganz klar, dass wir die Wirkung des Verbrau-
tionsgesetzes vereinbart haben, nämlich zwei Jahre nach cherinformationsgesetzes in Ruhe und auf wissenschaft-
Inkrafttreten dieses Gesetz zu evaluieren. Das haben wir lich fundierter Basis auswerten müssen.
damals in der Großen Koalition festgelegt. Es ist richtig,
sich anzuschauen, wie ein Gesetz wirkt. (Ulrich Kelber [SPD]: In Ruhe nichts ma-
chen!)
Ich bin auch deshalb froh, weil wir eines geschafft ha-
ben, was Vorgängerregierungen überhaupt nicht gelun- Das Verbraucherministerium hat deshalb für ein Novum
gen ist: Wir haben nach sechsjähriger Debatte ein Gesetz gesorgt: Es hat drei unabhängige Studien in Auftrag ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4653
Parl. Staatssekretärin Julia Klöckner
(A) geben – das heißt, das Ministerium macht keine Vorga- (Ulrich Kelber [SPD]: Ihr Ministerium hält (C)
ben, ohne wissenschaftliche Grundlagen zu haben –, um sich nicht an das eigene Gesetz!)
alle Anfragen, die es im Zusammenhang mit dem Ver-
braucherinformationsgesetz bisher gegeben hat, auszu- Es gibt übrigens sehr gute Beispiele dafür, wie man
auch proaktiv informieren kann. Im Saarland zum Bei-
werten.
spiel werden Verfahren zu bußgeldbewehrten Tatbestän-
In einem föderalen Staat ist es nun einmal so: Die den, bei denen es um mindestens 350 Euro geht, ins In-
Länder ticken sehr unterschiedlich. Die Informationskul- ternet gestellt.
tur ist unterschiedlich. Man muss erst einmal sehen, wie (Ulrich Kelber [SPD]: Was macht Ihr Ministe-
es läuft, und dann hat man auch die Chance, das, was an rium proaktiv? Kein einziges Beispiel!)
Informationen an die Verbraucherinnen und Verbraucher
gegeben wird, zu harmonisieren. Das war übrigens eines Ich bin der Meinung, dass man durchaus noch proaktiver
der Ergebnisse. Ich bin den Koalitionsfraktionen auch und transparenter vorangehen kann. Es gibt wunderbare
sehr dankbar dafür, dass sie diesen Punkt angesprochen Beispiele. In Nordrhein-Westfalen hat Herr Uhlenberg,
haben. Der Verbraucher oder die Verbraucherin hat na- der Nachfolger von Ihnen, Frau Höhn, Angaben zu Pes-
türlich nicht vor Augen: Welche Informationen be- tizidrückständen ins Internet gestellt, ohne dass danach
komme ich, je nach Struktur, nach dem Umweltinforma- gefragt worden war.
tionsgesetz oder dem Informationsfreiheitsgesetz oder (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
dem VIG? – Das ist ein Punkt, über den wir weiter nach- Das haben wir lange vorher gemacht!)
denken müssen.
– Sie haben das lange gefordert, aber nie gemacht. Letzt-
Ich bin sehr froh darüber, dass die Studien gezeigt ha- lich ist wichtig, was hinten rauskommt, was der Verbrau-
ben: Dieses Gesetz ist ein Erfolg. Bei diesem Gesetz cher davon hat.
wird in der Mehrzahl der Fälle fristgerecht gehandelt,
das heißt, Antworten kommen dann, wenn man anfragt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Natürlich beschweren sich die Umwelthilfe, Foodwatch Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie schon proak-
und viele andere darüber, dass sie eine Antwort nicht tiv informiert, Frau Klöckner? – Bärbel Höhn
zeitnah bekommen. Dabei muss man aber auch ehrlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Informieren
sein: Das ist ein Verbraucherinformationsgesetz; es ist Sie sich mal vorher!)
kein Warngesetz und auch kein Verbändegesetz, sondern Wir werden in der nächsten Zeit mit den Verbrauche-
eben ein Verbraucherinformationsgesetz. Es geht auch rinnen und Verbrauchern einen Dialog führen. Ich freue
nicht darum, dass wir ständig irgendwelche Warnungen mich sehr darüber, dass sie sich an diesem Dialog betei- (D)
(B)
in die Welt setzen und Panik machen, sondern bei die- ligen.
sem Gesetz geht es darum, dass Anfragen der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher beantwortet werden, und (Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie als Ministe-
zwar zeitnah und weitgehend kostenlos. Auch das haben rium schon einmal aktiv informiert? – Gegen-
die unabhängigen Studien gezeigt: In der überwiegenden ruf von der CDU/CSU: Hör doch mal auf!)
Zahl der Fälle führt die Anfrage nicht zu Kosten für die Dieser Dialog findet auf einer Internetseite statt. Auf
Anfragenden. Wenn überhaupt, dann entstehen Kosten dieser Internetseite beteiligen sich die verschiedensten
von maximal 25 Euro, oder es wird ein Kostenvoran- Verbände. Dass man solche Studien so offen und in einer
schlag ausgegeben. so transparenten Art und Weise vorstellt, hat es noch nie
(Ulrich Kelber [SPD]: Ein breites Spektrum, was gegeben. Zu den Studien kann man bis Ende August
Sie da als „überwiegend“ bezeichnen!) Stellung beziehen. Dann werden wir gemeinsam eine
Evaluierung bzw. eine Überarbeitung des Gesetzes vor-
Sicherlich kommen nachher von der Opposition Bei- nehmen. Dabei kann ich mir eine Ausweitung des Aus-
spiele dafür, dass jemand länger warten musste oder dass kunftsanspruches vorstellen. Ich kann mir aber auch vor-
eine Frage aus dem Herbst bis heute nicht beantwortet stellen, dass noch transparenter zu informieren ist.
worden ist. Eines ist festzuhalten: Wir haben mit dem Verbrau-
(Ulrich Kelber [SPD]: Auch durch Ihr Minis- cherinformationsgesetz die Informationskultur in
Deutschland verändert. Das ist der erste Schritt auf ei-
terium nicht!)
nem richtigen Weg. Hätten wir es nicht gemacht, würden
Natürlich muss man sehen, welche Anfragen gestellt wir noch heute darauf warten.
werden. Einige Verbände haben jetzt sogar eine Referen- Herzlichen Dank.
tenstelle eingespart, weil sie durch Anfragen bei den Be-
hörden die Informationen bekommen, die sie sich vorher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
selbst beschaffen mussten. Wenn bei einer Stelle ein Fra-
genkatalog mit 112 Fragen eingeht, ist doch verständ- Vizepräsidentin Petra Pau:
lich, dass die Fragen nicht bis zur nächsten Woche be- Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
antwortet sein können; so fair müssen wir gegenüber den die SPD-Fraktion.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiten in den einzelnen Be-
hörden schon sein. (Beifall bei der SPD)
4654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): wünscht hätten. Das ist aber eigentlich kein Wunder; (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und denn es entsprang ja nicht gerade einer Liebesheirat.
Kollegen! Ich bin mal gespannt, wie die Regierungsko-
alition „gemeinsam“ definiert. Das ist schon toll. (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben ja auch
kein Weihnachten!)
Ich beginne mit einem Zitat:
Schon damals ging uns das Gesetz nicht weit genug, und
Unser Ziel ist es, die Evaluation des VIG als trans- einige Schwächen waren bereits absehbar. Es war die
parenten, offenen und partizipatorischen Prozess zu SPD, die eine Evaluierung verlangte, um dieses Gesetz
gestalten und die Präsentation vorgefertigter Stand- auf Basis der Erfahrungswerte zu überarbeiten und für
punkte zu vermeiden. echte Transparenz – das möchte ich betonen – für Ver-
So steht es in der Einladung der Parlamentarischen braucherinnen und Verbraucher zu sorgen.
Staatssekretärin Klöckner zur Diskussion über den Eva- Der Evaluationsbericht zeigt nun leider, dass all un-
luationsbericht zum Verbraucherinformationsgesetz, die sere Befürchtungen eingetroffen sind. So ist nun zwar
heute Vormittag – wahrscheinlich wurde sie noch recht- festzustellen, dass die ersten Behörden anfangen, von
zeitig vor dieser Debatte beendet – stattgefunden hat. sich aus Informationen ins Netz zu stellen. Trotzdem ist
(Caren Lay [DIE LINKE]: So ein Zufall! – das Ziel des Gesetzes, mehr Transparenz und einen
Peter Bleser [CDU/CSU]: Um 12 Uhr mit- leichteren Zugang zu Verbraucherinformationen zu er-
tags!) möglichen, verfehlt worden. Es zeigt sich, dass Anfra-
gen von Verbraucherinnen und Verbrauchern oft gar
Offenheit, Transparenz und Partizipation sind für die nicht, nicht im gesetzlich vorgeschriebenen Zeitraum
Bundesregierung nur leere Worte. Offensichtlich bedeu- oder überhaupt nicht ausreichend beantwortet wurden.
ten sie die Aussperrung der Opposition. Keine einzige Die in § 40 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbu-
Vertreterin und kein einziger Vertreter der Oppositions- ches geschaffene Sollvorschrift, wonach die Behörden
fraktionen war eingeladen. Damit nicht genug: Die SPD von sich aus aktiv über Rechtsverstöße, Gesundheitsge-
hat gestern im Ausschuss – die Kollegin Lay hat es fahren und Gammelfleischfunde informieren sollen,
schon angesprochen – einen Antrag auf Durchführung wurde bisher kaum angewandt.
einer öffentlichen Anhörung zur Evaluierung des Ver-
braucherinformationsgesetzes noch vor der Sommer- Auf der Grundlage der Landesgebührenordnungen
pause gestellt. Er wurde mit der Mehrheit der Stimmen wurden teilweise abschreckend hohe Kosten erhoben.
der Regierungskoalition abgelehnt. Der CDU-Kollege Die Erhebung der Kosten vom Bearbeitungsaufwand ab-
Bleser hat bereits angekündigt, dass, wenn wir nächste hängig zu machen, führt natürlich dazu, dass die Ver-
(B) Woche erneut einen Antrag zum VIG stellen, auch dieser braucher bei der Antragstellung keine Sicherheit darüber (D)
abgelehnt werde. Das bedeutet für Sie also Offenheit haben, wie hoch die Kosten letztendlich sein werden.
und Transparenz. Das ist Ihr Umgang mit der Opposi- Anfragen über Rechtsverstöße wurden oft mit der Be-
tion. gründung abgewiesen, dass das Verwaltungsverfahren
noch nicht abgeschlossen sei bzw. ein Rechtsverstoß erst
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Wir sind halt kal- mit Erlass eines Bescheides vorliege – und dies, obwohl
kulierbar! Wir ändern unsere Meinung nicht der Gesetzeswortlaut einen Zugang zu Informationen
jeden Tag! – Weiterer Zuruf von der CDU/ über Rechtsverstöße auch während laufender Verwal-
CSU: Wir machen den zweiten Schritt nach tungsverfahren ausdrücklich ermöglicht.
dem ersten!)
Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass es
Das ist Ihr Demokratieverständnis, werte Kolleginnen Überarbeitungsbedarf gibt. Umso erstaunlicher ist es,
und Kollegen von der Regierungskoalition. dass die Koalitionsfraktionen eine sachkundige Diskus-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – sion mit Verbrauchervertretern und anderen Fachleuten
Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben Angst vor der im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des zuständi-
Wahrheit, Herr Bleser!) gen Ausschusses im Bundestag verweigern. Im Einla-
dungsschreiben zu der heute stattgefundenen Veranstal-
Als ich in den Bundestag gewählt wurde, war das Ver- tung hat Frau Klöckner geschrieben, dass die Zeit bis
braucherinformationsgesetz das erste Gesetz, an dessen September für einen breiten und ergebnisoffenen Dialog
Zustandekommen ich intensiv mitgearbeitet habe. Es ist über die Evaluation und die daraus zu ziehenden Konse-
sozusagen mein erstes Gesetzeskind. quenzen genutzt werden soll.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Und wir haben das (Zuruf von der CDU/CSU: Genau! So ist das
ordentlich gemacht!) richtig!)
Im Vorfeld waren bereits mehrere Versuche für ein Ver- Es ist wirklich die Frage: Was ist hier breit, was ist er-
braucherinformationsgesetz am Widerstand der CDU im gebnisoffen? Wie wird das hier definiert?
Bundesrat gescheitert, Frau Kollegin Klöckner.
Da die Opposition an diesem breiten Dialog offen-
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Ich war dabei!)
sichtlich gar nicht beteiligt werden soll, brauchen wir die
Auch dieses Kind war letztendlich eine sehr schwere Ge- öffentliche Anhörung noch vor der Sommerpause; denn
burt. Ich will nicht verhehlen, dass dieses Kind sich nicht es deutet sich an, dass Frau Klöckner die offenbar ge-
so entwickelt hat, wie ich und die SPD sich das ge- wordenen Schwächen des Gesetzes glattbügeln und mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4655
Elvira Drobinski-Weiß
(A) minimalen Äußerungen maximale Medienpräsenz errei- Wir werden eine Anhörung machen, aber erst dann, (C)
chen will. wenn der Gesetzentwurf vorliegt.
(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: (Zuruf von der SPD: Es liegt doch einer vor!)
Ankündigungsstaatssekretärin!)
Wenn Sie sich jetzt hinstellen, Frau Drobinski-Weiß,
Ob das Thema Verbraucherschutz bei ihr in guten Hän- und sagen, Sie seien heute Mittag nicht eingeladen ge-
den ist, ist ohnehin zweifelhaft; denn seit heute wissen wesen, erwidere ich darauf: Herzliche Grüße zurück!
wir, Die SPD und die Grünen haben uns damals auch nicht
eingeladen. – Wir haben die Opposition nicht eingela-
(Ulrich Kelber [SPD]: Keine einzige Verord- den, aber wir haben Fachleute eingeladen, die das aus ih-
nung oder Gesetz! Nichts!) rer Sicht bewerten, und zwar das komplette Spektrum
dass nicht einmal Seniorinnen und Senioren vor ihr si- vom vzbv über die Umwelthilfe bis zu anderen Verbän-
cher sind. Auf einer Postkarte mit der Aufschrift „Wie den.
viele Heizdecken braucht ein Mensch?“ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ulrich Kelber [SPD]: Sie waren vom Ministe-
rium eingeladen? Ich denke, das war ein Mi-
verspricht sie, sich für Senioren und gegen Trickser und nisteriumsgespräch!)
Betrüger einzusetzen, gegen – ich zitiere – „belästigende
Telefonwerbung, Abo-Fallen, unlesbare Beschriftung – Herr Kelber, hat Sie Ihre Fraktion nicht reden lassen?
und Informationsdschungel“. Dagegen will sie kämpfen. (Ulrich Kelber [SPD]: Wenn das das einzige
Auf der Rückseite der Karte kann man dann ankreu- Argument ist! Ich dachte, das war ein Ministe-
zen, dass man entsprechende Informationen zugesandt riumsgespräch! Und dazu waren Sie eingela-
bekommt. Dazu muss man seine Adresse angeben und den?)
unterschreiben. Bei der Unterschrift gibt es ein kleines – Man hört die Zwischenfragen nicht.
Sternchen, und ganz unten auf der Karte erklärt ein Satz
hinter einem kleinen Sternchen in kleiner Schrift, dass Dieses Verbraucherinformationsgesetz gibt es jetzt
man sich mit seiner Unterschrift mit der – Zitat – „Erhe- seit zwei Jahren.
bung, Speicherung und Nutzung der vorstehenden perso-
nenbezogenen Daten“ einverstanden erklärt hat. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Heiterkeit und Beifall der Abg. Karin Binder Kollege Schweickert, gestatten Sie die Zwischenfrage
(B) [DIE LINKE] – Ulrich Kelber [SPD]: Un- der Kollegin Binder? (D)
glaublich!)
Kurz: Seniorinnen und Senioren, die hier Informations- Dr. Erik Schweickert (FDP):
material bestellen, müssen damit rechnen, von allen Sei- Ja, klar, gerne.
ten mit CDU-Werbematerial überhäuft zu werden. (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ja interessant!
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Die FDP ist zu einem Ministeriumsgespräch
Hört!) eingeladen!)

Ich habe das zuerst ernsthaft für einen schlechten Karin Binder (DIE LINKE):
Scherz gehalten, aber das ist leider ernst, und ich finde:
Herr Kollege Schweickert, gestatten Sie die Frage, ob
Das ist einer Parlamentarischen Staatssekretärin nicht
dies der Ersatz für ein parlamentarisches Verfahren war,
würdig.
in dem in einer offiziellen Anhörung des Ausschusses
Vielen Dank. alle zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker
die Ausführungen der Fachwelt hätten zur Kenntnis neh-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem men können. Das kann es nicht sein, oder?
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Erik Schweickert (FDP):
Vizepräsidentin Petra Pau:
Liebe Kollegin Binder, wir haben gerade dargestellt,
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Profes- dass es eigentlich keinen breiteren Weg gibt, dieses Ge-
sor Dr. Erik Schweickert. setz zu diskutieren. Dazu werden wir alle Möglichkeiten
(Beifall bei der FDP) nutzen, als einzelne Fraktion und als Regierungskoali-
tion: Das Ministerium lädt zu Terminen ein, man macht
eine Homepage, man sucht den Dialog mit den Betroffe-
Dr. Erik Schweickert (FDP):
nen, man hat die Gutachten vorliegen. Somit besteht jede
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Möglichkeit, sich daraus zu informieren. Ich habe Ihnen
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lay, Sie haben vorher gesagt, dass wir selbstverständlich eine Anhö-
den breiten Dialog, der angeblich fehlt, angemahnt. Ich rung machen werden, wenn der Gesetzentwurf vorliegt.
weiß nicht, wie man es noch breiter machen kann, als im
Internet rechtzeitig alle Gutachten zu veröffentlichen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! In dieser
und eine Plattform einzurichten. Wir haben auch gesagt: Reihenfolge!)
4656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Erik Schweickert


(A) Aber dazu muss man eben erst einmal wissen, womit in diesem Zusammenhang auch feststellen, dass die Kos- (C)
man sich auseinandersetzt. ten und Gebühren vor der Anfrage nur eingeschränkt ab-
schätzbar sind. Das ist von Bundesland zu Bundesland
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
unterschiedlich. Einen einheitlichen Gebührenkatalog
Dazu gehört, dass man einfach auch einmal zur Kenntnis gibt es leider nicht.
nimmt, dass das Verbraucherinformationsgesetz, liebe
Frau Binder, ein paar Punkte enthält, bei denen auch wir Auch halte ich das Gesetz für nur bedingt alltagstaug-
sagen: Da kann man noch etwas verbessern. Insofern lich: Wenn ich morgen Mittag in einer Dönerbude etwas
sind wir im grundsätzlichen Anliegen bei Ihnen. Wir essen möchte, dann will ich, wenn ich vor dem Laden
wollen zum Beispiel, dass der Verbraucher noch mehr stehe, wissen, ob ich unbeschwert hineingehen kann,
Transparenz erhält. Was ist denn geschehen? Proaktive und möchte nicht erst eine Anfrage stellen, um dann
Transparenz wurde erreicht. Insbesondere im Lebens- nach zwei Monaten zu wissen, ob ich ohne Sorge hinein-
mittelbereich gab es erfreuliche, positive Entwicklun- gehen kann oder nicht. Dann bin ich wahrscheinlich ver-
gen. hungert. Ein paar Punkte sind mir also etwas zu stark
formalisiert.
Vizepräsidentin Petra Pau: Der Flickenteppich, bestehend aus Umweltinforma-
Kollege Schweickert, gestatten Sie eine weitere Zwi- tionsgesetz, Verbraucherinformationsgesetz und Infor-
schenfrage, dieses Mal von der Kollegin Maisch? mationsfreiheitsgesetz, führt dazu, dass wir zu viele un-
terschiedliche Regelungen haben, was teilweise zur
Dr. Erik Schweickert (FDP): Folge haben kann, dass eine Anfrage nicht beantwortet
Sehr gerne. wird.
Zu diesen Hauptmängeln kommen vielleicht noch ein
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
paar kleine Hindernisse hinzu. Zu diesem Ergebnis kom-
Danke, Herr Schweickert, dass Sie mir die Möglich-
men die Gutachten. Wir als Koalition haben gesagt: Wir
keit geben, zu fragen. – Ich hätte noch eine Nachfrage zu
wollen dies verbessern. Das heißt für mich, aus den Kri-
diesem Gespräch. Sie sind kein Mitglied der Bundesre-
tikpunkten zu lernen und klar zu sagen: Es muss eine
gierung, obwohl Sie ja sehr fähig sind.
einheitliche Gebührenordnung geben. Der Auskunftser-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und suchende muss vorher wissen, was ihn seine Anfrage
der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ein kostet, und dann kann er sich entscheiden, ob er sie stellt
Ausschlussgrund für die Regierung!) oder nicht. Ich hoffe, dass dieses Instrument dann von
(B) Warum waren Sie als Parlamentarier geladen, und woher mehr Privatpersonen und weniger von den Verbänden (D)
genutzt wird.
hatten Sie die Einladung? Warum hatten wir als Mitglie-
der der Oppositionsfraktionen keine? Zum Zweiten haben wir als christlich-liberale Koali-
tion in unserem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass
Dr. Erik Schweickert (FDP): wir den Flickenteppich beseitigen und die drei Gesetze,
Ich kann Ihnen nicht sagen, auf welchem Weg die das Umweltinformationsgesetz, das Informationsfrei-
Einladung kam. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich eine heitsgesetz und das Verbraucherinformationsgesetz, zu-
Einladung zu diesem Gespräch hatte, wie viele andere sammenführen. Durch diese Zusammenführung – das
Verbände auch. hat die Kollegin Lay vorhin angesprochen – würde die
Forderung, die wir erhoben haben und immer noch erhe-
(Ulrich Kelber [SPD]: Ist die FDP jetzt ein
ben – wir wünschen uns eine Ausdehnung des VIG, zum
Verband?)
Beispiel auf Finanzdienstleistungen –, obsolet, weil es
Wir sind zu diesem Gespräch gegangen, um uns anzuhö- nach dem Informationsfreiheitsgesetz die Möglichkeit
ren, wie die Meinungen sind. Wenn Sie zu den Formali- gibt, an bestimmte Informationen heranzukommen.
täten der Einladung Fragen haben, dann müssen Sie
diese den Einladern stellen. Da ich nicht der Einlader Uns geht es darum, eine schnelle Orientierung für den
war, kann ich Ihnen, Frau Kollegin Maisch, das leider Verbraucher zu ermöglichen. Das könnte zum Beispiel
nicht beantworten. das Smiley-System für Gaststätten nach dänischem Vor-
bild sein. Damit kann man positive Anreize für mehr
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hygiene, mehr Transparenz und mehr Verbraucher-
Der Einlader ist gerade weg!) schutz schaffen, ohne dabei die Unternehmen mit zu viel
Es gibt laut Gutachten auch Schwächen. 487 Anfra- Bürokratie zu belasten.
gen wurden gestellt, allerdings nur ein Bruchteil davon
Dabei ist natürlich auch wichtig – so fair muss jeder
von Privatpersonen. Dazu muss ich sagen: Es ist ein Ver-
sein, der diese Forderung erhebt –, den Bereich der Le-
braucherinformationsgesetz und kein Verbändeinforma-
bensmittelkontrolle zum einen personell und zum ande-
tionsgesetz. Es ist sicherlich eine Schwäche, dass wir in
ren technisch in die Situation zu versetzen, dies auch
diesem Bereich nicht mehr Anfragen haben.
umsetzen zu können. Schauen Sie sich einmal an, wie
Ich habe mich gefragt: Warum ist dies so? Was kön- das in Dänemark funktioniert: Da bekommt man sofort
nen wir verbessern? Vielleicht ist es etwas zu kompli- einen Ausdruck. Man weiß sofort, welche Hygienemän-
ziert, zu intransparent oder zu bürokratisch. Wir mussten gel auf der Toilette oder sonst wo zu einer Abstufung ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4657
Dr. Erik Schweickert
(A) führt haben. – Wenn wir so vorgehen wollen, dann müs- Liebe Frau Drobinski-Weiß, ich bedanke mich sehr (C)
sen wir das auch sagen und dazu stehen. herzlich für die Werbung für die CDU Rheinland-Pfalz.
Sie haben darauf hingewiesen, dass wir uns um die Ver-
Freiwillige Qualitätssiegel in anderen Wirtschaftsbe- braucherinnen und Verbraucher kümmern.
reichen könnten in dieser Hinsicht das Ihrige dazu bei-
tragen. (Ulrich Kelber [SPD]: Aber mit unlauteren
Methoden!)
Bei aller notwendigen Verbraucherinformation – das
sage ich bezüglich der Anträge der Grünen und der Lin- Die Seniorinnen und Senioren werden oft Opfer krimi-
ken – muss gewährleistet sein, dass Unternehmen ihre neller Machenschaften. Das haben wir erkannt; deshalb
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse wahren können. nehmen wir uns dieses Problems an.
Wir sind ganz klar gegen eine Ausweitung der Informa-
tionspflichten von Unternehmen, weil wir der Meinung Ich möchte der Vollständigkeit halber noch etwas er-
sind, dass dies zu einer bürokratischen Überfrachtung wähnen, was Sie vorhin nicht gesagt haben: Man sollte
insbesondere kleinerer und mittlerer Unternehmen füh- zwischen Partei – das ist eine Parteiveranstaltung gewe-
ren würde. Die Unternehmen sind schon nach heutiger sen – und Regierung trennen. Das wird auf dieser Karte
Gesetzeslage dazu verpflichtet, den Behörden Auskunft nicht vermischt.
zu geben. Wenn jetzt aber jeder Pizzabäcker bei jeder Ich habe mir diesbezüglich einmal die Seite der Bun-
Anfrage sagen muss, woraus sich seine Pizza zusam- des-SPD angeschaut. Man muss dort unterschreiben, und
mensetzt, dann muss er jemanden einstellen, der nur am Unterschriftenfeld ist auch ein Sternchen, zu dem
diese Anfragen bearbeitet. steht:
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: So ist das ja
Ich bin damit einverstanden, dass meine personen-
nicht gemeint! Durch Wiederholungen wird es
bezogenen Daten … vom SPD-Parteivorstand ge-
auch nicht besser!)
speichert werden können.
Das kann ja nicht sein. Die Evaluierungen haben uns ge-
zeigt, dass in einigen Behörden Leute eingestellt werden Das heißt, die SPD wie auch die CDU halten sich an die
mussten, um Fragenkataloge mit mehr als 100 Fragen vorgegebenen Datenschutzbestimmungen.
abzuarbeiten. (Ulrich Kelber [SPD]: Nein, nein!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Das müsste man verbie- Das halte ich für absolut notwendig.
ten!)
Auf der angesprochenen Karte muss man ankreuzen,
(B) – Herr Kelber, wenn Sie fordern, dies auf die Unterneh- ob man etwas haben möchte oder nicht. Ich denke, wir (D)
men auszudehnen, dann verabschiedet sich die SPD sollten hier ehrlich bleiben. Man muss trennen zwischen
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Die nicht! Die Arbeit der Regierungspartei und Parteiarbeit. Das haben
verabschiedet sich nicht!) Sie vielleicht nicht getan, wir aber tun das. – Danke noch
einmal für die Werbung.
von einer Partei, die sich auch darüber Gedanken macht,
ob die Wirtschaft so etwas schultern kann oder nicht. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
Ich glaube, Sie sollten sich einmal über Ihre Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Werte Gedanken machen, nicht wir!) Kollegin Drobinski-Weiß, Sie haben das Wort zur
Antwort.
Ich komme zum Schluss. Mehr Transparenz statt
mehr Bürokratie, einfache, aber dafür für den Verbrau-
cher verständliche, niedrigschwellige und im Alltag an- Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
wendbare Informationen – dafür stehen wir als FDP in Wenn ich das richtig verstanden habe, kann ich diese
der christlich-liberalen Koalition. Wir werden uns dafür Informationen von Ihnen gar nicht anfordern, wenn ich
gemeinsam einsetzen und entsprechend an der Novellie- nicht unterschreibe. Ich muss das also unterschreiben.
rung des VIG arbeiten. Das ist es, was falsch daran ist. Außerdem brüsten Sie
sich doch immer damit, wie sehr Sie sich für die Senio-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. rinnen und Senioren einsetzen. Entschuldigen Sie bitte,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in diesem Fall braucht man eine ganz besonders starke
Brille, um das lesen zu können.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich hoffe natürlich sehr, dass Sie Ihr Amt als Parla-
Die Kollegin Klöckner hat um die Möglichkeit einer mentarische Staatssekretärin nicht missbrauchen, um die
Kurzintervention gebeten. – Bitte schön. entsprechenden Informationskampagnen und Aktionen
für Ihren Wahlkampf zu starten.
Julia Klöckner (CDU/CSU):
Ich bedanke mich. Die Kollegin Drobinski-Weiß hat Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mich in ihrer Rede angesprochen. Dann hat man ja die Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die
Möglichkeit, darauf einzugehen. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
4658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gument sticht nicht. Es ist doch sinnvoll, dass Verbände (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Ver- und Journalisten stellvertretend für die Verbraucherinnen
braucherschutz sind die Verfallsdaten eine wichtige Sa- und Verbraucher die Arbeit eines Wachhundes auf den
che, nicht nur bei Joghurt und anderen Produkten, sondern Märkten übernehmen. Es würde Ihnen auch nicht pas-
manchmal auch bei Gesetzen. Als das Verbraucherinfor- sen, wenn jeder politisch interessierte Bürger im Kanz-
mationsgesetz beschlossen wurde, hat der Gesetzgeber leramt anriefe, um zu erfahren, wo genau Sie sparen
der Regierung klugerweise ins Stammbuch geschrieben, wollen. Es ist gut, dass die Medien dies stellvertretend
man solle nach zwei Jahren eine Bilanz ziehen, evaluie- tun. Genauso ist es im Verbraucherbereich.
ren, und gegebenenfalls Verbesserungen vornehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Opposition sieht sich zusammen mit Verbänden
Die proaktive Art, mit der Foodwatch und verschie-
wie der Deutschen Umwelthilfe oder dem vzbv mit die-
dene Journalisten Informationen zum Beispiel über
sem Bericht in ihren Forderungen nach mehr Anwender-
Gammelfleisch in die Presse bringen, führt zu fairen und
freundlichkeit und breiteren Informationsansprüchen be-
transparenten Marktbedingungen für die Konsumenten
stärkt. Auch im Evaluationsbericht der Uni Marburg, den
und die Wettbewerber. Wenn Anbieter von Gammel-
Sie in Auftrag gegeben haben, wird deutlich: Die Gebüh-
fleisch schneller aus dem Verkehr gezogen werden, nützt
renerhebung ist intransparent, und es fehlt eine Systema-
das nicht nur den Verbrauchern, die das nicht mehr essen
tisierung der gesetzlichen Informationsrechte. Das heißt,
müssen, sondern auch den Wettbewerbern, die seriös
die Verbraucher und manchmal auch die Verbände wis-
und ehrlich wirtschaften.
sen nicht, ob jetzt das Informationsfreiheitsgesetz, das
Verbraucherinformationsgesetz oder das Umweltinfor- Wir fordern ein umfassendes, wirksames und unbüro-
mationsgesetz einen Informationsanspruch begründet. kratisches VIG, das den Interessen aller Konsumenten
Außerdem fehlt die Rechtsklarheit, welche Behörden und der seriösen Marktteilnehmer dient. Professor
auskunftspflichtig sind. Schweickert hat das Beispiel Dänemark genannt. Ich
finde es gut, wenn Sie sich an den Dänen orientieren wol-
All das macht deutlich: Als Horst Seehofer von einem
len; denn die sind in diesem Bereich weiter als wir. Die
„Meilenstein des Verbraucherschutzes“ sprach, war er
hängen die Ergebnisse der Hygieneüberwachung schön
auf dem falschen Dampfer.
im Schaufenster des Restaurants aus. Ich wünsche Ihnen
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- viel Erfolg bei den Auseinandersetzungen mit dem
SES 90/DIE GRÜNEN) DEHOGA, der das furchtbar findet. Ich denke aber, dass
Sie beim DEHOGA noch einen gut haben.
Es war höchstens ein kleines Schrittchen. Es besteht er-
heblicher Nachbesserungsbedarf. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
(B) (D)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Ein Beispiel dafür ist das Thema „aktive Behörden- SPD und der LINKEN)
auskünfte“. In Pankow, übrigens unter grüner Verant-
wortung, werden die Behörden aktiv und veröffentlichen
die Ergebnisse der Lebensmittelüberwachung. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Lucia Puttrich für die CDU/CSU-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fraktion.
Das heißt, wenn die Frittenbude um die Ecke Rattenkot (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
in der Küche hat, informiert Sie Ihr grüner Bürgermeis- neten der FDP)
ter im Internet darüber. Ich denke mir: Was in Pankow
unter grüner Verantwortung funktioniert, müsste doch
Lucia Puttrich (CDU/CSU):
eigentlich auch bundesweit zu machen sein.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Drobinski-Weiß, ich bin schon ein bisschen ver-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wundert darüber, dass Sie sich von dem distanzieren,
was Sie selbst mit beschlossen haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Thema
Betriebsgeheimnis eingehen. Das Betriebsgeheimnis wird (Peter Bleser [CDU/CSU]: Ja!)
immer als ein Argument gegen breitere Informationsan-
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie beteiligt waren, als
sprüche ins Feld geführt. Die genaue Zusammensetzung
das Verbraucherinformationsgesetz beschlossen wurde.
der Currysoße auf der Fritte ist natürlich Betriebsgeheim-
nis. Der Rattenkot in der Küche ist kein Betriebsgeheim- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ich habe ja et-
nis. Die Information darüber ist verbraucherrelevant und was dazu gesagt, Frau Puttrich! Haben Sie
gehört am besten auf einen Zettel, der im Schaufenster nicht zugehört? Da habe ich es erklärt!)
ausgehängt wird.
Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass Sie nicht ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittel Ihrer Redezeit darauf verwenden, Reklame zu
machen – auch wenn das für uns positiv ist –, sondern
Ein weiteres Argument, das immer wieder gegen eine
sich mit den Inhalten beschäftigen.
Ausweitung von Informationsansprüchen angebracht
wird, ist die Tatsache, dass die meisten Anfragen von Ich kann nur feststellen, dass die Grünen offensicht-
Journalisten oder Verbänden wie Foodwatch, aber eben lich von Neid zerfressen sind, weil sie nicht hinbekom-
nicht von Privatpersonen stammen. Ich finde, dieses Ar- men haben, was die nächste Regierung geschafft hat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4659
Lucia Puttrich
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
Wir sind diejenigen, die das Verbraucherinformationsge- DIE GRÜNEN]: Das war eine schwache Ant-
setz beschlossen haben; wort!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die CDU-Länder haben das verhindert! Sie Ich wundere mich darüber, dass Sie sich im Zusam-
wissen das doch!) menhang mit der Verfahrensweise über die Evaluierung
dieses Gesetzes beklagen. Auf die drei Gutachten, die in
wir sind den historischen Schritt gegangen. Auftrag gegeben worden sind, brauche ich nicht weiter
einzugehen. Die Sachverständigen wurden schon sehr
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: früh einbezogen. Bei der Erstellung des Gutachtens wur-
den erst einmal alle Anfragen untersucht. Darüber hi-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
naus sind schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Verbrau-
Kollegen Kelber?
cherorganisationen einbezogen worden. Sie können also
davon ausgehen, dass diese drei Gutachten eine sehr fun-
Lucia Puttrich (CDU/CSU): dierte Grundlage sind, um die Evaluation dieses Geset-
Herr Kelber, ich habe gehört, dass Sie nicht zu Wort zes weiter zu betreiben.
gekommen sind. Sie würden jetzt gern reden?
Was man schon jetzt feststellen kann, ist, dass sich
(Ulrich Kelber [SPD]: Ganz artig!) dieses Gesetz bewährt hat, auch wenn es selbstverständ-
lich weiterentwickelt werden soll und weiterentwickelt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wird. Sie haben es vorhin angesprochen: Natürlich sind
Ja oder nein? wir dabei, uns nicht nur theoretisch sachkundig zu ma-
chen, sondern wir sprechen auch mit denjenigen, die die-
ses Gesetz anwenden und praxiserfahren sind, seien es
Lucia Puttrich (CDU/CSU): Verbände, Länder oder Behörden, und die uns ganz klar
Ja, bitte. sagen, wie sich dieses Gesetz in zwei Jahren bewährt
hat. Das ist der sinnvollste Weg. Ich bedaure sehr, dass
Ulrich Kelber (SPD): Sie diese Informationen nicht haben wollen. Schließlich
Frau Kollegin, vielen Dank für Ihr Mitleid mit in der wollen Sie ohne diese Informationen eine Anhörung
eigenen Fraktion unterdrückten Kollegen. durchführen, deren Sinn sich mir überhaupt nicht er-
schließt. Selbstverständlich werden wir die Anregungen,
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die wir für sinnvoll halten, aufnehmen, aber erst dann, (D)
Sie sind seit September 2009 Abgeordnete, waren wenn der Zeitpunkt gekommen ist, um die entspre-
also zu Zeiten der Großen Koalition noch keine Abge- chende Novellierung zu formulieren.
ordnete. Deswegen meine Frage: Hat Sie Ihr Sprecher, Lassen Sie mich auf ein paar Dinge eingehen, die Sie
Peter Bleser, einmal informiert, wie damals die Verhand- meines Erachtens falsch darstellen. Sie stellen einige Be-
lungen über das Verbraucherinformationsgesetz gelaufen hauptungen auf, die schlicht und ergreifend unhaltbar
sind? Hat er Sie insbesondere darüber informiert, wie es sind. So behaupten Sie, dass das VIG den Praxistest
sich mit dem Versuch verhielt, über die aktive Benach- nicht bestanden habe. Wenn Sie sich mit dem Gutachten
richtigung nachzuverhandeln? Alle Ländervertreter und vertieft beschäftigen, dann stellen Sie fest, dass genau
die SPD haben gesagt: Wir wollen das Instrument schär- das Gegenteil der Fall ist, dass sich nämlich das VIG im
fen. – Minister Seehofer hat gesagt: Ja, ich will das. – Es Grundsatz bewährt hat und Ihre Aussage schlichtweg
gab aber einen im Raum, der gesagt hat: Ich lege mein falsch ist.
Veto ein.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Und wer hat sich
neten der FDP)
durchgesetzt?)
Das war der Sprecher der CDU/CSU. Insofern dürfen Wenn Sie immer wieder behaupten, dass immense
wir schon kritisieren, was mit Ihnen nicht machbar war Kosten entstünden, dann machen Sie bewusst oder unbe-
und scheinbar auch jetzt nicht machbar ist. wusst eine falsche Aussage. Sie suggerieren, eine Aus-
kunft koste normalerweise 1 000 Euro. Wenn Sie sich
auch hier ein bisschen besser informieren würden – da
Lucia Puttrich (CDU/CSU): kann ich nur sagen: Lesen erhellt –, würden Sie feststel-
Herr Kelber, ich darf Ihnen versichern, dass unser len: 80 Prozent aller Antworten auf Anfragen waren kos-
AG-Sprecher die Mitglieder der Fraktion in seiner all- tenlos. Bei gebührenpflichtigen Antworten lagen die Ge-
umfassenden Fürsorge natürlich informiert und dass wir bühren in der Regel zwischen 5 und 25 Euro. Höhere
darüber hinaus des Lesens mächtig sind und uns über Beträge waren der Ausnahmefall, und zwar nur in den
Sachverhalte informieren können. Ich kann nur sagen: Fällen, in denen die Anfragen sehr umfangreich gewesen
Das, was Sie gesagt haben, hat den Sachverhalt nicht sind.
verändert und auch nicht erhellt. Fakt ist, dass die SPD
gemeinsam mit der CDU/CSU dieses Gesetz beschlos- Sie behaupten auch, die langen Bearbeitungszeit-
sen hat. So viel dazu. räume hätten die Anfrager abgeschreckt. Dazu kann man
4660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Lucia Puttrich
(A) nur sagen: Diese Behauptung ist unhaltbar. Die Fakten Daran sehen Sie, welche Wirkung erzielt wird, wenn (C)
widersprechen dieser Behauptung. man die vorhandenen Möglichkeiten nutzt. Hoffentlich
werden andere diesem Beispiel folgen;
Die Linken fordern, dass die Ergebnisse der VIG-
Evaluation umgehend veröffentlich werden. Noch mehr (Ulrich Kelber [SPD]: Zum Beispiel das
Transparenz als im Moment kann doch überhaupt nicht BMELV!)
mehr erfolgen.
denn ein Unternehmen, das diese Erfahrung gemacht
(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat, wird sich zukünftig etwas vorsichtiger verhalten.
NEN]: Doch!)
Wir würden uns wünschen, dass Sie konstruktiv an
Die Gutachten sind veröffentlicht worden; Sie können der Evaluierung mitarbeiten,
sie im Internet nachlesen. Der ganze Dialogprozess wird
über das Internet stattfinden. Jetzt könnte ich Sie ein biss- (Ulrich Kelber [SPD]: Wenn Sie uns einmal
chen provokativ fragen, ob Sie so viel Basisdemokratie einladen würden!)
nicht aushalten können; denn demokratischer geht es in anstatt hier Polemik an den Tag zu legen.
der Tat nicht.
Besten Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich habe den
Eindruck, dass Sie entweder schlecht informiert sind Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
oder sich einfach nicht informieren wollen. Vielleicht Die Aussprache ist beendet.
gilt für Sie das Motto: Vertiefte Sachkenntnis verhindert Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
fröhliches Debattieren. auf den Drucksachen 17/1576 und 17/1983 an die in der
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie möchten den Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Anwendungsbereich ausweiten. Das würde bedeuten, Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
dass die Wirkung des VIG verwässert wird. Deshalb sa- sind die Überweisungen so beschlossen.
gen wir Ihnen ganz klar, dass wir das nicht mittragen Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
werden. Sie wollen, dass die Unternehmen die Aus-
künfte direkt geben. Ich glaube, dass es im Sinne der – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Verbraucherinnen und Verbraucher ist, dass die Aus- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
(B) künfte über die Behörden gegeben werden. Dass die Be- schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung (D)
hörde eingeschaltet wird, was Sie bemängeln, ist meines
Erachtens positiv zu sehen, weil eine neutrale Behörde Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
zur Erteilung von Auskünften mit Sicherheit sinnvoll ist. internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
Lassen Sie mich abschließend noch ein Beispiel nen- des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
nen. Sie behaupten immer wieder, dass im Moment noch vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-
keine Missstände veröffentlicht wurden. Ich komme aus schen Abkommens zwischen der internationa-
Hessen. Die dortige Verbraucherschutzministerin ist mit len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den
einem ausgesprochen positiven Beispiel vorangegangen. Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
(jetzt: Republik Serbien) und der Republik
(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Serbien vom 9. Juni 1999
NEN]: Sie ist zurückgetreten, weil sie so er-
folgreich ist?) – Drucksachen 17/1683, 17/2009 –
Es gab ein Restaurant, das Mogelschinken verwendete, Berichterstattung:
ihn aber auf der Karte anders deklarierte. Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Rainer Stinner
NEN]: Warum tritt sie denn zurück, wenn sie Sevim Dağdelen
so erfolgreich ist?) Marieluise Beck (Bremen)
Daraufhin ist dieses Restaurant verwarnt worden. Nach – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
der ersten Verwarnung kam der zweite Schlag. Im Inter- gemäß § 96 der Geschäftsordnung
net wurde veröffentlicht, dass sich das Restaurant nicht
an die Vorgaben gehalten hat. Das hat für entsprechende – Drucksache 17/2010 –
Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesorgt.
Berichterstattung:
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Warum tritt diese gute Ministerin denn dann Petra Merkel (Berlin)
zurück? – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE Dr. h. c. Jürgen Koppelin
GRÜNEN]: Sie scheint nicht so erfolgreich Michael Leutert
gewesen zu sein!) Sven-Christian Kindler
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4661
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion war, und den EULEX-Polizisten. Das militärische Enga- (C)
Bündnis 90/Die Grünen vor. gement der KFOR ist nach wie vor notwendig, bis die
Sicherheitsstrukturen im Kosovo so aufgebaut sind, dass
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- gewährleistet ist, dass alle Bevölkerungsteile durch die
schusses werden wir später namentlich abstimmen. Sicherheitsorgane des Kosovo nachhaltig geschützt sind.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wir als FDP-Fraktion begrüßen die Reduktion der
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen KFOR-Truppen von insgesamt 15 000 auf 10 000 Solda-
Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ten. Das ist ein richtiger Schritt. Wir begrüßen auch, dass
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen die NATO erwägt, im Rahmen des sogenannten Gate 2
Rainer Stinner für die FDP-Fraktion das Wort. die Anzahl der NATO-Soldaten auf 5 500 abzusenken,
und zwar verantwortungsvoll, liebe Frau Kollegin Beck.
(Beifall bei der FDP) Ich glaube, wir können es verantworten, im Laufe des
Jahres damit zu beginnen.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der CDU/CSU)
Wenn man damals den gewählten Präsidenten des Ko-
sovo Rugova besucht hat, kam man mit zwei Dingen zu- Wir halten es auch für richtig, dass die Bundesregie-
rück. Erstens. Jeder bekam einen Stein. Das war das rung die Obergrenze des deutschen Mandats von 3 500
Symbol dafür, welche ungeheuren Bodenschätze im Ko- auf 2 500 Soldaten absenkt. Zur Erinnerung: Wir haben
sovo vorhanden sind. gegenwärtig 1 500 Soldaten dort. Ich bin der Meinung,
dass wir im Zuge der weiteren Verringerung auf
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ 800 Soldaten gehen können – deutlich unter 1 000 Sol-
DIE GRÜNEN]: Einen Edelstein!) daten –, um für uns, aber auch für unsere Bürger das Si-
– Liebe Marieluise, du hast natürlich einen Edelstein be- gnal zu senden: Auslandseinsätze sind keine Never-
kommen. Ich musste mit einem einfachen Stein vorlieb- ending-Story. Wir sind in der Lage, durch Politik dafür
nehmen. Dafür habe ich aber großes Verständnis. zu sorgen, dass die Präsenz von Soldaten im Ausland
verantwortungsvoll – sehr verehrte Frau Beck, da sind
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der wir beieinander – verringert werden kann.
CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck
[Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Das
Das Zweite, das man mitnahm, war die tausendfache war nicht immer so! – Marieluise Beck [Bre-
(B) Versicherung, dass ausschließlich die Unabhängigkeit (D)
men] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast
des Kosovo alle Probleme löse. wohl mächtig Angst vor mir!)
Die Bodenschätze liegen immer noch im Kosovo, und – Zu Recht, allein schon wegen der Edelsteine. Du hast
mit der Unabhängigkeit sind weiß Gott nicht alle Pro- die Edelsteine. Ich habe die einfachen Steine.
bleme gelöst worden. Keine Frage: Die Probleme im
Kosovo sind immer noch immens. Arbeitslosigkeit, Ju- Der Einsatz im Kosovo wurde im Jahr 1999 – gleich
gendarbeitslosigkeit, fehlende Verwaltungsstrukturen, erwarte ich einen Aufschrei von links – aus humanitären
Korruption, Kriminalität, ein Sammelsurium von inter- Gründen begonnen. Wer das bezweifelt, nachdem wir
nationalen Vertretungen, deren Begrifflichkeiten auch alle in den 90er-Jahren erleben konnten, was zum Bei-
uns manchmal schwindelig machen: UNMIK, EULEX, spiel in Sarajevo auf der Snipers Alley oder in Srebre-
ICO, KFOR usw. Wir wissen, dass viele dieser Organi- nica passiert ist, der hat meiner Meinung nach ein etwas
sationsstrukturen der bisher nicht einheitlichen interna- verschrobenes Bild von Humanität. Das musste unter al-
tionalen Vereinbarungen bezüglich des Status des Ko- len Umständen verhindert werden, und das ist gesche-
sovo geschuldet sind. Wir müssen deshalb zunächst hen.
einmal damit leben. Ich bin auch zwei Jahre nach der (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen]
Unabhängigkeit klar der Meinung, dass die Anerken- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang
nung der Unabhängigkeit des Kosovo im Jahre 2008 der Gehrcke [DIE LINKE]: Soll ich jetzt auf-
einzig richtige, wenn auch kontroverse Weg gewesen ist. schreien, oder was erwarten Sie?)
Wir als FDP-Fraktion stehen nach wie vor voll dazu.
– Ich habe es erwartet, aber Sie haben es nicht getan.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vielleicht finden Sie sich mit der Wahrheit ja langsam
der CDU/CSU) ab, Herr Gehrcke. Das würde mich natürlich noch mehr
Wir diskutieren heute über die Verlängerung des erfreuen.
KFOR-Mandates. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, (Beifall bei der FDP)
wenn ich sage, dass wir als FDP-Fraktion dem Antrag
der Bundesregierung zustimmen werden. Aber wir müs- Wir können heute zum Glück feststellen, dass ein
sen etwas genauer betrachten, was im Kosovo passiert. Rückfall in militärische Auseinandersetzungen im Ko-
Bei den Sicherheitsorganen steht die KFOR mittlerweile sovo gegenwärtig von niemandem erwartet wird. Trotz-
an dritter Stelle – das hat sich am 30. Mai in Mitrovica dem ist die Sicherheitslage alles andere als erfrischend
erwiesen: nach den KSF, dessen Aufbau sehr schwierig und befriedigend. Aber der Aufbau von Demokratie,
4662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Rainer Stinner


(A) Rechtsstaatlichkeit und vor allen Dingen einer sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (C)
selbst tragenden Wirtschaft ist weiß Gott nicht so weit, bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
wie wir es hätten erwarten, vermuten und hoffen können. NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich auch mit dem,
Aber auch auf dem Balkan gilt: Militär kann nur die
was die internationale Gemeinschaft erreicht, nicht zu- Grundlage für den Aufbau einer Gesellschaft bilden. Da-
frieden bin. Ich finde, die neun oder zehn Jahre von ran mangelt es ja; das ist gar keine Frage. Dennoch gilt
UNMIK waren kein Erfolgserlebnis und sind keine für uns die starke politische Aussage des Jahres 2003, als
Krone internationaler Handlungsfähigkeit. Wenn ich da- die EU gesagt hat: Jawohl, auch für die Staaten des west-
ran denke, dass auch nach zehn Jahren internationalen lichen Balkans gilt die europäische Perspektive. Sie gilt
Engagements und vollständiger internationaler Beherr- nach wie vor. Wir wissen, wie steinig und schwierig der
schung des Kosovo durch die Vereinten Nationen zum Weg ist, den die einzelnen Länder gehen müssen. Die
Beispiel die Energieversorgung im Kosovo immer noch Balkan-Konferenz vor zehn Tagen, eine Konferenz der
stundenweise unterbrochen wird, dann ist das weiß Gott Europäischen Union mit den Ländern des westlichen
kein Ruhmesblatt. Balkans, hat das noch einmal bestätigt.
Auch was Rechtsstaatlichkeit und Kriminalität an- Die Staaten des westlichen Balkans, auch das Ko-
geht, müssen wir mit Erschrecken den Bericht der Inter- sovo, haben die Möglichkeit, politisch zu Europa zu
national Crisis Group vom 19. Mai dieses Jahres zur kommen; geografisch gehören sie zu Europa. Die Tür zu
Kenntnis nehmen, die – das kann man nicht anders sagen – Europa steht offen; den Weg müssen sie selbst beschrei-
zu einem wirklich verheerenden Urteil über die Rechts- ten. Dabei wollen wir ihnen helfen. Ich sage Ihnen:
staatlichkeit im Kosovo kommt. Darin wird gesagt: Es Meine Fraktion ist der Meinung, dass auch Bundeswehr-
gibt einzelne Elemente von Rechtsstaatlichkeit im Ko- soldaten helfen müssen, die Region zu stabilisieren, bis
dieser Weg beschritten werden kann. Deshalb werden
sovo; aber das System insgesamt funktioniert leider
wir den Kosovo-Einsatz nach wie vor befürworten und
überhaupt nicht. Wir alle wissen, dass das Fehlen eines ihm zustimmen.
funktionierenden Rechtsstaates Investitionen verhindert
und insofern auch den weiteren wirtschaftlichen Aufbau Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
im Kosovo.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Die Kosovo-Mission ist eine von drei militärischen der CDU/CSU)
Interventionen des Westens auf dem Balkan in den letz-
ten 20 Jahren. Die unbekannteste, aber erfolgreichste Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Mission fand im Jahr 2001 in Mazedonien statt. Dort ist Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPD- (D)
(B) durch das Eingreifen des Militärs dafür gesorgt worden,
Fraktion.
dass erst gar kein Krieg ausgebrochen ist. Das heißt, hier
ist der Beweis angetreten worden, dass durch den klugen Fritz Rudolf Körper (SPD):
Einsatz von militärischen Mitteln Kriege verhindert wer-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in
den können. Das ist eine gute Nachricht, die manche in diesen Zeiten von Auslandseinsätzen der Bundeswehr
diesem Hause – das weiß ich – gar nicht gerne hören. die Rede ist, geht es in der Regel um Afghanistan. Der
Nach den furchtbaren Ereignissen der 90er-Jahre in Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo ist ein
Stück in Vergessenheit geraten. Das darf eigentlich nicht
Bosnien-Herzegowina wurde das Dayton-Abkommen
sein. Man muss sich überlegen, womit wir es zu tun ha-
geschlossen. Dann wurden über 50 000 NATO-Soldaten
ben. Das Kosovo liegt im Grunde genommen mitten in
zur Befriedung hingeschickt. Wir stellen heute fest: Die Europa und vor unserer Haustür. Wenn man überlegt,
Mission ist stark reduziert worden. Wir haben jetzt nur dass man das Kosovo von München aus innerhalb von
noch etwas mehr als 1 000 Soldaten dort. Wir sind der zwei Flugstunden erreicht, wird deutlich, wie wichtig es
Meinung, dass wir diese Mission in absehbarer Zeit ins- ist, dass diese Region die Perspektive auf Frieden und
gesamt beenden können. Auch das ist eine erfolgreiche Freiheit hat. Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.
NATO-Mission gewesen.
Wir haben heute den 10. Juni. Am 10. Juni 1999 be-
Auch im Kosovo waren zunächst mehr als schloss der Sicherheitsrat die Resolution 1244, auf deren
50 000 Soldaten. Ich habe die Zahlen von heute genannt. Grundlage der Versuch unternommen wurde, eine inter-
Auch hier gehen die Zahlen richtigerweise nach unten. nationale Übergangsverwaltungsmission zu schaffen.
Wenn wir über Auslandseinsätze sprechen, steht heute Diese internationale Übergangsverwaltungsmission ist
überwiegend das Thema Afghanistan im Vordergrund. im ersten Redebeitrag kritisiert worden. Ich denke, das,
Dabei wird häufig vergessen, dass die Soldaten der Bun- was dargestellt worden ist, ist nachvollziehbar. Aber ich
deswehr auch im Kosovo über viele Jahre hinweg unter stelle mir auch immer die Frage: Was wäre passiert,
schwierigsten Bedingungen einen beispielhaften Einsatz wenn man nichts unternommen hätte? Deswegen muss
geleistet haben. Unsere Soldaten haben mit ihren Kame- man mit Kritik an den Ergebnissen der Übergangsver-
raden aus den anderen Ländern dafür gesorgt, dass wei- waltungsmission vorsichtig umgehen.
terer Krieg verhindert wurde. Das ist ein großes Kompli- (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen]
ment für die Soldaten. Ich glaube, die Bundeswehr und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
wir alle können stolz auf den Einsatz Deutschlands im
Kosovo sein. – Vielen Dank, Frau Beck.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4663
Fritz Rudolf Körper
(A) Unsere Aufgabe ist, glaube ich, ganz einfach zu um- Es ist wichtig und richtig, immer zu überlegen: Was (C)
schreiben. Es geht darum, das Kosovo in eine substan- ist mit militärischem Einsatz, mit militärischen Ressour-
zielle Autonomie zu befördern. Dies ist auch in der Un- cen zu leisten? Zu Beginn hatte der Kosovo-Einsatz ei-
abhängigkeitserklärung aus dem Jahre 2008 enthalten, in nen großen Umfang; die Zahlen sind schon genannt wor-
der es um die sogenannte überwachte Souveränität geht. den. Die Truppenstärke betrug einmal 50 000
Die Aufgaben stellen sich in gleicher Weise. Es geht da- Soldatinnen und Soldaten. Bis zum Jahre 2010 ist diese
rum, dafür zu sorgen, dass im Kosovo und in dessen Zahl auf rund 10 000 Soldatinnen und Soldaten aus
Umgebung ein sicheres Umfeld geschaffen wird. All die 32 Ländern – auch dies ist festzuhalten – reduziert wor-
damit einhergehenden politischen Probleme sind im den. Für die Zukunft ist es sehr wichtig, dass wir uns im-
Grunde genommen nur lösbar, wenn wir es schaffen, mer auch die Frage stellen: Welche Aufgaben können
selbsttragende Sicherheitsarchitekturen zu schaffen und wir im Sinne eines sicheren Umfeldes und sich selbst
den Einwohnerinnen und Einwohnern der verschiedens- tragender Sicherheitsstrukturen leisten, und wie viel Per-
ten Ethnien im Kosovo ein sicheres Umfeld zu bieten. sonal brauchen wir dafür? Da wir auch diese Entwick-
Das ist, wie ich glaube, nach wie vor die Aufgabe, der lung zur Kenntnis nehmen, werden wir diesem Mandat
wir uns stellen müssen. Die militärische Sicherheit wird weiterhin unsere Zustimmung geben.
durch KFOR gewährleistet.
Herzlichen Dank.
Zu dieser Aufgabe gehört aber auch, ein sicheres Um-
feld zu schaffen und die Aufrechterhaltung öffentlicher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sicherheit und Ordnung im Kosovo zu gewährleisten. Es DIE GRÜNEN)
ist sehr wichtig, dass wir es schaffen, die lokalen Polizei-
kräfte so auszustatten, dass sie zunehmend in der Lage Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sind, die Aufgabe der Bewahrung der öffentlichen Si- Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die
cherheit zu übernehmen. Ich denke, das ist der richtige CDU/CSU-Fraktion.
Ansatz.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Die lokalen Polizeikräfte haben eine immense He- Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
rausforderung zu bewältigen. Eine ihrer Aufgaben ist ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die
rade in den jüngsten Tagen wieder sehr deutlich gewor- CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem KFOR-Man-
den: die Krake Korruption im Kosovo zu bekämpfen. dat heute zustimmen, weil dieser Einsatz bisher zu einer
Wenn es nicht gelingt, die Korruption effektiv und effi- deutlichen Stabilisierung und Verbesserung der Sicher-
(B) zient zu bekämpfen, dann sind wir in einer ganz schwie- heitslage im Kosovo geführt hat. (D)
rigen Situation. Im Kampf gegen die Korruption müssen Dass dies so ist, kann man an vielen Beispielen able-
wir auch im Rahmen von EULEX eine ganz klare Kante sen. Ich will nur drei davon nennen:
zeigen.
Erstens. Wer noch vor wenigen Jahren beispielsweise
(Beifall bei der SPD) in Prizren war, der musste mit Beklemmung feststellen,
Wichtig ist, dass wir die einheimische Bevölkerung dass das dortige serbische Kloster und andere Kulturstät-
im Kosovo auf ihrem Weg in eine freie und demokrati- ten oder auch nur einzelne Häuser von serbischen Be-
sche Gesellschaft, die jedermann offensteht, unterstüt- wohnern mit Panzern, Stacheldraht und Soldaten massiv
zen. Es scheint mir sehr wichtig zu sein, dass es gelingt, geschützt werden mussten. Heute hat die Verantwortung
in dieser Richtung aktiv zu sein. Wir müssen alle Kon- dafür die albanisch besetzte Polizei des Kosovo über-
zeptionen prüfen und alle Ressourcen nutzen, damit dies nommen. Wer sich die symbolische Bedeutung dieser
gelingt. Orte vor Augen führt, der kann am besten nachvollzie-
hen, welche Veränderung hier erreicht wurde.
Außerdem scheint mir sehr wichtig zu sein, dass wir
den Versöhnungsprozess, der im Hinblick auf den Ko- Zweitens. Weil KFOR erfolgreich war, können unsere
sovo dringend notwendig ist, auch im Rahmen des Stabi- Soldaten verstärkt für die Ausbildung von Sicherheits-
litätspaktes für Südosteuropa weiter befördern. Denn wir kräften im Kosovo eingesetzt werden. Auch dies ist ein
kennen die Ursachen und Gründe für die kriegerischen Beispiel für eine erfolgreiche Sicherheitsübergabe in
Auseinandersetzungen vor dem Jahre 1999, die zum Verantwortung.
Morden und Töten geführt haben. Deswegen, meine Da-
Drittens. 1999, am Beginn der Stabilisierungsmission,
men und Herren, glaube ich, dass es keine Alternative
hatten wir über 6 400 Bundeswehrsoldaten im Kosovo
dazu gibt, diesen Versöhnungsprozess massiv voranzu-
stationiert. Heute sind es aktuell 1 557, also nur noch ein
treiben. Dabei müssen die unterschiedlichen Ethnien
Viertel.
einbezogen werden, damit sich das, was sich in den
Jahren 1997 und 1998 im Kosovo ereignet hat, Das alles zeigt: KFOR hat einen außergewöhnlichen
Beitrag auch zur inneren Stabilität des Landes geleistet,
(Robert Hochbaum [CDU/CSU]: Und 1999!)
wofür wir insbesondere unseren Soldatinnen und Solda-
nie wiederholt, sondern der Vergangenheit angehört. ten danken.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
4664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Andreas Schockenhoff


(A) Aus diesem Grund ist es auch mehr als gerechtfertigt, spekt vor der schwierigen Arbeit, die die Männer und (C)
dass wir die Obergrenze von ursprünglich einmal 8 500 Frauen in der EULEX-Mission leisten – dieses Instru-
Soldaten im Jahre 1999 und derzeit 3 500 Soldaten auf ment muss noch wirksamer werden.
künftig 2 500 Soldaten absenken werden.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Wie wahr!)
Aber noch ist eine „abschreckende Präsenz“, wie die
gegenwärtige Phase von KFOR bezeichnet wird, not- Die EULEX-Experten wissen sehr genau, wer die
wendig, um sicherzugehen, dass es hinsichtlich der Si- Hauptverursacher der Korruption sind. Doch bisher
cherheitslage nicht zu Rückschlägen kommt. Wir sind wurde ihnen Untätigkeit vorgeworfen. Jetzt hat EULEX
zuversichtlich, dass bald weitere Reduzierungen mög- im Falle des Transportministers Limaj endlich einmal
lich sind. Dem Ziel, dass das Kosovo ohne ausländische durchgegriffen. Es würde dem Ansehen und der Durch-
Truppen für seine Sicherheit und Stabilität sorgen kann, setzungsfähigkeit von EULEX als Rechtsstaatsmission
sind wir inzwischen deutlich näher gekommen. guttun, wenn sie im Kampf gegen die strukturelle Kor-
ruption auch gegenüber weiteren sogenannten dicken Fi-
Ich denke, in einer Zeit, in der wir an anderer Stelle schen Rechtsstaatlichkeit durchsetzt.
unter schwierigsten Bedingungen mehr Soldaten einset-
zen müssen, um auch dort eine Stabilisierung und eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Übergabe in Verantwortung zu erreichen, sollten wir die- neten der FDP)
sen Stabilisierungserfolg und den bisher erreichten Fort- Ein drittes Beispiel: Wenn Kosovo etwas zu bieten
schritt bei der Übergabe in Verantwortung nachdrücklich hat, dann ist es seine Jugend. Aber es gibt zu geringe In-
würdigen. vestitionen in Bildung und Ausbildung. Hier können
Neben dem großartigen militärischen Beitrag von und müssen wir auch bilateral mehr tun. Das deutsche
KFOR haben zwei weitere politische Faktoren entschei- Loyola-Gymnasium in Prizren ist überfüllt. Jugendliche
dend zur Stabilisierung in der Region und im Kosovo müssen zum Studium nach Albanien oder nach Tetovo in
beigetragen: Mazedonien, es sei denn, sie werden von einer Privatuni-
versität in Pristina aufgenommen. Lehrbücher kommen
Zum einen ist das die EU-Perspektive für die Länder noch immer größtenteils aus Albanien, in den serbischen
des westlichen Balkans. Deshalb treten wir dafür ein, Gebieten natürlich aus Serbien. Dies alles zeigt: Hier
den Prozess der Annäherung und des Beitritts der West- müssen wir noch mehr tun, auch um ein mögliches Un-
balkanstaaten zur EU fortzusetzen, mit dem Ziel einer ruhepotenzial zu vermeiden.
weiteren Stärkung von Sicherheit, Demokratie, Freiheit
und Rechtsstaatlichkeit in der Region. Allerdings – das Frieden im Kosovo ist auf die Dauer nicht gegen Ser-
sage ich auch mit allem Nachdruck für meine Fraktion – bien zu erreichen. Umgekehrt wird Serbien seine EU-
(B)
muss dieser Prozess mit mehr Sorgfalt bei der Umset- Perspektive nicht verwirklichen können, wenn es nicht (D)
zung vor Ort, aber auch mit mehr Überzeugungskraft ge- der Tatsache Rechnung trägt, dass das Kosovo sein un-
genüber unserer eigenen Bevölkerung durchgeführt wer- abhängiger Nachbar ist. Die verantwortungsbewussten
den. Damit dies erreicht wird, müssen und werden wir Kräfte in Serbien wissen das, aber sie haben einen
unsere neuen Rechte in EU-Angelegenheiten nachdrück- schweren Stand. Deswegen ist es richtig, wenn wir diese
lich nutzen. Kräfte und insbesondere den mutigen Präsidenten Boris
Tadić darin bestärken, ihre Politik der Verständigung
Zum Zweiten kann man heute, zwei Jahre nach der und des Ausgleichs entschlossen weiterzuverfolgen.
Anerkennung des Kosovo, mit Fug und Recht feststel-
len: Diese Anerkennung hat maßgeblich zur Stabilität Deswegen sage ich mit Blick auf den Antrag Serbiens
und Beruhigung der Situation beigetragen. auf Beitritt zur Europäischen Union: Niemand erwartet
jetzt von Serbien die völkerrechtliche Anerkennung des
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kosovo als unabhängigen Staat. Aber wir müssen erwar-
neten der FDP) ten, dass Serbien möglichst bald, spätestens aber bis zu
Deswegen appellieren wir nachdrücklich insbesondere einem EU-Beitritt, einen Modus Vivendi, beispielsweise
an die fünf EU-Staaten, die den Kosovo noch nicht aner- vergleichbar dem deutsch-deutschen Grundlagenvertrag,
kannt haben, das zu tun. Die Anerkennung ist der beste gefunden hat.
Beitrag zur Stärkung von Frieden und Stabilität auf dem
Ein Infragestellen der Unabhängigkeit des Kosovo
Balkan.
und Forderungen nach neuen Verhandlungen über den
Bei aller Freude über das Erreichte müssen aber deut- Status des Kosovo schaden nur dem serbischen Beitritts-
lich auch die Probleme und Mängel angesprochen wer- gesuch: Wenn das Gutachten des Internationalen Ge-
den. Die wirtschaftlichen Probleme sind trotz einer guten richtshofs zur Frage der Anerkennung des Kosovo dazu
Wachstumsrate immens. Hinsichtlich der Rechtsstaat- genutzt werden sollte, neue Statusverhandlungen zu for-
lichkeit hat die EU-Kommission in ihrem letzten Fort- dern, dann würde dies eine Zustimmung des Deutschen
schrittsbericht erhebliche Mängel benannt, insbesondere Bundestages zu Beitrittsverhandlungen erst einmal in-
beim Kampf gegen Korruption, Drogenhandel, organi- frage stellen. Das sage ich in aller Deutlichkeit.
sierte Kriminalität und sogar Kinderarbeit.
Aber ich sage mit der gleichen Deutlichkeit: Wenn
EULEX, also die EU-Rechtsstaatsmission, hat hier die mutige Politik der Verständigung und des Aus-
eine besonders schwierige Aufgabe. EULEX ist das gleichs – ich nenne nur die Srebrenica-Resolution des
richtige Instrument, aber – das sage ich mit allem Re- serbischen Parlaments – und die Politik der regionalen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4665
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) Zusammenarbeit fortgesetzt und die Beitrittsvorausset- Besonders perfide war die damalige Argumentation der (C)
zungen erfüllt werden, dann können alle nur gewinnen: rot-grünen Bundesregierung, es ginge um die Verhinde-
vor allem Serbien die Mitgliedschaft in der Europäi- rung von Auschwitz. Das war unerträglich.
schen Union, aber auch die Westbalkanregion und ganz
(Beifall bei der LINKEN)
Europa durch Frieden und Sicherheit in einer Region,
die Europa immer wieder in Unfrieden und Kriege ge- Deutsche Militäreinsätze werden zum Schutz von Ka-
stürzt hat. pitalinteressen, auch im Kosovo, durchgeführt. Das ist,
wie gesagt, eine neue Ehrlichkeit, für die ich mich bei
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ihnen bedanke. Nur im Gegensatz zu Ihnen zieht die
Linke ganz andere Schlüsse daraus. Kriege und Militär-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einsätze für Wirtschaftsinteressen sind per Grundgesetz
neten der FDP)
untersagt.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/
CSU]: Gysi und Milosević! Das passt!)
Das Wort hat nun Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke. Die Linke will, dass diese permanente Verletzung des
Grundgesetzes und des Völkerrechts endlich aufhört.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Bundesregierung erklärt, die Bundeswehr sichere
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- die Unabhängigkeit des Kosovo ab. Auch diese Aufgabe
der Bundeswehr sucht man im Grundgesetz vergeblich.
men und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor
Die Geschichte von elf Jahren deutscher Militärpräsenz
elf Jahren auf den Tag genau beendete die NATO ihre
im Kosovo ist eine Geschichte fortgesetzter Rechtsbrü-
Bombardierung Jugoslawiens. Über 2 000 Menschen be- che. Gemeinsam mit Afghanistan und Saudi-Arabien ge-
zahlten den völkerrechtswidrigen Krieg, an dem sich hörte Deutschland zu den Erstanerkennerstaaten der ein-
auch Deutschland beteiligte, mit dem Leben. seitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Die
(Michael Brand [CDU/CSU]: Ursache und Liste der über 60 Staaten, die das Kosovo anerkannt ha-
Wirkung nicht vergessen!) ben, liest sich wie das Who is Who der Koalition der Wil-
ligen des Irakkriegs von George W. Bush. Ich finde,
Mit der schon erwähnten Resolution 1244 des UN-Si- Deutschland ist da nicht in allerbester Gesellschaft.
cherheitsrates wurde allerdings festgeschrieben, dass das
(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/ (D)
(B) Kosovo völkerrechtlicher Teil Jugoslawiens blieb. Seit-
CSU]: Ihre Freundschaft zu Milosević!)
dem ist die KFOR und seitdem sind deutsche Soldaten
im Kosovo stationiert. Während die Große Koalition 2008 gemeinsam mit
dem Europäischen Rat erklärte, die territoriale Unver-
Heute werden Sie, Herr Guttenberg, von dpa, Han- sehrtheit der Staaten achten zu wollen, und dabei explizit
delsblatt und ORF mit folgenden Worten zitiert: „Die Si- auf die UN-Charta verwiesen hat, gibt es in puncto Ko-
cherheit von Handelswegen kann unseren Wirtschaftsin- sovo abenteuerliche Begründungen zur Rechtfertigung
teressen dienen.“ Sie nannten neben Afrika, Nahost und der völkerrechtswidrigen Anerkennung des Kosovo.
Lateinamerika den Kosovo als Beispiel. Darüber hinaus
haben Sie sich explizit hinter die Aussagen des zurück- So erklärte die Vertreterin der Bundesregierung im
getretenen Horst Köhler gestellt, Auslandseinsätze der Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof zur Klä-
Bundeswehr würden auch für wirtschaftliche Interessen rung dieser Frage, dass das Kosovo infolge der Interven-
durchgeführt werden, etwa für freie Handelswege. tion zu einem „Gebilde“ geworden sei. Kosovo sei ein
Sonderfall, der nicht auf die anderen Fälle übertragbar
(Michael Brand [CDU/CSU]: Propaganda!) sei. Mit dieser Sonderfallkonstruktion setzen Sie einfach
nur die Gültigkeit des Völkerrechts aus.
Herr Guttenberg, ich bin Ihnen für diese Klarstellung
wirklich außerordentlich dankbar. Damit vertreten Sie Was ist das für eine Außenpolitik, die in puncto Geor-
nämlich eine Position, die die Linke von Anfang an ver- gien etwas anderes gelten lassen will als im Falle Serbi-
treten hat. ens? Sie wollen anstelle des internationalen Rechts das
Recht des Stärkeren etablieren. Und dann wundern Sie
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie waren auf sich, wenn andere, zum Beispiel Abchasien und Südos-
der Seite der Täter!) setien, sich auf Sie berufen.

Wir haben nämlich nie den Kriegslügen des damaligen (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/
grünen Außenministers Fischer und Ihres sozialdemo- CSU]: Zitieren Sie einmal Kofi Annan!)
kratischen Vorgängers Scharping geglaubt, die der Öf- Diese Art des Rechtsnihilismus in der internationalen
fentlichkeit weismachen wollten, es ginge bei diesem Politik, die Sie uns heute noch einmal vorführen, legt die
Krieg um Menschenrechte. Axt an die Wurzel des friedlichen Zusammenlebens
weltweit. Das müssen Sie endlich einmal einsehen. Ich
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie waren auf fordere Sie auf: Kehren Sie endlich um auf diesem Weg!
der Seite der Täter! Herr Gysi ist zu Herrn Mi-
losevic gefahren!) (Beifall bei der LINKEN)
4666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dağdelen
Sevim Daðdelen
(A) Was haben Sie eigentlich in elf Jahren Bundeswehr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
im Kosovo erreicht? Die Menschen im Kosovo leben in Das Wort hat nun Marieluise Beck für die Fraktion
tiefster Armut. Die Grünen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber in Frieden!)
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
Über 45 Prozent Arbeitslosigkeit, 75 Prozent unter den GRÜNEN):
Jugendlichen, sprechen eine deutliche Sprache. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob-
(Michael Brand [CDU/CSU]: Weil das Kosovo un- wohl ich – derzeit noch – aus strukturellen Gründen nach
ter Milosević ausgebeutet wurde!) den Linken spreche, möchte ich nicht immer in die Lage
geraten, eine kleine Geschichtsstunde geben zu müssen.
Nicht einmal eine Stromversorgung wurde aufgebaut. Wir sollten deshalb den vorangegangenen Redebeitrag
Gleichzeitig unterstützen Sie fragwürdige Eliten im Ko- beiseite lassen und uns den Realitäten zuwenden.
sovo und machen sogar gemeinsame Sache mit ihnen.
Laut Interpol geht ein Großteil des Heroinhandels aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Afghanistan in die EU über das Kosovo, und die Admi- bei der CDU/CSU und der FDP – Sevim
nistration des Kosovo sei darin verwickelt. Wenn ich Sie Dağdelen [DIE LINKE]: Wie Sie das Völker-
im Ausschuss danach frage, schlagen Sie einfach die recht zur Seite getan haben!)
Augen nieder. Es hat auch keinen Aufschrei gegeben,
Für meine Fraktion möchte ich festhalten: Die Prä-
dass die Sicherheitskräfte des Kosovo, die eng mit der
senz der KFOR im Kosovo ist nach wie vor notwendig.
KFOR kooperieren, auf bewaffneten Gedenkveranstal-
Sie kann reduziert werden; das ist erfreulich. Deswegen
tungen für die UCK auftauchen. Warum schweigen Sie
stimmt meine Fraktion der Verlängerung des UN-ge-
dazu, frage ich mich, Herr Westerwelle? Warum nehmen
deckten Mandates zu.
Sie das einfach hin, Herr Guttenberg?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Michael Brand [CDU/CSU]: Warum schwei-
und bei der CDU/CSU)
gen Sie zu den Opfern im Kosovo?)
Einer Ihrer Mythen ist, die KFOR sorge für die Si- Allerdings gibt es zu der Entwicklung im Kosovo – wir
cherheit der Menschen im Kosovo. Aber was war denn sollten uns die Verhältnisse nicht schönreden – sehr viel
2004, als ein kosovo-albanischer Mob Kirchen anzün- Kritisches zu sagen. Das will ich hier deutlich tun.
dete, Serben umbrachte und vertrieb und serbische Dör- Die Kritik betrifft viele Beteiligte, sowohl die kosova-
fer plünderte? Wo war denn da die KFOR? In Kosovska rische Regierung als auch die Europäische Union, die
(B) Mitrovica schaute sie aus ihrem Camp dabei zu, wie das VN und nicht zuletzt Serbien. Zehn Jahre nach Ende des (D)
Diebesgut unmittelbar an ihr vorbeigefahren wurde. Krieges sind die große Erleichterung aufseiten der Ko-
Später kam man dann zum Aufräumen. Die meisten der sovo-Albaner über ein Ende der jahrelangen Unterdrü-
damals Vertriebenen konnten – genauso wie über ckung, gegen die Herr Rugova mit seiner durch und
100 000 Roma und Serben – nicht in ihre Heimatorte zu- durch gewaltfreien Bewegung über Jahre friedlich ge-
rückkehren. Die Verantwortlichen wurden bis heute kämpft hatte, und die Freude über die Unabhängigkeit
nicht zur Rechenschaft gezogen. Also erzählen Sie uns einer zunehmenden Frustration gewichen. Die Lebens-
nicht, dass Sie irgendetwas für die Sicherheit der Men- verhältnisse im Kosovo sind sehr schwierig. Es bewegt
schen tun würden, im Gegenteil. sich wenig. Vieles ist unklar. Das Leben im Kosovo ist
(Beifall bei der LINKEN) für viele kaum leichter geworden.

Jetzt haben Sie auch noch angefangen, massenhaft Ro- Manches war absehbar. Vieles war kaum vermeidbar.
maflüchtlinge in das Kosovo abzuschieben, entgegen Das ist das Schwierige. Der Westen stand vor der Gefahr
dem Rat aller Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisa- eines zweiten Bosnien mit über 100 000 Toten, Frau
tionen. Die weisen nämlich zu Recht darauf hin, dass die Kollegin. Srebrenica lag noch nicht lange zurück. Der
Menschenrechtslage im Kosovo katastrophal ist, gerade UN-Sicherheitsrat erwies sich als nicht handlungs- und
für die Roma. Die Linke fordert deshalb, diese Abschie- entscheidungsfähig. Das war die Situation, in der agiert
bungen sofort zu stoppen. Gefährden Sie nicht weiterhin wurde und die in der Tat viele Unklarheiten nach sich
Leib und Leben auch noch der Romaflüchtlinge! gezogen hat. An diesem Konstruktionsfehler leidet die-
ses Land bis heute. Diese Unklarheit wirkt auch einer
(Beifall bei der LINKEN) schnelleren Entwicklung entgegen.
Die Bundeswehr auf dem Balkan und im Kosovo hat Probleme gibt es aber auch im eigenen Haus, inner-
in der Vergangenheit keinen Frieden geschaffen und halb der Europäischen Union, und das nicht zum ersten
wird dies auch nicht in Zukunft tun. Mein Appell an Sie Mal. Es ist kaum nachvollziehbar, dass fünf Mitglied-
lautet: Hören Sie auf mit den Anschlägen auf Grundge- staaten der Europäischen Union die Anerkennung des
setz und Völkerrecht! Militäreinsätze für Wirtschaftsin- Kosovo mit dem Verweis auf die Gefahr eines Präze-
teressen müssen der Vergangenheit angehören. Eine denzfalls nach wie vor verweigern, so als könnte etwa
friedliche Außenpolitik ist in Deutschland möglich. eine Regierung Spaniens schlussfolgern, sie könne wie
Vielen Dank. eine Milosević-Regierung die ethnischen Minderheiten
im eigenen Land bedrohen. Das könnte zu einer Sezes-
(Beifall bei der LINKEN) sion führen. Das ist so absurd und so abwegig, dass man
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4667
Marieluise Beck (Bremen)
(A) den Ländern, die die Anerkennung des Kosovo verwei- bringt, dass es auf eine Teilung des Kosovo hinarbeitet. (C)
gern, sagen muss: Werdet gelassen, glaubt an eure Die Europäische Union muss Serbien sagen: Der Zugang
eigene Demokratiefähigkeit und erkennt zusammen mit zur Europäischen Union wird offen sein für ein unabhän-
den anderen EU-Staaten das Kosovo an, damit das giges Kosovo und für ein freies Serbien. Beide werden
Durcheinander der Organisationsstrukturen endlich auf- sich auf neuer Geschäftsgrundlage unter dem Dach der
hört! EU treffen können. Serbien wird sich aber selber den
Weg verstellen, wenn es in der Frage Kosovo – Nord-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Mitrovica ist ein Beispiel dafür – weiterhin zündelt.
DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)
Die Zukunft dieser Region liegt auch in einer sehr
EULEX muss in unterschiedlichen Gewändern auf- eindeutigen, glaubwürdigen und starken Haltung der Eu-
treten. Im größeren Teil vom Kosovo ist sie eine status- ropäischen Union. Wir sind da nicht immer top; das
neutrale Mission. Im Norden von Mitrovica muss diese muss man deutlich sagen. Unsere Stärke wird letztlich
Mission unter dem Dach von UNMIK agieren. Es fehlt auch mit ausschlaggebend dafür sein, ob wir dort eine
natürlich an Autorität und Durchsetzungsfähigkeit. Das Perspektive entwickeln können, damit der Westbalkan
konnte man sehen, als Serbien im Norden Mitrovicas, nicht – wie das immer und immer wieder der Fall war –
also in einem Mandatsgebiet der UNMIK, das durch zu einer Quelle ganz Europa gefährdender Auseinander-
Serbien mit der UN-Resolution anerkannt worden ist, ei- setzungen wird.
gene Staatsanwälte und Richter ernannt hat. Das führt
natürlich zu einem ständigen Hemmnis für die Entwick- Schönen Dank.
lung, gerade auch für die Entwicklung von Rechtsstaat-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lichkeit, die dieses Land dringend bräuchte.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Noch eine Fußnote: An der KFOR-Mission ist CDU/CSU und der FDP)
Deutschland überproportional, an EULEX mit Richtern,
Staatsanwälten und Polizisten unterproportional betei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ligt. Das ist ein schlechtes Zeugnis für Deutschland. Ich Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-
möchte hier noch einmal öffentlich sagen, dass Men- Fraktion.
schen, die solche zivilen Mandate innegehabt haben und
nach Deutschland zurückgekommen sind, immer wieder (Beifall bei der CDU/CSU)
Beförderungshindernisse erleben. Dagegen sollten wir
wirklich ganz massiv angehen. Solche zivilen Missionen Florian Hahn (CDU/CSU):
werden in ihrer Anzahl nämlich größer werden, und der Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen (D)
(B) Bedarf an Personen, die sich daran beteiligen, wird
und Kollegen! Wenn wir heute über die Verlängerung
wachsen. Diejenigen, die bereit sind, dabei mitzuma- des Mandats für die KFOR beschließen, können wir zu-
chen, sollen nach ihrer Rückkehr keine Nachteile erfah- nächst festhalten: Die Lage im Kosovo hat sich seit den
ren. letzten schweren Unruhen im Jahr 2004 deutlich stabili-
Ich komme noch einmal auf die Rolle Serbiens zu siert. Wir dürfen diesen Einsatz unserer Parlamentsar-
sprechen. Wie ich eben schon gesagt habe, ist UNMIK mee als Erfolg verbuchen. Wir sind 1999 gegen Völker-
von Serbien mit der UN-Resolution 1244 anerkannt; in- mord und Vertreibung eingetreten, und heute haben wir
sofern steht dieses Manöver wie die eigene Ernennung eine Lage erreicht, in der Krieg auf dem Balkan immer
von Staatsanwälten und Richtern gegen das eigene Man- unwahrscheinlicher wird. Die Schaffung einer nachhal-
dat. Noch dramatischer ist, dass am 30. Mai von serbi- tig stabilen europäischen Region wird realistischer.
scher Seite zum wiederholten Mal Kommunalwahlen in Frau Dağdelen, lassen Sie mich eines gleich klarstel-
Nord-Mitrovica ausgetragen worden sind. Das hat auch len: Unser Verteidigungsminister hat gestern zu Recht
in diesem Jahr fast zu einer großen gewalttätigen Aus- gesagt, dass Sicherheit für wirtschaftliche Dynamik sor-
einandersetzung geführt. Es gab in den vergangenen Jah- gen kann und deren Grundlage ist.
ren Tote. Zum Glück gab es in diesem Jahr keine Toten.
Das ist ein Beweis dafür, dass die Polizei, die inzwi- (Zurufe von der CDU/CSU: Aha! – Hört!
schen im Wesentlichen kosovarisch ist, unter Einbezie- Hört!)
hung serbischer Polizisten durchaus handlungsfähig ist.
Das zeigt das Beispiel Kosovo. Alles andere ist falsche
Auch wenn die notwendigen Schritte nur langsam voll-
Propaganda.
zogen worden sind, ist es ein großer Fortschritt, wenn
bei gewalttätigen Auseinandersetzungen keine Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
schen mehr sterben. Auch das ist eine Folge der KFOR-
Mission. Dass wir heute die Obergrenze der Bundeswehrprä-
senz um fast 30 Prozent reduzieren können, ist sichtbarer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausdruck dieser sehr erfreulichen Entwicklung.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Grundsätzlich verfolgen wir einen vernetzten Ansatz
Für die Zukunft des Landes muss sehr deutlich sein, aus wirtschaftlicher Hilfe, politischem Neuaufbau sowie
dass die Europäische Union glaubwürdig ist. Sie muss in sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Integration
ihren Ansagen klar sein. Das bedeutet auch Klarheit ge- des Landes in Richtung Europäische Union. Doch dabei
genüber Serbien, das ziemlich eindeutig zum Ausdruck gibt es noch viel zu tun.
4668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Florian Hahn
(A) Aktuell traut die kosovarische Bevölkerung der eige- funktionierenden öffentlichen Verwaltung und die Ver- (C)
nen Regierung den entschiedenen Kampf gegen die gras- besserung der Grundbildung.
sierende Korruption nicht zu. Sie vertraut mehr auf die
Meine Damen und Herren, die KFOR bleibt ein gutes
EU und die EULEX. Hier liegt ein zentraler Ansatz-
Beispiel für friedenschaffende Maßnahmen. Die stetig
punkt der zivilen Aufbauarbeit, der durch den Anker der
geringer werdende Truppenstärke ist daher nur eine logi-
KFOR mit abgesichert werden muss; denn Korruption
sche Konsequenz und unterstreicht den Erfolg. Deshalb
erzeugt Wut, Enttäuschung und in letzter Konsequenz
gilt unser Dank den Soldatinnen und Soldaten, den zivi-
leider auch Resignation in der Bevölkerung. Der Ver-
len Aufbauhelfern, den Polizeikräften und den Diploma-
trauensverlust der Menschen in dem Bereich wirkt sich
ten. Sie alle tragen dazu bei, den Frieden in Europa an
auch negativ auf das Vertrauen in internationale Organi-
dieser sensiblen Stelle zu sichern. Allen Beteiligten
sationen aus. Leider habe ich den Eindruck, dass die ko-
wünsche ich für die künftige komplexe und manchmal
sovarische Bevölkerung insofern zunehmend frustriert
auch gefährliche Arbeit weiterhin Erfolg und Gottes Se-
und enttäuscht ist.
gen. Im Interesse der Menschen im Kosovo und der Re-
Wir sind also aufgefordert, über die Entsendung der gion bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum vorliegen-
EULEX und über die Präsenz der KFOR hinaus gerade den Antrag.
im Bereich Mittelvergabe das Thema Korruptionsver-
Herzlichen Dank.
meidung an die erste Stelle zu setzen. Sollten sich die
Vorwürfe bestätigen, die Medienberichten zu entnehmen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind, nämlich dass führende Regierungsmitglieder in den
Korruptionszirkeln sind, stinkt – das muss man so sagen – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wohl offensichtlich der Fisch vom Kopf her. Das Wort hat nun Günter Gloser für die SPD-Frak-
Inzwischen ermittelt man offiziell aufgrund des Ver- tion.
dachts von Geldwäsche, organisierter Kriminalität, Amts- (Beifall bei der SPD)
missbrauch und Betrug gegen Mitglieder und Berater der
Regierung. Sollte sich der Verdacht bewahrheiten, er-
warte ich Konsequenzen; denn ich bin nicht bereit, das Günter Gloser (SPD):
Geld unserer Bürgerinnen und Bürger beispielsweise in Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
kosovarische Privatvillen zu stecken. Kollegen! Der erfolgreiche Verlauf der KFOR-Mission
im Hinblick auf die militärische Absicherung der Ent-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wicklung des Kosovo ist von vielen, von fast allen ge-
Ich fordere daher von der kosovarischen Regierung lobt worden. Dem schließe ich mich an. Die heute zu be-
(B)
den vehementen Einsatz gegen Korruption, auch inner- schließende Absenkung der Höchstzahl der eingesetzten (D)
halb der eigenen Reihen; denn es bleibt dabei: Wir wol- Truppen und die zu erwartende weitere Absenkung der
len das Land aufbauen, aber nicht die Korruption. tatsächlich eingesetzten Soldatinnen und Soldaten sind
ein Beleg für diesen Erfolg. Doch die Präsenz der KFOR
Meine Damen und Herren, Deutschland zählt zu den ist weiterhin nötig. Die SPD wird deshalb, wie es Kol-
Ländern, die den Kosovaren in hoher Not und ohne Zö- lege Fritz Rudolf Körper eben schon ausgeführt hat, die-
gern geholfen haben. Wir erwarten dafür, dass sich die sem Antrag der Regierung zustimmen.
Republik Kosovo dieser Hilfe auch in Fragen des Min-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann den Kolle-
derheitenschutzes als würdig erweist. Dies gilt beispiels-
gen Stinner jetzt nicht sehen; aber ich möchte sagen: Ich
weise für die Religionsfreiheit und den Schutz auch von
bin über seine Klarstellung erfreut, dass es um einen ver-
serbisch-orthodoxen Kirchen und Klöstern.
antwortungsvollen Rückzug geht. In der Vergangenheit
Ich appelliere ausdrücklich an die Minderheiten, sich hatte ich Gelegenheit, manche Diskussion der FDP zu
nicht abzuschotten, sondern sich aktiv am gesellschaftli- verfolgen, die so geführt wurde, als sei Exit ein Selbst-
chen Leben zu beteiligen. Der albanischen Mehrheitsbe- zweck. Aber Exitstrategien sind von den jeweiligen Ver-
völkerung rufe ich zu, dass aktives Zugehen auf die Min- hältnissen abhängig. Wir werden in diesen Tagen ja noch
derheiten und deren Schutz für ein gedeihliches weiter über die Frage sprechen, wo wir reduzieren und
Miteinander und für die Zukunft des Landes in Europa rausgehen müssen, wie es bei der UNIFIL-Mission der
von großer Bedeutung sind. Fall ist. Aber wenn wir feststellen, dass eine günstige
Entwicklung stattgefunden hat, dann ist es natürlich klar,
Mit unserem vernetzten Ansatz wollen und können
dass wir bei der Verbesserung der Verhältnisse auch eine
wir Kosovos Weg nach Europa unterstützen. Dazu leis-
entsprechende Zahl von Soldaten zurückziehen oder
ten wir auch massive Hilfe im zivilen Bereich, und das
ganz aus dem Mandat nehmen können. Deshalb bin ich
sowohl von staatlicher Seite als auch durch die Arbeit
froh, dass Sie diese Klarstellung vorgenommen haben.
von Nichtregierungsorganisationen. Seit 1999 trägt al-
lein unsere staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit Kommen wir aber auch zu dem anderen, dem zivilen
340 Millionen Euro erheblich zum sozialen, wirtschaftli- Teil der Entwicklung: Bei aller Kritik glaube auch ich,
chen und politischen Aufbau des Landes bei. Für die dass diese Entwicklung ohne die Gewährleistung von Si-
nächsten zwölf Monate sind im Haushalt 99 Millionen cherheit durch KFOR nicht möglich gewesen wäre. Dies
Euro bereits vorgesehen. Unsere Schwerpunkte sind da- sage ich ausdrücklich auch in Richtung der Linken; Kol-
bei der Aufbau von Infrastruktur, die Förderung von legin Marieluise Beck hat eben deutlich gesagt, dass sie
Wirtschaft und Beschäftigung sowie der Aufbau einer nicht erneut erklären wolle, was hier in vielen Debatten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4669
Günter Gloser
(A) geäußert worden ist. Ich muss weder Sie noch mich be- funktionieren, wie wir als Parlamentarier uns dies viel- (C)
unruhigen; aber ich werde es in meinem parlamentari- leicht wünschen.
schen Leben und vermutlich auch in dem anderen Leben
nicht mehr erleben, dass die Linke jemals ohne Selbst- Dennoch, bei allen Defiziten, bei allen Rückschlägen
zweifel ist und nicht so argumentiert, als gäbe es einen und bei allen Schwierigkeiten – wir sagen das auch an
Idealplan. dieser Stelle –: Die Beitrittsperspektive des Kosovo für
die Europäische Union bleibt bestehen, genauso wie sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten natürlich für Serbien bestehen bleibt.
der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE
LINKE]: Das ist nicht wahr!) (Beifall bei der SPD)

Viele, die über viele Jahre im Parlament sind, wissen, Ich möchte aber auch auf einige humanitäre Fragen
dass wir es uns nicht leicht gemacht haben. Wir haben eingehen. Hier wird die Wahrnehmung ganz und gar
auch Zweifel gehabt, ja, wir haben Ängste und Sorgen vom angespannten Verhältnis von Serben und Albanern
gehabt. Aber wir haben genauso oft erlebt, was auf dem im Kosovo dominiert. Dabei werden andere Minderhei-
Westbalkan passiert ist, wo massiv gefragt worden ist: ten häufig übersehen. Vor allem betrifft dies die Roma,
Warum leistet ihr nicht Hilfe und Unterstützung? Sie war die im Kosovo-Konflikt zwischen die Fronten gerieten
eben – leider muss ich auch dies immer wieder sagen – und im Kosovo mehr noch als in anderen Ländern Süd-
nicht durch Sozialarbeiter einer Kommune, der Stadt osteuropas zu Opfern massiver Ausgrenzung sowie so-
Nürnberg, oder anderer Kommunen, sondern nur dank zialer und gesellschaftlicher Benachteiligung werden.
der Soldatinnen und Soldaten zu leisten. Aber lassen wir In diesem Zusammenhang stelle ich noch einmal die
dies, meine sehr verehrten Damen und Herren. Frage, ob es richtig ist, dass Deutschland Roma, die als
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kriegsflüchtlinge hierher kamen, jetzt verstärkt wieder
der CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: in den Kosovo abschiebt. Hierbei sollten Einzelfälle sehr
Die Linke war schon früher auf der Seite von sorgfältig geprüft und berücksichtigt werden.
Milosević!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wenn diese militärischen Konflikte abebben, dann fo- der CDU/CSU)
kussiert sich vieles auch zu Recht auf die Frage der Es stellt sich die Frage, ob die aufnehmende Gesellschaft
Missstände, der Kriminalität, der Korruption, der Ar- im Kosovo in der Lage ist, diese Menschen wieder zu in-
beitslosigkeit, aber auch der ethnischen Spannungen. tegrieren. Die Abwesenheit von Krieg sollte jedenfalls
Das ist durchaus berechtigt; es verzerrt aber meines nicht als einziges Argument für die massenhafte Ab-
(B) Erachtens auch das Bild, denn wir können bei aller nöti- schiebung von Roma in den Kosovo dienen. (D)
gen Kritik an den bestehenden Verhältnissen im Kosovo
Auch eine andere Folge der Kriege im Kosovo dürfen
seine Entwicklung noch nicht an der anderer Länder der
wir nicht vergessen: Das Land ist in großen Teilen von
Region messen.
Minen verseucht, die eine tägliche Gefahr für alle Men-
Lassen Sie mich das Wichtigste kurz nennen: Die schen dort bedeuten. Es wird noch viele Jahre brauchen,
wirtschaftlichen Rahmendaten sind immer noch besorg- dieses Problem zu lösen. Auch hierbei benötigen die
niserregend. Erstens liegt trotz 340 Millionen Euro bila- Menschen im Kosovo weiterhin unsere Unterstützung.
teraler Hilfe allein durch Deutschland seit 1999 das
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Fall des
Bruttoinlandsprodukt bei 1 713 Euro pro Kopf und Jahr.
Kosovo zeigt, dass militärische Sicherung eine zwar not-
Selbst im ärmsten EU-Land Bulgarien beträgt dieser
wendige, aber niemals eine hinreichende Voraussetzung
Wert das Fünffache, nämlich 8 600 Euro. Zweitens sind
für zivile Entwicklung ist. Ohne die KFOR könnte es
43 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, darunter beson-
EULEX nicht geben; ohne große eigene Anstrengungen
ders viele Jugendliche. Drittens stocken wichtige Inves-
der Kosovaren und vielfältige Formen der bilateralen
titionen in die Infrastruktur, weil politische Prozesse in-
Hilfe wird aber auch die EULEX-Mission letztlich nicht
transparent ablaufen.
nachhaltig erfolgreich sein können. Deshalb ist KFOR
Angesichts dieser Situation ist es gut, dass EULEX notwendig, auch wenn der Schwerpunkt des internatio-
beim Aufbau von Justiz, Polizei und Zoll nicht nur bera- nalen Engagements sich mit EULEX klar auf die zivile
tende Funktion, sondern auch ein exekutives Mandat hat, Entwicklung des Landes und den Aufbau einer eigenen
solange kosovarische Behörden dazu noch nicht selbst in Verwaltung und einer eigenen Polizei verlagert hat.
der Lage sind. Das betrifft die Bereiche der staatsanwalt-
schaftlichen Verfolgung schwerer Verbrechen und inter- Auch an dieser Stelle gilt mein ganz persönlicher
ethnischer Straftaten sowie von Finanzdelikten genauso Dank den Soldatinnen und Soldaten, den Richtern, den
wie die Grenzsicherung. Staatsanwälten und vielen anderen, die für Institutionen
im Kosovo aktiv sind. Vor zwei Jahren hatte ich die Ge-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir legenheit, verschiedene Institutionen und gerade auch
uns trotzdem keine Illusionen: Es wird Zeit brauchen; es die Soldatinnen und Soldaten zu besuchen. Ich musste
fehlen die angesprochenen wirtschaftlichen Grundla- feststellen, dass manche Bedingungen nicht gut waren.
gen, es fehlt die Existenz einer stabilen Bürgergesell- Ich hoffe, dass in der Zwischenzeit, vor allem in den hei-
schaft. Deshalb kann es auch nicht verwundern, wenn ßen Monaten Juni, Juli und August, hinsichtlich dieser
die noch sehr jungen Parteien ebenfalls noch nicht so Bedingungen für die Soldatinnen und Soldaten, die für
4670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Günter Gloser
(A) uns dort sind, durch das Verteidigungsministerium Ab- gegeneinander geführt haben. Insgesamt sind es über (C)
hilfe geschaffen worden ist. 100 Stipendiaten. Wer hätte eine solche Entwicklung
noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten?
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist eine dieser kleinen Erfolgsgeschichten, an
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der welcher die KFOR und das deutsche Engagement auf
CDU/CSU) dem Balkan insgesamt mitgeschrieben haben. Darauf
können wir, kann Deutschland mit Fug und Recht stolz
sein.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Deshalb sage ich: Hätte die internationale Gemein-
Kollegen Peter Beyer von der CDU/CSU-Fraktion das schaft damals die Tragödie auf dem Kosovo nicht ge-
Wort. stoppt, hätte nicht jeder deutsche Soldat und jede deut-
sche Soldatin mit dem Abzeichen der Kosovo Force am
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ärmel der Uniform der Sache gedient und wären sie
neten der FDP) nicht Tag für Tag mit ihren Kameraden aus über
30 Ländern bereit, viel für den Auftrag der internationa-
Peter Beyer (CDU/CSU): len Gemeinschaft zu leisten, dann wäre auch diese
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. Dann gäbe es
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem heute keine berechtigte Hoffnung. Dann könnten die
westlichen Balkan hat sich seit dem Kosovo-Krieg 1999 Menschen des Kosovo heute nicht in eine Zukunft in Eu-
viel zum Guten gewendet. 1999 haben uns die Vereinten ropa investieren.
Nationen angesichts einer humanitären Tragödie den
Auftrag erteilt, ein sicheres Umfeld für alle Menschen Noch sind die Investitionen in Infrastruktur und Ener-
im Kosovo zu schaffen. Vor elf Jahren beschloss der giesicherheit nicht ausreichend. Ebenso gibt es Defizite
Deutsche Bundestag deshalb ein Mandat mit einer Ober- bei den Investitionen in den Bildungssektor, bei Schulen
grenze von 8 500 Soldaten. Der Unterschied zwischen und Hochschulen; Kollege Andreas Schockenhoff hatte
dem Mandat von damals, von 1999, mit 8 500 Soldaten das in seiner Rede schon hervorgehoben. Trotz aller
und dem heutigen Mandat mit 2 500 Soldaten, das wir begrüßenswerten Fortschritte ist die Republik Kosovo
heute beschließen wollen, drückt den Erfolg der KFOR noch immer nicht sicher genug. Sicherheit ist ein wichti-
aus. Wir dürfen heute sicher davon ausgehen, dass die ges Stück Lebensqualität für die Menschen im Kosovo.
KFOR mit maximal 2 500 deutschen Soldatinnen und Auch deswegen ist ein Verbleib der KFOR-Truppe im
Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Das ist eine posi- Kosovo erforderlich.
(B) (D)
tive Entwicklung, die sich sehen lassen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Hinter den Zahlen des KFOR-Mandats verbergen sich neten der FDP)
Einzelschicksale, Fortschritte, ja, auch Rückschläge und Meine Damen und Herren, noch ist der Auftrag der
viele kleine Erfolgsgeschichten. Lassen Sie mich eine KFOR nicht erfüllt. Darum brauchen wir das neue Man-
dieser kleinen Erfolgsgeschichten kurz schildern: dat. Während der Sicherheitsauftrag noch andauert, kön-
Eine Familie wird 1992 aus dem Kosovo vertrieben. nen wir nun das politische Ziel angehen; denn die deut-
Sie kommt mit ihrer kleinen Tochter nach Deutschland, schen KFOR-Soldaten garantieren die Sicherheit. Das ist
die hier ebenso wie ihre Eltern eine sichere Heimstatt unsere Aufgabe als außenpolitisch verantwortlich Han-
findet. Sie lernt die Landessprache. Was bleibt, ist die delnde. Unser Ziel heißt: Wir wollen gemeinsam mit den
Sehnsucht nach der alten Heimat. Nach dem Kosovo- Menschen im Kosovo die Perspektive für eine Zukunft
Krieg 1999 kann diese Familie dank der Sicherheit, die in Europa schaffen. Slowenien ist als erster Staat der
die KFOR unter deutscher Beteiligung gewährleistet, Balkanregion unser EU-Partner geworden. Kroatien ist
wieder in ihr Land, das Kosovo, zurückkehren. Die dabei, seinen Weg in die EU zu vollenden. Was für sie
Tochter studiert Germanistik an der Universität in Pris- bereits Wirklichkeit ist, ist für die Menschen im Kosovo
tina. Dort arbeitet sie nach dem Abschluss weiter. Heute noch ein weiter Weg. Da sind wir ganz realistisch. Auch
arbeitet die junge Frau in meinem Bundestagsbüro hier Serbien sieht seine Zukunft in der EU. Das kommt in
in Berlin. dem im Dezember 2009 gestellten Beitrittsantrag zum
Ausdruck. Das hat mir noch kürzlich der serbische Ge-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sandte in Deutschland persönlich ausdrücklich versi-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chert.
Nach der Sommerpause wird sie in das Kosovo zurück-
Aus meiner Sicht bedarf es für eine echte EU-Per-
kehren. Ebenso wie unsere Soldaten wird sie dort – da
spektive vor allem einer Klärung des Verhältnisses von
bin ich mir sehr sicher – ein positives Bild von Deutsch-
Kosovo und Serbien zueinander. Serbien hat sein Anlie-
land verbreiten.
gen nach einer rechtlichen Bewertung der Unabhängig-
Hervorheben möchte ich dabei, dass an diesem Sti- keitserklärung des Kosovo – mit gutem Recht – vor den
pendiatenprogramm, an dem die Dame aus dem Kosovo Internationalen Gerichtshof gebracht. Dabei ist für uns
teilnimmt, auch junge Menschen aus Serbien, Bosnien- klar, der Status des Kosovo steht nicht zur Disposition.
Herzegowina, Kroatien, Frankreich und den USA teil- Ein neues Konfliktfeld um die Unabhängigkeitserklä-
nehmen, die zum Teil noch vor wenigen Jahren Krieg rung des Kosovo wird hier aber gerade nicht eröffnet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4671
Peter Beyer
(A) Serbien hat den Weg der völkerrechtlich verbindlichen der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der (C)
Streitbeilegung beschritten. Das macht deutlich, dass es Bundesrepublik Jugoslawien sein.
den Beteiligten ernsthaft darum geht, auf diesem Weg
eine wirkliche Klärung zwischen Serbien und Kosovo zu (Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es doch
erwirken. Das Ziel einer europäischen Perspektive für gar nicht mehr!)
alle Menschen des westlichen Balkan rückt damit ein Wie kann sich dieser Antrag auf diese Resolution
bedeutendes Stück näher. stützen – das hat auch mein Vorredner getan –, sodass
dann die Hauptaufgabe des Einsatzes der Bundeswehr
Meine Damen und Herren, wir nehmen zur Kenntnis,
im Kosovo unter anderem die Herstellung, die Erhaltung
was bereits erreicht worden ist. Ich bin zutiefst davon
und die Gewährleistung der Souveränität und der territo-
überzeugt, ohne die KFOR wäre dies alles nicht möglich
rialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien
gewesen. Keiner kann behaupten, die Männer und
sein soll? Solange der Internationale Gerichtshof nicht
Frauen der Kosovo-Force hätten in elf Jahren nicht viel
die Anerkennungsfrage entschieden hat, kann über den
erreicht. Und es besteht Grund zur Hoffnung, dass auch
Antrag keine verantwortliche Entscheidung dieses Parla-
in den nächsten Jahren erhebliche Fortschritte auf dem
ments getroffen werden.
westlichen Balkan erreicht werden. Weil die KFOR
Sicherheit gibt, glauben die Menschen, dass ihre Kinder (Volker Kauder [CDU/CSU]: Kurzinterven-
eine sichere Zukunft haben. Weil die Menschen an die tion!)
Zukunft ihrer Kinder glauben, können sie in die Zukunft
in Europa investieren. Kurzum: Sicherheit ist die Grund- Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, dies bei
lage für die Hoffnung und eine Zukunft in Europa. Si- ihrer Entscheidung zu berücksichtigen.
cherheit im Kosovo braucht KFOR – so lange, bis der (Beifall bei der LINKEN)
Auftrag der Vereinten Nationen beendet ist.
Ich danke Ihnen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
SES 90/DIE GRÜNEN) gen Ausschusses auf Drucksache 17/2009 zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Drucksache 17/1683 anzunehmen.
(B) Christian Ströbele das Wort. (D)
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung nament-
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!) lich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind über-
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE all die vorgesehenen Plätze von den Schriftführerinnen
GRÜNEN): und Schriftführern eingenommen? – Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Danke, Herr Präsident. – Der Deutsche Bundestag
wird jetzt – voraussichtlich mit großer Mehrheit – die Darf ich fragen, ob noch ein Kollege anwesend ist,
Fortsetzung des Einsatzes der Bundeswehr im Kosovo der seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offen-
beschließen. sichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der
von der CDU/CSU: Jawohl! Sehr gut!) Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)2)
Der Deutsche Bundestag beruft sich auf einen Antrag Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
der Bundesregierung, in dem zur Legitimierung dieses ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Einsatzes der Bundeswehr im Kosovo entscheidend auf Drucksache 17/2011. Wer stimmt für diesen Entschlie-
die Resolution der Vereinten Nationen 1244 Bezug ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
genommen wird. sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
Der Deutsche Bundestag – und vorher schon die Bun- von CDU/CSU, FDP und der Linken gegen die Stimmen
desregierung – übersieht aber, dass wichtige Vorausset- der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
zungen für die Entscheidung der Vereinten Nationen in- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
zwischen weggefallen sind. Wer die Resolution 1244
durchsieht, erkennt, dass sie schon in ihrer Präambel be- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sagt, dass es darum geht, dass alle Staaten ein Bekennt- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
nis zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
Bundesrepublik Jugoslawien abgeben. Eine der Haupt- zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-
aufgaben des Einsatzes nach dieser Resolution, auf die Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Ab-
Sie alle Bezug nehmen, soll die Herstellung, die Ge-
währleistung einer substanziellen Selbstverwaltung für 1) Erklärung nach § 31 GO siehe Anlage 2
das Kosovo unter voller Berücksichtigung der Prinzipien 2) Ergebnis Seite 4673 D
4672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE festgesetzte EU-Kostenanteil von 7,2 Milliarden Euro (C)
GRÜNEN realistisch. Zu Recht verlangt die Bundesregierung je-
doch, dass es bei den nun definierten Mehrkosten bleibt
Kernfusionsforschung kritisch überprüfen –
und dass dennoch weitere auftretende Kostensteigerun-
ITER-Vertrag kündigen
gen bei ITER gegebenenfalls durch Einsparungen an an-
– Drucksachen 17/1433, 17/1949 – derer Stelle des Projekts finanziert werden.
Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
René Röspel Ebenso dringend – möglicherweise entscheidend – ist
Dr. Martin Neumann (Lausitz) die Verbesserung der Leitungsstrukturen bei Fusion for
Dr. Petra Sitte Energy. Das ist die zuständige Stelle für die Koordinie-
Sylvia Kotting-Uhl rung der ITER-Aktivitäten, die ihren Sitz in Barcelona
Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- hat. Hierbei sind auch die bisher dort durchgeführten As-
mentlich abstimmen. sessments zu berücksichtigen. Ein weiterer Punkt, der
von der Bundesregierung aufgegriffen wurde und von
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die uns unterstützt wird, ist die Neugestaltung der Aus-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre schreibungsregularien. Diese sind derzeit einem For-
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. schungsprojekt dieser Größenordnung nicht angemes-
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die lieben sen. Hier ist eine Anpassung an internationale Standards
Kolleginnen und Kollegen, die in verschiedenen Ecken notwendig.
in Gruppen zusammenstehen und diskutieren, entweder
(Beifall des Abg. Albert Rupprecht [Weiden]
Platz zu nehmen oder den Plenarsaal zu verlassen, damit
wir ungestört weiterdebattieren können. [CDU/CSU])

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Schließlich ist für die weitere Unterstützung des Pro-
Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. jekts seitens der Bundesrepublik und damit auch seitens
dieses Parlamentes sowohl hinsichtlich der Kostenpla-
(Beifall bei der CDU/CSU) nung als auch hinsichtlich der Entwicklung des wissen-
schaftlichen Konzeptes künftig deutlich mehr Transpa-
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): renz erforderlich. Es ist insofern zu begrüßen, dass
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zukünftig auch Vertreter der einzelnen europäischen Re-
(B) Sehr geehrte Damen und Herren! Bereits vor gut einem gierungen, jedenfalls der wichtigsten Mitgliedstaaten (D)
Monat haben wir uns hier im Plenum zum gleichen wie Deutschland, in die Führungsgremien von ITER ein-
Thema getroffen. Damals lag die aktuelle Kostenschät- bezogen werden.
zung zum ITER-Projekt frisch auf dem Tisch. Erst auf
massiven Druck der Projektpartner hin konnte die Kom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mission bzw. das ITER-Management dazu gebracht wer- neten der FDP)
den, eine belastbare Kostenschätzung vorzulegen. Das
Ergebnis ist alarmierend. Gegenüber dem ursprüngli- Bezüglich der Fusionsforschung stehen wir in dieser
chen Ansatz von 2,7 Milliarden Euro als europäischem Woche an einem Scheideweg. Ich möchte nicht falsch
Anteil an ITER belaufen sich die anteiligen Kosten für verstanden werden: Selbstverständlich bekennen wir uns
die EU nach nun vorliegender Schätzung auf bis zu nach wie vor zur Fusionsforschung, weil wir die darin
7,2 Milliarden Euro. Das ist eine Verdreifachung der liegenden immensen Chancen zur Sicherung unserer
Kosten. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregie- Energieversorgung über das Jahr 2050 hinaus sehen.
rung zu Recht an die Europäische Kommission appel- Funktioniert die Kernfusion wie geplant, können wir un-
liert, alle Einsparungsmöglichkeiten zu überprüfen. Es seren Energiebedarf ab der zweiten Hälfte des Jahrhun-
erging die deutliche Aufforderung an die Kommission, derts einfach und sauber decken. Bis dahin ist es jedoch
möglichst rasch Vorschläge für Kosteneinsparungen vor- ein weiter Weg. Dieser Weg darf für die Beteiligten nicht
zulegen und zu prüfen, ob und wie die Mehrkosten bei zu einem Drahtseilakt werden, zumal uns ein Auffang-
ITER aus dem EU-Haushalt finanziert werden können. netz derzeit fehlt.
Das BMBF erwartet zu Recht einen substanziellen Bei-
Auf die Chancen für die Hightechindustrie in
trag der EU, gegebenenfalls auch durch Umschichtun-
Deutschland und die positiven Wechselwirkungen von
gen im Haushalt.
ITER und der Fusionsforschung in Garching und Greifs-
Ebenso wichtig war es nach den in der Vergangenheit wald habe ich in meiner letzten Rede bereits hingewie-
nicht besonders glücklichen Erfahrungen mit dem ITER- sen. Nochmals: Wir sind gewillt, das Projekt ITER wei-
Management, bei ITER eine hochrangige Taskforce ein- terzuführen, allerdings nur dann, wenn wir die feste
zurichten. Diese Taskforce hat sich bereits konstituiert Überzeugung haben, dass das Management den Aufga-
und wird in den nächsten Wochen eine nochmalige Sit- ben gewachsen ist und die technischen Probleme in den
zung des Rates für Wettbewerbsfähigkeit vorbereiten, Griff zu bekommen sind. Auch hier sind noch einige
um die von der Bundesregierung aufgeworfenen Fragen Fragen offen, zum Beispiel hinsichtlich ungeklärter Ma-
zu beraten. Nach heutigem Wissensstand ist der jetzt terialfragen beim Bau des Reaktors.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4673
Dr. Stefan Kaufmann
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen – Sie lem aber das IPP in Garching, bisher überproportional (C)
haben den Antrag gestellt –, ganz ohne Risiko kommen von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert haben.
wir nicht zu neuer Spitzentechnologie. Schließlich set- Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht,
zen wir ganz bewusst auf deutliche Mehrausgaben in den ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw.
Bereichen Bildung und Forschung. Ich erinnere an un- dem Nachfolger DEMO ab ca. 2025 die Perspektive.
sere lebhafte Diskussion heute Morgen. Bei der harten Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit und
internationalen Konkurrenz liegt die Zukunft Deutsch- Freundschaft könnte aufgrund des ITER-Sitzes in Cada-
lands als Innovationsstandort in der Forschung. Die rache und des damit zusammenhängenden starken fran-
Fortführung von ITER hat also nichts damit zu tun, die zösischen Interesses am Projekt in Mitleidenschaft gezo-
Förderung erneuerbarer Energien oder Forschungsaus- gen werden. Auch diese Überlegungen gehören zu ei-
gaben in diesem Bereich zurückzufahren, wie das die nem ehrlichen Umgang mit der Zukunft von ITER.
Grünen gerne unterstellen. Dieser Vorwurf ist unredlich,
entsprechende Befürchtungen sind offensichtlich unbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gründet, und das wissen auch Sie. neten der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lassen Sie uns also gemeinsam kritisch bleiben, aber
neten der FDP) noch nicht den Stab über das Projekt brechen. Dafür ist
heute nicht der richtige Zeitpunkt. Es scheint, als hätten
Bei ITER sind wir in eine über die EU hinausgehende die Gewitter der letzten Wochen tatsächlich reinigende
Gemeinschaft bedeutender Staaten eingebunden. Ich Wirkung gehabt. Richten wir nun den Blick voraus und
nenne nur die USA, Japan, Russland und China. Das bie- nehmen wir die deutsche Führungsrolle bei der Bewälti-
tet Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Be- gung der europäischen ITER-Krise an. Ich bitte Sie da-
obachtung aus. Unsere Partner beobachten sehr genau, her, dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht zuzu-
wie sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zu- stimmen und der Beschlussempfehlung des Ausschusses
kunftsweisenden Projekt verhält. Auch das verpflichtet zu folgen.
uns zu einer sehr gewissenhaften Prüfung des weiteren
Vorgehens. Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ein schneller Ausstieg ist keine Lösung. Ein deut-
scher Alleingang ist im Übrigen vertragsrechtlich ohne
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
die anderen Euratom-Staaten nicht möglich, es drohen
(B) zudem hohe Auslösungskosten. Bei einem Ausstieg Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen (D)
müssen insbesondere die Auswirkungen auf die europäi- zwischendurch das von den Schriftführerinnen und
sche Forschungszusammenarbeit, auf die bereits er- Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
wähnten deutschen Fusionsprojekte in Garching und Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
Greifswald, aber auch auf andere deutsche Großfor- wärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung
schungsprojekte mit internationaler Beteiligung wie zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna-
XFEL in Hamburg und FAIR in Darmstadt geprüft wer- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grund-
den. lage der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Verein-
ten Nationen bekannt geben. Abgegebene Stimmen 567.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere deut- Mit Ja haben gestimmt 486, mit Nein haben gestimmt 71,
schen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Helm- Enthaltungen gab es 10. Die Beschlussempfehlung ist
holtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor al- damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Günter Baumann Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Maria Flachsbarth
Abgegebenen Stimmen: 567; Ernst-Reinhard Beck Dr. Helge Braun Klaus-Peter Flosbach
davon (Reutlingen) Heike Brehmer Herbert Frankenhauser
ja: 486
Manfred Behrens (Börde) Ralph Brinkhaus Dr. Hans-Peter Friedrich
Veronika Bellmann Gitta Connemann (Hof)
nein: 71
Dr. Christoph Bergner Leo Dautzenberg Michael Frieser
enthalten: 10 Peter Beyer Erich G. Fritz
Alexander Dobrindt
Steffen Bilger Thomas Dörflinger Dr. Michael Fuchs
Ja Clemens Binninger Marie-Luise Dött Hans-Joachim Fuchtel
Peter Bleser Dr. Thomas Feist Alexander Funk
CDU/CSU Dr. Maria Böhmer Enak Ferlemann Ingo Gädechens
Peter Altmaier Norbert Brackmann Ingrid Fischbach Dr. Thomas Gebhart
Peter Aumer Klaus Brähmig Hartwig Fischer (Göttingen) Norbert Geis
Dorothee Bär Michael Brand Dirk Fischer (Hamburg) Alois Gerig
Thomas Bareiß Dr. Reinhard Brandl Axel E. Fischer (Karlsruhe- Eberhard Gienger
Norbert Barthle Helmut Brandt Land) Josef Göppel
4674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Peter Götz Dr. Norbert Lammert Armin Schuster (Weil am Garrelt Duin (C)
Dr. Wolfgang Götzer Katharina Landgraf Rhein) Sebastian Edathy
Ute Granold Ulrich Lange Detlef Seif Siegmund Ehrmann
Reinhard Grindel Dr. Max Lehmer Johannes Selle Dr. h. c. Gernot Erler
Hermann Gröhe Paul Lehrieder Reinhold Sendker Petra Ernstberger
Michael Grosse-Brömer Dr. Ursula von der Leyen Dr. Patrick Sensburg Karin Evers-Meyer
Markus Grübel Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Elke Ferner
Manfred Grund Matthias Lietz Johannes Singhammer Gabriele Fograscher
Monika Grütters Dr. Carsten Linnemann Jens Spahn Dr. Edgar Franke
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Patricia Lips Carola Stauche Dagmar Freitag
Guttenberg Dr. Jan-Marco Luczak Erika Steinbach Peter Friedrich
Olav Gutting Dr. Michael Luther Christian Freiherr von Stetten Martin Gerster
Florian Hahn Karin Maag Dieter Stier Iris Gleicke
Holger Haibach Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann Günter Gloser
Dr. Stephan Harbarth Andreas Mattfeldt Stephan Stracke Ulrike Gottschalck
Jürgen Hardt Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Angelika Graf (Rosenheim)
Dr. Matthias Heider Maria Michalk Karin Strenz Michael Groß
Mechthild Heil Dr. h. c. Hans Michelbach Thomas Strobl (Heilbronn) Wolfgang Gunkel
Ursula Heinen-Esser Dr. Mathias Middelberg Lena Strothmann Hans-Joachim Hacker
Frank Heinrich Philipp Mißfelder Michael Stübgen Bettina Hagedorn
Rudolf Henke Dietrich Monstadt Dr. Peter Tauber Klaus Hagemann
Michael Hennrich Marlene Mortler Antje Tillmann Michael Hartmann
Jürgen Herrmann Dr. Gerd Müller Dr. Hans-Peter Uhl (Wackernheim)
Ansgar Heveling Stefan Müller (Erlangen) Arnold Vaatz Dr. Barbara Hendricks
Ernst Hinsken Nadine Müller (St. Wendel) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Gustav Herzog
Christian Hirte Dr. Philipp Murmann Stefanie Vogelsang Gabriele Hiller-Ohm
Robert Hochbaum Bernd Neumann (Bremen) Andrea Astrid Voßhoff Frank Hofmann (Volkach)
Karl Holmeier Michaela Noll Dr. Johann Wadephul Dr. Eva Högl
Franz-Josef Holzenkamp Dr. Georg Nüßlein Marco Wanderwitz Christel Humme
Joachim Hörster Franz Obermeier Kai Wegner Oliver Kaczmarek
Anette Hübinger Eduard Oswald Marcus Weinberg (Hamburg) Johannes Kahrs
Thomas Jarzombek Henning Otte Peter Weiß (Emmendingen) Dr. h. c. Susanne Kastner
Dieter Jasper Dr. Michael Paul Sabine Weiss (Wesel I) Ulrich Kelber
Dr. Franz Josef Jung Rita Pawelski Ingo Wellenreuther Lars Klingbeil
(B) Andreas Jung (Konstanz) Ulrich Petzold Hans-Ulrich Klose (D)
Karl-Georg Wellmann
Dr. Egon Jüttner Dr. Joachim Pfeiffer Peter Wichtel Dr. Bärbel Kofler
Hans-Werner Kammer Sibylle Pfeiffer Annette Widmann-Mauz Daniela Kolbe (Leipzig)
Steffen Kampeter Beatrix Philipp Elisabeth Winkelmeier- Fritz Rudolf Körper
Alois Karl Christoph Poland Becker Anette Kramme
Bernhard Kaster Ruprecht Polenz Dagmar Wöhrl Angelika Krüger-Leißner
Siegfried Kauder (Villingen- Eckhard Pols Dr. Matthias Zimmer Christine Lambrecht
Schwenningen) Lucia Puttrich Wolfgang Zöller Christian Lange (Backnang)
Volker Kauder Daniela Raab Willi Zylajew Dr. Karl Lauterbach
Dr. Stefan Kaufmann Thomas Rachel Steffen-Claudio Lemme
Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg SPD Burkhard Lischka
Ewa Klamt Katherina Reiche (Potsdam) Gabriele Lösekrug-Möller
Volkmar Klein Lothar Riebsamen Ingrid Arndt-Brauer Kirsten Lühmann
Jürgen Klimke Josef Rief Rainer Arnold Caren Marks
Julia Klöckner Klaus Riegert Heinz-Joachim Barchmann Katja Mast
Axel Knoerig Dr. Heinz Riesenhuber Doris Barnett Hilde Mattheis
Jens Koeppen Johannes Röring Sören Bartol Petra Merkel (Berlin)
Dr. Kristina Schröder Dr. Norbert Röttgen Bärbel Bas Ullrich Meßmer
(Wiesbaden) Dr. Christian Ruck Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dr. Matthias Miersch
Manfred Kolbe Erwin Rüddel Dirk Becker Franz Müntefering
Dr. Rolf Koschorrek Albert Rupprecht (Weiden) Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Rolf Mützenich
Hartmut Koschyk Anita Schäfer (Saalstadt) Gerd Bollmann Andrea Nahles
Thomas Kossendey Dr. Wolfgang Schäuble Klaus Brandner Manfred Nink
Michael Kretschmer Dr. Andreas Scheuer Willi Brase Thomas Oppermann
Gunther Krichbaum Karl Schiewerling Bernhard Brinkmann Holger Ortel
Dr. Günter Krings Norbert Schindler (Hildesheim) Aydan Özoğuz
Rüdiger Kruse Tankred Schipanski Edelgard Bulmahn Heinz Paula
Bettina Kudla Georg Schirmbeck Marco Bülow Johannes Pflug
Dr. Hermann Kues Patrick Schnieder Martin Burkert Joachim Poß
Günter Lach Dr. Andreas Schockenhoff Petra Crone Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Dr. Peter Danckert Florian Pronold
(Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Martin Dörmann Dr. Sascha Raabe
Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Elvira Drobinski-Weiß Mechthild Rawert
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4675
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Gerold Reichenbach Dr. Wolfgang Gerhardt BÜNDNIS 90/ FDP (C)
Dr. Carola Reimann Heinz Golombeck DIE GRÜNEN
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sönke Rix Miriam Gruß
Kerstin Andreae
René Röspel Joachim Günther (Plauen) DIE LINKE
Marieluise Beck (Bremen)
Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm
Michael Roth (Heringen) Heinz-Peter Haustein Jan van Aken
Birgitt Bender
Anton Schaaf Manuel Höferlin Agnes Alpers
Alexander Bonde
Axel Schäfer (Bochum) Elke Hoff Dr. Dietmar Bartsch
Viola von Cramon-Taubadel
Bernd Scheelen Birgit Homburger Herbert Behrens
Ekin Deligöz
Marianne Schieder Dr. Werner Hoyer Karin Binder
Katja Dörner
(Schwandorf) Heiner Kamp Matthias W. Birkwald
Hans-Josef Fell
Werner Schieder (Weiden) Michael Kauch Heidrun Bluhm
Dr. Thomas Gambke
Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Lutz Knopek Steffen Bockhahn
Kai Gehring
Silvia Schmidt (Eisleben) Pascal Kober Christine Buchholz
Britta Haßelmann
Olaf Scholz Dr. Heinrich L. Kolb Eva Bulling-Schröter
Bettina Herlitzius
Ottmar Schreiner Sebastian Körber Dr. Martina Bunge
Priska Hinz (Herborn)
Swen Schulz (Spandau) Holger Krestel Roland Claus
Ulrike Höfken
Ewald Schurer Patrick Kurth (Kyffhäuser) Sevim Dağdelen
Dr. Anton Hofreiter
Frank Schwabe Heinz Lanfermann Dr. Diether Dehm
Bärbel Höhn
Dr. Angelica Schwall-Düren Sibylle Laurischk Ingrid Hönlinger Heidrun Dittrich
Dr. Martin Schwanholz Harald Leibrecht Thilo Hoppe Werner Dreibus
Rolf Schwanitz Sabine Leutheusser- Uwe Kekeritz Dr. Dagmar Enkelmann
Stefan Schwartze Schnarrenberger Katja Keul Wolfgang Gehrcke
Dr. Carsten Sieling Lars Lindemann Memet Kilic Nicole Gohlke
Sonja Steffen Christian Lindner Sven-Christian Kindler Diana Golze
Dr. Frank-Walter Steinmeier Dr. Martin Lindner (Berlin) Maria Klein-Schmeink Annette Groth
Christoph Strässer Ute Koczy Dr. Gregor Gysi
Michael Link (Heilbronn)
Kerstin Tack Tom Koenigs Heike Hänsel
Dr. Erwin Lotter
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Oliver Krischer Dr. Rosemarie Hein
Oliver Luksic
Franz Thönnes Agnes Krumwiede Inge Höger
Horst Meierhofer
Wolfgang Tiefensee Fritz Kuhn Dr. Barbara Höll
Patrick Meinhardt
Rüdiger Veit Stephan Kühn Andrej Konstantin Hunko
Gabi Molitor
Ute Vogt Renate Künast Ulla Jelpke
Jan Mücke
Dr. Marlies Volkmer Markus Kurth Dr. Lukrezia Jochimsen
(B) Petra Müller (Aachen) (D)
Heidemarie Wieczorek-Zeul Undine Kurth (Quedlinburg) Katja Kipping
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Dieter Wiefelspütz Nicole Maisch Harald Koch
Dr. Martin Neumann Jan Korte
Dagmar Ziegler (Lausitz) Agnes Malczak
Manfred Zöllmer Jerzy Montag Jutta Krellmann
Dirk Niebel Katrin Kunert
Brigitte Zypries Hans-Joachim Otto Kerstin Müller (Köln)
Dr. Konstantin von Notz Caren Lay
(Frankfurt) Sabine Leidig
FDP Dr. Christiane Ratjen- Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff Ralph Lenkert
Jens Ackermann Damerau Michael Leutert
Dr. Birgit Reinemund Brigitte Pothmer
Christian Ahrendt Stefan Liebich
Dr. Peter Röhlinger Tabea Rößner
Christine Aschenberg- Ulla Lötzer
Dr. Stefan Ruppert Claudia Roth (Augsburg)
Dugnus Dr. Gesine Lötzsch
Björn Sänger Krista Sager
Daniel Bahr (Münster) Dorothée Menzner
Christoph Schnurr Manuel Sarrazin
Florian Bernschneider Elisabeth Scharfenberg Cornelia Möhring
Sebastian Blumenthal Jimmy Schulz Kornelia Möller
Dr. Gerhard Schick
Claudia Bögel Marina Schuster Niema Movassat
Dr. Frithjof Schmidt
Nicole Bracht-Bendt Dr. Erik Schweickert Wolfgang Nešković
Dorothea Steiner
Klaus Breil Werner Simmling Thomas Nord
Dr. Wolfgang Strengmann-
Angelika Brunkhorst Judith Skudelny Petra Pau
Kuhn
Ernst Burgbacher Dr. Hermann Otto Solms Jens Petermann
Markus Tressel
Marco Buschmann Joachim Spatz Jürgen Trittin Richard Pitterle
Sylvia Canel Dr. Max Stadler Daniela Wagner Yvonne Ploetz
Helga Daub Torsten Staffeldt Wolfgang Wieland Paul Schäfer (Köln)
Reiner Deutschmann Dr. Rainer Stinner Dr. Valerie Wilms Dr. Herbert Schui
Dr. Bijan Djir-Sarai Stephan Thomae Josef Philip Winkler Dr. Ilja Seifert
Patrick Döring Florian Toncar Kathrin Senger-Schäfer
Mechthild Dyckmans Serkan Tören Raju Sharma
Rainer Erdel Johannes Vogel Nein Dr. Petra Sitte
Jörg van Essen (Lüdenscheid) Kersten Steinke
Ulrike Flach Dr. Daniel Volk CDU/CSU
Sabine Stüber
Otto Fricke Dr. Claudia Winterstein Wolfgang Börnsen Frank Tempel
Paul K. Friedhoff Dr. Volker Wissing (Bönstrup) Dr. Axel Troost
Dr. Edmund Peter Geisen Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Peter Gauweiler Alexander Ulrich
4676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Kathrin Vogler Enthalten Waltraud Wolff Sylvia Kotting-Uhl (C)
Sahra Wagenknecht (Wolmirstedt) Monika Lazar
Halina Wawzyniak Beate Müller-Gemmeke
SPD BÜNDNIS 90/
Harald Weinberg Dr. Hermann Ott
Katrin Werner Klaus Barthel DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele
Jörn Wunderlich Petra Hinz (Essen) Winfried Hermann Dr. Harald Terpe

Wir setzen die Beratung fort. Der nächste Redner ist befindet und noch lange befinden wird. Die Anwen-
Kollege René Röspel von der SPD-Fraktion. dungsmöglichkeit liegt in weiter Ferne.
(Beifall bei der SPD) Problem Nummer zwei ist – das ist der Punkt, über
den wir im Moment im Wesentlichen reden –, dass wir
von einer gewaltigen Kostenexplosion ausgehen müs-
René Röspel (SPD): sen. Während noch 2001 von der Europäischen Kom-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und mission und den Betreibern berechnet wurde, dass das
Herren! Die Sonne meint es heute wieder sehr gut mit gesamte Projekt 5,9 Milliarden Euro kosten und der An-
uns. Draußen sind 30 Grad. Wenn man in der Sonne teil für die Europäische Union in Form der Euratom
steht, spürt man die Sonnenstrahlung und die Wärme, 2,7 Milliarden Euro betragen würde, sprechen wir heute
die auf einen einwirkt. Welch gewaltige Menge an Ener- von 7,2 Milliarden Euro möglicher Kosten für Euratom.
gie uns zugeführt wird, wird einem vielleicht klar, wenn Wir sprechen also über eine Steigerung von 2,7 auf
man sich vor Augen führt, dass von diesem Pult, von 7,2 Milliarden Euro. Allein 2012 und 2013 braucht das
dieser Stelle aus gesehen, sich die Sonne in einer Entfer- ITER-Projekt 1,4 Milliarden Euro zusätzlich. Die indi-
nung von 150 Millionen Kilometern befindet. Trotzdem rekte Belastung für Deutschland beträgt für diesen Zeit-
ist sie in der Lage, uns eine solche Energiemenge zu sen- raum etwa 280 Millionen Euro.
den. Wie passiert das? In der Sonne werden zwei leichte
Atomkerne zu einem schwereren verschmolzen. Das ist Ich gebe zu: Mein Vertrauen in die Kostenkalkulation,
die Kernfusion. Unter einem milliardenfachen Erdatmo- was ITER und Kernfusion anbelangt, schwindet drama-
sphärendruck und 15 Millionen Grad Celsius Tempera- tisch, und das nicht erst seit heute.
tur wird eine so gewaltige Menge an Energie freigesetzt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dass es ausreicht, uns Licht und Wärme in ausreichender DIE GRÜNEN)
(B) Menge zu senden. (D)
Die Analyse im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
Das ist faszinierend. Ich kann nachvollziehen, dass deckt sich eindeutig mit dem, was wir formulieren. Al-
Forscher seit über einem halben Jahrhundert von der lerdings können wir die Konsequenz, die außerordentli-
Vorstellung bewegt sind, diesen Prozess der Kernfusion, che Kündigung des Vertrages, nicht als realistisch ein-
also der Kernverschmelzung, auf die Erde zu holen und schätzen. Deswegen werden wir uns bei der
für die Energiegewinnung nutzbar zu machen. Aus unse- Abstimmung enthalten.
rer Sicht ist allerdings zu vermuten, dass das noch ein
wenig dauern wird. Es ist nicht machbar, dieses Projekt Wir haben ein großes Dilemma, nämlich eine kom-
als einzelnes Land zu stemmen. So haben sich neben der plexe Vertragssituation. Dieser Vertrag zwischen den
Europäischen Union sechs weitere Länder, unter ande- sechs Ländern und der Europäischen Union ist vermut-
rem China, Indien, die USA, Südkorea und Japan, zu- lich entstanden – anders kann ich das nicht erklären –,
sammengefunden, um einen Kernfusionsexperimentalre- um den Kernfusionsreaktor nach Europa zu bekommen.
aktor namens ITER in Cadarache in Frankreich zu Wenn man sich den Vertrag durchliest, kann man nicht
bauen. 2019 soll es die ersten Plasmaversuche geben, verstehen, warum er so formuliert wurde. Nach Art. 26
2026 den ersten Betrieb mit Deuterium und Tritium, und dieses Vertrags – Deutschland ist nicht direkt an dem
für 2050 wird vermutet, dass der erste kommerzielle Re- ITER-Abkommen beteiligt, sondern nur über Euratom –
aktor in Betrieb gehen könnte. In 40 Jahren, von heute kann nämlich jede Partei außer der Gastgeberpartei vom
an gerechnet, könnte durch Kernfusion vielleicht das Vertrag zurücktreten. Das heißt, alle können austreten,
erste Kilowatt Strom geliefert werden. nur das Sitzland nicht. Das ist die Europäische Union,
Frankreich im Besonderen.
Allerdings hat man das auch vor 40 Jahren schon ge-
glaubt. Eigentlich müsste es schon heute einen Kernfu- Das Dilemma Nummer zwei, in dem wir uns befin-
sionsreaktor geben. Als ich vor zwölf Jahren ins Parla- den, ist, dass nach Art. 26 dieses ITER-Vertrages der
ment kam, war einer meiner ersten Kontakte im Rücktritt nicht den Beitrag zu Bau- und Stilllegungskos-
wissenschaftlichen Bereich ein in Sachen Kernfusion ten berührt. Sprich: Wenn man tatsächlich austreten
sehr engagierter Professor, der vermutete, dass wir in 30 würde, was den anderen Vertragsparteien möglich wäre,
bis 40 Jahren in der Lage seien, die Kernfusion tatsäch- wäre man zwar nicht mehr dabei, würde aber trotzdem
lich zu nutzen. Das ist allerdings schon zwölf Jahre her. zahlen. Das muss man vor dem Hintergrund sehen, dass
die Beiträge zu ITER, zu diesem Reaktor, im Wesentli-
Problem Nummer eins bei der Kernfusion ist, dass sie chen in der Form von Lieferungen von fertigen Kompo-
sich nach wie vor im Stadium der Grundlagenforschung nenten aus den jeweiligen beteiligten Ländern, also auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4677
René Röspel
(A) Deutschland, geleistet werden. Die Beiträge werden also Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
von deutschen Unternehmen in Form von Material und Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-
Technologie geleistet. Bei einem Ausstieg zahlt man tion.
nach meiner Interpretation des Vertrages weiter, arbeitet
aber nicht mehr mit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die SPD bleibt dabei: Die Kernfusion ist zweifels-
ohne eine höchst spannende Forschungsoption. Sie war
für uns aber nie Energieversorgungsoption. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
(Beifall bei der SPD) Kollegen! Bei meinem gestrigen Besuch auf der Interna-
tionalen Luft- und Raumfahrtausstellung am Flughafen
Sie ist keine Energieoption für die Zukunft. Wir brau-
chen bereits heute und nicht erst 2050, und zwar schnel- Berlin-Schönefeld kam ich mit einem Vertreter eines der
bedeutendsten Hersteller für Flugzeugtriebwerke ins Ge-
ler, als wir es bisher anstreben, den Einstieg in erneuer-
spräch. Jetzt fragen Sie natürlich, was das mit dem
bare Energien, in Energieeffizienz,
Thema ITER und vor allen Dingen mit dessen Zukunfts-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) perspektiven zu tun hat. Ich fragte, als mir ein Triebwerk
einer neuen Generation gezeigt wurde, wie hoch in etwa
damit wir den nachfolgenden Generationen keine Klima- die Entwicklungskosten für ein solches Hightechprodukt
katastrophe hinterlassen und ihnen die Möglichkeit ge- sind. Die Antwort, die ich erhalten habe, hat mich nach-
ben, Ressourcen, die wir heute verschwenden, weiterhin denklich gemacht. Vom Anfang der Entwicklung bis
zu nutzen. zum fertigen Triebwerk muss circa 1 Milliarde Euro in-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vestiert werden.
der LINKEN) Zurück zum ITER. Wir sprechen hier über die Kos-
Das allerdings muss heute passieren und nicht erst 2050. tensteigerung und den europäischen Anteil bei der Fi-
nanzierung des größten Fusionsforschungsprojektes der
Nicht hinnehmbar ist für uns, dass diese Kostenstei- Welt. Der europäische Anteil für diese Energiemaschine
gerungen in der Form stattfinden, wie sie jetzt von der soll 7,2 Milliarden Euro betragen. Dieser Betrag wird
Europäischen Kommission an uns übermittelt worden gedeckelt. Im Gegensatz zu dem genannten Triebwerks-
sind. Wir drängen ausdrücklich darauf, dass sich die bau betreten wir an dieser Stelle völliges Neuland. Mit
Bundesregierung für eine Deckelung der Beiträge ein- ITER schaffen wir das Triebwerk für die Energieversor-
setzt. Soweit ich das mitbekommen habe, vertritt auch gung von morgen. Mit der Kernfusionsforschung ver-
(B) sie diese Position. Es darf nicht sein, dass die Kosten (D)
sucht man, eine unerschöpfliche Quelle kostengünstiger
über das bisherige Maß hinaus gesteigert werden. Wir und umweltfreundlicher Energie zu entwickeln, bei der
fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, kaum Abfallprodukte entstehen.
dass sich die Industrie stärker an diesem Projekt betei-
ligt. Wenn allgemein anerkannt werden sollte, dass 2050 (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
eine kommerzielle Nutzbarkeit vorhanden sein wird, NEN]: Da entsteht viel Radioaktivität!)
dann sind wir der Auffassung, dass sich die Industrie Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
auch heute schon daran beteiligen muss. Grünen, das lässt sich doch nicht verleugnen. Ist das
Wir wollen, dass die Bundesregierung eine transpa- nicht unser gemeinsames Ziel? Vielleicht aber setzen Sie
rente Kostenanalyse und vor allen Dingen eine Prognose bei umweltfreundlicher Energiegewinnung auf nur we-
vorlegt, wie es bei ITER weitergehen wird. Wir erwarten nige Branchen.
von der Bundesregierung, dass sie für den Fall der Fälle Auch wenn die positiven Aspekte der klimafreundli-
eine Exitstrategie, also eine Ausstiegsstrategie, vorberei- chen Energiegewinnung im Vordergrund stehen, darf
tet, wie wir gegenüber Europa durchsetzen – wie auch man die kostenökonomischen Zügel nicht schleifen las-
immer das gehen kann –, dass wir uns an den weiteren sen.
Kosten nicht mehr beteiligen.
Im Antrag der Grünen wird auf die nicht unerhebliche
Wir brauchen nicht die Mechanismen, die in der
Kostensteigerung hingewiesen. Aber, liebe Kolleginnen
Sonne zur Energieentstehung beitragen, auf die Erde zu
und Kollegen, diese Fakten sind nicht neu. Bereits im
holen. Wir können die Energie der Sonne schon heute
Jahr 2008 wurde bekannt, dass bei ITER mit einer größe-
ausgiebig nutzen. Das sollten wir mit aller Kraft tun.
ren Kostensteigerung zu rechnen sein wird, als bei Ver-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) tragsunterzeichnung bekannt war. Jetzt ist die Katze tat-
sächlich aus dem Sack. Heute betragen die Gesamtkosen
Die Sonne ist für alle da und für alle nutzbar. Kernfusion für Europa 7,2 Milliarden Euro. Wenn man sich die Ursa-
kann nur von denen genutzt werden, die sie sich leisten chen dieser Kostensteigerung anschaut, stellt man fest,
können. dass sie im Wesentlichen auf erhöhte Rohstoffpreise,
Vielen Dank. neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere Qualitätsan-
forderungen und Fehleinschätzungen hinsichtlich des not-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wendigen Umfangs von Diagnostiken zurückzuführen
der LINKEN) ist. Umso wichtiger ist es, bei solchen internationalen
4678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) Großprojekten die Kosteneffizienz stärker im Auge zu Nachdruck vertreten werden. Nach wie vor appelliert die (C)
behalten. FDP-Bundestagsfraktion an die bisherigen Gegner von
ITER: Meine Damen und Herren, setzen Sie sich in Ihren
(Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])
Fraktionen für ITER ein! Beenden Sie die Politik der klei-
Klar ist: ITER darf nicht zu einem schwarzen Loch nen Messerstiche gegen die Fusionsforschung!
für Steuergelder verkommen.
Ich bedanke mich.
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
NEN]: Tut es aber!)
Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die derzeitige Entwicklung zeigt, dass die ITER-Partner NEN]: Wie viele Milliarden wollen Sie denn
auf einem guten Weg sind, eine Lösung für das Finanzie- noch rauswerfen?)
rungsproblem zu finden. Euratom muss 5,9 Milliarden
Euro aufbringen. Frankreich muss zu seiner Verpflich- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
tung stehen, 20 Prozent der Kosten der europäischen Das Wort hat nun Kollegin Petra Sitte für die Fraktion
Partner zu tragen. Der Rest muss aus den laufenden und Die Linke.
künftigen Forschungsrahmenprogrammen finanziert wer-
den. (Beifall bei der LINKEN)
Ich stehe auf der Seite der Bundesregierung, die die
Auffassung vertritt, dass die zusätzlichen Kosten nicht Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
einfach den EU-Mitgliedstaaten übergeholfen werden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ITER ist,
dürfen. Es ist richtig, dass jetzt eine Taskforce, die übri- wie schon gesagt, ein internationales Fusionsexperiment.
gens am 3. Juni 2010 das erste Mal getagt hat, überlegen Diese Anlage soll durch Verschmelzung von Wasser-
soll, welche Lösungen bezüglich des Finanzierungsdefi- stoffkernen Energie erzeugen; Herr Röspel hat das er-
zits von ITER einvernehmlich gefunden werden können. klärt. Allerdings soll bei ITER zum ersten Mal mehr
Sich jetzt aus dem Projekt zu verabschieden, wäre für Energie erzeugt werden, als zum Betrieb aufgewendet
uns aber der falsche Weg. wird. Ziel des Megaprojektes soll langfristig eine neue
Form der Energiegewinnung sein.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Aus dem Lateinischen übersetzt heißt ITER „Weg“.
Vielmehr ist es richtig, neu zu kalkulieren, Kostenfal- Wenn man diesen Weg verfolgt, stellt man fest: Er ist in
len deutlich zu machen und das Projekt unter ökonomi- der Tat lang, steinig und ausgesprochen verschlungen,
schen Gesichtspunkten zu betrachten. Ich persönlich und keiner kann heute sagen, ob man das Ziel jemals er-
(B) sehe schon deutliche Verbesserungen des Projektma- reicht. (D)
nagements durch die Einführung eines wissenschaftlich
adäquaten Controllingsystems als einen entscheidenden In den Schätzungen hinsichtlich einer kommerziellen
Schritt an. Nutzung dieser Erzeugungsform – das ist schon gesagt
worden – geht man vom Jahr 2050 aus. Physiker haben
Ich sage deutlich: Wir können es uns heute nicht leis- das auch schon vor 50 Jahren gesagt. Nun sind diese
ten, uns leichtfertig aus dem ITER-Projekt zu verab- 50 Jahre vorbei, aber an dieser Prognose des Zeithori-
schieden. Wir können es uns auch nicht leisten, dass zonts hat sich nichts geändert.
auch nur ein ITER-Partner aufgibt, nur weil Frankreich
als Sitzland des ITER seinen Verpflichtungen vielleicht Was sich aber geändert hat, sind die Rahmenbedin-
nicht nachkommt. Das wäre fatal. gungen, und das ist das Problem. Durch ITER kann aktu-
ell eben nichts nachhaltig zur Reduzierung der Klima-
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang ganz erwärmung der Erde beigetragen werden. Wir haben
kurz an die damalige Standortentscheidung. Dass sich diese Zeit nicht mehr. Im Jahre 2050 ist der Point of no
Deutschland letztendlich nicht um den Standort bewor- Return lange überschritten. Die Experten sagen – und so
ben hat, wurde damit begründet, dass der Sitzlandanteil steht es auch in den internationalen Vereinbarungen –,
in dieser Größenordnung von Deutschland nicht finan- dass bereits in den nächsten zehn Jahren die wichtigsten
ziert werden könne. Maßnahmen für die Energiewende gegriffen haben müs-
Sie wissen sicherlich, dass XFEL zu 54 Prozent vom sen.
Sitzland Deutschland finanziert wird. Das sind immerhin ITER dauert nicht nur ultralang, sondern ist auch, wie
584,3 Millionen Euro der Gesamtkosten von 1,08 Mil- meine Kollegen schon ausgeführt haben, megateuer. Re-
liarden Euro. Umso mehr freue ich mich, dass Frankreich gelmäßig erhalten wir im Ausschuss neue Kostenschät-
– so glaube ich, zu hören – zu seinen Verpflichtungen ste- zungen. Angesichts der globalen Finanzkrise hat auch
hen will und 1,3 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen die Projektfinanzierung natürlich einen kritischen Punkt
wird. erreicht, wenn die Summe dafür heute dreimal so hoch
Unstrittig ist, dass das Fusionsforschungsprojekt ITER wie ursprünglich angenommen ist.
von der christlich-liberalen Koalition weiterhin befür- (Beifall bei der LINKEN)
wortet und unterstützt wird. Die Entwicklung des Projek-
tes wird aufmerksam beobachtet und kritisch analysiert. Die Mitgliedstaaten wollen diese Kosten nicht tragen;
Die deutschen Interessen und die der übrigen Mitglied- das kann ich auch nachvollziehen. Die Bundesregierung
staaten müssen gegenüber der EU-Kommission mit hat uns die jüngste Information gegeben, wonach alles
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4679
Dr. Petra Sitte
(A) aus dem EU-Haushalt finanziert werden soll. Es ist also dass ITER ein Projekt ist, das immense Finanzmittel bei (C)
völlig klar, dass darunter andere Programme leiden wer- fragwürdigem oder doch zumindest sehr potenziellem
den, insbesondere im Forschungsbereich. Das möchten zukünftigen Nutzen verschlingt. Das lässt hoffen, dass
wir nicht; wir möchten vorher genau Auskunft darüber diese Fusionsforschung, wenn schon nicht hier durch
haben, was man dort eigentlich ins Auge fasst. den Bundestag, dann doch über andere Wege gestoppt
wird. Die Mitgliedsländer der EU haben derzeit keine
(Beifall bei der LINKEN) 1,4 Milliarden Euro Spielgeld übrig, um weiter in ITER
Die Linke hat die Entwicklung des Projektes schon zu investieren.
lange kritisch betrachtet. Die Fusionstechnologie ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
grundsätzlich natürlich eine ausgesprochen interessante
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Technologie, allerdings werden aufgrund der ITER-Mil-
liarden zum gegenwärtigen Zeitpunkt und unter den jet- Dadurch, dass nun eine Taskforce gegründet wurde,
zigen Rahmenbedingungen für andere Projekte weniger die der Kommission gute Argumente für den ITER-Rat
Gelder zur Verfügung gestellt, zum Beispiel für Projekte liefern soll, zum Beispiel durch den Vorschlag Frau
für Energieeinsparung, für effizientere Speicherformen Schavans, das Projekt kleiner zu dimensionieren, wird
und andere klimafreundliche Erzeugungsformen. mehr die verzweifelte Lage als irgendein Lösungsweg
Die Koalition tritt zeitgleich auch noch auf die Bremse, gezeigt.
wenn es um den nachhaltigen Umbau der Energieversor- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gung geht. Es werden in diesem Bereich nämlich die Mittel NEN]: So ist es!)
reduziert. Zudem wollen Sie die Einspeisevergütung für
Solarenergie kürzen, wodurch beispielsweise bei uns im Ich nenne noch einmal die Zahlen, um die es geht:
Osten – ich komme aus Sachsen-Anhalt; „Solar Valley“ Die reinen Baukosten für den ITER werden heute auf
ist bei mir um die Ecke – massiv Arbeitsplätze gefährdet 16 Milliarden Euro geschätzt. Da man vor neun Jahren
werden. Das heißt, Schwarz-Gelb ist nicht nur eine Warn- noch von 5,9 Milliarden Euro ausging, habe ich keine
farbe, sondern Schwarz-Gelb will unter diesen Bedingun- Zweifel, dass es bis zur Fertigstellung des ITER nicht
gen auch noch die Laufzeiten von Kernkraftwerken ver- bei den 16 Milliarden Euro bleiben wird. ITER ist ein
längern. Das heißt natürlich auch, dass genau wie bei Fass ohne Boden.
ITER ein Missverhältnis zwischen öffentlichen Aufwen-
Die Begründungen für die Kostensteigerungen sind
dungen und privatem Engagement entsteht. Wenn selbst
hanebüchen, zum Beispiel das Argument, man konnte
die FDP sagt, die Wirtschaft müsse hier stärker einstei-
nicht wissen, dass man in einem Erdbebengebiet baut.
gen, dann kann man dem nichts mehr hinzufügen. Der
(B) Staat investiert, und die private Energiewirtschaft schöpft (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
später die Gewinne ab. Das ist schon länger bekannt!)
Schon jetzt – wir sehen es täglich – wird durch Mono- Abgesehen davon, dass ein Fusionsreaktor nicht in ein
polisten der Energiewirtschaft am Markt nicht nur der Erdbebengebiet gehört, sodass diese neue Erkenntnis zu
Ausbau dezentraler Strukturen, sondern eben auch eine ganz anderen Konsequenzen führen sollte, freue ich
sozial gerechte und transparente Preisgestaltung er- mich auf weitere überraschende Erkenntnisse der Planer.
schwert. Das muss bei künftigen Netzstrukturen, insbe-
sondere bei ITER, in Rechnung gestellt werden. Durch Falls der ITER tatsächlich eines Tages gebaut sein
kommerzielle Fusionskraftwerke wird dieser Zentralisie- sollte, entstehen Kosten für die Experimente, den Be-
rungseffekt nämlich verstärkt. trieb und die Entsorgung der radioaktiven Rückstände.
Dafür wird mit Kosten gerechnet, die der Hälfte der
Das alles sind gewichtige Gründe dafür, das Gesamt- Baukosten entsprechen. Das sind also weitere
projekt zur Diskussion zu stellen. Für uns ist der Antrag 8 Milliarden Euro.
der Grünen mit der Konsequenz, aus den Verträgen aus-
zusteigen, ein erster Schritt. Die Frage nach der Verläss- Nach ITER kommt DEMO, der Demonstrationsreak-
lichkeit stellt sich eben nicht nur für die Forscherinnen tor. Strom gibt es dann immer noch nicht, nur weitere
und Forscher sowie hinsichtlich der Forschung, sondern Kosten.
auch in Bezug auf die öffentlichen Haushalte.
Wofür das alles? Für das vage Versprechen: Falls alles
Ich danke Ihnen. klappt, gibt es im Jahr 2055 ungeheure Mengen Energie.
Die Einlösung dieses Versprechens ist aber völlig über-
(Beifall bei der LINKEN)
flüssig. Niemand in der EU und schon gar nicht in
Deutschland braucht 2055 ungeheure Mengen zusätzli-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: cher und dann auch noch teurer Energie.
Das Wort hat nun Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. (Zuruf von der CDU/CSU: Vollkommen
falsch!)
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn wir im Klimaschutz-Zieljahr 2050 nicht ein
Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsi- Stromsystem aufgebaut haben, das sich durch höchste
dent! Seit der ersten Lesung unseres Antrags hat sich Effizienz und null Emissionen auszeichnet, also zu
auch in anderen Kreisen die Erkenntnis durchgesetzt, 100 Prozent aus erneuerbaren Energien besteht, dann ha-
4680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Sylvia Kotting-Uhl
(A) ben wir in der Jahrhundertaufgabe Klimaschutz völlig Worum geht es? Wir bekommen eine Energiequelle, (C)
versagt. die CO2-frei, sicher und wirtschaftlich ist und keine End-
lagerproblematik mit sich bringt. Dafür brauchen wir na-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
türlich Investitionen. Es wurde schon gesagt, dass wir
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
zwei entsprechende Projekte haben: das internationale
KEN)
Projekt ITER, welches das komplexere von beiden ist,
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung an die lieben und das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifs-
Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Sie hängen wald, welches unseren nationalen Forschungsbeitrag
noch an der Kernfusion als Forschungsprojekt. Die Fusi- dazu darstellt. Immerhin haben uns die Wissenschaftler
onsforschung und besonders der ITER wurden aber im- verlässlich zugesichert, dass wir 2035 mit einem Mo-
mer mit dem Energiebedarf begründet. Sie war und ist dellkraftwerk rechnen können. Darauf haben wir sie
also anwendungsbezogen. Verträge können nach Völker- auch festgenagelt, und ich denke, dass das erreichbar ist.
vertragsrecht gekündigt werden, Herr Röspel. Nach
Art. 62 des Wiener Übereinkommens über das Recht der (René Röspel [SPD]: Das werden wir doch gar
Verträge kann ein Vertrag, wenn durch die Änderung der nicht mehr überprüfen können, Herr
bei Vertragsabschluss gegebenen Umstände das Ausmaß Murmann!)
der zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umge- – Wir prüfen das dann zusammen, Herr Röspel.
staltet werden würde, gekündigt werden. Wann, wenn
nicht bei einer dreifachen Kostensteigerung, werden die (René Röspel [SPD]: Das glaube ich nicht!)
Ausmaße tiefgreifend verändert? Ziel unserer Energieforschung ist es, Energieformen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die Zukunft zu finden, mit der wir – der Herr Um-
weltminister ist ja auch da – unsere Klimaziele errei-
Gehen Sie alle heute den konsequenten Schritt und chen. Eine umweltverträgliche, klimaschonende und
stimmen Sie unserem Antrag zu! ITER macht im Jahr nachhaltige Energieversorgung ist das Ziel. Sie muss si-
der größten EU-Finanzkrise und in Zeiten notwendiger cher sein; dazu gehören die Versorgungssicherheit sowie
und schneller Antworten auf die Energie- und Klima- die technische Sicherheit. Natürlich sind auch Wettbe-
fragen keinen Sinn mehr. werbsfähigkeit und Verbraucherfreundlichkeit wichtig.
Ein erfolgreiches Prestigeobjekt auch für internatio- Schließlich sollten wir auch den Energiestandort
nale Zusammenarbeit sieht anders aus als der ITER. Ich Deutschland nicht vergessen, der mit auf dem Spiel
bin überzeugt, dass wir da etwas Besseres finden. steht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben vier Schwerpunkte in der Energiefor-
(B) schung: (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) Der wichtigste Schwerpunkt, zu dem wir stehen,
wurde schon oft genannt: die regenerativen Energien.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat NEN]: Schön wäre es!)
nun der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort. Energiespeicherung ist ein weiteres wesentliches
Thema.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Außerdem brauchen wir intelligente Netze, um die er-
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): neuerbaren Energien ans Netz zu bekommen. Wir wer-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- den uns bemühen, diese möglichst schnell auszubauen.
ren! Ich habe jetzt das besondere Vergnügen, Sie kurz Ein Schwerpunkt ist aber auch die Fusionsforschung.
vor der namentlichen Abstimmung noch einmal für das Trotz all der großen Zahlen, die hier genannt wurden,
Thema Energieforschung zu begeistern, und werde mein macht sie weit weniger als 1 Prozent des Etats für Bil-
Bestes geben, das zu erreichen. dung und Forschung aus. 2050 wird mein Sohn 47 Jahre
Heute vor 55 Jahren wurde der Grundstein für CERN alt sein.
gelegt. Einige von uns erinnern sich. Es war damals das (René Röspel [SPD]: Und im Bundestag sein!)
erste europäische Kernforschungslabor und ist inzwi-
schen das weltweit größte Forschungszentrum für Teil- Wenn die Technik dann funktioniert, wenn auch mit ein
chenphysik. Es hat uns viel gelehrt. Unter anderem ist es paar Jahren Verspätung, wird er uns das danken. Insofern
ein gutes Beispiel für die internationale Zusammenarbeit sollte man daran festhalten.
im Bereich der Forschung. Es hat uns auch gelehrt, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wir einen langen Atem brauchen, um gute Ergebnisse zu
erzielen. Das Gleiche gilt auch für die Erforschung der Herr Röspel hat schon kurz dargestellt, worum es bei
Kernfusion. Ich glaube, dass in ihr die Chance für eine der Kernfusion geht. Er hat aber nicht gesagt, dass
zukunftsweisende Energiequelle liegt. Deswegen sollten 1 Gramm Wasserstoff so viel Energie freisetzt wie die
wir grundsätzlich an ihr festhalten. Verbrennung von 8 Tonnen Erdöl und 11 Tonnen Kohle.
Der Brennstoff ist ein extrem dünnes ionisierendes Gas.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Problematik besteht darin, das Plasma zu erzeugen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4681
Dr. Philipp Murmann
(A) und die sehr hohen Temperaturen – 15 Millionen Grad Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 a und b auf: (C)
sind es, glaube ich, nicht; diese Temperatur herrscht nur
in der Sonne – a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
(René Röspel [SPD]: 100 Millionen Grad min- der Europäischen Union (21. Ausschuss)
destens!)
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
von einigen Millionen Grad zu beherrschen. Aber diese und der FDP
Herausforderung bringt uns auch zusätzliche Erkennt-
nisse in der Materialforschung, im Anlagenbau und in Europa 2020 – Die Wachstums- und Be-
der Sensorik. Es werden also auch rund um das Projekt schäftigungsstrategie der Europäischen
Erkenntnisse gewonnen, die wichtig für uns sind. Das ist Union braucht realistische und verbindliche
noch ein Grund, warum man zu diesem Zeitpunkt nicht Ziele
aus ITER aussteigen sollte. hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
ITER nicht um jeden Preis – das sehen auch wir so. setzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zu-
Wir können Frau Schavan dankbar dafür sein, dass sie sammenarbeit von Bundesregierung und
im Wettbewerbsrat für die Einrichtung einer Task Force Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
eingetreten ist, die sich um eine Deckelung der Kosten der Europäischen Union
kümmern soll. Dazu haben sich jetzt alle verpflichtet. Im – zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Juni soll ein Konzept erstellt werden. Das sollte man erst
einmal abwarten, bevor man das ganze Projekt jetzt vor- Europa 2020 – Strategie für ein nachhaltiges
zeitig abbricht. Außerdem befinden wir uns in einer in- Europa
ternationalen Kooperation. Wenn wir jetzt alleine früh- Gleichklang von sozialer, ökologischer und
zeitig aussteigen, verspielen wir einen gewissen wirtschaftlicher Entwicklung
internationalen Ruf. – zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel
Ich komme vorzeitig zum Schluss, damit wir gleich Sarrazin, Fritz Kuhn, Marieluise Beck (Bre-
abstimmen können: Wir brauchen eine starke Ener- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
gieforschung. Wir setzen auf Forschung und Bildung für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
die Zukunft unseres Landes. Wir müssen nicht nur spa-
ren, sondern auch in die Zukunft investieren, und das tun EU 2020 – Für ein ökologisches und soziales
wir auch. Europa
(B) Ich freue mich auf die Abstimmung und bitte Sie um – Drucksachen 17/1758, 17/882, 17/898, 17/2015 – (D)
Ihre Zustimmung. Berichterstattung:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
Dr. Eva Högl
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gabriele Molitor
Alexander Ulrich
Ich schließe die Aussprache.
Manuel Sarrazin
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
schätzung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Andrej
Grünen mit dem Titel „Kernfusionsforschung kritisch Konstantin Hunko, weiterer Abgeordneter und
überprüfen – ITER-Vertrag kündigen“. Der Ausschuss der Fraktion DIE LINKE
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Europa 2020 – Ein nachhaltiges Europa nur
che 17/1949, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die mit tiefgreifenden Reformen
Grünen auf Drucksache 17/1433 abzulehnen.
– Drucksache 17/1969 –
Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen namentlich über die Beschlussemp- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
fehlung ab. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so
Plätze einzunehmen. Sind alle Schriftführer an ihren beschlossen.
Plätzen? – Dann eröffne ich die Abstimmung. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar- nerin das Wort der Kollegin Gabriele Molitor von der
ten eingeworfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann FDP-Fraktion.
schließe ich den Wahlgang und bitte, mit der Auszählung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Gabriele Molitor (FDP):
Wir setzen die Beratungen fort. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das erste
Halbjahr 2010 war von tiefen Erschütterungen geprägt.
1) Seite 4684 D Die Schuldenkrise in Griechenland, die Währungskrise
4682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Gabriele Molitor
(A) der Europäischen Union und die Auswirkungen der glo- liegen. Vielmehr muss es darum gehen, unsere Position (C)
balen Wirtschafts- und Finanzkrise haben unser Denken in der Welt zu stärken.
und Handeln in den vergangenen Monaten maßgeblich
An dieser Stelle ist auch zu sagen: Die Versuche der
bestimmt. Die Bürgerinnen und Bürger sind in Sorge.
Opposition, die richtigen Reformen des deutschen Sozial-
Sie erwarten nicht nur die richtigen Sofortmaßnahmen,
staates über Europa wieder auszuhebeln und damit die
sondern auch nachhaltige Langzeitstrategien.
Zeit zurückzudrehen, sind enttäuschend. Die Verspre-
Die neue europäische Wachstums- und Beschäfti- chungen von sozialen Wohltaten und Forderungen nach
gungsstrategie „Europa 2020“ verfolgt genau diesen einer sozialen Fortschrittsklausel schmälern die Zukunft-
Ansatz. Die Europäische Union zeigt anhand des Kern- schancen unserer Wirtschaft und der gesamten Europäi-
gedankens eines intelligenten, integrativen und nachhal- schen Union.
tigen Wachstums auf, wie sich Europa in der Welt auf- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie lernen
stellen soll. Die geforderten Anstrengungen im Bereich gar nichts dazu!)
der Wirtschafts-, Forschungs-, Bildungs- und Klimapoli-
tik sind notwendig und richtig. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Überfrachtung einer
Strategie dazu führt – bei der Lissabon-Strategie ist dies
Vor allem aber muss diese Strategie – das ist mir ganz ja passiert –, dass Ziele nicht erreicht werden, weil Prio-
besonders wichtig – Rahmenbedingungen für die Schaf- ritäten falsch gesetzt wurden.
fung von Arbeitsplätzen setzen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Die christlich-liberale Koalition hingegen hat sich in
Arbeiten zu können, sichert Existenzen und ist der beste ihrem Antrag klar auf die richtigen Prioritäten geeinigt.
Schutz gegen Armut. Ein Arbeitsplatz finanziert direkt Die Stärkung des Wachstums durch Investitionen in For-
und indirekt unsere Sozialsysteme. Vor diesem Hinter- schung, Bildung und Innovation sowie der Ausbau des
grund ist es richtig, anhand des von der Bundesregierung Beschäftigungsniveaus durch die Verbesserung der Ar-
mitverhandelten Armutsindikators den Anteil der Perso- beitsmobilität und die stärkere Einbindung bislang unter-
nen zu reduzieren, die in Erwerbslosenhaushalten leben. repräsentierter Gesellschaftsgruppen sind der Schlüssel
Dieses Ziel wird von uns unterstützt. Vorrangig muss es für ein starkes Europa.
uns und unseren Partnern darum gehen, Arbeitslose wie-
der in Lohn und Brot zu bringen. Uns sind die Konsequenzen einer falschen Politik für
die europäischen Produktions- und Dienstleistungsstand-
(B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten orte bewusst. Wir wissen, dass nur wettbewerbsfähige (D)
der CDU/CSU) Unternehmen das Niveau unserer sozialen Modelle auf-
rechterhalten können. Die richtigen Mittel, um dieses
Das gelingt nur über die Schaffung zusätzlicher Arbeits- Ziel zu erreichen, sind ein weiterer Abbau von Handels-
plätze. Dabei muss klar sein, dass ein Sozialstaat, der hemmnissen und Zollschranken sowie die stärkere Ver-
Armut bekämpfen will, auch das Prinzip des Forderns netzung des europäischen Binnenmarktes.
und Förderns berücksichtigen muss.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Umso erschreckender sind die an den Realitäten vor- der CDU/CSU)
beizielenden und rückwärtsgewandten Forderungen der
Opposition. Entgegen der Notwendigkeit, die in Europa Für meine Fraktion möchte ich klipp und klar heraus-
ansässigen kleinen und mittleren Unternehmen zu stär- stellen: Wir sehen, dass es auch bei uns Armut gibt,
ken – sie sind ja das Rückgrat unserer Wirtschaft; denn (Zuruf von der SPD: Ansonsten müsste man
sie erwirtschaften unseren Wohlstand und sichern unsere auch blind sein! – Weitere Zurufe von der
Zukunft –, werden hier Vorschläge aufgetischt, die jede LINKEN)
Hoffnung auf eine Steigerung der europäischen Wettbe-
werbsfähigkeit zunichtemachen. Mindestlöhne, europäi- und wir setzen alles daran, sie zu beseitigen. Aber wir
sche Betriebsräte, gehen einen anderen Weg als die Opposition.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nach einem aktuellen Bericht von Staatssekretär
NEN]: Europäische Betriebsräte gibt es ja Hintze hat die EU-Kommission bereits eine Übersicht
noch nicht!) notwendiger Verbesserungen für Deutschland erstellt,
damit wir die Ziele von Europa 2020 erreichen und die
überbordende Regularien in Klimafragen schwächen die entsprechenden Initiativen auf den Weg bringen können.
Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP –
Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die FDP hat Überraschenderweise finden sich hier weder Empfehlun-
wirklich gar nichts gelernt!) gen für die Einführung von Mindestlöhnen noch der Ruf
nach einem Tunnelblick auf grüne Technologien und
Dabei können eine Arbeitsplatzverlagerung und eine Unternehmen. Im Gegenteil, der bisherige Kurs der Bun-
Abwanderung von Unternehmen ins Ausland infolge desregierung wird bestätigt. Gefordert werden ein star-
drangsalierender Regelungen nicht in ihrem Interesse ker Fokus auf die Konsolidierung der öffentlichen Haus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4683
Gabriele Molitor
(A) halte, die Stärkung des Bildungswesens, die verbesserte Ich hatte gehofft, dass so etwas im 21. Jahrhundert in (C)
Nutzung von Beschäftigungspotenzialen und die Anre- Europa nicht mehr möglich ist.
gung der Binnenwirtschaft.
Warum sage ich das im Zusammenhang mit der De-
Die Entscheidungen der Bundesregierung waren also batte um Europa 2020, meine Damen und Herren? Weil
nicht nur richtig für das unmittelbare Überstehen der Fi- es bei Europa 2020 – ich habe es gesagt – um die Zu-
nanz- und Wirtschaftskrise, sondern damit wurden auch kunft Europas geht. Es geht um Solidarität. Es geht um
noch nachhaltig die Weichen für eine erfolgreiche Zu- eine gemeinsame Zukunft. Wenn wir hier nicht aufpas-
kunft richtig gestellt. Die Vorschläge für ein milliarden- sen, nicht vorsichtig sind, nicht die richtigen Akzente
schweres Sparpaket, die Erhöhung der Ausgaben für Bil- setzen, sondern uns hinter Klein-Klein und hinter alten
dung und Forschung um 12 Milliarden Euro bis 2013 Ideologien verschanzen, verabschieden sich die Men-
sowie die Stärkung des deutschen Binnenmarktes und schen von Europa, von entsprechenden Debatten und da-
der Binnennachfrage durch die Nichterhöhung verschie- mit letztlich von unserer Demokratie. Wir können in den
dener Steuersätze sind die richtigen Mittel, um die Zu- Niederlanden, wo gestern gewählt wurde, aber auch in
kunft erfolgreich zu gestalten. anderen Mitgliedstaaten beobachten, dass die Menschen
zunehmend rechte Populisten wählen – das ist kein schö-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nes Ergebnis –, die Hassparolen verbreiten und gegen
Deutschland ist recht gut aufgestellt. Ich bin mir si- bestimmte Bevölkerungsgruppen hetzen. Das macht Eu-
cher, dass auch der nationale Aktionsplan Deutschlands ropa kaputt.
die richtigen Prioritäten und Vorschläge beinhalten wird.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns bei der Strate-
An dieser Stelle bin ich sehr zuversichtlich, dass wir mit
gie „Europa 2020“ darauf konzentrieren, bei dieser Ten-
der neuen Strategie in die richtige Richtung gehen.
denz gegenzusteuern. Wir müssen mit Europa 2020 Ant-
Vielen Dank. worten auf die Fragen geben, die die Menschen in
unserem Land haben. Hinter dem Anspruch bleibt das,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) was auf dem Tisch liegt, deutlich zurück.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl von der SPD-
Fraktion. Diese Strategie – das erschreckt mich und macht mich
besorgt – gibt keine Antwort auf die Finanzkrise. Diese
(Beifall bei der SPD)
Strategie gibt keine Antwort darauf, wie wir die Finanz-
(B) märkte regeln und wie wir künftig Krisen vermeiden. (D)
Dr. Eva Högl (SPD): Vor allem gibt sie keine Antwort auf die drängende
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Frage, wer die jetzige Krise bezahlt. Was auf dem Tisch
bin alles andere als zuversichtlich, dass die Europäische liegt, gibt keine Antwort darauf, wie wir den Klimawan-
Union mit dieser Strategie weiterkommt. Ich will auch del gestalten, stärker in Bildung und Forschung investie-
gleich dazusagen, dass wir mit diesen alten Ideologien, ren, besser Beschäftigung schaffen und sichern sowie
mit diesem überkommenen Klein-Klein Europas Zu- Armut bekämpfen können.
kunft nicht werden gestalten werden können.
Das Schlimmste ist, meine Damen und Herren: Es ist
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht nur so, dass die vorliegende Strategie, die der Eu-
DIE GRÜNEN) ropäische Rat beschließen wird, dem Anspruch nicht ge-
nügt. Was wir zu kritisieren haben, ist – das sage ich sehr
Bei der Strategie „Europa 2020“ geht es nämlich
deutlich –: Die Bundesregierung sagt zu allen Ansätzen
nicht um eine Petitesse des europäischen Tagesge-
Nein und versucht, auch noch ein Minimum an Fort-
schäfts, sondern es geht um nicht mehr und nicht weni-
schritt und Zukunftsfähigkeit in Europa zu verhindern.
ger als um Europas Zukunft. Es geht vor allen Dingen
Dafür trägt die Bundesregierung Verantwortung. Das
darum, die Akzeptanz Europas bei den Bürgerinnen und
kritisiere ich hier sehr deutlich.
Bürgern zu stärken. Europa ist in einer Krise, und das
kann man auch nicht beschönigen. Deswegen ist die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Strategie „Europa 2020“ für unsere Demokratie insge- DIE GRÜNEN)
samt und für die Akzeptanz Europas von großer Wich-
tigkeit. Deutschland ist in Europa nicht irgendein Akteur. Es
wird sehr genau darauf geschaut, wie Deutschland
Ich will hier eines ganz deutlich sagen: Unerträglich agiert. Von uns in Deutschland wird erwartet, dass wir
in der Debatte über die Finanzkrise und die Unterstüt- handeln, dass wir Ideen für Europa formulieren und dass
zung Griechenlands war die schlimme Hetze gegen die wir voranschreiten. Daran hat sich die deutsche Europa-
Griechinnen und Griechen. politik in den letzten Jahrzehnten auch immer orientiert.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Seit Übernahme der Regierungsverantwortung durch
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schwarz-Gelb stellen wir jedoch fest, dass Deutschland
in Europa isoliert ist, dass die Bundesregierung hand-
Das war aus meiner Sicht ein Tiefpunkt der europapoliti- lungsunfähig und – vor allen Dingen das ist erschre-
schen Debatte. Ich möchte so etwas nie wieder erleben. ckend – ideenlos ist.
4684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Eva Högl


(A) Die Bundeskanzlerin ist in Europa zur neuen Madame für Wettbewerbsfähigkeit. Weiter sorgen sie für soziale (C)
No geworden und hat die unsägliche Rolle von Maggie Stabilität und sind eine Errungenschaft des sozialen Eu-
Thatcher übernommen. Das ist etwas, worüber wir uns ropas.
im Deutschen Bundestag nicht freuen können, denn es
gibt enorme Herausforderungen in Europa, die wir ange- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
hen müssen. 23 Millionen Menschen in Europa sind ar- DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)
beitslos. 80 Millionen Menschen sind von Armut und Wir wollen diesen Weg weitergehen und wünschen
120 Millionen Menschen von sozialer Ausgrenzung be- uns, dass auch bei der Strategie „Europa 2020“ mehr
droht. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht le- über die Qualität der Arbeit diskutiert wird. Wir wollen
ben, ihre Familien nicht ernähren. Und es gibt immer faire Löhne; zwar keinen einheitlichen Mindestlohn für
noch einen Lohnunterschied von 25 Prozent zwischen ganz Europa, aber Löhne, von denen die Menschen sich
Männern und Frauen. Diese Aufgaben bewältigen wir und ihre Familien ernähren können. Wir wollen eine so-
nicht national, sondern nur europäisch. ziale Abfederung der Finanzkrise und mehr Gleichstel-
(Beifall bei der SPD) lung von Männern und Frauen.

Deswegen ist es ein Armutszeugnis, wenn die Bun- (Zurufe von der CDU/CSU)
desregierung nach wie vor dagegen kämpft, Armutsbe- – Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen. Das wird
kämpfung als gemeinsames Ziel zu verankern. Ich bin nicht nur bei der SPD so formuliert, sondern der Euro-
sehr froh, dass die Bundesregierung auf dem Europäi- päische Wirtschafts- und Sozialausschuss, in dem auch
schen Rat eine grandiose Niederlage einfahren wird; die Wirtschaftsverbände und Arbeitgebervertreter sitzen,
denn der Europäische Rat wird nächste Woche Armuts- hat genau dies als Kritik an der Lissabon-Strategie geäu-
bekämpfung als Ziel festlegen. Er wird beschließen, dass ßert und im Hinblick auf die neue Strategie gefordert,
die Zahl der von Armut betroffenen Menschen um diese Punkte zu berücksichtigen. Ich denke, da sind wir
20 Millionen gesenkt werden soll. Das ist eine Nieder- in guter Gesellschaft. Wir haben das in unseren Antrag
lage der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat sich aufgenommen, und wir haben etwas Gutes vorgelegt.
auf diesem Gebiet ein unwürdiges Zahlenspiel mit Indi-
katoren geleistet. Ich werde es begrüßen, wenn der Euro- Aus den Fehlern der Lissabon-Strategie wollen wir
päische Rat mit Unterstützung der anderen Mitgliedstaa- lernen und nicht wieder eine bürokratische Strategie ha-
ten ein klares Bekenntnis zur Bekämpfung der Armut in ben, die keiner versteht. Wir wollen die Parlamente ein-
Europa beschließt. beziehen. All diese Forderungen haben wir als SPD for-
muliert. Es ist mehr als bedauerlich, dass die
(B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung sich nicht getraut hat, auf der europäi- (D)
DIE GRÜNEN) schen Ebene klare Akzente zu setzen und gute Vor-
Ich wünsche mir – die SPD hat das in ihrem Antrag schläge für eine neue Strategie zu machen. Wir sollten
deutlich gemacht – mehr und nicht weniger Vorgaben nicht so weitermachen, wie wir es bisher getan haben.
aus Europa, denn wir brauchen in diesem Bereich klare Wir brauchen neue Akzente und Antworten für die Bür-
Vorgaben, damit wir in Europa gemeinsam vorwärts gerinnen und Bürger. Es wäre gut gewesen, sich zu
kommen. Wir brauchen einen sozialen Stabilitätspakt. trauen, sich mutiger an Europa zu orientieren. Europa
Das bedeutet nicht eine Aufweichung unseres Stabili- hat eine bessere Politik verdient. Die Menschen in Eu-
täts- und Wachstumspaktes, sondern das ist ein klares Si- ropa haben eine bessere Politik verdient. Dazu ist die
gnal an die Menschen, dass Sparen und Konsolidierung Bundesregierung nicht in der Lage. Deswegen ist das,
der Haushalte, so richtig und notwendig das ist, sozial was jetzt als Strategie „Europa 2020“ vorliegt, keine an-
ausgewogen erfolgen werden. Das wäre ein wichtiges gemessene Antwort auf die Herausforderungen unserer
Signal auf der europäischen Ebene. Zeit. Das ist sehr bedauerlich.

Wie man es nicht macht, sehen wir gerade am Bei- Vielen Dank.
spiel des Sparpakets der Bundesregierung, die eine so- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zial völlig unausgewogene Politik verfolgt, indem sie DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nur bei Armen und Schwachen sparen will. Ich wünsche LINKEN)
mir, dass Europa solchen Sparpaketen ein Stoppschild
vorsetzt. Deswegen wünsche ich mir hier nicht weniger,
sondern mehr Europa. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Gabriele ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
Molitor [FDP]) rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
Frau Molitor, mit alten Ideologien kommen wir nicht für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
weiter. Sie haben gesagt, dass die europäischen Betriebs- mit dem Titel „Kernfusionsforschung kritisch überprü-
räte völlig unnötig seien. Dazu stelle ich fest: Die euro- fen – ITER-Vertrag kündigen“ bekannt: abgegebene
päischen Betriebsräte haben dafür gesorgt, dass Massen- Stimmen 564. Mit Ja haben gestimmt 311, mit Nein ha-
entlassungen und Streiks verhindert wurden. In den ben gestimmt 132, Enthaltungen 121. Die Beschluss-
Unternehmen, in denen es sie gibt, sorgen sie geradezu empfehlung ist angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4685
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Endgültiges Ergebnis Dr. Wolfgang Götzer Dr. Max Lehmer Detlef Seif (C)
Abgegebenen Stimmen: 564; Ute Granold Paul Lehrieder Johannes Selle
davon Reinhard Grindel Dr. Ursula von der Leyen Reinhold Sendker
Hermann Gröhe Ingbert Liebing Dr. Patrick Sensburg
ja: 311
Michael Grosse-Brömer Matthias Lietz Thomas Silberhorn
nein: 132 Markus Grübel Dr. Carsten Linnemann Johannes Singhammer
enthalten: 121 Manfred Grund Patricia Lips Jens Spahn
Monika Grütters Dr. Jan-Marco Luczak Carola Stauche
Ja Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Michael Luther Erika Steinbach
zu Guttenberg Karin Maag Christian Freiherr von Stetten
CDU/CSU Olav Gutting Dr. Thomas de Maizière Dieter Stier
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann
Peter Altmaier Holger Haibach Andreas Mattfeldt Stephan Stracke
Peter Aumer Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger
Dorothee Bär Jürgen Hardt Maria Michalk Karin Strenz
Thomas Bareiß Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Thomas Strobl (Heilbronn)
Norbert Barthle Mechthild Heil Dr. Mathias Middelberg Lena Strothmann
Günter Baumann Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Michael Stübgen
Ernst-Reinhard Beck Rudolf Henke Dietrich Monstadt Dr. Peter Tauber
(Reutlingen) Michael Hennrich Antje Tillmann
Marlene Mortler
Manfred Behrens (Börde) Jürgen Herrmann Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Gerd Müller
Veronika Bellmann Arnold Vaatz
Ansgar Heveling Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Christoph Bergner Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Ernst Hinsken Nadine Müller (St. Wendel)
Peter Beyer Stefanie Vogelsang
Christian Hirte Dr. Philipp Murmann
Steffen Bilger Andrea Astrid Voßhoff
Robert Hochbaum Bernd Neumann (Bremen)
Clemens Binninger Dr. Johann Wadephul
Karl Holmeier Michaela Noll
Peter Bleser Marco Wanderwitz
Franz-Josef Holzenkamp Dr. Georg Nüßlein
Dr. Maria Böhmer Kai Wegner
Joachim Hörster Franz Obermeier
Wolfgang Börnsen Marcus Weinberg (Hamburg)
Anette Hübinger Eduard Oswald
(Bönstrup) Peter Weiß (Emmendingen)
Norbert Brackmann Thomas Jarzombek Henning Otte
Dieter Jasper Dr. Michael Paul Sabine Weiss (Wesel I)
Klaus Brähmig Ingo Wellenreuther
Michael Brand Dr. Franz Josef Jung Rita Pawelski
Andreas Jung (Konstanz) Ulrich Petzold Karl-Georg Wellmann
Dr. Reinhard Brandl Peter Wichtel
Helmut Brandt Dr. Egon Jüttner Dr. Joachim Pfeiffer
Hans-Werner Kammer Sibylle Pfeiffer Annette Widmann-Mauz
(B) Dr. Ralf Brauksiepe Klaus-Peter Willsch
(D)
Dr. Helge Braun Steffen Kampeter Beatrix Philipp
Alois Karl Ronald Pofalla Elisabeth Winkelmeier-
Heike Brehmer Becker
Ralph Brinkhaus Bernhard Kaster Christoph Poland
Siegfried Kauder (Villingen- Ruprecht Polenz Dagmar Wöhrl
Gitta Connemann Dr. Matthias Zimmer
Leo Dautzenberg Schwenningen) Eckhard Pols
Volker Kauder Lucia Puttrich Wolfgang Zöller
Alexander Dobrindt Willi Zylajew
Thomas Dörflinger Dr. Stefan Kaufmann Daniela Raab
Marie-Luise Dött Roderich Kiesewetter Thomas Rachel
Eckart von Klaeden Eckhardt Rehberg FDP
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann Ewa Klamt Katherina Reiche (Potsdam) Jens Ackermann
Ingrid Fischbach Volkmar Klein Lothar Riebsamen Christian Ahrendt
Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Josef Rief Christine Aschenberg-
Dirk Fischer (Hamburg) Julia Klöckner Klaus Riegert Dugnus
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Axel Knoerig Dr. Heinz Riesenhuber Daniel Bahr (Münster)
Land) Jens Koeppen Johannes Röring Florian Bernschneider
Dr. Maria Flachsbarth Dr. Kristina Schröder Dr. Norbert Röttgen Sebastian Blumenthal
Klaus-Peter Flosbach Manfred Kolbe Dr. Christian Ruck Claudia Bögel
Herbert Frankenhauser Dr. Rolf Koschorrek Erwin Rüddel Nicole Bracht-Bendt
Dr. Hans-Peter Friedrich Hartmut Koschyk Albert Rupprecht (Weiden) Rainer Brüderle
(Hof) Thomas Kossendey Anita Schäfer (Saalstadt) Angelika Brunkhorst
Michael Frieser Michael Kretschmer Dr. Wolfgang Schäuble Ernst Burgbacher
Erich G. Fritz Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer Marco Buschmann
Dr. Michael Fuchs Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Sylvia Canel
Hans-Joachim Fuchtel Rüdiger Kruse Norbert Schindler Helga Daub
Alexander Funk Bettina Kudla Tankred Schipanski Reiner Deutschmann
Ingo Gädechens Dr. Hermann Kues Georg Schirmbeck Dr. Bijan Djir-Sarai
Dr. Peter Gauweiler Günter Lach Patrick Schnieder Patrick Döring
Dr. Thomas Gebhart Dr. Karl A. Lamers Dr. Andreas Schockenhoff Mechthild Dyckmans
Norbert Geis (Heidelberg) Dr. Ole Schröder Rainer Erdel
Alois Gerig Andreas G. Lämmel Bernhard Schulte-Drüggelte Jörg van Essen
Eberhard Gienger Dr. Norbert Lammert Uwe Schummer Ulrike Flach
Josef Göppel Katharina Landgraf Armin Schuster (Weil am Otto Fricke
Peter Götz Ulrich Lange Rhein) Paul K. Friedhoff
4686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Dr. Edmund Peter Geisen Nein Dr. Axel Troost Markus Tressel (C)
Dr. Wolfgang Gerhardt Alexander Ulrich Jürgen Trittin
Heinz Golombeck SPD Kathrin Vogler Daniela Wagner
Miriam Gruß Sahra Wagenknecht Wolfgang Wieland
Marco Bülow
Joachim Günther (Plauen) Halina Wawzyniak Dr. Valerie Wilms
Dr. Marlies Volkmer
Dr. Christel Happach-Kasan Harald Weinberg Josef Philip Winkler
Heinz-Peter Haustein Katrin Werner
DIE LINKE
Manuel Höferlin Enthalten
Elke Hoff Jan van Aken BÜNDNIS 90/
Birgit Homburger Agnes Alpers DIE GRÜNEN SPD
Dr. Werner Hoyer Dr. Dietmar Bartsch
Kerstin Andreae Ingrid Arndt-Brauer
Heiner Kamp Herbert Behrens
Marieluise Beck (Bremen) Rainer Arnold
Michael Kauch Karin Binder Cornelia Behm
Matthias W. Birkwald Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Lutz Knopek Birgitt Bender
Heidrun Bluhm Doris Barnett
Pascal Kober Alexander Bonde
Steffen Bockhahn Klaus Barthel
Dr. Heinrich L. Kolb Viola von Cramon-Taubadel Sören Bartol
Sebastian Körber Christine Buchholz Ekin Deligöz
Eva Bulling-Schröter Bärbel Bas
Holger Krestel Katja Dörner Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dr. Martina Bunge Hans-Josef Fell
Roland Claus Dirk Becker
Heinz Lanfermann Dr. Thomas Gambke Lothar Binding (Heidelberg)
Sibylle Laurischk Sevim Dağdelen Kai Gehring
Dr. Diether Dehm Gerd Bollmann
Harald Leibrecht Britta Haßelmann Klaus Brandner
Sabine Leutheusser- Heidrun Dittrich Bettina Herlitzius
Werner Dreibus Willi Brase
Schnarrenberger Winfried Hermann Bernhard Brinkmann
Lars Lindemann Dr. Dagmar Enkelmann Priska Hinz (Herborn)
Wolfgang Gehrcke (Hildesheim)
Christian Lindner Ulrike Höfken Edelgard Bulmahn
Nicole Gohlke Dr. Anton Hofreiter
Dr. Martin Lindner (Berlin) Martin Burkert
Diana Golze Bärbel Höhn
Michael Link (Heilbronn) Petra Crone
Annette Groth Ingrid Hönlinger
Dr. Erwin Lotter Dr. Peter Danckert
Dr. Gregor Gysi Thilo Hoppe
Oliver Luksic Martin Dörmann
Heike Hänsel Uwe Kekeritz
Horst Meierhofer Garrelt Duin
Dr. Rosemarie Hein Katja Keul
Patrick Meinhardt Sebastian Edathy
Inge Höger Memet Kilic
Gabriele Molitor Siegmund Ehrmann
Dr. Barbara Höll Sven-Christian Kindler
Jan Mücke Petra Ernstberger
(B) Andrej Konstantin Hunko Maria Klein-Schmeink (D)
Petra Müller (Aachen) Karin Evers-Meyer
Ulla Jelpke Ute Koczy Elke Ferner
Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Martin Neumann Tom Koenigs Gabriele Fograscher
Katja Kipping Sylvia Kotting-Uhl Dr. Edgar Franke
(Lausitz) Harald Koch
Dirk Niebel Oliver Krischer Dagmar Freitag
Jan Korte Agnes Krumwiede Peter Friedrich
Hans-Joachim Otto Jutta Krellmann
(Frankfurt) Fritz Kuhn Martin Gerster
Katrin Kunert Stephan Kühn Iris Gleicke
Dr. Christiane Ratjen- Caren Lay
Damerau Renate Künast Günter Gloser
Sabine Leidig Markus Kurth Ulrike Gottschalck
Dr. Birgit Reinemund Ralph Lenkert Undine Kurth (Quedlinburg) Angelika Graf (Rosenheim)
Dr. Peter Röhlinger Michael Leutert Monika Lazar Michael Groß
Dr. Stefan Ruppert Stefan Liebich Nicole Maisch Hans-Joachim Hacker
Björn Sänger Ulla Lötzer Agnes Malczak Bettina Hagedorn
Christoph Schnurr Dorothée Menzner Jerzy Montag Klaus Hagemann
Jimmy Schulz Cornelia Möhring Kerstin Müller (Köln) Michael Hartmann
Marina Schuster Kornelia Möller Beate Müller-Gemmeke (Wackernheim)
Dr. Erik Schweickert Niema Movassat Dr. Konstantin von Notz Dr. Barbara Hendricks
Werner Simmling Wolfgang Nešković Omid Nouripour Gustav Herzog
Judith Skudelny Thomas Nord Friedrich Ostendorff Gabriele Hiller-Ohm
Dr. Hermann Otto Solms Petra Pau Dr. Hermann Ott Petra Hinz (Essen)
Joachim Spatz Jens Petermann Brigitte Pothmer Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Max Stadler Richard Pitterle Tabea Rößner Dr. Eva Högl
Torsten Staffeldt Yvonne Ploetz Claudia Roth (Augsburg) Christel Humme
Dr. Rainer Stinner Paul Schäfer (Köln) Krista Sager Oliver Kaczmarek
Stephan Thomae Michael Schlecht Manuel Sarrazin Johannes Kahrs
Florian Toncar Dr. Herbert Schui Elisabeth Scharfenberg Dr. h. c. Susanne Kastner
Serkan Tören Dr. Ilja Seifert Dr. Gerhard Schick Ulrich Kelber
Johannes Vogel Kathrin Senger-Schäfer Dr. Frithjof Schmidt Lars Klingbeil
(Lüdenscheid) Raju Sharma Dorothea Steiner Hans-Ulrich Klose
Dr. Daniel Volk Dr. Petra Sitte Dr. Wolfgang Strengmann- Dr. Bärbel Kofler
Dr. Claudia Winterstein Kersten Steinke Kuhn Daniela Kolbe (Leipzig)
Dr. Volker Wissing Sabine Stüber Hans-Christian Ströbele Fritz Rudolf Körper
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Frank Tempel Dr. Harald Terpe Anette Kramme
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4687
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Angelika Krüger-Leißner Manfred Nink Anton Schaaf Dr. Carsten Sieling (C)
Ute Kumpf Thomas Oppermann Axel Schäfer (Bochum) Sonja Steffen
Christine Lambrecht Holger Ortel Bernd Scheelen Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christian Lange (Backnang) Aydan Özoğuz Marianne Schieder Christoph Strässer
Dr. Karl Lauterbach Heinz Paula (Schwandorf) Kerstin Tack
Steffen-Claudio Lemme Johannes Pflug Werner Schieder (Weiden) Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Burkhard Lischka Joachim Poß Ulla Schmidt (Aachen) Franz Thönnes
Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Wilhelm Priesmeier Silvia Schmidt (Eisleben)
Wolfgang Tiefensee
Kirsten Lühmann Florian Pronold Olaf Scholz
Caren Marks Dr. Sascha Raabe Ottmar Schreiner Rüdiger Veit
Katja Mast Mechthild Rawert Swen Schulz (Spandau) Ute Vogt
Hilde Mattheis Gerold Reichenbach Ewald Schurer Heidemarie Wieczorek-Zeul
Petra Merkel (Berlin) Dr. Carola Reimann Frank Schwabe Waltraud Wolff
Ullrich Meßmer Sönke Rix Dr. Angelica Schwall-Düren (Wolmirstedt)
Dr. Matthias Miersch René Röspel Dr. Martin Schwanholz Dagmar Ziegler
Franz Müntefering Dr. Ernst Dieter Rossmann Rolf Schwanitz Manfred Zöllmer
Dr. Rolf Mützenich Michael Roth (Heringen) Stefan Schwartze Brigitte Zypries

Als nächster Redner hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Dr. Johann Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion. Ja.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Der Kollege Sarrazin von den Grünen würde gern
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Herren! Von Frau Högl haben wir eine der üblichen Re-
den gehört: Das Wort Europa kam vor, viel Kritik an der Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Bundesregierung auch. Allerdings haben Sie, Frau Högl, Ja.
zum Thema bedauerlich wenig gesagt. Das müssen jetzt
die nachfolgenden Redner nachholen. Ich hoffe, das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wird uns noch gelingen. Bitte schön, Herr Sarrazin.
Wenn Sie sagen, dass es Unerträgliches an Kritik ge-
(B) (D)
genüber Griechenland gegeben hat, dann mag das der Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Fall gewesen sein. Herr Kollege, vielen Dank. – Sie haben hier gerade
(Dr. Eva Högl [SPD]: „Dann mag das der Fall dargestellt, dass einiges in Bezug auf den Umgang mit
gewesen sein“? – Dr. Angelica Schwall-Düren dem Land Griechenland nicht in Ordnung gewesen sein
[SPD]: Es ist unglaublich, dass Sie sich nicht mag. Das gilt auch für Kollegen der FDP aus dem
distanzieren!) Finanzausschuss und den Vorsitzenden der CDU-Mittel-
standsvereinigung, Herrn Schlarmann.
– Einerseits ist – auch in Deutschland – das eine oder an-
dere geäußert worden, was nicht in Ordnung war; ande- Ich frage Sie das Folgende als patriotischen Schles-
rerseits gab es ebenso in Griechenland selber die eine wig-Holsteiner. Wenn Ihnen jemand gesagt hätte, um das
oder andere Äußerung, die auch nicht gerade europaver- Defizit der Großen Koalition bzw. der jetzt existenten
träglich war. Aber wie können Sie, Frau Högl, sich ei- Regierung in Schleswig-Holstein aufzulösen, möge
gentlich hier hinstellen und die große europäische Idee Schleswig-Holstein endlich seine Inseln verkaufen, hät-
beschreiben, ten Sie das als vielleicht nicht in Ordnung empfunden
oder doch so, dass es gar nicht geht?
(Oliver Luksic [FDP]: Genau!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wenn Sie in der entscheidenden Stunde, als Europa ge- und bei der SPD)
holfen werden musste, nicht zur Stelle waren und die
SPD nicht zugestimmt hat,
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Sarrazin, Schleswig-Holstein hat mit der Insel
weder, als es darum ging, Griechenland zu helfen, noch Helgoland schon einmal ein schlechtes Geschäft ge-
beim Euro-Rettungspaket? Meines Erachtens haben die macht. Deswegen lasse ich mich auf solche Diskussio-
Sozialdemokraten in Fragen der Europapolitik jetzt zu- nen gar nicht ein.
nächst einmal die Berechtigung verloren, sich hier als (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
der große Richter oder die Richterin aufzuführen. wie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von
der SPD: Oh!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich will versuchen, zum Thema ein wenig zu sagen.
Herr Kollege Wadephul, darf ich Sie kurz unterbre-
chen? (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sansibar!)
4688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Johann Wadephul


(A) – In der Tat. Ich begrüße, Herr Schäfer, dass Sie in strategie zu machen ist, auch umgesetzt wird, ob eine (C)
schleswig-holsteinischer Geschichte so bewandert sind. Beschäftigungspolitik umgesetzt wird, die die 20- bis
64-Jährigen nachhaltiger in Beschäftigung bringt, die zu
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist ein einer Steigerung der Bildungs- und Forschungsausgaben
bisschen mehr als schleswig-holsteinische Ge- führt, was die Kanzlerin in Deutschland dankenswerter-
schichte!) weise angeregt hat und was letzten Endes der erfolgver-
– Ja, das stimmt. sprechende Weg ist? Wir brauchen in diesem Sinne ein
stärkeres Europa. Ich möchte für meine Fraktion aus-
Noch einmal zurück zu dem Wortbeitrag der Kollegin drücklich sagen: In diese Diskussion wollen wir einstei-
Högl: Die hier angewandte Akrobatik, diese Strategie, gen. Wir wollen Europa mehr Möglichkeiten als in der
die zehn Jahre gelten soll und die mit den anderen Mit- Vergangenheit geben.
gliedstaaten vereinbart werden muss, in einen Zusam-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
menhang mit dem Sparpaket zu stellen, halte ich für be-
neten der FDP)
wundernswert. Daran wird auch deutlich, dass Ihr
Gedankengebilde letzten Endes in sich zusammengefal- An dieser Stelle eine Bemerkung zur Armutsbekämp-
len ist. fung. Wir alle sind uns einig, dass Armutsbekämpfung
notwendig ist und jeder diese Verpflichtung hat. Diese
Wir müssen an uns den Anspruch stellen, dass wir, kann man geistesgeschichtlich unterschiedlich herleiten.
wenn wir hier europäische Verträge oder Strategien be- Für uns ist es eine christliche Verpflichtung der Nächs-
werten, sie nicht immer nur an unseren nationalen De- tenliebe,
batten – dazu, ob wir sie für gut halten oder nicht, haben
Opposition und Regierung eine gewisse Rolle einzuneh- (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ach, was
men; das ist ganz klar –, nicht an aktueller Tagespolitik ist dann mit dem Sparpaket?)
hier in der Bundesrepublik Deutschland messen sollten. dass man sich um Arme kümmert und ihnen hilft. Die
Wenn Sie sagen, auf europäischer Ebene gebe es tiefere Begründung für unsere Sozialpolitik ergibt sich
Klein-Klein, dann kann ich Sie nur auffordern, die Ver- aus der Christlichen Soziallehre.
einbarung einer solchen Strategie auf europäischer Nur, die Frage, die wir uns gestellt haben, ist doch:
Ebene, die mehrere Monate in Anspruch genommen hat Welches sind die richtigen Indikatoren? Wie messen wir
und wobei sich viele Mitgliedstaaten eingebracht haben, Armut? Wenn es hier Niederlagen gibt, dann in der
bitte nicht an aktueller Tagespolitik in Deutschland, die Kommission. Sie wird in der nächsten Woche eine Nie-
Sie in anderen Debatten zu Recht kritisieren mögen, zu derlage einfahren, da sie mit ihrem Ziel, die Armutsrisi-
messen, sondern daran, was gemeinsam erreicht worden koquote als alleinigen Indikator heranzuziehen, schei- (D)
(B) ist. Wir sollten in dieser Phase, in der Europa Unterstüt-
tern wird. Wir wollen keine Niederlage der Kommission;
zung braucht, nicht den Fehler machen, das, was man das ist nicht unser Ziel. Wir wollen sie stärken. Nur, die
gemeinsam erreicht hat und was durchaus gut ist, hier zu Kommission muss sich auch intelligent verhalten. An
zerreden. Deswegen kann ich Sie nur auffordern, an ei- dieser Stelle hat die Kommission hinzuzulernen. Es ist
nem konstruktiven Diskussionsprozess mitzuwirken, gut und richtig, dass andere Indikatoren hinzugezogen
liebe Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokrati- werden können. Die Langzeitarbeitslosigkeit als Krite-
schen Partei. rium hat – das ist schon in der Ausschusssitzung gesagt
worden – bereits Rot-Grün 2000 im Rahmen der Lissa-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bon-Strategie für richtig gehalten. Das greifen wir auf;
neten der FDP – Dr. Eva Högl [SPD]: Sie ha- Kollege Stübgen hat schon in der Ausschusssitzung
ben doch zu allem Nein gesagt! – Dr. Angelica darauf hingewiesen. Was damals richtig war, ist heute
Schwall-Düren [SPD]: Ich sage nur Armutsbe- nicht falsch.
kämpfung!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Meines Erachtens ist hiermit in der Tat ein ganz be- neten der FDP)
merkenswerter Wurf gelungen, weil man tatsächlich
– Sie haben das ja auch angemahnt – einige Lehren aus Letzten Endes muss die Kompetenzordnung gewahrt
der Lissabon-Strategie gezogen hat: Wir konzentrieren werden. Ich glaube, dass wir bei der Umsetzung einer
uns auf wenige erreichbare Ziele und kontrollieren dies Wachstums- und Beschäftigungsstrategie intelligente
auch hinterher miteinander. Wir müssen unter dem Ein- Lösungen in allen Mitgliedstaaten brauchen, die dort mit
druck der Rettungspakete, die in der letzten Zeit ge- den jeweils akzeptablen nationalen Lösungen umzuset-
schnürt wurden, eine Diskussion über folgende Fragen zen sind.
führen: In welchem Umfang sind wir bereit, eine ent- Deswegen möchte ich abschließend sagen: Der Subsi-
sprechende Kompetenz auf europäischer Ebene – wo diaritäts- und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müssen
auch immer und wie auch immer sie angesiedelt wird – gewahrt werden. Wir können aber guter Dinge sein, dass
zuzulassen? Ob das nach dem jetzigen Vertragsrecht die Bundeskanzlerin in der nächsten Woche eine gute
möglich ist oder ob wir eine Erweiterung brauchen, da- Strategie verabreden wird. Wir alle sind aufgefordert,
rüber muss diskutiert werden. Lassen wir zu, dass es eine dafür zu sorgen, dass sie umgesetzt wird und das er-
Kontrolle der Stabilität und auch eine Kontrolle der reicht, was sie in ihrer Überschrift aussagt: mehr Wachs-
Haushalte gibt, und auf welche Art und Weise? Lassen tum, mehr Beschäftigung in Europa.
wir auch eine Kontrolle zu, in deren Rahmen überprüft
wird, ob das, was vor dem Hintergrund der Wachstums- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4689
Dr. Johann Wadephul
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie von der FDP stellen sich hierhin – deshalb ist (C)
neten der FDP) auch jede Debatte sinnvoll und notwendig – und sagen,
europäische Betriebsräte würden sozusagen das Wirt-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schaftswachstum gefährden. Hätten wir keine Betriebs-
räte, hätten wir keine starken Gewerkschaften, hätten wir
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich von der Hunderttausende, wahrscheinlich sogar Millionen mehr
Fraktion Die Linke. Arbeitslose. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen
(Beifall bei der LINKEN) – das müssen Sie auch einmal anerkennen –, sondern ein
europäisches Phänomen.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): (Gabriele Molitor [FDP]: Wer schafft denn die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitsplätze! – Harald Leibrecht [FDP]: Seit
Strategie „Europa 2020“ ist die Fortsetzung der geschei- wann schaffen Gewerkschaften Arbeitsplätze?
terten Lissabon-Strategie. Die Beratungen in den letzten Nur für sich selber!)
Wochen und Monaten haben gezeigt: Die Bundesregie- Deshalb müssen wir gerade die Betriebsräte und die Ge-
rung und die sie tragenden Fraktionen sind nicht in der werkschaften stärken, möglicherweise auch durch eine
Lage und nicht gewillt, einen Erkenntnisgewinn aus dem Strategiedebatte.
Scheitern der Lissabon-Strategie zu ziehen. Denn was
war die Lissabon-Strategie? Das war die Flexibilisierung (Beifall bei der LINKEN)
der Arbeitsmärkte, mehr prekäre Beschäftigung, Privati- Dass die FDP, die sich hier hingestellt und vorge-
sierung und Deregulierung. Das, was wir zurzeit auf den schlagen hat, wir sollten Griechenland nicht helfen, die
Finanzmärkten sehen, war schon Inhalt der Lissabon- sollten erst einmal ihre Inseln verkaufen, ihre antieuro-
Strategie. Jetzt will man diese gescheiterte Politik fort- päische Politik fortsetzt, zeigte sich gestern auch bei
setzen. Es ist deshalb klar, dass die Ziele, die schon mit Opel.
der Lissabon-Strategie nicht erreicht worden sind, auch
mit der Strategie „Europa 2020“ nicht erreicht werden. (Widerspruch bei der FDP)
(Beifall bei der LINKEN) Europäische Länder wollen Opel helfen, aber die deut-
sche Bundesregierung stellt sich hin und sagt: Wir ma-
Schon anlässlich der letzten Beratung habe ich gesagt, chen gar nichts.
dass diese Debatte an den Menschen vorbeigeht. Wäh-
rend Europa in der tiefsten Krise steckt, das europäische (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu-
Haus lichterloh brennt und man nicht weiß, wann das ruf von der FDP: Quatsch!)
(B) nächste Rettungspaket durch den Bundestag gepeitscht Diese Bundesregierung will maroden Banken und der (D)
werden muss, wird eine Strategie für die nächsten zehn Finanzwelt helfen, aber dort, wo europäische Solidarität
Jahre dargelegt. Dabei weiß noch nicht einmal die Bun- gefragt wäre, macht sie nichts. Die anderen Länder mit
deskanzlerin, ob Europa in dieser Art und Weise noch GM-Standorten haben ihre Unterstützung zugesagt.
ein Jahr besteht. Wenn die Bundesregierung so weiter- Aber FDP und CDU haben Nein gesagt.
macht, zeigt sie, dass sie zutiefst antieuropäisch handelt.
(Harald Leibrecht [FDP]: Weil wir auch an den
(Gabriele Molitor [FDP]: Was sind denn Ihre Steuerzahler denken, was Sie nicht tun und nie
Vorschläge?) getan haben!)
Das schreiben mittlerweile schon Medien, die nicht un- Sie sind mal wieder auf einem antieuropäischen Weg.
bedingt zu uns gehören.
(Beifall bei der LINKEN – Gabriele Molitor
(Beifall bei der LINKEN – Gabriele Molitor [FDP]: Der hat nichts verstanden!)
[FDP]: Immer nur destruktiv!) Mein Vorredner von der CDU hat gesagt, wir würden
Unsere Fraktion hat gesagt, wir müssen jetzt Krisen- uns hier im Klein-Klein verlieren. Es war Franz
bewältigung betreiben. Das heißt, wir brauchen endlich Müntefering – ich erwähne es noch einmal –, der die
eine Regulierung der Finanzmärkte. Wenn uns das nicht Agenda 2010 und Hartz IV zu Maßnahmen im Rahmen
gelingt, sind alle anderen Ziele nicht erreichbar. Deshalb der nationalen Umsetzung der Lissabon-Strategie erklärt
haben wir gesagt, wir setzen diese Strategiedebatte aus, hat. Ich bin mir relativ sicher, dass diese Bundesregie-
rung das Sparpaket aus dieser Woche auch wieder zu ei-
(Gabriele Molitor [FDP]: Vogel-Strauß-Men- ner Maßnahme im Rahmen der nationalen Umsetzung
talität!) der Europa-2020-Strategie erklären will. Deshalb ist es
auch nicht zufällig, dass man sich nicht auf Ziele bei der
um erst einmal das zu diskutieren, was notwendig ist. Armutsbekämpfung einlässt. Denn wer eine Strategie
Man sieht ja, dass die Bundesregierung auch nach zwei fährt, wo den Ärmsten der Armen noch einmal etwas
Jahren Finanzkrise nicht bereit ist, zu europäischen Lö- gekürzt wird, kann sich auf europäischer Ebene natürlich
sungen zu kommen. Wir müssen uns dann Gedanken nicht hinstellen und sagen, wir wollen Armut bekämp-
machen, wie Europa in kleineren Schritten, im Prinzip fen. Das, was diese Woche von der Bundesregierung be-
über einen Zeitraum von drei, vier Jahren, gestaltet wer- schlossen worden ist, wird auch in Deutschland zu mehr
den kann. Wir sagen es noch einmal: Europa kann nur Armut führen.
sozial gestaltet werden, sonst wird Europa nicht gelin-
gen. (Beifall bei der LINKEN)
4690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Alexander Ulrich
(A) Damit komme ich zum Schluss. Wir brauchen mehr Ich finde, Sie sollten endlich einmal Butter bei die Fi- (C)
Regulierung; wir brauchen mehr Beteiligung in der Fi- sche tun. Machen Sie endlich etwas, damit wir aus dieser
nanzwelt; wir brauchen europäische Mindestlöhne; wir Krise herauskommen. Dafür erwarte ich von Ihnen, dass
brauchen europäische Betriebsräte; wir brauchen stär- Sie beispielsweise den Punkt „Abbau von Ungleichge-
kere Gewerkschaften, und wir brauchen – auch wenn die wichten“, der in der Strategie sehr betont wird, ernst
Beträge verändert werden – endlich eine soziale Fort- nehmen und uns hier vorstellen, wie Sie dazu beitragen
schrittsklausel. Denn Europa kann nur sozial gelingen, wollen, dass die Ungleichgewichte zwischen den natio-
oder Sie fahren es an die Wand – wenn es nicht schon so nalen Wirtschaftsräumen innerhalb des europäischen
weit ist. Binnenmarktes tatsächlich abgebaut werden können.
Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN) Ich erwarte von Ihnen, dass Sie zu den Themen der
wirtschaftlichen Koordinierung und der Governance-
Strukturen endlich proaktive Vorschläge machen, dass
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sie zeigen, wie man mit einem Green New Deal tatsäch-
Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin vom lich für nachhaltiges Wachstum, für einen sparsamen
Bündnis 90/Die Grünen. Umgang mit Ressourcen und für Innovationen sorgen
kann. Nur mit solch einer Innovationsstrategie werden
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir etwas schaffen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass Sie sich noch immer weigern, das Ziel der Sen-
Ich möchte auch noch etwas zu zwei Streitthemen hier kung der CO2-Emissionen um 30 Prozent in die EU-
sagen. 2020-Strategie aufzunehmen, zeigt, dass Sie nicht ver-
Das Erste betrifft die Betriebsräte. Ich glaube, dass standen haben, wo die Zukunft der Europäischen Union
eine Stärkung der europäischen Betriebsräte sehr im In- tatsächlich liegen muss. Da muss ich sagen: Rechnen Sie
teresse der Politik ist. Wir merken an vielen Stellen, dass einfach einmal die Folgekosten ein! Dann könnte man
in europäischen und internationalen Zusammenhängen auch als Süddeutscher mit einem guten Taschenrechner
die Politik als natürlicher Gegenspieler zu wirtschaftlich berechnen, dass sich das spätestens 2020 für alle Men-
international agierenden Konzernen gesehen wird. Oft- schen lohnen würde.
mals werden dort von uns auch Sachen erwartet, die wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
nicht leisten können. Ich denke, an dieser Stelle die Ar- DIE GRÜNEN)
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken, sie dabei
(B) zu unterstützen, international zusammenarbeiten zu kön- Frau Högl hat ausgeführt, dass Sie beim Ziel der Ar- (D)
nen, und ihnen mehr Rechte zu geben, liegt auch im In- mutsreduzierung eine Niederlage einstecken mussten.
teresse von uns selbst. Wir freuen uns, dass Sie diese Niederlage hinnehmen
mussten. Auch beim Bildungsziel mussten Sie zum Teil
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einknicken. Wir erwarten, dass hier tatsächlich Maßnah-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der men ergriffen werden, um den europäischen Ansprüchen
LINKEN) Genüge zu tun.
Das Zweite ist die Frage, inwieweit Ihr Sparpaket Ich möchte in die Metaphase einsteigen. Eines ist
dazu fähig wäre, Teil der Umsetzung der EU-2020-Stra- wichtig: Ihre Interessenpolitik in der Europäischen
tegie zu sein. Dazu muss ich Ihnen leider sagen: Solche Union ist nicht zielgenau genug, um die deutschen Inte-
Luftnummern ziehen nicht, zumindest nicht, wenn Sie ressen tatsächlich gut einzubringen. Auch ich halte es für
wirklich die Surveillance, die Überwachung der Kom- notwendig, an bestimmten Stellen darüber zu diskutie-
mission verstärken wollen. Sie trauen sich nicht wirk- ren, wie man beispielsweise den Stabilitätspakt ergänzen
lich, zu agieren, Sie trauen sich nicht an die Strukturen kann, Stichwort: Leistungsbilanzdefizite als Kriterium.
ran. Wer so tut, als hätte die Brennelementesteuer, die Ich weiß aber auch, dass ich zunächst einmal sagen
nämlich die Verlängerung der Atomlaufzeiten beinhalten muss, welche Änderungen ich vornehmen möchte, die
soll, etwas mit Green Growth zu tun, der hat gar nichts konkret möglich sind. Da muss ich der Bundesregierung
verstanden. vorhalten: Es ist nicht so, dass sie nicht wüsste, was zum
Teil konkret verändert werden könnte, aber sie betreibt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN immer noch nationale Nabelschau, indem sie sich in der
sowie bei Abgeordneten der SPD) Öffentlichkeit nur auf Vertragsänderungen fokussiert. So
funktioniert das nicht.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich wirklich
von der aktiven Arbeitsmarktpolitik verabschieden wol- Früher hieß es: Deutschland ist in Europa der Motor.
len, dann verabschieden Sie sich von dem German Mi- Früher waren wir das Schmiermittel der europäischen
racle, auf das Sie in Ihren Reden immer so stolz sind. Integration und haben mit Frankreich ein Tandem gebil-
Deshalb: Tun Sie nicht so, als hätte das irgendetwas mit det. Schwarz-Gelb ist im Jahr 2010 bei der Strategie
der Europa-2020-Strategie zu tun. Die Strategie ist nicht „Europa 2020“ nicht einmal ein Schlafwagen nach Brüs-
so ambitioniert, wie sie sein sollte, aber Ihnen ist sie im- sel. Sie sind im Moment höchstens eine Handdraisine
mer noch um Längen voraus. auf dem Abstellgleis.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4691
Manuel Sarrazin
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ches Wachstum und auf Arbeitsplätze gelegt wird. Das (C)
und bei der SPD) ist der Weg, auf dem das Armutsniveau sinkt.
Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission fand
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bei den Mitgliedstaaten zu Recht keine Mehrheit. Der
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Beschäftigungsrat hat diese Woche den Indikatorenkata-
nun das Wort der Kollege Thomas Silberhorn von der log vorgeschlagen und sich darauf verständigt, als Ober-
CDU/CSU-Fraktion. ziel bis zum Jahr 2020 mindestens 20 Millionen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung heraus-
zuführen. Ich unterstütze diese Zielsetzung durchaus.
Wenn allerdings gleichzeitig die Zahl der Menschen, die
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): man als potenziell armutsgefährdet bezeichnet, von
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 80 auf 120 Millionen erhöht wird, dann rate ich zur Zu-
Herren! Ich darf uns das Thema unserer heutigen De- rückhaltung.
batte in Erinnerung rufen. Wir reden über eine Strategie
für Wachstum und Beschäftigung in Europa. Wir reden Wir sind gerne bereit, großzügig zu sein, wenn das
nicht über eine Strategie zur Regulierung, Bevormun- zur Gesichtswahrung der Kommission beiträgt. Wenn
dung oder Planwirtschaft. man aber mehr als 20 Prozent der gesamten Bevölke-
rung in der Europäischen Union als potenziell armutsge-
Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung der fährdet bezeichnet, dann mag das zwar helfen, die ge-
letzten Jahre vor Augen führen, dann müssen wir fest- setzten Ziele im Rahmen der Armutsbekämpfung
halten, dass wir gerade in Deutschland eine ausgespro- leichter zu erreichen; es bleibt aber wenig überzeugend.
chen stabile Volkswirtschaft haben. Wir hatten im Früh- Wir sollten diese Strategie daher nicht zu hoch halten
jahr 2006 nach wenigen Monaten Großer Koalition – ich und die Bürger nicht für blöd.
kann mich sehr gut erinnern – über 5 Millionen Arbeits-
lose in Deutschland. Wir haben jetzt – nach den letzten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zahlen – gerade einmal 3,25 Millionen Arbeitslose in Die vorgesehene Halbzeitüberprüfung 2015 wird man
Deutschland. Dazwischen liegt die größte Wirtschafts- sicher dazu nutzen können, notwendige Anpassungen
und Finanzkrise, die nicht nur Deutschland, sondern die der Indikatoren und in der Umsetzung vorzunehmen.
ganze Welt seit 1929 gesehen hat. Wir haben im letzten
Jahr einen Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung In Bezug auf Bildung sind wir uns sicher einig: Sie ist
um 5 Prozent verkraften müssen. Trotzdem stehen wir eine Schlüsselqualifikation und eine Voraussetzung für
ausgesprochen stabil da. Insofern sind wir Schrittmacher Wettbewerbsfähigkeit. Wenn man das so betrachtet,
(B) in der Europäischen Union und ein Motor für diese Stra- dann muss Wettbewerb auch im Bildungswesen selbst (D)
tegie für Wachstum und Beschäftigung. möglich sein. In Deutschland ermöglichen wir das da-
durch, dass die Länder für die Bildungspolitik zuständig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. Der Föderalismus sichert den Wettbewerb unter-
Der letzte Europäische Rat hat die Ausgestaltung von schiedlicher bildungspolitischer Vorstellungen. Deswe-
zwei Kernzielen dieser Strategie EU 2020 bewusst of- gen ist es wichtig, dass es auf europäischer Ebene nicht
fengelassen: Armutsbekämpfung und Bildung. Hier geht zu einer verbindlichen Überwachung von bildungspoliti-
es um zentrale Anliegen sowohl des Deutschen Bundes- schen Zielen durch die Europäische Union kommt.
tages als auch des Bundesrates. Die Bundesregierung hat Es freut mich, dass dieses Anliegen im Bildungsrat
diese Anliegen dankenswerterweise in den Verhandlun- auf breite Zustimmung gestoßen ist. Die Minister haben
gen aufgegriffen. Es ist notwendig, dass sich die Euro- sich dafür ausgesprochen, dass die Kompetenz der Mit-
päische Union mit ihren Strategien im Rahmen der gel- gliedstaaten bezüglich der Setzung und der Umsetzung
tenden Kompetenzordnung bewegt. Ich freue mich, dass von quantitativen nationalen Zielen in vollem Umfang
der derzeitige Verhandlungsstand Anlass zu der Hoff- erhalten bleibt. Auch der Vertreter der Bundesregierung
nung gibt, dass es zu einer Einigung kommt, die diesen hat im Rat nochmals erklärt, dass Empfehlungen des Ra-
Anforderungen genügt. tes und Verwarnungen der Kommission an die Mitglied-
Wir haben zum Ziel der Armutsbekämpfung immer staaten keine Anwendung auf Bildungsziele finden sol-
gesagt, dass wir es politisch unterstützen. Aber es gibt len. Diese Klarstellung trägt unserer innerstaatlichen
nun einmal keinen wirklich geeigneten und vor allem Kompetenzverteilung in Deutschland Rechnung. Ich be-
verlässlichen Indikator, um Armut zu messen. Wenn grüße es, dass die Bundesregierung dieses Anliegen
man gleichwohl das Ziel der Armutsbekämpfung in noch vor dem 17. Juni auch beim neuen Präsidenten des
solch eine Strategie aufnimmt, muss deutlich festgehal- Europäischen Rates zur Sprache bringen will.
ten werden: Erwerbsarbeit ist immer noch die beste Ver- Die Umsetzung der Strategie EU 2020 wird erfordern,
sicherung gegen Armut. dass nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesländer und die Kommunen mit einbezogen wer-
neten der FDP – Dr. Angelica Schwall-Düren den. Denn für die Umsetzung von Politik sind nicht nur
[SPD]: Wir brauchen aber einen Mindestlohn!) in Deutschland vor allem die Regionen zuständig. Zwei
Drittel aller Rechtsakte der Europäischen Union werden
Deshalb ist es richtig und wichtig, dass das Hauptaugen- federführend von regionalen oder lokalen Gebietskör-
merk im Rahmen der Strategie EU 2020 auf wirtschaftli- perschaften umgesetzt. Sie sind auch der Garant für bür-
4692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Thomas Silberhorn
(A) gernahes Handeln. Deshalb muss uns klar sein, dass die sache 17/898 mit dem Titel „EU 2020 – Für ein ökologi- (C)
Regionen und Kommunen eng in die Strategie EU 2020 sches und soziales Europa“. Wer stimmt für diese Be-
einbezogen werden müssen, wenn ihre Umsetzung er- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
folgreich sein soll. enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
Ich freue mich, dass dies in unserem eigenen Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
der Koalitionsfraktionen auch zum Ausdruck gekommen SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
ist. Der Ausschuss der Regionen hat noch einmal darauf
hingewiesen und selbst die Kommission hat ausgeführt, Tagesordnungspunkt 9 b. Abstimmung über den An-
dass die Strategie EU 2020 von allen nationalen, regio- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1969 mit
nalen und kommunalen Behörden umgesetzt werden dem Titel „Europa 2020 – Ein nachhaltiges Europa nur
sollte. Es wäre nett gewesen, wenn das auch in den An- mit tiefgreifenden Reformen“. Wer stimmt für diesen
trägen der Opposition Ausdruck gefunden hätte. Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist abgelehnt bei Zustimmung der Fraktion Die
Eine allerletzte Bemerkung: Die Prioritäten, die wir
Linke gegen die Stimmen der Koalitionsfraktionen und
jetzt in dieser Strategie setzen, müssen sich natürlich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
auch im Haushalt der Europäischen Union niederschla- SPD-Fraktion.
gen. Dort aber gilt: Wenn wir in allen Mitgliedstaaten
konsolidieren, dann muss die Europäische Union das Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
auch tun. Auch an dieser Stelle braucht es Kohärenz. Wir
können nicht auf europäischer Ebene Wein trinken und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris Gleicke,
den Mitgliedstaaten Wasser predigen. Wir müssen un-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sere Haushalte auf allen Ebenen sanieren.
Langfristige Perspektive statt sachgrundlose
Vielen Dank.
Befristung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Drucksache 17/1769 –
Überweisungsvorschlag:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ich schließe die Aussprache. Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 17/2015. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
(B) Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weite- (D)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1758 mit Befristung von Arbeitsverhältnissen eindäm-
dem Titel „Europa 2020 – Die Wachstums- und Beschäf- men
tigungsstrategie der Europäischen Union braucht realis- – Drucksache 17/1968 –
tische und verbindliche Ziele, hier: Stellungnahme des Überweisungsvorschlag:
Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam- Rechtsausschuss
menarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bun- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
destag in Angelegenheiten der Europäischen Union“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- so beschlossen.
men.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- nerin das Wort der Kollegin Anette Kramme von der
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa- SPD-Fraktion.
che 17/882 mit dem Titel „Europa 2020 – Strategie für
ein nachhaltiges Europa – Gleichklang von sozialer, (Beifall bei der SPD)
ökologischer und wirtschaftlicher Entwicklung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Anette Kramme (SPD):
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen- Manche Tage im Leben sind richtig schön. Ich möchte
stimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktio- diese Gelegenheit nutzen, erst einmal „Emmely“ ganz
nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenom- herzlich zu ihrem Prozesserfolg zu gratulieren.
men.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des L. Kolb [FDP]: Ich habe gewettet, dass Sie da-
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- mit anfangen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4693
Anette Kramme
(A) Das Bundesarbeitsgericht scheint im Rahmen seiner wissen, dass 23 Prozent aller Arbeitnehmer und Arbeit- (C)
Rechtsprechung geblieben zu sein, aber es hat viele nehmerinnen weniger als 8,50 Euro brutto in der Stunde
wichtige Wertungen vorgenommen. Bei der erforderli- verdienen. Befristet Beschäftigte gehören häufig zu den
chen Interessenabwägung im Rahmen einer fristlosen Niedrigverdienern. Es ist so, dass befristet Beschäftigte
Kündigung hat es festgestellt: Erstens. Der Schaden ist dreimal häufiger unter den Niedrigverdienern zu finden
niedrig gewesen. Zweitens. Das Arbeitsverhältnis ist sind als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in einem
langjährig unbeanstandet gewesen. Drittens. Es muss da- sogenannten Normalarbeitsverhältnis.
von ausgegangen werden, dass das zerstörte Vertrauens-
verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin Niedriglöhne sind nicht nur moralisch verwerflich,
wiederhergestellt werden kann. sondern sie gefährden auch die Funktionsfähigkeit des
Sozialstaates: Wer wenig verdient, muss im Fall der
Ich bin mir sicher, dass aufgrund dieser Rechtspre- Arbeitslosigkeit häufig sofort ergänzend Arbeitslosen-
chung viele Untergerichte mutiger werden. Ich bin mir geld II beziehen; wer wenig verdient, zahlt nicht kosten-
sicher, dass nun auch viele andere Arbeitnehmer und Ar- deckende Beiträge in die gesetzliche Krankenversiche-
beitnehmerinnen mit ihren Prozessen Erfolg haben wer- rung ein, und wer wenig verdient, muss im Alter – zu-
den. Trotzdem sollten Sie, meine Damen und Herren von künftig wird das immer häufiger der Fall sein – die
der Koalition, unserem Gesetzentwurf zustimmen. Grundsicherung in Anspruch nehmen.
(Beifall bei der SPD) Gegen den Niedriglohnsektor helfen Mindestlöhne,
Der Gegenstand unserer heutigen Diskussion ist ein aber Mindestlöhne sind nicht ausreichend. Wir müssen
anderer, aber ein genauso wichtiger. Wir alle haben der auch gegen jede Form von prekärer Beschäftigung vor-
Presse und den Studien viele Zahlen zu befristeten Ar- gehen. Dazu gehört auch die Streichung jeglicher sach-
beitsplätzen entnommen. Die Zahlen sind wirklich be- grundloser Befristung.
ängstigend: 50 Prozent aller Neueinstellungen erfolgen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
befristet; insgesamt sind 9 Prozent aller Arbeitsverhält- der LINKEN)
nisse befristet; die Zahlen sind in den letzten Jahren mas-
siv angestiegen; nur 27 Prozent aller befristet Beschäf- Viele Jahre ist immer wieder gesagt worden, befristete
tigten werden anschließend in ein Arbeitsverhältnis Arbeitsverhältnisse würden die Einstellungspraxis von
übernommen, und nur 2,5 Prozent aller Befristungen er- Unternehmen fördern. Aber auch die Hoffnung auf diese
folgen aufgrund eines entsprechenden Wunsches des Ar- Wirkung am Arbeitsmarkt hat sich zerschlagen und ist
beitnehmers oder der Arbeitnehmerin. durch Studien widerlegt worden. Darüber hinaus gibt es
– das müssen wir feststellen, wenn wir ehrlich miteinan-
Das Handlungserfordernis ergibt sich für den Gesetz-
(B) der umgehen – bereits hinreichend Flexibilität für Unter- (D)
geber aufgrund von zwei Gesichtspunkten:
nehmen: Wer einstellt, braucht den Kündigungsschutz
Erstens. Wer befristet beschäftigt ist, macht sich spä- für Arbeitnehmer innerhalb der ersten sechs Monate
testens dann Sorgen um seine Zukunft, wenn das Ende nicht zu fürchten; der Unternehmer, der einen Sachgrund
der Befristung naht. Ein wenig scherzhaft mag ich da sa- für eine Befristung hat, kann sogar für längere Zeit
gen: Wir Abgeordnete müssten da an sich gut mitfühlen befristet einstellen, und selbstverständlich ist auch die
können, da auch wir immer befristete Verträge mit der Einstellung von Leiharbeitnehmern möglich. Allerdings
deutschen Bevölkerung haben. Ich gebe allerdings zu, muss auch auf diesem Gebiet der Gesetzgeber tätig wer-
dass unsere Situation mit Sicherheit viel einfacher, zu- den.
mindest komfortabler ist.
Wir wollen die sachgrundlose Befristung abschaffen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie machen auch
befristete Verträge mit Ihren Mitarbeitern! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum haben
Ausschließlich! Schämen Sie sich!) Sie sie denn eingeführt und ausgebaut?)

Wer befristet beschäftigt ist, macht sich nicht nur Sor- Sie ist eine persönlich unzumutbare und arbeitsrechtlich
gen, sondern hat auch tatsächliche, objektive Probleme: unnötige, einseitige Schlechterstellung der Arbeitneh-
Wie viel schwieriger ist es, eine Entscheidung zugunsten mer und Arbeitnehmerinnen. Die Abschaffung sach-
von Kindern zu treffen? Wie viel schwieriger ist es, ei- grundloser Befristungen wäre ein weiterer Etappensieg
nen Bankkredit zu bekommen, um ein Auto anzuschaf- im Rennen um Arbeitnehmerrechte und charmanter-
fen oder eine Eigentumswohnung zu kaufen? Wie viel weise ohne jegliche finanzielle Auswirkung auf den
schwieriger ist es, eine Weiterbildung oder eine Fortbil- Staatshaushalt.
dung vom Arbeitgeber zu bekommen? Wie viel schwie-
riger ist es, seine Rechte am Arbeitsplatz durchzusetzen, Leider, meine Damen und Herren von der Union,
Betriebsratsmitglied zu werden oder gar bekennendes wollen Sie wie bei Ihrem Sparpaket wieder alles bei Ar-
Gewerkschaftsmitglied zu sein? beitnehmern und Arbeitnehmerinnen abladen. Beim
Sparpaket haben Sie eine komplette Zusammenstrei-
Zweitens. Die befristeten Arbeitsverhältnisse sind chung der aktiven Arbeitsmarktpolitik geplant. Arbeits-
aber nicht nur individuell problematisch, sondern schaf- marktpolitik ist aber Chancenpolitik. Arbeitsmarktpoli-
fen sehr wohl auch volkswirtschaftliche Probleme für tik ist Bildungspolitik für ganz normale Menschen in
diese Gesellschaft. Der Niedriglohnsektor hat sich in den ganz normalen Jobs. Beim Sparpaket werden Eltern im
letzten Jahren sehr besorgniserregend entwickelt. Wir Hartz-IV-Bezug zu Eltern zweiter Klasse herabgesetzt
4694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Anette Kramme
(A) und die Rentenansprüche der Ärmsten nochmals ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
kürzt.
Norbert Blüm prägte diesen Satz 1984 bei der Debatte
Im Arbeitsrecht beobachten wir eine Deregulierung. über das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz.
Offiziell trauen Sie sich nicht an den Kündigungsschutz Mit diesem Gesetz wurde erstmalig die Möglichkeit
heran. Inoffiziell machen Sie in diesem Bereich sehr eröffnet, für die Dauer von einem Jahr befristete Arbeits-
viel. verträge abzuschließen, sachgrundlos und unbürokra-
tisch. Der Erfolg gab Blüm recht. Es kam vermehrt zu
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einmal langsam!
Neueinstellungen. Arbeitslose erhielten eine Chance,
Wer hat denn die befristete Beschäftigung aus-
und zwar nicht nur auf finanzielle Verbesserung, sondern
geweitet? Das war doch Rot-Grün! Meinen
auch auf Teilhabe am Arbeitsmarkt und damit am gesell-
Sie, wir können uns nicht mehr daran erin-
schaftlichen Leben. Denn Arbeit und Würde hängen un-
nern?)
trennbar miteinander zusammen. Das erlebt jeder
Kettenbefristungen sollen wieder möglich werden. Da- schmerzhaft, der außerhalb des Arbeitsmarktes steht.
mit wird der Kündigungsschutz umgangen. Die Fraktion
der CDU/CSU hat ja schon angekündigt, dass man an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die Kündigungsfristen herangehen und das EuGH-Urteil neten der FDP)
nicht einfach so akzeptieren will. Letztlich will man „Lieber befristete Arbeit als unbefristet arbeitslos.“
auch an dieser Stelle den Kündigungsschutz verschlech- Von diesem Grundsatz waren Sie, liebe Kolleginnen und
tern. Kollegen von der SPD, vor einigen Jahren noch zutiefst
Meine Damen und Herren der Koalition, Helmut überzeugt.
Schmidt hat einmal gesagt: „Die Dummheit von Regie- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich erinnere
rungen sollte niemals unterschätzt werden.“ Dieser mich!)
Spruch scheint auf Schwarz-Gelb geradezu gewartet zu
haben. Die Menschen in diesem Lande werden Ihre Poli- Denn gemeinsam mit den Grünen weiteten Sie 2001 und
tik der sozialen Ungerechtigkeit nicht akzeptieren. Des- 2003 das Blüm’sche Befristungsmodell aus.
halb sage ich: Machen Sie mit, und unterstützen Sie un-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da war Frau
seren Antrag.
Kramme schon im Bundestag!)
Vielen Dank.
Das heutige Teilzeit- und Befristungsgesetz trägt Ihre
(Beifall bei der SPD) Handschrift. Es erlaubt einen befristeten Arbeitsvertrag
(B) ohne Sachgrund bis zur Dauer von zwei Jahren, im Fall (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einer Existenzgründung sogar befristet bis zu vier Jah-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von ren. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
der CDU/CSU-Fraktion. Sie hatten erkannt, dass der Arbeitsmarkt mehr Flexibili-
tät braucht; das ist übrigens heute so wie damals. Noch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Frühjahr 2008 gaben 67 Prozent aller Unternehmen
an, sie würden wegen des Kündigungsschutzes auf be-
Gitta Connemann (CDU/CSU): fristete Beschäftigung zurückgreifen. Denn so können
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ge- Betriebe auf konjunkturelle Schwankungen oder andere
schätzte Frau Kollegin Kramme, Sie haben vollkommen kurzfristige Änderungen reagieren.
recht: Ja, heute ist ein schöner Tag, nicht nur, weil die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sonne scheint, nicht nur, weil eine christlich-liberale neten der FDP)
Koalition dieses Land regiert, sondern auch, weil das
Bundesarbeitsgericht bestätigt hat, dass wir ihm ver- Die Unternehmen reagierten mit neuen Jobs. Der Er-
trauen können. Das BAG hat in einem Fall wie folg gab Ihnen also recht, meine Damen und Herren von
„Emmely“ nach sorgfältiger Abwägung eine Einzelfall- Rot-Grün. Der Anteil befristeter Neueinstellungen nahm
entscheidung getroffen. Genau das haben wir Ihrem Ge- zwischen 2001 und 2009 von 32 Prozent auf 47 Prozent
setzentwurf zum Schutz gegen Kündigungen aufgrund zu;
von Bagatelldelikten entgegengesetzt. Ihr Gesetzentwurf
ist durch die Entscheidung des BAG heute unbegründet (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Da war ja
geworden. Ziehen Sie ihn zurück wie Ihren Antrag, den auch Hochkonjunktur!)
Sie heute vorlegen. so lauten die aktuellsten Zahlen des Instituts für Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- markt- und Berufsforschung. Es kommt zu folgendem
neten der FDP – Zuruf der Abg. Brigitte Befund – ich zitiere –:
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Befristet Beschäftigte: Gut positioniert mit Hoff-
Ihr Antrag trägt die Überschrift „Langfristige Per- nung auf Anschluss.
spektive statt sachgrundloser Befristung“. Deshalb ver- Knapp jeder zweite befristet Beschäftigte – Frau Kol-
weise ich auf einen Satz, der sich über viele Jahre hin- legin Kramme, ich bitte Sie, jetzt zuzuhören –
weg bewährt hat: „Lieber befristete Arbeit als unbefristet
arbeitslos.“ (Anette Kramme [SPD]: Ihnen immer gerne!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4695
Gitta Connemann
(A) erhält nach einem Jahr eine unbefristete Anstellung. Ich weil sie arbeitslos waren. Sie konnten nicht in die Ren- (C)
weiß nicht, woher Ihre Zahl stammt. Meine Zahl stammt tenkasse einzahlen, weil ihre Erwerbsbiografie unterbro-
vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. chen wurde. Die befristete Beschäftigung schafft demge-
genüber die Möglichkeit, endlich eine Erwerbsbiografie
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Und das ist zu haben. Umgekehrt wird also ein Schuh daraus. Auch
keine Vorfeldorganisation der FDP, Frau dieses Argument sticht nicht.
Kramme!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Demnach werden 45 Prozent der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in eine unbefristete Beschäftigung Die befristete Beschäftigung wird von Ihnen zu Un-
übernommen. Das heißt, die befristete Beschäftigung ist recht verteufelt. Wenn man sie durch eine strikte Regu-
eine Brücke ins Arbeitsleben. lierung zurückdrängen würde, entstünden keineswegs
automatisch mehr Normalarbeitsverhältnisse. Die Alter-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – native hieße: gar keine Beschäftigung. Damit helfen wir
Anette Kramme [SPD]: Man kann sich auch niemandem.
Illusionen hingeben!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Meine Damen und Herren von der SPD, von Ihrem Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
damaligen Bravourstück wollen Sie heute nichts mehr NEN]: Ganz schwach!)
hören. Jetzt heißt es: Volle Kraft zurück! Begleitet von
Ihren Genossen von der Linken fordern Sie nun: Weg „Lieber befristete Arbeit als unbefristet arbeitslos.“
mit der sachgrundlosen Befristung, und zwar vollstän- Wir, die christlich-liberale Koalition, werden noch beste-
dig! hende Überregulierungen beseitigen, zum Beispiel das
Ersteinstellungsgebot.
Im Wesentlichen führen Sie dafür zwei Argumente
an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erstens. Das Normalarbeitsverhältnis werde ver- Demnach darf ein Betrieb bislang nur einen solchen Ar-
drängt. Gemeinhin versteht man darunter einen unbefris- beitnehmer befristet beschäftigen, der noch nie zuvor in
teten Vollzeitjob. Per Definition werden also Selbst- der Firma gearbeitet hat. Dieses Wiederbeschäftigungs-
ständige, Teilzeitkräfte und befristet Beschäftigte als verbot hat zum Teil absurde Folgen.
atypisch ausgegrenzt, Beispielsweise kann ein Akademiker, der als Student
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für ein Unternehmen gearbeitet hat, dort nicht mehr ohne
(B) NEN]: Nein! Dafür gibt es eine Definition, sachliche Begründung befristet eingestellt werden. (D)
Frau Connemann!) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann sollen die Unternehmen es doch
durch die Wortwohl mancher Kollegen in diesem Haus
einfach begründen!)
übrigens auch als „prekär“ diskriminiert.
Die Betriebe können somit ausgerechnet auf ehemalige
Immer weniger Menschen, so Ihre Behauptung, wür-
Mitarbeiter, deren Leistungsfähigkeit sie gut kennen,
den eine unbefristete Vollzeitstelle finden. Egal wie
nicht zurückgreifen. Ebenfalls betroffen sind die Arbeit-
häufig Sie es wiederholen, liebe Genossinnen und Ge-
nehmer, die in der jetzigen Krise ihren Arbeitsplatz ver-
nossen, das sogenannte Normalarbeitsverhältnis ist
loren haben. Viele Betriebe können wegen der unsiche-
keine aussterbende Gattung. Es gibt keinen Beleg dafür,
ren Lage nach wie vor nicht unbefristet einstellen.
dass die befristete Beschäftigung das normale Arbeits-
Leidtragende sind die Arbeitslosen.
verhältnis abgelöst hat. Vielmehr sagt uns das Statisti-
sche Bundesamt – ich bitte Sie, diese Zahlen zur Kennt-
nis zu nehmen –: Die Zahl der unbefristeten Vollzeitjobs Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
hat sich seit mehr als zehn Jahren bei rund 20 Millionen Frau Kollegin Connemann, kommen Sie bitte zum
eingependelt. In demselben Zeitraum ist die Zahl der Schluss.
Erwerbstätigen um 2,7 Millionen gestiegen. Es wurde
also nicht von normalen zu atypischen Jobs umge- Gitta Connemann (CDU/CSU):
schichtet, sondern es wurde zusätzliche Arbeit geschaf- Die Bundesregierung hat deshalb auf der Grundlage
fen, auch wegen befristeter Stellen. Deshalb bitten wir des Koalitionsvertrages beschlossen, diese Regulierung
Sie, anzuerkennen, dass Ihr Argument uns nicht über- zu streichen. Zukünftig wird die sachgrundlose Befris-
zeugt. tung eines Arbeitsvertrages auch zulässig sein, wenn die
Zweitens. Sie behaupten, befristete Anstellungsver- Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer bereits zuvor bei
hältnisse würden unser soziales Sicherungssystem dem Arbeitgeber beschäftigt war und seit dem Ende der
schwächen. Einen Beleg bleiben Sie schuldig. Die Linke früheren Beschäftigung mindestens ein Jahr vergangen
verweist insoweit pauschal auf die Altersarmut. Alters- ist. Das ist die richtige Politik. Ihre Anträge werden wir
armut gibt es schon heute; das ist vollkommen zutref- ablehnen.
fend. Es gibt sie aber aus anderen Gründen: weil die Vielen Dank.
Betroffenen Kinder betreuen, weil die Betroffenen Äl-
tere gepflegt haben, weil sie einen Minijob haben oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
4696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Diese guten Gründe können ja aber wohl auch genannt (C)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von werden. Grundlose Befristungen eines Arbeitsverhält-
der Fraktion Die Linke. nisses sind deshalb völlig überflüssig.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Um Arbeitnehmer zu beurteilen, gibt es die Probezeit
Jutta Krellmann (DIE LINKE): von drei Monaten. Wenn sie nicht reicht, dann kann sie
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und auf sechs Monate ausgeweitet werden. Das muss dann
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Re- aber auch reichen. Vielleicht sollten Personalchefs und
gierungskoalition ist eine echte Strafe. andere Vorgesetzte nicht ständig von einem Meeting ins
nächste laufen, sondern sich einmal um die neuen Be-
(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder schäftigten kümmern; denn so viele gibt es ja eigentlich
[CDU/CSU]: Die Opposition auch!) nicht.
Ich empfinde das Ansinnen, dass jetzt, anstatt die Men- Wenn ich in Betrieben Arbeitgeber aufgefordert habe,
schen fest zu beschäftigen, auch noch eine weitere unbe- Beschäftigte unbefristet einzustellen, dann habe ich re-
fristete Beschäftigung obendrauf gesetzt werden soll, als gelmäßig zur Antwort bekommen: Wir machen nur das,
eine neue Bedrohung. Das geht nicht, und das gehört in was wir dürfen, wir machen nur das, was im Gesetz
die Kiste mit den Dingen, die nicht in Ordnung sind. steht. – Deshalb muss das geändert und verboten wer-
den.
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Also lieber
arbeitslos!) (Beifall bei der LINKEN)

– Natürlich nicht. Warum werden sie nicht fest beschäf- Befristete Arbeitsplätze bekommen vor allem Frauen,
tigt, Frau Connemann? Warum nicht? junge Menschen und ausländische Mitbürger. Das hat
katastrophale Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.
(Beifall bei der LINKEN) Die Familienplanung dieser Menschen wird erschwert,
die Planungssicherheit wird ihnen genommen, und sie
Ich habe eine hohe Anforderung an Sie alle: Stellen werden durch die Angst vor dem Verlust ihres Arbeits-
Sie sich einmal vor, Sie seien 23 Jahre alt. Ich glaube, platzes oder vor der Nichtverlängerung des befristeten
das fällt einigen schwer, aber versuchen Sie es einfach Vertrages ständig unter Druck gesetzt. Das kostet uns
einmal. Sie haben endlich ihre Ausbildung beendet. Sie eine Menge Geld; denn befristet Beschäftigte zahlen we-
wünschen sich Kinder und dann vielleicht auch eine grö- niger in die Sozialkassen ein, und sie haben nicht die
(B) ßere Wohnung für die Familie. gleichen Aufstiegschancen. (D)
Was gibt man einem jungen Menschen heute in dieser Zwischen den befristeten Verträgen wird „gehartzt“.
Situation? Man gibt ihm ein unbezahltes Praktikum, „Hartzen“ ist ein neues Modewort von jungen Men-
Leiharbeit oder einen befristeten Arbeitsvertrag. Von schen. Sie „hartzen“, wenn sie zwischen ihren befriste-
diesem jungen Menschen erwarten Sie aber, dass er un- ten Verträgen immer wieder auf Hartz IV angewiesen
sere Renten bezahlt, eine Familie gründet und ordentlich sind.
in die Sozialkassen einzahlt. Wie soll das alles gehen?
Das kann doch nicht funktionieren. Ein geringer Lohn und Hartz-IV-Bezug bedeuten Al-
tersarmut. Wovon sollen diese Menschen im Alter le-
(Beifall bei der LINKEN) ben? Es ist eine Milchmädchenrechnung,
Das Beschäftigungsförderungsgesetz – ironischer- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
weise vom Tag der Arbeit, nämlich vom 1. Mai 1985 – NEN]: Milchjungenrechnung!)
war der Start für eine absolut negative Entwicklung. Ich
zu glauben, mit der immer weiteren Ausdehnung befris-
gehöre zu den Personen, die schon vom ersten Tag an,
teter Arbeitsverhältnisse spare man irgendetwas. Im Ge-
seit 1985, gegen die bestehenden Befristungsmöglich-
genteil: Das kommt uns alle irgendwann einmal teuer zu
keiten geschimpft haben, und dabei bleibe ich auch. Alle
stehen. Sie von der schwarz-gelben Koalition
sehen die Entwicklung, die es seitdem gegeben hat, und
das geht schon seit 25 Jahren so. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Christlich-libe-
rale Koalition!)
Jede zweite Stelle, die jetzt besetzt wird, ist eine befris-
tete Stelle. 53 Prozent der Neueinstellungen waren befris- wollen die Verbreitung sachgrundloser Verträge sogar
tet. Damit stehen wir im europäischen Vergleich – über noch ausweiten, wie wir eben gehört haben. Wir wollen
Europa haben wir ja gerade eben diskutiert – wieder ein- sie abschaffen, und das finde ich ganz einfach richtig.
mal absolut schlecht da. (Beifall bei der LINKEN)
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das stimmt Sie zwingen dieser Generation ein Verhalten von
gar nicht!) Egotaktikern mit allen seinen Konsequenzen auf: Ego-
Es gibt möglicherweise gute Gründe für befristete ismus, Entsolidarisierung und Ellenbogenmentalität.
Verträge; das will ich überhaupt nicht abstreiten. Diese jungen Menschen haben gar nicht mehr die
Chance, in dieser Gesellschaft Solidarität und Unter-
(Harald Leibrecht [FDP]: Aha!) stützung kennenzulernen. Sie glauben zu Recht nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4697
Jutta Krellmann
(A) mehr daran, dass sie im Alter eine Rente bekommen, senkt werden und sich gerade für junge Leute in vielen (C)
von der sie leben können. Fällen Beschäftigungschancen eröffnen.
Das ist nicht die Gesellschaft, die wir uns vorstellen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land Pla-
nungssicherheit haben. Wir wollen, dass die Menschen Ich glaube, dass die Möglichkeit der sachgrundlosen
nicht in ständiger Angst leben müssen, ihren Arbeits- Befristung in Deutschland wesentlich dazu beiträgt, dass
platz zu verlieren. es bei uns, etwa im Gegensatz zu Spanien, keine Kultur
des Hire and Fire gibt. Die Möglichkeit der sachgrundlo-
sen Befristung auch über die Wartezeit nach dem Kündi-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gungsschutzgesetz hinaus verhindert, dass Unterneh-
Frau Krellmann, kommen Sie bitte zum Schluss. men dazu gezwungen sind, erst einmal Verträge mit
kurzen Fristen zu schließen. Man kann sich stattdessen
Jutta Krellmann (DIE LINKE): von Anfang an auch über die Frist von sechs Monaten
hinaus binden. Das wird getan, und ich glaube, dass man
Deshalb fordern wir die Streichung der sachgrundlo- insgesamt feststellen kann, dass Unternehmer in
sen Befristung eines Arbeitsverhältnisses und die Strei- Deutschland verantwortungsbewusst mit der Möglich-
chung der sechsmonatigen Befristung zur Erprobung. keit der Befristung umgehen.
(Beifall bei der LINKEN) Liebe Kollegen von der SPD und, wenn ich Sie rich-
tig verstanden habe, Frau Kollegin Krellmann, von den
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Linken, auch Sie wollen nicht mehr und nicht weniger
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der als Sicherheit im Erwerbsleben. Dazu muss man aber
FDP-Fraktion. sehr deutlich sagen, dass es eine solche Sicherheit, die
vielleicht sogar als absolute Sicherheit verstanden wird,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht gibt. Es gibt sie nicht einmal bei den Mitarbeitern
der CDU/CSU) von Abgeordneten, Frau Krellmann. Auch das muss man
ansprechen. Frau Kramme hat gesagt, dass wir einen be-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): fristeten Arbeitsvertrag mit dem deutschen Volk haben.
Das ist richtig. Aber unsere Mitarbeiter haben befristete
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeitsverhältnisse mit uns.
Auch ich will mit einer Anmerkung zum „Emmely“-Ur-
teil beginnen. Frau Kollegin Kramme, für mich ist es (Widerspruch bei der LINKEN)
(B) kein Grund zur Freude, dass sich ein Arbeitgeber nicht (D)
mehr in jedem Fall auf das korrekte Verhalten seiner Wenn es so wäre, wie Sie es darstellen, dann dürfte kein
Mitarbeiter verlassen kann. Durch das heutige Urteil Mitarbeiter eines Abgeordneten verheiratet sein oder
wird mit zunehmender Dauer des Beschäftigungsver- eine Familienplanung angestrebt haben. Gott sei Dank
hältnisses ein Spielraum für pflichtwidriges Verhalten denken die Menschen aber offensichtlich anders, als Sie
eröffnet. es ihnen unterstellen.

Ich mag altmodisch sein, aber für mich ist klar, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
auch die Unterschlagung geringwertiger Güter eine Un- ruf von der LINKEN: Ihre Mitarbeiter haben
terschlagung ist. Wenn der Täter ein seit langen Jahren es in drei Jahren schwer!)
beschäftigter Mitarbeiter ist, dann macht das für mich Es gibt auch keine Sicherheit für Unternehmer bzw.
die Sache eher schlimmer als besser. Der Vertrauens- Arbeitgeber, etwa weil es Finanz- und Wirtschaftskrisen
schaden ist umso größer, gerade weil man so lange zu- ebenso wie Auftragsschwankungen außerhalb von Kri-
sammengearbeitet hat. sensituationen gibt. In Zeiten der Unsicherheit, gerade in
Was im Einzelfall Beifall finden mag – Ihren Beifall der jetzigen Zeit, würde eine Einschränkung der Befris-
hat es wohl gefunden –, ist, glaube ich, eine schwere Be- tungsmöglichkeiten am Ende der Krise, wenn der Auf-
lastung für die Vertrauenskultur in den Unternehmen. schwung einsetzt, aber die Unsicherheit noch groß ist,
Vertrauen ist aber letzten Endes die Basis eines jeden Ar- die Schaffung von neuen Arbeitsverhältnissen erheblich
beitsverhältnisses. Es bleibt abzuwarten, welche Wir- erschweren.
kung dieses Urteil in der Praxis haben wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Was die befristete Beschäftigung anbelangt – damit
komme ich zum Thema –, hat Frau Connemann wichtige Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage
Zahlen genannt. Ich verweise in diesem Zusammenhang der Kollegin Krellmann?
auf die IAB-Studie. Das IAB ist keine Vorfeldorganisa-
tion der FDP, Frau Kramme; es ist ein Institut, das Ihnen Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
regelmäßig sehr entgegenkommt. Wenn dieses Institut Selbstverständlich.
darauf hinweist, dass 50 Prozent der befristeten Arbeits-
verhältnisse zu unbefristeten Verträgen führen, dann
zeigt das, wie wichtig dieses Instrument der Befristung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ist, weil die Zugangsschwellen zum Arbeitsmarkt ge- Bitte schön, Frau Krellmann.
4698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Jutta Krellmann (DIE LINKE): tung insgesamt 48 Monate betragen darf und dass man (C)
Sehr geehrter Herr Kolb, ist Ihnen bekannt, dass es den Arbeitsvertrag in diesem Zeitraum insgesamt sechs-
für den Arbeitgeber in einem solchen Fall die Möglich- mal verlängern kann.
keit gibt, betriebsbedingt zu kündigen?
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wie erklären
Sie das, Frau Krellmann?)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Kollegin Kramme, Sie wissen, dass – – Frau Kollegin Krellmann, gerade weil Sie im Unter-
nehmen aktiv auf der Arbeitnehmerseite gearbeitet ha-
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Krellmann! ben, frage ich Sie, warum die Kollegen von Südwestme-
Danke!) tall wohl einen solchen Tarifvertrag geschlossen haben. –
– Was hatte ich gesagt? Sie haben es getan, weil sie darin die richtige Antwort
auf die Unsicherheiten in der jetzigen Situation gesehen
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Kramme! – haben. Das halte ich auch für richtig.
Anette Kramme [SPD]: Das nehmen Sie zu-
rück! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
FDP) Ich kann nur das unterstreichen, was die Kollegin
– Frau Kollegin Kramme, ich wusste nicht, dass Ihr Ver- Connemann schon gesagt hat: Die Koalition sieht die
hältnis so angespannt ist. Dinge anders als Sie. Wir glauben, dass wir die Möglich-
keit der sachgrundlosen Befristung gerade in der jetzigen
Frau Kollegin Krellmann, um betriebsbedingt kündi- Situation an den Notwendigkeiten der Praxis ausrichten
gen zu können, muss erst einmal eine Einstellung erfolgt sollten. Deswegen haben wir in den Koalitionsvertrag
sein. Das betrifft den Punkt, auf den ich Sie hinweisen geschrieben – ich zitiere –:
wollte: Wir befinden uns jetzt in einer Krise, die hoffent-
lich bald zu Ende geht. Ein Arbeitgeber, der jetzt einen Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von
Auftrag bekommt, muss sich entscheiden, ob er eine Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sachgrund-
neue Mitarbeiterin oder einen neuen Mitarbeiter einstellt lose Befristung nach einer Wartezeit von einem Jahr
oder nicht. Von Kündigung ist zu diesem Zeitpunkt über- auch dann möglich wird, wenn mit demselben Ar-
haupt noch nicht die Rede. beitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestan-
den hat. Mit dieser Neuregelung erhöhen wir Be-
Es geht vielmehr darum, ob diejenigen, die bereits im schäftigungschancen für Arbeitnehmer, verringern
Unternehmen beschäftigt sind, also die Stammbeleg- den Bürokratieaufwand für Arbeitgeber und verhin-
schaft, in dieser Situation Überstunden machen oder ob dern Kettenbefristungen.
(B) jemand, der zurzeit am Arbeitsmarkt außen vor ist, der (D)
langzeitarbeitslos ist, über ein befristetes Beschäfti- Das Kabinett hat diese Absicht in seiner Klausur am
gungsverhältnis die Chance bekommt, neu in ein Unter- 17./18. November des letzten Jahres auf Schloss Mese-
nehmen einzutreten. Das ist die Voraussetzung, um über- berg noch einmal bekräftigt. Für meine Fraktion will ich
haupt über Ihre Frage nachdenken zu müssen, was sehr deutlich sagen, dass wir glauben, dass dies die rich-
geschieht, wenn es später wieder zu Auftragsrückgängen tigen Schritte sind. Wir werden diesen Weg in der Koali-
kommt. tion gemeinsam gehen, auch wenn er Ihnen möglicher-
weise nicht passt.
Mir geht es insbesondere vor dem Hintergrund der en-
denden Krise darum, solche Möglichkeiten zu sehen und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
zu eröffnen. Wer das nicht tut, der handelt aus unserer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sicht unverantwortlich und denkt zu kurz. Deswegen
wollen wir dies ändern.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von
der CDU/CSU) Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Kollegin Krellmann, ich weiß, dass Sie aktive
Gewerkschafterin sind und dass die Tarifautonomie hier Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
im Hause insbesondere auf der linken Seite immer hoch- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein be-
gehalten wird. Ich will aber darauf hinweisen, dass Süd- weglicher und durchlässiger Arbeitsmarkt ist nötig. Er
westmetall mit seinen Tarifpartnern im April 2009, also ist nötig für die Betriebe, aber auch für diejenigen, die
mitten in der Krise, den Tarifvertrag zu Kurzarbeit, Qua- nach einem Arbeitsplatz suchen und vielleicht geringere
lifizierung und Beschäftigung abgeschlossen hat, der die Chancen und Schwierigkeiten beim Zugang zum Ar-
Öffnungsklausel, also die Möglichkeit der tarifvertragli- beitsmarkt haben. Wir sind für Flexibilität und Durchläs-
chen Verlängerung der befristeten Beschäftigung, ge- sigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Aber das darf keine Ein-
nutzt hat. bahnstraße sein. Die Risiken werden, was die befristete
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Beschäftigung angeht, derzeit einseitig den Beschäftig-
ten aufgebürdet. Bei allem Verständnis für die Anforde-
Die Tarifpartner haben darin vorgesehen, dass die Be- rungen, die die Betriebe stellen: Es muss auch das
fristung um insgesamt 24 Monate verlängert werden Sicherheitsbedürfnis der Beschäftigten berücksichtigt
kann, dass die Höchstdauer der sachgrundlosen Befris- werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4699
Brigitte Pothmer
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der zentrale Grund dafür, dass befristete Arbeitsverträge (C)
abgeschlossen werden. Wenn das der Hauptgrund ist,
Bei den befristet Beschäftigten haben wir es tatsäch- kann man das auch als Sachgrund benennen; das gibt es.
lich mit einer Schieflage zu tun. Wenn inzwischen die Die Erprobung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
Hälfte aller Arbeitsverträge, die abgeschlossen werden, ist nämlich eine sachliche Begründung für Befristung,
befristet ist, dann läuft etwas schief. genauso wie zeitlich begrenzte Vertretungen, saisonale
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hat das viel- Arbeitsverhältnisse, einmalige Aufträge oder begrenzt
leicht etwas mit der wirtschaftlichen Situation finanzierte Projekte.
zu tun?) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist unge-
Betroffen davon sind insbesondere die jungen Arbeit- wöhnlich, bei sachgrundlos befristeter Be-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist also ein sehr schäftigung einen Grund anzugeben!)
„junges“ Phänomen. Frau Kramme hat schon die Zahlen Das alles sind Instrumente, die Arbeitgeber und Arbeit-
teilweise genannt. Jeder vierte Arbeitsvertrag, der mit geberinnen zur Verfügung stehen, wenn sie ein Beschäf-
20- bis 25-Jährigen abgeschlossen wird, ist befristet. Bei tigungsverhältnis befristen wollen. Daher brauchen wir
den unter 20-Jährigen sind es sogar 40 Prozent. Dabei zusätzlich keine sachgrundlose Befristung. Ich würde
sind Ausbildungsverträge nicht einmal mitgezählt. Es eine einzige Ausnahme machen, Frau Kramme. Diese
sind damit insbesondere die jungen Leute, die die Folgen Sonderregelung kann bei Unternehmensgründungen
der Krise zu tragen haben; denn es sind ihre Arbeitsver- sinnvoll sein. Gerade bei Unternehmensgründungen gibt
träge, die nicht verlängert werden. Herr Kolb, das ist es ein hohes Maß an Unsicherheit. Auch Arbeitgeber
wirklich keine faire Lastenverteilung. Dem können Sie müssen sich in ihrer Rolle erst einmal erproben. Wenn
eigentlich nicht widersprechen. wir die sachgrundlose Befristung in diesem Bereich ab-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schafften, hätte ich die Befürchtung, dass es zu Einstel-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten lungshemmnissen kommt. Deswegen wollen wir diese
der SPD) Ausnahme bestehen lassen.
Trotz dieser Entwicklung fordern Sie – ich weiß Sie von der CDU/CSU- und FDP-Fraktion wollen das
nicht, ob Sie sich die Zahlen anschauen – eine weitere Wiederbeschäftigungsverbot kippen. Wenn Sie dem Vor-
Deregulierung. Manchmal frage ich mich wirklich, ob schlag zustimmen, der jetzt im Raum steht, dann ist das
Sie gar nichts mehr merken. Sie haben überhaupt keine Wiederbeschäftigungsverbot erledigt; deswegen können
Sensibilität für die Probleme und die Bedürfnisse der Sie ihm eigentlich nur zustimmen.
Menschen, insbesondere der Schwächeren in unserer Ich danke Ihnen.
(B) Gesellschaft. Sie treiben mit Ihrer Politik die Spaltung (D)
auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft zuneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mend voran. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und bei der LINKEN sowie der Abg. Gabriele
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Lange von der
Lösekrug-Möller [SPD])
CDU/CSU-Fraktion.
Ich habe mir die Daten in Ruhe angeschaut und sage Ih-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen: Wir brauchen keinen weiteren Schub für befristete
neten der FDP)
Beschäftigung. Im Gegenteil: Es gibt Korrekturbedarf an
anderer Stelle, und zwar bei den sachgrundlosen Befris-
tungen, die heute zur Diskussion stehen. Ulrich Lange (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber warum hat Liebe begrenzt finanzierte Projekte, die wir alle hier im
das Rot-Grün damals beschlossen? Dabei Rahmen der Befristung der Arbeitsverhältnisse unserer
muss man sich doch etwas gedacht haben!) Mitarbeiter sind! Zum wiederholten Male werden wir
– Wir haben dieses Instrument zur Verfügung gestellt heute Zeugen einer rückwärtsgewandten SPD-Politik.
und schauen nun, wie es genutzt wird. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorwärts,
Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt Missbrauch. Diesen Genossen! Es geht zurück!)
müssen wir beseitigen, und zwar bei der befristeten Be- Wir erleben, dass sich die SPD endgültig von der Reali-
schäftigung genauso wie bei der Leiharbeit. Es stimmt, tät, vom Verantwortungsbewusstsein ihrer Regierungs-
wir haben diese Instrumente zur Verfügung gestellt. zeit verabschiedet hat. Sie träumt von den 1970er-Jah-
Aber das Ergebnis, das wir jetzt haben, war nicht unser ren. Darauf, wovon die Linke träumt, möchte ich heute
Ziel. gar nicht mehr weiter eingehen. Es geht nicht an – wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden es auch nicht zulassen –, das bewährte System
und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb der sachgrundlosen Befristungen aus dem Kanon des
[FDP]: Also bittere Enttäuschung!) deutschen Arbeitsrechts zu streichen. So viel Miss-
brauch, wie Sie es gerade angesprochen haben, liebe
40 bis 50 Prozent aller befristeten Arbeitsverträge Kollegin, wird mit diesem Instrument mit Sicherheit
werden sachgrundlos abgeschlossen. Die Erprobung ist nicht betrieben. Auf die rechtliche Entwicklung will ich
4700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Ulrich Lange
(A) eigentlich nicht weiter eingehen; denn ich habe nur fünf sig ist, wenn der betriebliche Bedarf an der Arbeits- (C)
Minuten. leistung nur vorübergehend ist. Es geht dabei um reine
Kampagnenbetriebe, etwa Erntebetriebe. Schauen Sie
(Anette Kramme [SPD]: Das ist aber schade!)
einmal in Ihre damalige Begründung! Zeigen Sie mir ei-
Kettenarbeitsverhältnissen oder der angeblichen Aus- nen Fall, in dem es mit dieser Sachgrundbefristung mög-
höhlung des Kündigungsschutzes ist schon seit Jahr- lich war, für die notwendige Flexibilität zu sorgen.
zehnten, seit Reichsgerichtszeiten – die erste entspre-
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
chende Entscheidung ist 1932 getroffen worden –,
entgegengewirkt worden. Ich persönlich halte es für verantwortungslos, zu be-
haupten, befristete Arbeitsverhältnisse würden Familien-
Kollegin Kramme, einen Schuh lassen wir uns von Ih-
gründungen erschweren. Das ist nicht richtig.
nen nicht anziehen: dass die Entscheidung des EuGH zu
§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB etwas damit zu tun habe, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
wir den Kündigungsschutz aufweichen wollten. Es geht der FDP – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Na-
hier um die Systemfrage des Alterskriteriums und um türlich ist das so!)
nichts anderes. Erkennen Sie das; sonst werden wir uns
hier noch einmal in die Haare bekommen. – Nein, das ist nicht richtig. Sonst dürfte es viele Fami-
lien hier gar nicht geben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette
Kramme [SPD]: Nicht so aufregen!) Wir dürfen als Politik eines nicht machen: den Ein-
druck vermitteln, dass wir eine arbeitsrechtliche Vollkas-
– Das muss man Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen. kogesellschaft anbieten können. Das gibt es nicht. Das
Sie haben 2001 sicherlich in einem Kraftakt – das war sieht auch die soziale Marktwirtschaft nicht vor.
in Ihren Reihen ja auch umstritten – das Teilzeit- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Befristungsgesetz in Kraft gesetzt. der FDP)
(Anette Kramme [SPD]: Positiv geändert!) Sie sieht im rechtlich zulässigen Rahmen den Abschluss
Es war eine positive Entwicklung. Dafür müssen Sie und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen vor, und
sich heute nicht schämen. nichts anderes – nichts anderes! – regelt das Teilzeit- und
Befristungsgesetz.
(Anette Kramme [SPD]: Wir sehen nur den
zweiten Schritt vor!) „Generation 30“ titelte neulich die Frankfurter Allge-
meine Sonntagszeitung. Da hieß es:
Peinlich ist Ihre erneute Rolle rückwärts.
(B) Die Eltern hatten mit 30 schon Haus, Familie und (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen festen Job. Die Jungen plagt das Gefühl, nie
Die letzten Monate erleben wir eine Rolle rückwärts mithalten zu können. Schade. Denn eigentlich geht
nach der anderen. es dieser Generation 30 doch ziemlich prächtig.
Tun Sie bitte nicht so, als ob befristete Arbeitsverhält- Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich un-
nisse keine vollwertigen Arbeitsverhältnisse wären. terstreichen. Für gut ausgebildete, qualifizierte Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer gibt es in unserem Land
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Fragen Sie doch beste Chancen.
mal die Menschen in den Betrieben!)
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das stimmt
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die befris- nicht! Da gibt es Gegenbeispiele!)
tet beschäftigt sind, stehen sämtliche Rechte zur Verfü-
gung. Das möchte ich in dieser Deutlichkeit sagen. Das Sorgen müssen wir uns um die machen, die ohne Berufs-
geht bis hin zur Möglichkeit, in den Betriebsrat gewählt abschluss und ohne Ausbildung sind.
zu werden. Übersehen Sie bitte nicht die wesentliche (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
Brückenfunktion. Ihren Wert bestreiten nicht einmal Sie
wirklich. Frau Kollegin, mich hat in diesem Zusammen- Deswegen war es richtig, in der Spardiskussion Bildung
hang heute sehr gewundert, dass Sie als Argument ge- und Forschung außen vor zu lassen.
bracht haben, die Zeitarbeit übe eine Brückenfunktion (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das stimmt
aus. Sie sollten in Ihrer Argumentation schlüssiger wer- nicht, was Sie sagen!)
den.
Damit haben wir auch ein Signal gesetzt, nämlich das Si-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immer so, wie es gnal für Beschäftigung; denn die brauchen wir.
passt!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Gleiches gilt für die Flexibilisierungsmöglichkeit.
der FDP)
Auch die Flexibilisierungsmöglichkeit brauchen wir in
unserer Arbeitswelt. Es ist ein Trugschluss, zu behaup- Ich kann nur an Sie appellieren, Kollegin Kramme,
ten, über die Sachgrundbefristung sei die Flexibilisie- nicht populistisch ein erfolgreiches Gesetz über Bord zu
rungsmöglichkeit zu schaffen, die Unternehmen benöti- werfen. Fangen Sie mit dieser Anbiederung nicht an,
gen. § 14 Abs. 1 Ziffer 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz oder, besser, hören Sie damit auf! Machen Sie sich mit
besagt, dass die Befristung eines Arbeitsvertrages zuläs- uns zusammen Gedanken über die Weiterentwicklung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4701
Ulrich Lange
(A) des Teilzeit- und Befristungsgesetzes – eine echte Ich habe mich sehr stark für diesen gemeinsamen An- (C)
Chance für den deutschen Arbeitsmarkt. trag und für eine gemeinsame Beschlussfassung einge-
setzt, weil ich auch schon an dem Bundestagsbeschluss
Herzlichen Dank.
von vor zwei Jahren mitgewirkt habe; damals haben wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ein einstimmiges Votum hinbekommen. Ich halte es für
zwingend notwendig, aber auch für besonders wertvoll,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass wir an diesen Beschluss anknüpfen und als
Ich schließe die Aussprache. Deutschland in Kontinuität auch über die Wahlperioden
hinweg einen solchen konsequenten Walschutz auf inter-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf nationaler Ebene vertreten.
den Drucksachen 17/1769 und 17/1968 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
sind die Überweisungen so beschlossen. geordneten der SPD)
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Ich weiß, dass es noch vor wenigen Wochen Irritatio-
nen im Hinblick auf mögliche Positionen des Landwirt-
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, schaftsministeriums gegeben hat, das innerhalb der Re-
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gierung federführend ist. Mit diesem Antrag können wir
Konsequenten Walschutz fortsetzen und ver- heute eine gemeinsame Position der Bundesregierung,
bessern der Koalitions- wie auch der Oppositionsfraktionen fest-
schreiben, die im Moment viel Anerkennung auch bei
– Drucksache 17/1982 – Naturschutzorganisationen findet, die sich für dieses
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Thema engagieren. Das alles zeigt, dass wir eine ge-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- meinsame Linie vertreten, und das ist wichtig bei diesem
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- Thema.
schlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ner dem Kollegen Ingbert Liebing von der CDU/CSU- NEN])
Fraktion das Wort.
Die heutige Debatte in Vorbereitung auf die IWC-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Konferenz in Agadir nimmt Bezug auf die Arbeit, die in
(B) Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den vergangenen zwei Jahren geleistet wurde. Es geht (D)
NEN]) um eine Reform dieser Organisation, die sich über meh-
rere Jahre hinweg nur blockiert hat und nicht zu einer
Ingbert Liebing (CDU/CSU): echten Lösung gekommen ist. Der bisherige Zustand,
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- dass trotz eines Walfangmoratoriums faktisch kommer-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir zieller Walfang stattfindet, ist unbefriedigend.
heute in diesem Hause schon über viele Stunden hinweg
Nun liegt als Ergebnis von zwei Jahren Verhandlun-
Themen strittig diskutiert haben, freue ich mich, dass wir
gen ein Vorschlag des IWC-Vorsitzenden vor, der sicher-
nun bei einem Thema sind, nämlich dem Schutz der gro-
lich auch einige positive Aspekte enthält; aber insgesamt
ßen Meeressäuger, der Wale, bei dem wir zu einem inter-
wird dieser Vorschlag dem Ziel eines konsequenten Wal-
fraktionellen Antrag, einem Antrag von Koalitions- und
schutzes nicht gerecht. Dieser Vorschlag ist für uns nicht
Oppositionsfraktionen, gekommen sind und heute, so
akzeptabel.
glaube ich, ein breit getragenes Votum dieses Hohen
Hauses für einen konsequenten Walschutz werden abge- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
ben können. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein solches überzeugendes Votum des Deutschen Es kann nicht sein, dass die Tötung gefährdeter Arten,
Bundestages soll zugleich auch Rückhalt geben für die die auf der Roten Liste stehen, legalisiert wird. Dies kön-
Position der Bundesregierung, für unseren Bundes- nen wir nicht akzeptieren. Wir können nicht akzeptieren,
umweltminister Norbert Röttgen, der zur morgigen Sit- dass Walfang in Walschutzgebieten legalisiert wird. Es
zung des EU-Ministerrats zu diesem Thema gemeinsam kann auch nicht sein, dass für eine Übergangsfrist Quo-
mit den Briten eine sehr überzeugende Positionierung ten akzeptiert werden sollen, die höher als das liegen,
vorgelegt hat. Mit dem Rückhalt des gesamten Hauses was in den vergangenen Jahren tatsächlich von einzelnen
wird er dort umso besser argumentieren können. Walfangnationen gefangen und getötet wurde. Wir müs-
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- sen höllisch aufpassen, dass das Handelsverbot für Wal-
NIS 90/DIE GRÜNEN) produkte nach dem Washingtoner Artenschutzabkom-
men CITES nicht unterlaufen wird.
Dies stärkt Deutschlands Position auch für die bevorste-
hende IWC-Konferenz Ende des Monats in Agadir in (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Marokko, wo wir über die Reform dieser Walfangorga- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
nisation sprechen werden. SES 90/DIE GRÜNEN)
4702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Ingbert Liebing
(A) Es gibt viele gute Gründe, den jetzigen Vorschlag ab- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (C)
zulehnen. Wir sind bereit zu Kompromissen. Wenn man und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
eine Lösung bzw. eine Reform der IWC will, muss man
auch kompromissbereit sein. Wir wollen aber keinen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kompromiss um jeden Preis. Es gibt Grundbedingun- Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von
gen, die zwingend erfüllt sein müssen. Das oberste Ziel der SPD-Fraktion.
muss die Perspektive sein, zum endgültigen Ende des
kommerziellen Walfangs zu kommen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Frank Schwabe (SPD):
Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
NEN])
und Herren! Auch wenn man hier nicht zu sentimental
Dies ist eine zwingende Grundbedingung, die bei jedem werden will: Es ist durchaus traurig oder, um es auf
Kompromiss erfüllt sein muss. Deutsch zu sagen, eine unglaubliche Sauerei, was wir
Menschen unserer Mitwelt antun. Die Bilder rund um
Es darf keine Fangquoten für stark bedrohte Arten ge- „Deepwater Horizon“ brennen sich ein, ebenso das Leid
ben, und es darf keinen Fang in Schutzgebieten geben. der Tiere, das damit verbunden ist.
Wir brauchen eine stärkere Reduzierung, eine degressive
Ausgestaltung möglicher Quoten. Der wissenschaftliche Ob man es nun religiös mit dem Schöpfungsgedanken
Walfang darf nicht wie in den vergangenen Jahren miss- begründet, ökonomisch als Vernichtung von Naturres-
braucht werden. Die Einhaltung von CITES muss sicher- sourcen bezeichnet oder verantwortungsethisch argu-
gestellt werden. Wenn dies auf der nächsten Konferenz mentiert gegenüber einer Umwelt und den Mitgeschöp-
in Agadir nicht erreichbar ist, dann lohnt es sich allemal, fen, denen wir zumindest vermeintlich intellektuell
sich noch ein Jahr mehr Zeit zu nehmen, weiterzuarbei- überlegen sind: Das Leben der Menschen auf der Erde
ten und weiter zu verhandeln, um vielleicht ein besseres ist nicht nachhaltig in dem Sinne, dass wir unser Leben
Ergebnis zu erzielen. Das ist allemal sinnvoller, als vor- so gestalten, dass wir noch lange auf dieser einen Welt
schnell ein schlechtes Ergebnis zu akzeptieren. leben können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Man könnte über vieles reden, über Ölverschmut-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zung, Plastikmüll, Überfischung, Vernichtung von Ko-
GRÜNEN) rallen durch klimawandelbedingte Versauerung. Nir-
gends allerdings wird der Umgang mit dem Meer – ich
Dies wird sicherlich keine leichte Aufgabe werden. darf daran erinnern, wir haben heute den Tag des Meeres – (D)
(B) Was Island anbelangt, müssen wir natürlich schon im
so greifbar, so sinnbildlich, so nachfühlbar wie bei dem
Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen ein- Umgang mit den Walen. So wie man den Klimawandel
fordern, dass dieses Land, das in die EU will, die Regu- mit dem Eisbären verbindet, kann man die Geschichte
larien und das Recht der EU akzeptiert – und nicht um- der Gefährdung der Meere anhand des Umgangs mit den
gekehrt. Walen erzählen.
Was Japan anbelangt, wachsen allerdings meine Deswegen sage ich es ganz deutlich: Der Deutsche
Zweifel. Wenn gerade in diesen Tagen, direkt vor der Bundestag ist sich einig, alle fünf Fraktionen – das will
IWC-Konferenz, die Walfangflotte Japans wieder aus- ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen –, dass wir
läuft, um ihr grausames Geschäft zu betreiben, dann ist keinen Walfang wollen, sondern darauf hinarbeiten, dass
das kein gutes Zeichen. Genauso wenig ist es ein gutes der Walfang beendet wird. Ungeachtet dessen, was ein-
Zeichen, wenn gerade in diesen Tagen die Staatsanwalt- zelne Mitglieder der Exekutive verfolgt haben – mein
schaft in Japan gegen Aktivisten von Greenpeace, die ei- Kollege Heinz Paula wird darauf noch eingehen –, sen-
nen Walfangkorruptionsskandal aufgedeckt haben, An- det jedenfalls die Legislative, wir hier im Deutschen
klage erhebt. Diesen Aktivisten werden 18 Monate Haft Bundestag, ein eindeutiges Signal an die Länder der Eu-
angedroht. Das alles sind keine guten Zeichen. Ich baue ropäischen Union und an die Weltgemeinschaft, und wir
darauf, dass, wie bisher auch, das Auswärtige Amt Un- verpflichten die Regierung auf diese Position. Dafür
terstützung leistet. könnte ich vielen danken; ich tue das aber ausdrücklich
Gerade im Jahr 2010, dem Jahr der Biodiversität, ist stellvertretend bei Herrn Kollegen Liebing, der sich um
dies ein Thema, mit dem wir deutlich machen können, die Positionsfindung in den letzten Wochen hier im
dass wir es nicht nur bei Reden belassen, sondern auch Deutschen Bundestag wirklich sehr verdient gemacht
wirklich konsequent für den Artenschutz handeln. Hier hat.
geht es um den Artenschutz der größten marinen Säuge- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
tiere, der Giganten der Meere. Ich würde mich freuen, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
wenn wir heute bei diesem Thema einen einstimmigen Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Sehr nett!
Beschluss des Deutschen Bundestages für einen konse- Wunderbar!)
quenten Walschutz erreichen und gemeinsam mit der
Regierung auf internationaler Ebene die genannten Posi- Meine Damen und Herren, nachdem die Population
tionen vertreten würden. der Wale in jahrzehntelanger rücksichtsloser Jagd bis an
den Rand des Aussterbens dezimiert wurde, entschloss
Herzlichen Dank. sich die Weltgemeinschaft vor knapp 25 Jahren zu einem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4703
Frank Schwabe
(A) grundsätzlichen Walfangverbot; so kann man es zumin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
dest umschreiben. Doch noch immer werden jährlich der CDU/CSU)
über 1 500 Wale gejagt und getötet. Einige wenige Wal-
fangländer unterlaufen seit Jahren das Walfangverbot. Angelika Brunkhorst (FDP):
Ob „wissenschaftlicher“ Walfang oder Walfang für den
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
örtlichen Gebrauch – beides dient als Schlupfloch für ei-
ist gut, dass wir nach vielen Diskussionen in den einzel-
nen letztendlich kommerziellen Walfang. Insbesondere
nen Fraktionen und mit dem Bundesministerium für Er-
Japan und Norwegen unterlaufen das Moratorium
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz einen
schamlos.
gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht haben und
Es ist augenscheinlich, dass sich die Fronten zwi- wir so wie in der Vergangenheit unserem Anspruch treu
schen Walfangländern und denen, die Wale weiter schüt- geblieben sind, für einen umfassenden Walschutz einzu-
zen wollen, mehr und mehr verhärtet haben. Grundsätz- stehen.
lich ist es also richtig, wenn die Internationale Walfang- Es ist das Jahr der biologischen Vielfalt. Gerade Wale
Kommission versucht, nach Jahren erfolglos verlaufen- sind in ihrer Existenz massiv bedroht. Neben dem kom-
der Konferenzen mit einem Kompromiss wieder Dyna- merziellen Walfang sind die Meeressäuger unterschied-
mik in die Verhandlungen zu bringen. In wenigen Tagen lichsten Umwelteinflüssen ausgesetzt; das wissen wir
wird sie in Agadir zur 62. Konferenz zusammenkom- alle. Wir wissen, dass sich die Nahrungsketten verschie-
men. Mit dem vorliegenden Kompromisspapier des ben, dass der CO2-Anstieg zur Versauerung der Meere
IWC-Vorsitzenden ist das deutsche Parlament allerdings führt und sich durch die Klimaerwärmung die Wasser-
nicht einverstanden. temperatur erhöht, was für die Wale natürlich nicht gut
(Beifall bei der SPD) verträglich ist. Auch schädliche Einflüsse durch Einträge
und die Folgen der Überfischung sind nicht zu unter-
In den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass schätzen. Dies führt zu zunehmender Nahrungsknapp-
durch die vorgeschlagene Einführung von Walfangquo- heit. Als Beifang finden viele Kleinwale und Delfine ei-
ten das zumindest teilweise Verbot des Walfangs fak- nen fürchterlichen Tod. Selbst im antarktischen
tisch aufgehoben werden würde. Selbst wenn durch eine Schutzgebiet wird, wie eben schon erwähnt, weiterhin
angedachte Quotenregelung tatsächlich in den nächsten gejagt.
zehn Jahren möglicherweise einige Wale weniger getötet
Aktuell wird Japan von Australien vor dem Interna-
werden würden, so hieße das auf der anderen Seite, dass
tionalen Gerichtshof angeklagt. Unter dem Deckmantel
durch diese Quoten der kommerzielle Walfang durch die
von Wissenschaft und Forschung macht Japan Jagd auf
(B) Hintertür wieder eingeführt würde, und dies ohne klare Zwergwale und sogar auf Finnwale und verwertet das (D)
Ausstiegsperspektive in zehn Jahren, sondern ganz im
Fleisch weiterhin kommerziell. Wir alle sind uns einig:
Gegenteil mit dem Einstieg in ein international akzep-
Nur eine klare und absolute Absage des Walfangs kann
tiertes Quotenmanagement.
letztlich zu einer Verbesserung führen.
Das ist inakzeptabel. Walfang ist grausam, gefährdet (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
die Arten und spielt auch ökonomisch für die Walfang- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
länder, ausgenommen die indigenen Völker, faktisch GRÜNEN)
keine Rolle. Längst gibt es Alternativen, wie man ver-
nünftig mit den Walen umgehen und sie im touristischen Die Internationale Walfang-Kommission hat einen
Bereich durchaus auch ökonomisch nutzen kann. Kompromissvorschlag vorgelegt, der sicherlich gut ge-
meint war, aber leider nur der klägliche Versuch war, alle
Meine Damen und Herren, das Jahr 2010 ist das Jahr Mitglieder in ein Boot zu holen. Es darf nicht sein, dass
der biologischen Vielfalt. In diesem Jahr wird sich zei- der kommerzielle Walfang aufgrund solch eines Kom-
gen, ob die Weltgemeinschaft in der Lage ist, den Verlust promisses wieder in Kauf genommen wird und dass Län-
der biologischen Vielfalt aufzuhalten. Der Schutz der der, die bisherige Vereinbarungen nicht einhalten, quasi
Wale ist ein Lackmustest für Deutschland, für die Euro- noch belohnt werden. Das werden wir nicht mitmachen.
päische Union und für die Weltgemeinschaft. Der Deut- Das ist völlig inakzeptabel. Der Status der bereits heute
sche Bundestag hat in den letzten Wochen und Monaten eingerichteten Schutzgebiete muss unbedingt erhalten
informell und nun heute mit dem vorliegenden Antrag bleiben und darf nicht untergraben werden.
formell alles getan, um die deutsche Regierung in einem
guten Sinne in einer guten Position zu unterstützen, da- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
mit wir in Agadir zu einem guten Abschluss kommen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Deshalb lehnen wir den Kompromissvorschlag ab. Wir
wollen weiterhin die doppelte Absicherung: Wir wollen
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem die Weiterführung des Moratoriums. Zudem muss das
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Washingtoner Artenschutzabkommen weiterhin gelten
und darf nicht unterlaufen werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich kann uns alle nur zu beglückwünschen, dass wir
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Brunkhorst ein sehr klares Votum für die am 21. Juni stattfindende
von der FDP-Fraktion. Konferenz in Agadir vom Bundestag aussenden können
4704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Angelika Brunkhorst
(A) und Herr Röttgen ein klares Votum mit auf den Weg be- schutz müsste doch das Potenzial haben, den Kalten (C)
kommt. Ich hoffe, dass Europa mit einer Stimme spre- Krieg in den Köpfen der CDU/CSU-Fraktion zu been-
chen wird und wir nicht in die Bredouille kommen, dass den.
wir uns enthalten müssen und die Walfangbefürworter
die Oberhand gewinnen. Das darf nicht geschehen. Da- (Beifall bei der LINKEN)
für wird sich auch die FDP weiterhin einsetzen. Kommen wir zum Inhalt. Für mich geht es nach wie
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. vor darum, dass die Ächtung des Walfangs Allgemeingut
wird, gerade auch in Ländern, in denen er praktiziert
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wird. Ich habe nun mehrmals gehört, dass Japans Jugend
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE deutlich weniger Interesse am Walfang hat, als dies die
GRÜNEN) offizielle japanische Politik darstellt. Die Definition des
Walfangs als wissenschaftlich zeigt doch bereits, dass
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der kommerzielle Walfang sonst keine Unterstützung in
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter der Bevölkerung fände. Die Ergebnisse der japanischen
von der Fraktion Die Linke. Walforschung sind allerdings offenkundig so dürftig,
dass sie von keinem internationalen wissenschaftlichen
(Beifall bei der LINKEN) Journal zur Veröffentlichung angenommen wurden. Is-
land ist neben Japan übrigens das zweite Land, das Wal-
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): fang zu angeblich wissenschaftlichen Zwecken betreibt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Dies ist brisant. Hier wird, wie es schon im Antrag steht,
Jahr 1987 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger ei- einiges bei den EU-Verhandlungen zu klären sein. Im-
nen Essay mit dem Titel Böhmen am Meer, geschrieben merhin hat Island 2002 das Internationale Übereinkom-
im Jahr 2006 von einem fiktiven amerikanischen Zei- men zur Regelung des Walfangs unterzeichnet.
tungskorrespondenten namens Timothy Taylor. Darin
„berichtet“ dieser Journalist unter anderem von einer Uns muss klar sein, dass der Schutz von Walen weit
Berliner Konferenz zum Artenschutz, wobei die Mauer mehr ist, als das Bejagen dieser Meeressäuger zu redu-
und der Grenzstreifen nach Auflösung der innerdeut- zieren und möglichst nur noch den indigenen Walfang zu
schen Grenze als Naturschutzgebiet dienen sollen. Es erlauben. Dazu gehört auch der Schutz der Meere vor
werden verschiedene fiktive Aussichten auf die Zukunft Stoffeinträgen, Verschmutzungen, Lärm – vor allem
geboten, wobei die Verwandlung des Geländes der Berli- durch technische Anlagen und Schiffe – und Öl sowie
ner Mauer in ein Biotop fast genau der heutigen Realität vor industrieller Fischerei.
entspricht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(B) (D)
Damit sind wir bei zwei Themen, die der zur Abstim- neten der SPD)
mung stehende Antrag tangiert: beim Thema Arten- Diese Themen bilden ein anspruchsvolles Politikfeld,
schutz und bei der Mauer, die in den Köpfen der Antrag- wenn wir den Walschutz wirklich ernst nehmen wollen.
steller offensichtlich im Gegensatz zur Realität immer Doch die Politik der Bundesregierung verhält sich zu
noch existiert. Die Linke ist nicht deshalb nicht unter nachhaltiger Umweltpolitik genauso – und hier möchte
den antragstellenden Fraktionen, weil sie kein Herz für ich auf den Anfang meiner Rede zurückkommen – wie
Wale hat, sondern deswegen, weil insbesondere die Böhmen zum Meer: Sie ist weit davon entfernt.
CDU/CSU-Fraktion
Dieser Antrag ist aus unserer Sicht durchaus ein
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Mit den großen Schritt in die richtige Richtung. Wir sind nicht so wie
Tieren habt ihr es nicht so!) Sie: Wir stimmen dem Antrag zu, auch wenn wir ihn
in der üblichen undemokratischen und unparlamentari- nicht mit erarbeiten durften. Sie sollten sich aber noch
schen Manier die Existenz der Linken nicht wahrhaben einmal überlegen, mit wem sie in Zukunft Gemeinsam-
will. Darum wurden wir weder bei der Erarbeitung des keiten sehen und mit wem nicht.
Antrages einbezogen, noch gestattete man uns, den An-
Danke.
trag als fünfte Fraktion mit zu unterzeichnen. Das zeigt
wieder einmal Ihre politische Unreife. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Auch wenn wir das langsam gewohnt sind, enttäuscht es
mich immer wieder. Das ist übrigens nicht nur unreif, Das Wort hat nun Cornelia Behm für die Fraktion
sondern auch heuchlerisch; denn in Ihrem Antrag schrei- Bündnis 90/Die Grünen.
ben Sie:
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Um den Verlust der Arten zu bekämpfen, müssen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
national wie international alle Kräfte gebündelt
ist für mich ganz ungewöhnlich, von dieser Stelle aus
werden.
einmal nicht gegen die Regierungsfraktionen zu wettern,
Das ist auch richtig. Auf die Kraft von 76 linken Bun- sondern das Gegenteil zu tun. Im Übrigen tun Sie das
destagsabgeordneten scheinen Sie aber verzichten zu zurzeit untereinander bei anderen Sachverhalten ja ganz
wollen. Ich finde, ein so wichtiges Thema wie der Wal- trefflich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4705
Cornelia Behm
(A) Ich möchte noch einmal in die Geschichte gehen. Das alle zueinanderzuführen, wäre das Vorhaben sicherlich (C)
1986 beschlossene Walfangmoratorium hat seinerzeit trotzdem zum Scheitern verurteilt gewesen.
Wirkung gezeigt. Bis auf Japan, Norwegen und Island,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
die nach wie vor Walfang betreiben, sind deutlich weni-
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
ger Wale gejagt worden. Sie teilen sich aber nach wie
geordneten der SPD)
vor weiter Quoten zu, und nicht nur das: Sie haben auch
weitere Walfangbefürworter geworben. 1986 hatten wir Zum Schluss noch ein paar Überlegungen zu den
33 Länder in der IWC. Durch das Werben der Walfang- Aussichten, bei den IWC-Verhandlungen mit Japan,
befürworter besteht zwar noch keine Gefahr, dass sie die Norwegen und Island ein Ausstiegsszenario vereinbaren
erforderliche Zweidrittelmehrheit stellen, mit der das zu können. Die Aussichten sind sicherlich nicht allzu
Moratorium abgeschafft werden könnte; aber auch die gut. Allerdings besteht die realistische Möglichkeit, dass
Walschutzländer haben inzwischen keine Zweidrittel- Island die Seite der Walfangländer verlässt, wenn es tat-
mehrheit mehr. sächlich der EU beitritt. Japan muss demnächst entschei-
den, ob es ein neues Fabrikschiff baut oder nicht. Wenn
Deutschland gehörte immer zu den Walschutzländern. die Entscheidung gegen den Neubau ausfällt, wird Japan
Es spielte unter Rot-Grün eine Vorreiterrolle und enga- faktisch keine Wale mehr fangen, unabhängig von seiner
gierte sich auch danach aktiv für den Walschutz, übri- offiziellen Position in der IWC. Ohne den japanischen
gens mit voller Rückendeckung des Bundestages. Der Markt wird auch Norwegen den Walfang beenden. Am
Bundestag war es auch, der die Bundesregierung beauf- Ende sieht es für den Stopp des Walfangs vielleicht doch
tragte, in der Arbeitsgruppe der IWC mitzuwirken, und besser aus, als es die festgefahrene Lage in der IWC ver-
zwar mit dem Ziel, die Kuh vom Eis zu holen, das heißt, muten lässt.
Japan, Norwegen und Island Brücken zu bauen, um sich
ohne Gesichtsverlust dem Moratorium anschließen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
können. der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Das Ergebnis löste jedoch – zumindest bei mir – Ent-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
setzen aus. Der Vorschlag des Vorsitzenden sah de facto
eine Aufhebung des Moratoriums vor, nämlich durch of- Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Dieter
fizielle Zuteilung von kommerziellen Walfangquoten an Stier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
diese drei Länder, und zwar für die nächsten zehn Jahre. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Infolgedessen wäre die Wiederaufnahme des internatio- neten der FDP)
nalen Handels mit Walprodukten zu befürchten gewesen.
(B) Wo ein Markt ist, zum Beispiel für Walfleisch als Hun- Dieter Stier (CDU/CSU): (D)
defutter oder für Waltran zur Energieerzeugung, da Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nimmt auch der Walfang wieder zu. Das kann nicht ge- Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem heute vorlie-
wollt sein; das können wir Deutsche nicht wollen. genden fraktionsübergreifenden Antrag „Konsequenten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Walschutz fortsetzen und verbessern“ fordern wir Parla-
und bei der SPD sowie der Abg. Marie-Luise mentarier die Bundesregierung einvernehmlich auf, auf
Dött [CDU/CSU] und Angelika Brunkhorst der 62. Tagung der Internationalen Walfang-Kommis-
[FDP]) sion ein klares Bekenntnis zum Schutz der Wale abzuge-
ben.
Nach ersten ernst zu nehmenden Befürchtungen, dass
Deutschland bei der nächsten IWC-Jahrestagung diesen Wir haben es von den Vorrednern schon gehört: Das
Vorschlägen zustimmen würde, gab es zwischen Bun- bereits 1986 beschlossene Moratorium, das ein Verbot
desministerien, Parlamentariern und Walschutzorganisa- des kommerziellen Walfangs vorsieht, wird seit Jahren
tionen einen intensiven Austausch. Ich erinnere mich an von den drei Walfangnationen Norwegen, Island und Ja-
sehr erregte Wortwechsel. pan systematisch unterlaufen. Allein unter dem schein-
heiligen Deckmantel des sogenannten wissenschaftli-
(Heinz Paula [SPD]: Sehr lebhaft, ja!) chen Walfanges werden gegenwärtig jährlich etwa
1 000 Wale getötet, und das mit steigender Tendenz.
Obwohl wir fraktionsintern und in Abstimmung mit der
Dieses Hinwegsetzen über das Moratorium ist nicht län-
SPD bereits einen Antrag beschlossen hatten, mit dem
ger akzeptabel.
die Bundesregierung aufgefordert werden sollte, diesem
Kompromissvorschlag keinesfalls zuzustimmen, war (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
mir von Anfang an klar, dass nur ein interfraktioneller des Abg. Heinz Paula [SPD])
Bundestagsantrag weiterhelfen würde. Ich muss aber ge-
Der kommerzielle Walfang muss wirksam unterbunden
stehen: Bis zum Schluss war ich unsicher, ob es wirklich
werden.
klappen würde, ob wir zu einem Beschluss kommen
würden, den letztlich auch wir Grüne mittragen können. Nach zweijährigen Beratungen hat der IWC-Vorsitz
Ich bin deswegen sehr froh, dass dies zu guter Letzt ge- am 22. April dieses Jahres den jetzt vorliegenden Kom-
lungen ist. Wir Grüne haben neben den Walschutzorga- promissvorschlag zur Verbesserung des Walschutzes
nisationen sicherlich einen Anteil daran. An dieser Stelle ausgearbeitet. Das Schlupfloch des wissenschaftlichen
möchte ich mich ausdrücklich beim Kollegen Liebing Walfangs soll damit endlich wirksam geschlossen wer-
bedanken. Ohne seinen Einsatz und seine Bemühungen, den. Alle Fänge sollen wieder unter die Kontrolle der
4706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dieter Stier
(A) IWC kommen. Auch sollen die Fänge der Walfangnatio- Berliner Mauer zu tun hat; das muss ich an dieser Stelle (C)
nen insgesamt gegenüber den heutigen Fangzahlen deut- einmal sagen.
lich reduziert werden. Im Grundsatz ist der Versuch der
IWC, einen Kompromiss zu finden, zu würdigen; denn (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
unserer Meinung nach müssen alle Wege und Möglich- CDU/CSU: Mir auch nicht!)
keiten geprüft werden, um dem Schutz der Wale hinrei- Um ehrlich zu sein: In dieser 17. Wahlperiode sind
chend Rechnung zu tragen. mir noch nicht übermäßig viele parteiübergreifende An-
träge im Sinne der Sache begegnet. Deshalb finde ich es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gut und freue mich außerordentlich, dass wir Parlamen-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
tarier mit sichtbarer Geschlossenheit weltweit ein Signal
GRÜNEN)
für den hohen Stellenwert des Walschutzes in Deutsch-
Wie jeder Kompromiss enthält auch das vorliegende land und Europa senden werden. Erfahrungsgemäß wer-
Papier Teile, die von uns nicht uneingeschränkt mitge- den sich viele EU-Länder der deutschen Position an-
tragen werden können. Deshalb muss der vorliegende schließen. Wir können somit in der EU das volle
IWC-Kompromiss in seiner konkreten Ausgestaltung politische Gewicht bei den Verhandlungen im Interesse
noch in folgenden zentralen Punkten modifiziert werden: des Walschutzes in die Waagschale werfen. Deshalb
mein Appell an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Erstens. Der Walfang unter dem Deckmantel der wis- Lassen Sie uns bei den gleich vorgesehenen Abstimmun-
senschaftlichen Forschung muss beendet werden. gen zu diesem Antrag diese Geschlossenheit auch mit ei-
Zweitens. Am Walfangmoratorium muss festgehalten nem gemeinsamen Votum bekräftigen.
werden. Jegliche Vorschläge zur Wiederaufnahme des Erlauben Sie mir am Ende meiner Ausführungen
kommerziellen Walfangs sind deshalb strikt abzulehnen noch eine persönliche Anmerkung. Die Diskussionen
und nicht akzeptabel. und Gespräche im Vorfeld dieses fraktionsübergreifen-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der den Antrags waren sehr oft von Emotionalität und dem
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Festhalten an ideologisch geprägten Standpunkten ge-
SES 90/DIE GRÜNEN) prägt. Gelegentlich wünschte ich mir hier noch mehr
Kompromissbereitschaft auf der Wegstrecke zum ge-
Drittens. Nicht akzeptabel ist für uns auch der Fang meinsamen Ziel. Es liegt mit in unserer Verantwortung,
von bedrohten Arten wie den Finnwalen. In keinem Fall dass alle Walfangnationen und alle Walschutznationen in
darf ein Bestand bejagt werden, wenn nicht vorher der der IWC an einen Tisch gebracht werden, um die gegen-
Wissenschaftsausschuss sein Einverständnis dazu erklärt seitige jahrzehntelange Blockadehaltung endlich aufzu-
(B) hat. brechen. (D)
Viertens. Es ist unbedingt sicherzustellen, dass das Ich wünsche mir von allen beteiligten Akteuren auch
Handelsverbot für Walprodukte des Washingtoner Ar- für zukünftige Verhandlungen ein Stück mehr politi-
tenschutzübereinkommens nicht unterlaufen werden schen Weitblick für das Machbare und weniger für das
kann. Beharren auf ideologischen Positionen. Entscheidend ist
letztlich das Ergebnis. Ich denke, mit dem vorliegenden
Fünftens. Nicht akzeptabel ist Walfang in Walschutz- Antrag haben wir der Bundesregierung ein klares und
gebieten wie dem Südpolarmeer. Japan muss uns ein einvernehmliches Mandat zur Aushandlung eines guten
konkretes Datum für das Ende des Walfangs im Süd- Kompromissvorschlages der IWC erteilt. Ich bitte des-
polarmeer nennen. halb um Ihre Zustimmung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Vielen Dank.
Heinz Paula [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Die Bundesregierung darf in der IWC keinem Kom- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
promissvorschlag zustimmen, der nicht mindestens diese SES 90/DIE GRÜNEN)
Forderungen erfüllt. Wir erwarten von der Bundesregie-
rung, dass sie diese Position in Agadir mit Nachdruck
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
vertritt. Ich bin sehr erleichtert darüber, dass wir dem
deutschen IWC-Kommissar, Herrn Staatssekretär a. D. Kollege Stier, dies war Ihre erste Rede im Deutschen
Lindemann, diesen gemeinsamen Beschluss des Deut- Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten Wün-
schen Bundestages mit auf den Weg nach Agadir geben sche für die weitere Zusammenarbeit!
können. (Beifall)
Ganz besonders begrüße ich dieses deutlich fraktions- Das Wort hat nun Kollege Heinz Paula für die SPD-
übergreifend vorgesehene Votum von der Regierungsko- Fraktion.
alition sowie von SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen.
Es demonstriert eindrucksvoll den Schulterschluss und (Beifall bei der SPD)
eine breite Mehrheit der Parlamentarier über Parteigren-
zen hinweg, wenn es um die Belange dieser Meeressäu- Heinz Paula (SPD):
getiere geht. Liebe Kollegin Bulling-Schröter, mir er- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
schließt sich aber nicht, was Artenschutz mit der Kollegen! Wale sind in der Tat faszinierende Lebewesen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4707
Heinz Paula
(A) und sowohl für unser gesamtes maritimes als auch für heitlicher Beschluss gefasst wird, der bei der nächsten (C)
unser ökologisches System unersetzlich. Herr Schwabe Tagung kraftvoll eingebracht werden kann. Es wäre ver-
und weitere Kollegen haben bereits darauf hingewiesen, heerend, wenn eventuell eine Enthaltung drohen würde.
wie vielfältig die Gefährdung unserer Wale ist. Es liegt Ich möchte sogar dringend darum bitten, dass die Bun-
an uns, den Bestand der Wale zu schützen. Es ist wich- desregierung auf möglichst viele EU-Länder einwirkt,
tig, dass wir Katastrophen wie momentan im Golf von damit selbst bei einer nicht eindeutigen Beschlusslage
Mexiko vermeiden, den Walfang verbieten und dieses auf europäischer Ebene dafür Sorge getragen wird, dass
Verbot auch konsequent durchsetzen. – bei all den Schwierigkeiten, denen wir uns durchaus
bewusst sind – die von uns geforderten Punkte Unter-
Der Kompromissvorschlag der IWC-Arbeitsgruppe stützung finden.
hat uns alle wie ein Schlag getroffen. Der Kompromiss-
vorschlag ist in keinster Weise hinnehmbar. Es wäre die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Legitimation zum Walfang mit Quoten, die deutlich über der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
den momentanen Fangzahlen liegen. Man stelle sich vor: GRÜNEN)
In Schutzgebieten würden bedrohte Arten gefangen. Der
Mein weiterer Appell an die Bundesregierung: Üben
Vorschlag hätte Japan, Norwegen und Island im Nachhi-
Sie enormen Druck auf die Walfangnationen aus. Da ist
nein dafür belohnt, dass sie permanent gegen das beste-
einiges in Bewegung. Wir haben vor kurzem in einem
hende Moratorium verstoßen.
Gespräch mit Island deutlich sehen können, dass umge-
Herr Liebing, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dacht wird. Ich halte es für zwingend erforderlich, dass
dass momentan die japanische Walfangflotte ausläuft. vor der Aufnahme von Gesprächen, was den EU-Beitritt
Ihr angestrebtes Ziel ist der Fang von 260 Walen. Man anbelangt, Island zu einer klaren Position gezwungen
stelle sich vor: Darunter sind über 120 Tiere, deren Art wird, nämlich keinen weiteren Walfang zuzulassen.
bedroht ist.
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
NEN]: Unglaublich!) geordneten der CDU/CSU)
Es wäre unvorstellbar, wenn ein Land, das in den letzten Lassen Sie mich abschließend unterstreichen: Wir
25 Jahren aus wissenschaftlichen Erwägungen heraus alle, das gesamte Haus, werden nicht lockerlassen bei
über 15 000 Wale getötet hat – wissenschaftliche Er- unserem Engagement für die Wale, und wir werden nicht
kenntnisse: null –, durch den ursprünglich vorgelegten aufgeben, bis es endlich geschafft ist, dass keine Tötung
Beschlussvorschlag dafür quasi belohnt würde. eines Wales aus wissenschaftlichen bzw. kommerziellen
(B) Gründen stattfindet. (D)
Ich als Tierschutzbeauftragter bin wie meine gesamte
Fraktion froh darüber, dass die ursprünglichen Überle- Ich bedanke mich sehr herzlich.
gungen im Ministerium aufgrund von massivem Protest (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
von Nichtregierungsorganisationen ad acta gelegt wor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
den sind. Lassen Sie mich in unser aller Namen bei geordneten der CDU/CSU und der FDP)
Greenpeace, bei Pro Wildlife und dem Internationalen
Tierschutz-Fonds bedanken. Herr Liebing, Sie haben
vorhin zu Recht darauf hingewiesen: Es stünde den Japa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nern sehr gut an, auf Klagen gegen Aktivisten von Das Wort hat nun Christel Happach-Kasan für die
Greenpeace zu verzichten. FDP-Fraktion.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der FDP)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Wir finden es sehr positiv, dass alle Parteien dem vor-
bin sehr froh, dass wir uns beim Walschutz einig sind.
liegenden Antrag zustimmen werden. Ich bedanke mich
Ich bin sehr froh, dass wir einen gemeinsamen Antrag
außerordentlich bei allen, die mitgeholfen haben, dass
auf den Weg bekommen haben und damit wie auch in
wir zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen sind.
den Jahren zuvor deutlich machen, dass der Deutsche
Wir haben klare Forderungen aufgestellt, ohne deren
Bundestag hinter dem Ziel steht, die Wale weltweit zu
Einhaltung keinerlei Zustimmung bei der nächsten IWC-
schützen.
Tagung möglich wäre. Ich brauche sie nicht zu wieder-
holen – die Kollegen haben darauf hingewiesen –, auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nicht, dass der Missbrauch des wissenschaftlichen Wal- der CDU/CSU und des Abg. Heinz Paula
fangs abgelehnt wird. [SPD])
Das sind Grundvoraussetzungen, und wir erwarten Seit knapp 25 Jahren gibt es die Internationale Wal-
von der Bundesregierung, dass sie diese in die anstehen- fang-Kommission. Wir müssen feststellen, dass sich
den Beratungen im EU-Ministerrat konsequent gleichwohl die Anzahl der gefangenen Wale in den letz-
einbringt. Wir alle wissen: Europa hat eine zentrale ten zehn Jahren um knapp 100 pro Jahr erhöht hat. Das
Funktion. Mein dringender Appell geht an die Bundesre- ist etwas, dem wir nicht einfach so zusehen dürfen. Es ist
gierung: Sorgen Sie bitte dafür, dass ein möglichst ein- daher richtig, dass ein neuer Ansatz gefunden wird, um
4708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) zu dem Ziel zu kommen, den gesamten kommerziellen Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der (C)
Walfang zu beenden. Das ist das Ziel. Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1982 mit
Wir müssen feststellen, dass wir hinsichtlich der In- dem Titel „Konsequenten Walschutz fortsetzen und ver-
strumente etwas beweglicher werden müssen, weil wir bessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dieses Ziel mit einem Moratorium allein bisher nicht er- dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig
reicht haben. Deswegen müssen wir zu neuen Methoden angenommen.
kommen. Eine neue Methode, die wir in unserem Antrag
erwähnt haben, sind Quoten. Wir alle sind uns aber darin (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
einig, dass wir nur eine stark degressive Gestaltung von und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Quoten in Kauf nehmen können, dass geschützte, vom Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c
Aussterben bedrohte Arten unter keinen Umständen ein- auf:
bezogen werden dürfen und dass in Meeresschutzgebie-
ten selbstverständlich in keiner Weise gefangen werden a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
darf. Nur dann ist dieses Instrument überhaupt akzepta- Roth (Heringen), Axel Schäfer (Bochum),
bel. Dennoch sind Quoten ein Instrument, mit dem wir Dr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abgeord-
im Moment die Hoffnung verbinden, dass wir dahin neter und der Fraktion der SPD
kommen, dass weniger Wale pro Jahr gefangen werden
und wir schließlich auf null kommen. Das ist unser Ziel. zu dem Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion für eine Verordnung des Europäischen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Parlaments und des Rates über die Bürgerini-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- tiative
NISSES 90/DIE GRÜNEN) KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
Wir sollten uns bei der Beratung eines solchen An- hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
trags natürlich auch darüber im Klaren sein, dass Wal- gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
fang nur ein Bedrohungsfaktor für Wale ist und es viele gesetzes
weitere Bedrohungsfaktoren für Wale gibt. Da müssen
wir ansetzen. Ich denke daran, dass nach wie vor rund Europäische Bürgerinitiative bürgerfreund-
300 000 Kleinwale und Delfine in Stellnetzen und Treib- lich gestalten
netzen verenden. Das ist ein grausamer Tod. Da können
wir nicht stehen bleiben. Wir müssen daran denken, dass – Drucksache 17/1975 –
Flussdelfine durch die starke Verschmutzung von Flüs- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (D)
(B) sen nach wie vor bedroht sind, weil ihre Lebensräume
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
zerstört werden. Auch da dürfen wir nicht stehen blei- Konstantin Hunko, weiterer Abgeordneter und
ben. Wir müssen außerdem feststellen, dass der zuneh- der Fraktion DIE LINKE
mende Unterwasserlärm dazu führt, dass es für viele
Wale fast unmöglich ist, Futter zu finden, und dass sie zu dem Vorschlag der Europäischen Kommis-
sich nicht richtig orientieren können. Auch das ist ein sion für eine Verordnung des Europäischen
Thema, das wir angehen müssen. Wir sollten ferner da- Parlaments und des Rates über die Bürgerini-
ran denken, dass starker Schiffsverkehr dazu führt, dass tiative
Wale häufiger Kollisionen mit Schiffen erleiden. Nord- KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
kaper ist zum Beispiel eine Walart, die stark gefährdet ist
und bei Kollisionen immer wieder Opfer ist. hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
– All das müssen wir in Angriff nehmen; denn wir gesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über
sind uns einig: Wir wollen die Wale, die großen Meeres- die Zusammenarbeit von Bundesregierung
säuger, schützen und ihren Bestand erhalten. Wir wollen und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
dafür sorgen, dass die seltenen Arten wieder häufiger der Europäischen Union
vorkommen. Wir wollen die Bedrohung für diese Arten
mildern. Wenn wir uns darin einig sind, dann sollten wir Europäische Bürgerinitiative bürgerfreund-
nicht dabei stehen bleiben, ein Fangverbot aufzulegen, lich gestalten
sondern wir sollten auch an den anderen, die Wale beein-
– Drucksache 17/1967 –
trächtigenden Tatsachen arbeiten und auch diesbezüglich
Abhilfe schaffen. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
Danke schön.
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola
bei Abgeordneten der SPD und des von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu dem Vorschlag der Europäischen Kommis-
Ich schließe die Aussprache. sion für eine Verordnung des Europäischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4709
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Parlaments und des Rates über die Bürgerini- Agenda zu setzen und den Bürgerinnen und Bürgern, (C)
tiative egal ob sie aus Frankreich, Lettland, Ungarn, Deutsch-
KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10 land oder Spanien kommen, die Möglichkeit zu geben,
den EU-Institutionen, insbesondere der Kommission,
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre- das zu sagen, was ihnen wichtig ist.
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes (Beifall bei der SPD)
Europäische Bürgerinitiative – Für mehr Bür- Es kann sich um Fragen des Friedens und der Sicherheit,
gerbeteiligung in der EU Fragen des Verbraucherschutzes und Fragen der Gesund-
heit handeln, viele Themen können auf die Agenda ge-
– Drucksachen 17/1781, 17/2013 – setzt werden.
Berichterstattung: Ich habe gestern von den Kolleginnen und Kollegen
Abgeordnete Thomas Dörflinger der Linkspartei gehört, das, was im Vertrag von Lissabon
Michael Roth (Heringen) stehe, sei eher bescheiden. Ich mahne uns alle: Wir soll-
Dr. Stefan Ruppert ten selbstbewusst und nicht verzagt sein. Wo steht in den
Andrej Konstantin Hunko Verträgen, dass beispielsweise das Europäische Parla-
Manuel Sarrazin ment Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommis-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sion der EU anhört, bevor sie ins Amt berufen werden?
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre All das hat sich das Parlament erkämpft. Genauso kön-
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nen wir jetzt durch eine kritische Begleitung des Gesetz-
gebungsprozesses dieses Projekt zu einem Erfolg führen,
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen das ein hohes Maß an Verbindlichkeit erhält und als Er-
Michael Roth von der SPD-Fraktion das Wort. gebnis eben nicht nur eine mehr oder weniger belanglose
Mitteilung der Kommission nach sich zieht.
Michael Roth (Heringen) (SPD): Vor diesem Hintergrund bin ich von der Koalition
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sehr enttäuscht; das will ich deutlich sagen.
Wir reden über ein Thema, das von Beginn an von der
Sozialdemokratischen Partei mit sehr viel Ernsthaftig- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was?)
keit und Leidenschaft unterstützt wurde. Es geht um die Sie stehen auf der Bremse, nicht auf dem Gaspedal.
große Chance, die Bürgerinnen und Bürger in der Euro- Auch gestern in der Anhörung, in dem Fachgespräch,
päischen Union stärker an diesem Projekt zu beteiligen.
(B) Insofern hätte ich mir gewünscht, dass wir hier im Bun- das wir im Rahmen der Sitzung des Europaausschusses (D)
durchgeführt haben, ist eher über die Bedenken und we-
destag durch eine gemeinsame Stellungnahme belegt niger über die Chancen geredet worden. Ich habe gehört
hätten, dass dies nicht nur ein zentrales Thema für die
– möglicherweise kann Herr Staatsminister Hoyer dies
SPD-Fraktion und die Oppositionsfraktionen insgesamt in einer der nächsten Sitzungen klarstellen –, dass die
ist, sondern dass sich auch die Koalitionsfraktionen in Bundesregierung auch in Brüssel zögert und dass nicht
diesen Prozess einbringen, zumal Herr Staatsminister
deutlich wird, wie wichtig Ihnen das Thema ist. Insofern
Hoyer, wenn ich ihn richtig verstanden habe, uns ermun- hätte ich mir gewünscht, dass wir dem Beispiel Öster-
tert hat, die Bundesregierung aktiv zu begleiten und sie reichs und anderer nationaler Parlamente gefolgt wären
dabei zu unterstützen, die Europäische Bürgerinitiative
und eine fraktionsübergreifende Stellungnahme auf den
zu einem bürgerfreundlichen Instrument werden zu las-
Weg gebracht hätten, um gemeinsam zu erklären: Dieses
sen. Da steht das eine oder andere – das muss ich leider Vorhaben ist uns wichtig. Wir hätten sicherlich einen
sagen – noch aus.
Kompromiss finden können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manuel
DIE GRÜNEN) Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Europäische Bürgerinitiative ist eine Chance Ich will noch einmal die Kernanliegen meiner Frak-
nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für uns Par- tion verdeutlichen; denn einiges, was die EU-Kommis-
lamentarier. Eine europäische Öffentlichkeit, in der die sion in den Verordnungsentwurf geschrieben hat, stößt
Bürgerinnen und Bürger Themen gemeinsam bespre- bei uns auf Kritik. Unser Ziel ist eine bürgerfreundliche,
chen, in der auch gemeinsam gestritten wird, ist das unbürokratische und zügige Umsetzung. Deswegen lau-
beste Mittel gegen Renationalisierung. Das sehen wir tet meine Forderung an die Bundesregierung, im Rat da-
nicht nur an den Wahlergebnissen bei vielen unserer für zu sorgen, das Gesetzgebungsverfahren gemeinsam
Nachbarn. Das sehen wir nicht nur an der relativ starken mit dem Europäischen Parlament zeitnah zum Abschluss
Zurückhaltung, sich der großen europäischen Idee zu zu bringen.
öffnen. Wir sehen das auch im tagtäglichen Handeln und
möglicherweise sogar hier in unseren eigenen Reihen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manuel
Es ist schwieriger geworden für Europa. Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das beste Mittel, um deutlich zu machen, dass wir in Wir fordern eine Herabsetzung der Mindestanzahl der
einem Boot sitzen, ist, Themen, die über die Grenzen des Mitgliedstaaten, die sich an einer solchen Bürgerinitia-
Nationalstaates hinausreichen, auf die gemeinsame tive beteiligen. Bislang schlägt die Kommission ein Drit-
4710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Michael Roth (Heringen)


(A) tel vor. Wir schlagen ein Viertel vor, das heißt sieben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
statt neun Mitgliedstaaten. Wir sind dafür, die Zulässig- neten der FDP)
keitsprüfung frühestmöglich durchzuführen und nicht zu
warten, bis 300 000 Unterschriften gesammelt werden. Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Wir sind auch dafür, dass auf die Angabe der Personal-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ausweisnummer verzichtet werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zu
Wir würden uns freuen, wenn es uns gelänge, den Beginn mit einer Begrifflichkeit aufräumen, die für uns
Zeitraum der Sammlung der Unterschriften von 12 auf in Deutschland missverständlich ist. Wenn wir das Wort
18 Monate zu verlängern; denn es ist schwierig, ver- „Bürgerinitiative“ hören, dann denkt normalerweise je-
schiedene Organisationen in der Europäischen Union der von uns an eine Gemeinschaft von Menschen, die
zusammenzuführen. Deswegen sollten wir hier etwas sich in einem Verein einem bestimmten Thema widmen:
großzügiger sein. Wenn die 1 Million Unterschriften vom Stadtteilfest über die erweiterten Kindergartenöff-
schneller gesammelt werden kann, spricht überhaupt nungszeiten bis hin zu einer Ortsumgehung. Genau das
nichts dagegen, das Verfahren dann zügiger abzuschlie- ist hier nicht gemeint. Gemeint ist das, was wir aus den
ßen. deutschen Länderverfassungen unter dem Stichwort
„Bürgerbegehren“ kennen. Ich will anregen, die Begriff-
(Beifall bei der SPD) lichkeit auch in dieser Debatte zu überprüfen, im Inte-
Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist: Diejenigen, resse derer, die anschließend von diesem Instrument Ge-
die eine Europäische Bürgerinitiative auf den Weg ge- brauch machen können, damit sich niemand etwas
bracht haben, müssen von der EU-Kommission ernst ge- Falsches darunter vorstellt. Ich denke, die Bezeichnung
nommen und respektiert werden. Deswegen sollten vor „Bürgerbegehren“ wäre die sinnvollere Bezeichnung als
einer abschließenden Überprüfung durch die Kommis- „Bürgerinitiative“.
sion die Organisatoren einer Europäischen Bürgerinitia- Ich will zwei Punkte unterstreichen, die der Kollege
tive angehört werden, um die Grundlage noch etwas zu Roth angesprochen hat, weil wir uns da einig sind: Ers-
verbreitern und für ein Stück Ernsthaftigkeit zu sorgen. tens. Das Instrument kann eine Chance sein, wenn wir es
Gestern haben die Kolleginnen und Kollegen von der richtig ausgestalten. Zweitens. Die Chance besteht darin,
Union gesagt, damit würden wir den Lobbyisten Tür und dass wir so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit
Tor öffnen. Das halte ich nun wirklich für maßlos über- herstellen, die wir zumindest im medialen Bereich bis
zogen. Lobbyisten haben in Brüssel schon jetzt direkte zum heutigen Tag so nicht haben. Es besteht, wie der
Zugänge, sowohl zum Rat, zur Europäischen Kommis- Kollege formuliert hat, für die Bürgerinnen und Bürger
(B) sion als auch zum Europäischen Parlament. Die Europäi- auch die Chance, der Kommission zu sagen, was wichtig (D)
sche Bürgerinitiative verleiht gerade denen Ausdruck ist.
und gibt gerade denen eine Chance der Mitwirkung, die
Wenn gestern in dem Fachgespräch im Ausschuss für
möglicherweise nicht über solche Lobbyzugänge verfü-
die Angelegenheiten der Europäischen Union von unse-
gen. Das ist Bürgerfreundlichkeit im besten Sinne des
rer Fraktion und von den Kolleginnen und Kollegen der
Wortes. Ich will dieses Instrument nicht überhöhen.
FDP der eine oder andere kritische Unterton angeklun-
Aber ich sehe darin durchaus eine Chance.
gen ist, dann nicht deswegen, weil wir gegenüber diesem
(Beifall bei der SPD) Instrument prinzipiell skeptisch sind, sondern deswegen,
weil wir schon im Vorfeld, bevor das Instrument schluss-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte uns im endlich greift, klären müssen, welche Risiken und He-
Deutschen Bundestag nicht nur darum gehen, Märkte zu rausforderungen möglicherweise mit diesem Instrument
europäisieren. Es sollte uns vor allem auch darum gehen, verbunden sind. Diese Frage dürfen wir nicht erst dann
Bürgerinnen und Bürger, Projekte und Diskussionen in klären, wenn wir uns bereits im Verfahren befinden.
der Europäischen Union zu europäisieren. Die Europäi-
sche Bürgerinitiative kann dazu einen wichtigen Beitrag Deswegen muss man an dieser Stelle auf ein paar of-
leisten. fene Punkte hinweisen, die wir miteinander beraten müs-
sen:
Insofern fordere ich Sie auf: Geben Sie sich einen
Ruck. Leisten Sie einen Beitrag, dass deutlich wird: In Art. 11 des Vertrages über die Europäische Union
Deutschland und der Deutsche Bundestag stehen hinter wird die Marge von 1 Million Unterschriften genannt.
der Europäischen Bürgerinitiative. Wir wollen, dass sie Ich glaube, deshalb wäre es richtig, wenn die Quote un-
ein wirklich kraftvolles, ernst zu nehmendes Instrument ter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei ei-
wird. Daran müssen wir alle noch ein bisschen arbeiten. nem Drittel und nicht bei einem Viertel liegen würde,
damit die Initiative anschließend auch von einer wirklich
Vielen Dank. breiten Masse getragen wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das, was der Kollege Roth gestern aus dem Fachge-
DIE GRÜNEN) spräch zitiert hat, war insbesondere auch meine Einlas-
sung. Es handelt sich um die Frage an die Expertin und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: an den Experten: Wie stellen wir sicher, dass das Instru-
Das Wort hat nun Thomas Dörflinger für die CDU/ ment, das wohlgemerkt „Bürgerinitiative“ und nicht
CSU-Fraktion. „Verbandsinitiative“ heißt, nicht von Verbänden zur Ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4711
Thomas Dörflinger
(A) tretung von Partikularinteressen missbraucht wird? Das Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
wäre nämlich nicht im Sinne des Erfinders. Ich habe Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
festgestellt, dass beide Experten die Antwort auf diese Kollegen Sarrazin?
Frage schuldig geblieben sind. Im Gegenteil, sie haben
meine Bedenken bestätigt. Sie haben bestätigt, dass es Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
diese Risiken gibt, aber sie haben wenigstens bislang Ja, gerne.
noch keine Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Deswe-
gen ist das ein Punkt, an dem wir noch arbeiten müssen.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich nenne einen weiteren Punkt, der hinzukommt. Es Herr Kollege Dörflinger, Sie haben angesprochen,
war die Rede davon, ob man möglicherweise darauf dass es wünschenswert gewesen wäre, hier etwas Ge-
verzichten könnte, dass man sich in irgendeiner Weise, meinsames zu machen. Haben Sie mitbekommen, dass
beispielsweise durch die Eingabe der Personalausweis- wir mehrfach – auch im Rahmen der Ausschusssitzung –
nummer, identifiziert oder autorisiert. Ein bisschen kom- gesagt haben, dass wir uns gut vorstellen könnten, uns
plizierter und anspruchsvoller, als zwei Freunde bei Fa- über dieses wichtige Thema gemeinsam zu einigen? Auf
cebook anzuklicken, sollte es schon sein; denn das ist diese Aussage hin haben wir von Ihrer Seite auch keine
tatsächlich ein demokratisch legitimiertes Instrument. große Ablehnung erfahren. Insofern finde ich, dass wir
Wir kommen dann natürlich in einen sehr interessan- uns willig genug gezeigt haben, um das einmal so zu for-
ten Bereich, nämlich in den Bereich des Datenschutzes. mulieren, sodass Sie nur noch hätten zugreifen müssen.
Ich kann nur hoffen, dass die Daten, die ich dort eingebe, Dann wären wir alle zusammen vielleicht einen besseren
anschließend nicht bei irgendjemandem landen, der Un- Weg gegangen, als wir ihn so zu gehen vermocht haben.
fug damit treibt. Deswegen ist im Rahmen dieses The- Meine Frage war, ob Sie das mitbekommen haben.
mas noch einmal separat zu beleuchten, wie wir einer-
seits eine Möglichkeit der Identifizierung für die Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Bürgerinnen und Bürger schaffen, andererseits aber den Selbstverständlich habe ich das mitbekommen, so wie
Erfordernissen des Datenschutzes gerecht werden. ich alles mitbekomme, was im Ausschuss für die Ange-
legenheiten der Europäischen Union passiert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Michael Roth [Heringen] [SPD]: Gucken Sie (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Manchmal
einmal, wie wir das bei uns machen! – Manuel ist es besser, wenn man nicht alles mitbe-
Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt!)
gibt ja Vorschläge der Opposition!)
(B) Unsere Reaktion ist durch Sie in diesem Fall aber durch- (D)
Es wäre schön und edel gewesen, wenn der Deutsche aus missverstanden worden. Für mich war es nicht be-
Bundestag, wie der Kollege Roth das eingefordert hat, reits genug an Offerte, dass Sie einen Halbsatz oder ein-
zu einer gemeinsamen Initiative gefunden hätte. Dieses einhalb Sätze in einem Ausschuss gesagt haben. Ich
Begehren teile ich durchaus. Sie hätten dann aber auch hätte schon erwartet, dass Sie, wenn Sie das Ansinnen
die Initiative ergreifen und das Gespräch mit der Koali- ernsthaft verfolgen, tatsächlich den Versuch unterneh-
tion suchen können, men, mit uns ins Gespräch zu kommen, und das nicht
nur zwischen den Tagesordnungspunkten X und Y am
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Oh!)
Rande des Ausschusses irgendwann einmal fallen lassen.
anstatt uns drei unausgegorene Anträge auf den Tisch zu
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Früher ha-
legen, über die wir heute per Abstimmung zu befinden
ben wir das anders gemacht! Da sind wir auf
haben.
die Opposition zugegangen und nicht umge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kehrt! Das ist noch nicht so lange her!)
Mit Blick auf das, was uns die Linksfraktion hier als – Das kann wohl sein, aber in dem konkreten Fall ist das
Antragstext vorgelegt hat, sage ich: Über einen Punkt eben nicht so gelaufen.
müssen wir uns verständigen. Eine Regelung ist, dass
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Sie ha-
die Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen an die Kom-
ben offensichtlich kein Interesse, die Europa-
mission herantragen können. Im Rechtssetzungsprozess
politik gemeinsam zu machen! – Iris Gleicke
innerhalb der Europäischen Union zwischen Rat, Kom-
[SPD]: Das sind Stilfragen!)
mission und Parlament soll sich dadurch nichts ändern.
– Ja, das sind Stilfragen. Das ist richtig, Frau Gleicke.
(Andrej Konstantin Hunko [DIE LINKE]: Das Die Frage ist aber, wer auf welchen Stil pocht, und ich
ist das Problem!) glaube, Sie können dies in diesem Fall nicht für sich in
Wenn man den Text des Antrages der Linkspartei Anspruch nehmen, meine sehr verehrten Damen und
liest, dann kommt man auf die Idee, dass sie die Euro- Herren.
päische Kommission zu einer Poststelle degradieren (Lachen bei der SPD)
will, die für die Eingangsbestätigung bei Bürgeranliegen
zuständig ist, die anschließend auch noch einen An- Wie gesagt, vielleicht wäre es schön gewesen, zu ei-
spruch auf Kostenerstattung für dieses Ansinnen haben. nem gemeinsamen Antrag zu kommen, aber die Anträge,
Das ist auch nicht im Sinne des Erfinders. und zwar nicht nur der Antrag der Linkspartei, sondern
4712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Thomas Dörflinger
(A) auch die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Umgehung europäischer Bürgerbeteiligung durchgesetzt (C)
SPD, zeigen, dass wir inhaltlich sehr weit auseinander wurde. Ich erinnere an die Referenden in Frankreich und
liegen. Ich meine, es ist eine Ergänzung zum politischen den Niederlanden, die dabei umgangen wurden.
Entscheidungsprozess innerhalb der Europäischen
Union, dieses Instrument einzuführen, aber es kann die- Kann mit der Europäischen Bürgerinitiative zum Bei-
sen Prozess nicht ersetzen. Schon in diesem Punkt sind spiel ein europäischer Mindestlohn eingeführt werden,
wir sehr weit auseinander. was nicht nur wir sehr begrüßen würden? Nein, denn das
würde Art. 153 Abs. 5 des Vertrages über die Arbeits-
Deswegen bitte ich um Verständnis, wenn wir den weise der Europäischen Kommission widersprechen.
heute vorliegenden Anträgen nicht folgen können und
uns stattdessen darauf konzentrieren, eigene Interessen Kann damit eine soziale Fortschrittsklausel eingeführt
zu entwickeln. werden, wie sie von den Gewerkschaften gefordert
wird? Nein, denn dazu bräuchte es eine Änderung des
Herzlichen Dank. Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Kom-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mission.
neten der FDP) Kann damit die rechtsstaatlich höchst fragwürdige
EU-Terrorliste aufgehoben werden? Sie gehört zu den
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): schwarzen Listen, die der Rat einsetzt und die dann judi-
Das Wort hat nun Andrej Hunko für die Fraktion Die kative Folgen haben. Nein, denn das fällt nicht in die Zu-
Linke. ständigkeit der Kommission, sondern des Rates.
(Beifall bei der LINKEN) Es bleibt zu befürchten, dass bei diesen eingeschränk-
ten Möglichkeiten der wünschenswerte Effekt hinsicht-
Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE): lich einer Herstellung europäischer Öffentlichkeit und
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ken- der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger äußerst be-
nen das Bild aus dem Feudalismus, wie die Untertanen scheiden sein wird.
am Geburtstag des Königs am Hofe vorstellig wurden
Gerade Sie von der Koalition geben sich mit dem viel
und ihre Sorgen und Nöte darlegten, und war der König
kritisierten Umsetzungsvorschlag der Kommission
milde gestimmt, so konnte es passieren, dass sie Gehör
zufrieden. Um wenigstens das Positive an der Europäi-
fanden und der König großzügig Abhilfe versprach.
schen Bürgerinitiative zu sichern, sollten die Durch-
Nicht viel höher ist das demokratische Niveau der Eu- führungsbestimmungen möglichst bürgerfreundlich ge-
ropäischen Bürgerinitiative, über die wir heute diskutie- staltet werden. Da kann ich Herrn Roth nur zustimmen.
(B) (D)
ren. Ich zitiere gerne aus dem entsprechenden Art. 11 Wir haben ähnliche Vorschläge, die nur etwas weiter ge-
Abs. 4 des Vertrages über die Europäische Union: hen. Wir schlagen zum Beispiel vor, dass das Antragsal-
ter auf 16 Jahre gesenkt wird. Außerdem – das halte ich
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren An- für sehr wichtig – fordern wir ein Klagerecht vor dem
zahl eine Million betragen … muss, können … die Europäischen Gerichtshof, falls die Kommission nach
Europäische Kommission auffordern, im Rahmen einer erfolgreichen Bürgerinitiative keinen Gesetzent-
ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen wurf vorlegt.
zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener
Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Die Europäische
Union bedarf, um die Verträge umzusetzen. Bürgerinitiative wird das strukturelle Demokratiedefizit
der Europäischen Union nicht aufheben. Nichtsdesto-
Um es klar zu sagen: Das ist nicht mehr als ein einge-
trotz begrüßt die Linke diesen kleinen Schritt in Rich-
schränktes Massenpetitionsrecht, ein kleines, aber un-
tung mehr Demokratie in der EU. Es bedarf aber wei-
verbindliches Element partizipativer Demokratie. Es ist
terhin einer demokratischen Neubegründung der
kein Bürgerbegehren, wie Sie gerade gesagt haben, Herr
Europäischen Union mit neuen Grundlagenverträgen.
Dörflinger. Es ist kein plebiszitäres Element und kein
Element direkter Demokratie. (Beifall bei der LINKEN)
Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe selbst vor einigen Frau Merkel hat heute eine Änderung der Grundla-
Jahren in Aachen ein Bürgerbegehren mit initiiert. Wir genverträge gefordert. Dann ist nicht einzusehen, warum
haben Unterschriften gesammelt. Ein Quorum wurde er- dies nicht auch zu mehr Demokratie in der Europäischen
reicht. Es wurde geprüft, und dann musste die Stadt ei- Union, zu mehr Rechten des Europäischen Parlaments
nen Bürgerentscheid organisieren. Wir haben 80 Prozent und zu verbindlichen Rechten der Bürgerinnen und Bür-
gegen die Ratsmehrheit erreicht, und das Bauhaus Eu- ger in Europa führen soll.
ropa, ein Prestigeobjekt, um das es dort ging, wurde
nicht gebaut. Das ist direkte Demokratie, und die brau- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
chen wir auch auf Bundesebene und auf europäischer
(Beifall bei der LINKEN)
Ebene.
(Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erinnere auch daran, dass der Lissabon-Vertrag, Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDP-
durch den der zitierte Artikel eingeführt wurde, unter Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4713

(A) Heinz Golombeck (FDP): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für die Fraktion
FDP-Bundestagsfraktion begrüßt nachdrücklich das Bündnis 90/Die Grünen.
durch den Vertrag von Lissabon geschaffene Instrument
der Europäischen Bürgerinitiative. Die Europäische Bür- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gerinitiative kann einen wesentlichen Beitrag dazu leis- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein vor-
ten, den Bürgerinnen und Bürgern die so oft als techno- eiliges Aufstehen vorhin kam daher, dass es mir ins Blut
kratisch und bürgerfern bezeichnete Europäische Union übergegangen ist, immer nach der Linken zu reden. Aber
näher zu bringen. Es handelt sich hierbei um eine völlig wir haben Hoffnung, dass sich das irgendwann wieder
neue Form der partizipatorischen Demokratie in der EU. ändert.
Sie bietet die Chance, das Entstehen eines transnationa-
len Diskurses zu fördern und den Pluralismus in der EU Herr Hunko, ich habe nur vier Minuten und möchte
zu festigen. mich deshalb nicht zu sehr mit Ihnen auseinandersetzen,
weil Sie bei vielen Punkten des Vorschlags der Europäi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen Kommission Verbesserungspotenzial erkennen.
Aber es trennt uns einmal mehr die grundsätzliche
Gleichzeitig muss die konkrete Ausgestaltung der Eu- Frage, ob man Europa voranbringt, wenn man immer al-
ropäischen Bürgerinitiative sowohl effizient und reali- les schlechtredet oder wenn man sagt, es ist nicht so,
sierbar sein als auch mit den Werten und Grundrechten dass wir keine Kritik hätten, aber wir engagieren uns
der Europäischen Union im Einklang stehen, um einen ernsthaft und frühzeitig für Verbesserungen.
Missbrauch dieses Instruments zu verhindern. Die FDP
steht für Bürokratieabbau und die Vermeidung unnötiger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verwaltungskosten. Um diese zu vermeiden, sollte die und bei der SPD)
Europäische Bürgerinitiative mit nicht zu hohen Hürden Deswegen ist Ihr Vergleich mit einer Massenpetition
ausgestattet und in der Umsetzung bürgernah und prakti- nicht richtig. Unser Anliegen ist, aus der Europäischen
kabel gestaltet werden. Bürgerinitiative mehr als eine Petition zu machen. Wir
wollen, dass das Instrument ernsthaft genutzt wird, um
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mehr daraus zu entwickeln. Es soll der Anfang eines We-
NEN]: Dann schauen Sie doch mal, was die ges sein. Wenn man es jetzt aber in der Art und Weise
Regierung macht!) bewertet, wie Sie es getan haben, dann können diese
Daher ist es uns ein besonderes Anliegen, gewisse Chancen nicht wahrgenommen werden.
(B) Punkte hervorzuheben, die uns für einen Erfolg der Eu- Herr Hunko, ich muss Ihnen zugute halten, dass ich (D)
ropäischen Bürgerinitiative als unvermeidlich erschei- den wesentlichen Teil meiner Redezeit dazu verwenden
nen. Zentral ist die Zulässigkeitsentscheidung. Wir for- will, mich mit Herrn Hoyer und der Koalitionsseite aus-
dern, dass die rechtliche Prüfung der Vereinbarkeit einer einanderzusetzen.
Europäischen Bürgerinitiative mit den Verträgen und der
Charta der Grundrechte sofort nach ihrer Anmeldung be- Ich finde, dass wir eine Riesenchance verpassen. Herr
ginnen muss. Der Verordnungsentwurf der Kommission Golombeck, das, was Sie gerade vorgetragen haben,
sieht eine Prüfung erst nach 300 000 Unterstützungsbe- wird von der Regierung im Rat nicht gemacht. Die Re-
kundungen aus mindestens drei Mitgliedstaaten vor. gierung hat im Rat für Allgemeine Angelegenheiten und
Dies wäre mit einem unnötigen und vermeidbaren Kos- Außenbeziehungen angekündigt, dass sie die Grundla-
ten- und Verwaltungsaufwand verbunden. Zudem sind gen der Kommission gut findet. Ich sehe nicht, dass sich
wir der Ansicht, dass den Organisatoren im Falle einer die Bundesregierung für ein einfacheres Verfahren ein-
ablehnenden Entscheidung bei der Zulässigkeitsprüfung setzt. Ich sehe nicht, dass die Bundesregierung die Zu-
der Rechtsweg offenstehen sollte. Des Weiteren halten lässigkeitsprüfung an den Anfang stellen möchte. Das
wir den Vorschlag der EU-Kommission, die Mindestzahl halte ich für gefährlich. Stellen Sie sich vor: 300 000
für eine Europäische Bürgerinitiative bei einem Drittel Stimmen werden gegen den Walfang oder für sonst was
der Mitgliedstaaten festzulegen, für zu hoch angesetzt Liberales, zum Beispiel für eine Steuererleichterung für
und setzen uns für ein Quorum von einem Viertel ein. Hoteliers
(Heiterkeit)
Sollten diese Punkte in den Verordnungsvorschlag der
Kommission aufgenommen werden, sind wir zuversicht- – solange Sie in Parlamenten sitzen, muss aber niemand
lich, dass die Europäische Bürgerinitiative erfolgreich dafür eine Petition einreichen –, gesammelt, und dann
umgesetzt werden kann. Dieses Instrument wird die Eu- sagt die Kommission: Hier ist ein Komma falsch gesetzt;
ropäische Union mit mehr demokratischer Legitimation das ist falsch formuliert und damit ungültig. – Was glau-
ausstatten und durch direktdemokratische Elemente eine ben Sie, was das bei den Menschen auslöst? „Die in
zivilgesellschaftliche europäische Ebene schaffen, von Brüssel hören nicht auf uns“, das wird die Reaktion sein.
welcher neue positive Impulse für die europäische Inte- Deswegen, Herr Staatsminister Hoyer, setzen Sie sich
gration ausgehen werden. dafür ein, dass die Zulässigkeitsprüfung am Anfang
kommt!
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und bei der SPD)
4714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Manuel Sarrazin
(A) Zum Wahlalter. Gerade junge Menschen sind europa- Parlamentarier, sondern gibt auch den Startschuss für ein (C)
begeistert. Ich war gerade am Wochenende in einer über- echtes europäisches Volksbegehren, die Europäische
parteilichen Funktion beim Bundesausschuss der JEF. Bürgerinitiative. Damit wird den Unionsbürgern erst-
Ich glaube, das Wahlalter bei der Europäischen Bürger- mals in der Geschichte der EU die Möglichkeit einge-
initiative allgemein auf 16 Jahre zu senken, wäre ein räumt, europäische Rechtsvorschriften direkt anzuregen.
Zeichen an diese jungen Menschen, dass sich ihr Enga- Durch die Europäische Bürgerinitiative wird zwar nicht
gement für Europa lohnt. das Initiativmonopol der EU-Kommission angetastet.
Aber diese Initiative setzt ein deutliches Zeichen zur
Zu Datenschutz und Onlinesammelsystemen. Wir ha- Stärkung der Demokratie in Europa. Sie ist ein Meilen-
ben dazu Vorschläge gemacht. Wir wollen nicht, dass je- stein für die Demokratie in Europa.
der Initiator sammeln und dann die online gesammelten
Daten für 7 Euro pro Adresssatz weiterverkaufen kann. Ziel der Europäischen Bürgerinitiative ist, die EU
Wir wollen eine zentrale Lösung. Es bedeutet vielleicht bürgernäher zu machen. Das bedeutet zugleich eine
ein bisschen mehr Bürokratie, wenn es gleich entspre- große Chance für die Weiterentwicklung der europäi-
chend den europäischen Datenschutzstandards organi- schen Integration.
siert wird. Aber es ist notwendig, dass das passiert.
Wir von der CDU/CSU haben immer klargemacht,
Die Quoren sind wichtig. Wir sollten die Quoren dass wir nicht nur ein starkes, sondern vor allem ein bür-
nicht zu hoch setzen. Statt eines Quorums von einem gernahes Europa wollen. Das haben wir in unseren
Drittel der Staaten ist nach meiner Meinung ein Quorum Wahlprogrammen und auch im Koalitionsvertrag festge-
von einem Viertel ausreichend. Aber ganz wichtig ist, schrieben. Mit der Europäischen Bürgerinitiative stellen
dass die Menschen ihre Stimme einfach online abgeben wir nun die Weichen für eine stärkere Einbeziehung der
können. Sonst wird dieses Instrument nicht gut wirken Bürgerinnen und Bürger in Europa. Die Menschen in der
können. Europäischen Union können sich nun mit dieser Initia-
tive Gehör verschaffen und erhalten die Möglichkeit,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbst ein Wort mitzureden. Sie haben es damit in der
und bei der SPD) Hand, zum Motor der europäischen Integration zu wer-
Sehr geehrter Herr Staatsminister Hoyer, ich muss lei- den.
der attestieren: Die politische Bedeutung der Europäi- Damit das Projekt Europäische Bürgerinitiative auch
schen Bürgerinitiative ist von Ihnen nicht erkannt wor- in der Praxis ein Erfolg wird, diskutieren wir derzeit mit
den. Sie sind nicht der Anwalt der Bürgerinnen- und der Europäischen Kommission und unseren europäi-
Bürgerinteressen, sondern bisher leider nur der Anwalt schen Partnern über die Einzelheiten und das konkrete
(B) der Kommission. Das können Sie noch ändern, indem Verfahren zur Ausgestaltung der Bürgerinitiative. Wir (D)
Sie entweder einen der Anträge der Opposition, zumin- sind auf dem richtigen Weg.
dest von SPD und Grünen, beschließen, oder sich für die
von uns vorgelegten Vorschläge im Rat einsetzen. Dann Was wollen wir? Wir wollen, dass die Bürgerinnen
würden wir die Chance nutzen, tatsächlich ein weiteres und Bürger dieses Instrument aktiv nutzen. Der Zugang
Element für ein höheres demokratisches Niveau in der muss daher möglichst einfach gestaltet werden. Ich bin
Europäischen Union zu schaffen. Dann würden wir nicht der Letzte, der hohe bürokratische Hürden fordert. Ich
nur abstrakt darüber reden, dass der Vertrag von Lissa- sehe mich eher als Kämpfer des Bürokratieabbaus auf al-
bon mehr Demokratie ermöglicht, sondern auch konkret len Ebenen.
etwas dafür tun.
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hört der
Danke sehr. Herr Stoiber gern!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Position von CDU/CSU war es von Anfang an, die Euro-
und bei der SPD) päische Bürgerinitiative unbürokratisch, unkompliziert
und praktikabel auszugestalten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf von der SPD: Dann machen Sie das
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU- einmal!)
Fraktion.
– Das machen wir auch.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sie machen
gar nichts!)
Karl Holmeier (CDU/CSU):
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Aber wir müssen natürlich auch darauf achten, dass
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! dieses Instrument nicht missbraucht wird.
Die Bürger Europas als Motor der europäischen Integra- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tion, das wäre doch eine interessante Vorstellung und et- neten der FDP)
was völlig Neues in der Geschichte der Europäischen
Union. Diese Vorstellung ist seit dem Inkrafttreten des Angesichts der politischen Bedeutung, die von der Bür-
Vertrages von Lissabon keineswegs unrealistisch. Sie gerinitiative ausgeht, muss sichergestellt sein, dass die
rückt vielmehr in greifbare Nähe; denn der Vertrag von Unterschriften nicht fingiert werden können. Dies ist
Lissabon verbessert nicht nur die Mitwirkungsrechte der nicht einfach; denn die Nachprüfung von 1 Million Un-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4715
Karl Holmeier
(A) terschriften in ganz Europa ist verständlicherweise eine Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Riesenherausforderung. Ob es sinnvoll ist, wie im An- Das Wort hat nun Kollege Jimmy Schulz für die FDP-
trag der SPD-Fraktion gefordert, auf die Abgabe einer Fraktion.
persönlichen Identifikationsnummer durch Ausweisdo-
kumente zu verzichten, bezweifele ich in diesem Zusam- Jimmy Schulz (FDP):
menhang.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: So machen Damen und Herren! Die Europäische Bürgerinitiative ist
wir es bei den Petitionen im Bundestag doch kein Feigenblatt. Sie ist eine ernst zu nehmende Mög-
auch!) lichkeit der Partizipation. Sie ist mehr als das Petitions-
recht, aber natürlich kein Volksentscheid. Diese Initia-
Wir müssen weiter sicherstellen, dass die Bürgerinitia- tive ermöglicht die direkte demokratische Beteiligung
tive tatsächlich ein Instrument für die Bürgerinnen und der Bürgerinnen und Bürger am Gesetzgebungsverfah-
Bürger wird. Sie darf nicht als populistisches Vehikel ren in der EU. Die Europäische Bürgerinitiative könnte
missbraucht werden. deshalb das sogenannte Demokratiedefizit der EU erheb-
lich reduzieren. Wir sollten diese Chance nutzen.
Die vergangenen Wochen, insbesondere die Diskus-
sion um die Finanzmarkttransaktionsteuer und die Initia- Die Anträge von SPD, Grünen und Linken in ihrer ge-
tive der Kollegen der SPD, haben gezeigt, dass hier eine genwärtigen Ausgestaltung gewährleisten keine Balance
ganz reale Gefahr besteht; insofern habe ich mich schon zwischen Nutzerfreundlichkeit und Schutz vor Miss-
gewundert, Herr Kollege Roth, dass Sie den Hinweis des brauch.
Kollegen Dörflinger gestern im Ausschuss bezüglich der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Missbrauchsgefahr durch Verbände als übertrieben und der CDU/CSU)
unrealistisch dargestellt haben. Wir haben durchaus Ver-
trauen in die Bürgerinnen und Bürger, Herr Kollege, Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu einer Bür-
aber wir wollen niemanden in Versuchung führen, miss- gerinitiative zu ermutigen und zu motivieren. Falsch ist
bräuchlich Einzelinteressen mithilfe der Bürgerinitiative es, sie mit bürokratischen Hemmnissen abzuschrecken.
durchzusetzen. Zum Beispiel darf man nicht verlangen, dass die Organi-
sationen eine Rechtsgrundlage angeben müssen, wenn
Was die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- eine Initiative eingereicht wird. Die Zulässigkeitsprü-
nen angeht, das Mindestalter auf 16 Jahre festzulegen, ist fung sollte so früh wie möglich stattfinden. Dies wäre er-
es sinnvoll, sich hier am mitgliedstaatlich organisierten heblich bürgerfreundlicher und würde den Organisatoren
Wahlrecht für das Europäische Parlament zu orientieren. Kosten und Mühen ersparen. Wird die Zulässigkeit ver-
(B) Die Europäische Bürgerinitiative ist ein demokratisches neint, dann muss es eine Möglichkeit geben, dies über- (D)
Instrument auf europäischer Ebene, und wir sollten hier prüfen zu lassen.
in Europa keine unterschiedlichen Altersgrenzen einfüh- (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Genau!)
ren.
Im Hinblick auf die Sammlung von Unterschriften
Noch eine Bemerkung zum Antrag der Fraktion Die sind wir mit der Kommission einer Meinung, nämlich
Linke. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten in dass es keinerlei Beschränkungen in der Art und Weise
Ihren Anträgen schon Vorschläge machen, die auch mit der Sammlung geben soll. Sehr wichtig ist dabei natür-
dem Lissabon-Vertrag vereinbar sind. Das Initiativmo- lich die Möglichkeit der Sammlung über das Internet.
nopol zur Unterbreitung von Rechtsetzungsvorschlägen Die Frist zur Sammlung von Unterstützungsbekundun-
hat die EU-Kommission. Art. 11 Abs. 4 des neuen EU- gen soll mit der positiven Zulässigkeitsprüfung begin-
Vertrages sieht daher ausdrücklich vor, dass die Unions- nen. Ich glaube, dass eine Frist von 12 Monaten dafür
bürger mit ihren Unterschriften die EU-Kommission ausreichend ist. Die Überprüfung und Authentifizierung
auffordern können, Gesetzgebungsvorschläge zu unter- der Unterstützungsbekundungen sollte in den Mitglied-
breiten. Der Vorschlag für den Gesetzgebungsakt muss staaten geschehen. Die Mitgliedstaaten selbst sollen ent-
also von der EU-Kommission kommen und kann nicht, scheiden, in welcher Form sie dies durchführen wollen.
wie von Ihnen gefordert, von den Bürgern gemacht wer-
den. Das Mindestalter der Unionsbürger für die Beteili-
gung an einer Europäischen Bürgerinitiative soll, wie
Ich komme zum Schluss. Insgesamt sind wir mit dem, von der Kommission vorgeschlagen und vom Europäi-
was von der Europäischen Kommission bisher vorgelegt schen Parlament unterstützt, an das jeweilige Wahlalter
wurde und was wir zurzeit noch diskutieren, auf einem für die Wahlen zum Europäischen Parlament gekoppelt
richtigen und guten Weg. Ich halte daher eine besondere sein. Wer alle staatsbürgerlichen Rechte haben will,
Intervention des Deutschen Bundestages nicht für erfor- muss auch alle staatsbürgerlichen Pflichten übernehmen.
derlich. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die zur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Debatte stehenden Anträge, die ich vor dem Hintergrund
meiner Ausführungen ablehne. Das ist in Deutschland bei der Volljährigkeit der Fall, die
man mit 18 Jahren erreicht. Wir müssen konsistent blei-
Danke schön. ben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Konse-
neten der FDP) quent!)
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Jimmy Schulz
(A) Datenschutz ist bekanntlich ein mir ganz besonders der Resolution 1701 (2006) vom 11. August (C)
wichtiges Thema. Der Schutz der Unterstützerdaten 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1884
muss durch die Organisatoren und die zuständigen Be- (2009) vom 27. August 2009 des Sicherheitsra-
hörden sichergestellt werden. Die personenbezogenen tes der Vereinten Nationen
Daten dürfen nur zum Zweck der Einreichung einer Eu-
ropäischen Bürgerinitiative verwendet werden. Danach – Drucksache 17/1905 –
müssen alle gesammelten Daten vernichtet werden. Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein mutmachen- Rechtsausschuss
der Schritt in die richtige Richtung. Gerade in Zeiten, in Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
denen viele Bürgerinnen und Bürger an der europäischen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Idee wieder zu zweifeln drohen, ist es ein wichtiges und Entwicklung
richtiges Signal in Richtung von mehr Teilhabe, mehr Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Demokratie und mehr Identifikation mit Europa; denn Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
wir sind das Volk. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Vielen Dank. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister des Auswärtigen, Guido Westerwelle, das Wort.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
Wir kommen zur Abstimmung über die drei Stellung- wärtigen:
nahmen gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Abs. 3 des Grundgesetzes zu einem Vorschlag der Euro- ren! Kolleginnen und Kollegen! Die aktuellen Ereignisse
päischen Kommission für eine Verordnung des Europäi- im Nahen Osten zeigen, wie schwierig es ist, politische
schen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitia- Fortschritte im Nahostkonflikt zu erzielen. Wir haben
tive. dies gestern im Auswärtigen Ausschuss ausführlich be-
Zunächst Abstimmung über den Antrag der Fraktion raten und sind uns sicherlich einig darüber, dass es umso
der SPD auf Drucksache 17/1975 mit dem Titel „Euro- wichtiger ist, dass sich die internationale Gemeinschaft
päische Bürgerinitiative bürgerfreundlich gestalten“. und auch Deutschland als Teil dieser Gemeinschaft wei-
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – ter für Frieden und Sicherheit in der Region engagieren.
(B) Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von (D)
Deutschland hat ein vitales strategisches Interesse an
CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Schlüssele-
SPD und Grünen abgelehnt. lemente zur Erreichung dieses übergeordneten Zieles
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der sind die Sicherheit des Staates Israel, die Schaffung ei-
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1967 mit dem Ti- nes lebensfähigen palästinensischen Staates und natür-
tel „Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich ge- lich nicht zuletzt die Stärkung der Souveränität und der
stalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt Stabilität des Libanons.
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Stimmen der Linken mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen abgelehnt. Die innenpolitische Lage des Landes hat sich in den
vergangenen zwei Jahren durch die erfolgreichen Parla-
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
mentswahlen, die Bildung einer Regierung der nationa-
empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
len Einheit unter Ministerpräsident Hariri und die Kom-
der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion
munalwahlen weiter stabilisiert. Deswegen möchte ich
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europäische
hier mit Nachdruck feststellen, dass es außer Zweifel
Bürgerinitiative – Für mehr Bürgerbeteiligung in der
steht, dass zu dieser Stabilisierung auch das UNIFIL-En-
EU“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
gagement der Vereinten Nationen einen entscheidenden
fehlung auf Drucksache 17/2013, den Antrag der Frak-
Beitrag geleistet hat.
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1781
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- In den Gesprächen mit den politischen Spitzen und
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- auch mit den Verantwortlichen von UNIFIL sowie den
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU deutschen Frauen und Männern der Bundeswehr wurde
und FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei auch bei meinem jüngsten Besuch im Libanon deutlich,
Stimmenthaltung der Linken angenommen. wie wichtig derzeit unser Beitrag für den Aufbau eines
eigenständigen libanesischen Küstenschutzes noch ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Bei der UNIFIL-Mandatsverlängerung im letzten De-
Beratung des Antrags der Bundesregierung
zember habe ich auf die damals anstehende Evaluierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- durch die Vereinten Nationen hingewiesen. Diese Evalu-
scher Streitkräfte an der United Nations Inte- ierung hat mittlerweile stattgefunden. Sie ist im Frühjahr
rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage dieses Jahres abgeschlossen worden. Als Ergebnis dieser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4717
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) Überprüfung hat der Generalsekretär der Vereinten Natio- beendet worden sind, Ergebnisse entstehen, wenn wir es (C)
nen zusammengefasst und festgehalten, dass der UNIFIL- nicht schaffen, dass aus den indirekten Friedensgesprä-
Flottenverband vorerst weiter notwendig ist, aber – so chen direkte Friedensgespräche werden, wenn wir all
heißt es dort auch – wie die gesamte Mission nicht unbe- das nicht schaffen, dann wird auch die Mühe der interna-
grenzt fortgesetzt werden kann. tionalen Gemeinschaft nicht die Fortschritte erzielen, die
wir uns alle wünschen – im Interesse der Region, im In-
Hier knüpfen wir jetzt an und beantragen für ein wei- teresse des Staates Israel und ausdrücklich auch im Inte-
teres Jahr ein Mandat zur deutschen Beteiligung am resse eines eigenen palästinensischen Staates, aber eben
UNIFIL-Flottenverband. Ich möchte hier aber auch fest- auch in unserem europäischen Interesse.
halten: Wir schreiben unseren Einsatz vor der Küste des
Libanon nicht einfach fort. Das Mandat hat qualitativ Darum geht es, deswegen beantragen wir dieses Man-
wie quantitativ einen neuen Charakter. Es beinhaltet ex- dat. Es hängt damit eben aufs Engste zusammen, wie wir
pressis verbis auch eine Beendigungsperspektive. alle wissen. Wir bitten um Zustimmung zu diesem neuen
Mandat, das qualitativ und quantitativ geändert worden
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist.
Die personelle Obergrenze für die deutsche Beteili- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
gung am UNIFIL-Flottenverband wird von 800 auf 300
abgesenkt und damit mehr als halbiert. Derzeit sind es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
unter 300 Soldaten, die eingesetzt sind und dort ihren
Dienst leisten. Der Schwerpunkt der deutschen Beteili- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gung am UNIFIL-Flottenverband wird künftig bei der Das Wort hat nun Rolf Mützenich für die SPD-Frak-
Ausbildung der libanesischen maritimen Streitkräfte und tion.
dem Aufbau ihrer Fähigkeiten liegen.
(Beifall bei der SPD)
Das Ziel des deutschen Einsatzes ist es, dazu beizutra-
gen, dass die maritimen libanesischen Streitkräfte den Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Schutz der seeseitigen Grenzen des Landes möglichst Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
bald eigenverantwortlich übernehmen können. Genau das Herr Außenminister, das war heute eine bemerkenswerte
muss der Kern des neuen Mandates sein. Wer eine Been- Begründung für UNIFIL. Ich hätte sie mir vor sechs Mo-
digungsperspektive will, muss dafür sorgen, dass die naten gewünscht,
Kräfte vor Ort in der Lage sind, auch die entsprechenden
Aufgaben zu übernehmen. Deshalb geht es um Ausbil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) dung und Training. Das wurde jetzt als neuer Schwer- DIE GRÜNEN) (D)
punkt dieses Mandates aufgeschrieben. weil die Erkenntnisse, die Sie heute hier noch einmal
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vorgetragen haben, nach meinem Dafürhalten bereits vor
sechs Monaten bekannt waren.
Der Libanon hat auch auf diesem Gebiet seit 2008
deutliche Fortschritte gemacht. Das wissen vor allem die Es ist richtig, man muss Auslandseinsätze immer wie-
Kolleginnen und Kollegen, die es sich vor Ort angesehen der messen. Sie waren auch bei uns damals in der SPD-
haben. Ich glaube, wir sind uns darüber einig: Noch ver- Bundestagsfraktion umstritten, aber wir hatten auch eine
fügen die libanesischen maritimen Streitkräfte eben politische Begründung für dieses Mandat. Was jetzt hier
nicht über die notwendigen umfassenden Fähigkeiten. vonseiten der Bundesregierung präsentiert wurde, ist
nach meinem Dafürhalten ein Novum in der Außenpoli-
Viele von Ihnen waren selbst im Libanon; Sie haben tik, weil zum ersten Mal ein Antrag der Bundesregierung
UNIFIL besucht, und Sie wissen, dass es ausdrücklich vorgelegt wird, um eine Gesichtswahrung für die FDP
nicht nur von der Ausbildung, sondern auch vom Gerät herbeizuführen, die damals in der Opposition wider bes-
her natürlich noch einen Beitrag erfordern wird, damit seres Wissen gegen diesen UNIFIL-Einsatz stimmte.
die seeseitige Grenzsicherung überhaupt funktionieren Damals waren Sie in der Opposition und hatten einen in-
kann. Wenn die bestehenden Lücken geschlossen sein nenpolitischen Tunnelblick auf diese Auslandseinsätze.
werden, wenn also der Libanon seine Seegrenze selbst Ich halte es für fatal, dass Sie jetzt im Umkehrschluss
schützen kann, dann ist es unsere Absicht, diesen Einsatz diese sechs Monate dafür genutzt haben, sozusagen die
zu beenden. falschen Signale in die Region zu senden, insbesondere
wenn es um eine verlässliche deutsche Außenpolitik
Unsere Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband bleibt
geht.
dabei in ein umfassendes Engagement für den Libanon
und die Region eingebettet, das politische, wirtschaftli- Sie haben den Evaluierungsprozess des Generalsekre-
che und gesellschaftliche Maßnahmen umfasst. Denn tärs der Vereinten Nationen angesprochen. Ja, das ist rich-
– auch da wollen wir uns nichts vormachen – wenn wir tig; aber dann hätten Sie auch bemerken müssen, dass der
die Lage in der Region nicht insgesamt entspannen, Generalsekretär der Vereinten Nationen gesagt hat: Jetzt
wenn wir insgesamt keine Fortschritte beim Nahostfrie- brauche ich, weil diese Marinemission so wichtig ist, eine
densprozess schaffen, wenn wir es nicht schaffen, dass Fregatte und ein Patrouillenboot von Bangladesch, die
aus den Proximity-Talks, die glücklicherweise begonnen zusätzliche Maßnahmen zur Sicherung vor der Küste
haben und die aufgrund der klugen Entscheidung von durchführen sollen. Welches Bild gibt Deutschland ge-
Präsident Abbas auch nach den jüngsten Vorfällen nicht genüber den Vereinten Nationen an dieser Stelle ab? Ich
4718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Rolf Mützenich


(A) halte das für fatal, und ich halte es auch für die falschen Die Herausforderungen stehen doch sozusagen vor (C)
Signale in die Region hinein. der Tür. Die Herausforderungen in der arabischen Welt
sind immens. Es gibt dort einen sozialen und wirtschaft-
Es ist richtig, die Bedingungen für Auslandseinsätze lichen Wandel. Es gibt viele junge Menschen, die nach
müssen geschaffen werden. Wahrscheinlich haben wir in Arbeit und sozialer Sicherung schreien, Frauen, die in
den vergangenen Jahren zu wenig darüber diskutiert. Ich ihren Ländern frei werden wollen, die im Grunde ge-
glaube, man muss sich daran messen lassen. Aber genau nommen erwarten, von den Werten und Menschenrech-
das ist bei diesem UNIFIL-Mandat nach meinem Dafür- ten, die wir durchgesetzt haben, zu profitieren. Es geht
halten von Anfang an gemacht worden. Es war ein inter- insbesondere darum, einen Frieden zu schaffen, der dann
nationales Mandat. Die Erfolgsaussichten haben sich ab- fragil wird, wenn es zu Machtwechseln in den arabi-
gezeichnet. Wir wollten eine politische Dynamik in der schen Ländern kommt. Sie sind doch in Ländern gewe-
Region erreichen und mit diesem UNIFIL-Mandat ins- sen, wo wir in den nächsten Monaten oder auch Jahren
besondere wohl auch die deutschen Interessen wahren. sehen werden, was das für das eine oder andere Land be-
Es war doch unumstritten, dass die Vereinten Nationen deutet.
dieses Mandat wollten und dass die Konfliktparteien vor
Ort dieses Mandat sozusagen erfleht haben. Der libane- Ich halte es insbesondere für wichtig – das haben wir
sische Ministerpräsident Hariri war vor einigen Wochen heute Mittag anlässlich der Diskussion über Gaza ange-
bei uns und hat gesagt: Machen Sie etwas aus dieser sprochen –: Wir müssen uns im Deutschen Bundestag
Mission. – Israel ist für diese Mission gewesen. Ich endlich darüber klar werden, wie wir mit neuen politi-
finde, genau das haben Sie in den letzten sechs Monaten schen Strömungen in der arabischen Welt umgehen wol-
aufs Spiel gesetzt. len, insbesondere mit dem politischen Islam. Es ist rich-
tig, dass wir die Hamas für das, was sie im Gazastreifen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tut, kritisieren. Aber dazu gehört genauso, die Hamas
DIE GRÜNEN)
nicht ausschließlich mit dem politischen Islam gleichzu-
Denn was wurde mit dem UNIFIL-Mandat erreicht? setzen. Es gibt in diesem Zusammenhang in Marokko
Das UNIFIL-Mandat hat nach einem heftigen Konflikt, eine ganz andere Strömung im Vergleich zu anderen
der in dieser Region möglicherweise ausgeartet wäre, Ländern.
zum einen eine fragile Waffenruhe gesichert. Das war
wichtig. Zum anderen hat das UNIFIL-Mandat die Sou- Die Hisbollah als Teil des politischen Islam im Liba-
veränität des Libanon gestärkt. Israel hat die Quarantäne non gehört mit zur Regierung. Auch darüber sollte eine
der libanesischen Häfen aufgrund der UNIFIL-Mission Debatte geführt werden. Ein deutscher Außenminister
aufgegeben. muss der Öffentlichkeit und dem Parlament darüber Re-
(B) chenschaft ablegen, wie er in den nächsten vier Jahren (D)
Was war das deutsche Interesse? Den Frieden in der mit diesen Herausforderungen umgehen will.
Region mitzuprägen, weil ein kriegerischer Konflikt un-
mittelbare Auswirkungen auf Europa an den europäi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schen Außengrenzen gehabt hätte. Ich finde, Sie sind vor DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sechs Monaten nicht dem nachgekommen, was erforder- LINKEN)
lich gewesen wäre. Mit der Begründung, die Sie heute Die Hisbollah, die Mitglied der Regierung im Libanon
abgegeben haben, hätten Sie dieses Mandat bereits vor ist, hat zum Beispiel offensichtlich etwas zugelassen,
sechs Monaten fortsetzen können und hätten nicht zu ei- was ich gar nicht erwartet hätte. Mit 12:12 Stimmen hat
ner solchen Unruhe in der Region beigetragen. sich das Kabinett zwar offensichtlich nicht entscheiden
Nach Ihrer Reise in die arabische Welt, die ich für können, gestern im Sicherheitsrat der Resolution zu Iran
richtig gehalten habe, möchte ich sagen: Ich hatte mir zuzustimmen. Aber was bedeutet das? Das bedeutet
gewünscht, dass Sie heute die Gelegenheit nutzen, ein- ganz klar, dass die Hisbollah nicht nur der verlängerte
mal etwas zu Ihrer Außen- und Sicherheitspolitik im Na- Arm des Iran in dieser Region ist, sondern auch natio-
hen und Mittleren Osten zu sagen. Da haben Sie eine nale Interessen des Libanon präsentieren will.
Chance vertan. Es war richtig, diese Reise in die Region
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
zu machen, insbesondere auch nach Syrien zu reisen. Für
LINKEN)
mich stellt sich aber die Frage: Welche Akzente wollen
Sie eigentlich im Nahen und Mittleren Osten als deut- Auch dies gehört zu einer ehrlichen Debatte über die
scher Außenminister und in einer gemeinsamen Außen- Nahostpolitik, insbesondere wenn wir heute über
und Sicherheitspolitik der Europäischen Union setzen? UNIFIL diskutieren.
Kein Wort dazu in den vergangenen Monaten. Das halte
ich wirklich für fatal; denn das ist die Krisenregion, um (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
die wir uns zu kümmern haben. Ich finde, das muss man Ich finde, diese politischen Diskussionen müssen wir
dem Deutschen Bundestag, aber auch der deutschen Öf- in den Ausschüssen, die in der nächsten Woche über das
fentlichkeit erklären. Es wäre wichtig gewesen, entwe- Mandat beraten, führen. Ich würde mich freuen, wenn
der zu sagen: „Ich nehme die Akzente auf, die mein Vor- Sie zumindest dann Rede und Antwort bezüglich eines
gänger Frank-Walter Steinmeier gesetzt hat“ – er hat zum politischen Konzepts für den Nahen und Mittleren Osten
Beispiel das Tor nach Syrien sehr früh aufgestoßen – oder stehen würden.
zu sagen, was man in dieser Region anders machen
sollte. Herzlichen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4719
Dr. Rolf Mützenich
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Generell gilt, egal ob das für den Libanon oder für an- (C)
DIE GRÜNEN) dere Staaten in der Region anzusetzen ist: Die auf Kon-
frontation ausgerichtete Anhäufung von Waffenarsena-
Vizepräsidentin Petra Pau: len dient nicht dem friedlichen Interessenausgleich. Das
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Karl-Theodor ist ein weiterer und auch der maßgebliche Zweck für die-
Freiherr zu Guttenberg. sen Einsatz.

(Beifall bei der CDU/CSU) Es ist ein Verdienst der UNIFIL, zur Deeskalation
beigetragen zu haben – auf See ebenso wie an Land. Das
ist eine Leistung, die nicht hoch genug eingeschätzt wer-
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- den kann. Unser eigener Beitrag bestand und besteht
desminister der Verteidigung: auch darin, die libanesischen Marinekräfte zu einer zu-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nehmend eigenständigen Überwachung des eigenen See-
Herr Kollege Mützenich, Sie haben einen breiten Bogen raumes zu befähigen. So haben wir etwa die Einrichtung
gespannt. von Küstenradarstationen materiell und auch durch prak-
(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: In acht Minuten!) tische Ausbildungshilfe unterstützt. Ich glaube, das war
ein sehr richtiger und maßgeblicher Schritt. Wir haben
Sie haben in acht Minuten einen breiten Bogen gespannt, dem Libanon drei Küstenschutzboote überlassen und de-
der bemerkenswerter Weise zu vier Fünfteln relativ deut- ren Besatzungen mit dem Ziel ausgebildet, die allge-
liche Kritik enthielt. Man fragt sich, wie dann der Weg meine Leistungsfähigkeit der libanesischen Marine zu
von dieser sehr geharnischten Kritik zu einer gemeinsa- erhöhen. Wir sind kontinuierlich in der Ausbildung en-
men Zustimmung zu einem doch von uns allen gagiert gewesen und auch engagiert geblieben.
(Widerspruch bei der LINKEN) Von daher können wir heute in zweifacher Hinsicht
– fast allen, ich weiß; der Protest musste ja gleich kom- eine positive Zwischenbilanz ziehen:
men – oder doch von fast allen für notwendig erachteten Zum einen betrifft das die hilfreiche Rolle der
Mandat aussehen soll. Da wird die Diskussion gesucht UNIFIL-Operation als stabilisierender Faktor im gesam-
werden müssen. ten Nahen Osten. Das ist ein stabilisierender Faktor. Die
Ich darf aber auch sagen: Hier geht es nicht um koali- durch die Entsendung der Maritime Task Force möglich
tionäre Gesichtswahrung, sondern hier geht es tatsäch- gewordene Aufhebung der Seeblockade gegenüber dem
lich darum, die richtigen Signale in die Region zu sen- Libanon wie auch die wirksame Unterbindung des Waf-
den. Und die sendet diese Koalition. Das möchte ich fenschmuggels auf See machen bis heute deutlich, dass
(B) auch noch einmal ausdrücklich sagen. die Präsenz der UNIFIL sehr konkrete Folgen hat. – Es (D)
gab immer wieder die Diskussion über die Frage: Was
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nützt uns das, wenn man überhaupt keine Schmuggel-
erfolge vorweisen kann? Es ist bereits ein Erfolg beim
Sie haben angesprochen, dass es etwas seltsam sei,
dass sich jetzt unterschiedliche Militärs, selbst aus Ban- Kampf gegen den Schmuggel von Waffen und Ähnli-
chem, wenn er auf See tatsächlich nicht mehr stattfindet –
gladesch, beteiligen würden und müssten. Ich halte es
wohl wissend, welche Herausforderungen wir weiterhin
nicht grundsätzlich für ein negatives Signal, wenn eine
Mission der Vereinten Nationen nicht allein auf deutsche auf dem Landweg haben und dass man diese Herausfor-
derungen auch anzunehmen hat.
Beiträge zurückgreifen muss, sondern wenn man bei ei-
nem von allen für richtig erachteten Mandat tatsächlich Zum anderen können wir konstatieren, dass die liba-
auch auf Beiträge anderer zurückgreifen kann. nesische Marine vor allem aufgrund der durch UNIFIL,
aber auch bilateral geleisteten Ausbildungsunterstützung
Wir sind mit der deutschen Marine mittlerweile seit
bereits heute einen Zuwachs an Fähigkeiten erreicht hat,
Oktober 2006 im Rahmen einer UN-Friedenstruppe von
der sich im Ergebnis wiederum entlastend für UNIFIL
heute rund 12 000 Soldaten im UNIFIL-Einsatz. Zuvor
auswirkt. Das zeigt, auch hier sind wir auf dem richtigen
hatte der Sommerkrieg 2006 unsägliches Leid und auch
Weg.
dramatische Zerstörung auf beiden Seiten hervorgerufen.
Die Spannungen im Nahen Osten hatten sich ein weite- Ich bin davon überzeugt, es wäre kontraproduktiv,
res Mal in einem gewaltsamen Konflikt entladen. wenn wir den eingeschlagenen, durch den UN-Sicher-
heitsrat vorgegebenen Kurs nicht weiter verfolgten.
Der Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen
Ganz konkret geht es darum, mit unseren Möglichkeiten
– Herr Kollege Mützenich, Sie haben das auch gesagt –,
den Libanon weiter dabei zu unterstützen, seine Souve-
dass sich seither die innenpolitische Situation im Liba-
ränität zu festigen. Deswegen werden wir die Aktivitäten
non, insbesondere nach den Wahlen und der Bildung ei-
unserer an UNIFIL beteiligten Marinekräfte noch mehr
ner Regierung unter Saad Hariri, auf erfreuliche Weise
auf diesen Ausbildungsaspekt hin konzentrieren. Wir
stabilisiert hat. Das ist eine positive Entwicklung. Wenn
wollen der libanesischen Marine eine Zukunftsperspek-
wir die Region allerdings insgesamt betrachten, besteht
tive geben. Diese Zukunftsperspektive beinhaltet für uns
weiterhin Anlass zur Sorge.
zugleich eine Abzugsperspektive. Wir wollen auch deut-
Es sind sehr wohl aktuelle Punkte aufgegriffen wor- lich machen, dass man gegenüber denjenigen, denen
den, und es ist sehr wohl hier auch der notwendige Bo- man bei der Ausbildung, mit Schutzmechanismen und
gen durch den Kollegen Westerwelle gespannt worden. ähnlichen Dingen hilft, Erwartungen dahin gehend hat,
4720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) dass auch sie Leistungen erbringen, dass sie sich nicht CSU war das viele Jahrzehnte lang eine Selbstverständ- (C)
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag lediglich darauf verlas- lichkeit. Das war keine schlechte Zeit für die deutsche
sen, dass schon immer andere da sein werden. Ich Außenpolitik in dieser Frage.
glaube, das bleibt maßgeblich.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch unsere Fraktion macht es sich nicht leicht: Wir
Wenn wir uns die Fähigkeitslücken der libanesischen diskutieren, wir wägen ab, weil es uns nicht egal ist, was
Marine genau ansehen und prüfen, wo wir sinnvoll hel- in der Welt passiert. Erst recht nach dem Ende des zwei-
fen können, um sie zu schließen, dann erkennen wir: Das ten Libanon-Kriegs, also des Kriegs zwischen der His-
geht von der Optimierung des Küstenradarsystems bis bollah und Israel 2006, war die Entscheidung für einen
hin zu Fragen der Wartung und Instandsetzung. Wir wer- Einsatz der UNO richtig und sinnvoll. Das ist die Posi-
den all das weiterhin in enger Abstimmung mit unseren tion unserer Fraktion, auch wenn es bei uns Differenzen
libanesischen Partnern tun. über die Frage der Mandatierung nach Kap. 6 oder
Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen, dass die Kap. 7 der UN-Charta gibt.
Obergrenze von 800 auf nunmehr 300 Soldaten abge- Trotzdem gibt es bezogen auf dieses Mandat Pro-
senkt wurde. Mit dieser im Vergleich zum bisherigen bleme.
Mandat mehr als halbierten Grenze werden wir zwar
nicht mehr das ganze bisherige Spektrum der potenziell Erstens. Wenn man einerseits Waffenlieferungen an
geforderten Fähigkeiten abdecken können, aber wir blei- die Hisbollah unterbinden muss und andererseits eine
ben handlungsfähig, auch in alternativer Hinsicht. Auch Rüstungskooperation mit Israel betreibt, dann hat man
das ist ein wichtiges und klares Signal. nicht die notwendige Neutralität, die eine deutsche Be-
teiligung an solch einem Einsatz rechtfertigen würde.
In einer Mission, die sowohl mit Blick auf die Wahr-
Deshalb wird die Linksfraktion dieses Mandat ablehnen.
nehmung deutscher Verantwortung unter dem Dach der
Vereinten Nationen als auch im Kontext der Situation im (Beifall bei der LINKEN)
Nahen Osten von größerer Bedeutung ist, leisten wir un-
ter dem Strich einen äußerst konstruktiven Beitrag. Die- Zweitens. Seine Grenzen zu schützen und Waffenlie-
jenigen, die dem UNIFIL-Mandat und unserem Beitrag ferungen an die Hisbollah zu unterbinden, muss Libanon
weiterhin kritisch gegenüberstehen, darf man immer bald selbst leisten. Deshalb begrüßen wir die Anstren-
wieder daran erinnern, dass nicht alleine Libanon uns gungen von Ministerpräsident Hariri mit dem Ziel des
darum bittet, weiterhin diesem Mandat nachzukommen, Aufbaus eigener Kapazitäten. Es ist an der Zeit, ein Ende
sondern gerade auch Israel und dass wir damit einen dieser in wichtigen Teilen erfolgreichen UNIFIL-Mis-
(B) übergreifend wichtigen Beitrag zur Stabilisierung dieser sion zu planen. Das war – Kollege Mützenich hat darauf (D)
Region leisten. Ich darf Sie diesbezüglich um Ihre Un- Bezug genommen – vor sechs Monaten, als wir das
terstützung bitten. letzte Mal hier darüber gesprochen haben, die Begrün-
dung des Außenministers dafür, nur ein sechsmonatiges
Vielen Dank. Mandat zu beantragen. Nun wird erneut eine Mandats-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verlängerung beantragt. Da war die FDP wohl beim
Wechsel von der Oppositions- in die Regierungsrolle ein
wenig blauäugig.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Frak- Am Schluss möchte ich dem Außenminister zustim-
tion Die Linke. men: Das ganze Thema kann man nicht isoliert betrach-
ten. Libanon und der Nahe Osten insgesamt brauchen
(Beifall bei der LINKEN)
eine Friedenslösung auf Basis des Völkerrechts. Das gilt
für alle Beteiligten, auch für Israel. Das muss im Ernst-
Stefan Liebich (DIE LINKE): fall von der UNO durchgesetzt werden, wie es in diesem
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Fall geschieht.
Wir Deutschen sind nach dem von uns verschulde- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
ten Zweiten Weltkrieg … deutlich weniger kriegs-
bereit … Diese Lehre gelernt zu haben ist weiß Gott (Beifall bei der LINKEN)
keineswegs verwerflich!
Das hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt bei der Vizepräsidentin Petra Pau:
Vorstellung seiner Afghanistan-Thesen gesagt. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Frithjof Schmidt.
Die Beteiligung Deutschlands an einem UN-Einsatz
wird in allen Fraktionen kritisch diskutiert.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):
NEN]: Was hat das mit Krieg zu tun?)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei Bündnis 90/Die Grünen und der Sozialdemokrati- Wir führen diese Debatte auch vor dem Hintergrund der
schen Partei war bis Mitte der 90er-Jahre ganz klar, dass aktuellen Krise, der israelischen Blockade von Gaza. Im
es eine Zurückhaltung geben muss. Bei FDP und CDU/ Libanon ist es trotz der Eskalation vergleichsweise ruhig
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4721
Dr. Frithjof Schmidt
(A) geblieben. Das ist auch ein Erfolg von UNIFIL; das (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Gut!) (C)
muss man ganz deutlich sagen.
Meine Damen und Herren von der FDP, nach langem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwanken haben Sie jetzt eingelenkt. Erst haben Sie
sowie bei Abgeordneten der SPD) das Mandat für UNIFIL abgelehnt, dann hat man Ihnen
aufgrund Ihrer Regierungsbeteiligung die Zustimmung
Diese Mission leistet nach wie vor einen wichtigen zu einem Kurzmandat von sechs Monaten abgerungen,
Beitrag zur Stabilität in dieser instabilen Region. Das und jetzt stimmen Sie der Verlängerung des UNIFIL-
trifft sowohl auf den Landeinsatz im Südlibanon als auch Mandats um ein weiteres Jahr zu. Ich sage: Das ist gut
auf den See-Einsatz vor der Küste zu, an dem die Bun- so. Warum nicht gleich so?
desmarine teilnimmt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Deutsche sowie bei Abgeordneten der SPD)
Marine!)
Dass UNIFIL bleibt, ist weiterhin notwendig. Die
Wie wichtig das nach wie vor ist, zeigt sich auch da- Haltung Deutschlands muss an dieser Stelle ganz klar
ran, dass Israel und der Libanon eine Fortsetzung des sein. Alles andere würde Signale der Instabilität in die
Mandats wünschen; denn – und das wissen Sie – ohne Region senden. Damit würden Sie Ihrer Verantwortung
UNIFIL bestünden keine Kontakte zwischen den Kon- nicht gerecht werden.
fliktparteien. Das bedeutet auch, dass Eskalationen auf
See und auf dem Land wieder Tür und Tor geöffnet wä- Danke.
ren. Ich hätte mir gerade deshalb eine Politik der Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
desregierung gewünscht, die in der Frage der Mandats- sowie bei Abgeordneten der SPD)
verlängerung nicht so gezögert und geschwankt hätte.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Vizepräsidentin Petra Pau:
DIE GRÜNEN und der SPD) Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Philipp
Mißfelder das Wort.
Ich muss Ihnen sagen: Dass hier zu hören war, dieser
Einsatz wäre fast schon überflüssig, ist leider völlig un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
angebracht.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal begrüße auch ich, dass
(B) (D)
Die Situation im Libanon bleibt weiterhin schwierig. wir dieses Mandat in großer Einigkeit beraten. Gerade in
In der libanesischen Einheitsregierung hat die Hisbollah dieser angespannten Situation in der Region – der Kol-
faktisch ein Vetorecht. Nicht zuletzt deswegen geht der lege Schmidt hat das bereits erwähnt – ist es ganz beson-
innerlibanesische Reformprozess nur so mühsam voran. ders wichtig, dass wir dieses Mandat heute mit großer
Es gibt Berichte über die erneute Aufrüstung des militä- Ernsthaftigkeit diskutieren. Wir müssen deutlich ma-
rischen Arms der Hisbollah. Das ist eine klare Provoka- chen, dass wir durch die Verlängerung des Mandats, wel-
tion gegenüber Israel. Das ist auch eine Schwächung des ches in einem politischen Zusammenhang mit den jüngs-
staatlichen libanesischen Gewaltmonopols. Es bestehen ten Vorkommnissen rund um die Seeblockade Gazas
aber nicht nur die Spannungen zwischen Libanon und steht, ein politisches Signal aussenden. Dieses Signal
Israel fort. Auch das syrisch-libanesische Verhältnis er- soll zu einer breiteren Unterstützung der Konfliktpar-
fordert weiterhin Aufmerksamkeit. Nach wie vor gibt es teien beitragen. Auf diese Weise soll auf die vermitteln-
kein Grenzregime zwischen Syrien und Libanon, das den Personen Rücksicht genommen werden. Es sollen
den Waffenschmuggel über Land verhindert. außerdem diejenigen gestärkt werden, die in ihren Län-
dern nicht unbedingt einen einfachen Stand haben.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: So ist es!) Was mich an dieser Debatte gewundert hat, ist, dass
die Linkspartei kritisiert hat, dass wir hier heute erneut
Im Antrag der Bundesregierung erkenne ich einen über dieses Thema diskutieren. Ich habe eigentlich im-
blinden Fleck; denn die bisherigen Bemühungen und die mer ein sehr gutes Gefühl, wenn wir im Parlament über
Vorschläge in Bezug auf diese Region reichen nicht aus. Mandate diskutieren. Ich weiß noch, wie kritisch darüber
An dieser Stelle ist mehr Initiative erforderlich; denn sie diskutiert worden ist, dass wir dieses Mandat lediglich
ist nötig und wichtig. um sechs Monate verlängern. Ich bin froh über jede Ge-
legenheit, die der Deutsche Bundestag wahrnimmt, um
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
erstens sein Recht des Parlamentsvorbehalts auszuüben
sowie bei Abgeordneten der SPD)
und zweitens über Erfolg und über Misserfolg von Mis-
Meine Damen und Herren von der Koalition, der sionen zu diskutieren.
UNIFIL-Einsatz sorgt unter anderem dafür, dass der be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
stehende Konflikt zwischen Israel und Libanon nicht er- Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] meldet sich
neut gewaltsam eskaliert. Das muss so bleiben. Daher zu einer Zwischenfrage)
hat meine Fraktion von Beginn an den Einsatz unter-
stützt, und deshalb unterstützen wir ihn auch weiterhin. – Frau Präsidentin, es gibt eine Zwischenfrage.
4722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: – bezogen auf Deutschland – (C)


Wenn Sie die Zwischenfrage des Kollegen Liebich
beantworten wollen, lasse ich sie natürlich gerne zu. Ihre Präsenz trägt dazu bei, den Frieden und die Si-
cherheit in unserer Region und unserer Grenze zu
gewährleisten.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Sehr gerne. Herr Kollege Mützenich hat es gerade gesagt: Die Si-
tuation im Libanon ist keineswegs einfach. Deshalb
müssen wir ein besonderes Interesse daran haben, dass
Stefan Liebich (DIE LINKE):
diejenigen, die für die Weltgemeinschaft, die dem Frie-
Herr Kollege Mißfelder, ich möchte die Aufklärung den dient, eintreten und die an Gemeinsamkeiten in der
eines Missverständnisses in eine Frage kleiden. Sie sind Region interessiert sind, gestärkt werden. Deshalb müs-
doch nicht tatsächlich der Auffassung, dass wir kritisiert sen wir der Bitte des Libanon entsprechen und das Man-
haben, dass wir das Thema diskutieren. Das finde ich dat verlängern. Zu diesem Ergebnis ist die Bundesregie-
selbstverständlich gut. Es wäre geradezu widersinnig, zu rung gekommen. Unsere Fraktion unterstützt die Ent-
behaupten, dass eine Diskussion über ein so spannendes scheidung der Bundesregierung und wird im Deutschen
Thema falsch sei. Sind Sie denn der Auffassung, dass Bundestag der Mandatsverlängerung zustimmen.
man Mandate künftig quartalsweise verlängern sollte,
damit man häufiger darüber diskutieren kann? Wir sind der Meinung, dass unser Auftrag bei UNIFIL
noch nicht erfüllt ist. Die verschiedenen Ziele, die wir
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der uns gesetzt haben – Stabilisierung und gleichzeitige Si-
LINKEN) cherung des Libanon insgesamt –, wollen wir weiterhin
erreichen. Die instabilen Verhältnisse dauern trotz aller
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Bemühungen noch an. Wir kommen zu ähnlichen Ergeb-
Sie haben eben von Widersinnigkeit gesprochen. Ich nissen wie der UNIFIL-Bericht des Generalsekretärs
möchte die Widersinnigkeit von Fragen an dieser Stelle vom 26. Februar. Es bleibt noch sehr viel Arbeit zu tun.
nicht kommentieren. Ich habe Sie so verstanden, dass Weitere Elemente der Resolution des Sicherheitsrates
Sie die Art und Weise kritisiert haben, wie wir vor einem der Vereinten Nationen müssen noch umgesetzt werden.
halben Jahr über dieses Thema diskutiert haben. Meinem Mit unserem Entschluss, die Bundesregierung zu un-
Verständnis nach haben Sie auch die Evaluation kriti- terstützen, reduzieren wir die Mandatsobergrenze von
siert. Ich kann nichts dagegen sagen. Das war damals der 800 auf 300 Soldaten; das sind über 60 Prozent. Ich
Wunsch der FDP, und unsere Fraktion hat sich dem aus- finde das erwähnenswert. Wir diskutieren über so viele
drücklich angeschlossen, weil wir der festen Überzeu- Mandate und stehen auch in kritischen Diskussionen mit
(B) gung sind, dass das Parlament darüber diskutieren muss, der Bevölkerung. Deshalb ist es richtig, Mandatsober- (D)
wie es mit Mandaten weitergeht und wie sie sich, einge- grenzen herabzusetzen, wenn Missionen erfolgreich ver-
bettet in die politische Gesamtlage, darstellen. So habe laufen. Damit dokumentiert man den Erfolg; sonst wäre
ich das verstanden. es notwendig, weiterhin mehr Soldaten zu entsenden
oder sich zumindest eine solche Option offenzuhalten.
Da ich mich gerade der Linkspartei zuwende: Ich bin
Das ist derzeit nicht notwendig. Die Stabilisierung ist so
froh, dass ich auf die Debatte von vorhin hinweisen darf. weit fortgeschritten, dass wir ruhigen Gewissens die
Frau Kollegin Höger hat am 3. Dezember 2009 im Bun- Obergrenze des Mandats herabsetzen können. Das halte
destag gesagt – ich zitiere –: ich für bemerkenswert. Das ist schlussendlich all denje-
Ohne einen umfassenden politischen Prozess wird nigen zu verdanken, die dort Präsenz als Soldaten zeigen
es keinen dauerhaften Frieden und keine Sicherheit und damit unserem Land und der Region einen großen
im Nahen Osten geben …. Dienst erweisen.
Soweit stimme ich Ihnen absolut zu. Sie sagen auch: Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind konsequent gegen Auslandseinsätze. – In diesem
Der Bundesminister des Auswärtigen hat deutlich ge-
Zusammenhang möchte ich auf etwas zurückkommen, macht, dass wir jetzt weitere Aufträge übernehmen und
das mit der Blockade Gazas zusammenhängt. Immer mehr für die Ausbildung tun. Ich glaube, für die Laufzeit
dann, wenn es um Auslandseinsätze geht, die dem Frie- des nun anstehenden Mandats ist der entscheidende
den dienen, sind Sie dagegen. Aber wenn es um Provo- Punkt, dass wir mehr für die Ausbildung tun, dass wir
kation geht, dann machen Sie mit. dafür sorgen, dass libanesische Ingenieure und Sicher-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heitskräfte in der Lage sind, für ihre Sicherheit selbst zu
sorgen, und letztendlich auch die Küste des Libanon
Das kann ich so nicht stehen lassen. Ein Kollege von den langfristig selbst schützen können. Dieses Ziel wollen
Grünen hat eben richtigerweise durch einen Zwischenruf wir unterstützen. Dafür ist es allerdings notwendig, wei-
– ich glaube, es war Kollege Nouripour – sehr deutlich terhin eine Präsenz der internationalen Gemeinschaft zu
gemacht, dass es hierbei um einen Friedenseinsatz geht, gewährleisten. Insofern bitte ich Sie hier um Unterstüt-
der von allen Beteiligten ausdrücklich gewünscht ist. zung für die Bundesregierung. Im Namen meiner Frak-
Wir alle haben doch persönlich gehört, dass al-Hariri, tion kann ich diese zusagen.
der junge Ministerpräsident des Libanon, am 15. März
gesagt hat: Herzlichen Dank.
Wir sind … dankbar … (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4723

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Die richterliche Unabhängigkeit gilt nicht nur für alle (C)
Ich schließe die Aussprache. Richterinnen und Richter, sondern auch für das gewählte
Präsidium eines jeden Gerichts. Der Bundesminister der
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Verteidigung hätte die Verfassungswidrigkeit dieses so-
Drucksache 17/1905 an die in der Tagesordnung aufge- genannten Vetorechts erkennen müssen und dieses des-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- wegen trotz seines angeblich rechtsstaatlich guten Ge-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung wissens nicht anwenden dürfen. Stattdessen ignorierte er
so beschlossen. tragende Prinzipien unserer Verfassung. Diese Tatsache
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: hätte die Bundeskanzlerin im Übrigen bereits im
Mai 2009 erkennen müssen. Aber anstatt einzugreifen,
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens hat sie den Minister gewähren lassen und sich dadurch
Petermann, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiteren Ab- neben einer Menge Ärger schließlich auch noch einen
geordneten und der Fraktion DIE LINKE einge- veritablen Fehlstart der neuen Regierung eingehandelt.
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Mit dem durch § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinarordnung
der Wehrdisziplinarordnung
geschaffenen Eingriffsinstrument kann die Bundesregie-
– Drucksache 17/572 – rung als potenzielle Prozesspartei die Richterinnen und
Überweisungsvorschlag:
Richter für alle künftigen Prozesse der Wehrdienstsenate
Verteidigungsausschuss (f) des Bundesverwaltungsgerichts bestimmen. Faktisch
Rechtsausschuss kann sich die Militärverwaltung also auf diesem Wege
die Richterinnen und Richter selbst aussuchen, die unter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die anderem über Rechtsverletzungen bei Militäreinsätzen
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wie zuletzt beim Bombardement am Kunduzfluss zu ent-
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. scheiden haben. Wenn Deutschland weiterhin als vor-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege bildlicher Rechtsstaat gelten will, muss der Einfluss der
Jens Petermann für die Fraktion Die Linke. Exekutive auf ihre eigenen Inspektoren unterbunden
werden, und sie muss über jeden Verdacht erhaben sein.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Jens Petermann (DIE LINKE): Das gehört einfach zu rechtsstaatlichen Standards. Da
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- bin ich mir übrigens mit meinen Kolleginnen und Kolle-
gen! Für die Linke geht es bei diesem Gesetzentwurf um gen in den Gerichten einig. In diesem Kontext ist auch
(B)
die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit, um die geplante Einführung von Sondergerichten für Solda- (D)
nicht mehr und nicht weniger. tinnen und Soldaten im Auslandseinsatz zu sehen, die
wir im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gleich-
Zum Sachverhalt: Vor gut einem Jahr kassierte der da- behandlungsgrundsatz des Grundgesetzes strikt ableh-
malige Bundesminister der Verteidigung einen Be- nen.
schluss des Präsidiums des Bundesverwaltungsgerichts.
Das für die Verteilung der richterlichen Geschäfte zu- (Beifall bei der LINKEN)
ständige Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts hatte Ich gehe davon aus, dass unser Gesetzentwurf bei
in diesem Beschluss dem Wehrdienstsenat einen unge- Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger auf of-
dienten Richter zugeordnet. Der Verteidigungsminister fene Ohren trifft. Wie ihrem Brief an die Dienstleis-
berief sich deswegen auf die aus der Nachkriegsära he- tungsgewerkschaft Verdi vom Oktober 2009 zu entneh-
rübergerettete Vorschrift des § 80 Abs. 2 Wehrdiszipli- men ist, will sie sich für eine entsprechende Änderung
narordnung und auf ein ursprünglich geheimes Ressort- der Wehrdisziplinarordnung einsetzen. Sie schreibt, dass
abkommen zwischen dem Bundesministerium der Justiz der Respekt vor unserer Verfassung gebiete, den Schutz
und dem Bundesministerium der Verteidigung aus dem der richterlichen Unabhängigkeit sicherzustellen. Dazu
Jahre 1970. gehöre auch, dass die Gerichte selbstständig entschie-
den, welcher Richter welchem Senat zugeteilt werde.
Normalerweise ist es das ureigene, verfassungsrecht-
Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Herr zu
lich garantierte Recht eines jeden Gerichts, die Ge-
Guttenberg – er ist nicht mehr anwesend –, verzichten
schäftsverteilung und die Besetzung der Spruchkam-
Sie auf Ihr verfassungswidriges Vetorecht und folgen Sie
mern in Wahrnehmung der richterlichen Unabhängigkeit
dem Gesetzentwurf der Linksfraktion! Springen Sie über
selbst zu regeln. Das ist ein Gebot der Gewaltenteilung.
Ihren koalitionsbedingten Schatten und zollen Sie der
Um es deutlich zu sagen: Die Einflussnahme einer Ge-
richterlichen Unabhängigkeit auch in diesem Punkt den
walt auf eine andere ist mit dem Grundgesetz für die
nötigen Respekt!
Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen
Der damalige Verteidigungsminister hat damit in unzu- für die Aufmerksamkeit, gerade auch angesichts der me-
lässiger und nicht hinnehmbarer Weise in die von Ver- teorologischen Bedingungen, die heute herrschen.
fassungs wegen zu beachtende richterliche Unabhängig-
keit eingegriffen. Das ist schon starker Tobak. (Beifall bei der LINKEN)
4724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: der Bundesminister der Verteidigung auf der Grundlage (C)
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär dieser Ressortvereinbarung im Juli 2009 erstmals die
Thomas Kossendey. Zustimmung zur Verwendung eines bestimmten Richters
in den Wehrdienstsenaten verweigert hatte, der für diese
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tätigkeit nicht geeignet schien.

Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun- Allerdings kann man dieses kritisierte Mitwirkungs-
desminister der Verteidigung: recht, wenn man genau hinschaut, letztlich sogar auf
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Art. 95 Abs. 2 des Grundgesetzes zurückführen. Dieser
Wenn man den Gesetzentwurf der Linken in Ruhe liest, sieht vor, dass der für das jeweilige Sachgebiet zustän-
hat man das Gefühl, dass sie in erster Linie gar kein Pro- dige Bundesminister gemeinsam mit dem Richterwahl-
blem mit § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung haben, ausschuss über die Berufung der Richterinnen und Rich-
sondern eher ein Problem mit der Bundeswehr; das spielt ter der obersten Gerichtshöfe des Bundes entscheidet.
in diesem Gesetzentwurf eine wichtige Rolle. Für eine Reihe von Fachgerichtsbarkeiten ist diese Be-
fugnis gesetzlich den jeweiligen Fachministerien zuge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wiesen worden. Herr Petermann, ich will Sie daran erin-
Manches, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben nern, dass § 42 des Arbeitsgerichtsgesetzes und § 38 des
haben, aber auch so manches, was gerade gesagt worden Sozialgerichtsgesetzes diese Mitwirkung ausdrücklich
ist, wirkt arg bemüht. vorsehen.

Lassen Sie mich die Haltung des Verteidigungsminis- (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
teriums zu diesem Gesetzentwurf und zu dem Verfahren, Diese Paragrafen sehen nämlich vor, dass diese Befugnis
das Sie kritisieren, verdeutlichen. Die in dem Gesetzent- für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit beim Bundes-
wurf vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken ministerium für Arbeit und Soziales liegt. Wenn es Ihnen
entbehren aus unserer Sicht jeder Grundlage. Die Mit- allein um die Unabhängigkeit der Richter gegangen
wirkung unseres Verteidigungsministers bei der Beset- wäre, hätten Sie das in Ihren Antrag zumindest einbauen
zung der Wehrdienstsenate steht im Einklang mit dem müssen.
Grundgesetz.
Die beiden Wehrdienstsenate beim Bundesverwal-
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) tungsgericht stellen, vergleichbar dem Bundesarbeitsge-
Ich will das begründen: Der Bundesminister der Ver- richt oder dem Bundessozialgericht, eine eigene Fach-
teidigung hat seit 1957 das Recht, bei der Besetzung der gerichtsbarkeit dar. Sie bilden, abgesehen von der
(B) Wehrdienstsenate mitzuwirken. Zunächst hat sich das Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, die (D)
ausdrücklich aus der Wehrdisziplinarordnung ergeben. oberste gerichtliche Instanz für den Geschäftsbereich des
Seit 1970 ist es durch eine Ressortvereinbarung gewähr- Bundesministeriums der Verteidigung auf den Gebieten
leistet. § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung gibt dem der truppendienstlichen Beschwerde und der Disziplinar-
Bundesminister der Justiz das Recht zur Bestimmung angelegenheiten, aber eben nicht in solchen Fällen, die
der Richter bei den Wehrdienstsenaten. Der Bundes- Sie gerade unter dem Stichwort „Kunduz“ angesprochen
minister der Verteidigung ist dort zwar nicht ausdrück- haben. Ausschließlich aus organisatorischen Gründen
lich erwähnt, aber ungeachtet dessen erfolgt sein Mitwir- sind die beiden Wehrdienstsenate beim Bundesverwal-
kungsrecht weiterhin aus der Ressortvereinbarung. Die tungsgericht angesiedelt.
Ressortvereinbarung zwischen dem Verteidigungsminis-
Die Bildung dieser beiden Wehrdienstsenate wird
terium und dem Justizministerium geht auf den Entwurf
ebenso wie die Errichtung der Truppendienstgerichte al-
eines Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinar-
lein durch die Wehrdisziplinarordnung begründet. Das
rechts zurück. Die Gesetzesbegründung sah ausdrück-
bedeutet, dass der Rechtsweg zu den Wehrdienstgerich-
lich vor, dass – unabhängig von einer gesetzlichen Rege-
ten und damit auch zu den Wehrdienstsenaten letztend-
lung – der Bundesminister der Justiz und der
lich ein eigenständiger Rechtsweg ist. Er ist damit von
Bundesminister der Verteidigung Mitwirkungsrechte bei
dem allgemeinen Verwaltungsrechtsweg nach der Ver-
der Auswahl und Benennung von Richtern für die Wehr-
waltungsgerichtsordnung streng abzugrenzen. Insoweit
dienstsenate in einer besonderen Vereinbarung festlegen
unterscheidet sich das Wehrdisziplinarrecht auch deut-
können. Die Ressortvereinbarung sieht vor, dass das
lich vom Beamtendisziplinarrecht, das die Aufgaben der
Bundesministerium der Justiz keinen Bewerber vor-
Disziplinargerichtsbarkeit für Beamte der Verwaltungs-
schlagen wird – jetzt wörtlich –,
gerichtsbarkeit zuweist.
gegen den der Bundesminister der Verteidigung im
Im Verhältnis zu den Befugnissen der anderen
Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen, die
Fachressorts schränkt die Regelung für die Wehrdienst-
an einen Richter des Wehrdienstsenats zu stellen
senate die Befugnisse des Bundesverteidigungsministers
sind, Einwendungen erhebt.
sogar ein. Während den übrigen Fachressorts zum
Gleiches gilt, wenn ein Richter oder eine Richterin erst Beispiel bei einer Richterwahl ausdrückliche Mitwir-
später zur Mitwirkung bestimmt werden soll. Diese Re- kungsrechte bei einer Richterwahl zu einem obersten
gelung hat sich über zahlreiche Gesetzesänderungen ge- Gerichtshof zustehen, liegt diese Befugnis für das Bun-
halten, an denen alle Parteien beteiligt waren. In die Kri- desverwaltungsgericht ausschließlich beim Bundes-
tik geraten ist dieses Mitwirkungsrecht erst, nachdem minister der Justiz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4725
Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey
(A) Indem § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung und Was ist der Inhalt dieses so wichtigen verfassungs- (C)
die Ressortvereinbarung nicht bei der Richterwahl als rechtlichen Prinzips? Wir wissen, dass das Grundgesetz
solcher ansetzen, sondern das Mitwirkungsrecht bei der keine absolute Trennung der Gewalten fordert, nach
Besetzung der Spruchkörper betreffen, stellen sie tat- höchstrichterlicher Rechtsprechung jedoch gegenseitige
sächlich eine Sonderregelung dar. Aber nur so kann das Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten im
Mitwirkungsdefizit des Bundesministeriums der Vertei- Einzelnen.
digung als Fachressort ausgeglichen werden; das habe
ich Ihnen eben erläutert. Was wird denn durch die Wehrdisziplinarordnung ge-
regelt, Herr Kossendey? Es ist geregelt, dass Wehr-
Bei Wegfall der Regelung hätte der Bundesminister dienstsenate für Disziplinarverfahren gegen Soldaten
der Verteidigung, anders als die übrigen Fachressorts, – Arrest und was es da noch alles gibt – zuständig sind,
nicht die Möglichkeit, entsprechend Art. 95 Abs. 2 des und zwar in zweiter Tatsacheninstanz. Bei Berufungen
Grundgesetzes bei der Bestimmung der richterlichen gegen Urteile der Truppendienstgerichte sind nämlich
Mitglieder seiner eigenen obersten Fachgerichtsbarkeit die Wehrdienstsenate, die in das Bundesverwaltungsge-
mitzuwirken. Durch diese Regelung, die es in der Wehr- richt integriert sind, letztinstanzlich zuständig.
disziplinarordnung gibt, wird sichergestellt, dass das
höchste Wehrdienstgericht mit fachlich geeigneten Rich- § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung ist eigentlich
terinnen und Richtern besetzt wird. eine ganz einfache Regelung. Es geht darum, dass allein
das Bundesministerium für Justiz bestimmen kann, wel-
Eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängig- cher Richter im Einzelnen Mitglied in einem der beiden
keit ist meines Erachtens nicht erkennbar. Die Entschei- Wehrdienstsenate wird. Was wird durch diese Regelung
dung, wer als Richter bestimmt wird, ist schließlich aber bewirkt? Zum einen kann das Bundesministerium
keine richterliche Entscheidung, sondern eine legitime der Justiz bestimmen. Aber nicht nur das – Sie haben es
Entscheidung der Exekutive. Sie fällt damit eben nicht eben angesprochen –: Auch das Verteidigungsministe-
unter die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit. Die rium kann Einfluss auf die Besetzung der Wehrdienstse-
gesetzliche Regelung führt schließlich nicht dazu, dass nate nehmen. Es besteht nämlich eine Ressortvereinba-
Einfluss darauf genommen wird, welche Richterin oder rung – das hat Herr Petermann gesagt – von 1970. Sie ist
welcher Richter in einem konkreten Verfahren entschei- schon ein bisschen älter, hat aber noch Rechtskraft. Da-
det. nach besteht im Innenverhältnis zwischen den beiden
Auch das Bundesministerium der Justiz hat bereits im Ministerien ein Vetorecht des Bundesverteidigungsmi-
Jahr 2005 in einem Schreiben an das Bundesministerium nisteriums gegenüber dem BMJ.
der Verteidigung bestätigt, die Prüfung des § 80 Abs. 2 Das Bundesverteidigungsministerium – der Bundes-
(B) der Wehrdisziplinarordnung habe keine durchgreifen- verteidigungsminister ist Dienstherr der Soldaten – kann (D)
den verfassungsrechtlichen oder gerichtsverfassungs- in dem Verfahren also nicht nur regelmäßig Einfluss auf
rechtlichen Bedenken gegen die geltende Rechtslage er- die Auswahl der hauptamtlichen Richter nehmen, son-
geben. Daher bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und dern es kann auch die Richter aussuchen, die letztins-
Kollegen, dem Gesetzentwurf der Linken nicht zuzu- tanzlich über Wehrdienstangelegenheiten entscheiden.
stimmen. Herr Kossendey, das Bundesverteidigungsministerium
Herzlichen Dank. kann sich also die Richter aussuchen, die seine eigenen
Entscheidungen und seine eigenen Verwaltungsakte
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überprüfen.
Ich glaube, man kann hier in erster Lesung mit gutem
Vizepräsidentin Petra Pau: Recht schon fragen, ob solch eine Regelung vernünftig
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar ist. Man kann sich auch fragen, ob sie sachlich gerecht-
Franke das Wort. fertigt ist, und man muss zumindest die Frage stellen
(Beifall bei der SPD) dürfen – auch hier in der ersten Lesung –, ob eine solche
Regelung auch verfassungsrechtlich in Ordnung ist.
Dr. Edgar Franke (SPD): Im Übrigen glaube ich, dass die Gefahr groß ist, dass
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Verteidigungsminister letztlich auch persönlich, in-
Herr Kossendey, wir entscheiden heute nicht über den haltlich oder vielleicht sogar politisch genehme Leute
Gesetzentwurf, sondern er wurde heute eingebracht, und aussucht, wenn sein Ministerium die personelle Beset-
wir diskutieren in erster Lesung über ihn. Insofern muss zung eines Gerichts mitbestimmen kann, wenn es alleine
man vielleicht erst einmal abwarten, wie dieser Gesetz- darüber bestimmen kann oder wenn es zumindest mit ei-
entwurf abschließend zu beurteilen ist. nem Vetorecht darauf Einfluss nehmen kann. Auch ich
bin Jurist und habe nicht gedient, habe aber nichts gegen
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Fraktion die Bundeswehr. Ich könnte aber, nur, weil ich nicht bei
der Linken zur Änderung der sogenannten Wehrdiszipli- der Bundeswehr war, dort kein Richter werden. Ob das
narordnung. Genauer gesagt, § 80 Abs. 2 der Wehrdiszi- eine sachgerechte Begründung ist, weiß ich im Einzel-
plinarordnung soll ersatzlos gestrichen werden. Wenn nen nicht.
ich Sie, Herr Petermann, richtig verstanden habe, haben
Sie gesagt, dieser Paragraf sei verfassungswidrig, weil er (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoße. LINKEN)
4726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Edgar Franke


(A) Es gibt aber noch einen Begründungszusammenhang, Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
nämlich aufgrund des Art. 95 Abs. 2 Grundgesetz, den Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg van
Sie, Herr Kossendey, auch genannt haben. Nach Essen das Wort.
Art. 95 Abs. 2 Grundgesetz entscheidet über die Beru-
fung der entsprechenden Richter der zuständige Fachmi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss. Das der CDU/CSU)
heißt, es geht nur zusammen. Bleibt die Zustimmung ei-
nes der beteiligten Organe aus, ist die betreffende Kandi- Jörg van Essen (FDP):
datur für das Richteramt gescheitert. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dagegen wird durch § 80 Abs. 2 Satz 1 Wehrdiszipli- Staatssekretär Kossendey hat auf die Geschichte dieser
narordnung weder der Richterwahlausschuss noch das Bestimmung hingewiesen. Es hat zwischen 1957 und
Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts in die ein- 1967 einen eigenen Bundesdisziplinarhof gegeben, der
zelne Entscheidung mit einbezogen; denn das alleinige dann in den Wehrdienstsenaten beim Bundesverwal-
Entscheidungsrecht wird nur der Exekutive zugebilligt. tungsgericht aufgegangen ist. Man hat diese Gremien
Ob das unproblematisch ist, wird auch zu prüfen sein; nämlich zusammengelegt und damit Verwaltungskosten
denn im Normalfall bestimmt gemäß § 21 e des Ge- gespart.
richtsverfassungsgesetzes – das ist schon eine alte Vor- Herr Staatssekretär Kossendey hat bereits auf einen
schrift – eben das Präsidium des Bundesverwaltungsge- weiteren Gesichtspunkt hingewiesen, den ich deshalb
richts die Geschäftsverteilung seiner Richter. Da die nicht weiter ausführen muss, nämlich dass es auch in an-
Wehrdienstsenate in das Bundesverwaltungsgericht ein- deren Bereichen wie in § 42 des Arbeitsgerichtsgesetzes,
gegliedert sind, müsste das Präsidium jedenfalls aus aber auch in § 38 des Sozialgerichtsgesetzes ähnliche Re-
meiner Sicht hier eine höhere Entscheidungskompetenz gelungen gibt. Damit gilt selbstverständlich auch in die-
haben. Aber die Ministerien bestimmen. sem Zusammenhang, dass das Ganze nicht zu der von der
Linkspartei behaupteten Verfassungswidrigkeit führt.
Somit ist im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob
nicht ein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip Der ganze Antrag atmet doch den Widerstand der
vorliegt. Es ist auch zu prüfen, ob § 80 Abs. 2 der Wehr- Linkspartei gegen Streitkräfte im demokratischen Staat.
disziplinarordnung mit den Vorgaben der Verfassung
hinsichtlich einer eindeutigen Teilung der verschiedenen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Gewalten in Einklang zu bringen ist. Alle, die auf dieser Seite des Hauses sitzen, die sich nie
Zweitens muss aus meiner Sicht in dem Verfahren über die Militärgerichtsbarkeit in der DDR aufgeregt ha-
(B)
auch geprüft werden, ob die bestehende Ressortverein- ben, und über all die Dinge, die dort passiert sind, nie ein (D)
barung von 1970, dass im Innenverhältnis das Verteidi- kritisches Wort gefunden haben, meinen, hier die Be-
gungsministerium mitbestimmen kann, wer im Einzel- hauptung aufstellen zu müssen, das Ganze sei verfas-
nen in den Wehrdienstsenaten Dienst tun kann, sachlich sungswidrig. Das ist es eindeutig nicht.
haltbar ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Lassen Sie mich abschließend noch einen anderen Trotzdem bitte ich uns alle, darüber nachzudenken, ob
Punkt erwähnen. Strittig ist hier im Hause nach meiner wir dem allgemeinen Trend, den wir in vielen Bereichen
Kenntnis auch die Frage der Federführung im weiteren sehen, nämlich in unserem Staat die Unabhängigkeit der
Beratungsverfahren. Sie, meine lieben Kolleginnen und Justiz zu stärken, nicht auch in diesem Bereich folgen
Kollegen von der Koalition, wollen die Federführung in sollen. Ich weise etwa darauf hin, dass wir es inzwischen
den Verteidigungsausschuss überweisen. in allen Ländern und unterstützt von allen in den jeweili-
gen Ländern vertretenen Fraktionen geschafft haben,
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Guter Vor- dass die Generalstaatsanwälte nicht mehr politische Be-
schlag!) amte sind, wodurch die Unabhängigkeit der Justiz ge-
Das ist meiner Meinung nach sachlich nicht gerechtfer- stärkt worden ist. Auch andere Überlegungen, beispiels-
tigt. Ich halte das für den falschen Weg. Aus meiner Sicht weise was das Weisungsrecht des Justizministers
müssen im weiteren Gesetzgebungsverfahren vor allen Din- gegenüber der Staatsanwaltschaft anbelangt, weisen in
gen die von mir aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fra- die Richtung, die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken.
gen geklärt werden. Insofern sollte die Federführung beim Der BundeswehrVerband – auch das ist in diesem Zu-
Rechtsausschuss liegen, damit die verfassungsrechtli- sammenhang wichtig – bittet darum, dass es bei der Re-
chen Fragen im Einzelnen geklärt werden können. gelung des § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung
bleibt. Ich glaube, dass auch die Soldaten ein Interesse
(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele
daran haben, dass in diesen Fragen Personen entschei-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
den, von denen sie das Gefühl haben, dass sie mit den
Ich danke Ihnen. Dingen, über die sie zu entscheiden haben, in besonderer
Weise vertraut sind. Auf der anderen Seite gibt es den
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wunsch der Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dass die besondere Bestimmung des § 80 Abs. 2 der
GRÜNEN) Wehrdisziplinarordnung nicht weiter fortbestehen sollte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4727
Jörg van Essen
(A) Wir müssen also zwischen den verschiedenen Interessen Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
abwägen. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Was mich persönlich anbelangt – Sie haben mich vor- Kollegin Katja Keul das Wort.
hin angegriffen, Herr Petermann –, setze ich mich tat-
sächlich für eine zentrale Zuständigkeit im Bereich der Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Strafverfahren und Ermittlungsverfahren gegen Soldaten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
im Auslandseinsatz ein. Im Übrigen – damit Sie nicht nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kossendey, vielen
wieder behaupten, das sei verfassungswidrig – sieht Dank für Ihren ausführlichen juristischen Vortrag. Wenn
Art. 96 des Grundgesetzes ausdrücklich als Möglichkeit es Ihre Strategie war, damit Verwirrung zu stiften, dann
vor, dass der Bund entsprechende Gerichte einsetzen waren Sie sehr erfolgreich.
kann. Wenn der Bund davon Gebrauch machen würde,
wäre das auch verfassungsmäßig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Jens Petermann [DIE LINKE]: Vorbild USA!) Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Jetzt sind wir
aber gespannt!)
Meine persönliche Auffassung in diesem Zusammen-
hang erkennen Sie daran, dass ich möchte, dass diese Der heute zur Debatte stehende § 80 Abs. 2 der Wehr-
Zuständigkeit bei der zivilen Justiz bleibt. Außerdem disziplinarordnung erlaubt es der Exekutive, auf die Be-
sehe ich keine Einflussmöglichkeit des Bundesverteidi- setzung der Wehrsenate beim Bundesverwaltungsgericht
gungsministeriums auf die Staatsanwälte und die Rich- Einfluss zu nehmen. In allen anderen Bundesgerichten
ter, die in diesen Verfahren entscheiden sollen, vor, weil entscheidet das Gerichtspräsidium unabhängig und ei-
mir die Unabhängigkeit der Justiz besonders wichtig ist genständig, welche Richterin in welchem Senat Recht
und weil dies nach meiner Auffassung auch aus dem spricht. Der Einfluss der Politik endet nach der Wahl ei-
Leitbild des Staatsbürgers in Uniform folgt. Der Soldat nes Juristen zum Bundesrichter. Das muss auch so sein.
ist ein Staatsbürger in Uniform, und deswegen sollten Denn in Art. 97 Grundgesetz heißt es:
die normalen Regeln, sofern nicht ganz besondere
Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze
Gründe gegeben sind, so weit wie möglich gelten.
unterworfen.
Das Bundesverwaltungsgericht ist ja ein Obergericht.
Das heißt, die dort tätigen Personen sind langjährig er- Bis zum Sommer letzten Jahres ist es der Fachöffent-
fahrene Richter. Deshalb habe ich persönlich Vertrauen, lichkeit kaum aufgefallen, dass die Wehrdisziplinarord-
dass jeder Richter, der in den Wehrdienstsenaten Recht nung der Exekutive praktisch ein Vetorecht bei der Be-
spricht, die notwendige Erfahrung und juristische Exper- nennung eines Richters einräumt,
(B) (D)
tise mitbringt, um seine Entscheidungen fachgerecht (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
treffen zu können. Ich will in der ersten Lesung die Of- GRÜNEN]: Nicht einmal mir ist es aufgefal-
fenheit meiner Fraktion in dieser Frage ganz deutlich len!)
machen. Unsere frühere rechtspolitische Sprecherin und
heutige Bundesjustizministerin hat sich gegenüber Verdi denn bis dahin hatte noch kein Minister von diesem
– das haben Sie angesprochen – ja auch entsprechend ge- Recht Gebrauch gemacht. Nach dem Wortlaut des § 80
äußert. Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung hat eigentlich nur
das Justizressort ein Bestimmungsrecht. Aber nichts hat
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass ich zu de-
die Ressorts daran gehindert, 1970 zu vereinbaren, dass
nen gehöre, die gesagt haben, dass die Wehrdisziplinar-
das Justizministerium sich verpflichtet, Einwände des
ordnung ganz eindeutig in die Zuständigkeit des Bundes-
Verteidigungsministers gegebenenfalls zu berücksichti-
verteidigungsministers fällt. Und da, wo ein Gesetz zu
gen.
Hause ist, muss auch die Federführung liegen.
Sie hatten kritisch angemerkt, dass auch der Rechts- Im Sommer 2009 war es Minister Jung, der erstmals
ausschuss darüberschauen muss. Das ist aber ganz einem Präsidiumsbeschluss des Bundesverwaltungsge-
selbstverständlich. Es gibt überhaupt keine Diskussion richts widersprochen hat. Die Begründung, der benannte
darüber, dass der Rechtsausschuss mitberatend tätig sein Richter habe nicht gedient und es müsse mehr Sachver-
muss. Außerdem wird wohl allen aufgefallen sein, dass, stand in die Wehrsenate einziehen,
jedenfalls bisher, Juristen zu dieser Frage gesprochen ha- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Eine gute Be-
ben. Deshalb habe ich keine Sorge, dass nicht auch juris- gründung!)
tischer Sachverstand bei den parlamentarischen Beratun-
gen eine Rolle spielen wird. ist nicht geeignet, den eigenen Sachverstand des Minis-
Dass es aber auch sachgerecht ist, die Interessen der ters zu belegen.
Soldaten im Blick zu haben, möchte ich als Reservist der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bundeswehr ausdrücklich betonen.
Wenn seine Auffassung richtig wäre, sollten unverheira-
Vielen Dank.
tete Richter besser kein Familienrecht mehr sprechen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Richter ohne Führerschein kein Verkehrsrecht und Ei-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE genheimbesitzer kein Mietrecht. Jeder kann sich weitere
GRÜNEN) absurde Beispiele vorstellen.
4728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Katja Keul
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Bundesjustizministerin versprach den Richtern da- (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- raufhin, sich für eine Änderung dieser Regelung starkzu-
KEN) machen. Ich zitiere:
Die Qualität juristischer Arbeit hängt nicht von einem Zum Schutz richterlicher Unabhängigkeit gehört,
persönlichen Bezug des Juristen zu dem infrage stehen- dass die Gerichte selbstständig über die Richter-
den Sachverhalt ab. bank bestimmen. In diesem Sinne werde ich mich
in der neuen Wahlperiode für eine entsprechende
(Jens Petermann [DIE LINKE]: Eher umge- Änderung der Wehrdisziplinarordnung einsetzen.
dreht!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Im Gegenteil, die Fähigkeit zur Abstraktion und zur und bei der LINKEN)
Subsumtion eines Sachverhaltes unter eine Gesetzes- Möge die Justizministerin endlich aus der Deckung
norm sollte umso ausgeprägter sein, je größer der per- kommen und Flagge zeigen!
sönliche und emotionale Abstand des Entscheidenden
ist. (Jörg van Essen [FDP]: Sie hat doch Flagge
gezeigt und ihre Meinung klar und deutlich ge-
Der Irrglaube, es müsse jemand beim Militär gewesen sagt!)
sein, um einen militärischen Sachverhalt juristisch beur-
Wir Grüne werden uns dem versammelten richterli-
teilen zu können, begegnet uns derzeit auch bei der
chen Sachverstand nicht verweigern und dem Gesetzent-
Frage der Einrichtung von Sondergerichten für Strafta-
wurf der Linksfraktion zustimmen.
ten von Soldaten im Ausland. Auch hier gilt: Persönliche
Nähe hat mit juristischem Sachverstand nichts zu tun. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bei der SPD und der LINKEN) und bei der LINKEN)

Das Handwerkszeug des Juristen ist, den konkreten Vizepräsidentin Petra Pau:
Einzelfall mit der abstrakten Norm zu vergleichen und Für die Unionsfraktion spricht der Kollege Dr. Sensburg.
auf Übereinstimmung zu überprüfen. Auf die militäri-
schen Insiderkenntnisse kann der Berufsrichter im Wehr- (Beifall bei der CDU/CSU)
senat ohne Weiteres zugreifen; denn dafür gibt es dort
zwei Soldatenbeisitzer, die nach Truppengattung und Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
(B) Dienstgrad jeweils dem beschuldigten Soldaten nahe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten (D)
kommen. Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke verfolgt mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf rein politische Ziele.
Die Begründung des damaligen Verteidigungsminis-
ters für die Einlegung des Vetos zeigt, dass die Einfluss- (Zurufe von der LINKEN: Das ist im Parla-
nahme der Exekutive nicht etwa einer Qualitätskontrolle ment so üblich! – Ja, was denn sonst?)
dient, sondern einer Interessenwahrnehmung des jewei- Nicht im Geringsten geht es der Fraktion Die Linke um
ligen Ressorts. „Wohin kommen wir, wenn Bundes- den Schutz der verfassungsrechtlich verankerten richter-
minister entscheiden, von welchen Richtern sie gerne lichen Unabhängigkeit. Diese ist nämlich gar nicht in Ge-
Angelegenheiten aus ihrem Ressortbereich entschieden fahr. Ihnen und Frau Kollegin Keul sage ich: Das Grund-
sehen wollen?“, fragten zu Recht die protestierenden gesetz geht hinsichtlich der Richterernennung sowohl in
Richter. Art. 95 als auch in Art. 98 von der Personalhoheit der Re-
gierungen aus, sowohl der Bundesregierung als auch der
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Aber Sachver-
jeweiligen Landesregierung. Herr Petermann, der von Ih-
stand kann doch nicht schaden!)
nen im Antrag zitierte Art. 95 Abs. 2 lautet dementspre-
§ 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung ist ein Fremd- chend:
körper in unserem Rechtssystem und auch im Hinblick Über die Berufung der Richter dieser Gerichte ent-
auf den Gewaltenteilungsgrundsatz höchst problematisch. scheidet der für das jeweilige Sachgebiet zustän-
Die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichtes, Frau dige Bundesminister gemeinsam mit einem Rich-
Marion Eckertz-Höfer, appellierte bereits im Herbst an terwahlausschuss …
die Bundesregierung, die Möglichkeit der Ministerien,
Einfluss auf die Richterbesetzung durch § 80 Abs. 2 der (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So ist es!)
Wehrdisziplinarordnung zu nehmen, abzuschaffen. Die- Wenn Sie bemängeln, dass es den Bundesministern mög-
ser Forderung schlossen sich alle Präsidenten der obers- lich ist – so steht es in Ihrem Antrag –, nur ihnen politisch
ten Verwaltungsgerichte, der Bund Deutscher Verwal- genehme Richter an die obersten Gerichte entsenden,
tungsrichter und Verwaltungsrichterinnen sowie die Neue dann ist dem entgegenzuhalten: Diese Sichtweise ist ein-
Richtervereinigung an. fach falsch.
(Jörg van Essen [FDP]: Wenn die sich auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
von Angehörigen der Linkspartei vertreten neten der FDP – Jens Petermann [DIE
lässt!) LINKE]: So sagen wir es ja gar nicht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4729
Dr. Patrick Sensburg
(A) Denn es geht nicht um politisch genehme Richter, son- dem Jahre 1970 – sie ist heute schon zitiert worden – (C)
dern um die verfassungsrechtlich statuierte Verantwor- wird diese Befugnis nach dem Richterwahlgesetz nun im
tung der Minister, an der Entscheidung über die Auswahl Einvernehmen mit dem Bundesverteidigungsministe-
der Richter der obersten Gerichte teilzunehmen; allein rium ausgeübt.
darum geht es.
Durch die Regelung des § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinar-
(Jens Petermann [DIE LINKE]: Nein, darum ordnung wird dem Bundesverteidigungsministerium da-
geht es nicht!) her gar kein weitreichenderer Einfluss eingeräumt, als
dies bei anderen Ministerien auch der Fall war. Das ha-
Ihr Antrag ist unter diesem Gesichtspunkt verfas- ben wir heute bereits mehrmals gehört. Ich bitte Sie, dies
sungsrechtlich sogar bedenklich. Ich empfehle Ihnen, die zur Kenntnis zu nehmen. Die unterschiedlichen Formu-
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem lierungen ergeben sich aus der historischen Entstehungs-
Jahre 1998 und des OVG Schleswig aus dem Jahre 2002 geschichte der Wehrdisziplinarsenate.
zu lesen, die gerade darauf abstellen, dass eine andere
Verfahrensweise dem aus dem parlamentarischen Prinzip Die Fraktion Die Linke scheint hier in ihrer Tradition
abgeleiteten Letztentscheidungsrecht des zuständigen der Agitation gegen die Bundeswehr eine juristische
Bundesministers widersprechen würde. Wenn Sie darauf Diskussion lostreten zu wollen, um zu verunsichern und
abstellen – das haben die Kollegen Kossendey und zu verwirren. Mehr steckt nicht hinter ihrem Gesetzent-
van Essen gesagt –, dass es sich bei § 80 Abs. 2 Wehrdis- wurf. Was die Linke vorhat, wird ihr nicht gelingen.
ziplinarordnung um eine Sonderregelung handelt, die ne-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ben § 13 des Richterwahlgesetzes unzulässig ist, ist dem
neten der FDP – Zuruf von der SPD: Zur Sa-
wiederum entgegenzuhalten: Auch dies ist falsch. Auch
che!)
in § 42 Arbeitsgerichtsgesetz oder § 38 Sozialgerichtsge-
setz finden Sie entsprechende Regelungen für das Ar- – Zur Sache kann ich Ihnen sagen, dass das Bundesver-
beits- und Sozialministerium. teidigungsministerium seit den 50er-Jahren nur ein ein-
ziges Mal eine andere Sichtweise als das Präsidium des
(Jörg van Essen [FDP]: Exakt so!) Bundesverwaltungsgerichts gehabt hat. Einen Miss-
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist brauch kann ich hierin nicht erkennen.
die Unterstellung der Fraktion Die Linke, ausgerechnet Daher ist festzustellen, dass das Bundesministerium
beim Bundesverteidigungsministerium bestehe nun die der Verteidigung auf die Berufung der Wehrdienstrichter
Gefahr politischer Einflussnahme, mehr als aussagekräf- keinen weiter gehenden Einfluss ausübt als zum Beispiel
tig; denn sie zeigt deutlich, was Sie mit Ihrem Gesetzent- das Arbeitsministerium bei der Berufung der Arbeits-
(B) wurf erreichen wollen: Sie wollen das Verteidigungs- richter oder der Sozialrichter. Würden Sie dies meinen, (D)
ministerium und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann hätte Ihr Gesetzentwurf anders lauten müssen.
in ein schlechtes Licht rücken. Das lassen wir Ihnen Dann hätten Sie eine Grundgesetzänderung beantragen
nicht durchgehen; denn das gehört sich nicht. müssen, durch die sichergestellt wird, dass es keine mi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nisteriale Einflussnahme mehr auf die Benennung von
Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesrichtern gibt. Gerade das schreiben Sie aber
NEN]: Das machen Sie doch selber!) nicht, sondern Sie picken nur einen Bereich heraus. Das
zeigt ganz deutlich, was Sie wünschen und was Sie wol-
Herr Petermann, dass Sie sich als ehemaliger Zeitsol- len.
dat im Wachregiment „Feliks Dzierzynski“, das direkt
Herrn Mielke unterstand, gerade an dieser Stelle so (Jörg van Essen [FDP]: Aber Juristen in der
echauffieren und diesen Gesetzentwurf an erster Stelle DDR haben im Wesentlichen Marxismus-
unterschrieben haben, das ist wirklich Ironie. Leninismus studiert! Das kann man ihnen
nicht vorwerfen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ihr Gesetzentwurf ist schnell zu durchschauen. So wie
Sie hatten wirklich keine Schwierigkeit mit der Nähe zur er gestellt ist, ist er verfassungsrechtlich bedenklich. So
Exekutive. Art. 95 Grundgesetz und § 80 Wehrdiszipli- wie er gemeint ist, ist er verfassungswidrig. Damit ist er
narordnung sind Beispiele für funktionierende Gewal- abzulehnen.
tenteilung!
Danke schön.
(Jörg van Essen [FDP]: Interessant, dass er in
der Neuen Richtervereinigung ist! Das sagt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
was über diese Vereinigung!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Die Wehrdienstsenate waren ab 1956 zunächst Be-
Ich schließe die Aussprache.
standteile des Bundesdisziplinarhofs – das haben wir
eben schon von Herrn Kossendey gehört –, der unabhän- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
gig vom Bundesverwaltungsgericht war. 1967 wurde der wurfs auf Drucksache 17/572 an die in der Tagesord-
Bundesdisziplinarhof in das Bundesverwaltungsgericht nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
integriert, sodass nunmehr dort besondere Wehrdienst- Federführung beim Verteidigungsausschuss liegen soll.
senate eingerichtet wurden. Es ist also ein historischer Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
Prozess gewesen. Nach der Ressortvereinbarung aus der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
4730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf: müssen geahndet werden; das möchte ich vorab hier (C)
noch einmal feststellen.
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
scher Streitkräfte an der Friedensmission der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) auf
Grundlage der Resolution 1590 (2005) des Noch immer ist die Lage in Darfur von Gewalt ge-
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom prägt. Der Waffenstillstand von Doha zwischen der Re-
24. März 2005 und Folgeresolutionen gierung und den Rebellengruppen wird wieder und wie-
der gebrochen. Die Menschen in Darfur werden Opfer
– Drucksache 17/1902 – des Bürgerkriegs und Opfer von Kriminellen, die die an-
Überweisungsvorschlag: gespannte Sicherheitslage ausnutzen.
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss Auch im Südsudan kommt es immer wieder zu Ge-
Verteidigungsausschuss waltausbrüchen zwischen den Ethnien. Es gibt zahllose
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
irreguläre Milizen. Es droht die Gefahr, dass extremisti-
Entwicklung sche Kräfte aus dem Nordsudan diese Konflikte weiter
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO anheizen. Ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zwi-
schen Nord und Süd wird von den Beobachtern und den
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung Kennern nicht ausgeschlossen.
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- In dieser Lage braucht der Sudan von der internatio-
scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope- nalen Gemeinschaft mehr Engagement und nicht weni-
ration in Darfur (UNAMID) auf Grundlage ger. Das fordert zu Recht auch der dem Deutschen Bun-
der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra- destag dazu vorliegende interfraktionelle Antrag. Die
tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 Bundesregierung wird diesen Antrag und dessen kon-
und Folgeresolutionen struktive Vorschläge ihrer Politik zugrunde legen. Auf
– Drucksache 17/1901 – dieser Basis werden wir uns in internationalen Foren und
Gremien für eine vollständige Umsetzung des umfassen-
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f) den Friedensabkommens und für einen Friedensvertrag
Rechtsausschuss in Darfur einsetzen. Fünf Punkte, die ich hier nennen
Verteidigungsausschuss möchte, sind dabei für unser Engagement besonders
(B) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe wichtig: (D)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Erstens muss das Referendum über die Unabhängig-
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO keit des Südsudan transparent und friedlich verlaufen. Es
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ist für die Zukunft des Sudan entscheidend, dass das Er-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre gebnis von allen Parteien akzeptiert wird. Dafür müssen
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden. Nach dem
umfassenden Friedensabkommen von 2005 ist das Refe-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- rendum bis zum Jahr 2011 durchzuführen. Die Siche-
minister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle. rung des Referendums ist eine Hauptaufgabe von
UNMIS. Damit auch die inhaltlichen Standards erfüllt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
werden, drängen wir in der Europäischen Union auf eine
der CDU/CSU)
große und umfassende Wahlbeobachtungsmission.

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- Zweitens braucht der Südsudan stärkere staatliche
wärtigen: Strukturen. Das ist entscheidend für die Stabilität der ge-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und samten Region. Während meiner Afrikareise haben
Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Jahre 2010 und meine Gesprächspartner in Dschibuti und in Tansania
2011 werden ganz gewiss Schicksalsjahre für den Sudan. die Risiken betont, die von einem instabilen Südsudan
Am 11. April, also vor wenigen Wochen, wurde im Su- für die gesamte Region ausgehen würden. Die Ausbil-
dan nach über 24 Jahren zum ersten Mal wieder gewählt. dung der Sicherheitskräfte im Südsudan und die Ent-
Die Menschen haben von ihrem demokratischen Grund- waffnung irregulärer Milizen ist neben der Vorbereitung
recht regen Gebrauch gemacht, und die Zivilgesellschaft des Referendums Hauptaufgabe von UNMIS. Der Süden
hat sich mutig engagiert. des Sudan hat nur dann eine friedliche Zukunft, wenn
nationale Behörden den Schutz der Zivilbevölkerung
Wir wissen aber auch, dass die Wahl ganz gewiss auch garantieren können. Die Bundesregierung kann zur
nicht internationalen Standards entsprochen hat. Die in- Stärkung staatlicher Strukturen weiterhin wichtige Bei-
ternationale Gemeinschaft hat zu Recht die zahlreichen träge leisten. Auch besteht enormer Beratungsbedarf für
Manipulationen als nicht akzeptabel kritisiert. Mit der den Fall, dass die Mehrheit der Wähler sich im Referen-
internationalen Gemeinschaft fordern wir, dass der Su- dum für die Unabhängigkeit des Südsudan entscheidet.
dan mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusam- Schon vor dem Referendum muss auch dieser Fall vor-
menarbeitet. Schwerste Verbrechen wie die in Darfur bereitet werden, den die überwiegende Zahl der Be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4731
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) obachter für das wahrscheinliche Ergebnis der Abstim- Ich bitte Sie um Unterstützung dieser Mandate. (C)
mung hält. Damit greifen wir der Abstimmung gewiss
nicht vor, aber vorbereitet müssen wir sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Drittens brauchen wir einen Erfolg bei den Friedens- Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
gesprächen über Darfur. Auf Dauer wird nur eine Eini- für die SPD-Fraktion.
gung aller Konfliktparteien die Situation befrieden. Im
Mai habe ich dem Chefunterhändler für die Vereinten Christoph Strässer (SPD):
Nationen und für die Afrikanische Union Bassolé hier in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-
Berlin die volle Unterstützung der Bundesregierung zu- statten Sie auch mir einige kurze Vorbemerkungen zur
gesichert. Er ist trotz aller Rückschläge zuversichtlich, Situation im Sudan, bevor ich konkret auf das Mandat zu
dass die Verhandlungen bis Ende dieses Jahres Fort- sprechen komme. Ich denke, das kann man an der Stelle
schritte machen werden. Wir wünschen ihm das natür- nicht trennen.
lich – und uns auch. Bis zu einer Verhandlungslösung
und voraussichtlich darüber hinaus steht UNAMID in Zunächst einmal möchte ich auf unsere gemeinsame
Darfur vor einer sehr schweren Aufgabe. Deswegen interfraktionelle Aktivität hinweisen, die wir vor weni-
werden wir die Mission weiter nach Kräften unterstüt- gen Wochen im Deutschen Bundestag mit großer Mehr-
zen. heit auf den Weg gebracht haben. Es gab heute Morgen
ein sogenanntes parlamentarisches Frühstück mit vielen
Viertens dürfen wir bei der humanitären Hilfe und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Nichtregierungs-
beim Wiederaufbau nicht nachlassen. Die Menschen in organisationen, die aktuell aus Juba, Darfur und Khar-
Darfur sind auf Unterstützung der internationalen Ge- toum gekommen sind. Ich kann Ihnen nur sagen – es ist
meinschaft angewiesen. Auch wenn Gewalt nicht überall ja manchmal ein schwieriges Verhältnis zwischen Parla-
verhindert werden kann, können wenigstens die Folgen ment und Nichtregierungsorganisationen –, dass es noch
gelindert werden. nie eine derartig einhellige Zustimmung zu einem Be-
schluss des Deutschen Bundestags gegeben hat wie zu
Fünftens und letztens muss die Menschenrechtslage dem, den wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben.
im gesamten Sudan langfristig verbessert werden. Hier
werden wir nur Fortschritte sehen, wenn sich die Sicher- Ich sage noch einmal: Das war eine gute Aktion. Die
heitskräfte im Norden wie im Süden an rechtsstaatlichen Menschen im Sudan haben gemerkt: Wir kümmern uns,
Kriterien orientieren. Irreguläre Milizen – ich sage das und wir nehmen wahr, was dort stattfindet. – Ich würde
(B) noch einmal – müssen deshalb entwaffnet und wieder in mir wünschen, dass wir an dieser Stelle weitere gemein- (D)
die Zivilgesellschaft eingegliedert werden. Eine bessere same Aktivitäten ergreifen. Das ist die Sache, glaube
Ausbildung und Unterstützung im Rahmen dieser De- ich, wert. Wir sollten auch einmal an unsere eigene
mobilisierungsprogramme ist unverzichtbar. Adresse gerichtet sagen: Das war eine gute Aktion. Wir
sollten sie nicht als Einzelfall stehen lassen.
Mit den Blauhelm-Missionen begleiten die Vereinten
Nationen den Sudan bei der Konfliktlösung. Deutsch- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
land will und wird dazu auch weiter seinen Beitrag leis- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ten. Das Bundestagsmandat für UNMIS soll inhaltlich
Ich möchte noch einmal betonen: Der Antrag, den wir
unverändert verlängert werden. Für das UNAMID-Man-
beschlossen haben, hat sich auf die beiden Mandate,
dat beantragt die Bundesregierung eine Anpassung der
über die wir heute reden, bezogen. Mit aller Klarheit
Obergrenze von bisher bis zu 250 Soldatinnen und Sol-
sage ich: Kein einziger Vertreter dieser Nichtregierungs-
daten auf bis zu 50 jetzt. Wir müssen im Rahmen des
organisationen hat uns erzählt, die Einbeziehung der
Mandats nicht mehr für die eigenen Flüge der Bundes-
Mandate für UNMIS und UNAMID sei bei ihren Orga-
wehr vorsorgen; denn UNAMID hat inzwischen zuver-
nisationen streitig. Das Gegenteil ist richtig. Viele von
lässige Lösungen für den Lufttransport gefunden. Das ist
ihnen haben uns aufgefordert, die Mandate nachzubes-
der fachliche Hintergrund der Reduktion. Diese Anpas-
sern und an die Notwendigkeiten anzupassen. Darüber
sung bedeutet keine Verringerung des deutschen Enga-
werden wir gleich noch einmal reden. Es ist jedenfalls
gements für UNAMID. Das Mandat wird lediglich an
klar geworden: Nichtregierungsorganisationen, die seit
die zukünftigen Anforderungen angepasst. Das dient der
vielen, vielen Jahren – viel länger, als wir uns mit die-
Mandatswahrheit und der Mandatsklarheit, auf die der
sem Thema befassen – dort aktiv sind, sehen den Einsatz
Deutsche Bundestag zu Recht Wert legt.
der Bundeswehr bzw. von UNMIS und UNAMID ge-
Zum Schluss möchte ich mich für den großen Einsatz rade nicht als einen Kriegseinsatz, sondern als einen
unserer Soldatinnen und Soldaten, unserer Polizistinnen klassischen Peacekeeping-Einsatz. Ich glaube, auch das
und Polizisten, der Mitarbeiter der humanitären Hilfe sollte zu Beginn dieser Debatte ganz deutlich klarge-
und Entwicklungszusammenarbeit, aber auch bei den macht werden.
Diplomatinnen und Diplomaten ausdrücklich bedanken. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Sie leisten – das können wir uns alle, glaube ich, vorstel- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
len – unter großem persönlichen Einsatz und unter sehr
schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen einen Eine Entwicklung bereitet mir Sorgen: Sie hat etwas
ganz wichtigen Beitrag. mit dem bereits angesprochenen Haftbefehl gegen den
4732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Christoph Strässer
(A) wiedergewählten Präsidenten al-Baschir zu tun. Ich war (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C)
vor eineinhalb Wochen auf der Vorbereitungskonferenz BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der Parlamentarier zur Überprüfung des Römischen Sta-
Ich habe jetzt die Erklärung gehört – sie hat mich ein
tus des ICC in Kampala. Dort ist schon mit einiger Ver-
Stück weit überzeugt; ich habe das zunächst nicht ver-
wunderung zur Kenntnis genommen worden, dass bei der
standen –, warum die Beteiligung der Bundesrepublik
Amtseinführung und Vereidigung von Herrn al-Baschir,
Deutschland im Rahmen des UNAMID-Mandats redu-
der immerhin vom ICC mit Haftbefehl gesucht wird, ne-
ziert wird. Die Zahlen bezüglich unseres Engagements
ben einigen wenigen Vertretern afrikanischer Staaten
über UNAMID im Sudan sind eigentlich eher marginal.
– ich habe gehört, dass sie aus fünf Ländern kamen – so-
wohl die beiden Sonderberichterstatter der Vereinten Na- Das Hybrid-Mandat, das wir anstrebten – die alte
tionen für den Sudan und Darfur als eben auch ein Ver- Bundesregierung, die EU, die Vereinten Nationen –,
treter der deutschen Botschaft vor Ort gewesen sind. ging davon aus, wir benötigten dort 26 000 Soldatinnen
Das, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten. Dieses
Kollegen, ist eine Geschichte, die ich doch ganz offen Mandat ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Das hat auch
und offensiv kritisiere, denn wir stehen beim ICC als etwas damit zu tun, dass insbesondere die europäischen
eine der Nationen, die dieses Mandat des ICC ganz of- Staaten, obwohl sie das Mandat gewollt und unterstützt
fensiv unterstützt haben, in der Verantwortung. Es tut haben – ich sage es einmal vorsichtig –, bei der personel-
unserer Glaubwürdigkeit in dieser Frage wirklich nicht len und materiellen Ausstattung des Mandats in Darfur
gut, wenn die deutsche Bundesregierung über ihre Bot- und anderswo ausgesprochen zurückhaltend sind.
schaft einem mit Haftbefehl gesuchten Staatspräsidenten
Das ist auch ein Teil des Problems, denn wir können
bei dessen Amtseinführung die Ehre erweist. Das sollten
– das erwarten viele Menschen auch von uns – nicht auf
wir deutlich sagen; ich halte das für nicht in Ordnung.
der einen Seite immer sagen, das sei eine eigene Angele-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genheit der Afrikanischen Union, jedoch auf der anderen
DIE GRÜNEN) Seite fordern, dass hierbei nicht allein die Afrikanische
Union aktiv wird, sondern auch die EU und andere,
Wir haben – das ist ebenfalls angesprochen worden – wenn wir uns dann bei der Gestellung und bei der Aus-
auch an der einen oder anderen Stelle das Mandat zu kri- stattung zurückhalten. Das verstehen die Menschen in
tisieren, wobei ich deutlich sage: Bei der Kritik an die- den Flüchtlingslagern nicht, die wir schützen wollen und
sem Mandat geht es nicht um eine grundsätzliche Ent- die nach wie vor in sehr großen Schwierigkeiten sind.
scheidung, sondern um die konkrete Ausgestaltung. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir auch an dieser
Ich will dies einmal an einem Beispiel von UNMIS Stelle insbesondere im europäischen Rahmen nachbes-
(B) deutlich machen, das uns auch heute Morgen vorgetra- sern müssen. (D)
gen worden ist. Im Südsudan – dies ist auch von Ihnen,
Herr Außenminister, angesprochen worden – besteht Präsident Dr. Norbert Lammert:
eine ausgesprochen schwierige Situation. Es gab im letz- Herr Kollege Strässer, lassen Sie eine Zwischenfrage
ten Jahr – das ist vielen von uns nicht bewusst gewesen – der Kollegin Schuster zu?
eine größere Zahl von Opfern im Südsudan. Nach allge-
meinen Schätzungen gab es 2 500 Tote und über Christoph Strässer (SPD):
30 000 Binnenvertriebene, mehr als in Darfur.
Ja, gerne.
Diese Situation macht uns Sorgen. Wenn man dann
von Menschen, die zum Beispiel in dem DDR-Prozess, Marina Schuster (FDP):
also bei der Demobilisierung und Entwaffnung, aktiv Lieber Herr Kollege Strässer, sind Sie denn bereit, zur
sind, von den immer noch vorhandenen gegenseitigen Kenntnis zu nehmen, dass auch unter der Vorgängerre-
Aktivitäten hört, dann fragt man sich natürlich: Was ma- gierung weder beim UNAMID- noch beim UNMIS-
chen die da eigentlich? Wenn ich dann höre, auch von Mandat mehr deutsche Bundeswehrsoldaten im Sudan
denjenigen, die vor Ort aktiv sind, es sei unklar, ob tätig waren?
UNMIS-Soldaten, wenn sie von Stammeskämpfen, von
bewaffneten Kämpfen erfahren, dort eingreifen und die
Christoph Strässer (SPD):
Beteiligten und die Zivilbevölkerung schützen dürften,
Ich habe das schon an vielen anderen Punkten gesagt:
und höre, dass sie es nicht tun, weil sie Angst haben, sie
Wenn an bestimmten Stellen eine alte Regierung oder
verletzten damit das Mandat, dann muss an diesem Man-
eine ganz alte Regierung, wie auch immer, mit ihrem
dat inhaltlich nachgebessert werden.
Mandat nicht auf der Höhe der Zeit gewesen ist, dann
Ich halte es gegenüber niemandem und nirgendwo für heißt das noch lange nicht, dass wir das jetzt weiterfüh-
vertretbar, dass für viel Geld Soldatinnen und Soldaten ren müssen.
in einer Region stehen und es nicht schaffen, einzugrei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
fen, wenn Stammesauseinandersetzungen oder Aus-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
einandersetzungen um Ressourcen stattfinden. Da muss
nachgebessert werden; anderenfalls machen wir uns mit Das Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
unserem Engagement im Südsudan unglaubwürdig, wohl deutlich geworden. Wenn man mit dem, was wir
meine Damen und Herren. Auch dies ist eine Botschaft, gemeinsam auf den Weg gebracht haben, ernsthaft Er-
die wir einmal adressieren müssen. folge erzielen will, dann muss auch die Effektivität ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4733
Christoph Strässer
(A) währleistet sein. Man kann das drehen und wenden, wie Sudan befindet sich – das wurde bereits gesagt – am (C)
man will: Dies ist sie im Moment im Sudan nicht. Aus Scheideweg. Die kommenden zwölf Monate werden für
meiner Sicht ist völlig klar, dass wir gerade vor dem dieses größte Land Afrikas, aber auch für die gesamte
Hintergrund der fragilen Situation vor dem Referendum Region – auch diesen regionalen Gesamtansatz sollten
im Südsudan – dies wurde angesprochen – dann nach- wir im Blick behalten – von ganz entscheidender Bedeu-
bessern müssen, wenn wir dies tun können. Es wäre auf tung sein. Es konnte bislang weder für den Darfur-Kon-
jeden Fall das völlig falsche Signal, wenn die internatio- flikt eine nachhaltige Lösung gefunden werden, noch
nale Staatengemeinschaft und wir als Bundesrepublik wurde das umfassende Friedensabkommen zwischen
Deutschland an dieser Stelle sagen würden: Das war es. Nord- und Südsudan von 2005 in allen Teilen umgesetzt.
Wir kündigen das Mandat. Wir beteiligen uns nicht an Die nächsten Monate – Herr Westerwelle hat darauf hin-
der Befriedungsaktion, die uns bevorsteht. gewiesen – werden im Zeichen der Vorbereitung für das
im Januar 2011 anstehende Referendum stehen. An des-
Ich finde, wir sollten in den Diskussionen im Aus- sen Ende könnte auch die Entscheidung für die Unab-
schuss darüber nachdenken, wo es effektivere Möglich- hängigkeit des Südsudan stehen. Die Unterstützung der
keiten gibt, uns dort einzubringen, den Frieden zu si- internationalen Gemeinschaft wird hierbei dringend ge-
chern und den Menschen im Sudan eine menschen- braucht.
würdige, vernünftige und nachhaltige Zukunft zu si-
chern. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die beiden Missio-
Herzlichen Dank. nen – UNMIS im Südsudan und UNAMID in Darfur –
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten um weitere zwölf Monate verlängert bzw. in Kürze ver-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) längern wird. Die Mitgliedstaaten der UN sind weiter
zur Beteiligung an der Mission aufgerufen. Dem werden
wir uns, wie Herr Westerwelle bereits gesagt hat, nicht
Präsident Dr. Norbert Lammert: verschließen.
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidi-
gung. Es ist gelegentlich wichtig, auf diesen vergessenen
Konflikt und auf die Zahlen hinzuweisen, darauf, was
sich im Sudan an menschlicher Dramatik abgespielt hat
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- und weiterhin abspielt. Da haben wir zum einen die Lage
desminister der Verteidigung: in Darfur. Die Lage bleibt ohne Frage angespannt. Ich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! möchte einmal die Zahlen nennen: Nach UN-Schätzun-
Herr Strässer, Sie haben sehr zu Recht darauf hingewie- gen hat der Konflikt seit 2003 etwa 300 000 Menschen (D)
(B)
sen, welche Folgen eine Aufkündigung dieses Mandates das Leben gekostet. Das ist zunächst einmal eine unvor-
haben könnte. Ich glaube, wir alle dürfen noch mehr An- stellbar hohe Zahl. Manche sagen dann zynisch: Da ha-
strengungen unternehmen, um den Gesamtkomplex Su- ben wir schon ganz andere Dinge gesehen. – Sie ist un-
dan im Bewusstsein unserer Bevölkerung noch etwas vorstellbar hoch. 2,7 Millionen verloren ihr Zuhause.
mehr zu verankern. Das ist einer der Einsätze, die vielen Dies ist eine gewaltige Zahl. Die Zahlen, was letztlich
himmelschreiend fern erscheinen und bei denen ich fest- den Südsudan anbelangt, haben Sie genannt, Herr
stelle, dass wir noch einen erheblichen Erklärungsbedarf Strässer. Ich glaube, dass wir die Zahl der Binnenvertrie-
haben. Wenn wir dies parteiübergreifend leisten können, benen höher ansetzen müssen als die von Ihnen genannte
dann wäre insbesondere dem Einsatz der beteiligten Sol- Zahl von 30 000. Ich glaube, dass sie erheblich höher ist.
daten, aber auch jenen, denen wir helfen wollen, ein Dies zeigt noch einmal den gesamten Komplex, vor dem
Dienst getan. Ich glaube, das wäre ein wichtiger und wir stehen.
weiterer Ansatz über die konkreten Punkte hinaus, über
die wir heute diskutieren. Zu beiden UN-Missionen im Sudan leistet die Bun-
deswehr einen zahlenmäßig kleinen, vergleichsweise be-
Bei dem, was Sie mit Blick auf die richtige Einschät- scheidenen Beitrag, aber trotzdem einen wichtigen und
zung eines Peacekeeping-Einsatzes angesprochen haben, hochanerkannten. Diese Rückmeldungen bekommen wir
aber auch bei der Kritik, die Sie gleichzeitig haben ein- immer wieder. Er ist gleichzeitig ein unentbehrlicher
fließen lassen, was die Effektivität anbelangt, gilt es na- Teil der Gesamtanstrengungen der Bundesregierung und
türlich, eine genaue Differenzierung und eine sehr ge- der internationalen Gemeinschaft zur Befriedung dieser
naue Abwägung dahin gehend vorzunehmen, wo man Region. Wir haben bei UNMIS derzeit 32 Soldaten der
letztlich möglicherweise die Grenzen überschreitet. Dass Bundeswehr als Militärbeobachter im Südsudan und in
wir immer bemüht sind, so weit nachzubessern, dass den UNMIS-Stäben im Einsatz.
man solchen Anforderungen nachkommen und gerecht
werden kann, steht völlig außer Frage. Aber die Grenz- Ich möchte ausdrücklich auf die fünf Polizisten hin-
überschreitung ist auch sehr schnell geleistet. Deswegen weisen. Auch die sollten wir in den Rahmen einbezie-
ist der Hinweis sicherlich richtig, dass wir uns um hen.
höchstmögliche Effektivität zu bemühen haben. Aber (Christoph Strässer [SPD]: Auch so eine
wenn wir dies gleichzeitig in den so schön und wohl Zahl!)
klingenden Begriff „Peacekeeping-Einsatz“ einbetten
wollen, dann muss man sich auch dieser Debatte und – Auch so eine Zahl; aber es sind fünf Polizisten. Ich
dieser Diskussion bewusst sein. glaube, wir können dankbar sein und sollten bedenken,
4734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) unter welchen Bedingungen diese fünf Polizisten dort ih- chen Ursachen der Konflikte im Sudan anzuschauen. Ich (C)
ren Dienst vollziehen. Auch das muss man einmal sagen. möchte hier ein paar Punkte umreißen, um deutlich zu
machen, dass die UN-Missionen und die Bundeswehr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auch im besten Falle nicht helfen können.
Der Dank richtet sich ebenso an unsere Soldaten.
Diese 32 Soldaten – wie ich zu Beginn sagte – stehen Der Sudan ist an sich ein reiches Land. Der US-Öl-
auch nicht im ständigen Fokus und Blickpunkt der Öf- konzern Chevron schätzte, dass der Sudan so viel Ölvor-
fentlichkeit. Sie tun unter sehr harten Bedingungen vor räte wie Iran und Saudi Arabien zusammen hat. Außer-
Ort ihren Dienst. Auch an sie geht der Dank von uns al- dem verfügt der Sudan über die drittgrößten Uran-
len. vorkommen und die viertgrößten Kupfervorkommen der
Welt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf von der CDU/CSU: Trotzdem geht es
Von ebenso großer Bedeutung für die Gesamtstabili- den Menschen schlecht!)
sierung ist – wie bereits genannt – die UNAMID-Mis-
sion. Herr Strässer, Sie haben gesagt, jetzt hätten Sie es Von diesem Reichtum hat die große Mehrheit der Bevöl-
verstanden, warum wir von den 250 auf 50 runtergegan- kerung nichts.
gen sind. De facto ist die Lufttransportfähigkeit einfach
Im Nordwesten des Landes, in Norddarfur, hat der
nicht abgefragt worden. Das ist für uns natürlich auch
Klimawandel in den letzten 20 Jahren die Lebensgrund-
eine Frage der entsprechenden Planbarkeit insgesamt:
lage der Bevölkerung zerstört. Hunderttausende flohen
Was können wir vorhalten? Gleichzeitig ist es aber auch
vor der sich ausbreitenden Wüste, Konflikte um Land
wichtig, das Signal an die Vereinten Nationen zu setzen:
und Wasser in Zentraldarfur waren die Folge.
Wir sind bereit, uns zu engagieren. Ich glaube, es ist aber
auch richtig – wenn Dinge nicht abgerufen werden, weil Im Südsudan, wo das meiste Öl liegt, gibt es seit Jahr-
sie nicht benötigt werden –, dass man einmal das Signal zehnten einen Bürgerkrieg. Hauptsächlich streiten sich
setzt, dass man bereit ist, die Dinge auch abzuschmel- die sudanesische Zentralregierung und lokale Machtha-
zen, und vielleicht in der Hinsicht auch einmal einen ber um die Verteilung der Öleinnahmen. Verschärft wer-
Weg erkennbar werden zu lassen. den die Konflikte durch das Eingreifen verschiedener
Wir sind derzeit mit acht Experten in verschiedenen Staaten. China zum Beispiel unterstützt die Zentralregie-
Stabspositionen in der Mission engagiert. Mit der Ver- rung, die weitreichende Handelsabkommen mit China
längerung der beiden Einsätze entspricht die Bundesre- abgeschlossen hat. 80 Prozent der aktuellen Ölexporte
gierung auch einem Anliegen des Bundestages. Sie ha- gehen an China.
(B) ben auf den interfraktionellen Beschluss vom 25. März (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Die (D)
2010 hingewiesen, mit dem die Bundesregierung aufge- Kommunisten!)
fordert wurde, den Friedensprozess über das Referen-
dum hinaus zu begleiten. Die US-Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die US-
Ölimporte aus Afrika bis 2020 rund zu verdreifachen.
Ich darf Sie um Zustimmung zu den beiden Mandaten Der Sudan ist dafür von zentraler Bedeutung, aber vor
und das entsprechende Engagement bitten. Ich glaube, in allem muss dafür der chinesische Einfluss zurückge-
der Hinsicht haben wir eine zielführende und über die je- drängt werden. Die USA wollen im Südsudan eine ihnen
weiligen Grenzen hinwegreichende gute Diskussion als wohlgesonnene und abhängige Regierung haben, die
Grundlage. über die Ölvorkommen verfügen kann. Ob das im Rah-
Herzlichen Dank. men einer Teilautonomie oder einer Abtrennung pas-
siert, ist ihnen egal, Hauptsache die Zentralregierung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird geschwächt und muss Zugeständnisse machen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Aufbau eigenständiger staatlicher Strukturen im


Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die Südsudan durch die UN, an dem sich auch die Bundesre-
Fraktion Die Linke. gierung beteiligt, spielt dieser Zielsetzung in die Hände.
Vor diesem Hintergrund ist eine friedliche Lösung des
(Beifall bei der LINKEN) Konfliktes leider unwahrscheinlich.
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
Christine Buchholz (DIE LINKE):
[Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist einfach dum-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- mes Zeug! Das ist töricht, so etwas! Da kann
desregierung möchte die deutsche Beteiligung an den man doch nicht klatschen!)
UN-Einsätzen im Sudan verlängern. In ihrer Antragsbe-
gründung argumentiert sie, das sei zum Schutz der suda- Die UNO-Soldaten sind bei dem Konflikt geduldete
nesischen Bevölkerung. Zaungäste. Eine Eskalation verhindern können sie nicht.
Was werden die UNO-Truppen machen, sollte es wieder
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
zum Krieg kommen? Im besten Falle ziehen sie sich zu-
ist zum Schutz der Bevölkerung!)
rück; dann werden sie schlicht überflüssig. Im
Um aber den Menschen im Sudan helfen zu können, schlimmsten Falle ergreifen sie Partei und kämpfen auf
macht es Sinn, die sozialen, politischen und wirtschaftli- einer Seite mit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4735
Christine Buchholz
(A) Wie der ehemalige Bundespräsident Köhler fest- (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Habe ich (C)
stellte, leben wir in Zeiten, in denen der Zugang zu Roh- nicht gesagt! Ich habe gesagt: Das hilft
stoffen und Märkten militärisch abgesichert wird. nichts!)
(Henning Otte [CDU/CSU]: Falsch verstan- sind Sie einfach nicht satisfaktionsfähig, um in solch ei-
den! Völlig falsch verstanden!) ner Debatte seriös mitzudiskutieren. Das muss ich hier
wirklich sagen.
Anscheinend kann und will sich die Bundesregierung
dieser Logik nicht verschließen, auch wenn sie an dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
Stelle nur ein symbolisches Kontingent beisteuert. Was der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
auch immer sich die Bundesregierung von diesen Einsät- Auch ich bin froh, dass wir hier gemeinsam einen in-
zen erhofft – vielleicht eine gestiegene internationale terfraktionellen Antrag zur Lage im Sudan beschlossen
Bedeutung, eventuell am Ende sogar einen ständigen haben. Ich sage aber auch: Es ist wichtig, dass die ent-
Sitz im Weltsicherheitsrat –, auf keinen Fall tragen sie scheidenden Punkte Schritt für Schritt umgesetzt wer-
zur Lösung der Probleme der sudanesischen Bevölke- den. Da reicht es eben nicht, dass der Sudan jetzt ein
rung bei. Schwerpunktthema des Ressortkreises des Unteraus-
schusses „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicher-
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
heit“ ist. Wir erwarten wirklich, dass auf europäischer
[Göttingen] [CDU/CSU]: Man merkt, dass Sie
Ebene und der Ebene der Vereinten Nationen die Forde-
das Sterben da nie erlebt haben! Das ist schon
rungen des interfraktionellen Antrags aktiv umgesetzt
brutal! Unglaublich, so etwas! – Gegenruf des
werden.
Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ach,
halt die Klappe!) Zu den Wahlen im Sudan. Sie waren weder frei noch
fair; diese Auffassung teile ich natürlich. Die Wahlen ha-
Präsident Dr. Norbert Lammert: ben gerade nicht zur Entspannung beigetragen, nicht
zwischen Nord und Süd, erst recht nicht in Darfur. Ge-
Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Müller, rade in Darfur war der Betrug am größten, weil die Wäh-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. lerlisten fehlerhaft waren und viele erst gar nicht zur
Wahl gegangen sind. Es gab keine unabhängigen Wahl-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beobachter. Eine transparente Klärung der Vorwürfe ist
NEN): nicht zu erwarten. Stattdessen flammen immer wieder
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Kämpfe auf: Allein im Mai gab es 600 Tote; Hunderttau-
Frau Kollegin Buchholz, zu Ihrem Beitrag würde ich sa- sende brauchen noch immer Schutz.
(B) (D)
gen: Man muss ihn in das Kapitel „antimilitaristische Ich sage deshalb: UNAMID und UNMIS sind richtig
und antikapitalistische Folklore“ einordnen. und wichtig für die Menschen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
Zuruf von der LINKEN) Insofern müssen gerade die Wahlen im Sudan für uns
Anlass sein, sowohl die Peacekeeping-Mission der UNO
– Nein, das ist wirklich wahr. Sie wissen nicht, wovon effektiver zu machen als auch zivile Friedensschaffungs-
Sie reden. Sie sagen, dass UNMIS und UNAMID „nicht maßnahmen auszubauen, das heißt das Peacebuilding zu
helfen können“. Tatsächlich tragen aber beide Einsätze stärken. Sonst wird es, glaube ich, keinen dauerhaften
entscheidend zur Stabilisierung der Situation sowohl im Frieden geben; das Unabhängigkeitsreferendum im
Süden des Sudans als auch in Darfur bei. Südsudan würde dann zu einem Desaster führen.
Ich möchte etwas zu UNMIS sagen. Es handelt sich Ich will auf die Reduzierung eingehen, die Sie bei
bei UNMIS nicht um einen Kriegseinsatz zur Sicherung UNAMID beschlossen haben. Ich denke, es ist klar, dass
von Ölinteressen, wie Sie es hier behauptet haben, son- eine schlichte Reduzierung des Mandates von 250 auf
dern um einen Einsatz, der von beiden Konfliktparteien 50 Soldaten bei der UNO natürlich nicht als Verstärkung
gewünscht war. Es ist ein Einsatz nach Kapitel VI der unseres Engagements verstanden werden kann,
UN-Charta: im Kern eine Beobachter- und Verifikations- (Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜND-
mission – so heißt das – zur Überwachung der Einhal- NIS 90/DIE GRÜNEN] und der Abg.
tung eines Friedensvertrages, der sehr mühsam zustande Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
gebracht wurde. Der Einsatz hat keinen neuen Krieg ge-
bracht; er hat den längsten und blutigsten Bürgerkrieg in zumindest dann nicht, wenn man nicht wenigstens paral-
Afrika, den Krieg im Sudan, beendet. lel das zivile Engagement, das Peacebuilding, verstärkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Ich will auf den interfraktionellen Antrag eingehen.
der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Da fordern wir im Hinblick auf die Mandate, die not-
wendige Ausrüstung und Unterstützung für UNAMID
Die Parteien haben gewünscht, dass es diese Beobach- bereitzustellen und den Anforderungen vor Ort anzupas-
termission gibt. Ich finde wirklich, solange Sie solche sen. Herr von Guttenberg, es ist richtig: Die Transportka-
Einsätze als Kriegseinsätze zur Sicherung von Ölinteres- pazitäten werden schon seit langem nicht mehr angefor-
sen diffamieren, dert; ich habe das hier mehrmals angemahnt. Es ist aber
4736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Kerstin Müller (Köln)


(A) auch richtig, dass immer noch Hubschrauberkapazitäten Da passiert im Moment gar nichts. Diese Initiative (C)
benötigt werden, dass Aufklärungsgerät, über das wir könnte neue Perspektiven eröffnen, damit es auch in
durchaus verfügen, gebraucht und von der UNO immer Darfur zu einem Friedensvertrag kommt, den UNAMID
noch angefordert wird. Es ist eine große Region; die dann überwachen kann.
Mission ist im Verhältnis dazu immer noch zu klein. Die
Forderung nach Anpassungen aus dem interfraktionellen Vielen Dank.
Antrag heißt nach meiner Auffassung nicht, dass man
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
das Mandat einfach reduzieren, sondern den realen An-
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
forderungen vor Ort anpassen soll. Das hätte ich mir ge-
wünscht. An dieser Stelle bin ich daher damit, wie Sie
das hier gehandhabt haben, nicht einverstanden. Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-
und bei der SPD) Fraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt.
Ich möchte ein paar Dinge nennen, die man in Bezug
auf Peacebuilding machen kann. Wieso zum Beispiel (Beifall bei der CDU/CSU)
bauen Sie nicht die erfolgreiche Unterstützung für die
UNO-Polizisten durch das THW aus? Warum bauen Sie Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
keine Polizeistation, damit die Menschen nach Darfur
und in den Südsudan zurückkehren und dort sicher leben Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
können? Wir haben zum Beispiel gerade den Vorsitz bei und Kollegen! Frau Müller, ich hatte heute hier im Ple-
der UNO-Peacebuilding-Kommission. Um die interna- num fast immer die Gelegenheit, Ihnen zuzustimmen.
tionale Unterstützung wirksam zu bündeln, könnte man Nachdem ich das bei der Debatte zu Gaza bereits aus
also einiges machen. voller Überzeugung getan habe, möchte ich es an dieser
Stelle erneut tun. Ihr Hinweis in Bezug auf die Luftun-
Für mich ist ganz klar: Ohne Friedensvereinbarung ist terstützung und die Hubschrauber war wichtig. Wir sind
ein erfolgreiches Peacekeeping und Peacebuilding nur uns darin einig, dass wir in diesem Bereich gern mehr
schwer möglich. Ich spreche in diesem Zusammenhang Kapazitäten zur Verfügung hätten. Diese haben wir aller-
vor allem von Darfur. Dort gibt es nämlich noch keinen dings schlichtweg nicht. Das ist das Problem an der
tragfähigen Friedensvertrag. Ich möchte hier außerdem Stelle.
einen Gedanken anbringen: Ich wünsche mir, dass wir
aufgrund des Unabhängigkeitsreferendums Darfur nicht Trotz der aktuellen Spardiskussionen sehen wir sehr
(B) links liegen lassen. wohl, dass es durchaus Einsatzgebiete gäbe. Wir sind (D)
auch der Meinung, dass es sowohl moralisch als auch
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: politisch sinnvoll wäre, in diesen Gebieten Kapazitäten
Richtig!) zur Verfügung zu stellen. Wir müssen daher mit größe-
rem Engagement als bisher die Diskussion darüber füh-
Diesen Fehler haben wir nämlich im Jahre 2005 ein
ren, wofür die Bundeswehr in Zukunft zuständig sein
Stück weit mit dem CPA gemacht. Ich glaube, es wäre
soll und mit welchen Mitteln sie dafür ausgerüstet sein
jetzt wichtig, dass Darfur Gegenstand einer hochrangi-
muss.
gen UNO-Sudan-Konferenz wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das, was Sie angemahnt haben und was von der UNO
sowie bei Abgeordneten der SPD) angefordert wird – nämlich Hubschrauberkapazitäten –,
können wir nicht in dem Maße bieten, wie es notwendig
Ich möchte Ihnen noch etwas ans Herz legen: wäre. Das gestaltet diese Frage sehr schwierig. Denn
wenn wir es könnten, hätten wir es auch gemacht. Das
Präsident Dr. Norbert Lammert: ist gar keine Frage. Vor diesem Hintergrund betrachte
Das muss aber kurz und knapp erfolgen. ich Ihren Hinweis als Ermutigung für den Fortgang der
weiteren Debatten über die Zukunft der Bundeswehr.
Das nehme ich gerne mit. Ich möchte anhand dieses kon-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kreten Beispiels deutlich machen, dass man sich überle-
NEN): gen muss, welche Aufgaben die Bundeswehr in Zukunft
Das ist mein letzter Satz. – Ich spreche von einer her- bewältigen soll und wie sie das tun soll.
vorragenden Initiative des Max-Planck-Instituts, und
zwar von Deutschland aus. Es handelt sich um einen Ich möchte gern das, was vorhin von der Kollegin
Entwurf eines Friedensvertrages, der die Zivilgesell- Buchholz von der Linksfraktion gesagt wurde, aufgrei-
schaft und viele andere Seiten betrifft. Wir müssen – das fen. Ich halte es nämlich nicht für eine einzelne verbale
würde ich erwarten – jetzt richtig Druck auf die Kon- Entgleisung. Sie steht vielmehr in einer Reihe von vielen
fliktparteien machen, damit dieses Dokument zur Äußerungen der Linkspartei zu diesen Mandaten. Vor
Grundlage der Friedensgespräche in Doha wird. Diese längerer Zeit ist hier im Deutschen Bundestag von neo-
stocken nämlich. kolonialistischen Herangehensweisen in Bezug auf unser
Engagement für Afrika gesprochen worden.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Das stimmt!) (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Exakt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4737
Philipp Mißfelder
(A) Das halte ich nun wirklich für eine noch schwerwiegen- sion, in der die Weltgemeinschaft ihre Bereitschaft zeigt, (C)
dere verbale Entgleisung als das, was Sie vorhin gesagt sich für den Frieden einzusetzen.
haben.
Aufgrund Ihrer ideologische Ablehnung könnte man
Frau Kollegin Müller hat ja schon ausdrücklich etwas meinen, dass Sie grundsätzlich auf die Ahndung von
dazu gesagt. Dem kann ich mich nur anschließen. Es Menschenrechtsverletzungen verzichten und auch da-
handelt sich bei den Missionen, über die wir heute disku- rauf, die Durchsetzung von Friedensverträgen zu über-
tieren, um völkerrechtlich legitimierte Einsätze, die von wachen. Darum geht es an dieser Stelle. Es geht um
den beteiligten Parteien angefordert und erwartet wer- einen mühsam errungenen Friedensschluss, der durchge-
den. Außerdem stehen wir auch moralisch in der Pflicht, setzt werden muss. Die Situation ist sehr fragil. Der Su-
Verantwortung zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund dan wird uns heute sicherlich nicht zum letzten Mal be-
irgendwelche Verschwörungskonstrukte in Bezug auf schäftigen.
Neokolonialismus oder ähnliche Diskussionen aufzu- Im Namen unserer Fraktion bitte ich um die Unter-
bauen, die nichts mit unserem Thema zu tun haben, halte stützung für diese Mandate. Ich danke den Soldatinnen
ich für geschmacklos. Das zeigt, dass Sie sich in der Au- und Soldaten und den fünf Polizisten für ihren Einsatz.
ßenpolitik absolut verantwortungslos darstellen. Es wurde vorhin darüber gewitzelt, dass es sich lediglich
um fünf Polizisten handelt, aber auch diese fünf Men-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schen haben eine Familie, die sich berechtigterweise
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Sorgen darüber macht, was mit ihrem Angehörigen im
GRÜNEN) Einsatz passiert. Ich danke ihnen dafür, dass sie für unser
Der Versuch, sich aus diesem schwerwiegenden Kon- Land im Einsatz sind.
flikt einfach herauszuhalten, ist der Weltgemeinschaft Herzlichen Dank.
gegenüber unverantwortlich. Ich kann an vielen Stellen
nachvollziehen – Herr Strässer hat das betont –, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mehr Engagement gefordert wird. Ich sehe die Schwie- neten der FDP)
rigkeiten, dies in Deutschland im Rahmen der politi-
schen Diskussion durchzusetzen, aber ich glaube, dass Präsident Dr. Norbert Lammert:
wir den Beitrag, den wir leisten, schon allein deshalb Ich schließe die Aussprache.
weiterhin leisten müssen, um in dieser Diskussion über-
haupt noch ernst genommen zu werden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1902 und 17/1901 an die in der Ta-
(B) In der Tat handelt es sich um einen vergessenen Kon- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (D)
flikt, wie fast alle Konflikte, die mit Afrika zu tun haben. Gibt es dazu Einwände? – Das ist offensichtlich nicht
Sie werden sowohl in den deutschen Medien als auch bei der Fall. Dann ist das so beschlossen.
unseren eigenen Diskussionen häufig vergessen. Umso Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
wichtiger ist es, dass wir uns im Deutschen Bundestag
nicht nur heute mit dieser Frage beschäftigen. Mit unse- Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
rem interfraktionellen Antrag zum Sudan haben wir be- Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
reits deutlich gemacht, welchen Stellenwert dieses (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Thema für uns hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ich danke insbesondere meinem Fraktionskollegen Die Anerkennung des Menschenrechts auf
Fischer dafür, dass er sich vehement mit diesem Thema sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung
beschäftigt hat. Das ist wichtig, um auf bestehende Kon- weiterentwickeln
flikte jenseits der Themen, die uns im Alltag beschäfti- – Drucksache 17/1779 –
gen, hinzuweisen, um uns zu ermutigen, dauerhaft mora-
Überweisungsvorschlag:
lische Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
deutsche Interessen – wie auch immer sie definiert wer- Rechtsausschuss
den, und das ist immer eine schwierige Frage – in die- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
sem Konflikt nicht auf den ersten Blick betroffen sind. Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Die moralische Verantwortung der Weltgemeinschaft ist Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
gegeben. Ich bedanke mich bei jedem, der sich für dieses Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Thema und die Durchsetzung der Menschenrechte vor Entwicklung
Ort beharrlich einsetzt. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die


Ich möchte darauf eingehen, wie wichtig der welt-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Hat jemand
weite Einsatz der Vereinten Nationen ist. Daran, dass
Einwände dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann kön-
Länder wie Malawi, Norwegen und Thailand Personal
nen wir so verfahren.
für UNMIS und UNAMID stellen, wird deutlich, dass
man an dieser Stelle nicht von Neokolonialismus oder Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
von der Durchsetzung von Rohstoffinteressen sprechen der Kollege Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/
kann. Vielmehr handelt es sich um eine vielfältige Mis- Die Grünen.
4738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): beit einen Schwerpunkt auf das Thema Wasser gelegt (C)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und hat. Wir dürfen uns darauf aber nicht ausruhen, sondern
Herren! Mit unserem Antrag fordern wir im Kern die müssen weitere Schritte gehen, damit die bisherigen An-
Aufnahme des Rechts auf Wasser in den Katalog der strengungen mehr sind als ein Tropfen auf den heißen
Menschenrechte. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser Stein. Das ist der Gegenstand unseres Antrages. Dafür
und Sanitärversorgung ist in unserer Wohlstandsgesell- bitten wir Sie um Ihre Unterstützung.
schaft eine alltägliche Selbstverständlichkeit, über die Vielen Dank.
kaum jemand nachdenkt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ist für mindestens 17 Prozent der Weltbevölke- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
rung anders – das sind 1,2 Milliarden Menschen –, die LINKEN und des Abg. Holger Haibach [CDU/
über keinen Zugang zu sauberem Wasser verfügen. Mehr CSU])
als doppelt so viele, etwa 3 Milliarden Menschen, verfü-
gen über keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Die Fol-
gen sind fatal: Weltweit sterben mehr Menschen an Präsident Dr. Norbert Lammert:
Krankheiten, die auf verschmutztes Wasser und mangel- Frank Heinrich ist der nächste Redner für die CDU/
hafte Sanitärversorgung zurückzuführen sind, als an CSU-Fraktion.
Aids oder im Zusammenhang mit bewaffneten Konflik-
ten. Frank Heinrich (CDU/CSU):
Noch immer wird der Zugang zu sauberem Wasser Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Sanitärversorgung nicht von allen Staaten als Men- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-
schenrecht anerkannt. Dabei können andere Menschen- ben ein großes Privileg. Momentan habe ich ein großes
rechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf Nahrung Privileg: Ein Glas Wasser steht vor mir. Ich darf trinken.
oder das Recht auf Bildung erst durch den Zugang zu Wir dürfen trinken und uns darauf verlassen, dass wir
sauberem Wasser und sanitären Anlagen verwirklicht das morgen und übermorgen auch noch tun können, dass
werden. In der Abschlusserklärung der Weltwasserkon- wir damit kein Problem haben werden.
ferenz 2009 in Istanbul ist lediglich die Rede von einem Das geht vielen Menschen auf dieser Welt – Herr
Grundbedürfnis. Ein Menschenrecht auf Wasser und Sa- Koenigs hat gerade gesagt, dass es 17 Prozent der Welt-
nitärversorgung wurde dort noch nicht formuliert. Das bevölkerung sind – ganz und gar nicht so.
Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung muss
aber als eigenständiges Recht kodifiziert werden und da- Zurzeit werden wir auf sehr kreative Weise über die-
(B) mit gleichberechtigt neben die anderen Menschenrechte ses Thema aufgeklärt. Es gibt eine Kampagne zur Fuß- (D)
treten. ball-WM; Sie haben vielleicht das eine oder andere Pos-
ter gesehen, auf dem jemand drei Finger hochhält. Die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kampagne trägt den Namen eines fiktiven Sportvereins:
Erst wenn der Rechtsstatus des Menschenrechts auf WASH United. Ich zitiere eine kurze Passage von der
Wasser und Sanitärversorgung stark und eindeutig ist, Website dieser Kampagne:
können die Rechtsträger ihre Rechte effektiv einfordern. Eine schreckliche Wahrheit steht allerdings fest:
Nur so erhalten alle Menschen eine konkrete Anspruchs- Wenn während der Fußball-WM um den Worldcup
grundlage. Nur so kann ein diskriminierungsfreier gekickt wird, werden in Afrika Spiel für Spiel zwi-
Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung überall schen Anstoß und Abpfiff fast 150 Kinder an den
eingefordert werden. Nur so werden Staaten zu Rechts- Folgen verunreinigten Trinkwassers, fehlender Toi-
adressaten mit klaren Verpflichtungen, und nur so kön- letten und mangelnder Hygiene sterben. Alle 45 Se-
nen effektive Kontroll- und Sanktionsmechanismen eta- kunden stirbt ein Kind einen vermeidbaren Tod.
bliert werden, die eine zielgerichtete Implementierung
des Menschenrechts auf Wasser und Sanitärversorgung Das Motto lautet: Wasser und Gesundheit für alle.
sicherstellen. Brot für die Welt, Bayern München, Fußballstars aus
Afrika und viele andere Organisationen machen im
Wir können eine Kodifizierung natürlich nicht von WM-Jahr 2010 mobil für das Menschenrecht auf Wasser
heute auf morgen erreichen. Sie ist das Endziel eines und sanitäre Grundversorgung.
langen und schwierigen diplomatischen Prozesses. Es
sind beharrliche Anstrengungen der internationalen Wenn ich heute darüber nachdenke, wenn ich mir die
Staatengemeinschaft notwendig, um das Menschenrecht hygienische Situation vieler Kinder vor Augen führe,
auf Wasser und Sanitärversorgung in den internationalen wird mir ganz anders. Heute vor 22 Jahren ist nicht nur
Konventionen zu verankern. Genau das erwarten wir die EM eröffnet worden, ich bin an diesem Tag auch
von der Bundesregierung. Jedes Regierungsgespräch zum ersten Mal Vater geworden.
über Wasser, über Sanitärversorgung, jede Demarche, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
jede Deklaration und jede Resolution im internationalen
Völkerrecht ist ein Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel. Ich bin inzwischen vierfacher Vater.
Diesbezüglich unterstützen wir es ausdrücklich, dass (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des
die Bundesregierung in der Entwicklungszusammenar- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4739

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir haben ein Problem damit – mein Kollege wird (C)
Ich bitte, die Beifallsbekundungen jetzt ein bisschen bestimmt noch genauer darauf eingehen –, sich für die
in Grenzen zu halten. Ich fürchte, daraus werden hinter- Kodifizierung in einem Zusatzprotokoll zum Sozialpakt
her noch geschäftsordnungsrechtliche Ansprüche, die einzusetzen. Ich möchte einen Satz dazu sagen:
bei entsprechenden Debatten eingelöst werden müssen. Einer ausdrücklichen Kodifizierung …, etwa in
(Heiterkeit) Form einer Konvention, bedarf es deshalb aus Sicht
der Bundesregierung in juristischer Hinsicht nicht
mehr.
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Das war eine Antwort auf eine Kleine Anfrage, die
Trotzdem danke. – Ich habe mir in Bezug auf meine
Sie gestellt haben.
inzwischen vier Kinder über einen Zugang zu sauberem
Wasser nie Gedanken machen müssen. Das ist ein Vor- Unsere Position als CDU: Wir und ich persönlich fin-
recht angesichts der Zahlen, die wir immer wieder hören. den diese Debatte sehr richtig. Wir finden es klasse, zu
Die Anerkennung eines Menschenrechts auf sauberes diesem Zeitpunkt, kurz vor der WM – wir haben nachher
Wasser, auf Trinkwasser, ist heute Abend Thema. Etwa noch eine Debatte, die auch mit der WM zusammen-
900 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sau- hängt –, dem Thema Priorität zu geben und es sehr hoch
berem Trinkwasser. 2,5 Milliarden Menschen verfügen zu hängen, den Fokus der Weltöffentlichkeit darauf zu
über keine ausreichende Sanitärversorgung; das haben richten.
wir gerade gehört. Täglich sterben 5 000 Kinder an
Durchfallerkrankungen, die meist durch verunreinigtes Wir haben aber ein Problem damit, dass in Ihrem An-
Wasser und fehlende Sanitäranlagen ausgelöst werden. trag ein paar Forderungen stehen, die so schon erfüllt
sind, und dass verzögernde Aufforderungen statt konkre-
In Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention ist der Zu- ter Schritte genannt werden. Als Antwort sagen wir: Wir
gang zu Trinkwasser im Rahmen des Rechtes von Kin- wollen zu diesem Thema selbst einen Antrag einbringen;
dern auf Gesundheit geregelt. Die Millenniumsentwick- er entsteht in diesen Tagen. Außerdem arbeiten wir an
lungsziele sehen vor, dass der Anteil der Bevölkerung einem Antrag zu den Millenniumszielen, der sich natür-
ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und grundlegen- lich mit sehr vielem, was schon gesagt wurde, über-
der Sanitärversorgung bis 2015 halbiert werden soll. schneidet; das habe ich gerade deutlich gemacht. Uns
Was wurde bis jetzt erreicht? Seit 1990 haben 1,6 Mil- geht es allerdings um etwas mehr Klärung.
liarden Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser er- Wichtig für uns ist – damit komme ich zum Ende –,
halten. Hält dieser Trend an, kann bis 2015 das Zwi- dass die öffentliche Wahrnehmung dieses Themas erhöht
(B) schenziel, dass der Anteil der Bevölkerung ohne Zugang wird und dass eine Bewusstseinsschärfung stattfindet. (D)
zu sauberem Trinkwasser halbiert wird, erreicht werden. Ich bin froh über die Aktion im Zusammenhang mit dem
Bei der Sanitärversorgung sieht es schlechter aus. Seit Fußballclub WASH United und bitte dafür um Unterstüt-
1990 ist der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Sa-
zung. Ich bin auch dankbar für die Thematisierung in
nitärversorgung hat, zwar von 49 auf 59 Prozent gestie- diesem Haus. Wir sollten aber noch weiter voranschrei-
gen, aber bis 2015 einen Anteil von 75 Prozent zu errei- ten. Auch dabei bitten wir um Ihre Unterstützung.
chen, ist im Moment nicht realistisch.
Ich danke Ihnen.
Für den Zeitraum 2005 bis 2015 haben die Vereinten
Nationen eine Wasserdekade, „Water for Life“, ausgeru- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fen. Das BMZ unterstützt dies durch die Förderung der
Aktivitäten von UN-Water. Ich weiß – ich war vor weni- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gen Wochen in Uganda –, dass auch die GTZ an vielen Ich erteile das Wort dem Kollegen Ullrich Meßmer
Stellen den Zugang zu Wasser als oberste Priorität ge- für die SPD-Fraktion.
setzt hat.
(Beifall bei der SPD)
In dem heute vorliegenden Antrag wird die Bundesre-
gierung von Ihnen aufgefordert, sich im Europäischen Ullrich Meßmer (SPD):
Rat, im Rat der Europäischen Union und im Ausschuss Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
der Ständigen Vertreter immer wieder für die Anerken- Kolleginnen und Kollegen! Ban Ki-moon, Generalsekre-
nung dieses Menschenrechts einzusetzen. Dieser Stand- tär der Vereinten Nationen, hat den Satz geprägt: Wasser
punkt hat unsere Zustimmung. Die Forderung, sich dafür ist Frieden. – Das hört sich im ersten Moment vielleicht
einzusetzen, dass die nachfolgende belgische Ratspräsi- sehr pathetisch an, gerade angesichts dieser Diskussion
dentschaft diesen Schwerpunkt weiterhin setzt, hat eben- in diesem Haus, in dem der Zugang zu Wasser für die
falls unsere Zustimmung. Die Forderung, sich im Minis- Menschen gesichert ist. Das, was bei uns Alltag ist, ist
terkomitee des Europarates für die Anerkennung dieses allerdings nicht für alle Menschen auf der Welt und
Menschenrechts einzusetzen, ist in gewisser Weise über- schon gar nicht für alle Kinder eine Selbstverständlich-
flüssig; denn das ist bereits der Fall. Am 22. März 2010 keit; darauf ist schon hingewiesen worden.
hat Catherine Ashton das sehr deutlich erklärt. Der vier-
ten Forderung, sich für einen Allgemeinen Kommentar Auch wenn heute in der Schule gelehrt wird und jedes
des VN-Menschenrechtskomitees zur Sanitärversor- Kind weiß, wie wichtig Wasser als Lebensgrundlage ist,
gung einzusetzen, kann man auch zustimmen. wissen wir auch: Das ist es nicht für alle Menschen. Im
4740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Ullrich Meßmer
(A) vorliegenden Antrag der Grünen – Herr Kollege zum Schwerpunkt seiner EU-Ratspräsidentschaft ge- (C)
Heinrich, ich würde die Hoffnung, dass wir es schaffen, macht. Dies ist ein positives Signal. Aber längst nicht
einen interfraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, alle EU-Staaten betrachten diesen Zugang als Men-
nicht aufgeben; schließlich geht dieses Thema uns alle schenrecht. Die Tschechische Republik geht zum Bei-
an – wird der Blick darauf gelenkt, dass das Thema Was- spiel davon aus, dass es sich hierbei vielmehr um ein
ser hochpolitisch ist. Denn ohne Wasser gibt es keine Grundbedürfnis handelt.
Nahrung und damit auch keine wirtschaftliche Entwick-
lung. Wo keine wirtschaftliche Entwicklung ist, bleibt Ein Grundbedürfnis – das ist eben vom Kollegen
der Wohlstand fern, gibt es keine Gesundheit, und damit Koenigs schon gesagt worden – ist im internationalen
– in einem der vorigen Tagesordnungspunkte ging es um Recht und auch in der internationalen Wirkung aber et-
ein ähnliches Thema – geht auch die politische Stabilität was anderes. Menschenrechte stehen als unveräußerli-
in der Welt verloren. Angesichts der Zahl von Men- che, unteilbare und universelle Normen fest, und vor al-
schen, überwiegend Kindern, um die es geht, ist es zwin- len Dingen – das halte ich für wichtig – haben die
gend notwendig, den Zugang zu sauberem Trinkwasser Menschen einen individuellen Anspruch auf Einhaltung
und vor allen Dingen ausreichender Sanitärversorgung der Menschenrechte gegenüber ihrem jeweiligen Staat
als Menschenrecht zu verankern. und ihren staatlichen Einrichtungen. Allein schon des-
halb wäre es wichtig, dass die Staaten klare und unum-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stößliche Verpflichtungen erhalten.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ich möchte deutlich machen: Dazu gehört auch, dass DIE GRÜNEN)
Freiheitsrechte immer nur dann möglich sind, wenn sie
auch Sicherheit bieten. Menschenrechte, meine Damen Dazu gehört, das Menschenrecht auf sauberes Trink-
und Herren, müssen stets in ihrer Gesamtheit verwirk- wasser und Sanitärversorgung in dem jeweils eigenen
licht sein. Die Umsetzung von Freiheitsrechten ist nicht Land zu achten und zu erfüllen. Es gehört ebenfalls
möglich, wenn nicht gleichzeitig auch das Recht auf dazu, das Menschenrecht auch in anderen Ländern zu
Nahrung verwirklicht wird, und Ernährungssicherheit achten und die Erfüllung auch in anderen Ländern einzu-
funktioniert niemals ohne sauberes Trinkwasser und sa- fordern. Vor allen Dingen muss sichergestellt werden,
nitäre Versorgung. dass Verletzungen dieses Menschenrechts vorgebeugt
wird. Ich sage ausdrücklich dazu: Vor allen Dingen muss
Weil ich mich in der Vorbereitung umfassend infor- auch darauf geachtet werden, dass nichtstaatliche Ak-
miert habe, erlaube ich mir, noch einmal zu zitieren. teure zur Einhaltung des Menschenrechts auf sauberes
Albert Einstein hat einmal gesagt: Trinkwasser und Sanitärversorgung verpflichtet sind;
(B)
Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf denn auch sie haben dort, wo sie tätig sind, eine Verant- (D)
um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei wortung für die Menschen.
dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Tom Koenigs
Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Un- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: BP!)
tergang der Gesellschaft bedeuten.
– Gerade wurde „BP“ gerufen; das ist ein gutes Beispiel.
Ich kann für meine Fraktion begrüßen, dass der Antrag
zur Weiterentwicklung des Menschenrechts auf sauberes Deshalb haben die Vereinten Nationen dieses Men-
Trinkwasser und Sanitärversorgung gestellt ist. Ich schenrecht bereits in mehreren Verträgen aufgegriffen,
hoffe, dass er in der nächsten Beratung breite Unterstüt- zum Beispiel in dem VN-Übereinkommen zur Beseiti-
zung und Zustimmung finden wird. gung jeglicher Form von Diskriminierung der Frau, in
der VN-Kinderrechtskonvention und im Allgemeinen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kommentar Nr. 15 des VN-Menschenrechtskomitees
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale
LINKEN) und kulturelle Rechte. Nach wie vor fehlt allerdings die
Was die Ausgangslage angeht, kann man feststellen, Behandlung der Sanitärversorgung im Allgemeinen
dass viele Experten, vor allen Dingen Experten der Ver- Kommentar Nr. 15. Außerdem steht natürlich – das ist
einten Nationen, auf die Bedeutung dieses Menschen- eben schon angesprochen worden, aber ich denke, über
rechts hingewiesen haben. diese Frage sollten wir auch weiter beraten – die Kodifi-
zierung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser
Was ich dabei vor allen Dingen wichtig finde, ist die und Sanitärversorgung in einem Zusatzprotokoll zum
Rolle, die sie der Europäischen Union zumessen. Sie er- Sozialpakt noch aus. Ich meine, auch hier sollten wir
warten, dass die EU als supranationale Organisation ih- nicht daran gehindert sein, zu versuchen, zu gemeinsa-
ren politischen Einfluss auf andere Akteure in National- men Positionen zu kommen.
staaten, aber auch in nichtstaatlichen Einrichtungen
geltend macht. Deshalb ist es notwendig, auch deutlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zu machen, dass die Diskussion über das Thema Wasser DIE GRÜNEN)
allein nicht ausreicht, weil die Themen Wasser und Sani-
Für mich und meine Fraktion ist es allerdings auch
tärversorgung zwingend zusammengehören.
sehr wichtig, dass gerade unsere Bundesregierung ihre
Spanien hat das Menschenrecht auf sauberes Trink- Vorreiterrolle auf den Ebenen der Vereinten Nationen
wasser und Sanitärversorgung bereits anerkannt und und der EU behält und ausweitet. Es wird in Zukunft
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4741
Ullrich Meßmer
(A) wichtig sein, dass die EU hier mit einer Stimme spricht, kennt und deshalb aus jedem Mitteleinsatz den maxima- (C)
damit sie als Vorreiter und gleichzeitig auch als Bezugs- len Nutzen für die betroffenen Menschen generiert.
punkt für andere Staaten dienen kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, mit der Unterstützung der Es ist deshalb auch kein Wunder, dass das Engage-
Regierung für die Erreichung dieser Ziele kann Europa ment für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass die An- und Sanitärversorgung in dieser Bundesregierung, die es
erkennung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwas- sich zum Kernziel gemacht hat, eine stringente und auf-
ser und Sanitärversorgung vorangetrieben und die Trink- einander abgestimmte Außenpolitik und Politik der wirt-
wasser- und Sanitärversorgung weltweit verbessert und schaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung zu ver-
vor allem gerechter gestaltet wird. Das sind Aufgaben, folgen, eine so bedeutende Stellung einnimmt.
denen es sich zuzuwenden lohnt.
Dirk Niebel und Guido Westerwelle haben anlässlich
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht nur in des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Men-
Europa, sondern in der ganzen Welt gehört werden, schenrechte der Vereinten Nationen im letzten Jahr das
wenn wir die Anerkennung dieses Menschenrechts aus Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und angemes-
diesem Parlament heraus betreiben. sene Sanitärversorgung als zentrales Element ihrer Politik
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. genannt. Denn die Verwirklichung dieses Menschenrechts
ist die Grundlage für viele weitere Entwicklungsschritte
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in vielen Gegenden der Welt, wie ich zu Beginn meiner
DIE GRÜNEN) Rede am Beispiel des Zusammenhangs von Bildungser-
folg und Trinkwasserversorgung aufgezeigt habe.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
Das Wort erhält nun der Kollege Pascal Kober für die nis 90/Die Grünen, Sie fordern in Ihrem vorliegenden
FDP-Fraktion. Antrag beispielsweise, dass sich die Bundesregierung
auf europäischer Ebene stärker für die Anerkennung des
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitär-
versorgung einsetzt. Vielleicht übersehen Sie dabei, dass
Pascal Kober (FDP): die Bundesregierung das bereits erfolgreich tut. So be-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hält beispielsweise die Bundesregierung zusammen mit
gibt Zusammenhänge, die sich nicht unbedingt auf den der spanischen Regierung als Doppelspitze die Feder-
führung beim Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
(B) ersten Blick erschließen. Jeder und jede von uns weiß, (D)
dass Bildung und eine gute Ausbildung die Vorausset- und Sanitärversorgung auf europäischer Ebene.
zung für individuelle Chancen und individuelle Entwick- Sodann fordern Sie in Ihrem Antrag die Bundesregie-
lung sind. Jeder und jede weiß freilich auch, dass eine rung auf, sich um eine Kodifizierung des Menschen-
fundierte Bildung und Ausbildung auch die Vorausset- rechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung
zung für die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohl- in einem Zusatzprotokoll zum Sozialpakt zu bemühen.
stand einer Gesellschaft sind. Das gilt in Deutschland, in Der Kollege Frank Heinrich hat bereits die Antwort der
Europa, aber auch weltweit. Es gilt auch insbesondere in Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage Ihrer Fraktion
den ärmsten Gegenden der Welt. zitiert, in der die Bundesregierung darauf hinweist, dass
Diesen Zusammenhang kennt, wie man so schön sagt, die Kodifizierung des Menschenrechts auf Wasser und
jedes Kind. Aber kaum einer weiß, dass man, wenn man Sanitärversorgung in Form einer Konvention in juristi-
alle Tage zusammenzählt, an denen Kinder wegen Durch- scher Hinsicht nicht nötig ist. Denn deutlich genug lässt
fallerkrankungen nicht in die Schule gehen können, auf sich das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und
die unvorstellbare Summe von 400 Millionen Fehltagen Sanitärversorgung bereits aus den bestehenden Texten
kommt. Das sind 400 Millionen Tage Schulausfall welt- ableiten.
weit wegen Durchfallerkrankungen. Worauf es viel eher ankommen muss, ist, dass wir
zum einen für die Umsetzung dieses Menschenrechts
Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Ursache für
weltweit werben. Das tut die Bundesregierung. Sie un-
viele Durchfallerkrankungen verunreinigtes Trinkwasser
terstützt die Arbeit der Unabhängigen Expertin der Ver-
und mangelnde sanitäre Versorgung sind, dann wird mit
einten Nationen für das Menschenrecht auf sauberes
einem Mal ein Zusammenhang sichtbar, den man auf
Trinkwasser und Sanitärversorgung, die diesem Men-
den ersten Blick vielleicht nicht gesehen hat. Deshalb ist
schenrecht eine hörbare Stimme gibt. Sie engagiert sich
es gut, dass wir uns in Fragen des Einsatzes für Men-
auf europäischer Ebene für die Schaffung einer Freun-
schenrechte, der Außenpolitik und der wirtschaftlichen
desgruppe aus mehreren Staaten, die sich in ihrer Region
Zusammenarbeit und Entwicklungen nicht im Klein-
als Multiplikatoren für dieses Menschenrecht engagieren
Klein vieler aufeinander unabgestimmter Projekte ver-
wollen.
lieren, sondern dass wir unseren Verstand bemühen und
eine kluge, aufeinander abgestimmte, in sich stringente Zum anderen kommt es aber vor allem darauf an, dass
und damit effiziente Politik verfolgen, wie sie Dirk wir tatkräftigen Anteil an der Lösung des Problems ha-
Niebel und Guido Westerwelle gemeinsam begonnen ha- ben. Allein südlich der Sahara werden durch das Engage-
ben, die den Zusammenhang von Ursache und Wirkung ment der Bundesregierung bis 2015 circa 30 Millionen
4742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Pascal Kober
(A) Menschen Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversor- dert den Zugang von Palästinensern zu Wasserquellen. (C)
gung erhalten. Es ist ihnen verboten, auf ihrem eigenen Land neue
Brunnen zu bauen oder alte zu reparieren.
Außerdem – auch darauf wurde in dieser Debatte
schon hingewiesen – fördert die Bundesregierung die Israel hat zusätzlich durch seinen extremen Wasser-
Initiative „WASH United“, die während der Fußball- verbrauch drastisch zum Absinken des Grundwasser-
weltmeisterschaft in acht Ländern Afrikas über Bestehen spiegels beigetragen. Ein weiteres Beispiel hat der Kol-
und Inhalt des Menschenrechts auf Wasser und Sanitär- lege Herr Haibach heute schon zu Gaza genannt: Zurzeit
versorgung und Hygieneerfordernisse aufklärt. versucht die GTZ, in Gaza eine Kläranlage zu bauen.
Wir als Parlamentarier der christlich-liberalen Regie- Doch auch das kann nicht funktionieren, weil Israel die
rungskoalition werden die Regierung bei ihren Bemü- Einfuhr von Bauteilen verbietet und die Abwassersitua-
hungen für die Verwirklichung des Menschenrechts auf tion damit verschärft.
sauberes Trinkwasser und eine angemessene Sanitärver- Als Besatzungsmacht ist Israel völkerrechtlich zur
sorgung unterstützen sowie die erforderlichen Schritte Versorgung der palästinensischen Bevölkerung ver-
prüfen und miteinander gehen. pflichtet. Diese Verpflichtung wird von Israel aber voll-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. kommen missachtet. Dabei stünde es Israel gut zu Ge-
sicht, die Menschenrechte, auch das Recht auf Wasser,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) endlich zu achten.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Niema Movassat für Dennoch denkt Entwicklungsminister Niebel öffent-
die Fraktion Die Linke. lich über trilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Is-
rael nach. Warum gerade Israel als Experte für Wasser-
(Beifall bei der LINKEN)
fragen in Entwicklungsprojekten herangezogen werden
soll, ist mir unbegreiflich, denn es honoriert die Men-
Niema Movassat (DIE LINKE): schenrechtsverletzungen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Ohne
Wasser kein Leben“ lautet eine alte Wahrheit. Heute (Beifall bei der LINKEN)
müsste es heißen: Ohne Zugang zu sauberem Wasser Der Antrag der Grünen greift vor allem die Anerken-
und sanitärer Grundversorgung gibt es kein würdevolles nung des Menschenrechts auf Wasser und auf sanitäre
Leben. Dennoch trinken mehr als 1 Milliarde Menschen Grundversorgung in allen EU-Ländern auf. Das ist lo-
(B) aus verschmutzten Quellen. benswert, und deshalb werden wir dem Antrag heute zu- (D)
Aber was bedeutet das im Lebensalltag von Men- stimmen.
schen? – Auf dem Land bedeutet es, erst einmal eine
Aber es muss auch die Frage gestellt werden, was die
halbe Stunde aus dem Dorf heraus zu laufen, um sich hin-
Ursache dafür ist, dass weltweit jeder fünfte Mensch kei-
ter irgendeinen Busch zu hocken. Für Frauen bedeutet es,
nen Zugang zu sauberem Wasser hat. Denn es gibt genü-
sich der Gefahr von sexuellen Übergriffen auszusetzen.
gend Wasser auf der Erde. Ob es jedoch sauber und
Für viele Mädchen und Frauen bedeutet es, dass sie sich
trinkbar ist und wie es verteilt wird, hängt von politi-
aufgrund mangelnder Privatsphäre und Scham nirgendwo
schen und wirtschaftlichen Entscheidungen ab. Denn
erleichtern können und krank werden. Viele Mädchen be-
Wasser wird weltweit von Firmen durch Ölbohrungen
suchen mangels eigener Toilette keine Schule.
verseucht. Es wird den armen Menschen durch Anstau-
In Lusaka, der Hauptstadt von Sambia, greifen viele ung und Bewässerungsprojekte vorenthalten.
Menschen mangels Toiletten auf die einfachsten Mittel
zurück, etwa die „fliegende Toilette“. Man macht in eine Warum haben circa 40 Prozent der Weltbevölkerung
Plastiktüte und wirft sie dann auf der Straße weg. Alle keine hygienischen Toiletten und erst recht keinen Ab-
20 Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an einfa- wasseranschluss, wenn es Konzepte für dezentrale und
chen Erkrankungen wie Durchfall. Dies alles sind un- technisch einfache Lösungen sehr wohl gibt?
haltbare Zustände. Die reichen Industriestaaten sind auf- (Beifall bei der LINKEN)
gefordert, viel mehr zu tun.
Hier geht es um den politischen Willen zu strukturellen
(Beifall bei der LINKEN) Veränderungen und darum, dass Menschenrechte über
Denn vom Erreichen des UN-Millenniumsziels, die Profiten zu stehen haben.
Zahl der Menschen ohne Zugang zu Wasser und Abwas- In der letzten Wahlperiode haben Sie von der FDP
serentsorgung zu halbieren, sind wir meilenweit entfernt. dem Antrag der Grünen auf Verbesserung der sanitären
Dafür müsste pro Sekunde mehr als eine Toilette gebaut Grundversorgung zugestimmt. Dass Sie dies heute aus
werden. koalitionstaktischen Gründen nicht tun, ist wirklich
Ein sehr deutliches Beispiel für lebensbedrohliche schade.
Wasserprobleme ist die Situation der Menschen in Gaza Ich danke für die Aufmerksamkeit.
und der Westbank. Der Salzgehalt im Trinkwasser ist im
Gazastreifen mittlerweile gesundheitsgefährdend hoch. (Beifall bei der LINKEN – Holger Haibach [CDU/
Die von Israel errichtete Mauer in der Westbank verhin- CSU]: Das ist doch die erste Lesung!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4743

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aufgabe erfüllen müssen. Ich glaube aber, dass man aus- (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von gerechnet Deutschland nicht den Vorwurf machen kann,
der CDU/CSU-Fraktion. wir täten es nicht; denn neben der Anerkennung des
Menschenrechts auf Zugang zu sauberem Wasser ist die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- entscheidende Frage, was man daraus ableitet. Daraus
neten der FDP) muss abgeleitet werden, dass man durch das eigene poli-
tische Handeln dafür sorgt, dass der Zugang gewährt
Holger Haibach (CDU/CSU): wird. Auf die Folgen zum Beispiel für die Millennium
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Development Goals oder die Mütter- und Kindersterb-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege lichkeit ist schon hingewiesen worden. Aber gerade an
Movassat, so ganz habe ich Ihre Rede nicht verstanden. dieser Stelle – ich finde, das könnte man auch sagen,
wenn man ständig kritisiert – macht Deutschland seine
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Soll ich sie Aufgabe sehr gut.
noch mal vortragen?)
Deutschland ist im Rahmen der Entwicklungszusam-
Daran, dass Sie am Ende immer wieder Israel kritisieren, menarbeit mit über 350 Millionen Euro im Jahr der dritt-
haben wir uns inzwischen gewöhnt. Israel scheint grund- größte Geber, wenn es um den Zugang zu sauberem
sätzlich an allem Schlimmen schuldig zu sein, das auf Trinkwasser geht. Herr Movassat, wir sitzen im gleichen
dieser Welt passiert. Das ist der eine Punkt. Ausschuss. Das wissen Sie genauso gut wie ich und hät-
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Es geht um ten Sie auch sagen können. Es tut mir leid, dass das nicht
Wasser für die Palästinenser!) in Ihr Bild passt. Dann muss ich es eben sagen.
Der andere Punkt ist: Wir überweisen den zur Diskus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
sion stehenden Antrag. Wir diskutieren heute darüber Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war aber
zum ersten Mal. Wir werden heute noch gar keine Ent- jetzt Israel-Kritik, was Sie gesagt haben!)
scheidung fällen. Bleiben Sie also ganz ruhig und ent- 40 Prozent dieser Gelder fließen nach Afrika. In insge-
spannt, und schauen Sie, was im weiteren Verlauf des samt 60 Ländern ist Deutschland im Wassersektor aktiv.
parlamentarischen Verfahrens passiert! In 28 Ländern ist das ein Schwerpunkt der Entwick-
Es gibt durchaus Schnittmengen. Vieles, was der von lungszusammenarbeit. Das heißt, wir haben es hier mit
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag enthält, ist einem Punkt zu tun, der nicht nur in der menschenrecht-
unterstützenswert. Ich glaube aber, dass es einige As- lichen, sondern auch in der entwicklungspolitischen De-
pekte gibt, die leider übersehen worden sind. Wenn wir batte in Deutschland und im entwicklungspolitischen
(B) über die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Handeln sowohl dieser Bundesregierung als auch der (D)
Trinkwasser reden, dann müssen wir auch darüber reden, Vorgängerregierung eine sehr große und entscheidende
welche politische, strategische und taktische Bedeutung Rolle spielt bzw. gespielt hat.
Wasser inzwischen gewonnen hat. Wir haben in der letz- Herr Movassat, Sie haben gefragt, warum ausgerech-
ten Legislaturperiode im Deutschen Bundestag oft über net Israel eine besondere Rolle spielen soll, wenn es um
den Ilisu-Staudamm in der Türkei diskutiert, nicht nur trilaterale Kooperationen geht. – Wenn Sie mir zuhören,
weil dieses Projekt in irgendeiner Form für uns wichtig kann ich es Ihnen vielleicht erklären
ist, sondern weil die Frage, dass man, wenn man in ei-
nem Land das Wasser aufstaut, dabei anderen Ländern (Zuruf von der LINKEN)
das Wasser abgräbt, hoch politisch ist. Wenn wir über – Ja, das ist mir klar. Deswegen hat er Dinge behauptet,
die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes die so nicht stimmen.
Trinkwasser reden, müssen wir auch über solche Punkte
diskutieren. Warum also ausgerechnet Israel, wenn es um multila-
terale Kooperationen im Bereich Wasser geht? Ganz ein-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fach: Israel hat eine sehr große Erfahrung und eine sehr
neten der FDP) große Kompetenz in diesem Bereich. Wir führen zusam-
Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels, den men mit Israel in Afrika ein Projekt auf dem Gebiet der
wir derzeit erleben, ist es wichtig, daran zu erinnern, trilateralen Kooperation durch. Israel hat nämlich viel
dass Wasser eine wichtige Ressource ist und dass diese Erfahrung damit, wie man in Gebieten mit großer Tro-
Ressource in Zukunft – vermutlich noch mehr als heute – ckenheit ein kompliziertes Problem wie das der Bewäs-
ein Ausgangspunkt für Konflikte sein wird. serung vernünftig lösen kann.

(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜND- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist bei
NIS 90/DIE GRÜNEN]) den Palästinensern umgekehrt!)

Wir werden Konflikte in vielen Regionen dieser Welt er- – Diese Debatte haben wir heute Mittag geführt, Herr
leben, die wegen Wasser geführt werden. Wasser hat Dehm. Ich glaube, ich habe heute Mittag ganz deutlich
eine unglaublich hilfreiche, aber auch zerstörerische gesagt, was ich davon halte. Ich finde, man darf das eine
Kraft. mit dem anderen nicht vermischen. Es geht darum, wo
man am besten Effekte erzielen kann. Wenn Sie wie ich
Herr Kollege Movassat, natürlich haben Sie recht, an vielen Tagungen teilgenommen und sich mit dieser
wenn Sie sagen, dass die reichen Industriestaaten ihre Frage beschäftigt hätten, dann würden Sie wissen, dass
4744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Holger Haibach
(A) es in Israel, auf der Seite der Palästinenser oder der Jor- Michael Link (Heilbronn) (C)
danier und anderenorts in der Region viele Experten Dr. Diether Dehm
gibt, die wissen, dass die Frage des Wassers entschei- Manuel Sarrazin
dend ist für Krieg und Frieden. All diese Experten wis-
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether
sen ebenfalls, dass es nationale Alleingänge an dieser
Dehm, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Stelle nicht gibt. Dass die israelische Politik zurzeit viel-
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
leicht nicht so ist, wie wir sie gern hätten, entbindet uns
doch nicht von dem Versuch, etwas dafür zu tun, dass zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates
die Wasserproblematik – Wasser ist ein verbindendes über die Organisation und die Arbeitsweise
Element – regional gelöst wird; anders kann sie nicht ge- des Europäischen Auswärtigen Dienstes und
löst werden. Ich halte eine billige Israel-Kritik an dieser zum Vorschlag für eine Verordnung des Euro-
Stelle, ehrlich gesagt, für intellektuell ziemlich über- päischen Parlaments und des Rates zur Ände-
schaubar. rung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/
2002 des Rates über die Haushaltsordnung für
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Billig ist
den Gesamthaushaltsplan der Europäischen
das, was Sie jetzt sagen! – Niema Movassat
Gemeinschaft in Bezug auf den Europäischen
[DIE LINKE]: Das waren doch ganz konkrete
Auswärtigen Dienst
Punkte!)
Ratsdok. 8029/10 und KOM(2010) 85 endg.,
Ich finde, wir sollten uns eher konkret an das halten, Ratsdok. 8134/10
was der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen uns heute
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
hier vorgelegt haben, beinhaltet.
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
Ich verweise aber auch auf die Punkte, die ich darüber und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
hinaus erwähnt habe. Wir sollten versuchen, eine sachli- der Europäischen Union
che Debatte über ein extrem wichtiges Thema zu führen;
denn dieses Thema ist es auf jeden Fall wert. Den Europäischen Auswärtigen Dienst entmi-
litarisieren
Herzlichen Dank.
– Drucksache 17/1976 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- (D)
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
Ich schließe die Aussprache.
so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
Drucksache 17/1779 an die in der Tagesordnung aufge-
ner das Wort dem Kollegen Roderich Kiesewetter von
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
der CDU/CSU-Fraktion.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 bis 9 auf:
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
CSU und der FDP 10. Juni 1979 wurde um diese Zeit die erste Europawahl
Einen effizienten und schlagkräftigen Euro- ausgezählt. Da schwitzte man nicht in Berlin bei 30 Grad
päischen Auswärtigen Dienst schaffen Celsius, sondern bei den Auszählungen der ersten Wahlen
zum Europäischen Parlament. Damals war die Bevölke-
– Drucksache 17/1981 – rung der Mitgliedstaaten aufgerufen, das erste Europäische
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Parlament zu wählen. Heute, 31 Jahre später, sprechen wir
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten über die Außendarstellung, über die Außenrepräsentanz,
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem über die Außenpolitik der Europäischen Union. Das ist
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, ein Riesenfortschritt innerhalb einer Generation und Aus-
Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck (Bremen), druck der Bewältigung schwierigen Zusammenwirkens
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft.
NIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Den Europäischen Auswärtigen Dienst euro- Der Europäische Auswärtige Dienst ist natürlich ein
päisch, handlungsfähig und modern gestalten ganz besonders innovatives Element im Bereich der Eu-
– Drucksachen 17/1204, 17/2012 – ropäischen Union. Die Schaffung dieser Institution ist
die wichtigste verbliebene Umsetzung dessen, was mit
Berichterstattung: dem Vertrag von Lissabon vereinbart worden ist. Der
Abgeordnete Roderich Kiesewetter Bundestag begleitet die Diskussion über die europäische
Dietmar Nietan Außendarstellung seit dem Konvent von 2002. Wir ha-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4745
Roderich Kiesewetter
(A) ben uns seit Jahresbeginn im Ausschuss für die Angele- unter kontrollierter Aufsicht – in die entsprechenden (C)
genheiten der Europäischen Union wie auch im Auswär- Strukturen sehr eng eingebunden.
tigen Ausschuss intensiv damit auseinandergesetzt. Am
26. April gab es die Ratseinigung. Unsere heutige Befas- Uns geht es darum, dass es nicht zu Duplizierungen
sung ist auch darin begründet, dass man das Ziel hat, von Fähigkeiten kommt. Was meine ich damit? Es geht
nächste Woche die politische Einigung im Europaparla- uns darum, dass wir die Expertise der bilateralen Zusam-
ment herzustellen. menarbeit mit den Drittstaaten zusammenfassen, die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Länder-
Ich möchte an dieser Stelle dem Staatsminister Hoyer, referate, die Themen- und Länderorientierung zusam-
der beiden Ausschüssen stets umfassend Rede und Ant- menbringen. Das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Des
wort stand, sehr herzlich für die immer zeitnahen Infor- Weiteren fordern wir, dass die Vertretungen der Europäi-
mationen danken. schen Union in Drittstaaten – sprich: mit längerfristigem
Blick die konsularischen Vertretungen, aber auch die De-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie legationen selbst – Teil des EAD werden.
des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD] –
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war ges- Wir brauchen eine starke Führung des Europäischen
tern aber ein bisschen suboptimal! – Zuruf des Auswärtigen Dienstes. Sie erfolgt dadurch, dass die
Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE Hohe Vertreterin nicht nur Weisungsrecht haben soll,
GRÜNEN]) sondern auch bei der Personalauswahl die entscheidende
Hürde darstellen soll. Wir wissen: Die Hohe Vertreterin
– Auch Herr Sarrazin hat viele Fragen gestellt, und Herr hat drei Hüte auf. Sie ist Vorsitzende des Rates für Aus-
Staatsminister Hoyer hat immer intensiv Antwort gege- wärtige Angelegenheiten, Vizepräsidentin der Kommis-
ben. sion und die Telefonnummer, die Kissinger immer gefor-
Es sind noch drei wesentliche Rechtsakte zu verhan- dert hat: der europäische Außenminister.
deln: das Personalstatut, die Haushaltsordnung und der Hierbei brauchen wir eine politische Vertretung.
Haushalt des EAD. Die Einigung soll, wenn möglich, Diese politische Vertretung, die nicht nur das Europäi-
noch unter spanischer Präsidentschaft erfolgen. sche Parlament fordert, muss erst einmal implementiert
Worum geht es eigentlich? Warum haben wir unseren werden. Für uns ist es ganz wichtig, dass wir diese Ein-
Antrag gestellt? Was sind unsere Kernforderungen? Wir richtungen dann nicht als gegeben hinnehmen, sondern
möchten natürlich, dass das Europäische Parlament inten- unsere Forderung, die wir im Antrag auch deutlich ma-
siv beteiligt wird. Wir brauchen die parlamentarische chen, lautet, dass der Europäische Auswärtige Dienst in
Kontrolle des Europäischen Auswärtigen Dienstes, nicht seinen Managementstrukturen, aber auch in der Frage
(B)
nur in Haushaltsfragen, aber insbesondere dort. Ange- der politischen Vertretung durch die Hohe Vertreterin (D)
sichts der Herausforderungen, vor denen wir in Europa zeitnah überprüft wird; Zwischenbericht im Jahr 2011.
stehen – ich nenne einige: Klimaschutz, Energiepolitik, Im Jahr 2013 möchten wir einen Sachstandsbericht ha-
Nichtverbreitung, Menschenrechte, Terrorismus, organi- ben und, wenn es sein muss, die notwendigen Anpassun-
sierte Kriminalität, entwicklungspolitische Fragen –, brau- gen in den entsprechenden Verwaltungsstrukturen.
chen wir einen klaren Dialog über die außenpolitischen (Beifall des Abg. Oliver Luksic [FDP])
Prioritäten. Deshalb fordern wir dies auch ausdrücklich in
unserem Antrag. Die neuen großen Herausforderungen Das führt die außenpolitischen Fähigkeiten der Euro-
müssen in eine Priorisierung gebracht werden. päischen Union zusammen. Es geht uns um vernetzte Si-
cherheitspolitik. Es geht uns um vernünftige Personal-
Des Weiteren geht es uns – das unterscheidet unseren politik. Ein Drittel der Angehörigen des Auswärtigen
Antrag sehr deutlich vom Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Dienstes kommt aus den Mitgliedstaaten. Wir wollen, dass
Die Grünen – um die institutionelle Ausgestaltung der hier ein Teamgeist herrscht – die Fraktion Bündnis 90/Die
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir dür- Grünen drückt das mit „Esprit de Corps“ sehr vornehm
fen nicht neue bürokratische Strukturen schaffen, eine aus –, der zusammenschweißt und europäische Außen-
extra Generaldirektion, sondern wir müssen schauen, politik mit den Mitgliedstaaten ganz eng vernetzt. Ich
dass wir einen schlanken europäischen Dienst schaffen. glaube, wir sind uns alle einig: Das ist eine ganz wesent-
Es gilt der Primat der Politik. Gerade bei den sicherheits- liche Leistung in diesem Zusammenhang.
politischen Fragen, die das Militär betreffen, gilt der
Bundestagsvorbehalt. Ich halte es für ganz wichtig, dass Natürlich geht es auch darum, die Entwicklungszu-
wir nicht nur in Deutschland einen ganzheitlich vernetz- sammenarbeit zu vernetzen, die in etwas anderen Struk-
ten Sicherheitsbegriff fordern, sondern einen solchen turen stattfindet.
auch praktizieren, wenn wir die Chance dazu haben. Das Ein letzter Punkt, der uns wichtig ist: Es geht um
tun wir, indem wir Krisenprävention und frühzeitige Kri- Deutsch als Amtssprache. Wir haben seit langer Zeit
senerkennung im Europäischen Auswärtigen Dienst er- erstmals wieder eine solche klare Forderung in einem
möglichen sowie zivile und militärische Fähigkeiten zu- Antrag. Es geht darum, dass im Europäischen Auswärti-
sammenbinden. Wer anders als die Zivilmacht der EU gen Dienst Deutsch als Amts- und Arbeitssprache in den
kann das leisten? Ich glaube, das ist ein ganz besonderer Entscheidungsvorlagen, aber auch in der Binnen- und
Fortschritt. Ich weiß noch, wie vor zehn Jahren die ers- Außenkommunikation besonders gefördert werden soll.
ten Soldaten im EU-Militärstab wie weiße Raben be-
trachtet wurden. Heute sind sie – ich möchte nicht sagen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
4746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Roderich Kiesewetter
(A) Ich fasse zusammen: Wir möchten einen schlanken, Drittens brauchen wir Personal, das den Zielen der (C)
leistungsfähigen Europäischen Auswärtigen Dienst. Wir Europäischen Union loyal gegenübersteht.
möchten keine zusätzlichen Organisationsstrukturen wie
ein Generaldirektorat, sondern ganzheitliche, vernetzte Viertens ist dafür notwendig, dass wir eine entspre-
Zusammenarbeit. Diese Strukturen möchten wir erpro- chende Grundlage für die Rekrutierung von Beschäftig-
ben und zeitnah bewerten, um sie dann möglicherweise ten – auf der Basis von Leistung und Qualifikation –
anzupassen. Und wir brauchen Synergien, damit das er- schaffen.
kennbar wird, was mit der europäischen Telefonnummer Fünftens. Gleichzeitig werden wir ein hohes Maß an
für die Außenwirkung unserer großen Gemeinschaft mit Flexibilität bekommen. Wir brauchen das – mit gemein-
über 500 Millionen Einwohnern wirksam wird. samen Ausbildungsmaßnahmen – auch zur Weiterent-
wicklung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte Sie
deshalb um Unterstützung für den Antrag der Regie- Sechstens muss es ein vernünftiges Rotationsverfah-
rungskoalition. ren des Personals zwischen dem Europäischen Auswärti-
gen Dienst, den nationalen Dienststellen sowie anderen
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. europäischen Institutionen geben. Dies wird, glaube ich,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu einer Stärkung beitragen.
Natürlich gehört auch dazu, dass der Deutsche Bun-
Präsident Dr. Norbert Lammert: destag laufend – und zwar intensiver als bisher – über
Das Wort hat jetzt Kollege Axel Schäfer von der die weitere Entwicklung des Europäischen Auswärtigen
SPD-Fraktion. Dienstes informiert wird und dass wir dabei auch zu ei-
ner politischen Willensbildung kommen.
(Beifall bei der SPD)
Es wird wichtig sein, dass wir im Zusammenwirken
von Europäischem Parlament und den nationalen Parla-
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): menten – so wie das auch angelegt worden ist – zu Er-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gebnissen kommen, die darauf hinauslaufen, dass die
Frage des Europäischen Auswärtigen Dienstes ist in ei- Rechte des Europäischen Parlaments in den jetzt anste-
ner Gemeinschaft, wie sie die EU darstellt, etwas ganz henden drei Entscheidungen voll zur Geltung kommen.
Besonderes. Es ist das „Spezifische sui generis“. Das ist Das heißt, es muss deutlich sein, dass die Kompromisse,
mehr als ein Wortspiel, sondern es ist aus meiner Sicht die zustande kommen werden, die Rechte des Europäi-
deshalb etwas Besonderes, weil wir mit den vergemein- schen Parlaments wahren. Nur so kann dies meiner An-
(B) schafteten zentralen Politikbereichen wie Wettbewerb, sicht nach gelingen. (D)
Handel, Zölle und vor allen Dingen mit der Währung (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
– dem Euro – das große europäische Projekt des
21. Jahrhunderts haben. An ihm wird sich die Hand- Das Gelingen setzt voraus, dass wir von einem Punkt
lungsfähigkeit bzw. das gemeinsame Europa zeigen – Abschied nehmen. Ich hoffe, es gibt hier in diesem Haus
oder eben auch nicht. genügend überzeugte europäische Föderalisten, die das
im Kopf, aber auch im Herzen tragen. Wir müssen ein
In Bezug auf den Europäischen Auswärtigen Dienst Stück weit davon Abschied nehmen, dass die klassische
wird die Frage sein, ob dieser Wille vorhanden ist oder Außenpolitik etwas ist, was letztendlich als etwas sehr
ob man – statt eine Institution zu schaffen, die im Wichtiges noch beim Nationalstaat verbleiben muss, mit
Dienste aller, nämlich des Rates, der Kommission und allen Instrumenten, Symbolen und Personen. Vielmehr
des Europäischen Parlamentes, stehen muss – zu einer sollte man wissen, dass dieses Gemeinsame in Europa
Ausrichtung kommt, die zu sehr auf den Rat zugeschnit- zum Ausdruck kommt; das heißt, das Ganze ist da mehr
ten ist. als die Summe seiner Teile.
Ich bin froh, dass die SPD-Fraktion als Erste dies the- Das erfordert sowohl ein Stückchen Mut als auch die
matisiert hat. Wir haben bereits vor mehreren Monaten Bereitschaft, an einigen Stellen auch in politischer Hin-
eine Kleine Anfrage mit insgesamt 38 Fragen gestellt. Es sicht das Herz über die Hürde zu werfen. Ich glaube, das
ist gut, dass sich jetzt auch andere Fraktionen dazu posi- ist bei allen Außenministern der Fall, völlig unabhängig
tioniert haben. Dass CDU/CSU und FDP besonders spät von ihrer parteipolitischen Ausrichtung, weil wir wissen,
Stellung bezogen haben, ist ihre Sache. welche zentrale Rolle Außenpolitik spielt.
Was die konkrete Ausgestaltung anbelangt: Wir müs- An dieser Stelle muss man darauf hinweisen, weil uns
sen uns insbesondere auf die folgenden Punkte beschrän- hier in diesem Hause vieles verbindet, uns aber an eini-
ken. Erstens brauchen wir einen politischen Gestaltungs- gen Punkten manches auch trennt: Dazu gehört, dass wir
willen vonseiten dieses Europäischen Auswärtigen solche Debatten wie heute mit Blick auf die geneigten
Dienstes. Das würde bedeuten, dass wir in einer globali- Zuhörer zu einem solchen Zeitpunkt wie jetzt,
sierten Welt handlungsfähig werden. 22.50 Uhr, nicht führen sollten.
Wir brauchen zweitens eine strategische Ausrichtung, (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Die einge-
wie wir in Europa mit diesem Instrument die Außenpoli- nickten Zuhörer! – Manuel Sarrazin [BÜND-
tik gestalten. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben alle einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4747
Axel Schäfer (Bochum)
(A) Computer zu Hause! Bochum sitzt geschlos- nehmer daran sind jetzt seit 20 Uhr zusammen. (C)
sen am Computer!) Eigentlich sollten wir bis 23 Uhr ebenfalls anwesend
sein, weil es dort Debatten mit Verfassungsrichtern, mit
– Ach, die Zuhörer. Wir sind ja die Beteiligten. Wir hö-
Ministern usw. gibt. Dies war jetzt nicht kontinuierlich
ren zwar auch zu, aber wir sind hier keine Zuhörer. Wir
möglich, weil auf dieser Debattenzeit beharrt wurde. Es
sind die beteiligten Abgeordneten.
war meines Erachtens von der Sache her nicht richtig,
Das Folgende sage ich ausdrücklich an die Kollegin- dass man dies so auseinanderreißt und die Möglichkeit
nen und Kollegen der Fraktion der Linkspartei: Der des Gesprächs mit den Kolleginnen und Kollegen des
Europaausschuss Europäischen Parlaments nicht so nutzt, wie es gut ge-
wesen wäre. Das sei an dieser Stelle auch gesagt. – Jetzt
(Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Jetzt sind ist meine Redezeit zu Ende; jetzt gibt es auch keine Zwi-
sie wieder munter!) schenfragen mehr.
hat, beginnend in der letzten Legislaturperiode, eine be-
Vielen Dank.
stimmte Stilprägung vorgenommen, indem er Wert da-
rauf legte, sich bei wichtigen Fragen zu verständigen (Beifall bei der SPD)
– gerade solchen, bei denen es um institutionelle Dinge,
aber auch um Verfahren und das Miteinander hier geht –, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ohne dass man inhaltlich alles glattbügelt. Wir haben es Das Wort hat jetzt der Kollege Oliver Luksic von der
als Einzige geschafft, mit fünf Fraktionen eine interinsti- FDP-Fraktion.
tutionelle Vereinbarung hinsichtlich der Zusammen-
arbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung hinzu- (Beifall bei der FDP)
bekommen, die sogar stilbildend für andere Länder ist.
Dies ist auch in unseren Begleitgesetzen niedergelegt. Oliver Luksic (FDP):
Wir haben es als Erste geschafft, Folgendes zu verein- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
baren: Wenn es um die Kommission geht, machen wir unserem Antrag wollen wir der Bundesregierung den
etwas ganz anderes, indem wir den designierten Kom- Rücken stärken, im Rat darauf hinzuwirken, dass der
missar einladen, damit er angehört wird. Das war ein EAD ein leistungsfähiges Instrument wird. Es ist wich-
Antrag der SPD, der aber auch von CDU/CSU, FDP, tig, dass der Bundestag ein Signal nach Brüssel sendet,
Grünen und von der Linkspartei unterstützt wurde. um die Chance zu nutzen, den EAD offensiv mitzuge-
Hierzu sage ich noch einmal ausdrücklich Dank an die stalten.
Beteiligten und auch an Günther Oettinger. Der EAD soll dazu beitragen, dass die EU ihre außen-
(B)
Wir haben es einvernehmlich geschafft, dass wir in politischen Interessen möglichst geschlossen, kohärent (D)
der Regel öffentlich tagen; das ist ein sehr großer Fort- und wirkungsvoll vertreten kann. Damit wird ein neues
schritt. Es ist mir nicht erklärlich, dass wir heute Abend Kapitel in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
eine Debatte zu diesem wichtigen Punkt um diese Zeit politik aufgeschlagen werden. Es handelt sich bei der
führen müssen, zumal noch andere Debatten anstehen, Einrichtung des EAD um einen wichtigen Meilenstein
bei denen wir das in diesem Rahmen machen; das kann der europäischen Integration.
man auch in der Öffentlichkeit überhaupt nicht transpor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tieren. der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Der EAD muss unserer Überzeugung nach eine starke
FDP) und eigenständige Institution sui generis sein. Die EU
Ich appelliere wirklich an Sie, dass wir uns auch auf- wird im 21. Jahrhundert – das wurde eben zu Recht ge-
grund unseres Selbstverständnisses und unseres europäi- sagt – außenpolitisch nur gehört werden können, wenn
schen Engagements in Zukunft darauf verständigen, sie mit einer Stimme spricht. Hierzu muss dem EAD und
der Hohen Vertreterin notwendigerweise eine starke
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Rolle zukommen. Daher begrüßen wir ausdrücklich die
CSU und der FDP) in diesem Zusammenhang getroffene Entscheidung für
dies so zu platzieren, dass alle ihr Recht haben und mit die politische Vertretung der Hohen Vertreterin, die wir
ihren differenzierten Meinungen hier zur Geltung kom- für wichtig erachten.
men, aber bitte füglich nicht mehr um 22.52 Uhr. Bei der Einrichtung des EAD betreten wir Neuland.
(Christoph Strässer [SPD]: Lob doch mal die- Deswegen wird es in Zukunft notwendig sein – das sa-
jenigen, die da sind!) gen wir auch in unserem Antrag –, seinen Aufbau und
seine Struktur auf Effektivität zu überprüfen und gege-
– Jetzt lobe ich die, die da sind. Vielen Dank noch ein- benenfalls neu zu justieren und anzupassen.
mal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es gibt auch andere wichtige Dinge. Wir haben näm-
lich – das war der Hauptkritikpunkt; entschuldigt, es ist Wir wollen einen schlagkräftigen, effizienten EAD. Des-
wirklich schon spät – heute die in dieser Legislatur- wegen legen wir in unserem Antrag ein besonderes Au-
periode einzige Sitzung mit dem Ausschuss für konstitu- genmerk auf seinen Aufbau und die Leitungsstruktur.
tionelle Fragen des Europäischen Parlaments. Die Teil- Schwierig wird es insbesondere dann, wenn es zu Über-
4748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Oliver Luksic
(A) schneidungen mit den Zuständigkeiten der Europäischen get vorlegen sollen. Die Schaffung des EAD sollte dem (C)
Kommission kommt. Hier muss ein einheitliches Auftre- Grundsatz der Kosteneffizienz genügen. Haushaltsneu-
ten gesichert sein. Ich glaube, dass hier gute Lösungen tralität ist das Ziel, um eine Mehrbelastung für die natio-
gefunden werden. Das gilt etwa für die Frage der Dele- nalen Haushalte zu vermeiden. Vor allem muss der
gationen der Europäischen Union, die grundsätzlich Haushalt des EAD vollumfänglich der Kontrolle des
integraler Teil des EAD werden sollen. Dabei müssen Europäischen Parlaments unterliegen.
geeignete Lösungen für die spezifischen Belange derje-
Wir senden mit unserem Antrag ein Signal aus. Wir
nigen Politikbereiche gefunden werden, für die die
stärken der Regierung den Rücken. Es ist wichtig – dies
Kommission originär zuständig ist, etwa Handel und Er-
wurde eben zu Recht gesagt –, dass der Initiative des
weiterung.
Außenministers, der deutschen Sprache eine angemes-
Ich meine, die Hohe Vertreterin sollte in jedem Fall sene Bedeutung im EAD zukommen zu lassen, Rech-
die zentrale Rolle bei Weisungen an die Delegationen nung getragen wird.
spielen. Auch bei der Benennung der Delegationsleiter
Für uns ist klar, dass am Ende dieser Verhandlungen
soll die Hohe Vertreterin in Abstimmung mit der Kom-
der EAD nicht nur Gestalt angenommen haben soll, son-
mission eine wichtige Rolle spielen.
dern die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
Von besonderer Bedeutung ist es, dass mit der Ein- EU darüber hinaus ein Gesicht bekommt, das der Bedeu-
richtung des EAD mittel- und langfristig ein Synergie- tung der EU in der Welt des 21. Jahrhunderts gerecht
effekt erreicht wird. Deswegen gilt es, wo immer mög- wird. Ich glaube, dass der Bundestag mit der Verabschie-
lich, Doppelstrukturen in den Institutionen des EAD, des dung unseres Antrages dazu ein kleines Stück beitragen
Rats und der Kommission zu vermeiden. kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Deren wirksame Zusammenarbeit sollte unserer Mei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nung nach in Form einer institutionalisierten politischen
Koordinierung sichergestellt werden, beispielsweise in- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dem in einem Gremium die Hohe Vertreterin, die Lei- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Diether Dehm von
tungsebene des EAD und die entsprechenden EU-Kom- der Fraktion Die Linke.
missare zusammenkommen. Denn klar ist: Der EAD
muss das institutionelle Herzstück der Gemeinsamen (Beifall bei der LINKEN)
Außen- und Sicherheitspolitik werden. Deswegen ist es
wichtig, dass sowohl die Arbeitsstrukturen im Rahmen Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
(B) (D)
des Krisenmanagements und der Europäischen Sicher- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
heits- und Verteidigungspolitik als auch die Aspekte der Axel Schäfer, die Koalition hat diesen Tagesordnungs-
Entwicklungszusammenarbeit in den EAD eingebunden punkt aufgesetzt. Uns ist Europa zu wichtig, als dass wir
werden. Hierdurch kommt es nicht zu einer Abkopplung eine Rede hierzu zu Protokoll geben.
bzw. Verselbstständigung, was einige Kollegen der Lin-
(Beifall bei der LINKEN)
ken immer kritisieren. Im Gegenteil: Indem wir die
zweite Säule in den EAD integrieren, haben wir mehr Reden zu Militärfragen gehören im Übrigen nicht zu
demokratische Kontrolle in diesen Bereichen. Protokoll gegeben. Die Parlamentarier werden gut genug
bezahlt, auch noch um diese Uhrzeit die Regierung zu
Wichtig ist, dass der EAD die Zuständigkeit für die
kontrollieren.
strategische Programmierung der einschlägigen Finanz-
instrumente erhält und die Hohe Vertreterin eine ent- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
scheidende Rolle bei der Programmierung und Umset-
zung des Haushalts der GASP und der kurzfristigen Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Aspekte der Stabilitätsinstrumente einnimmt. bezeichnend für Ihr Demokratieverständnis in militäri-
schen Fragen ist, dass die Konsultationen mit dem Euro-
Die Synergieeffekte sollten meiner Meinung nach päischen Parlament erst nach der politischen Weichen-
mittel- und langfristig nicht nur auf die übrigen EU-In- stellung im zuständigen Rat stattfinden werden und dass
stitutionen begrenzt bleiben, sondern auch die nationalen auch den nationalen Parlamenten wichtige Dokumente
auswärtigen Dienste umfassen. Dafür haben wir uns in fehlen wie das von Baroness Ashton überarbeitete Orga-
unserem Antrag explizit ausgesprochen. Es ist ein wich- nigramm zur personellen Ausgestaltung des EAD. Den
tiger Punkt, dass langfristig durch die Einrichtung der Vorschlag der Kommission zur Personalausstattung ha-
Delegationen der Europäischen Union auch eine Aus- ben wir ebenso wenig wie den Haushaltsentwurf der
übung konsularischer Tätigkeiten angestrebt werden Kommission; der kommt erst am 15. Juni.
soll. Ich glaube, auch das ist ein wichtiger Impuls.
Ist der Antrag der Koalition Ihr Beitrag zu § 9 Abs. 1
Lassen Sie mich abschließend einige Worte zur des Zusammenarbeitsgesetzes? Wo ist die Aufforderung
Finanzierung des EAD sagen. Wir meinen, die Finanzie- zur Stellungnahme mit angemessener Zeitvorgabe? Mei-
rung des EAD muss von Anfang an auf soliden Füßen nen Sie, dass militärische Einigungen im Rat keiner vor-
stehen. Im Antrag ist vorgesehen, dass die Hohe Vertre- herigen Stellungnahme des Bundestages unterliegen?
terin und die Kommission vor Annahme des Beschlusses Wenn die Koalition überfallartig einen solchen Antrag
zur Einrichtung des EAD einen Vorschlag für das Bud- stellt, den wir erst gestern Nachmittag auf dem Rechner
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4749
Dr. Diether Dehm
(A) hatten, ist das ein Versuch, das Zusammenarbeitsgesetz Das alles geht bei Ihnen hopplahopp, damit das die Öf- (C)
und das Bundesverfassungsgericht ins Leere laufen zu fentlichkeit und das Bundesverfassungsgericht nicht
lassen. merken. Aber die Umfragemehrheiten gegen Ihre
Kriegseinsätze wachsen weiter. Die Völker in dieser EU
(Beifall bei der LINKEN) sind eben friedlicher als ihre Regierungen, und denen ist
Die gestrige Unterrichtung durch Staatsminister der Antrag der Linken verpflichtet.
Hoyer im Europaausschuss war – ich sage das vorsich- (Beifall bei der LINKEN)
tig; ich habe es im Europaausschuss etwas deutlicher ge-
sagt – substanzarm. Auf meine schlichte Frage an Sie, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Hoyer, wie viele Beschäftigte der EAD hat, kam Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin vom
undurchsichtiger Zahlennebel. Zu der Frage, was es den Bündnis 90/Die Grünen.
Steuerzahler kosten wird, gab es eine komplette Fehlan-
zeige. Wie sollen das deutsche und das Europäische Par-
lament unter diesen Voraussetzungen angemessen re- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
agieren? Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir Grünen wünschen uns einen modernen, in
Im Schweinsgalopp will der Europäische Rat, assis- seinem Selbstverständnis europäischen und effizienten
tiert von Kommission, High-Level-Group, Planungs- Auswärtigen Dienst.
und Arbeitsgruppe der Hohen Vertreterin und Bundesre-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
gierung, bereits am kommenden Montag im Rat die poli-
SES 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler
tische Einigung durchpeitschen. Die EU ist bisher ohne
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann auch
EAD ausgekommen. Warum dann jetzt diese Hast?
schlagkräftig sein!)
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Es geht dabei nicht um klassische, nationalstaatlich ge-
Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung werden bei prägte Außenpolitik, sondern darum, Antworten auf die
Ihnen zum Wurmfortsatz degradiert. Unter dem ver- Probleme zu geben, die unsere Welt am meisten betref-
schleiernden Begriff der „vernetzten Sicherheit“ wird fen: Klimawandel, Armutsbekämpfung, Umgang mit
die Entwicklungszusammenarbeit der Militärlogik ein- fragiler Staatlichkeit, Bekämpfung der Verbreitung von
verleibt. Zivile Konfliktlösung braucht viel Geduld, Mit- Massenvernichtungswaffen. All diese Sachen kann kein
tel und Menschenliebe. Staat mehr im Alleingang lösen. Deswegen muss der
EAD dem effektiven Multilateralismus gewidmet sein.
(Beifall bei der LINKEN) Er muss eindeutig widerspiegeln, dass die EU eine Zivil- (D)
(B)
macht ist; die Priorität muss auf dem Zivilen liegen.
Aber dann stolzierten in der Geschichte immer Militärs
heran und riefen: Wir lösen euch das ruckzuck! – Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wicklungshilfe für arme Menschen der Militärpolitik Gut ist, dass das Europäische Parlament bei der Frage
starker Rüstungskonzerne unterzuordnen, zeigt, wer bei der parlamentarischen Kontrolle und der Rechenschafts-
Ihnen den Kürzeren ziehen soll. pflicht des EAD gegenüber dem Parlament seine Posi-
Mit dem EAD in seiner Konzeption als „Institution tion deutlich und entschieden vertreten hat. Deswegen
sui generis“ entsteht ein Apparat, dessen Ausrichtung musste dem Parlament entgegengekommen werden. Nun
sich jeder echten parlamentarischen Kontrolle entzieht. wird das Europäische Parlament bei der Ausarbeitung
Die Haushaltskontrolle ersetzt das eben nicht, Kollege von Strategien und Mandaten im Bereich der GASP eine
Luksic, und die Anhörungsrechte des Europäischen Par- Rolle spielen. Auch im Bereich der organisatorischen
lamentes sind ohnehin unterbelichtet. In der EU versu- Eingliederung der Krisenmanagementstrukturen im
chen Sie zu vermischen, was Sie hierzulande aus gutem EAD gibt es zumindest nach dem, was uns bisher nur in-
Grund nicht dürfen, was hier streng getrennt ist: Außen- formell vorliegt, Herr Hoyer, Verbesserungen. Eine Son-
ministerium, Verteidigungsministerium und Geheim- derstellung dieser Strukturen ohne jegliche Anbindung
dienste mit der Entwicklungshilfe. an alle anderen für diesen Bereich relevanten Strukturen
hätten wir nicht akzeptieren können.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Herr Dehm, Sie sprechen sich letztlich dafür aus, dass
GRÜNEN]: Jetzt übertreiben Sie!) die Geheimdienst- und Militärstrukturen in keiner
Schon bei Georg Orwell wurde das Kriegsministe- Weise, in keiner Form in den EAD integriert werden.
rium Friedensministerium getauft. Lassen wir die unver- Dies würde dazu führen, dass diese Strukturen total frei-
bindliche Friedenslyrik in Ihrem Antrag durchs Netz lau- schwebend, außerhalb jeglicher vernünftigen parlamen-
fen: Hängen bleiben die harten Fakten. Das fängt bei tarischen Kontrolle durch das EP oder die nationalen
dem Titel an: „Einen … schlagkräftigen Europäischen Parlamente agieren könnten. Insofern fordern Sie nicht
Auswärtigen Dienst schaffen“. Schlagkräftig, das klingt das, was Ihre Worte suggerieren, und das ist ein Fehler.
nun wirklich sehr nach einem Kriegsministerium, aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
natürlich „sui generis“. sowie bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Wir finden, dass Krisenmanagement nicht allein auf
FDP: So ein Quatsch!) militärische Strukturen reduziert werden darf. Vielmehr
4750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Manuel Sarrazin
(A) muss der gesamte Konfliktzyklus zusammen betrachtet Ich bedanke mich für diese schöne Debatte. Es war (C)
werden, von der Konfliktprävention über die Bewälti- eine Freude, noch um diese Zeit mit Ihnen allen zusam-
gung bis zur Nachsorge, und zwar unter dem Primat des men sein zu dürfen. Gute Nacht!
Zivilen. Der Wiederaufbau und die Mediation müssen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
im EAD eine Rolle spielen. Deswegen haben wir immer
sowie bei Abgeordneten der SPD)
eine Generaldirektion für „Peacebuilding and Civilian
Crisis Management“ gefordert. Wenn Sie Ihre Forderung
ernst meinen und die militärischen Strukturen außerhalb Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
des zivilen Krisenmanagements – nicht unter der Vor- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
herrschaft des Zivilen – installieren wollen, dann werden erteile ich dem Kollegen Thomas Silberhorn von der
Sie Ihren Worten, dass Sie keinen freischwebenden Mili- CDU/CSU-Fraktion das Wort.
tarismus in der EU wollen, nicht gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie reden neten der FDP)
gerade für die Regierung, ja?)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Wir sehen keine Anzeichen für eine Militarisierung im Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
EAD, wenn sich das Organigramm, so wie es sich der- ren! Kaum eine Forderung ist in den letzten Jahren so
zeit darstellt, durchsetzt, obwohl wir mehr fordern wür- häufig und so nachdrücklich erhoben worden wie die,
den. dass wir außenpolitisch in der Europäischen Union mit
einer Stimme sprechen müssen.
Wir wollen auch nicht, dass die Entwicklungspolitik
einfach außenpolitischen Zielen untergeordnet wird. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das habe
Deswegen ist es wichtig, dass sich der EAD zu den Men- ich noch nie gefordert!)
schenrechten und zur weltweiten Bekämpfung von Der Europäische Auswärtige Dienst kann das Instrument
Armut und Hunger bekennt. Die UN-Millenniumsziele dazu werden. Er muss dazu natürlich leistungsfähig und
sind entscheidend für die Arbeit dieses Dienstes. effizient organisiert sein. Nach meiner Einschätzung
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha- wird er auf Dauer auch auf die Unterstützung der Mit-
ben gestern im Ausschuss zugegeben, dass manche der gliedstaaten angewiesen sein.
Forderungen in unserem und Ihrem Antrag deckungs- Dass dieser Europäische Auswärtige Dienst eine Ein-
gleich sind. Folgerichtig kann ich nicht behaupten, dass richtung eigener Art wird, entspricht der Forderung in
(B) Ihr Antrag kompletter Nonsens wäre. Zumindest in den unserem Koalitionsvertrag. Es entspricht durchaus auch (D)
deckungsgleichen Bereichen finden sich positive An- der Vertragslage; denn im Bereich der Gemeinsamen
sätze. Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Vertrag von
Lissabon nicht vorgesehen, dass eine weitere Kompe-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf tenzübertragung von den Mitgliedstaaten auf die Euro-
von der CDU/CSU: Seien Sie doch froh!) päische Union stattfinden soll. Die Kommission verfügt
zwar über für die Außenbeziehungen relevante Kompe-
Dennoch muss ich – Hand aufs Herz – zugeben: Auch
tenzen im Bereich der Handels- und der Entwicklungs-
wenn nicht alles in Ihrem Antrag schlecht ist, so ist unse-
politik. Die Verträge sehen aber nicht vor, dass der Euro-
rer doch deutlich besser. Sie hätten sich die Arbeit spa-
päische Auswärtige Dienst vollständig an die Stelle der
ren und einfach unserem Antrag zustimmen können. nationalen Dienste treten soll. Deswegen ist es richtig,
(Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Nein, das dass bei der institutionellen Verankerung des Europäi-
geht nicht! Wir sind verantwortungsvolle Poli- schen Auswärtigen Dienstes Äquidistanz gegenüber dem
tiker! Wir arbeiten selbst!) Rat und der Kommission zum Tragen kommt. Das ent-
spricht im Übrigen auch der Konzeption eines Doppel-
Dann hätten Sie sich wirklich für einen wertegebunde- huts für den Hohen Vertreter, der zugleich Vizepräsident
nen EAD ausgesprochen. So müssen wir hier wohl aus- der Kommission und Vertreter der Mitgliedstaaten in der
einanderlaufen. Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist. Dass
ein solches Organisationsmodell parlamentarische Kon-
Unabhängig vom „Esprit de Corps“, den Sie, Herr trolle nicht ausschließt, liegt auf der Hand. Insbesondere
Kiesewetter, angesprochen haben, ist es wichtig, dass muss das Europäische Parlament die Haushaltskontrolle
sich der EAD auf die Ziele und Werte der Europäischen in vollem Umfang ausüben. Ich denke, da sind wir uns
Union bezieht und wir diese auch im aktuellen Verfahren über alle Fraktionen hinweg einig.
nicht aus den Augen verlieren. Bei allen Grabenkämpfen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
um Posten, die von manchen in Brüssel geführt werden,
neten der FDP)
ist es wichtig, dass wir die Arbeit des EAD in Zukunft
konstruktiv begleiten. Ein Beitrag dazu wäre, dass die Dass der Europäische Auswärtige Dienst keine Dop-
Bundesregierung uns jährlich einen ausführlichen pelstrukturen schaffen darf, ist bereits mehrfach zu
Bericht über die Arbeit des EAD aus ihrer Sicht vorlegt; Recht angesprochen worden. In diesem Zusammenhang
dann könnte der Bundestag weiterhin seine Rolle spie- stellt sich eine Reihe von Zukunftsfragen. Ich denke
len. schon, dass wir langfristig anstreben sollten, dass bei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4751
Thomas Silberhorn
(A) spielsweise konsularische Aufgaben durch EU-Delega- gliedstaaten. Deswegen werden die Strukturen des Euro- (C)
tionen wahrgenommen werden. Es ist aber genauso päischen Auswärtigen Dienstes alleine nicht ausreichen.
notwendig, dass intern kein Nebeneinander von Wei- Es gehört der politische Wille der europäischen Mit-
sungssträngen existiert und keine Loyalitätskonflikte gliedstaaten dazu, gemeinsame Interessen in der Welt
entstehen. auch gemeinsam wahrzunehmen. Dann kann Europa mit
Stärke nach außen auftreten. Ich glaube, der Europäische
Der Europäische Auswärtige Dienst muss angemes- Auswärtige Dienst ist dafür – wenn wir es richtig ma-
sen an die Mitgliedstaaten angebunden bleiben. Deswe- chen – ein geeignetes Mittel. Ich wünsche der Bundes-
gen ist es richtig, dass ein Drittel dieses Dienstes mit regierung Erfolg bei den anstehenden Verhandlungen.
nationalen Beamten bestückt wird,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Bis wann?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die den übrigen Bediensteten gleichgestellt werden. Um Ich schließe die Aussprache.
Ihren Zuruf aufzugreifen: Das soll möglichst schnell
geschehen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 17/1981 mit dem Titel „Einen effizienten und schlag-
NEN]: Das kostet aber! Es soll doch kosten- kräftigen Europäischen Auswärtigen Dienst schaffen“.
neutral sein, Herr Silberhorn!) Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Ich bin der Meinung, dass der Europäische Auswär- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositi-
tige Dienst haushaltsneutral finanziert werden muss. onsfraktionen angenommen.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Ange-
NEN]: Das widerspricht sich mit Ihrem vori- legenheiten der Europäischen Union zum Antrag der
gen Satz!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Eu-
Die Mittel können nicht „on top“ kommen; die Finanzie- ropäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfä-
rung muss sich vielmehr vollständig im Rahmen der gel- hig und modern gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in
tenden finanziellen Vorausschau bewegen. Die laufen- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2012,
den Kosten müssen ausschließlich aus dem Haushalt der den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Europäischen Union gedeckt werden. Es gibt überhaupt Drucksache 17/1204 abzulehnen. Wer stimmt für diese
(B) keinen Grund, den Europäischen Auswärtigen Dienst als Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (D)
Vorwand zu nehmen, um Finanzmittel der EU aufzusto- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
cken. Es ist eher umgekehrt: Wir haben schon vor dem Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke gegen die
Jahre 2007 die jetzt geltende Vorausschau so ausgestat- Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
tet, dass der damalige Entwurf des Verfassungsvertrages SPD-Fraktion angenommen.
bzw. der Vertrag von Lissabon in diese Maßnahme Zusatzpunkt 9. Antrag der Fraktion Die Linke auf
gewissermaßen eingepreist worden ist. Drucksache 17/1976 mit dem Titel „Den Europäischen
Dass Deutsch im Europäischen Auswärtigen Dienst Auswärtigen Dienst entmilitarisieren“. Wer stimmt für
eine wichtige Bedeutung hat, ist der CSU immer ein be- diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
sonderes Anliegen gewesen. Es freut mich, dass ich dies Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke
aufgrund der Einlassungen meiner Kollegen aus der mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
CDU und der FDP nicht mehr besonders apostrophieren Es gibt noch eine größere Zahl von Tagesordnungs-
muss. punkten, zu denen die Reden zu Protokoll genommen
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden. Ich bitte Sie, mir noch Gesellschaft zu leisten,
NEN]: Die Linke hat das auch immer betont, damit wir das ordentlich abwickeln können.
Herr Silberhorn!) (Heiterkeit – Veronika Bellmann [CDU/CSU]:
Deutsch ist die meistgesprochene Muttersprache in Wir lassen Sie nicht allein, Herr Präsident!)
Europa. Dass wir als größter Nettozahler bei der Einrich- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
tung des Europäischen Auswärtigen Dienstes finanziell
den größten Anteil tragen, darf auch erwähnt werden. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Deswegen ist es notwendig, dass Deutsch dem Engli- Die Fußballweltmeisterschaft – Eine Chance
schen und dem Französischen weitestgehend gleichge- für Südafrika
stellt wird.
– Drucksache 17/1959 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Überweisungsvorschlag:
Es liegt noch vieles im Argen, wenn wir europaweit Auswärtiger Ausschuss (f)
Sportausschuss
mit einer Stimme sprechen wollen. Hin und wieder gibt Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
es Vielstimmigkeit und manchmal wohl auch einen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Wettstreit um größtmögliche Sichtbarkeit unter den Mit- Entwicklung
4752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Die Reden, die zu Protokoll gegeben werden, stam- SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Sabine Stüber, Die (C)
men von den Kollegen Hartwig Fischer und Stephan Linke, und Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die Grünen.3)
Mayer, CDU/CSU, Dagmar Freitag, SPD, Marina Schuster,
FDP, Jens Petermann, Die Linke, und Uwe Kekeritz, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Bündnis 90/Die Grünen.1) Drucksache 17/1960 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Drucksache 17/1959 an die in der Tagesordnung aufge- so beschlossen.
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W.
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die tion DIE LINKE
Einsetzung eines Nationalen Normenkontroll-
Europäisches Jahr gegen Armut und soziale
rates
Ausgrenzung ernst nehmen
– Drucksache 17/1954 –
– Drucksachen 17/889, 17/1246 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Berichterstattung:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Geschäftsordnung
Innenausschuss Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
Rechtsausschuss Mechthild Heil und Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU,
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Pascal Kober, FDP, Cornelia
Haushaltsausschuss Möhring, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die
Grünen.
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Kai Wegner, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD, Frank Mechthild Heil (CDU/CSU):
Schäffler, FDP, Michael Schlecht, Die Linke, und Der Antrag der Fraktion Die Linke ist untauglich. Mit
(B) Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.2) seinen Ansätzen wird es weder gelingen, Armut in unse- (D)
rer Gesellschaft zu reduzieren, noch wird er die große
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Gruppe derer stärken, die mit ihrer Arbeit und ihrem
wurfs auf Drucksache 17/1954 an die in der Tagesord- Verdienst die Steuereinnahmen erwirtschaften, die es
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es uns ermöglichen, eines der erfolgreichsten und stabils-
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ten Sozialsysteme der Welt aufrechtzuerhalten. Sinnvolle
ist die Überweisung so beschlossen. Ansätze und wirksame Mittel sind in der zur Beratung
anstehenden Initiative nicht zu erkennen. Meine Frak-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
tion wird daher diesen Antrag ablehnen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Allein der über 200 Seiten starke Dritte Armuts- und
Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
2008 zeigt uns, dass wir sowohl in der Analyse der Ur-
Unsere Meere brauchen Schutz sachen von Armut in unserer Gesellschaft die Augen
nicht verschließen, als auch in der Umsetzung der erfor-
– Drucksache 17/1960 – derlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf dem
Überweisungsvorschlag: richtigen Weg sind. Wir setzen unsere Anstrengungen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) dabei vor allem vor dem Hintergrund eines breiten poli-
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tischen und gesellschaftlichen Bewusstseins in Deutsch-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und land an, dass unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsord-
Verbraucherschutz nung allen Menschen Chancen bieten muss und kann.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Chancen auf Bildung, auf Wissen und den Erwerb von
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Fähigkeiten, Chancen auf Erfolg am Arbeitsmarkt, auf
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ein gesichertes Einkommen, auf soziale Akzeptanz und
sozialen Aufstieg.
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt sollen die Re-
den zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um Nicht zuletzt steht deshalb auch der Begriff der „Bil-
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Ingbert dungsrepublik Deutschland“ mit einem klaren Bekennt-
Liebing und Josef Göppel, CDU/CSU, Frank Schwabe, nis zu mehr Ausgaben für Schule, Hochschule, Aus- und
Weiterbildung sowie für Forschung im Mittelpunkt unse-
1) Anlage 3
2) Anlage 4 3) Anlage 5
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4753
Mechthild Heil
(A) rer Politik. Chancengerechtigkeit ist daher ein vorrangi- zent der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen (C)
ges Ziel der Politik der unionsgeführten Bundesregie- etwa 42 Prozent zum Aufkommen der Einkommensteuer
rung, und dies ist es am Ende allein, was nachhaltiges bei, während sie etwa ein Viertel des Gesamtbetrages
Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland schaffen der Einkünfte vor Steuern erzielen. Dies ermöglicht ei-
wird. nen Sozialstaat, in dem sich Leistung lohnt. Ein Ab-
standsgebot zwischen Lohneinkommen und sozialen
Wir verschließen gleichwohl nicht die Augen vor den Transferleistungen bleibt darüber hinaus unabdingbar,
Herausforderungen unserer Zeit bei der Bekämpfung um Menschen den Anreiz zu geben, eine Arbeit aufzu-
von Armut. Wir wissen, dass etwa Kinder von Alleiner- nehmen.
ziehenden, Kinder von Kinderreichen und Kinder mit
Migrationshintergrund in besonderer Weise von Armuts- Die Bundesregierung gestaltet das Europäische Jahr
risiken betroffen sind. Wir sind wesentlich mehr für Kin- gegen Armut und Ausgrenzung 2010 zielgerichtet und
derbetreuung und die Vereinbarkeit von Familie und Be- nachhaltig mit. Daran besteht kein Zweifel. Deutsch-
ruf, damit Alleinerziehende und Eltern die Chance landweit erhalten 40 sogenannte Leuchtturmprojekte
haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Förderungen der EU im Rahmen des Europäischen Jah-
res. Die zahllosen Informationsquellen dazu sind Ihnen
Im Bereich der frühkindlichen Bildung sind die Zei-
bekannt.
chen der Zeit erkannt worden, damit etwa Kinder von
Migranten bei Schuleintritt ausreichende deutsche Im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Armut
Sprachkenntnisse erworben haben, um im Unterricht und soziale Ausgrenzung findet in Kürze vom 19. bis
mitzukommen. Kinder brauchen Verlässlichkeit und Zu- 25. Juni 2010 eine nationale Fokuswoche statt. Mit
wendung in der Familie und in ihrem Umfeld. Wir wol- zahlreichen Veranstaltungen werden die Themen Armut
len allen Kindern und Jugendlichen faire Startchancen und Armutsbekämpfung stärker ins öffentliche Bewusst-
und die besten Möglichkeiten für ihre Entfaltung bieten. sein gerückt. Die Fokuswoche wird von der Nationalen
Armut und soziale Ausgrenzung von Kindern und Ju- Armutskonferenz, nak, durchgeführt und durch Mittel
gendlichen sind mit unserer Politik aus christlichem des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, BMAS,
Verständnis unvereinbar. Armut ist mehr als materielle gefördert.
Armut. Wir vertrauen auf die Bereitschaft der Menschen,
ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Wo Die Politik steht nicht alleine, sondern hat viele ge-
immer es geht, wollen wir Hilfe zur Selbsthilfe bieten. sellschaftliche Akteure an ihrer Seite, die zielgerichtet
und engagiert mithelfen. Ich erwähne hier die Nationale
Mit einer eigens eingesetzten Kommission werden wir Armutskonferenz. Sie setzt sich zusammen aus Vertrete-
das Problem der zunehmenden Altersarmut angehen. rinnen und Vertretern der Spitzenverbände der Freien
(B) Wir benötigen hier ein in sich schlüssiges Konzept, um Wohlfahrtspflege und Vertreterinnen und Vertretern von (D)
auch in Zukunft eine bedarfsgerechte Alterssicherung in bundesweiten Verbänden und Initiativen. Dieses regel-
Deutschland herzustellen. Die Anbindung der Rente an mäßig tagende Forum will mit seiner Arbeit dazu beitra-
die Lohnentwicklung wirkt der Altersarmut entgegen. gen, das Armutsproblem zu überwinden bzw. die Selbst-
An diesem bewährten Prinzip halten wir fest und werden hilfeansätze der von Armut betroffenen oder bedrohten
uns auch künftig für eine Rentenentwicklung einsetzen, Menschen zu unterstützen. Die Nationale Armutskonfe-
die den Rentnerinnen und Rentnern eine verlässliche renz sieht ihren Auftrag unter anderem darin, einen Bei-
und gerechte Beteiligung an der allgemeinen Einkom- trag zu einer veränderten Politik zu leisten, damit die
mensentwicklung gewährleistet, ohne der jüngeren Ge- Lebenslage armer Menschen verbessert und eine struk-
neration Chancen auf Entfaltung und Wohlstand zu neh- turelle Überwindung von Armutsbedrohung erreicht
men. wird.
Anstatt eines allgemeinen gesetzlichen Mindestloh- Armutsbekämpfung bleibt für uns in der Union ein
nes, der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte gefährdet, wichtiges Oberziel unserer Sozial-, Wirtschafts- und Ge-
werden wir das Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich sellschaftspolitik, und wir werden den erfolgreichen Weg
festschreiben, um Lohndumping zu verhindern. Wir weitergehen!
bauen hier auf den bewährten Mechanismus der verant-
wortlichen Verhandlungen der Tarifpartner in Deutsch-
land, der 60 Jahre lang sozialen Frieden maßgeblich Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
mitgeschaffen hat. Wir wollen die Tarifautonomie als ei- Wenn man ernsthaft an einer Verbesserung der Situa-
nen Garanten für die Stabilität des Standortes Deutsch- tion der hierzulande in Armut lebenden Menschen inte-
land stärken. Sie gehört unverzichtbar zum Ordnungs- ressiert ist und etwas bewegen will, ist doch deutlich
rahmen der sozialen Marktwirtschaft. Der wichtigste mehr Substanz und inhaltliche Reife nötig, als es Ihrem
Ansatzpunkt ist dabei, dass die Lohnfindung nicht ver- Antrag zu entnehmen ist.
staatlicht wird, sondern Aufgabe der Tarifpartner bleibt.
Sie sprechen von „Armutsregelsätzen“ und „Stigma-
Deshalb ist Reglementieren, Regulieren und Sozialisie-
tisierung“: Was glauben Sie denn, wie sich jemand fühlt,
ren nicht unser Weg.
der von ebendiesen Regelsätzen sich und seine Familie
Wir sind der Auffassung, dass starke Schultern einen ernähren muss und gleichzeitig immer wieder hört, dass
relativ stärkeren Beitrag für das Gemeinwohl leisten er ein Armutseinkommen bezieht? Eine treffsicherere so-
sollen. Dies wird in Deutschland durch die Progressivi- ziale Ausgrenzung ohne triftigen Grund hätten Sie nicht
tät der Einkommensteuer gesichert. So tragen die 5 Pro- vornehmen können! Dass solche Bewertungen nicht ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


4754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Johann Wadephul


(A) rade zum Wohlbefinden der Betroffenen beitragen, son- Regelsätze auf 500 Euro zu erhöhen, völlig unangemes- (C)
dern diese in ihrer ohnehin schon schwierigen Lage zu- sen und irreführend ist. Was die Zusammenführung der
sätzlich belasten, dürfte eigentlich auf der Hand liegen. früheren Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfä-
hige zu einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeit-
In Ihrem Antrag finden sich diffus formulierte Krite- suchende betrifft, so herrscht unisono die Auffassung,
rien als Antwort auf die Beseitigung von Armut. So for- dass dies der Schritt in die richtige Richtung war. Dies
dern Sie zum Beispiel „verbindliche Ziele“ und ein zeigt sich unter anderem auch darin, dass die Auswei-
„Handlungsprogramm zur Unterfütterung“. Bei allem tung des Optionsmodells bundesweit auf große Zustim-
Respekt – etwas konkreter sollten Sie schon werden, da- mung in den Kommunen stieß. Die Arbeitsmarktstatisti-
mit man ernsthaft darüber diskutieren könnte. Der Blick ken weisen zudem ebenfalls darauf hin, dass sich die
auf andere Statements zu sozialen Themen oder in Ihr zahlreichen Instrumente positiv für viele Langzeitar-
Wahlprogramm ist zwar ein bisschen aufschlussreicher beitslose ausgewirkt haben.
dahin gehend, wie Sie sich den Kampf gegen Armut und
soziale Ausgrenzung vorstellen, wenngleich auch die Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu Ihrem
materiell verwertbare Ausbeute sich stark in Grenzen Vorwurf, die Bundesregierung verfolge kein Programm
hält. Ihre wiederkehrenden Themen sind: die Vertei- zum Thema Armut und soziale Ausgrenzung: Das Bun-
lungsgerechtigkeit im Sinne einer Umverteilung von desministerium für Arbeit und Soziales hat ein recht
oben nach unten; die Einführung gesetzlicher Mindest- vielseitiges Programm zum Europäischen Jahr 2010
löhne sowie Abschaffung von Hartz IV. aufgelegt, das drei Hauptziele verfolgt:
Lassen Sie mich zu diesen Punkten Folgendes ausfüh- Estens. Die Entwicklungschancen für Kinder verbes-
ren: sern.
Erstens: Die Umverteilung von Vermögen bewirkt
Zweitens. Mithilfe von Arbeit die Hilfebedürftigkeit
keine soziale Gerechtigkeit, auch wenn die Linke das im-
überwinden.
mer wieder skandiert. Soziale Gerechtigkeit entsteht
dort, wo jeder Bürger die Chance erhält, seinen Fähig- Drittens. Integration statt Ausgrenzung.
keiten entsprechend gefördert zu werden. Da nun mal je-
der unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt, bedeu- Die Details hierzu sind Ihnen bekannt – zumindest
tet dies automatisch unterschiedliche Förderung. Herrn Lothar Bisky, der die Inhalte ja anlässlich der
Soziale Gerechtigkeit heißt aber auch, dass jeder die Auftaktveranstaltung zu diesem Programm ausdrücklich
Möglichkeit haben muss, an gesellschaftlichen Abläufen begrüßt hat.
teilhaben zu können, sich eigenverantwortlich einzu-
(B) bringen und seinen Lebensunterhalt bestreiten zu kön- Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
(D)
nen. Eine rein passive Umschichtung von Kapital kann
kein eigenständiges oder eigenverantwortliches Denken Heute beraten wir erneut den Antrag der Linken zum
und Handeln hervorrufen. Sozial ist nicht, wenn etwas Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-
gleichgemacht wird, sondern wenn Gleiches gleich und zung. Bereits am 4. März 2010 hatten wir unsere Reden
Ungleiches ungleich behandelt wird. hierzu – genau wie heute – zu Protokoll gegeben. Das ist
bei einem so wichtigen Thema mehr als bedauerlich!
Zweitens: Ein gesetzlich festgeschriebener Mindest- Das Thema Armut darf nicht in den Ordnern verschwin-
lohn – so wie Sie ihn sich wünschen, also bei 10 Euro – den, sondern muss – so auch der Titel des Antrags –
würde sich in denjenigen Branchen, die sich im Niedrig- ernst genommen werden.
lohnsektor befinden, verheerend auswirken. Die Lohn-
kosten würden dramatisch ansteigen, wodurch Wettbe- SPD, Grüne und Linke haben sich in den vergange-
werbsnachteile gerade im Vergleich zu ausländischen nen Wochen und Monaten zum Thema Armut stark par-
Unternehmen vorprogrammiert wären. Dies wiederum lamentarisch eingemischt. Der SPD liegt das Thema
würde zahlreiche Unternehmen finanziell ruinieren und ganz besonders am Herzen. Das haben wir unter ande-
somit Arbeitsplätze vernichten. Dagegen brächte ein flä- rem mit unseren Anträgen zu den Regelsätzen, zur
chendeckender Mindestlohn in Branchen wie zum Bei- Gleichstellung und zu Guter Arbeit aufgezeigt.
spiel der Metallindustrie keinen Gewinn, da dort die
Löhne oft ohnehin höher liegen. Mindestlöhne machen Mit der nationalen Ausgestaltung des Europäischen
Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung, die noch
dort einen Sinn, wo sie branchenbezogen angewendet
von SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz auf den Weg ge-
werden und für inländische und ausländische Betriebe
gelten, sodass kein Verdrängungswettbewerb entstehen bracht wurde, haben wir der neuen Regierung und der
Ministerin von der Leyen eine gute Vorlage gegeben,
kann.
auch unter europäischer Flagge aktiv zu werden. Leider
Drittens: Es gibt außer den Linken keine Fraktion hat die schwarz-gelbe Bundesregierung den Kampf ge-
mehr in diesem Hause, die das System von Hartz IV gen Armut und soziale Ausgrenzung bislang komplett
grundsätzlich infrage stellt. Es gibt an manchen Stellen verschlafen. Sie nimmt auch das Europäische Jahr als
Bedarf, nachzubessern, zum Beispiel bei der Umsetzung guten Anlass nicht ernst. Schlimmer noch: Die von der
des Bundesverfassungsgerichtsurteils hinsichtlich des Bundesregierung vorgelegte Sparliste zeigt, dass ganz
Berechnungsverfahrens bei den Regelsätzen. Übrigens bewusst zulasten der Ärmsten in unserem Land der
wurden weder die Berechnungsmethode noch die Leis- Sparhammer geschwungen wird. Die Bundesregierung
tungshöhe beanstandet, weshalb Ihre Forderung, die arbeitet für Armut – nicht gegen sie.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4755
Gabriele Hiller-Ohm
(A) Welche Maßnahmen hat denn die Bundesregierung fordert ein Themenfeld auch zu Recht: „Mit Arbeit Hil- (C)
aus CDU, CSU und FDP zur Armutsbekämpfung bisher febedürftigkeit überwinden“. Aber auch hier kann man
ergriffen? Die „armen“ Hoteliers wurden entlastet, da- der Bundesregierung nur ein Armutszeugnis ausstellen.
für wird der Rotstift jetzt gnadenlos bei den Sozialleis-
Wenn man Armut bekämpfen will, dann geht es ganz
tungen angesetzt. Hier zieht die FDP die Unionspar-
konkret um faire Arbeitsbedingungen und existenzsi-
teien am Nasenring durch die politische Arena.
chernde Löhne. Dazu brauchen wir einen flächende-
Wer Armut bekämpfen will, muss Geld an den richti- ckenden gesetzlichen Mindestlohn. 8,50 Euro pro Stunde
gen Stellen einsetzen. Das Elterngeld zu kürzen, ist da- sind die absolute Untergrenze, um Armut zu vermeiden.
bei grundlegend falsch. Insbesondere für Alleinerzie- Schwarz-Gelb scheut hingegen den Mindestlohn wie der
hende ist diese Nachricht eine Katastrophe. Außerdem: Teufel das Weihwasser. Stattdessen propagieren CDU,
Wo liegt die Gerechtigkeit, wenn Alleinerziehende in der CSU und FDP Kombilöhne. So werden Armutslöhne
Grundsicherung kein Elterngeld bekommen – die Ban- auch noch subventioniert.
kiersgattin, die nicht arbeitet, dagegen schon? Letztere
wird die zusätzlichen 300 Euro kaum spüren. Die Arbeit- Auch bei den Transferleistungen für Menschen ohne
suchenden trifft der Wegfall umso stärker. Arbeit und deren Familien muss dringend gehandelt
werden. Die neuen Regelsätze werden auf die lange Re-
Aber auch die anderen Kürzungen im Sozialbereich gierungsbank geschoben. Zum transparenten Bemes-
sind auf gar keinen Fall hinnehmbar. Wohngeldbezieher sungssystem für die Regelsätze schweigt diese Regie-
bekommen die soziale Kälte der Regierung hautnah zu rung. Macht man als Mitglied des Deutschen
spüren: Der Heizkostenzuschuss fällt ersatzlos weg. Bundestages von seinem parlamentarischen Fragerecht
Diese Kürzung des Wohngeldes bedeutet für viele Men- Gebrauch, um sich über den Planungsstand bei den Re-
schen den Gang zum Jobcenter – sie werden dann wie- gelsätzen zu informieren, antwortet die Bundesregie-
der zu sogenannten „Aufstockern“. Gerade viele Fami- rung inhaltsleer und zeitlich vage. Wenigstens die Krite-
lien konnten sich mit Wohngeld und Kinderzuschlag aus rien, wie die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
der Grundsicherung herausrechnen. Für diese Familien künftig für die Regelsätze herangezogen wird und in
zählt jeder Euro. welchen Abständen sie erhoben wird, muss die Regie-
rung vorlegen. Die Zeit drängt.
Die Rentenversicherungsbeiträge für Menschen in
der Grundsicherung sollen entfallen. Damit verschärft Dieses Verhalten zeigt: Schwarz-Gelb lässt die Men-
die Bundesregierung nicht nur die Altersarmut, es hat schen, die von Armut bedroht sind, im Unklaren, statt ih-
auch ganz einschneidende Wirkungen im Bereich der nen zu helfen. Skandalös handelt Schwarz-Gelb nicht
Erwerbsminderung. nur bei den Regelsätzen. In meinem wunderschönen
(B) Schleswig-Holstein hat sich die schwarz-gelbe Landes- (D)
Viele Pflichtleistungen der Bundesanstalt für Arbeit
regierung dadurch hervorgetan, die Entwicklungschan-
sollen nach dem Willen der schwarz-gelben Bundesre-
cen von Kindern sogar zu verschlechtern. Das letzte
gierung zu Ermessensleistungen degradiert werden. Das
Kita-Jahr kostenfrei – in Schleswig-Holstein gestrichen.
heißt nichts anderes, als dass die Arbeitsförderung mas-
Finanzmittel, damit Schüler in ländlichen Regionen mit
siv zusammengestrichen wird. Den Ausbildungsbonus
dem Bus zur Schule befördert werden – gestrichen, nach
sehe ich dabei genauso gefährdet wie das Nachholen des
dem Motto: Sollen die Eltern doch selbst schauen, wie
Hauptschulabschlusses für benachteiligte Jugendliche
ihre Kinder zur Schule kommen. Es ist zur Überwindung
oder auch die Weiterbildung. Die Bundesregierung ver-
von Armut und sozialer Ausgrenzung wichtig, dass Fa-
hindert so von Grund auf, dass Menschen eine Chance
milie und Beruf miteinander vereinbar sind. Schleswig-
auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Das bedeutet für die
Holstein zeigt dabei, wie man die Vereinbarkeit wieder
meisten Betroffenen eine Karriere als Empfänger von
erschwert. In diesem Zusammenhang muss man vor al-
staatlichen Transferleistungen. Von Teilhabe, Überwin-
lem an die rund 650 000 Alleinerziehenden denken, die
dung von Hilfebedürftigkeit oder guten Entwicklungschan-
auf der Suche nach Arbeit sind oder so schlecht bezahlt
cen keine Spur.
werden, dass sie mit Arbeitslosengeld II aufstocken müs-
Zur Erinnerung: Die vom damaligen Minister Scholz sen. Sie sind ganz besonders auf kostenfreie und qualita-
angestoßenen Hauptthemenfelder des Europäischen tiv hochwertige Betreuungsangebote angewiesen. Ge-
Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung sind: nauso ist der Staat in der Pflicht, Mittel bereitzustellen,
dass Schülerinnen und Schüler die Schule erreichen
„Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen ver-
können.
bessern!“
Gute Bildung und Ausbildung sind der wesentliche
„Wo ist der Einstieg? – Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit
Schlüssel, um Armut wirksam zu bekämpfen. Leider wird
überwinden!“
das durch schwarz-gelbe Politik konterkariert und die
„Integration statt Ausgrenzung – Selbstbestimmte Axt zum sozialen Kahlschlag angesetzt. Kinder aus ar-
Teilhabe für alle Menschen!“ men Familien brauchen eine gute und vor allem diskri-
minierungsfreie Unterstützung. Die Gebührenfreiheit
Wie es scheint, ist der Bundesregierung aber nicht je- von der Kita bis zur Uni spielt dabei eine wesentliche
des Kind gleich wichtig, sonst wäre die Diskussion um Rolle.
Kürzungen, die besonders zulasten der Familien gehen,
gar nicht erst entstanden. Kinderarmut und Armut der Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
Eltern hängen eng miteinander zusammen. Deswegen begrüße, dass Sie mit Ihrem Antrag das Thema Armut

Zu Protokoll gegebene Reden


4756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Gabriele Hiller-Ohm
(A) – auch im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr strumente im Interesse der Menschen zu bündeln. Die (C)
gegen Armut und soziale Ausgrenzung – auf die Agenda Verbesserung der Hinzuverdienstgrenzen, die wir im Ko-
gebracht haben. Ihre Analyse und Ihre Fragen sind nicht alitionsvertrag beschlossen haben und umsetzen wer-
falsch, gehen allerdings aus Sicht der SPD-Bundestags- den, sorgen dafür, dass es sich mehr lohnen wird, wieder
fraktion nicht weit genug. Der Forderungskatalog ist Arbeit aufzunehmen. Zudem wird den Menschen dann
sehr abstrakt und stellenweise auch inhaltlich noch aus- mehr von Ihrem Zuverdienst übrig bleiben. Und auch die
baufähig. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich deswe- Verdreifachung des Schonvermögens im Sozialgesetz-
gen bei diesem Antrag der Stimme enthalten. buch II von 250 auf 750 Euro ist nicht nur ein Akt der
Fairness, sondern wird Armut, vor allem im Alter, ver-
Gleichzeitig laden wir alle Fraktionen dazu ein, mit mindern.
uns gemeinsam nach Wegen aus der Armut zu suchen.
Das Europäische Jahr 2010 wird zu Ende gehen. Der Der Vorwurf, dass sich die christlich-liberale Regie-
Kampf gegen Armut wird uns allerdings – leider – noch rungskoalition dem Problem der Armut in Deutschland
lange erhalten bleiben. Deswegen gilt es jetzt weiterzu- nicht annehmen würde, trifft schlichtweg nicht zu. Aber
arbeiten und wirksame Strategien zu entwickeln und um- Strategien zur Vermeidung von Armut dürfen nicht nur
zusetzen. in der Arbeits- und Sozialpolitik angedacht werden.
Dort ist, um es sprichwörtlich zu sagen, das Kind meist
schon in den Brunnen gefallen. Diese Regierung setzt
Pascal Kober (FDP):
vor allem auf Bildung als langfristige Investition zur
Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Aus- Vermeidung von Armut. Es gilt noch immer, dass gute
grenzung ist eine gute Gelegenheit, um in unserem Land Bildungspolitik die beste Sozialpolitik ist. Gute Bildung
den Blick auf die Menschen zu richten, die auf die Soli- versetzt den Menschen in die Lage, frei, verantwortlich
darität der Gesellschaft angewiesen sind. Deshalb be- und selbstbestimmt zu leben. Sie mindert daher unmit-
grüßen wir, dass sich die Koalition und das Bundes- telbar das spätere Armutsrisiko. Sie ermöglicht indivi-
ministerium für Arbeit und Soziales vorbildlich an duelle Entfaltung, persönliche Förderung und sichert
diesem Projekt beteiligen. dadurch auch den Wohlstand der Gesellschaft. Zudem
Ich möchte Ihnen jedoch auch sagen, dass es nicht, so ist nur durch gute Bildungspolitik Chancengerechtigkeit
wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es zu erfüllen, indem sie Aufstiegsperspektiven eröffnet.
in Ihrem Antrag machen, nur darum gehen kann, nur im Entgegen Ihrer Kritik beteiligt sich die Bundesregie-
Jahr 2010 etwas zu unternehmen und den Fokus der Öf- rung aktiv und konkret am Europäischen Jahr gegen Ar-
fentlichkeit nur in diesem Jahr auf das Thema zu richten. mut und soziale Ausgrenzung. So hat Bundesministerin
Auch über das Jahr 2010 hinaus werden wir als christ- von der Leyen im Rahmen einer Festveranstaltung das
(B) lich-liberale Koalition dem Thema Beachtung schenken. (D)
Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung
In Ihrem Antrag fordern Sie verbindliche Messgrößen im Februar eröffnet. Dies ist auch medial auf Interesse
und Bekenntnisse der Politik. Das ist für uns eindeutig gestoßen. Im Rahmen des Europäischen Jahres fördern
zu wenig. Diese Koalition ist eine Koalition des Han- die EU und das Ministerium gezielt 40 Sozialprojekte
delns. Deswegen haben wir konkrete Projekte zur Ver- mit insgesamt 1,5 Millionen Euro.
besserung der Situation der Menschen schon beschlos- Die drei großen Themenfelder, mit denen das Euro-
sen, auf den Weg gebracht oder in Planung. päische Jahr sichtbar gemacht werden soll, unterstützen
wir als FDP ausdrücklich: „Jedes Kind ist wichtig –
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sie wer-
Entwicklungschancen verbessern!“, „Wo ist der Ein-
fen der Regierungskoalition in Ihrem Antrag vor, dass
stieg? – Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden!“ und
sie keine Initiative gegen Armut in Deutschland ergrif-
„Integration statt Ausgrenzung – Selbstbestimmte Teil-
fen habe. Dass dies falsch ist, werde ich gleich belegen.
habe für alle Menschen!“ sprechen die drei zentralen
Aber in Ihrem Antrag ist keine einzige konkrete Forde-
Themenbereiche für die Vermeidung und Bekämpfung
rung, die den Menschen weiterhelfen würde. Nur in die
von Armut an: Bildung, Arbeit und Integration.
Begründung des Antrags haben Sie Ihre altbekannten
Forderungen wie den gesetzlichen Mindestlohn ver- Wir sehen Armut als wichtiges Problem in unserem
packt. Da hätte ich schon mehr von Ihnen erwartet. Und Land und gehen gezielt mit Maßnahmen dagegen vor.
dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze in Branchen gefähr- Dabei setzen wir vorrangig darauf, Menschen in Arbeit
det, haben diverse Studien, unter anderem der zu bringen. Wir haben bereits in der Wirtschafts- und Fi-
Friedrich-Ebert-Stiftung, nachgewiesen. Wenn wir Ihren nanzpolitik sowie in der Arbeitsmarktpolitik Akzente ge-
Vorschlägen in der Arbeits- und Sozialpolitik folgen setzt. Wir unterstützen alle Maßnahmen, die auf dauer-
würden, hätten wir deutlich mehr Arbeitslose und arme haftes wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von
Menschen, die kaum Chancen auf einen Wiedereinstieg Arbeitsplätzen ausgerichtet sind. Der oftmals aus ideo-
ins Berufsleben hätten. logischen Gründen künstlich aufrechterhaltene Gegen-
satz von ökonomischer Vernunft und sozialstaatlicher
Unser Ansatz ist da ein anderer: Wir möchten die Verantwortung hilft keinem von Armut, prekärer Lebens-
Brücken in den Arbeitsmarkt, wie es zum Beispiel die situation oder Arbeitslosigkeit Betroffenen und gehört
Zeitarbeit und aufstockende Leistungen zum Lohn für daher endlich überwunden.
die Betroffenen sind, weiter nutzen. So haben wir be-
schlossen, die Instrumente zur Vermittlung in den Ar- Ein Arbeitsplatz ist zum einen der beste Schutz vor
beitsmarkt zu evaluieren, um dann die wirksamen In- Armut, er ist aber noch wichtiger für die Persönlichkeit

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4757
Pascal Kober
(A) des Einzelnen, der Wertschätzung und das Gefühl des Hier und heute findet eine politisch gewollte, giganti- (C)
Gebrauchtwerdens erfährt. Daran arbeitet diese Bun- sche Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums statt.
desregierung, und Sie werden bald feststellen können – Sie macht wenige Reiche immer reicher und vergrößert
mit Erfolg! die Armut in unserem Land rasant. Das jüngste Beispiel
dieser unsozialen Politik sind die von der Bundesregie-
Cornelia Möhring (DIE LINKE): rung am schwarzen Montag dieser Woche vorgeschlage-
nen Kürzungen. Im Namen der Haushaltskonsolidierung
Ich möchte meine Rede mit einem Märchen beginnen: wird der Rotstift einseitig zulasten derjenigen angesetzt,
Es war einmal ein Mann, der wurde durch seine Hände die eh schon wenig haben. Die Verursacher von Krisen
Arbeit reich … So weit das Märchen. Und hätte ich ge- und Armut dürfen ungehindert weitermachen.
sagt: Es war einmal eine Frau …, dann wäre uns allen
noch schneller aufgefallen, dass da etwas nicht stimmen Während die Beteiligung von Unternehmen an der
kann. Haushaltssanierung bis zum Ende der Wahlperiode mit
insgesamt rund 14 Milliarden Euro beziffert wird, sollen
Das Gegenteil des Märchens ist in unserer Gesell- im selben Zeitraum bei Arbeitslosen und ihren Familien
schaft der Fall: In der Bundesrepublik werden Men- 40,7 Milliarden Euro gekürzt werden: durch Streichung
schen trotz Arbeit arm. Etwa 1,4 Millionen Erwerbstä- der Rentenbeiträge und des Elterngeldes für Hartz-IV-
tige erhalten für ihre Arbeit so wenig Lohn, dass sie auf EmpfängerInnen, Kürzungen bei den Fördermitteln für
ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Circa Erwerbslose, Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst.
300 000 von ihnen arbeiten in Vollzeitjobs. Und schauen Selbst die von der Bundesregierung ausgewiesene Betei-
wir noch genauer hin, wünschten wir uns das Reich der ligung von Unternehmen an den Kürzungen ist bei ge-
Fantasie lieber nicht zu verlassen – so skandalös ist die nauem Hinsehen eine Luftnummer. Die mit 2 Milliarden
Realität in unserem Land. Euro angesetzte „Kernelemente-Abgabe“ kostet die Be-
treiber der Atommeiler keinen müden Cent. Es werden
Laut offizieller Statistik sind rund 11,4 Millionen
lediglich Subventionen der Bundesregierung gekürzt
Menschen in der BRD arm oder von Armut bedroht. Das
und im Gegenzug die Laufzeiten der AKW verlängert.
ist mittlerweile jede/r Siebte.
Auch die angebliche Beteiligung des Bankensektors
Wenn wir von mehr als 2,5 Millionen Kindern spre- mit 2 Milliarden Euro ab 2012 fließt nicht in die Haus-
chen, die in Armut leben, dann ist das nicht nur eine haltskasse, sondern in einen speziellen Fonds, in den die
Zahl. Dahinter verbergen sich Schicksale, Geschichten, Steuerzahler bereits Hunderte Milliarden Euro gezahlt
die davon erzählen, wie Kinder hungrig und ohne Früh- haben. Damit soll nicht die jetzige Krise bewältigt, son-
stück in die Schule kommen, von Jugendlichen, die sich dern die nächste vorbereitet werden.
(B) ein bisschen Geld durch Leergut im Müll sammeln ver- (D)
dienen müssen. Es sind Geschichten von Kindern und Diese Kürzungsorgie der Bundesregierung ist sozial
Jugendlichen, die kraft Geburt schon weniger Chancen ungerecht, politisch gefährlich und schadet der Zu-
auf Bildung und Arbeit – auf eine Zukunft – haben als kunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft. Die Linke
die Kinder wohlhabender Eltern. lehnt sie deshalb ab. Wir werden gemeinsam mit Initiati-
ven, Vereinen, Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften
Wir reden über Rentnerinnen und Rentner, die auf ein gegen ihre Umsetzung kämpfen.
arbeitsreiches und bewegtes Leben zurückblicken und in
ihrem wohlverdienten Ruhestand trotzdem jeden Cent Seit einem halben Jahr läuft die EU-weite Kampagne
umdrehen müssen. Wir reden über Millionen ehemals er- gegen Armut und soziale Ausgrenzung, weitgehend un-
werbstätiger Männer und Frauen, die per Gesetz in die ter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es scheint, als hätten
Armutsfalle Hartz IV abgeschoben wurden. Wir reden auch die meisten in diesem Hause davon – wie von der
über die stetig steigende Anzahl von Frauen, die gleich gesellschaftlichen Realität – bisher nichts mitbekom-
mehrere Arbeitsverhältnisse eingehen müssen, um ihre men. Das die Kampagne begleitende Motto der Bundes-
Familien zu ernähren. Sie bekommen ihre Kinder und regierung lautet: „Mit neuem Mut“. Ihren eigenen Mut
Partner kaum noch zu Gesicht, arbeiten deutlich über für neue Strategien gegen Armut kann die Bundesregie-
10 Stunden pro Tag und steuern dennoch in die Alters- rung damit nicht gemeint haben. Im Gegenteil: Die
armut. Kanzlerin lehnte im Europäischen Rat das gemeinsame
Ziel ab, die Armutsquote auf 25 Prozent zu senken, und
Die Armut in unserem Land zeigt sich auch an fehlen- damit auch die entsprechenden Maßnahmen zur Armuts-
den Kindergartenplätzen, Lehrerinnen und Lehrern, bekämpfung.
Fachärzten, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Kommu-
nen und Städte müssen Theater schließen, Kinderbetreu- Mit der Beteiligung an der Kampagne will die Bun-
ung abbauen, können notwendige Investitionen nicht desregierung nicht die gesellschaftlichen Ursachen der
vornehmen. Sportvereine, Initiativen, Beratungsstellen, Armut bekämpfen, sondern die politische Verantwortung
soziale Projekte bekommen keine Zuschüsse mehr. verschieben, weg von den politischen Akteuren hin zu
den von Armut betroffenen Menschen in der Gesell-
Kultur, Sport, Bildung, Mobilität, Gesundheit, Erho- schaft. Bei der Eröffnungsveranstaltung der Kampagne
lung: All das kostet, ist zum Luxus geworden, den sich gegen Armut erklärten die Vertreterinnen der Bundesre-
viele nicht mehr leisten können. Wir leben in einer ar- gierung, es sei unter den heutigen Verhältnissen leider
men Gesellschaft! Und steuern in eine noch ärmere, nicht unwahrscheinlich, arm zu werden. Nicht alle Be-
wenn nicht endlich was passiert. troffenen seien aus eigenem Verschulden arm, deshalb

Zu Protokoll gegebene Reden


4758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Cornelia Möhring
(A) brauchten sie auch Verständnis statt Stigmatisierung. Es ist schön, dass die Herstellung der Öffentlichkeit (C)
Wir alle sollten ihnen Mut machen, sich aus eigener durch Zivilgesellschaft und Opposition nun wohl Wir-
Kraft aus Armut zu befreien. Diesen Zynismus mit Wor- kung gezeigt hat und die Bundesregierung diese Woche
ten zu beschreiben, würde mir eine Rüge des Präsiden- doch noch dem Ziel zugestimmt hat, die Armut zu redu-
ten einbringen. zieren.

Wer aber denkt, es sei geistige Armut, der irrt. Es ist Auch ich finde, dass wir das „Europäische Jahr ge-
politisches Kalkül der verantwortlichen Regierung und gen Armut und soziale Ausgrenzung“ ernst nehmen müs-
ihrer Hintermänner. Armut ist und bleibt ein politisches sen, wie es die Fraktion Die Linke fordert. Das heißt,
Problem und wird als politisches Instrument genutzt. dass man nicht, wie es die Bundesregierung tut, nur
Wer Armut ernsthaft beseitigen will, muss besonders in 1,24 Millionen von 2,25 Millionen Euro in die Förderung
Krisenzeiten strukturelle und konsequente Gegenmaß- konkreter Projekte gegen Armut und soziale Ausgren-
nahmen entwickeln und umsetzen. Die Linke fordert im zung geben kann und den Rest in eine Arbeitsbeschaf-
vorliegenden Antrag deshalb ein sofortiges politisches fungsmaßnahme für PR-Projekte und Werbeagenturen;
Gegensteuern in allen maßgeblichen Politikfeldern, und denn dafür ist das Thema von Armut und Ausgrenzung in
das in Europa wie auch in unserem Land. Wir brauchen der EU zu ernst.
endlich eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reich- Ich habe ja schon in der ersten Lesung dieses Antrags
tums von oben nach unten. Wir brauchen tatsächliche gesagt, dass ich ihn im Grundsatz richtig finde. Ich finde
Investitionen in die Zukunft. richtig und gut, dass man Ziele und – das ist wichtig –
Wege zur Armutsreduktion beschreibt. Ich habe aber
Ein Programm zur Bekämpfung von Armut und sozia-
auch gesagt, dass ich dieser Bundesregierung auf die-
ler Ausgrenzung muss gerade in Krisenzeiten an den Ur-
sem Feld nicht viel zutraue. Ich glaube, sie braucht ein
sachen ansetzen und diese mit wirksamen Maßnahmen
bisschen mehr Hilfestellung, als dieser Antrag bietet.
bekämpfen. Anstatt die Reste des Sozialstaates zu beer-
Wir sehen ja, wo es hinführt, wenn die Bundesregierung
digen, muss die Bekämpfung von Armut national wie in-
beim Europäischen Rat ohne genaue parlamentarische
ternational höchste Priorität erhalten. Doch die Bun-
Vorgaben agiert. Wir haben das gerade beispielhaft am
desregierung verfolgt im Europäischen Jahr gegen
Umgang mit dem Ziel der Armutsreduktion gesehen. Wir
Armut und soziale Ausgrenzung eine Politik der Igno-
brauchen also außer dem Druck aus diesem Hause auch
ranz und der sozialen Kälte. Sie treibt das Land immer
Druck aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Nicht-
tiefer in die Krise. Dafür gehört sie schleunigst abge- regierungsorganisationen, wenn die Bundesregierung
wählt. Denn eine andere Politik ist nötig und möglich! außerhalb der deutschen Grenzen agiert. Es kann nicht
(B) sein, dass sich Frau Merkel hier als die bessere präsi- (D)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): diale Bundeskanzlerin geriert und dann im Ausland die
Die EU-Kommission hat in ihren fünf Kernzielen de- knallharte FDP-Politik ihres schwindsüchtigen Koali-
finiert, was die EU bis 2020 ihres Erachtens erreichen tionspartners exekutiert.
soll. Diese Kommission, des Linksradikalismus ja ziem- Trotzdem ist es ein notwendiges Zeichen, diesem An-
lich unverdächtig, schlägt in einem der fünf Kernziele trag gerade vor dem Hintergrund der kürzlich beschlos-
vor, die Zahl der armutsgefährdeten Personen in der EU senen Milliardenbürgschaften und des Sparpakets zuzu-
bis 2020 um 20 Millionen Menschen zu senken. Das stimmen. Es darf bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht
würde eine Senkung der in relativer Armut lebenden der Eindruck entstehen, der Staat würde nur denen aus
Menschen um 25 Prozent bedeuten. Das wäre in der Tat der Patsche helfen, die „too big to fail“ sind. Der Staat
ein Ziel, für das es sich lohnen würde, zu kämpfen. muss gerade auch Strategien entwickeln, zunehmend
auch auf europäischer Ebene, den Armen und sozial
Von dem – wohlgemerkt von der Kommission vorge- Ausgegrenzten in unserer Gesellschaft zu helfen.
schlagenen – Ziel der Armutsreduktion scheint die Bun-
desregierung aber nicht viel zu halten. Anders kann ich
mir nicht erklären, dass sie auf dem Europäischen Rat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
am 25. und 26. März noch erhebliche Kritik an der Ver- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
folgung des Ziels der Armutsreduktion geübt hat und so- Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
gar den Indikator dafür infrage stellt, der schon seit fehlung auf Drucksache 17/1246, den Antrag der Frak-
2001 zu Armutsmessung im Einsatz ist. Dem Vernehmen tion Die Linke auf Drucksache 17/889 abzulehnen. Wer
nach soll die deutsche Kritik sogar besonders heftig ge- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
wesen sein. Ich habe die Bundesregierung aufgefordert, men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
in einer Kleinen Anfrage Stellung dazu zu beziehen, wie mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
sie sich geäußert hat. Ich wollte wissen, wie sich die stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die
Bundesregierung den Kampf gegen die Armut in der EU Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
vorstellt; denn ich glaube, wir alle haben ein Recht zu Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
erfahren, ob die Bundesregierung die Armut in der EU
bekämpfen will und welche Vorschläge sie dafür macht, Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
oder ob sie den Kampf gegen die Armut torpedieren will, Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
weil sie den Einflüsterungen des kleinen Koalitionspart- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
ners FDP erlegen ist. NIS 90/DIE GRÜNEN
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4759
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Beteiligung der Energiekonzerne an den Kos- zahlung“ kann nicht geltend gemacht werden. Nach der (C)
ten für das Atommülllager Asse geltenden Rechtslage trägt damit der Bund als Anlagen-
betreiber das Risiko höherer Stilllegungskosten. An die-
– Drucksache 17/1599 – sen Kosten können auch nicht die Bundesländer beteiligt
Überweisungsvorschlag: werden. Das wurde im März letzten Jahres ausdrücklich
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) in § 57 b Abs. 1 Satz 3 des Atomgesetzes klargestellt.
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Kann diese Risikoverteilung im Ergebnis als fair an-
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
gesehen werden? Die Abfälle, die in der Asse eingela-
den Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul und
gert wurden, stammen zu einem großen Teil von den
Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Ute Vogt, SPD, Angelika
Kernkraftwerken der Energieversorgungsunternehmen.
Brunkhorst, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke, und
Dies gilt für 40 Prozent der Abfallgebinde, die entweder
Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
direkt von den Energieversorgungsunternehmen, EVU,
an die Asse abgegeben wurden oder indirekt von den
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): EVU über die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe in
125 787 Fässer radioaktiver Abfälle wurden in den die Asse gelangten. Noch deutlicher sieht es aus, wenn
Jahren 1967 bis 1978 im ehemaligen Salzbergwerk Asse man auf die Radioaktivität der Abfälle abstellt: Deutlich
eingelagert. Über die Frage, wie dieses „Versuchsend- über 70 Prozent der Aktivität, die in der Asse eingelagert
lager“ sicher stillgelegt werden kann und wie teuer dies ist, sind direkt oder indirekt der Energiewirtschaft zuzu-
ist, hat man sich damals sicher keine ausreichenden Ge- rechnen. Die Gesamtmenge von über 125 000 Abfallge-
danken gemacht. Jedenfalls gab es keine aus heutiger binden, die eingelagert wurden, überschreitet auch ob-
Sicht realistischen Schätzungen der Kosten: Das zeigt jektiv die Menge, die für Forschungsarbeiten tatsächlich
die Tatsache, dass die Ablieferer der Abfälle insgesamt notwendig war.
nur rund 16,5 Millionen DM Gebühren zahlen mussten.
Bei der Kalkulation dieser Gebührenhöhe wurden nicht Auf der einen Seite haben damit die EVU die Vorteile
einmal ansatzweise die tatsächlich entstehenden Kosten einer Entsorgung ihrer Abfälle erlangt. Auf der anderen
einer sicheren Stilllegung zugrunde gelegt. Wie Bun- Seite decken die von allen Ablieferern gezahlten Gebüh-
desumweltminister Norbert Röttgen im Umweltaus- ren aber weniger als 1 Prozent der Kosten der Asse. Den
schuss am 27. Januar 2010 vorgetragen hat, wird die Rest, über 99 Prozent, trägt die öffentliche Hand, damit
Stilllegung – je nachdem, welche Option der Stilllegung der Steuerzahler. Dieses Ergebnis verträgt sich nicht mit
verwirklicht wird – mindestens weitere 800 Millionen dem Verursacherprinzip. CDU, CSU und FDP haben
Euro bis hin zu 3,9 Milliarden Euro kosten. deshalb in ihrem Koalitionsvertrag vom 26. Oktober
2009 festgelegt, dass die Energieversorger an den Kos- (D)
(B)
Es liegt daher auf der Hand, zu fragen, wer diese ten der Schließung der Asse zu beteiligen sind. Dies ge-
Kosten tragen soll. Die Rechtslage dazu ist eindeutig: schieht auch: Die Bundesregierung hat am Montag im
Eine nachträgliche Heranziehung der Abfallverursa- Rahmen des „Sparpakets“ beschlossen, eine Brennele-
cher ist heute nicht mehr möglich. Diese Auffassung hat mentesteuer einzuführen. Zur Begründung dieses „steu-
im Übrigen auch der frühere Bundesumweltminister erlichen Ausgleichs der Kernenergiewirtschaft“ hat sie
Sigmar Gabriel immer vertreten. Der Grund dafür liegt dabei ausdrücklich auf die Beteiligung der EVU an den
darin, dass die Abfallverursacher über 30 Jahre nach Stilllegungskosten hingewiesen. Einen Antrag, wie ihn
der Ablieferung der Abfälle nicht mehr damit rechnen die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hier vorgelegt
müssen, für die Entsorgung der Abfälle nochmals he- hat, brauchen wir daher nicht.
rangezogen zu werden. Für sie stellte der Ablieferungs-
vorgang einen abgeschlossenen Sachverhalt dar. Sie Jedenfalls müssen weitere Konsequenzen aus diesem
konnten auf die „befreiende Wirkung“ ihrer Gebühren- bei der Asse aufgetretenen Problem gezogen werden:
zahlung vertrauen. Gleiches gilt für die Ablieferer der Bei den künftigen Endlagern, sowohl beim Endlager
Jahre bis 1975. In dieser Zeit wurden keine Gebühren Konrad als auch beim Endlager für hochradioaktive Ab-
oder Entgelte gezahlt. Auch für sie ist der Vorgang der fälle, muss von vornherein klar die verursachergerechte
Abfallentsorgung erledigt. Finanzierung der Kosten, einschließlich der Still-
legungskosten, verbindlich geregelt werden. Die Geld-
Dieses Vertrauen gilt in unserer Rechtsordnung als mittel müssen in ausreichendem Umfang zu dem Zeit-
schützenswert. Deshalb sind Regelungen, die eine punkt verfügbar sein, an dem sie benötigt werden.
„echte Rückwirkung“, also einen Eingriff in abge-
schlossene Vorgänge der Vergangenheit bewirken, Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
grundsätzlich unzulässig, so auch hier. Die Abfallverur- Sie sprechen in Ihrem Antrag das an, was man als
sacher können auch nicht über die Entsorgungsverträge, „Verantwortungsprinzip“ beschreiben könnte. In einem
die sie in den Jahren 1975 bis 1978 mit dem damaligen Rechtsstaat gibt es für diese Verantwortlichkeit feste und
Betreiber der Asse geschlossen hatten, zu einer weiteren verlässliche Regeln, namentlich etwa die der Ursäch-
Zahlung verpflichtet werden. Darin hatten sich die Ab- lichkeit, der Zurechenbarkeit, der Verjährung etc.
fallablieferer zur Zahlung eines Entgelts, das „Gebühr“
genannt wurde, verpflichtet. Im Gegenzug hat sich der Diese Regeln gelten selbstverständlich auch im Ener-
Betreiber der Asse zur Einlagerung der Abfälle ver- gieversorgungsbereich. Demzufolge sind Anlagenbetrei-
pflichtet. Mit der Zahlung dieser Entgelte und der Einla- ber eines Kernkraftwerks in Verantwortung zu nehmen.
gerung der Abfälle war der Vertrag erfüllt. Eine „Nach- Dies ist unstreitig und richtig, und das will ich nochmals
4760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Georg Nüßlein


(A) hervorheben. Wir hatten hierzu in der letzten Legislatur nachträglich weitere Gebühren erheben. Und dies gilt, (C)
nicht zuletzt und richtigerweise die Haftungsregeln in obwohl wir rund 30 Jahre später nicht nur die Einlage-
dem Bereich entscheidend detailliert und verschärft. rung in einem ausgebeuteten Bergwerk überhaupt nicht
mehr vornehmen würden, sondern für die Abnahme des
Das erklärte Antragsziel in der Drucksache 17/1599 Materials ganz andere Gebühren zu entrichten wären.
wäre juristisch betrachtet allerdings unter eine Art Eine nachträgliche Gebührenerhebung scheitert am ver-
„rückwirkende Nachforderungspolitik“ im Rahmen ei- fassungsrechtlich verankerten Verbot der Rückwirkung.
nes abgeschlossenen Sachverhalts zu subsumieren, und Es handelt sich um einen in der Vergangenheit abge-
dies ist mit der Rechtsstaatlichkeit gerade nicht verein- schlossenen Lebenssachverhalt, an den rückwirkend
bar. weitere Rechtsfolgen geknüpft würden. Deshalb kann in-
Genau zu diesem Punkt bezüglich der rückwirkenden haltlich am Bestand von § 57 b Abs. 1 Satz 3 Atomgesetz
Gebührenerhebung im Bereich Asse habe ich in der letz- nichts geändert werden.
ten Legislatur in einer Plenarrede bereits ausführlich Eng damit in Zusammenhang steht, dass Sie in Ihrem
Stellung bezogen. Ich will meine Ausführungen gerne in Antrag so tun, als ob die Regierungsparteien das Thema
Erinnerung rufen, denn das parlamentarische Erinne- Kostenbeteiligung der Energiekonzerne einfach nicht
rungsvermögen von den Kollegen Bündnis 90/Die Grü- behandeln würden: Ich darf insofern im Hinblick auf
nen scheint nahezu so schlecht zu sein wie ihr parlamen- den chronologischen Rückblick in diesem Jahr exempla-
tarisches Gewissen. risch auf die Ausführungen von Herrn Minister Röttgen
Bezüglich Letzterem darf ich zuvörderst daran erin- verweisen anlässlich einer Sitzung des Umweltaus-
nern, dass Sie in Ihrer eigenen Regierungszeit nicht den schusses im Januar 2010. Im unmittelbaren Nachgang
sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie veranlasst ha- hierzu hatte Minister Röttgen ein Papier an alle Fraktio-
ben, auch wenn Ihre Partei unmittelbar nach Ausschei- nen im Umweltausschuss – auch an die Grünen, wie mir
den aus dem Regierungsamt wieder zum Hardliner-An- der Umweltausschuss aktuell nochmals bestätigte – ver-
satz der „unmittelbaren Ausstiegsbewegung“ zurück senden lassen, in dem er drei Möglichkeiten einer Betei-
mutiert zu sein scheint und man ab der Niederlegung des ligung der Energieversorgungsunternehmen nochmals
Regierungsamtes wieder mit organisierten Sitzblocka- schriftlich niederlegte. Ich darf die damaligen Niederle-
den bei Transporten von radioaktivem Material rechnen gungen des Ministers wiederholen, wenn die Herrschaf-
musste, die fortan nicht mehr von grüner Prominenz, wie ten von den Grünen unter anderem an dieser Stelle kon-
Trittin und Co., zurückgehalten wurden. sequent die Arbeit der Regierung ignorieren: die
Einführung einer Brennelementesteuer und Verwendung
Und um an der Stelle zum Thema Asse zu kommen: der Einnahmen für die Stilllegung der Asse; die freiwil-
(B) Sie haben hier in Ihrer eigenen Regierungszeit auch lige Verpflichtung der EVU, auch im Falle der Einlage- (D)
keine Rechtsgrundlage für eine rückwirkende Gebüh- rung der Asse-Abfälle in den Schacht Konrad, eine Kos-
renerhebung geschaffen, und zwar deshalb, weil sie ei- tenteilung von 1/3 Bund und 2/3 EVU zu akzeptieren; die
ner verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand- Schaffung eines Asse-Fonds analog zum Salzgitter-
gehalten hätte. Just diesen Punkt, dass eine rückwir- Fonds durch die EVU und damit teilweise Deckung der
kende Gebührenerhebung nicht erfolgen kann, hatte ich Stilllegungskosten und Schaffung eines finanziellen Aus-
im Zuge der Änderung des Atomgesetzes in der letzten gleichs für die Region.
Legislatur bereits ausgeführt und darf ergänzen, dass
dies juristisch davor wie danach vielfach belegt wurde. Ihr Ziel war es, mit dem stimmungsmachenden An-
trag 17/1599 vom Mai 2010 die Regierung vorzuführen
Aber ich werde gerne nochmals und ergänzend für Sie als vermeintlich nicht handelnd. Das entspricht aber
meine Ausführungen niederlegen: Bei der Asse handelt nicht den realen Gegebenheiten, und ich darf insofern
es sich um ein Bundesforschungsbergwerk. Die von der auf die aktuellen Ergebnisse der Haushaltsklausur des
Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe in die Schachtan- Bundeskabinetts hinweisen. Hierin ist unter anderem
lage Asse angelieferten Abfälle sind, um hier Ihre Kritik auch explizit der steuerliche Ausgleich seitens der Kern-
im Antrag aufzugreifen, bei der Wiederaufbereitung als energiewirtschaft niedergelegt, unter ausdrücklichem
Betriebsabfall der Wiederaufbereitungsanlage Karls- Verweis auf den Ausgleich, der sich durch die Stilllegung
ruhe entstanden und gingen in das Eigentum und damit und den Rückbau von kerntechnischen Anlagen – ein-
in die Verantwortung der öffentlichen Hand über. Die schließlich Endlager – ergibt. Dies ist das Ergebnis ei-
damalige Gesellschaft für Kernforschung hat die Wie- ner kontinuierlichen parlamentarischen Arbeit der Re-
deraufbereitungsanlage Karlsruhe im Auftrag des Bun- gierungsparteien. Hier darf ich nochmals insbesondere
des – ich wiederhole: im Auftrag des Bundes – als Pro- auf unsere Arbeit 2010 im Umweltausschuss verweisen,
totypanlage mit dem Ziel erstellt, Untersuchungen zur die ich auszugsweise vorab angeführt habe.
sicheren Betriebsführung durchzuführen, die die Pro-
zesse der Wiederaufarbeitung optimieren sollte. Diese destruktiv stimmungsmachende Haltung, meine
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, halte ich in
Zur Kritik an der Gebührenhöhe: Die veranschlagten den schwierigen Zeiten, in denen wir uns derzeit befin-
Gebühren wurden ordnungsgemäß entrichtet. Dabei ist den, für schlichtweg gleichermaßen unprofessionell wie
unstreitig – und insofern stimme ich Ihrer Kritik partiell unhaltbar. Und weil die Hoffnung zuletzt stirbt: Ich
zu –, dass der hierfür veranschlagte Betrag ex post ein würde mir wünschen, dass Sie im Bereich der Energie-
zu geringer ist. Aber wir können die Uhren nicht zurück- versorgung und Energieversorgungssicherheit, auch
drehen. Genauso wenig kann der Gesetzgeber heute wenn es das Thema Kernenergie und Endlager anbe-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4761
Dr. Georg Nüßlein
(A) langt, künftig mit fundierter und aufrichtiger Parla- dabei gerne von der schwarz-gelben Regierung unter (C)
mentsarbeit überzeugen würden. den Tisch gekehrt. Auch, dass wir nach wie vor noch
über kein Endlager für hochradioaktiven Müll verfügen,
Ute Vogt (SPD):
wird ebenfalls gerne vergessen. Und wie ein falscher La-
gerstandort für Atommüll schnell Unsummen ver-
Zu den überbordenden Kosten für die Atomenergie schlingt, wenn eine Sanierung notwendig wird, zeigt
liegt uns immer noch keine ehrliche Rechnung seitens sich uns gerade jetzt leidvoll in Asse.
der Bundesregierung vor. Auf 258 Milliarden Euro
beziffert eine Studie des Forums Ökologisch-Soziale Deshalb heißt es zunächst natürlich, die Kraftwerks-
Marktwirtschaft die realen Kosten der Atomkraft. betreiber an allen Kosten der Atomstromerzeugung an-
165 Milliarden davon sind bereits bis 2008 durch den gemessen zu beteiligen, wie auch in diesem Antrag ge-
Bund geleistete Zahlungen und dazu kommen weitere fordert. Aber vor allen Dingen müssen wir am
92,5 Milliarden, von denen wir heute schon wissen, dass Atomausstieg – wie unter Rot-Grün beschlossen und von
sie noch geleistet werden müssen. Die Bundesregierung den Energieversorgern zugesichert – festhalten. Denn
hat dagegen die Höhe der Subventionen mit nur jeder Tag, den ein Atommeiler weiterläuft, bringt nicht
200 Millionen Euro angegeben. Dazwischen liegen ja nur satte Gewinne für die großen Energiekonzerne, son-
„tausend Welten“ könnte man flapsig sagen und sich dern auch jede Menge Gefahren für uns und unsere Um-
trefflich darüber streiten, wer denn nun richtig gerech- welt und die nach uns kommenden Generationen.
net hat. Jedoch allein für die Sanierung von Asse II wer-
den aktuell Kosten von 3,7 Milliarden Euro veran- Angelika Brunkhorst (FDP):
schlagt. Da werden Dimensionen sichtbar, die die Mit Wirkung zum 1. Januar 2009 wurde das For-
Atomlobbyisten in der Regierungskoalition gerne unter- schungsbergwerk Asse II in eine Anlage des Bundes zur
schlagen und die deutlich machen, dass die Zahlen der Endlagerung radioaktiver Abfälle überführt. Der Be-
Bundesregierung – freundlich umschrieben – mehr als trieb der Anlage ging vom Helmholtz-Zentrum München
geschönt sind. auf das Bundesamt für Strahlenschutz über. Parallel
Wenn im vorliegenden Antrag die Beteiligung der wechselte die Verantwortung für die Asse II. Sie wech-
Energiekonzerne an den Kosten für Asse gefordert wird, selte vom Bundesforschungsministerium zum Bun-
so ist dieses Ziel vollkommen gerechtfertigt. Denn diese desumweltministerium.
enormen Kosten allein den Steuerzahlern aufzubürden, Die Stilllegung des Forschungsbergwerks soll nun
wäre nicht nur unredlich, sondern auch unsozial. Es gilt durch ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren
vielmehr, die wahren Verursacher angemessen an den erfolgen. In § 57 b Abs. 1 Satz 3 des Atomgesetzes ist
(B) Kosten zu beteiligen. Denn es kann nicht sein, dass die festgeschrieben worden, dass die Kosten für den Weiter- (D)
großen Energieversorger die Gewinne einstreichen und betrieb und die Stilllegung der Schachtanlage Asse II
die Steuerzahler die Lasten tragen. durch den Bund zu tragen sind. Diese Vorschrift wurde
Anfang 2009 während der Amtszeit des damaligen Bun-
Die SPD hat dazu bereits den Vorschlag unterbreitet,
desumweltministers Sigmar Gabriel eingeführt. Die
über eine „Brennelementesteuer“ auf Uran für eine
FDP hat während der Beratungen betont, dass die Kos-
angemessene Beteiligung der Atomenergieerzeuger zu
ten nach dem Verursacherprinzip getragen werden müs-
sorgen. Dass die schwarz-gelbe Regierung nun diese
sen. Bei der Asse handelt es sich um eine Forschungs-
„Atomstromsteuer klaut“, wie die „Financial Times
einrichtung des Bundes. Der überwiegende Teil der
Deutschland“ titelt und so unsere Idee aufgreift, ist ja
eingelagerten Abfälle stammt aus der Forschung, dem-
grundsätzlich sehr lobenswert, und es würde uns freuen,
entsprechend ist die Regelung über die Kostentragung
wenn sie dies auch noch auf andere politische Felder
bei der Asse grundsätzlich sachgerecht.
übertrüge, um Deutschland endlich wieder in ruhigeres
Fahrwasser zu bringen. Allerdings verfolgt die Bundes- Es ist jedoch nicht nur legitim, sondern auch ange-
regierung hier mit dieser Steuer ein vollkommen anderes zeigt, die Energieversorgungsunternehmen mehr an der
Ziel: Nicht eine angemessene Beteiligung der Kraft- Finanzierung der Schließung der Asse zu beteiligen. In
werksbetreiber an den wahren Kosten der Atomenergie die Asse wurden nicht nur radioaktive Abfälle unmittel-
ist vorgesehen, vielmehr plant sie einen Ablasshandel. bar aus Forschungseinrichtungen verbracht, sondern
Sie will stattdessen nur längere Atomkraftwerkslaufzei- auch radioaktive Abfälle, die von den Energieversor-
ten schmackhaft machen. Auch die geplante Höhe der gungsunternehmen stammen. Im Koalitionsvertrag ha-
Besteuerung von 2,5 Milliarden Euro relativiert sich, ben wir uns deshalb mit der CDU und der CSU darauf
sieht man die Gewinne, die die Atomstromerzeuger jedes verständigt, dass die Energieversorger an den Kosten
Jahr mit ihren abgeschriebenen Atomkraftwerken im der Schließung der Asse II zu beteiligen sind.
Gegenzug erwirtschaften können. 1 Million Euro Ge-
winn pro Tag erbringt ein Atomkraftwerk. Bei 17 laufen- Die angestrebte Beteiligung der Kraftwerksbetreiber
den Atommeilern landen so in einem Jahr über 6 Mil- an den Sanierungskosten der Schachtanlage Asse II hat
liarden Euro auf den Konten der Atomstromerzeuger. auch auf der Kabinettsklausur der Bundesregierung in
Von diesem „Geschenk“ nicht einmal die Hälfte abge- dieser Woche eine Rolle gespielt. Im Rahmen der Eck-
ben zu müssen, fällt natürlich leicht. punkte für die weitere Aufstellung des Haushaltsent-
wurfs 2011 und des Finanzplans bis 2014 hat die christ-
Dass mit jedem Jahr Atomkraftwerkslaufzeit auch lich-liberale Bundesregierung unter anderem die
jede Menge neuer Atommüll entsorgt werden muss, wird Einführung einer Brennelementesteuer beschlossen. Die

Zu Protokoll gegebene Reden


4762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Angelika Brunkhorst
(A) Einnahmen sollen auch für die Stilllegung der Asse ver- eine Brennelementesteuer einen Anteil der Kosten für (C)
wendet werden. So kann die Kernenergiewirtschaft an die Asse-Sanierung decken.
den Sanierungskosten der Asse II angemessen beteiligt
werden. Diese geplante Brennelementesteuer stellt nur die
Abschaffung eines bisherigen Subventionsprivilegs dar.
Bei der Entscheidung über die Schließung der Asse Uran wird damit anderen fossilen Brennstoffen zum ers-
hat für uns Liberale der Schutz der in der Region leben- ten Mal gleichgestellt. Einen Ersatz für die gesetzlich
den Menschen sowie der in der Asse beschäftigten Mit- vorgeschriebenen Entsorgungsrücklagen kann die
arbeiterinnen und Mitarbeiter absolute Priorität. Bevor Brennelementesteuer also gar nicht darstellen. Die Re-
endgültig über die Rückholung entschieden wird, muss gierung behauptet, die Atomwirtschaft mit einer Brenn-
konzeptionell sichergestellt werden, dass die betroffenen elementesteuer in die Verantwortung zu nehmen. Dabei
Menschen keinen unnötigen Risiken ausgesetzt werden. fördert sie sie aber nur wieder einmal, indem sie durch
Unser Ziel ist es, eine dauerhafte und umweltverträgli- die Kopplung dieser Steuer mit einer Laufzeitverlänge-
che Schließung der Asse II sowie eine gefahrlose Ver- rung den Energiekonzernen weitere Milliardenprofite,
wahrung der radioaktiven Abfälle sicherzustellen. den Menschen im Land aber weitere Tausende Tonnen
von radioaktivem Müll beschert und die regenerativen
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Energien ausbremst.
Das sogenannte Verursacherprinzip besagt, dass Die Linke fordert, die Verpflichtungen der Energie-
Kosten zur Beseitigung und zum Ausgleich von Beein- konzerne zur Kostenbeteiligung an allen Endlagervor-
trächtigungen der Umwelt dem Verursacher zugerechnet gängen endlich konsequent und schonungslos umzuset-
werden. zen. Dass die Verursacher jetzt für ihren Müll zahlen, ist
Im Versuchsendlager Asse liegen über 126 000 Fäs- das Mindeste, was man angesichts der kaum mehr ab-
ser radioaktiven Mülls mit zu großen Teilen unbekann- wendbaren ökologischen Katastrophe in der Asse durch-
tem Inhalt. Das Bergwerk ist einsturzgefährdet, es tritt setzen muss – neben einem sofortigen Atomausstieg, um
Salzlauge ein, die Abfälle müssen zeit- und kostenauf- weiteren Müll zu verhindern.
wändig zurückgeholt werden. Die Entsorgungsrücklagen, die die Energiekonzerne
Unabhängig von Vereinbarungen zur kostenlosen steuerfrei und gut verzinst anlegen dürfen, beliefen sich
Versuchseinlagerung in der Asse sind die Kosten der 2009 immerhin auf wenigstens 26 Milliarden Euro.
Rückholung und endgültigen Endlagerung des rund Diese Rücklagen sind mit sofortiger Wirkung und auch
80 Prozent betragenden Anteils des Inventars, der von in Zukunft an einen öffentlich-rechtlichen Fonds zu
AKW-Betreibern stammt, auch durch diese zu tragen. überführen, um eine risikoarme Verwaltung der Entsor-
(B) gungsrücklagen zu gewährleisten. Aus diesem Fonds (D)
Selbst die Regierungskoalition hat in ihrem Koali- werden sowohl die anteiligen Kosten für die Rückholung
tionsvertrag festgestellt, dass die Energiekonzerne an und Endlagerung des Asse-Mülls bestritten als auch für
den Kosten der Asse zu beteiligen sind. Danach behaup- die vergleichende Suche nach einem bestmöglichen
tete Umweltminister Röttgen allerdings, dass keine Endlager für hochradioaktiven Atommüll in Deutsch-
rechtliche Grundlage dafür in Aussicht sei. Wenn nicht land sowie für dessen Bau und Betrieb. Des Weiteren
Generationen von Politikern die Atomindustrie geschont fordert die Linke, jede, wirklich jede Subventionierung
und mit mehr als 165 Milliarden Euro öffentlicher Gel- der Atomenergie sofort zu streichen.
der subventioniert hätten, stünden wir heute ganz an-
ders da. Wenn die Atomindustrie, wie selbst von Regierungs-
kreisen vorhergesagt, anfängt, die zusätzlichen Kosten
Bis zu 40 Milliarden Euro flossen an Subventionen auf die Strompreise umzulegen, wird bald jedem im Land
auch in Sackgassen und Altlasten. Durch den rot-grünen klar sein, dass das Märchen vom billigen Atomstrom aus
Konsens wurden zudem abgesichert: über 30 Milliarden ist und die harte Realität zuschlägt. Damit käme diese
für das hausbankähnliche System der steuerfreien Ent- uralte Lüge endlich einmal vom Tisch. Atomstrom ist auf
sorgungsrücklagen, ebenso die Garantie eines reibungs- Dauer nicht bezahlbar, hochrisikoreich und ein ökologi-
losen Betriebs, zum Beispiel Transportsicherung, ein sches Desaster für Tausende Jahre mit allen Folgekos-
Betreiber förderndes Strahlenschutzgesetz, das die ten. Dass das niemand mehr bezahlen will, liegt auf der
Strahlenwirkung stark kostensenkend unterschätzt, man- Hand. Da gibt es nur eins: Abschalten!
gelnde Abschirmung und fehlende Fallversuche für Be-
hälter, fehlende Versicherungsabdeckung. Die Liste lässt
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sich beliebig fortsetzen.
Jahrzehntelang wurde die Asse von den für sie Ver-
Dennoch begrüßen wir den Antrag der Grünen. Denn antwortlichen als leuchtendes Beispiel der Endlagerfor-
da nicht davon auszugehen ist, dass die Atomwirtschaft schung dargestellt, das rein dem hehren Wissensgewinn
freiwillig aus moralischen Gründen auf die Idee kommt, diene. Angeblich stellte sie – allen kritischen Stimmen
ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die ange- zum Trotz – keinerlei Risiko dar, und mit den Atomkraft-
häuften Milliarden den Menschen zurückzugeben, müs- werken und ihrem Strahlenmüll hatte sie schon gar
sen ordnungsrechtliche Maßnahmen her. In den Eck- nichts zu tun. Dieses Märchen ging jäh zu Ende. Heute
punkten aus der Sparklausur der Bundesregierung für ist klar, dass die Asse akut einsturzgefährdet ist und die
die weitere Aufstellung des Haushaltentwurfs 2011 und Abertausende Atommüllfässer in ihr eine massive Ge-
des Finanzplans bis 2014 heißt es, man wolle nun durch fahr für Mensch und Umwelt darstellen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4763
Sylvia Kotting-Uhl
(A) Die Asse ist mit ziemlicher Sicherheit das größte Um- Motiv: Nachdem ihnen die Entsorgungsmöglichkeit Asse (C)
weltproblem Europas. Ihre Sanierung stellt uns vor ge- acht Jahre lang völlig kostenlos zur Verfügung gestan-
waltige Probleme und immense Kosten. Neben der Su- den hatte, sollten ab 1976 erstmals Gebühren dafür er-
che nach der bestmöglichen Lösung für das Problem hoben werden, den Müll in der Asse loszuwerden. Die
Asse stellt sich daher auch die Frage, wer diese Kosten Konzerne waren daher entschlossen, wenigstens mög-
tragen soll. Bislang stehen dafür die Steuerzahlerinnen lichst viel für ihr Geld zu bekommen. In der Folge wur-
und Steuerzahler in der Pflicht – wie so oft, wenn es da- den auf ihren Druck hin die Abfallbestimmungen in der
rum geht, Verantwortung für die strahlenden Hinterlas- Asse um den Faktor fünf gelockert.
senschaften der Atomwirtschaft zu übernehmen. Dabei
war es nicht die Bevölkerung, die von der billigen Müll- In der Summe haben die Energiekonzerne gerade ein-
kippe Asse profitierte, sondern die Atomwirtschaft. mal umgerechnet rund 2 Millionen Euro an Asse-Gebüh-
ren entrichtet. Demgegenüber hat der Bund bis heute
Die Asse ist untrennbar mit der kommerziellen Nut- schon rund 800 Millionen Euro für die Asse ausgegeben.
zung der Atomkraft verknüpft. Dies zeigt schon ein Blick Insgesamt wird das Problem Asse wohl 4 Milliarden
auf das radioaktive Inventar: Der Anteil der in der Asse Euro teuer. Ohne Beteiligung der Energiekonzerne
eingelagerten Radioaktivität, der auf Anlagen kommer- müssten ausschließlich die Steuerzahlerinnen und Steu-
zieller Betreiber zurückgeht, beträgt nach heutigem erzahler dafür aufkommen. Dagegen haben meine Frak-
Kenntnisstand mindestens 86 Prozent. Alleine drei Vier- tion und ich bereits in der letzten Legislaturperiode pro-
tel der eingelagerten Radioaktivität gehen auf abge- testiert. Der Antrag, in dem wir eine Beteiligung der
brannte Brennelemente aus den Atomkraftwerken Ob- Energiekonzerne an den Asse-Kosten forderten, wurde
righeim und Gundremmingen zurück. aber mit den Stimmen der Unions- und der FDP-Frak-
tion abgelehnt. Mittlerweile haben jedoch die heutigen
Der in den 70er- und 80er-Jahren vollzogene Ausbau
Regierungsfraktionen anerkannt, was geboten ist. In ih-
der Atomkraft in Deutschland wäre unmöglich gewesen,
rem Koalitionsvertrag heißt es wörtlich: „Die Energie-
hätte man nicht Abertausende Atommüllfässer in der
versorger sind an den Kosten der Schließung der Asse II
Asse verscharren können. Der Historiker Detlev Möller
zu beteiligen.“
kommt in seiner Dissertation zu dem Schluss, dass die
Asse gerade dazu diente, der damals noch in den Kin- Eine Kostenbeteiligung der Energiekonzerne ist not-
derschuhen steckenden deutschen Atomwirtschaft auf wendig, und es darf sie nur ohne Gegenleistung geben.
die Beine zu helfen. Zahlreiche AKW-Genehmigungen, Der Schuldenberg, den die Atomwirtschaft bei der Be-
in denen die Asse als Endlagermöglichkeit aufgeführt völkerung angehäuft hat, ist bereits groß genug, und er
(B) wird, bestätigen dies. So heißt es beispielsweise in einer wächst munter weiter. Doch anstatt diesen Schuldenberg (D)
Genehmigung für den berühmt-berüchtigten Pannen- endlich zu verkleinern, konzentriert die Regierung ihre
meiler Krümmel, die Asse sei seit 1967 als Endlager- ganze Energie darauf, den Atommüllberg zu vergrößern.
stätte in Betrieb. Anstatt die Energiekonzerne endlich finanziell in die
Neben ihrer Rolle als Nachweis für die Entsorgungs- Verantwortung zu nehmen, verwendet die Regierung im-
vorsorge für den radioaktiven Abfall aus den Atomkraft- mer größeren Eifer darauf, den Konzernen dicke Ge-
werken gibt es noch eine weitere Verbindung zwischen winne aus der Verlängerung der Laufzeiten der Atom-
der Asse und der kommerziellen Atomkraftnutzung. kraftwerke zu bescheren.
Viele der erwähnten AKW-Genehmigungen belegen, Das muss ein Ende haben. Die Hauptprofiteure der
dass die Asse insbesondere auch als „Versuchsanlage Asse, die AKW-Betreiber, müssen endlich angemessen
für Gorleben“ diente. Entsprechend wurde in der Asse herangezogen werden, wenn es darum geht, das Milliar-
mit Bezug zu Gorleben anlagenbezogene Endlagerfor-
denloch der Asse-Kosten zu stopfen. Gerade auch ange-
schung durchgeführt. Finanziell unterscheidet sich an-
sichts der gigantischen Staatsverschuldung kann es
lagenbezogene Forschung ganz wesentlich von der
nicht sein, dass dafür wieder einmal die Bevölkerung zur
Grundlagenforschung. Letztere finanziert der Staat, die
Kasse gebeten werden soll. Deshalb bitte ich Sie: Stim-
Kosten für Erstere sind aber nach dem Verursacherprin-
men Sie unserem Antrag „Beteiligung der Energiekon-
zip zu tragen. Gerade deshalb forderte der Bundesrech-
zerne an den Kosten für das Atommülllager Asse“ zu.
nungshof im Jahr 1992, die AKW-Betreiber an den Kos-
ten dieser im Hinblick auf Gorleben durchgeführten
Forschung in der Asse angemessen zu beteiligen. Dazu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kam es jedoch nicht. Warum, wissen wohl nur die ehe- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
malige Regierung von Helmut Kohl und vielleicht auch Drucksache 17/1599 an die in der Tagesordnung aufge-
die AKW-Betreiber. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Diese wollen heute aber bekanntermaßen nichts mit
der Asse zu tun gehabt haben und streiten jede Verant- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
wortung ab. Umso erstaunlicher ist es, dass sie es wa-
ren, die im Jahr 1975 dafür sorgten, dass Annahmebe- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
dingungen für den Atommüll in der Asse gelockert richts des Ausschusses für Menschenrechte und
wurden. Dokumente aus der damaligen Zeit belegen ihr Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)
4764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b so- (C)
Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris wie Zusatzpunkt 11 auf:
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
tion der SPD
Joachim Hacker, Dagmar Ziegler, Petra
Menschenrechtsverteidiger brauchen den Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Schutz der Europäischen Union tion der SPD

– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide
(Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von nach Abzug der Bundeswehr
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und – Drucksache 17/1961 –
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidige- Ausschuss für Tourismus (f)
rinnen und Menschenrechtsverteidiger Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksachen 17/1048, 17/1165, 17/1936 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Berichterstattung: Federführung strittig
Abgeordnete Frank Heinrich b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Christoph Strässer Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Jan van Aken,
Serkan Tören weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Katrin Werner LINKE
Volker Beck (Köln)
Friedliche Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von und Interessen der Region sichern
Frank Heinrich, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD,
Marina Schuster, FDP, Annette Groth, Die Linke, und – Drucksache 17/1972 –
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1) Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Ausschuss für Tourismus (f)
Finanzausschuss
ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Druck- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
sache 17/1936. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
stabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Haushaltsausschuss
(D)
(B)
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1048 Federführung strittig
mit dem Titel „Menschenrechtsverteidiger brauchen den ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Schutz der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Agnes Malczak,
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der NIS 90/DIE GRÜNEN
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen. Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhal-
ten – Voraussetzungen für eine chancenreiche
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Regionalentwicklung
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1165 mit dem Titel „Mehr – Drucksache 17/1989 –
Schutz für Menschenrechtsverteidigerinnen und Men- Überweisungsvorschlag:
schenrechtsverteidiger“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Verteidigungsausschuss (f)
Finanzausschuss
Grünen hat beantragt, dass über die Ziffer II.3 des An- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
trags einerseits und den übrigen Antrag andererseits ge- Ausschuss für Tourismus
trennt abgestimmt werden soll. Haushaltsausschuss

Wir stimmen daher zunächst über die Ziffer II.3 des Auch hier werden die Reden zu Protokoll genom-
Antrags auf Drucksache 17/1165 ab. Wer stimmt dafür? – men. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Ziffer II.3 Kollegen Anita Schäfer und Norbert Brackmann, CDU/
des Antrags ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- CSU, Hans-Joachim Hacker, SPD, Jens Ackermann,
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge- FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, und Cornelia Behm,
lehnt. Bündnis 90/Die Grünen.

Wer stimmt für den übrigen Teil des Antrags auf Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU):
Drucksache 17/1165? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Im Juli letzten Jahres verzichtete Verteidigungsminis-
tungen? – Der übrige Teil des Antrags ist mit dem glei- ter Jung auf eine Nutzung des Truppenübungsplatzes
chen Mehrheitsverhältnis abgelehnt. Damit ist der An- Wittstock als Luft-Boden-Schießplatz. Im Nachgang
trag insgesamt abgelehnt. dazu ergaben weitere Prüfungen des Ministeriums, dass
seitens der Bundeswehr auch kein Bedarf an einer ande-
1) Anlage 6 ren militärischen Nutzung des Geländes besteht. Dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4765
Anita Schäfer (Saalstadt)
(A) waren lange Jahre vorangegangen, in denen alle betei- gung vom BMVg zur BImA als erste Voraussetzung für (C)
ligten Parteien mit großer Überzeugung berechtigte In- eine zivile Nutzung setzt aber eine umfassende Regelung
teressen vertreten haben. Hierzu gehören ganz gewiss der Räumungs- und Kostentragungspflichten voraus.
die Interessen der Anwohner und die der Tourismus-
industrie der Region. Lassen Sie mich dazu ganz klar sa- Hierfür wird eine sehr detaillierte Ermittlung der
gen: Niemand nimmt eine Belastung durch militärischen Munitions- und Altlastensituation notwendig sein. Das
Übungsflugbetrieb auf die leichte Schulter. Wer selbst alles wird leider nicht – wie vielleicht von vielen er-
wie ich in einem Gebiet lebt, in dem dies regelmäßig träumt – von heute auf morgen zu erhalten sein. Die Er-
stattfindet, weiß um die Sensibilität dieses Themas. Das fahrungen bei der Freigabe anderer Übungsplätze zei-
gilt sowohl im Hinblick auf den Schutz der Anwohner gen, dass sich die notwendigen Verfahren über weitere
vor unnötiger Ruhestörung als auch im Hinblick auf die Jahre hinziehen werden. Bevor die technischen Voraus-
Auswirkungen auf den Tourismus. setzungen für eine Übergabe der Liegenschaft geschaf-
fen werden können, ist zuerst sogar noch zu prüfen, auf
Zu den berechtigten Interessen gehört aber auch die welcher gesetzlichen Grundlage diese dann zu erfolgen
Notwendigkeit eines militärischen Übungsbetriebes, der hat. Grundsätzlich unterläge der Übungsplatz dem Ver-
einen sicheren Einsatz unserer Soldatinnen und Solda- waltungsabkommen zur Übertragung der von der russi-
ten gewährleistet. Auch das wird niemand ernsthaft be- schen Armee genutzten Liegenschaften. Aber selbst dies
streiten. Egal, ob unsere Piloten ihr Alltagsgeschäft der ist nicht zweifelsfrei.
Landes- und Bündnisverteidigung verrichten oder wir
sie zu Friedens- und Stabilisierungsmissionen ins Zusätzlich werden sicherlich die anfallenden Räu-
Ausland entsenden: Sie haben einen Anspruch darauf, mungskosten dazu beitragen, die zivile Nutzung der
so gut dafür vorbereitet zu sein wie möglich. Gerade für Kyritz-Ruppiner Heide erst in einiger Zeit zu realisieren.
die einsatzrelevante Aus- und Weiterbildung im Rahmen Für die Nutzung durch die Bundeswehr wurden circa
der Luftnahunterstützung wäre der Truppenübungsplatz 220 Millionen Euro ermittelt. Eine zivile Nutzung setzt
Wittstock von großer Bedeutung gewesen. Welche Be- jedoch ganz andere Standards voraus. Hier wird von ei-
deutung eine solche Luftnahunterstützung haben kann, ner deutlich höheren Kostenbelastung auszugehen sein.
ist uns allen vor Ostern vor Augen geführt worden. Sosehr ich der Region auch eine baldige spürbare
touristische Weiterentwicklung durch die Nutzung der
Aber nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten
Kyritz-Ruppiner Heide wünsche, so sehr halte ich es für
bedeutet die Preisgabe einen Verlust. Gerade den Kom-
unangebracht, durch Anträge wie die drei vorliegenden
munen vor Ort entstehen damit auch greifbare wirt-
den Eindruck zu erwecken, dies in absehbarer Zeit errei-
schaftliche Einbußen. So wird erstens das IV. Luftwaf-
chen zu können.
(B) fenausbildungsregiment erst gar nicht nach Wittstock (D)
verlegt. Und zweitens führt dies zur Auflösung des beste- Viel wichtiger ist es, die möglichen positiven Impulse,
henden Standortes. Für die Stadt Wittstock war über die von der Kyritz-Ruppiner Heide für einen nachhalti-
viele Jahre lang die mit dem Luft-Boden-Schießplatz gen Tourismus in der Region entstehen können, auf einer
verbundene Bundeswehrgarnison eine Grundlage für rechtlich sicheren Basis zu erzeugen. Auch hier bietet
stabile und sichere Arbeitsplätze, die nicht der Abhän- sich an, Erfahrungswerte, die an anderen Orten ge-
gigkeit verschiedenster Faktoren unterlagen. Der Zuzug macht wurden, zu nutzen. Ich denke hier zum Beispiel an
der dort zu stationierenden Zeit- und Berufssoldaten und den ehemaligen Übungsplatz Münsingen. Er ist Teil des
ihrer Familien sowie der regelmäßige Austausch auszu- Biosphärenreservates Schwäbische Alb und wird von
bildender und übender Truppen hätten einen langfristi- der BImA langfristig als Naturschutzfläche geführt.
gen und stabilen positiven Effekt auf Wirtschaft und De-
mografie der Region entwickelt. Daher ist auch die zum Beispiel von der SPD gefor-
derte Einbeziehung in den Flächenpool des Nationalen
Diese Chancen sind nun jedoch vertan. Seitens der Naturerbes nicht angebracht. Hier hat es in der Vergan-
Bundeswehr wurden zwischenzeitlich die ersten Schritte genheit schon weitreichende Abstimmungen mit den
für eine anstehende Konversion eingeleitet. Bei allen vo- Ländern gegeben. Für eine Einbeziehung in die noch of-
rangegangenen Differenzen besteht kein Zweifel daran, fenen 25 000 Hektar sehe ich daher keine Notwendig-
dass jetzt allen Beteiligten daran gelegen ist, unverzüg- keit. Wichtig ist es, dass nun die verschiedenen Stellen
lich zu einer Abgabe der Liegenschaft zu gelangen. Aber des Bundes gemeinsam mit dem Land Brandenburg
es ist offensichtlich noch nicht allen Beteiligten klar, sämtliche Modalitäten der Eigentumsübertragung klä-
welche Hürden hierzu noch zu überwinden sind. So habe ren und hinsichtlich künftiger Nutzungsüberlegungen
ich durchaus meine Zweifel daran, ob all jene, die in den frühzeitig auch die Interessenträger vor Ort in die ent-
vergangenen Jahren mit Begriffen wie dem Bombodrom sprechenden Verfahren einbinden.
polemisch gegen die Nutzung durch die Bundeswehr
vorgegangen sind, sich auch Gedanken darüber ge- Zeitliche und inhaltliche Festlegungen, wie sie ganz
macht haben, was die von ihnen angestrebte zivile Nut- konkret in den Anträgen gefordert werden, sind aber we-
zung letzten Endes an Anstrengungen voraussetzt. der glaubhaft noch verantwortbar zu tätigen. Sowohl die
technischen Dimensionen wie auch die finanziellen und
Derzeit prüft die Bundesanstalt für Immobilienaufga- rechtlichen Umfänge des Verfahrens können derzeit
ben die Modalitäten einer Übernahme der Liegenschaft nicht annähernd überzeugend beschrieben werden. Des-
und hat hierzu auch schon den Kontakt mit dem Land halb lassen die vorliegenden Anträge vermuten, dass die
Brandenburg aufgenommen. Eine Eigentumsübertra- Diskussionen auch zukünftig mehr emphatisch und am-

Zu Protokoll gegebene Reden


4766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Anita Schäfer (Saalstadt)


(A) bitioniert geführt werden, als sachlich und an der ge- den. Auch Sie, liebe Antragssteller, kennen die Medien- (C)
samtgesellschaftlichen Bedeutung der Angelegenheit berichte über die militärischen Hinterlassenschaften.
orientiert. Die Formulierung im Antrag der Grünen, Nach Presseberichten sollen Entmunitionierungsmaß-
dass den Bürgerinnen und Bürgern ein Stück Heimat zu- nahmen mehrere Hundert Millionen Euro kosten. Die
rückgegeben werde, unterstreicht dies noch einmal im konkreten Kosten sowie die Darstellung und Bewertung
nachhinein. der aktuellen Belastungssituation werden noch ermittelt.
Allerdings deutet die Tatsache, dass etwa die Hälfte der
Gleiches gilt für den Antrag der Linken. Gerade aus Fläche den Munitionsbelastungsgraden B und C gemäß
diesem spricht wieder einmal ihre fundamental miss- der Zentralen Dienstvorschrift der Bundeswehr 40I11
trauische und oppositionelle Gesinnung gegenüber den zugeordnet ist und damit einem Betretungsverbot oder
formalrechtlichen Strukturen und Verfahren unseres strengen Betretungsauflagen unterliegen, auf das sehr
Rechtsstaates. Die in ihm aufgestellten Forderungen hohe Gefahrenpotenzial für Leib und Leben und auf ein
lassen jegliche Sachlichkeit in der Herangehensweise Kostenrisiko hin, welches von der Liegenschaft ausgeht.
für die Übergabe des Geländes vermissen. Diese Un- Die konkrete Bewertung wird noch einige Zeit in An-
sachlichkeit findet ihre konsequente Fortsetzung in der spruch nehmen. Die gebotene Gefahrenabwehr und die
Forderung, auch die beiden verbliebenen Übungsplätze öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, hat höchste
in Nordhorn und Siegenburg zu schließen. Deutlicher Priorität. Wir können nicht zulassen, dass Mitmenschen
kann eine Fraktion nicht ihre Weigerung formulieren, mit unserem Wissen einem erhöhten Risiko für Leib und
für eine Gesamtgesellschaft verantwortlich handeln zu Leben ausgesetzt werden!
wollen.
Der Entscheidung über die zivile Anschlussnutzung
Bei dem Antrag der Fraktion der SPD ist zwar anzu- des Truppenübungsplatzes Wittstock in der Kyritz-Rup-
erkennen, dass sich hierin sehr viel mehr um Sachlich- piner-Heide muss daher zwingend eine detaillierte Er-
keit bemüht wurde. Gleichwohl ist aber auch er abzuleh- mittlung der Munitions- und Altlastensituation und die
nen. Denn ihm ist mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Festlegung der konkreten Modalitäten des Eigentums-
Grünen und dem Antrag der Linken gemein, dass er übergangs vom Bundesministerium der Verteidigung auf
vorab aller notwendigen Prüfungen weitgehende Festle- die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben vorausge-
gungen des Bundes fordert. Dem kann aus verständli- hen. Wenn man sich die Anträge der Opposition an-
chen Gründen nicht stattgegeben werden. Und deshalb schaut, mutet es an, zu glauben, die Bundesregierung
lehnt die CDU/CSU-Fraktion auch alle drei Anträge ab. wäre hier untätig. Genau das Gegenteil ist der Fall! Und
genau dieses Vorurteil möchte ich hier ausräumen.
Norbert Brackmann (CDU/CSU):
Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner-Heide mög- Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ist vom (D)
(B)
lich machen – das ist allen drei Anträgen der Opposi- Bundesfinanzministerium mit der Übernahme der Lie-
tionsfraktionen gemein. Mit dieser sprachlichen Unge- genschaft – Truppenübungsplatz Wittstock – in das All-
nauigkeit fängt die Verharmlosung der Größe dieser gemeine Grundvermögen des Bundes beauftragt wor-
Aufgabe aber bereits an. Denn nur rund 12 000 Hektar, den. Derzeit laufen Prüfungen sowie Gespräche mit der
das sind rund 120 Quadratkilometer der über 700 Qua- Bundeswehr und vornehmlich mit dem Bundesverteidi-
dratkilometer großen Kyritz-Ruppiner-Heide im Norden gungsministerium, bei denen selbstverständlich die Alt-
Brandenburgs, werden nicht zivil, sondern militärisch lasten- und Kampfmittelsituation sowie Sicherheitsfra-
genutzt. Auf diesem Gebiet befindet sich der Truppen- gen im Vordergrund stehen, aber auch Haftungsrisiken
übungsplatz Wittstock. geklärt werden müssen. Eine Kontaktaufnahme mit dem
Land Brandenburg ist erfolgt. Fragen der Sicherheit der
Die Bundeswehr hat den Verzicht auf eine weitere Liegenschaft nach Wegfall des militärischen Sicher-
Nutzung dieser Fläche beschlossen. Für eine Umwid- heitsbereichs sowie eine mögliche Einbindung der örtli-
mung dieser Fläche ist der erste, zunächst allerdings chen Interessens- und kommunalen Aufgabenträger in
auch wichtigste Schritt getan. Mit den vorgelegten An- die Konversionsplanung sollen erörtert werden.
trägen wird den Bürgern jetzt vermittelt, dass eine Nut-
zung der bisher militärisch genutzten Fläche unmittel- Bevor diese Schritte abschließend erfolgt sind, kommt
bar bevorsteht. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn die Opposition mit der Forderung daher, geeignete Flä-
grundsätzlich gibt es nur zwei Formen der Nachnut- chen in das Nationale Naturerbe zu überführen. Wir ver-
zung: Erstens. Eine, die das Betreten durch Menschen schließen uns keinesfalls einer solchen Überlegung, je-
unterbindet, das heißt ausschließlich dem Naturschutz doch ist dies ein zweiter Schritt vor dem ersten. Ob und
gewidmet ist. Eine sich selbst entwickelnde Natur könnte in welcher Form die Liegenschaft dem Nationalen Na-
sicherlich einen umweltfachlichen Reiz haben. Schließ- turerbe zugeführt werden kann, ist abhängig von der Er-
lich gibt es kaum noch zusammenhängende Flächen die- mittlung der Munitions- und Altlastenbelastung und der
ser Größenordnung und Qualität in Deutschland. Zwei- Feststellung der naturfachlichen Eignung. Die weitere
tens. Eine zivile Nutzung, die den Menschen in Zukunft Forderung der Opposition, bereits jetzt Teile des Gelän-
ein Betreten zu touristischen oder sonstigen Zwecken er- des für den Tourismus freizugeben, ist wiederrum ein
möglicht. zweiter Schritt vor dem ersten. Die Verhandlungen zur
Konversion des Truppenübungsplatzes Wittstock laufen,
Ihre Anträge interpretiere ich so, dass Sie die letztge- und diese gilt es, im Interesse aller und zum Schutze al-
nannte Variante bevorzugen. Wenn das so ist, muss aber ler abzuwarten. Dabei ist auch klar, dass ein mögliches
zuallererst für die Sicherheit der Menschen gesorgt wer- Konzept für eine zivile Anschlussnutzung unter wirt-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4767
Norbert Brackmann
(A) schaftlicher Betrachtungsweise die Gewährleistung der der Hauptstadt positiv ausstrahlen kann: für den sanften (C)
öffentlichen Sicherheit, die Altlasten- und Kampfmit- Tourismus, als Teil eines nationalen Naturerbes, als
telthematik, die Naturschutzvorgaben und die Interessen Teilfläche für Wildnis, als Nutzungsgebiet für erneuer-
des ländlichen Raumes berücksichtigen muss. bare Energien. Vor allem sollen die Menschen der Re-
gion und aus Nah und Fern das Gebiet wieder für sich
Hans-Joachim Hacker (SPD): erobern können. Familien mit Kindern könnten auf ei-
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Entschei- nem sicheren Gelände spazieren, wandern, picknicken.
dung des Bundesverteidigungsministeriums zur Schlie- Über weite Strecken wäre Fahrradfahren möglich. Des-
ßung des Truppenübungsplatzes Wittstock. Diese Ent- halb soll mit unserem Antrag auch jetzt schon geprüft
scheidung erfolgte spät, aber nicht zu spät. Sie ist das werden, welche Flächen zügig für die Naherholung ge-
Ergebnis vielfältiger Aktivitäten von Bürgerinitiativen öffnet werden könnten. Die umliegende Tourismusbran-
aus Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpom- che mit Hotels, Restaurants und weiteren Angeboten
merns. Hierin kommt am Ende auch zum Ausdruck, dass würde davon deutlich profitieren und könnte sich entwi-
Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Wahlterminen ckeln. Der Bund ist in der Verantwortung, die Folgen
in demokratischen Prozessen in Deutschland etwas be- der jahrzehntelangen militärischen Nutzung zu bewälti-
wegen können. Die SPD-Bundestagsfraktion hat im par- gen und mitzuhelfen, der Region eine Entwicklung als
lamentarischen Bereich über Jahre eine Umwandlung Tourismusstandort unter ökologischen Aspekten zu er-
des Truppenübungsplatzes für zivile Zwecke unterstützt möglichen.
und hierbei die Anliegen der Bewohnerinnen und Be- Dieser Antrag soll dazu einladen, parteienübergrei-
wohner der Region vertreten. fend und mit den lokalen Akteuren die Entwicklungspo-
Jetzt geht es darum, Entscheidungsprozesse für die tenziale der Kyritz-Ruppiner Heide zu diskutieren. Die
Zukunft des ehemaligen Truppenübungsplatzes Witt- Umsetzung der sich dabei darstellenden Chancen muss
stock und der angrenzenden Region anzustoßen und zu durch die Bundesregierung unterstützt werden. Dies soll
konkreten Ergebnissen zu führen. Genau diesem Ziel und muss ein offener Prozess sein, weshalb die SPD-
dient der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, über den Bundestagsfraktion nach der Vorlage einer Beschluss-
wir heute in erster Lesung beraten. Wir halten es für not- empfehlung für den Bundestag auch für Ideen der ande-
wendig, dass in einer konzertierten Aktion zwischen ren Fraktionen dankbar ist und diese gern prüfen wird.
Bund, dem Land Brandenburg und den Kommunen die Lassen Sie uns dazu in den Fachausschüssen diskutie-
notwendigen Maßnahmen beraten werden. ren. Am Ende wird es darum gehen, wie wir die gesamte
Region aufwerten und was wir dazu konkret tun können.
Für uns ist wichtig, dass in diesem Prozess die Ak- Damit schaffen wir nicht nur eine wirtschaftliche und
(B) teure vor Ort eingebunden werden und sie ihre Ideen ökologische Perspektive für das Areal des ehemaligen (D)
und Vorschläge einbringen können. Das wäre ihre Divi- Truppenübungsplatzes Wittstock, wir helfen, Zukunfts-
dende aus den jahrelangen Bemühungen für die Umnut- perspektiven für die Menschen in einer strukturschwa-
zung des Truppenübungsplatzes. Uns ist es wichtig, chen Region Deutschlands zu entwickeln.
deutlich zu machen, dass der Bund für die Entwicklung
der Region mit dem Abzug der Bundeswehr nicht aus der
Jens Ackermann (FDP):
Verantwortung entlassen ist. Gerade wenn es darum
geht, eine zivile Nutzung, insbesondere eine touristische, Untersuchungen des Bundesministeriums der Vertei-
vorzubereiten, muss die Bundesregierung dabei sein, digung haben ergeben, dass die vorhandenen Kapazitä-
wenn Maßnahmenpakete geschnürt werden. Ich denke ten der Truppenübungsplätze in Deutschland auch ohne
dabei insbesondere an die bundeseigene Koordinie- den Übungsplatz in Wittstock ausreichend sind. Auf die-
rungsstelle für Konversionsfragen, die beauftragt wer- ser Grundlage hat der damalige Bundesminister für
den sollte, Machbarkeitsstudien und Nachnutzungskon- Verteidigung Dr. Jung entschieden, auf die Nutzung des
zepte gemeinsam mit den lokalen Akteuren zu erstellen. Truppenübungsplatzes Wittstock als Luft- und Boden-
Der Bund ist auch gefordert, wenn es um eine Altlasten- schießplatz zu verzichten.
untersuchung und die zügige Räumung der Kampfmittel
Zugleich haben sich die Menschen in der Region jah-
geht. Mit einem vorzulegenden Bericht über die Umwelt-
relang gegen eine militärische Nutzung der Kyritz-Rup-
belastung sollte Klarheit geschaffen werden, was auf
piner Heide durch die Bundeswehr engagiert. Auch
dem Gelände gemacht werden muss, um dauerhaft eine
wenn ein exakter Zeitplan für die Standortauflösung
zivile Nutzung zu ermöglichen.
gegenwärtig noch nicht feststeht, eröffnet die Entschei-
Im Mittelpunkt unseres Antrages steht aber die dung des Ministeriums für die Region nun vielfältige
Frage, welcher Weg beschritten werden soll, um neue Nutzungsmöglichkeiten. Sie ist eine Chance, für die
Chancen für die Region zu eröffnen. Dafür müssen die Menschen und Natur gleichermaßen.
verschiedenen Akteure aus dem Bund, dem Land und
den Kommunen sowie die Bürgerinitiativen an einen Es gilt nun, das Verfahren für die umfassende zivile
Tisch geholt werden. Der Bund hat hier die Chance, die- Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide mit den betroffenen
sen Prozess zu moderieren und zu einem positiven Er- Kommunen eng zu verzahnen und den Willen der Bürger
gebnis zu führen. vor Ort zu berücksichtigen. Die FDP hat sich dabei in
der Vergangenheit für die berechtigten Belange der An-
Die Kyritz-Ruppiner Heide hat ein enormes Poten- wohner und umliegenden Gemeinden eingesetzt. Auch
zial, das auf den Nordosten Deutschlands einschließlich ich konnte mir in der vergangenen Legislaturperiode als

Zu Protokoll gegebene Reden


4768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Jens Ackermann
(A) Mitglied des Petitionsausschusses vor Ort einen Ein- drückt. Es ist ein Zeichen, dass es in der DDR keine le- (C)
druck verschaffen und mich mit den Menschen austau- bendige Demokratie gab, im Gegenteil.
schen. Diesen Weg wollen wir nicht verlassen, sondern
gemeinsam weiter beschreiten und zusammen künftige Weiter schreiben Sie: „Während dieser 17 Jahre, in
Nutzungsmöglichkeiten erarbeiten. denen schwarz-gelbe, rot-grüne und schwarz-rote Bun-
desregierungen rechtsstaatswidrig versucht haben, ihr
Bevor nun die zivile Nutzung möglich wird, müssen militärisches Nutzungsbegehren in der Kyritz-Ruppiner
noch zwei Probleme gelöst werden: Zunächst – und Heide rechtsstaatswidrig gegen die Interessen der dort
nicht unerheblich – muss die Frage der Haftung für Alt- lebenden Bürgerinnen und Bürger und ihrer Gäste
lasten geklärt werden. Nach mehreren Jahrzehnten mili- durchzusetzen, wurde die wirtschaftliche Entwicklung in
tärischer Nutzung benötigen wir ein nachhaltiges Kon- der Region blockiert. Angesichts dieser Situation ist der
versionskonzept. Gleichzeitig müssen aber Lösungen Bund noch stärker in der Pflicht, die Durchsetzung der
geschaffen werden, die eine Nutzung der Flächen erlau- Interessen der Bürgerinnen und Bürger der Region an
ben, ohne von vornherein von ungeklärten Haftungs- einer friedlichen Zukunft des Geländes nun unverzüglich
fragen überschattet zu werden. zu sichern.“ Ich möchte daran erinnern, dass in 40 Jah-
Das zweite ungelöste Problem ist die Eigentumsfrage. ren SED-Herrschaft sich nicht nur die Kyritz-Ruppiner
Eines ist, glaube ich, jetzt schon sicher: Es wird für die Heide nicht entwickeln konnte, sondern die wirtschaftli-
Kyritz-Ruppiner Heide ohnehin keine Lösung aus einem che Entwicklung in der gesamten DDR blockiert worden
Guss geben. Den verschiedenen Anforderungen und Zie- ist. Angesichts dieser Situation wäre es hilfreich, wenn
len auf der Fläche muss mit den jeweils passenden Ei- sich die Erben der SED ein wenig in Demut üben wür-
gentumsformen entsprochen werden. Dabei kann bei den.
stärker ökonomisch genutzten Teilkonzepten ein privater
Investor die erste Wahl sein. Bei den eher gemeinwohl- Nun zum Tourismus und dessen Förderung in der Re-
orientierten Aspekten kann diese Rolle das Land selbst gion. Nationale Naturlandschaften sind reizvolle Ur-
oder auch eine Stiftung übernehmen. laubsziele, in denen die Vielfalt der Natur und der Kul-
tur Deutschlands entdeckt werden können. Nicht nur die
Dass wir aber überhaupt gegenwärtig darüber disku- Tourismusbranche kann von einer intakten Natur profi-
tieren können, was aus dem Gelände zwischen Mecklen- tieren. Auch die Umwelt und Natur selbst können durch
burg-Vorpommern und Brandenburg werden kann, was den Tourismus gewinnen. Die Erfahrungen haben ge-
möglich ist und letztlich umgesetzt wird, ist jedoch be- zeigt, dass durch den Tourismus in Großschutzgebieten
reits ein großer Erfolg. Denn auch hier zeigt sich ein- beispielsweise willkommene Einnahmen entstehen, die
drucksvoll das Ende der deutschen Teilung und im Kon- wiederum den Biosphärenreservaten oder den Natur-
(B) kreten: das Ende des Kalten Krieges, welcher stets auf parken zugutekommen. (D)
militärische Abschreckung baute. 1952 als Übungsplatz
entstanden, kann dieses Areal nun anderen Nutzungs- Naturnaher und nachhaltiger Tourismus ist deshalb
möglichkeiten zugeführt werden – eine friedliche, eine ideologiefrei zu fördern. Gerade der Ausbau von Fahr-
zivile und vor allem eine touristische Nutzung sind denk- radwegen und Wanderwegen sowie die Förderung nach-
bar. haltiger Natursportmöglichkeiten wie zum Beispiel Klet-
tern und Paddeln ermöglichen es den deutschen
Ungeachtet konkreter Schritte in Richtung Zukunft ist
Tourismusbetreibern, den Standort Deutschland – und
das doch schon ein wichtiger Erfolg. Zugleich zeigt sich,
hier eben das landschaftlich reizvolle Gebiet zwischen
dass sich auch bürgerliches Engagement lohnt. Denn
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern – noch at-
auch die Initiativen der Menschen vor Ort gegen das
sogenannte Bombodrom waren erfolgreich. Ein Stück traktiver zu gestalten. Gerade in diesen Regionen ist der
gelebter Demokratie der Menschen vor Ort und eine Tourismus schon heute Motor der Entwicklung. Zusam-
Entscheidung vonseiten der Bundeswehr, die von Ver- men mit der Servicebereitschaft und einem Preis-Leis-
antwortung für das Gemeinwohl zeugt. Unsere Soldatin- tungs-Verhältnis auf hohem Niveau, guten Angebots-
nen und Soldaten nutzen effizient bestehende Übungska- strukturen, persönlicher Sicherheit und Sauberkeit
pazitäten innerhalb Deutschlands, sagen ehrlich, dass bieten die neuen Bundesländer schon jetzt ein herausra-
die Kyritz-Ruppiner Heide hier nicht als weiterer Stand- gendes kulturelles und touristisches Angebot.
ort benötigt wird und eröffnen uns allen und dem Touris- Wir wollen das Ziel der Barrierefreiheit stärker in al-
mus nun neue Perspektiven. Denn die Entscheidung ist len Bereichen vernetzen und Kultur und Tourismus en-
nicht nur ein Erfolg für die Menschen vor Ort. Es ist ger verzahnen – das gilt auch für die Kyritz-Ruppiner
auch ein Glücksfall für die Natur, die sich in weiten Tei- Heide. Wir setzen uns für eine Tourismuskonzeption für
len nun – nach Beseitigung der bereits angesprochenen den ländlichen Raum ein und wollen die Rahmenbedin-
und nicht unerheblichen Altlasten – entfalten kann.
gungen vor Ort verbessern. Die Entscheidung der Bun-
Noch einige Sätze zum Antrag der Linken. Sie schrei- deswehr ist eine Chance, Tourismus und Natur weiter zu
ben, ich zitiere: „Diese Widerstandsbewegung hat dem verzahnen und der mittelständisch geprägten Touris-
bürgerschaftlichen Engagement ein Denkmal der leben- muswirtschaft weiteren Auftrieb zu geben. So kann auch
digen Demokratie gesetzt.“ Ich möchte darauf hinwei- das Gelände des dann ehemaligen Truppenübungsplat-
sen, dass es auch zu Zeiten der DDR kritische Stimmen zes den Tourismusstandort in den neuen Bundesländern
in der Bevölkerung zur militärischen Nutzung dieser Re- weiter stärken und zusätzliche Wachstumspotenziale der
gion gab. Diese Stimmen wurden jedoch massiv unter- Branche als Jobmotor freisetzen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4769
Jens Ackermann
(A) Die Bundeswehr macht den Weg frei für die gute Ent- gelt werden. Die Mitsprache der Menschen und Kommu- (C)
wicklung der Kyritz-Ruppiner Heide. Nun ist die Politik nen der Region und der Brandenburger Landesregierung
am Zuge, die weiteren Schritte konstruktiv und solide zu an Entscheidungen und an der Erarbeitung eines nach-
gestalten. Dabei gilt es, alle Interessengruppen vor Ort haltigen Nutzungskonzepts für die Heide muss gewähr-
in den Prozess einzubeziehen – zum Wohle der Region. leistet werden. Hierbei besteht die Anforderung darin,
den Erhalt des Naturreichtums, sanften Tourismus und
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): nachhaltige wirtschaftliche Nutzungskonzepte in Ein-
klang zu bringen.
Die Menschen in der Region rund um das ehemalige
„Bombodrom“ – die Kyritz-Ruppiner-Heide – erwarten Neben dem oben genannten Sofortprogramm verlangt
zuallererst Rechtssicherheit, Rechtssicherheit in Bezug die Linke die Unterstützung der Bundesregierung bei
auf einen endgültigen militärischen Nutzungsverzicht. der Einbeziehung des Geländes in eine naturnahe, län-
Deshalb ist es schade, dass wir heute nicht einen über- derübergreifende Entwicklungskonzeption für die Re-
fraktionellen Gruppenantrag diskutieren. Stattdessen gion. Süd-Mecklenburg und das nördliche Brandenburg
preschte die SPD vor, sodass jetzt mit dem Antrag der haben viele Jahre unter der Blockade gelitten und eine
Grünen und der Linken drei vorliegen. Eigentlich er- Reihe von Defiziten, die durch die Unsicherheit entstan-
warten die Menschen in der Region fraktionsübergrei- den, hinnehmen müssen. Diese müssen nun länderüber-
fendes Handeln. Dazu brauchen Sie nur die Presseerklä- greifend beseitigt werden.
rung vom 9. Juni der Bürgerinitiative „Freier Himmel“
aus Mecklenburg-Vorpommern zu lesen. Allerdings sind Die Linke will weder, dass die Menschen erneut aus
die Unterschiede in den Anträgen der drei Fraktionen dem Gelände ausgeschlossen werden, noch, dass die
nicht so groß, als dass sie in den Ausschussberatungen wertvolle Naturlandschaft gefährdet wird. Die vielen
nicht noch zu überwinden wären. Akteure, die in den letzten 17 Jahren für eine „freie
Heide“ kämpften, dürfen jetzt nicht von der Zukunftsge-
Erst Rechtssicherheit ermöglicht eine Planung zur
staltung ausgeschlossen werden.
nachhaltigen zivilen Nutzung des Gebietes. Im Antrag
der Linken steht daher als erste Forderung eines Sofort- An dieser Stelle sei noch einmal den Aktiven, die sich
programms, den „Truppenübungsplatz Wittstock“ aus in verschiedenen Interesseninitiativen zusammenfanden,
dem Standortkonzept der Bundeswehr zu streichen und herzlich gedankt. Sie schafften es, gemeinsam für ein
einen Zeitplan zum Abzug der Bundeswehr aus der Re- Ziel zu streiten und sich über einen sehr langen Zeit-
gion vorzulegen. Beide Forderungen sind in den Anträ- raum nicht auseinanderdividieren zu lassen. Die wesent-
gen von SPD und Grünen leider nicht zu finden. Sie ge- lichen Gruppen, die an diesem schwierigen Kampf betei-
(B) hören aber zu den Voraussetzungen der weiteren ligt waren, sind im Antrag der Linken würdigend (D)
Vorgehensweise. genannt. Mir sei es gestattet, an dieser Stelle einmal den
Neben rechtlicher Klarheit muss Sicherheit über die großen persönlichen Beitrag meiner Fraktionskollegin
Finanzierung einer nutzungsorientierten Räumung von Dr. Kirsten Tackmann besonders hervorzuheben. Das
Munition und Altlasten hergestellt werden. Dazu steht habt ihr gemeinsam toll gemacht!
die Bundesregierung in der Pflicht. Und dieses ist die
Grundvoraussetzung, um sanfte Nutzungskonzepte – zu- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nächst für Teilbereiche der Heide – zu schaffen. Die
Linke fordert daher schon in diesem Jahr die Öffnung si- Der Weg für eine zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner
cherer Wege für geführte Heidewanderungen. Das setzt Heide ist frei. Der langjährige friedliche Protest der
die Sicherung der Wege, den Brandschutz und das Of- Bürgerinnen und Bürger vor Ort hat bewiesen, dass zi-
fenhalten der wertvollen Heideflächen voraus. Eine Öff- vilgesellschaftliches Engagement und friedenspolitische
nung sicherer Wege ist zudem angebracht, da das Gebiet Arbeit einen entscheidenden Einfluss auf die Politik ha-
unmittelbar an die touristisch bedeutsamen Regionen ben können. Dafür möchte ich den Menschen in der Re-
der mecklenburgischen Seenplatte und des Naturparks gion, aber auch bundesweit meinen tiefen Dank ausspre-
Stechlinsee angrenzt. Warum sollen wir nicht wieder auf chen.
Fontanes Spuren durch die gesamte Mark Brandenburg
Nachdem eine weitere Nutzung des Geländes durch
wandern können? Die gesamte Region ist touristisch ge-
die Bundeswehr ausgeschlossen wurde, kommt es nun
prägt. Die wirtschaftliche Zukunft dieser ländlichen Re-
darauf an, die Weichen für die Zukunft so zu stellen, dass
gion liegt auch im sanften Tourismus. Das ist natürlich
die Chancen der Region in ihrer Vielfältigkeit gewahrt
nichts Neues und bereits ausführlich in allen relevanten
bleiben. Als Bündnisgrüne haben wir uns in den vergan-
Gutachten zur regionalen Entwicklung, die in den Pro-
zessen gegen die militärische Nutzung herangezogen genen Jahren immer wieder für ein breites, partei-
wurden, dokumentiert. Umso höher ist jetzt der Erwar- übergreifendes Bündnis für die Kyritz-Ruppiner Heide
tungsdruck, endlich konkrete Ergebnisse für die Region eingesetzt. Dies halten wir auch für die zukünftige Ent-
zu erzielen. wicklung der Region für unerlässlich. Ich möchte des-
halb alle Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bun-
Die Linke fordert zudem in ihrem Antrag, auf eine destag bitten, sich in den kommenden Wochen für eine
Privatisierung des Geländes zu verzichten. Bei einer gemeinsame Position in dieser Frage starkzumachen.
Übertragung der Flächen an die Bundesanstalt für Im- Wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern rund um die
mobilienaufgaben, BImA, muss dieses verbindlich gere- Heide schuldig.

Zu Protokoll gegebene Reden


4770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Cornelia Behm
(A) Zu den zentralen Punkten, die für die Entwicklungs- Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- (C)
perspektiven der Region in den kommenden Wochen und nen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stim-
Monaten maßgeblich sind, gehört der Erhalt der Heide men der SPD und der Linken abgelehnt.
als Heide, und das in ihrer Gesamtheit. Wir Bündnis-
grünen sprechen uns deshalb für eine zeitnahe Übertra- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
gung des Geländes an die Bundesanstalt für Immobi- Fraktionen der CDU/CSU und der FDP – Federführung
lienaufgaben aus, damit die konkreten Planungsschritte beim Verteidigungsausschuss – abstimmen. Wer stimmt
gegangen werden können. Mit ihrer vielfältigen schüt- für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –
zenswerten Naturausstattung und aufgrund ihrer Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Großflächigkeit und Unzerschnittenheit ist die Kyritz- Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnis-
Ruppiner Heide wert, in das Nationale Naturerbe aufge- ses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken und
nommen zu werden. Ausgenommen vom Privatisierungs- der SPD-Fraktion angenommen.
auftrag kann dann unter dem Dach „Nationales Natur- Tagesordnungspunkt 22 b. Die Vorlage auf Drucksa-
erbe“ die Erarbeitung eines einvernehmlich mit den che 17/1972 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-
Bürgerinnen und Bürgern vor Ort abgestimmten regio- ten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Fe-
nalen Nutzungskonzepts erfolgen, ohne dass dessen Um- derführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und
setzung durch unterschiedliche Besitz- und Eigentums- FDP wünschen Federführung beim Verteidigungsaus-
verhältnisse behindert werden würde. schuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
Um die Heide überhaupt wieder für zivile Zwecke beim Ausschuss für Tourismus.
nutzbar machen zu können, bedarf es eines großen Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Kraftaktes bei der Munitionsbeseitigung. Hier steht Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen
auch der Bund in der Verantwortung. Denn ohne seine Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
finanzielle und fachliche Mitwirkung ist eine zügige Mu- gen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung
nitionsbergung und Altlastensanierung nicht zu machen. der Fraktion Die Linke, Ablehnung durch die Koali-
Insbesondere der Brandschutzriegel um das Offenland tionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
und einige zentrale Wege durch das Gelände müssen tung der SPD-Fraktion abgelehnt.
schnellstmöglich beräumt werden. Der schnelle Beginn
der Munitionsbergung ist zum Erhalt der Heide von Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
höchster Dringlichkeit. Denn die zunehmende Verbu- Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführung
schung und Bewaldung der Heidelandschaft – und damit beim Verteidigungsausschuss – abstimmen. Wer stimmt
ihr Verschwinden – kann nur aufgehalten werden, wenn für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –
(B) das Gelände wieder betretbar gemacht wird. Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den (D)
Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnis-
Der Erhalt des Heidecharakters ist nicht nur unter
ses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken und
naturschutzfachlichen Aspekten geboten, sondern auch
bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
hinsichtlich der touristischen Entwicklungschancen der
Region. Mit der Einbeziehung der Heidelandschaft in Zusatzpunkt 11. Interfraktionell wird Überweisung
diese wald- und wasserreiche Region wird ein touristi- der Vorlage auf Drucksache 17/1989 an die in der Tages-
scher Dreiklang geschaffen, der deutschlandweit einzig- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
artig ist und großes Potenzial im Hinblick auf naturver- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
träglichen Tourismus verspricht. Überweisung so beschlossen.
Mit der Aufgabe der militärischen Nutzungspläne für Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
die Kyritz-Ruppiner Heide endet nicht die Verantwor-
tung des Bundes für das Gelände. Im Gegenteil: Die ver- Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
antwortungsvolle Begleitung und ressortübergreifende Hänsel, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
Förderung der naturverträglichen Nutzbarmachung des rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Geländes für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort ist ein
wichtiger Pfeiler der Zukunftschancen für die Region. Freihandelsabkommen EU-Kolumbien-Peru:
Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestages
sichern
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf – Drucksache 17/1970 –
Drucksache 17/1961 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisungsvorschlag:
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
wünschen Federführung beim Verteidigungsausschuss. Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Aus- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
schuss für Tourismus. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD – Federführung beim Tourismusaus- Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
schuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei- den Kolleginnen und Kollegen Erich Fritz, CDU/CSU,
sungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dr. Sascha Raabe, SPD, Dr. Martin Lindner, FDP, Heike
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4771
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Hänsel, Die Linke, und Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die denn das Abkommen ist seit Verhandlungsbeginn sowohl (C)
Grünen. bei den zuständigen Berichterstattern im Deutschen
Bundestag als auch bei den EU-Parlamentariern in der
Erich G. Fritz (CDU/CSU):
Diskussion. Die EU pflegt darüber hinaus einen regel-
mäßigen bilateralen Menschenrechtsdialog mit kolum-
Die CDU/CSU begrüßt es, dass sich die Europäische bianischen Behörden. In diesem Forum wurde auch
Kommission am 1. März 2010 auf ein Freihandelsab- immer wieder darauf gedrängt, Betroffene wie Gewerk-
kommen mit Kolumbien und Peru geeinigt hat. Trotz im schafter und Angehörige von Opferverbänden zu schüt-
Vorfeld strittiger Punkte wie der Menschenrechtsklausel zen.
– Peru und Kolumbien haben sich gegen die Verknüp-
fung von Handels- und Menschenrechtsfragen gewehrt – Im Übrigen macht es sich die Fraktion Die Linke zu
wurde am 18. Mai 2010 auf dem 6. Gipfeltreffen der EU einfach, Peru und Kolumbien in einen Topf zu werfen.
und der Länder Lateinamerikas und der Karibik der Ab- Niemand bezweifelt, dass es vor allem in Kolumbien
schluss des Abkommens zustimmend zur Kenntnis ge- noch Menschenrechtsverletzungen gibt. Wir werden da-
nommen. Angesichts des Stillstandes der Handelslibera- rüber gerade in der aktuellen Presse angesichts der der-
lisierung im Rahmen der WTO ist es nahezu unerlässlich zeit stattfindenden Präsidentschaftswahl informiert. Es
und erforderlich, mit bilateralen Vereinbarungen Märkte muss aber auch einmal gesagt werden, dass sowohl in
für die eigenen Unternehmen zu erschließen, sodass es Kolumbien als auch in Peru in den letzten Jahren in der
nicht nur recht und billig, sondern auch höchst bedeu- Justiz und bei der Aufarbeitung viele Fortschritte ge-
tend und zielführend war, dass die EU seit Januar 2009 macht wurden.
über ein multilaterales Freihandelsabkommen mit Ko-
lumbien und Peru verhandelt hat. Es setzt zudem Zeichen Das Abkommen unterstützt diese Fortschritte, indem
gegen weltweit zunehmende Protektionismustendenzen es einen Schritt weiter geht und eine von mir bereits an-
sowie für eine Stärkung des internationalen Regulie- fangs erwähnte eigene Menschenrechtsklausel und ein-
rungsrahmens und entwickelt hoffentlich auch eine Sog- deutige Festlegungen zur Einhaltung internationaler
wirkung auf die ganze Region, solche Abkommen abzu- Kernarbeitsnormen enthält. Dass man sich darauf hat
schließen – stockende Verhandlungen mit MERCOSUR, einigen können, ist in hohem Maße anzuerkennen, da
Andengemeinschaft, Zentralamerika. Menschenrechtsaspekte üblicherweise in Handelsab-
kommen nicht verhandelt werden.
Für die EU sind die Ergebnisse insbesondere beim
Zollabbau – 100 Prozent bei Industriegütern in maximal Wir haben Ihnen bereits in den Beratungen zu Ihrem
zehn Jahren –, Dienstleistungen und öffentlichem Auf- Antrag „Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda
setzen – Freihandelsabkommen EU-Kolumbien stop-
(B) tragswesen sehr gut. Peru und Kolumbien profitieren pen“ auf Drucksache 17/1546 dargelegt, dass die CDU/ (D)
insbesondere von zusätzlichen Marktöffnungen bei
Agrargütern, vor allem Bananen, Zucker sowie Dienst- CSU der Überzeugung ist, durch das Freihandelsab-
leistungen. Kolumbien verpflichtet sich außerdem, den kommen die menschen- und arbeitsrechtliche Lage ent-
Schutz der Menschenrechte sowie der Arbeitnehmer- spannen zu können. Es macht keinen Sinn, Kolumbien zu
rechte auszubauen. Dass das Abkommen eine eigene isolieren. Sie sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass
Menschenrechtsklausel enthalten wird, ist auf die Kritik solche Verträge viele positive Effekte auf die wirtschaft-
aus dem Europäischen Parlament und von deutschen liche Entwicklung in einem Land selbst haben und diese
Gewerkschaften wegen der Behandlung von Gewerk- wiederum zur Verbesserung der menschenrechtlichen
schaftern in Kolumbien zurückzuführen und wird von Lage beiträgt. Gelingende Handelsbeziehungen können
CDU und CSU ausdrücklich begrüßt. das Vehikel sein, und sie waren es in der Vergangenheit
oft genug, die Einhaltung von Menschenrechten zu er-
Die Union freut sich über den Abschluss des Abkom- möglichen und dann auch einzufordern.
mens, nicht zuletzt aufgrund des Handelsvolumens mit
beiden Staaten, das im Jahr 2009 circa 3 Milliarden Die Widersprüchlichkeit der Linken wird an diesem
Euro betrug, und der Tatsache, dass Kolumbien und Antrag geradezu exemplarisch sichtbar. Während stän-
Peru schon jetzt diejenigen Staaten sind, die in Latein- dig gefordert wird, den Handel nicht unabhängig von
amerika die größten Wachstumsraten aufweisen. Im Menschenrechten, Umwelt und Sozialstandards zu se-
Übrigen möchte ich daran erinnern, dass nicht nur die hen, wird in der konkreten Ausgestaltung nun gerade die
Europäische Union und Deutschland ein großes Inte- Erweiterung der Abkommen zum Anlass genommen, sie
resse an einem Freihandelsabkommen haben, auch verzögern und verhindern zu wollen. Im Übrigen ist die
Kolumbien und Peru haben sich stark für ein solches geradezu sprichwörtliche Einäugigkeit der Linken ge-
Abkommen eingesetzt. Dies betonte erst kürzlich Kolum- rade bei den Abkommen mit Peru und Kolumbien sicht-
biens Präsident Uribe im Vorfeld der Präsidentschafts- bar geworden. Diese Fraktion zeigt bei der Kritik an so-
wahlen. zialen und politischen Zuständen in Lateinamerika ein
so ausgeprägtes Maß an Doppelstandards, dass ich
Einige Stimmen beklagen, dass der Verhandlungspro- mich immer frage, wie sie das aushalten kann. Wir wol-
zess mit Kolumbien und Peru nicht transparent genug len, dass ganz Lateinamerika auf dem Weg der sozialen
abgelaufen sei, dass eine politische Debatte über das Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der wirtschaftlichen
Handelsabkommen nicht stattgefunden habe und zu we- und der demokratischen Entwicklung vorankommt.
nig Fortschritte beim Schutz der Menschen- und Arbeit- Dazu bieten wir als Europäer partnerschaftliche Wege
nehmerrechte gemacht würden. Dem widerspreche ich, an, die von Peru und Kolumbien angenommen worden

Zu Protokoll gegebene Reden


4772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Erich G. Fritz
(A) sind, während sie andere abgelehnt haben. Dass gerade eingebracht und beraten wurde. Auch die Linkspartei (C)
das Europäische Parlament Wert auf Abkommen legt, hatte hierzu nochmals einen eigenen Antrag einge-
die nicht nur wirtschaftliche Beziehungen im Auge ha- bracht. Da hierzu bereits eine ausführliche Debatte im
ben, ist ganz im Sinne der Diskussionen im Deutschen Parlament stattfand, möchte ich die Argumente der
Bundestag über eine nachhaltige Entwicklung. Deshalb SPD-Fraktion hier nicht noch einmal wiederholen. Zu-
sollte alles vermieden werden, was erste sehr positive sammengefasst ist es aus meiner Sicht äußerst wichtig,
Ansätze sabotieren würde, wie der Antrag der Linken dass in Freihandelsabkommen der EU mit Entwick-
das versucht. lungsländern ein besonders starkes Gewicht auf men-
schenrechtliche, ökologische und soziale Standards ge-
Die Fraktion Die Linke fordert, die Mitspracherechte
legt wird.
des Deutschen Bundestages bei EU-Vorlagen zu sichern.
Durch den neuen EU-Grundlagenvertrag, den – wenn Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit vielen Jah-
wir uns erinnern – die Linke nicht wollte, sind die Betei- ren in unzähligen Bundestagsanträgen neben der Ein-
ligungs- und Mitwirkungsrechte des Bundestages und haltung der Menschenrechte die verbindliche Aufnahme
des Bundesrates gestärkt wurden. Bei den Verhandlun- von ökologischen und sozialen Mindeststandards wie
gen dazu hat sich vor allem die CDU/CSU-Fraktion da- den ILO-Kernarbeitsnormen in das Regelwerk der Welt-
für eingesetzt, dass erstens die Regelungen der Zusam- handelsorganisation, WTO, und analog in alle bilatera-
menarbeitsvereinbarungen in dem Gesetz über die len Handelsabkommen Deutschlands und der EU.
Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union, Die Menschenrechtssituation in Kolumbien ist be-
EUZBBG, festgehalten werden, und zweitens die Bun- sorgniserregend, und deshalb ist es richtig, eine gravie-
desregierung unser Parlament frühzeitig und besser rende Verbesserung im Handelsabkommen einzufordern.
über die Vorhaben der EU unterrichtet. Die Berichts- Im Unterschied zur Linkspartei sehe ich jedoch im Ver-
und Informationspflicht seitens der EU-Kommission gleich zu früheren Zeiten auch viele Verbesserungen ins-
wurde also ausgeweitet. Die Mitwirkungsrechte dürfen besondere der Sicherheitssituation in Kolumbien, wes-
aber nicht zu einem Blockadeinstrument im Sinne der halb die Mehrheit der dortigen Bevölkerung auch hinter
Linken ausgestaltet werden. der dortigen Regierung steht. Es ist trotzdem richtig,
weiterhin Druck auf die Regierung auszuüben, die Men-
Wir werden bei der weiteren Debatte über die Abkom-
men sorgfältig beachten, ob sich aus den über die Han- schenrechtssituation erheblich zu verbessern. Allerdings
delszuständigkeit hinausgehenden Teilen des Abkommens würde ich mich freuen, wenn die Linkspartei endlich
ein bestimmtes Verhalten des Bundestages notwendiger- auch gleiche Maßstäbe an die venezolanische und kuba-
nische Regierung anlegen würde. Die Einhaltung von
(B) weise ergibt. Der bisherige Beratungszeitplan sowohl Menschenrechten ist überall einzufordern, unabhängig (D)
auf europäischer als auch nationaler Ebene lässt über-
haupt nicht den Eindruck entstehen, dass nun hektische von der parteipolitischen Ausrichtung der Regierung.
Aktivitäten erforderlich seien, wie es der vorliegende An- Ich möchte abschließend noch einmal die Forderun-
trag vorgaukelt. gen der SPD-Fraktion aus dem bereits im Bundestag
Da die endgültigen Texte des EU-Freihandelsabkom- eingebrachten Antrag vom 4. März 2010 zitieren:
mens mit Kolumbien und Peru zurzeit noch erstellt und
rechtsförmlich geprüft werden und damit noch die Zu- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
stimmung der EU-Mitgliedstaaten und des Europäi- rung auf:
schen Parlaments notwendig ist, bin ich zuversichtlich Erstens. Sich gegenüber den Regierungen von Ko-
und überzeugt davon, dass die mit den Begleitgesetzen lumbien und Peru nachdrücklich für die Einhaltung von
zum Lissabon-Vertrag eröffneten Möglichkeiten größe- Grundrechten, Menschenrechten und Arbeitnehmer-
rer parlamentarischer Kontrolle aktiv und umfänglich rechten und für ein Ende der Gewalt einzusetzen.
wahrgenommen werden. Was der Deutsche Bundestag in
der Wahrung seiner eigenen Rechte tun kann, wird er auf Zweitens. Bilateral und auf EU-Ebene darauf hinzu-
keinen Fall versäumen. wirken, dass in Kolumbien und Peru der interne politi-
sche Dialog der staatlichen und nichtstaatlichen Ak-
Dr. Sascha Raabe (SPD): teure intensiviert wird mit dem Ziel, die Umsetzung der
Zu den europarechtlichen Aspekten des Antrags der wesentlichen Übereinkommen der Vereinten Nationen
Linken „Freihandelsabkommen EU-Kolumbien-Peru: und der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, zu
Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestags sichern“ Menschenrechten und Arbeitnehmerrechten zu fördern.
und der Frage, ob der Deutsche Bundestag das Freihan-
Drittens. Die EU-Kommission und die spanische
delsabkommen ratifizieren muss, kann ich keine juristi-
Ratspräsidentschaft zu bitten, das multilaterale Frei-
sche Beurteilung abgeben.
handelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru auf
Zu den menschenrechts- und entwicklungspoltischen dem EU-LAK-Gipfel, EULAC, am 18. Mai 2010 in
Komponenten des Antrags möchte ich auf den Antrag Madrid nicht übereilt zu unterzeichnen. Eine Unter-
der SPD-Fraktion „Menschrechtsschutz im Handelsab- zeichnung kommt nur dann infrage, wenn menschen-
kommen der Europäischen Union mit Kolumbien und rechtliche, soziale und ökologische Standards sowie ent-
Peru verankern“, Bundestagsdrucksache 17/883, ver- sprechende Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen
weisen, der bereits am 4. März 2010 in den Bundestag verbindlich verankert sind.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4773
Dr. Sascha Raabe
(A) Viertens. Auf EU-Ebene darauf hinzuwirken, dass Abkommen mit sich bringt, wird auch der politische Pro- (C)
künftig wieder konsequent die Strategie verfolgt wird, zess der Öffnung der beiden Länder unterstützt, zumal
regionale statt bi- oder multilaterale Abkommen zu auch das Abkommen selbst darauf einen Augenmerk
schließen. legt. Es enthält eine eigene und sanktionierbare Men-
schenrechtsklausel und eindeutige Festlegungen zur
Der Deutsche Bundestag bittet das Europaparlament, Einhaltung zum Beispiel internationaler Kernarbeits-
für den Fall der Unterzeichnung des Abkommens auf normen.
dem EU-LAK-Gipfel bei der anschließenden Entschei-
dungsfindung im Parlament die oben genannten Der Antrag der Fraktion Die Linke ist politisch ein-
Gesichtspunkte zu berücksichtigen und sein Votum an seitig, inhaltlich zumeist falsch und lässt weitestgehend
menschenrechtliche Forderungen und überprüfbare die erfolgreichen Anstrengungen beider Staaten außer
Fortschritte zu binden. Acht, Gewalt einzudämmen und Menschenrechtsverlet-
zungen zu bekämpfen.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Der Abschluss des Freihandelsabkommens EU-Ko- Heike Hänsel (DIE LINKE):
lumbien-Peru ist eine gute Nachricht – für alle beteilig- Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel am 18. und
ten Länder. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftli- 19. Mai dieses Jahres hat die EU mit Kolumbien und
chen und politischen Potenziale von Südamerika für uns Peru ein sogenanntes Assoziierungsabkommen unter-
zu nutzen. Südamerikanische Länder haben in den letz- zeichnet, trotz der massiven Kritik von sozialen Bewe-
ten Jahren eine atemberaubende Erfolgsgeschichte hin- gungen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen
gelegt und sind wirtschaftspolitisch, aber auch außen- an der Menschenrechtssituation in diesen Ländern und
politisch eine wichtige Stimme in der Welt geworden. den Auswirkungen von Freihandelsabkommen. Das
Das Handelsvolumen mit beiden Staaten betrug 2009 steht der Mitte der 1990er-Jahre verabschiedeten Men-
circa 3 Milliarden Euro. Das Abkommen wird es den schenrechts- und Demokratieklausel der EU entgegen.
europäischen Unternehmen ermöglichen, an diesem Diese besagt, dass die EU mit Staaten, die die Men-
Wachstum gleichberechtigt zu partizipieren, insbeson- schenrechte verletzen, ihre Kooperation erst gar nicht
dere im Verhältnis zu den USA, die schon entsprechende beginnen bzw. aussetzen oder einschränken soll, bei-
Abkommen haben. Ein positiver Aspekt ist weiterhin, spielsweise durch eine Einschränkung des Waffenhan-
dass Probleme bei Exporten von Bananen und in der dels, von Militärhilfen oder eine inhaltliche Änderung
Automobilindustrie ausgeräumt werden konnten. In anderer wirtschaftlicher Kooperationsprogramme, die
Deutschland profitieren die Verbraucher durch niedri- diese Staaten bei die Verletzung der genannten Klausel
(B) gere Bananenpreise. Die deutsche Automobilindustrie hart treffen würde. (D)
findet nun gleichberechtigte Bedingungen vor, wie bis-
lang die USA. Nach den verschiedenen Stellungnahmen der Bundes-
regierung zur Menschenrechtslage in Kolumbien zu ur-
Der erfolgreiche Abschluss noch während der spani- teilen, ist der Bundesregierung, aber auch der europäi-
schen EU-Präsidentschaft ist auch ein gutes Zeichen ge- schen Exekutive bekannt, dass in dem Partnerland
gen Protektionismus und die Stärkung des internationa- Kolumbien massive Menschenrechtsverletzungen be-
len Regulierungsrahmens. Der Antrag der Fraktion Die gangen werden. Warum also dieses Abkommen? Die An-
Linke zum Thema Freihandelsabkommen EU-Kolum- nahme, die Umsetzung wirke sich positiv auf die Men-
bien-Peru bezüglich des Mitwirkungsrechts des Deut- schenrechtslage eines Landes wie Kolumbien aus, ist
schen Bundestags impliziert, dass Informationen über reiner Hohn für die 300 000 neuen Vertriebenen, die
das Abkommen nicht verfügbar sind. Tatsächlich sind im 48 ermordeten Gewerkschafter im Jahre 2009 und für
Rahmen des Zusammenarbeitsverfahrens alle Doku- die Familien der über 1 200 Fälle der durch das kolum-
mente auch dem Bundestag übermittelt worden. Die Ver- bianische Militär systematisch erfolgten Verschleppung
handlungen zu diesem Abkommen sind schon lange be- und Ermordung von Unschuldigen. In diesem aggressi-
kannt und begannen zum Assoziierungsabkommen 2007 ven Wettbewerb wird es viele Verlierer und nur wenige
unter deutscher EU-Präsidentschaft. Die unter deut- Gewinner geben. Um nur ein Beispiel zu benennen,
scher EU-Präsidentschaft 2007 begonnenen bi-regiona- warnte die kolumbianische Viehzüchterföderation noch
len Assoziierungsverhandlungen der EU mit der Anden- vor der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens:
gemeinschaft wurden nach dem Rückzug Boliviens seit „… das zu unterzeichnende Freihandelsabkommen zer-
Januar 2009 als Freihandelsverhandlungen mit Kolum- stört die Produktion von Fleisch, Milch und deren Er-
bien, Peru und Ecuador geführt, wobei am 1. März 2010 zeugnisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU und
nur die Verhandlungen mit Kolumbien und Peru zum Ab- bringt mehr Armut und Hunger in die ländlichen Regio-
schluss gebracht werden konnten. Die Paraphierung der nen und für 400 000 Familien den Ruin“.
Abkommen beim Gipfeltreffen der Staats- und Regie-
rungschefs der EU und Lateinamerikas erfolgte am Gerade die Bundesregierung war Motor bei den Ver-
18. Mai 2010 in Madrid. handlungen über ein Freihandelsabkommen mit Kolum-
bien. Das zeigt: Menschenrechte zählen nichts gegen-
Die Kritik der Antragsteller kann ich im Bezug auf über den wirtschaftlichen Interessen der in Kolumbien
behauptete Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien tätigen deutschen und europäischen Unternehmen.
und Peru nicht nachvollziehen. Denn durch die weiteren Denn deren Handelsgewinne vergrößern sich mit dem
wirtschaftlichen Fortschritte der beiden Länder, die das Freihandelsabkommen, ihren Investitionen werden hö-

Zu Protokoll gegebene Reden


4774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Heike Hänsel
(A) here Profite garantiert – sie gehören zu den wenigen Ge- lediglich auf die bereits bestehenden Verträge bezieht, (C)
winnern. die gezeigt haben, dass sie keine Zähne haben.
Die Linke fordert das gesetzlich garantierte Mitspra- Aber das wissen wir nicht, da wir den endgültigen
cherecht des Bundestages bei EU-Verträgen, die über Text des Abkommens noch immer nicht kennen. Die
die Handelspolitik hinausreichen, bei dem anstehenden Frage, ob es sich um eine „neue“ oder eine „alte“ Men-
Ratifizierungsprozess des Freihandelsabkommens ein. schenrechtsklausel handelt, ist aber zentral für die
Dieses Abkommen enthält Regelungen zur Liberalisie- Frage, ob der Bundestag das Abkommen ratifizieren
rung der öffentlichen Beschaffungsmärkte und zur Libe- muss oder nicht. Denn nach dem Begleitgesetz zum Lis-
ralisierung des Wettbewerbsrechts sowie des Investi- sabonner Vertag muss der Bundestag Verträge ratifizie-
tions- und Patentschutzes und greift fundamental in die ren, wenn Politikbereiche tangiert sind, die anders als
Ordnungspolitik der lateinamerikanischen Partnerlän- der Handelsbereich nicht alleinige Kompetenz der EU
der ein. Somit berührt es entwicklungspolitische Fra- sind. Menschenrechtspolitik ist ein solcher Bereich.
gen, die die Zuständigkeit der nationalen Parlamente
der Mitgliedsländer betreffen. Zudem beinhaltet das Ab- Ich hoffe, dass das Abkommen wirklich eine neue
kommen auch Klauseln zu Menschenrechten und der Menschenrechtsklausel enthält, die sanktionsbewehrt
Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die ist. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag das Abkom-
nicht handelsrelevant sind. men ratifizieren muss. Ich hoffe und erwarte aber auch,
dass die Bundesregierung ihren Pflichten gerecht wird,
Stärken wir den demokratischen Entscheidungspro- die sich aus dem Lissabonner Vertrag ableiten, und uns
zess in der EU, schenken wir endlich den Opfern der zügig und umfänglich über das Abkommen informiert
Öffnung der Märkte im Süden Aufmerksamkeit. Setzen und uns den Text zugänglich macht. Denn zum jetzigen
wir uns gemeinsam für solidarische Wirtschaftsbezie- Zeitpunkt haben wir schlicht und ergreifend nicht aus-
hungen und für eine andere Handelspolitik ein, die den reichend Informationen, auch wenn der Antrag der Lin-
Kleinbauernbewegungen in Lateinamerika und der Ka- ken diesen Eindruck vermittelt.
ribik sowie in Europa das Überleben und die Ernäh-
rungssouveränität der Länder ermöglicht. Ich habe mir das im Antrag erwähnte Papier des Wis-
senschaftlichen Dienstes angeschaut. Ich muss sagen,
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ich war schon erstaunt, dass die Linke, obwohl sie sich
Das Freihandelsabkommen zwischen der EU, Kolum- auf diesen Sachstand bezieht, im zentralen Punkt zu ei-
bien und Peru, das beim EU-Lateinamerika-Gipfel in ner vollkommen anderen Schlussfolgerung kommt als
Madrid paraphiert wurde, hat mich in den vergangenen der Wissenschaftliche Dienst. Während es in dem Sach-
(B) Wochen und Monaten stark beschäftigt und ich habe es stand heißt „Nach vorläufiger Einschätzung spricht ei- (D)
auch wiederholt kritisiert. Denn mit diesem Abkommen niges dafür, dass eine Ratifikation durch die Mitglied-
wird die EU nicht dem Anspruch gerecht, den sie selbst staaten nicht erforderlich ist“, lese ich im Antrag der
für Abkommen dieser Art definiert hat. Am offensicht- Linken: „Deshalb ist eine Ratifizierung durch die Parla-
lichsten reißt die EU die Latte bei der Förderung der re- mente der Mitgliedstaaten der EU erforderlich“.
gionalen Integration: Nicht ein Assoziierungsabkommen Ich teile den Wunsch der Linken, dass das Abkommen
mit der gesamten Andengemeinschaft soll bald unter- in diesem Hohen Hause thematisiert wird, und wir als
zeichnet und ratifiziert werden, sondern ein reines Frei- Abgeordnete die Möglichkeit haben, der Ratifikation zu-
handelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Ecuador zustimmen oder sie abzulehnen. Wenn es sich um ein
und Bolivien stiegen aus dem Verhandlungsprozess aus. gemischtes Abkommen handelt, dann muss die Bundes-
Denn sie waren nicht bereit, ihre Märkte so weit zu öff- regierung auch ohne einen solchen Antrag einen Gesetz-
nen, wie es die EU verlangte. Der Integrationsprozess in entwurf für die Ratifizierung vorlegen. Dann wird meine
der Andengemeinschaft geht geschwächt und nicht ge- Fraktion sehr genau prüfen, ob dieses Abkommen wirk-
stärkt aus den Verhandlungen hervor. lich einen Beitrag zu Entwicklung, Menschenrechten,
Die EU hatte zudem postuliert, mit dem Abkommen zu Demokratie und regionaler Integration leistet. Und
mehr Entwicklung und weniger Armut beitragen zu wol- sollte der Bundestag mit dem Argument, dass es sich
len. Die Europäische Kommission gab zwar eine Studie nicht um ein gemischtes Abkommen handelt, nicht zur
über die Nachhaltigkeit des geplanten Abkommens in Ratifizierung aufgefordert werden, dann können wir im-
Auftrag, EU-Andean Trade Sustainability Impact As- mer noch überlegen, ob diese Frage nicht auch auf dem
sessment. Die Ergebnisse der Studie scheinen aber we- Rechtsweg geklärt werden kann.
nig Einfluss in das Abkommen gefunden zu haben.
Auch zum Schutz der Menschenrechte sollte das Ab- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kommen einen Beitrag leisten. Von der Bundesregierung Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
wurde uns wiederholt zugesichert, dass das Abkommen Drucksache 17/1970 an die in der Tagesordnung aufge-
eine „sanktionsbewehrte Menschenrechtsklausel“ ent- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hier ist die Fe-
hält. Wie diese Klausel aber genau formuliert sei und in derführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und
welchem Fall welche Sanktionen greifen würden, das FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt-
konnte uns die Bundesregierung bisher nicht beantwor- schaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünscht
ten. Es ist sogar zu befürchten, dass das Abkommen gar Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
keine neue Menschenrechtsklausel enthält, sondern sich sammenarbeit und Entwicklung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4775
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der tung ist der EU-Aktionsplan „Rechtsdurchsetzung, Poli- (C)
Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen tikgestaltung und Handel im Forstsektor“ (Forest Law
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Enforcement, Governance and Trade – FLEGT). Mit
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den diesem Aktionsplan setzen die EU und die Mitgliedstaa-
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen ten richtigerweise an verschiedenen Stellschrauben an,
der Oppositionsfraktionen. um illegalen Holzeinschlag zu bekämpfen – beispiels-
weise beim Holzhandel, in der Entwicklungszusammen-
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der arbeit und im öffentlichen Auftragswesen.
Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – abstimmen. Ein wichtiger Baustein des FLEGT-Aktionsplans der
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer EU ist eine Verordnung, die den Handel mit Holz regelt.
stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit Die EU-Kommission hat deshalb einen Entwurf für eine
dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen. Verordnung über die Verpflichtungen von Marktteilneh-
mern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: vorgelegt. Der Umweltausschuss des Europäischen Par-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra laments hat erhebliche Änderungswünsche angemeldet.
Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Zurzeit verhandeln die Kommission, Agrarminister-
Abgeordneter und der Fraktion der SPD rat und Parlament über eine Lösung. Es ist nicht auszu-
Illegalen Holzeinschlag durch eine durchgrei- schließen, dass heute in diesem Trilog eine Einigung er-
fende EU-Verordnung wirksam verhindern zielt werden kann. In diesem Fall wäre der Antrag
überflüssig. Aber auch sonst macht es wenig Sinn, mit
– Drucksache 17/1962 – diesem Antrag Forderungen an die Bundesregierung zu
Überweisungsvorschlag: richten. In den schwierigen Verhandlungen zeichnen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sich in den strittigen Punkten Lösungen ab. Die Bundes-
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
regierung arbeitet konstruktiv und kompromissbereit an
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit einer tragfähigen Einigung mit. Hervorzuheben ist, dass
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sich die Bundesregierung bereits seit Jahren engagiert
Entwicklung für eine wirksame Verordnung einsetzt.
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Der strittigste Punkt in den Verhandlungen ist, ob ein
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genom- Vermarktungsverbot für illegal geschlagenes Holz ein-
men. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und geführt werden soll. Ein Vermarktungsverbot wäre nur
(B) Kollegen Alois Gerig, CDU/CSU, Petra Crone, SPD, schwer umzusetzen, da im Einzelfall der illegale Ein- (D)
Dr. Christel Happach-Kasan, FDP, Eva Bulling-Schröter, schlag, also der Rechtsbruch im Drittland, nachgewie-
Die Linke, und Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen. sen werden müsste. Dies ist derzeit in aller Regel nicht
gerichtsfest möglich. Gleichwohl ist die Bundesregie-
Alois Gerig (CDU/CSU): rung bereit, ein Vermarktungsverbot zu akzeptieren. Aus
In vielen Teilen der Welt ist es noch nicht gelungen, meiner Sicht ist das richtig: Von Europa muss das un-
die Zerstörung der Wälder aufzuhalten. Jährlich gehen missverständliche Signal ausgehen, dass der illegale
13 Millionen Hektar Naturwälder verloren – insbeson- Holzeinschlag entschieden bekämpft wird.
dere in den Tropen. Durch Waldzerstörungen verschwin-
den nicht nur wertvolle Lebensräume für Tiere und Richtig ist auch die Zielsetzung der Bundesregierung,
Pflanzen. Auch die für den Klimaschutz notwendige dass aus der angestrebten Verordnung keine übermäßi-
Kohlenstoffspeicherung der Wälder wird erheblich ab- gen Belastungen für die Waldbesitzer und die Holzwirt-
gesenkt. Waldzerstörungen tragen mit rund 20 Prozent schaft in Deutschland resultieren dürfen. So sollte die
zu den globalen Emissionen von Treibhausgasen bei. Rückverfolgbarkeit über die gesamte Handelskette
gewährleistet werden. Besondere Sorgfaltspflichten da-
Die Ursachen für die Waldzerstörungen sind vielfäl- rüber, ob das Holz aus legalem Einschlag stammt, soll-
tig. In Schwellen- und Entwicklungsländern tragen ne- ten aber nur dem Erstinverkehrbringer auferlegt wer-
ben der Gewinnung von Agrar- und Siedlungsflächen den.
auch der illegale Holzeinschlag zur Waldzerstörung er-
heblich bei. Der illegale Holzeinschlag wird wesentlich Ebenso sollte darauf geachtet werden, dass deutsche
durch die – nicht zuletzt bei uns in Europa – bestehende Waldbesitzer, die Holz aus dem eigenen Wald vermark-
Nachfrage nach Holz verursacht. Aufgrund der überra- ten, keine überzogenen Nachweispflichten erfüllen müs-
genden Bedeutung des Waldes für die Biodiversität und sen. Die bestehenden Dokumentationspflichten für
den Klimaschutz muss der Waldzerstörung unbedingt Waldbesitzer sind ausreichend, um die Rückverfolgbar-
Einhalt geboten werden. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist, keit sicherzustellen. Hinzu kommt, dass in Deutschland
den Handel mit illegal geschlagenem Holz zu unterbin- wie in den allermeisten anderen EU-Mitgliedstaaten
den. Holz nachhaltig erzeugt wird und das Risiko des illega-
len Holzeinschlags vernachlässigbar gering ist. Das
Der illegale Holzeinschlag ist ein globales Problem, Problem des illegalen Holzeinschlags ist außerhalb der
das Deutschland alleine nicht lösen kann. Fortschritte Europäischen Union zu finden. Dies darf nicht zu Belas-
sind nur zu erwarten, wenn die Europäische Union ge- tungen für die legale und nachhaltige Waldbewirtschaf-
schlossen handelt. Ein wichtiger Schritt in diese Rich- tung hierzulande führen.
4776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Alois Gerig
(A) Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Vermarktung von Holz und Holzprodukten zu unterbin- (C)
Es ist zu erwarten, dass seine stoffliche und energetische den. Durch die vorgezogenen Bundestagswahlen im
Nutzung in den kommenden Jahren zunehmen wird. Dies Jahr 2005 wurde der parlamentarische Vorgang nicht
ist auch erforderlich, wenn wir unsere ehrgeizigen Kli- zum Abschluss gebracht. 2006 wurde er von Bündnis 90/
maschutzziele erreichen wollen. Gleichzeitig wollen wir Die Grünen wieder aufgegriffen und mit den Stimmen
die biologische Vielfalt im Wald schützen und den Wald der jetzigen Regierungskoalition und – das kann ich
als Erholungsraum für Menschen erhalten. Vor diesem nicht unerwähnt lassen – derer der SPD abgelehnt.
Hintergrund verbietet es sich, die circa 2 Millionen pri- Meine Vorgänger innerhalb der SPD-Bundestagsfrak-
vaten Waldbesitzer mit neuer ungerechtfertigter Büro- tion sahen damals vor allem Schwierigkeiten im Hin-
kratie zu belasten. blick auf die Nachweisführung und Kontrolle des vorge-
schlagenen Zertifizierungsprozesses und fürchteten
Vielmehr muss erreicht werden, dass die notwendige einen gewaltigen bürokratischen Aufwand für eine
EU-Verordnung zu einem Vorteil für die heimische große Zahl von Betrieben der Holzwirtschaft. Auch die
Forstwirtschaft wird. Der Handel mit illegal geschlage- Linke äußerte damals Zweifel an der Wirksamkeit, unter
nem Holz drückt den Holzpreis – dies ist eine erhebliche anderem wegen Lücken bei den vom Gesetz erfassten
Wettbewerbsverzerrung für unsere Forstwirtschaft, die Holzprodukten und wegen der Jahresumsatzgrenze für
ihr Holz durch eine naturnahe und nachhaltige Waldbe- Unternehmen. Auch ich finde es bedauerlich, dass die-
wirtschaftung und damit kostenintensiv erzeugt. Die bal- ses Gesetz in der vorherigen Legislaturperiode nicht in
dige Umsetzung der Verordnung ist nicht nur aus Klima- Kraft treten konnte. Trotz inhaltlicher Schwächen wäre
schutzgründen notwendig. Es geht auch darum, für die Symbolkraft doch eine hohe gewesen und hätte an
einen faireren Wettbewerb auf dem Holzmarkt zu sorgen. der einen oder anderen Stelle Prozesse beschleunigen
können.
Petra Crone (SPD):
Die Notwendigkeit, eine europaweite Regelung einzu-
Die illegale Abholzung ist leider in vielen waldreichen führen, war schon damals unstrittig. Um den Blick wie-
Ländern der Welt immer noch gängige Praxis. Der ge- der nach vorn und auf Europa zu richten: Über 90 Pro-
samte Waldflächenverlust der Erde beläuft sich laut Be- zent aller EU-Bürger fordern ein wirksames Gesetz zur
rechnungen der Welternährungsorganisation, FAO, auf Bekämpfung des Handels mit Holz aus illegalen Quel-
jährlich auf etwa 13 Millionen Hektar; in jeder Minute len, wie eine Umfrage des WWF ergab. Gerade verhan-
verschwinden 14 Hektar Wald unwiederbringlich, über- deln Vertreter von Kommission, Parlament und Rat der
wiegend tropischer Regenwald. 130 000 Quadratkilome- EU ein Holzhandelsgesetz im Rahmen des FLEGT-Pro-
ter entsprechen ungefähr der Größe Griechenlands. zesses. Deutschland könnte durch sein Stimmengewicht
(B) Deutschlands Wälder mit insgesamt 110 000 Quadratki- im EU-Rat zu einem klaren Votum beitragen, um den (D)
lometern wären innerhalb eines Jahres demzufolge kom- Raubbau an den Wäldern entscheidend zu bremsen.
plett weg.
Auch die altbekannten Einwände aus der Holzwirt-
Ein starker Motor für die Zerstörung der Wälder ist schaft sind durch gute Argumente entkräftet: Illegaler
die internationale, auch die europäische Nachfrage Holzeinschlag drückt durch seine Billigangebote den
nach billigem Holz und die Umwandlung von Waldflä- Holzpreis weltweit um schätzungsweise 16 Prozent.
che in Acker- oder Weideland. Illegaler Holzeinschlag Deutsche Waldbesitzer und Unternehmen der Holzbran-
ist ein Problem, das in seinen Ausmaßen nicht verhee- che, die auf Nachhaltigkeit im Anbau und Vertrieb set-
rend genug beschrieben werden kann: vom Verlust der zen, sind dadurch einem unfairen Wettbewerb ausge-
Artenvielfalt bis hin zu den nachteiligen sozialen Folgen setzt. Allein hierzulande kommen fast 10 Prozent der
für die dortige Bevölkerung. Waldrodung ist zudem nach Holzimporte aus illegalen Quellen. Der jährliche wirt-
Berechnungen für rund 20 Prozent der Treibhausemis- schaftliche Schaden durch entgangene Einnahmen für
sionen verantwortlich. Umso unverständlicher ist, dass Staat, Industrie und Waldbesitzer beläuft sich EU-weit
bisher der Import solch illegal geschlagenen Holzes in auf rund 11 Milliarden Euro. Hinzu kommt der Image-
die Europäische Union und damit auch nach Deutsch- schaden für den Rohstoff Holz und den gesamten Forst-
land ungeahndet bleibt. Es ist vorrangig ein Verdienst sektor. Der dann mögliche Nachweis von Legalität wird
der zahlreichen Umweltorganisationen, dass sie unseren ein erheblicher Pluspunkt im Wettbewerb sein.
Blick – als Gesellschaft im Allgemeinen und als Parla-
mentarier im Besonderen – immer wieder in diese Rich- Der illegale Holzeinschlag unter Missachtung natio-
tung lenken. Die globale Waldvernichtung ist kein Pro- naler und internationaler Rechtsvorschriften muss effek-
blem, dass erst jetzt bekannt wurde. Seit Jahrzehnten tiver eingedämmt werden, als es die schwarz-gelbe Ko-
– so Cornelia Behm in einer früheren Rede zum Thema – alition bisher betreibt. Wir bekräftigen mit unserem
wird diskutiert, wie die Zerstörung der Urwälder ge- Antrag unsere Forderung nach einer kombinierten He-
stoppt werden könnte. rangehensweise aus generellem Verbot von Holz und
Holzerzeugnissen aus illegalen Quellen in Ergänzung zu
So wurde von der rot-grünen Regierung ein Gesetz einem effizienten System der Sorgfaltspflichtregelung,
zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes vorgelegt, welches alle Marktteilnehmer nutzen, die Holzprodukte
das das Ziel verfolgte, Urwälder vor illegalem Holzein- als Erste auf den europäischen Markt bringen. Alle wei-
schlag zu schützen. Auch ein 2004 von der CDU/CSU- teren Marktteilnehmer nutzen ein System der lückenlo-
Fraktion im Deutschen Bundestag eingebrachter Antrag sen Rückverfolgung. EU-weit fordern wir ein Mindest-
forderte die Bundesregierung auf, den Besitz und die maß an Sanktionen und Strafmaßnahmen, um gleiche

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4777
Petra Crone
(A) Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer zu sphäre mit CO2 aus der Zerstörung von Wäldern, insbe- (C)
schaffen und um dadurch Eingangsstellen illegalen Hol- sondere durch illegalen Holzeinschlag. Deutschland
zes in den EU-Markt zu vermeiden. Alle Holzprodukte, gehört wie China, die USA und Japan zu den großen Im-
die illegal geschlagenes Holz enthalten könnten, müssen portländern von Holz und Holzprodukten. Die EU hat im
unter den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Jahr 2006 etwa ein Drittel ihres Rohholzes aus Dritt-
staaten importiert. Deshalb haben wir eine besondere
Wir appellieren an die Bundesregierung, unseren Verantwortung, dass von uns genutztes Holz nur aus le-
Vorschlägen zu folgen und damit eine für Umwelt und galer und selbstverständlich auch nachhaltiger Bewirt-
Wirtschaft wirksame Verordnung auf den Weg zu brin- schaftung von Wäldern stammt. Wir sind uns einig, dass
gen. Die Verbraucher können dann sicher sein, dass ihre der Handel mit illegal geschlagenem Holz und insbeson-
Waren aus Holz und das Holz selbst aus legaler Wald- dere dessen Import in die EU unterbunden werden muss.
wirtschaft stammen und nicht zur Zerstörung der letzten Auch die FDP unterstützt ausdrücklich den Kampf ge-
Urwälder beitragen. In diesem Zusammenhang begrüße gen den illegalen Holzeinschlag.
ich auch das „Industry Statement“, unter anderem von
großen deutschen bzw. in Deutschland in der Fläche Bei aller Einigkeit über das Ziel behalten wir uns
vertretenen Firmen. gleichwohl vor, die vorgeschlagenen Maßnahmen da-
raufhin zu überprüfen, ob sie unser gemeinsames Ziel
Es wäre schön, wenn es durch unser aller Zutun ge- wirklich auf den Weg bringen. Ziel des SPD-Antrages ist
länge, ein höchst wirksames Gesetz gegen den Handel es, durch Errichtung von Handelshemmnissen Wälder in
mit Holz illegalen Ursprungs auf die Beine zu stellen. Ländern mit schlechter Regierungsführung zu schützen.
Damit schlagen wir gemeinsam ein neues Kapitel für Ob dies eine wirksame Strategie ist, ist völlig offen.
den Schutz der Regenwälder auf. Weitere werden folgen
müssen. Vor Jahren wurde die Zertifizierung von Holz als All-
heilmittel für den Schutz bedrohter Wälder gepriesen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir mussten leider feststellen, dass die Zertifizierung
der Waldbewirtschaftung in Ländern ohne gute Regie-
In den letzten zehn Jahren gingen nach Angaben der
rungspraxis, ohne starke Regierungen nicht den erhoff-
FAO jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wälder
ten Erfolg gebracht hat. Eine zuverlässige Zertifizierung
verloren. Das ist mehr als die Waldfläche in Deutsch-
ist mit zeit- und kostenintensiven Kontrollen durch ver-
land, die 11,1 Millionen Hektar umfasst. Die größten
trauenswürdige Stellen vor Ort verbunden. Eine Reihe
Verluste treten dabei in Afrika, Südostasien, Südame-
von Ländern, beispielsweise China, ist nach wie vor be-
rika, aber auch in Australien auf. Satellitenbilder zeigen
reit, nichtzertifiziertes Holz oder solches mit fragwürdi-
die Verluste deutlich, die Wälder im Kongobecken sind
gen Dokumenten in riesigen Mengen zu verarbeiten. Vor
(B) löchrig geworden, in Brasilien sind die Verluste an Wald (D)
diesem globalen Hintergrund stellt sich die Frage, ob
im Amazonasbecken entlang der Flüsse erheblich. An
realitätsferne Regelungen in der EU den Schutz gefähr-
diesen Verlusten hat der illegale Holzeinschlag einen er-
deter Wälder wirklich sicherstellen können.
heblichen Anteil. Die Zahlen aus dem „Global Forest
Resources Assessment 2010“ der FAO machen zudem Der Kampf gegen den illegalen Holzhandel darf die
deutlich: Außerhalb Europas wird nur ein Bruchteil der nationalen und europäischen Kleinwaldbesitzer nicht
Wälder nach den Kriterien der Nachhaltigkeit bewirt- mit unnötigen Bürokratiekosten belasten. Bei der Defini-
schaftet. tion der Sorgfaltspflichten für Erstinverkehrbringer, bei
der Rückverfolgbarkeit von Holz und Holzerzeugnissen
Wir brauchen die Urwälder für die Menschen vor
dürfen keine unrealistischen, bürokratischen Türme auf-
Ort, die Sicherung ihres Lebensunterhalts, für den
gebaut werden.
Schutz des Klimas, den Erhalt der Wasserreserven und
insbesondere den Erhalt der Artenvielfalt. Artenvielfalt Die Vereinigten Staaten von Amerika haben im Jahr
sichert biologische Informationen. Deshalb sind die Ur- 2008 den sogenannten US Lacey Act auf Holzprodukte
wälder die Schatzkammern der Erde. Mit dem Verlust ausgedehnt. Damit sollen illegale Holzimporte verhin-
der artenreichen Urwälder sinkt nicht nur die Fähigkeit, dert werden. Bisher wurde ein einziger Fall, der Import
Kohlenstoffdioxid zu binden, auch die einzigartige Bio- illegalen Rosenholzes aus Madagaskar, durch Um-
diversität wird zerstört. weltaktivisten aufgedeckt und vor Gericht gebracht. We-
gen der Verletzung der Sorgfaltspflicht des Importeurs
Neben dem illegalen Holzeinschlag sind die Wälder
wäre dieser Import auch ohne Verbot des illegalen Holz-
auch bedroht durch die Schaffung von Flächen für den
handels bei uns strafbar. Es bleibt daher abzuwarten, ob
Anbau von Soja- sowie Palmölplantagen. Deshalb ist es
das Verbot des Imports von illegalem Holz einen nach-
ein wichtiges Anliegen, über eine Nachhaltigkeitszertifi-
haltigen Effekt haben wird.
zierung für Biomasse zu verhindern, dass die Nachfrage
in Europa zusätzlichen Anreiz zur Vernichtung von Ur- Der im Jahr 2005 von der EU beschlossene FLEGT-
wald schafft. Wir wollen, dass die energetische Nutzung Aktionsplan und die Verhandlungen über bilaterale Ver-
von Biomasse nicht in Misskredit gerät; denn dies ist ein träge mit gefährdeten Staaten, die sogenannten freiwilli-
wichtiges Instrument des Klimaschutzes. Wir sind uns gen Partnerschaftsabkommen oder Voluntary Partner-
alle einig, dass der weltweite Schutz der Wälder ein ship Agreements, VPA, könnten im Gesamtpaket mit
überragendes gemeinsames Ziel ist. Laut IPCC, Intergo- einer praktikablen Handelsverordnung zu einer wesent-
vernmental Panel on Climate Change, stammen bis zu lichen Verbesserung im EU-Holzhandel mit Drittstaaten
30 Prozent der zusätzlichen Belastungen der Atmo- führen, da sie neben dem Umweltschutz auch soziale Be-

Zu Protokoll gegebene Reden


4778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) lange umfassen und vor Ort ein nachhaltiges Bewusst- solchen Forderung jedoch nicht weiter verschließen. (C)
sein stärken. Falls dem so sein sollte, dann zeigt dies, wie wichtig der
Druck von Umweltschutzgruppen und Opposition in den
Für die Bekämpfung folgender Ursachen, der Zerstö- vergangenen Wochen gewesen ist. Die Bundesregierung
rung der Urwälder, des illegalen Raubbaus und der be- scheint sich zu bewegen, auch wenn die FDP-Fraktion
drückenden Armut der Bevölkerung in den betroffenen von der Notwendigkeit eines Verbots von Raubbauholz
Gebieten, müssen wir eine jeweils eigene Strategie fin- noch nicht überzeugt ist. Die liberale Vertreterin machte
den. Die Waldnutzung in Entwicklungsländern muss we- deutlich, dass sie davon nichts halte.
sentlich der heimischen Bevölkerung zugutekommen.
Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde zu Hoffen wir also, dass die Bundesregierung nun mit an
helfen, ihre Wälder für die Bekämpfung der Armut zu Bord ist und eine Light-Verordnung, wie sie aktuell ohne
nutzen und gleichzeitig ein Bewusstsein für die Bedeu- die besagten Verbesserungsvorschläge existiert, verhin-
tung des Schutzes ihrer Wälder und deren nachhaltiger dert werden kann. Dazu sind die vielen Lücken im Ver-
Nutzung zu entwickeln. Dafür ist eine Stärkung des Re- ordnungsentwurf zu schließen. Ich erwarte von der Bun-
gierungshandelns erforderlich. Statt weiterer internatio- desregierung, dass sie sich in den Verhandlungen
naler Verordnungen ist Hilfe zur Selbsthilfe die wich- zwischen dem EU-Parlament, dem Ministerrat und der
tigste Aufgabe internationaler Entwicklungshilfepolitik, EU-Kommission engagiert für eine wirksame Verord-
aber auch unserer Klimapolitik. nung einsetzen wird. Die Fraktion Die Linke unterstützt
die Forderungen der Umweltverbände nach effizienter
Vor diesem Hintergrund unterstützen wir die vielfälti- Kontrolle, lückenloser Verfolgbarkeit bei Verstößen,
gen Bemühungen der Bundesregierung und halten den Mindestmaßen von Sanktionen und Strafen, keiner Aus-
vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion, obwohl wir mit nahme von Recyclingprodukten und weiteren Punkten.
den Zielen einverstanden sind, für nicht zielführend.
Deshalb lehnen wir den Antrag ab. Dabei ist die Debatte für mich nicht neu. Als umwelt-
politische Sprecherin meiner Fraktion Die Linke im
Bundestag bin ich bereits seit vielen Jahren mit diesem
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Thema vertraut. Ich weiß, wie langsam die Mühlen in
Gestern fand ein parlamentarischer Abend der Um- der EU-Umweltgesetzgebung mahlen. Doch dass wir bei
weltschutzorganisation WWF statt. In ihren Kurzstate- einer Holzverordnung inhaltlich und qualitativ den USA
ments machten die Vertreterinnen und Vertreter der Bun- – die nun leider wirklich nicht als die größten Umwelt-
destagsfraktionen klar, dass ihnen der Schutz der letzten schützer bekannt sind – hinterherhinken, das verwundert
noch verbleibenden Urwälder dieser Erde am Herzen mich schon sehr. Seit 2008 regeln die USA im Lacey Act
(B) liegt. Daher solle sich wirksam gegen den Handel mit den Umgang mit illegal geschlagenem Holz. (D)
Tropenholz aus Raubbau eingesetzt werden. Die Abhol-
zung von Regenwald bedeutet die unwiderrufliche Zer- Doch in Europa – und auch in Deutschland – gibt es
störung von Lebensräumen für Orang-Utans, Leoparden noch viele Vorbehalte gegen deutliche Verbesserungen
oder Anakondas. Dem Raubbau an der Natur gilt es, im Verordnungsentwurf. Dabei ist doch gerade für die
Einhalt zu gebieten. Zumindest für den europäischen einheimische Forst- und Holzwirtschaft ein wirksames
Markt können wir das versuchen, indem wir eine wirk- Vorgehen gegen Raubbauholz neben den ökologischen
lich wirksame Verordnung über die Verpflichtung von Gründen auch vor allem aus ökonomischer Hinsicht be-
Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Ver- deutsam. Im „Industry Statement“ des WWF haben sich
kehr bringen, auf den Weg bringen. über 60 Wirtschaftsvertreter für eine wirksame Verord-
nung ausgesprochen.
Genau das wird im vorliegenden Antrag der SPD-
Fraktion gefordert. Ich freue mich darüber, dass nun Der Antrag enthält die zentralen Forderungen der
auch die SPD in diesem Bereich aktiv wird. Noch in der Umweltverbände. Dies ist ein Schritt in die richtige
letzten Legislatur hat sie sich gegen ein wirksames Richtung, ein Baustein, um die massive Abholzung des
Urwaldschutzgesetz ausgesprochen. Zumindest in Regenwaldes zu verhindern und den damit verbundenen
Deutschland hätten wir uns schon vier Jahre lang aktiv CO2-Ausstoß zu senken.
gegen den Raubbau von Holz zur Wehr setzen können,
wenn die SPD gewollt hätte. Doch leider ist auch im
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Jahr 2010 alles andere als klar, ob es eine wirksame Ver-
ordnung geben wird. Holzindustrie und Teile der Forst- Wir Bündnisgrüne begrüßen und unterstützen diesen
wirtschaft, Bundesregierung und andere politische SPD-Antrag zur Bekämpfung des illegalen Holzein-
Kräfte wollten bisher wichtige Verbesserungsvorschläge schlags und Holzhandels. Ich denke, diesen Antrag hät-
des Europäischen Parlaments und von Umweltorganisa- ten wir gut und gerne gemeinsam einbringen können.
tionen nicht annehmen und somit dem illegalen Holzein- Aber dafür war die Zeit offenbar noch nicht reif. Immer-
schlag einen Riegel vorschieben. hin haben wir es aber geschafft, einen gemeinsamen
Bundespräsidentenkandidaten zu benennen. Ich hoffe,
Auf der gestrigen Veranstaltung des WWF weckte der dass durch das positive Echo darauf nun auch bei der
Vertreter des Bundeslandwirtschaftsministeriums jedoch SPD die Einsicht greift, dass man durch gemeinsame
die Hoffnung, dass die Bundesregierung nun zu sinnvol- Anträge seine Anliegen aufwertet und die Erwartung,
len Zugeständnissen bereit ist. Sie hält zwar das Verbot sich bei fehlendem Dissens durch eigenständige Anträge
von illegalem Holz für nicht umsetzbar, wird sich einer besser profilieren zu können, ein Trugschluss ist.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4779
Cornelia Behm
(A) Insbesondere begrüße ich das klare Bekenntnis für durch eine Politik, die unter Schwarz-Rot begonnen hat (C)
ein generelles Verbot von Holz und Holzerzeugnissen – ich erinnere nur an das Trauerspiel mit der Boden-
aus illegalen Quellen auf dem europäischen Markt. schutzrahmenrichtlinie – und jetzt unter Schwarz-Gelb
Denn für dieses Verbot haben wir uns in der letzten Le- in verschärfter Form fortgesetzt wird. Es wird Zeit, dass
gislaturperiode sehr stark eingesetzt – und sind dabei Deutschland mit dieser Bremserrolle Schluss macht und
immer wieder auf den knallharten Widerstand der gro- bei der FLEGT-Sorgfaltspflichten-Verordnung wieder in
ßen Koalition aus Union und SPD gestoßen. die umweltpolitische Offensive kommt.
Ich kann es den Kollegen von der SPD nicht ersparen,
sie darauf hinzuweisen, dass die schwarz-rote Bundesre- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gierung, und damit auch die SPD, bei diesem Thema Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
eine ziemlich unrühmliche Rolle gespielt hat. Zunächst Drucksache 17/1962 an die in der Tagesordnung aufge-
lehnte sie unseren Gesetzentwurf zur Einführung eines führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein-
nationalen Importverbots für illegales Holz mit Verweis verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
auf die EU-Hoheit für die Außenhandelspolitik ab. Dann Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
weigerte sie sich standhaft, von der EU-Kommission ei-
nen Vorschlag zur Einführung eines Importverbotes für Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
illegales Holz zu fordern, bevor nicht die Kommission richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
ihren Verordnungsentwurf vorgelegt haben würde. Das dem Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht,
haben wir in mehreren Antworten auf Kleine Anfragen Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll, weiterer Ab-
von der alten Regierung schriftlich mitgeteilt bekom- geordneter und der Fraktion DIE LINKE
men. Und zu guter Letzt lehnte die Bundestagsmehrheit Eurozone reformieren – Staatsbankrotte ver-
aus Union und SPD unseren Antrag 16/8052 ab, mit dem hindern
wir erreichen wollten, dass sich die Bundesregierung in
der EU für ein EU-weites Importverbot für illegales – Drucksachen 17/1058, 17/1602 –
Holz einsetzt. Der Kollege Gerhard Botz sagte damals
Berichterstattung:
zur Begründung der Ablehnung: „Partnerschaftsab-
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
kommen sind grundsätzlich der bessere Weg.“ Die Frus-
Manfred Zöllmer
tration über diese jahrelang unverrückbare Linie der
Dr. Axel Troost
SPD haben wir Grüne noch keineswegs vergessen.
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
Insofern begrüße ich die Kehrtwende der SPD in die- Peter Aumer, CDU/CSU, Manfred Zöllmer, SPD, Frank
(B) ser Frage ausdrücklich. Aber ich frage mich, warum die Schäffler, FDP, Alexander Ulrich, Die Linke, und Viola (D)
SPD erst in die Opposition wechseln musste, um auch von Cramon-Taubadel, Bündnis 90/Die Grünen.
bei dieser Frage zur Vernunft zu kommen. Es wäre doch
sehr viel besser gewesen, diese Position bereits konse-
quent zu vertreten, als sie noch Regierungspartei war. Peter Aumer (CSU):
Dann wären wir heute vielleicht schon ein Stück weiter. Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke wird nicht er-
reicht – wie in der Überschrift genannt –, die Euro-Zone
Was den Verlauf der Beratungen zum Entwurf für eine zu reformieren und Staatsbankrotte zu verhindern, son-
FLEGT-Sorgfaltspflichten-Verordnung der EU betrifft, dern die Antragsteller wollen ein anderes Europa, weg
so waren wir Bündnisgrüne froh darüber, dass das EU- von der sozialen Marktwirtschaft, dem Wirtschaftsmo-
Parlament den unzureichenden Verordnungsentwurf der dell, das Deutschland stark gemacht hat. Scheinbar wol-
Kommission in der 1. Lesung im April letzten Jahres er- len Sie mit Ihrem Antrag die Kräfte des Marktes außer
heblich verschärft und sich für ein vollwertiges Import- Kraft setzen. Dies vermag keiner in unserem Land, und
verbot für illegales Holz ausgesprochen hat. Umso ent- das wird auch die Starrheit der Linken nicht erreichen.
täuschter waren wir, dass der Ministerrat dann im Zudem machen Sie es sich mit Ihren Erklärungen über
Dezember nahezu sämtliche dieser Änderungen abge- die Ursachen der Krise doch etwas einfach. Schuld sind
lehnt hat. Wir hoffen nun, dass das Europäische Parla- die EU, der IWF, da Sie von Griechenland eine solide
ment seine Vorschläge in der 2. Lesung bestätigt. Das Haushaltspolitik einfordern, Deutschland, weil wir an-
Votum des Umweltausschusses ist hier ermutigend. Und geblich Steuer- und Lohndumping betreiben.
wir erwarten, dass diese Änderungen dann endlich auch
vom Ministerrat bestätigt werden. Doch so wünschenswert es wäre, Schuldige zu finden
und eine Situation wie die heutige auf einfache Grund-
Es wäre gut, wenn dies auch mit Zustimmung strukturen herunterzubrechen, so zeigen doch aktuelle
Deutschlands erfolgen würde. Allerdings hat die Bun- Studien, dass Sie mit Ihren Thesen falsch liegen. Meine
desregierung im Agrarausschuss des Bundestages be- sehr geehrten Damen und Herren Antragssteller, werfen
reits deutlich gemacht, dass Deutschland auch hier wie- Sie einen Blick in die Stellungnahme des Rates zum ak-
der auf der umweltpolitischen Bremse stehen wird. Die tualisierten Stabilitätsprogramm Griechenlands für
Bundesregierung lehnt das im Dezember von Großbri- 2010 bis 2013: Sie zeigt, wie falsch Sie in Ihrer Ein-
tannien, den Niederlanden, Spanien, Dänemark und schätzung liegen. Denn darin ist beispielsweise ver-
Belgien geforderte Importverbot für illegales Holz nach merkt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands
wie vor ab. Deutschland ist im Begriff, seinen Ruf als auch im nichtpreislichen Bereich verbessert werden
umweltpolitischer Vorreiter gründlich zu verspielen, muss, nämlich durch Investitionen, Reformen der öffent-
4780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Peter Aumer (CSU)


(A) lichen Verwaltung, Verbesserung der Qualität der Bil- unseres Landes und der Stärke des Euro. Das ist unser (C)
dung und Reformen bei den Renten. Die Griechen selbst Ziel, und wir sind auf dem besten Weg.
widersprechen im Übrigen Ihrem Antrag, was ihr eige-
nes Land betrifft. Sie haben Reformen beschlossen und Manfred Zöllmer (SPD):
werden diese auch durchsetzen, weil sie spüren, dass
Vor fast genau einem Monat, am 9. Mai, haben die
dies der Weg einer stabilen europäischen Gemeinschaft
EU, der Internationale Währungsfonds, IWF, und die
und eines stabilen Euros ist.
Europäische Zentralbank, EZB, ein Maßnahmenbündel
Zudem verlangt Ihr Antrag, dass Deutschland seine mit Garantien in Höhe von insgesamt 750 Milliarden
internationale Wettbewerbsfähigkeit zugunsten eines Euro geschnürt, das der Stärkung und dem Schutz des
Ausgleichs innerhalb der Europäischen Union senken Euro dienen soll. Die Finanzminister der Euro-Länder
solle. Deutschland konkurriert nicht primär mit wirt- einigten sich diesen Montag in Luxemburg endgültig auf
schaftlich schwächeren Mitgliedstaaten, sondern doch dieses Paket. Es wird eine Zweckgesellschaft gegründet,
vor allem mit den Global Playern dieser Welt. Damit die im Notfall Kredite am Kapitalmarkt für Partnerstaa-
würde die von Ihnen beabsichtigte Maßnahme nicht nur ten aufnehmen soll. Anders als beim Kreditpaket für
den Wirtschaftsstandort Deutschlands schwächen, son- Griechenland steuern die Euro-Länder nicht direkt Geld
dern auch für die anderen Mitgliedstaaten nicht den er- bei, sondern bürgen für die Kredite in Höhe ihrer jeweils
hofften wirtschaftlichen Vorteil herbeiführen. festgeschriebenen Teilbeträge. Der Anteil Deutschlands
an den Kreditbürgschaften wird etwa 148 Milliarden
In Deutschland geschieht die Lohnfindung auf
Euro betragen.
Grundlage eines bewährten Instrumentariums. Die Ta-
rifautonomie hat sich bewährt, stellt einen Stabilitätsan- Die Euro-Währung steht seit Wochen unter starkem
ker dar und trägt zu sozialer Sicherheit und Ausgewo- Druck, und ein Kurs von unter 1,20 zum Dollar ist zum
genheit in unserem Land bei. Diese infrage zu stellen, ist Beginn der Woche neuester Tiefstand seit vier Jahren. Es
äußerst gefährlich. Eine andere Lohnfindung als die ist aber weniger der Kurs an sich, der einen besorgt
derzeit praktizierte hätte starke Ungleichgewichte auf macht; denn wir erinnern uns alle auch noch an Kurse
dem Arbeitsmarkt zur Folge und auch einen Verlust der von 88 Cent im Verhältnis zum Dollar. Es ist vielmehr
Wettbewerbsfähigkeit, der auch nicht durch eine Steige- der schnelle Verfall unserer Gemeinschaftswährung, der
rung der Binnennachfrage kompensiert werden könnte. problematisch ist. Seit November hat der Euro über
Ihr Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren 20 Prozent verloren. Für diese krisenhafte Situation gibt
der Linken hätte zur Folge, dass die Krise in Griechen- es mehrere Gründe.
land verschärft werden würde. Damit verspielen Sie Der wichtigste Grund ist sicherlich die erhebliche
(B) auch die Chance, die in jeder Krise steckt, nämlich einen Verschuldung der Staaten, wobei insbesondere die südli- (D)
zukunftsfähigen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu ge- chen Länder wie Griechenland, Italien, Spanien oder
stalten, der uns vor einer Situation wie der heutigen in Portugal am stärksten von einer Überschuldung ihrer
Zukunft bewahren soll. Staatshaushalte betroffen sind. Aber auch Länder wie
Es ist wichtig und richtig, sich in Zukunft auf den Sta- Ungarn gerieten zuletzt in das Fadenkreuz möglicher
bilitäts- und Wachstumspakt zu konzentrieren oder, wie Totalverschuldung.
die Wirtschaftsweise di Mauro es formuliert, ihm Doch auch in den anderen EU-Ländern besteht wenig
„Zähne zu geben". Er muss dort, wo es nötig ist, ver- Grund zur Freude. Nach aktuellen Schätzungen der EU-
schärft werden. In Zukunft müssen Tricksereien in der Kommission steigen die Staatsdefizite in den 27 EU-
Haushaltsstatistik unterbunden werden, Kontrollen ver- Staaten 2010 erheblich. Lag das Staatsdefizit 2007 im
stärkt und wirkungsvolle Instrumente der Prävention Durchschnitt des Euro-Raums bei nur 0,7 Prozent des
und Sanktion eingerichtet werden. Die Arbeitsgruppe Bruttoinlandsprodukts, BIP, und damit weit unter dem
des EU-Ratspräsidenten Van Rompuy ist dabei, Ansätze Maastrichter Referenzwert von drei Prozent, so erwartet
zu entwickeln, wie wir den Stabilitäts- und Wachstums- die Europäische Kommission für 2010 im Euro-Raum
pakt weiterentwickeln können. Wir müssen in Europa ein Staatsdefizit im Schnitt von 7,2 Prozent des BIP. Die
wieder zurückkehren zu mehr Solidität. Das ist unsere Euro-Staaten Irland, Griechenland und Spanien wiesen
Aufgabe in Europa und für Europa. Dazu gehören solide 2009 sogar ein zweistelliges Defizit auf. Die durch-
Finanzen, und dazu gehört ein solides Wirtschaftssys- schnittliche Verschuldung in der Euro-Zone liegt anstatt
tem. bei den geforderten 60 bei 84 Prozent.
Der eingeschlagene Weg der Bundesregierung ist der Verstärkt wird die finanzielle Schieflage dadurch,
einzig richtige, um die finanzielle Stabilität in der Euro- dass es in der Euro-Zone derzeit nur ein geringes wirt-
Zone als Ganzes zu gewährleisten und den nachhaltigen schaftliches Wachstum gibt. Damit wird es sehr viel
Erfolg des Euro zu sichern. Der Antrag der Linken er- schwerer, aus den Schulden „herauszuwachsen“, und es
füllt diese Ziele in keinster Weise. Mit der Zustimmung erscheint in vielen Ländern unklar, wie die Schulden ab-
zu den Hilfen für Griechenland und den daran geknüpf- gebaut werden können.
ten Auflagen hat der Deutsche Bundestag Entscheidun-
gen von allergrößter Tragweite getroffen. Die Be- Wir müssen insgesamt auch eine mangelnde Haus-
schlüsse sind wegweisend, für die Zukunft Europas und haltsdisziplin konstatieren. Die Maastricht-Kriterien
Deutschlands. Wir handelten und handeln im Interesse sind sehr oft nicht eingehalten worden. Durch so ein
der Bürger, zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität Verhalten verliert man auf Dauer aber das notwendige

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4781
Manfred Zöllmer
(A) Vertrauen in die Solidität der Finanz- und Wirtschafts- Frank Schäffler (FDP): (C)
politik der Länder in der Euro-Zone. Letztlich sinkt da- Was die Linke heute hier vorlegt, ist eine Pervertie-
mit die Kreditwürdigkeit, wie wir es im Fall Griechen- rung unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Für eine
land leider in den vergangenen Monaten erleben Partei, die den Sozialismus in Deutschland einführen
mussten. will, ist dies nur konsequent. Wer die marktwirtschaftli-
che Ordnung jedoch stärken will, der darf Risiko und
Angesichts dieser Entwicklung ist es richtig, wie es Verantwortung nicht außer Kraft setzen, der muss dafür
im Antrag der Linken heißt, die Euro-Zone zu reformie- sorgen, dass eine Sozialisierung von Verlusten nicht
ren und Staatsbankrotte zu verhindern. Die vorgeschla- stattfindet. Wer – wie die Linken – die Monetarisierung
genen Maßnahmen sind dazu aber nicht tauglich. Sie der Staatsschulden durch die EZB fordert und einer
fordern ein Sammelsurium problematischer Maßnah- Euro-Anleihe das Wort redet, macht jedoch genau dies.
men, die häufig kontraproduktiv wirken. Sie schlagen Er nimmt den Mitgliedstaaten des Euro-Raumes jegli-
sogar die Aussetzung des Europa-Vertrages vor, wenn chen Anreiz, selbst für Haushaltsdisziplin zu sorgen.
Sie eine aktive Umgehung der Bail-out-Klausel fordern. Das führt nicht nur bei den Mitgliedstaaten zu einer
Da befindet sich die Linkspartei wieder außerhalb der neuen Schuldenlawine, die ohnehin in der Vergangen-
Realität. heit über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern es un-
tergräbt auch bei den noch stabilen Ländern den Anreiz
Die Maßnahmen, die nun auf EU-Ebene vereinbart
zur Haushaltskonsolidierung.
wurden, sind der richtige Weg:Die Euro-Staaten haben
sich verpflichtet, ihre massiv gestiegenen Defizite be- In der Folge würde dies zu einer Politik des billigen
schleunigt abzubauen, um die Verschuldung zu stoppen Geldes und damit zu einer galoppierenden Inflation füh-
und umzukehren. Griechenland, Spanien und Portugal ren. Inflation ist die Enteignung von Sparvermögen. Sie
haben mehr als ehrgeizige Sparpläne vorgelegt und ver- wirkt wie eine Steuer. Diese „Inflationssteuer“ zerstört
abschiedet. das Vermögen von Millionen von Bürgerinnen und Bür-
gern in diesem Land, die ihr Leben lang hart gearbeitet
Auch der 750-Milliarden-Schutzschirm ist notwendig, haben und einen Teil ihres Lohnes für die eigene Alters-
weil die Spekulationen damit eingedämmt werden kön- vorsorge zur Seite gelegt haben. Aber nicht nur dies: In-
nen. Damit sind die Mittel aus dem Notfallfonds ein ei- flation, die unweigerlich mit der Umsetzung der Vor-
genständiger Krisenmechanismus. Dies ist das richtige schläge der Linken eintreten würde, verändert das Spar-
Signal an die Finanzmärkte, dass sich Spekulationen ge- und Investitionsverhalten von Bürgern und Unterneh-
gen notleidende Länder in der Eurozone nicht lohnen. men. Wer heute nicht weiß, welche Kaufkraft das Spar-
vermögen in 20, 30 oder vielleicht 40 Jahren hat, wird
Wir bräuchten jetzt weitere Maßnahmen zur Stabili- gegebenenfals gar nicht mehr sparen. Diese Politik führt (D)
(B)
sierung des Euro: Die neue Zweckgesellschaft muss ge- zu einer wachsenden Abhängigkeit der Bürger vom
gründet werden und ihre Arbeit schnellstmöglich auf- Staat. Das ist das Gegenteil dessen, was wir wollen. Wir
nehmen. Frühzeitige Sanktionen gegen Schuldensünder wollen die Eigenverantwortung fördern und die Abhän-
und eine stärkere europäische Kontrolle über die Haus- gigkeit der Bürger vom Staat verhindern.
haltspolitik der Mitgliedstaaten werden den Euro weiter
stabilisieren. Es ist richtig, wenn die Finanzminister Unser Menschenbild ist das von Ludwig Erhard, der
sich für einen direkten Zugang der Kommission zu natio- gesagt hat: „Das mir vorschwebende Ideal beruht auf
nalen Haushaltsstatistiken ausgesprochen haben. Damit der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich
werden Tricksereien wie im Falle Griechenlands zukünf- aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Le-
tig nicht mehr möglich sein. bens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwort-
lich sein. Sorge Du Staat dafür, dass ich dazu in der Lage
Die Beratungen der letzten Monate haben deutlich bin.“
gemacht, dass die Regierung in dieser Euro-Krise weder
Linie noch Richtung hatte, keinen Mut zeigte und vor al- Die Konsequenz aus der Krise des Euro muss das ge-
lem auf europäischer Ebene versagt hat. Die Regierung naue Gegenteil des vorliegenden Antrags sein. Wir müs-
hat versucht, notwendige Entscheidungen zu verschlep- sen die Politik des billigen Geldes beenden. Das gilt für
pen, und war in ihrer Meinung wankelmütig. Allein die die Monetarisierung der Staatsschulden durch die EZB
Äußerungen der Bundeskanzlerin zu möglichen Hilfen auf der einen Seite und für die Verschuldungspolitik der
an Griechenland oder zur Frage der Einführung einer Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Das ist die Vo-
Transaktionsteuer belegen dies leider allzu deutlich. raussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Dyna-
mik.
Sowohl Merkel als auch Bundesminister Schäuble
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt war bislang ein
wirken fast wie Getriebene auf der internationalen und
zahnloser Tiger, der zur kollektiven Verantwortungslo-
der europäischen Ebene. Das für sich genommen wäre
sigkeit geführt hat. Der Pakt braucht Zähne. Aber nicht
vielleicht nur ein politisches Desaster. Aber wäre die
nur! Recht muss nicht nur eingehalten werden, sondern
Kanzlerin früher bereit gewesen, zu handeln, wären die
es muss auch gelebt werden. Es braucht ein Wertegerüst,
Kosten der Hilfsmaßnahmen sehr viel geringer gewesen.
damit Normen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern
Die Bundesregierung muss jetzt endlich auch ihrem Ver-
auch gelebt werden.
sprechen gerecht werden, gegen Spekulanten vorzuge-
hen und dies auch international durchzusetzen. Wir Doch das wollen die Linken in diesem Hause nicht.
brauchen endlich Taten! Sie sind Gegner eines stabilen Euro. Sie wollen das

Zu Protokoll gegebene Reden


4782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Frank Schäffler
(A) Chaos. Sie nehmen billigend in Kauf, dass kleine Sparer, Die Kernforderungen aus dem Antrag – ein Ende des (C)
Rentner, aber auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfän- Lohn- und Steuerdumpings – sind jedoch nicht erfüllt.
ger besonders unter einer Inflation leiden werden. Hohe Ohne diese Kernforderungen wird es immer wieder zu
Inflationsraten führen dazu, dass gerade die Preise für neuen Schuldenkrisen kommen. Eine zentrale Forde-
Güter des täglichen Bedarfs explodieren. Das ver- rung, um Krisen künftig zu verhindern, ist eine ver-
schweigen Sie. stärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf der eu-
ropäischen Ebene. Dabei geht es explizit nicht darum,
Die Gegner der Marktwirtschaft haben immer auf In- die EU durch eine Verschärfung des Stabilitäts- und
flation gesetzt, um ihre Ziele durchzusetzen. Lenin wird Wachstumspaktes in die nächste Rezession zu sparen,
schon von Walter Eucken mit dem Satz zitiert: „Wer die wie die deutsche Bundesregierung es dieser Tage fordert
bürgerliche Gesellschaft zerstören will, muss ihr Geld- und auch gleich vormacht. Die Bevölkerung soll nach
wesen verwüsten.“ Sie wollen die menschenverachtende dem Willen der Bundesregierung die Krise bezahlen. Es
Politik Lenins fortsetzen, aber wir werden dies verhin- geht vielmehr um die Beseitigung der außenwirtschaftli-
dern. chen Ungleichgewichte und die besondere deutsche Ver-
antwortung hierfür. Denn das Ausland kauft wegen der
Alexander Ulrich (DIE LINKE): deutschen Billiglöhne immer mehr Waren und Dienst-
Der Antrag, um den es hier geht, sollte eigentlich ge- leistungen bei uns als umgekehrt. Das treibt sie in die
meinsam mit dem „Euro-Schutzschirm“ abgestimmt Schuldenkrise.
werden. Die Koalition hat aber kalte Füße bekommen, Die Bundesregierung ist international isoliert. Nicht
ihn abgesetzt und ihm nun einen Randplatz eingeräumt – nur die Linke kritisiert das deutsche Lohndumping, auch
es gibt keine öffentliche Diskussion. Dies ist bedauerlich der französische und der amerikanische Finanzminister,
und unverständlich. Vielleicht zeigt es aber auch, dass der Vorsitzende der Euro-Gruppe und verschiedene
die anderen Fraktionen sich nur ungern an ihre Beiträge Wirtschaftsnobelpreisträger. Der deutsche Wirtschafts-
aus der ersten Lesung erinnern möchten. Nach dem minister entgegnete, man dürfe nicht immer den Klas-
Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von ges- senbesten kritisieren. Mit anderen Worten: Die Regie-
tern“: So fragte die FDP noch spöttisch, ob die Linke al- rung will Hartz IV, Leiharbeit, Befristungen und
les besser wisse. Die SPD warf uns Einfältigkeit vor, die Hungerlöhne in ganz Europa. Darin sind wir Klassen-
CDU/CSU bezichtigte uns naiver Utopien und fragte un- bester, ohne Zweifel. Aber was gut für Siemens ist, ist
gläubig, ob wir denn etwa das Beistandsverbot aufheben nicht gut für Deutschland. Beim Wachstum sollten wir
wollten. doch lieber bei unseren Nachbarn abschreiben. Die
Euro-Zone wuchs seit 1999 im Jahresdurchschnitt um
Das war am 25. März dieses Jahres. Nun, gerade ein-
(B) mal elf Wochen später, kann man klar sagen: Wir waren 1,4 Prozent, Frankreich um 1,5 Prozent, und Deutsch- (D)
land um 0,8 Prozent. Die deutschen Billiglöhne waren
weder naiv noch einfältig – wir wussten es besser. Einige
daher nicht nur schlecht für Europa, sondern schlecht
unserer Forderungen wurden mittlerweile umgesetzt.
für Deutschland.
Das Beistandsverbot ist durch das Euro-Rettungspaket
faktisch aufgehoben. Unsere Forderung, dass die EZB Hätte Herr Brüderle im Mathematikunterricht besser
Staatsanleihen erwerben soll, um die Macht der Speku- aufgepasst, dann wüsste er, dass nicht alle gleichzeitig
lanten und Rating-Agenturen zu brechen – übrigens ein Vize-Exportweltmeister sein können. Wohin wollen sie
wesentlicher Grund für die SPD, unseren Antrag abzu- denn exportieren, wenn die ganze EU so wird wie
lehnen – ist fast erfüllt: Die EZB hat eigenständig ent- Deutschland? Vielleicht auf den Mond? Da leben keine
schieden, Staatsanleihen aufzukaufen. Allerdings kauft Menschen, nur hinter dem Mond. Da lebt die deutsche
sie diese nicht direkt, sondern über den Umweg privater Regierung. Die Linke fordert daher einen Pakt für ein
und öffentlicher Banken. Somit verdienen die Banken außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Deutschland muss
weiterhin an den Staatsschulden, die zu einem großen die Verpflichtung aus dem eigenen Stabilitätsgesetz von
Teil von ihnen selbst verursacht wurden. Wir fordern da- Karl Schiller endlich ernst nehmen. Dies bedeutet nicht,
her weiterhin: Die EZB sollte in gewissem Umfang di- weniger zu exportieren, sondern mehr für den heimi-
rekt Kredite an Staaten vergeben. Es kann nicht sein, schen Binnenmarkt zu tun, etwa durch Mindestlöhne und
dass sich Banken billiges Geld bei der EZB leihen und es ein Zukunftsprogramm in Bildung und Energiewende.
zu Wucherzinsen an Staaten verleihen. Die Steuerzahler Das ist die beste Medizin für Europa.
müssen endlich von den Zinshaien befreit werden. In Ja-
pan ist dies gängige Praxis, ohne dass es zu einer Infla- Eine sinnvolle Koordinierung der Wirtschaftspolitik
tion gekommen wäre. in der EU umfasst auch die Steuerpolitik, was die Koali-
tion an unserem Antrag ja zumindest nicht grundsätzlich
Unsere dritte Forderung, ein Verbot des Handels mit abgelehnt hat, wenngleich sie es gesondert diskutieren
Kreditausfallversicherungen, ist zumindest im Hinblick will. Es gehört aber notwendigerweise zu dieser Diskus-
auf nackte Kreditausfallversicherungen erfüllt. Bisher sion dazu. Denn wenn wir über Schulden reden, darf
konnten sich Spekulanten gegen einen Staatsbankrott man nicht nur die Ausgabenseite betrachten, sondern
versichern, auch wenn sie gar keine Kredite an den ent- muss auch auf die Steuereinnahmen schauen: Das Steu-
sprechenden Staat vergeben haben. Diese finanziellen erdumping in der EU, das nicht nur in Griechenland
Massenvernichtungswaffen müssen jedoch vollständig große Löcher in die Staatskassen gerissen hat, muss
und europaweit verboten werden. Wir fordern weiterhin: endlich beendet werden. Unternehmen und Bezieher ho-
Keine Feuerversicherungen für Brandstifter! her Einkommen müssen endlich angemessen an der

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4783
Alexander Ulrich
(A) Finanzierung der Krise beteiligt werden. Die Linke for- tungsausgaben endlich einmal ernsthaft anzugehen, (C)
dert daher eine europaweite Mindestbesteuerung von könnte das rigorose Sparprogramm nicht reichen.
Unternehmen und Einkommen.
Die Annahme der Linken ist, Schuld an der griechi-
Alle Fraktionen beziehen sich in ihrer Ablehnung un- schen Misere seien die „anderen“. Wer somit ablenkt
seres Antrags darauf, dass mit den vorgeschlagenen von der Eigenverantwortung und der verantwortungslo-
Maßnahmen gegen die Stabilitätspolitik verstoßen sen Wirtschaftspolitik Griechenlands der letzten Jahr-
würde, derer sich insbesondere Deutschland immer wie- zehnte, der greift zu kurz.
der rühmt. Schauen wir aber auf die letzten Wochen und Wer bringt also endlich den Mut auf, Präventions-
Monate, so zeigt sich ganz deutlich, wohin Frau Merkels maßnahmen zu ergreifen, um weitere Katastrophensze-
Verteidigung der Stabilität uns geführt hat: Instabiler narien zu verhindern? Was muss noch passieren? Die
als jetzt waren der Euro, die Euro-Zone und die EU als Wahlen in NRW sind vorbei.
Ganzes wohl noch nie – ganz zu schweigen von den von
der Krise besonders hart getroffenen Ländern wie Grie- Der Euro befindet sich seit Wochen in einer instabilen
chenland. Stabilität erreicht man nicht durch unsoziale Lage. Wir halten es für vernünftig, kurzfristig ein Kri-
Sparprogramme und ungehinderten Wettbewerb, Stabi- seninstrumentarium einzusetzen, das jetzt auch in der
lität erreicht man durch eine sozialere und solidari- Europäischen Zentralbank diskutiert wird: die Euro-
schere Ausrichtung der EU. Wer also die europäische Bonds. Die EZB muss ferner dazu ermuntert werden,
Integration will, der muss wollen, dass sie anders wird. ihre Selbstständigkeit unter Beweis zu stellen. Sie soll
selbst beurteilen, welche Staatsanleihen sie als Sicher-
CDU, CSU, FDP und Grüne wollen mir ihrer Ableh- heiten akzeptiert und welche nicht.
nung des Antrags die gescheiterte Politik fortsetzen. Die
Die Bundeskanzlerin hat aus dem ersten Aktionismus
Linke will kein Europa der Banken und Konzerne. Des-
heraus vorsichtige Schritte in die richtige Richtung un-
halb werden wir weiter streiten: für ein soziales und so-
ternommen: Ungedeckte Leerverkäufe wurden am
lidarisches Europa!
19. Mai ohne große Vorankündigung und leider ohne die
notwendige Koordination auf europäischer Ebene ver-
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE boten. „Na also – es geht doch!“ möchte man rufen,
GRÜNEN): nachdem genau diese Forderung jahrelang ungehört
Die Euro-Zone steht zweifelsfrei vor einer existenziel- verhallt war. Der Grund für die Absage war immer wie-
len Bewährungsprobe. Am 6. Mai ging man davon aus, der derselbe: Sinn mache ein Verbot nur, wenn dieses
dass die griechischen Staatsfinanzen mit einer Interven- auch international durchzusetzen sei.
(B) tion von 22,4 Milliarden Euro – der deutsche Anteil des Wir Grünen verlangen, dass die Bundesregierung die (D)
Pakets – stabilisiert werden können. Einen Tag nach der Spekulationen endlich ernsthaft bekämpft und die Fi-
Verabschiedung des Rettungspakets am 7. Mai ließen nanzmärkte nachhaltig und komplett neu ordnet. Eine
sich französische Wertpapiere nicht mehr handeln, die zögerliche Haltung hilft niemandem. Das national, eu-
Bundesbank schaute nach eigenen Angaben „in einen ropäisch und international umzusetzen, bleibt unser
Abgrund“. Der Anruf des US-Präsidenten bei der Bun- Ziel.
deskanzlerin sowie die Drohung Frankreichs, aus der
Euro-Zone auszusteigen, machen die Dramatik der Jetzt geht es in einem weiteren Schritt darum, echte
Situation deutlich. europäische Solidarität unter Beweis zu stellen – und
dieses nicht nur in Form von einmaligen Finanzspritzen,
Vor dieser aufziehenden Flut schaffte man die Sand- sondern durch strukturelle Änderungen. Unerlässlich
säcke in Form eines weiteren Rettungspakets – diesmal sind dabei, auf der Einnahmeseite aller Länder eine
ohne Beteiligung des IWF – vor und auf die Deiche. Mindestbesteuerung und vor allem auch eine harmoni-
Aber werden diese kurzfristigen Katastrophenschutzak- sierte Bemessungsgrundlage durchzusetzen.
tionen ausreichen, um den Euro langfristig wieder auf Für eine Rettung des Euros reicht der Stabilitäts- und
ein stabiles Niveau zu hieven? Anders als an der Oder Wachstumspakt in der heutigen Form nicht aus. Wie ge-
können die Euro-Rettungskräfte noch lange nicht abzie- stalten wir die Euro-Zone krisenfest? Wir Grünen for-
hen. Die Angst vor dem Auseinanderbrechen der Euro- dern seit langem, diesen um ein außenwirtschaftliches
Zone ist auch mit dem neuen Rettungspaket nicht ge- Stabilitätspaket zu ergänzen, wie er heute schon im deut-
bannt. schen Stabilitäts- und Wachstumspakt angelegt ist.
Was passiert denn, wenn die vom IWF zugrunde ge- Deshalb kann es aus grüner Sicht nur eines geben: effi-
zientere Governance-Strukturen und verschärfte Sank-
legten Annahmen für das griechische Sparpaket sich
tionsverfahren.
nicht erfüllen, wenn die Steuereinnahmen weit hinter
den Erwartungen zurückbleiben und die Einnahmen Die derzeit heterogenen Wirtschaftspolitiken der ver-
nicht ausreichen, um die anfallenden Schulden zu til- schiedenen Einzelstaaten lassen das Ziel einer starken
gen? Die Wahrscheinlichkeit, dass es am Ende dennoch gemeinsamen Währung nur halbherzig erscheinen. Erst
zu einem Zahlungsausfall Griechenlands kommen wird, wenn wir wichtige Schritte hin zu einer Wirtschafts-
wird sogar vom IWF als nicht gering eingeschätzt. regierung gegangen sind, werden wir tatsächlich eine
Selbst wenn die Griechen guten Willens sind, auch sen- wirtschaftspolitische Angleichung vollzogen haben, die
sible Themen wie die Senkung der übermäßigen Rüs- keine übermäßigen Asymmetrien mehr zulässt.

Zu Protokoll gegebene Reden


4784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

Viola von Cramon-Taubadel


(A) Dann steht einer politischen Union nicht mehr viel im Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von (C)
Weg, und die brauchen wir, um die wirklich großen Pro- den Kollegen Ralph Brinkhaus, CDU/CSU, Bernd
bleme in der Welt gemeinsam anzugehen. Scheelen, SPD, Dr. Volker Wissing, FDP, Dr. Axel
Troost, Die Linke, und Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1963. Wer stimmt
che 17/1602, den Antrag der Fraktion Die Linke auf für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Drucksache 17/1058 abzulehnen. Wer stimmt für diese Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen lehnt.
der Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen. Jetzt kommt die große Überraschung: Wir sind am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
(Beifall)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Scheelen, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weite- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD destages auf morgen, Freitag, den 11. Juni 2010, 9 Uhr,
ein.
Zukunft öffentlich-rechtlicher Sparkassen
sichern – Privatisierung verhindern Die Sitzung ist geschlossen.
– Drucksache 17/1963 – (Schluss: 23.30 Uhr)

1) Anlage 7

Berichtigung
45. Sitzung, Seite 4554 B, letzter Absatz, der dritte
Satz ist wie folgt zu lesen: „Ich habe in Busan beim Tref-
(B) fen der Finanzminister zumindest darüber Klarheit gefor- (D)
dert, dass sie auf absehbare Zeit nicht eingeführt wird.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4785

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 10.06.2010 Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 10.06.2010
DIE GRÜNEN
Wicklein, Andrea SPD 10.06.2010
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ 10.06.2010
DIE GRÜNEN Zapf, Uta SPD 10.06.2010

Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 10.06.2010 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 10.06.2010

Glos, Michael CDU/CSU 10.06.2010


Anlage 2
Göring-Eckardt, BÜNDNIS 90/ 10.06.2010
Katrin DIE GRÜNEN Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele und
Goldmann, Hans- FDP 10.06.2010 Beate Müller-Gemmeke (beide BÜNDNIS 90/
Michael DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung
zu dem Antrag: Fortsetzung der deutschen
Groschek, Michael SPD 10.06.2010 Beteiligung an der internationalen Sicherheits-
präsenz im Kosovo auf der Grundlage der Reso-
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 10.06.2010
lution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Ver-
Hempelmann, Rolf SPD 10.06.2010 einten Nationen vom 10. Juni 1999 und des
Militärisch-Technischen Abkommens zwischen
(B) der internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) (D)
Hintze, Peter CDU/CSU 10.06.2010
und den Regierungen der Bundesrepublik Jugo-
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 10.06.2010 slawien (jetzt: Republik Serbien) und der Repu-
DIE GRÜNEN blik Serbien vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungs-
punkt 7)
Juratovic, Josip SPD 10.06.2010 Dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung des
Einsatzes der Bundeswehr im Kosovo stimmen wir nicht
Kopp, Gudrun FDP 10.06.2010
zu.
Maurer, Ulrich DIE LINKE 10.06.2010 Dieser militärische Einsatz ist politisch falsch, ihm
fehlt die völkerrechtliche Legitimation.
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ 10.06.2010
DIE GRÜNEN Auf die UN-Resolution kann der militärische Einsatz
der NATO im Kosovo schon lange nicht mehr gestützt
Nietan, Dietmar SPD 10.06.2010 werden. Ganz im Gegenteil – von der Bundeswehr wird
ein Rechtszustand aufrechterhalten, der mit dem Be-
Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ 10.06.2010 kenntnis des Sicherheitsrates und dessen Auftrag an die
DIE GRÜNEN Völkergemeinschaft nicht zu vereinbaren ist: die Loslö-
sung des Kosovo aus der Bundesrepublik Jugoslawien
Pieper, Cornelia FDP 10.06.2010 und dessen staatliche Selbstständigkeit.

Piltz, Gisela FDP 10.06.2010 In der Überschrift des Antrags und mehrfach im An-
trag selbst wird Bezug genommen auf die Resolution der
Remmers, Ingrid DIE LINKE 10.06.2010 Vereinten Nationen 1244 vom 10. Juni 1999. Mit dieser
erhält die Völkergemeinschaft vom Sicherheitsrat die
Schlecht, Michael DIE LINKE 10.06.2010 Aufgabe, die multiethnische Gesellschaft, die Rückkehr
der Flüchtlinge in ein sicheres Umfeld in ihre Heimat
Schmidt (Fürth), CDU/CSU 10.06.2010 und die territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens zu ge-
Christian währleisten.

Süßmair, Alexander DIE LINKE 10.06.2010 Schon in der Präambel dieser Resolution formuliert
der UNO-Sicherheitsrat das „Bekenntnis aller Mitglied-
4786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) staaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit ballweltmeisterschaft. Ich werde mich in meiner Rede (C)
der Bundesrepublik Jugoslawien“. auf die entwicklungs- und außenpolitische Zusammenar-
beit zwischen Südafrika und der Bundesrepublik
In der UN-Resolution und ihrer Anlage I wird mehr-
fach „die Förderung der Herstellung substantieller Auto- Deutschland beziehen, da mein Kollege Stephan Mayer
nomie und Selbstverwaltung im Kosovo unter voller Be- sich den sportlichen Beziehungen widmen wird.
rücksichtigung der Prinzipien der Souveränität und So sehr ich das Anliegen des Antrages teile, umso
territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugosla- verwunderter bin ich über den Inhalt und den Zeitpunkt
wien“ und „die sichere und freie Rückkehr aller Flücht- des Antrages der SPD. Zum einen sind viele Punkte be-
linge“ als Hauptaufgabe genannt. reits Bestandteil des entwicklungs- und außenpolitischen
Für diese Aufgaben sollten die internationalen Trup- Afrika-Antrages der Großen Koalition aus der vergange-
pen, einschließlich die der NATO, eingesetzt werden. nen Wahlperiode, der ja bekanntlich auch die SPD ange-
Nur dazu hatte die Regierung und das Parlament Ser- hört hat. Zum anderen ist fraglich, ob einen Tag vor Be-
biens im Juni 1999 nach der Bombardierung Serbiens ginn der Fußballweltmeisterschaft ein Antrag Sinn
seine Zustimmung gegeben. Dieser Aufgabenstellung macht, der auch auf die Arbeit verschiedener Organisa-
hatten auch die Kosovo-Albaner zugestimmt. tionen während der Weltmeisterschaft abzielt.
Diese Vereinbarung wurde im Februar 2008 einseitig Ich hatte Anfang April 2010 die Freude, unseren Bun-
mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo aufge- desaußenminister Dr. Guido Westerwelle und unseren
kündigt und mit der Anerkennung durch Deutschland Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel auf ihrer ge-
der UN-Resolution zuwider gehandelt. Mit der Fortset- meinsamen Reise nach Südafrika, Tansania und Dschi-
zung des Bundeswehreinsatzes wird somit die UN-wid- buti begleiten zu dürfen. Diese Reise hat gezeigt, dass
rige Loslösung des Kosovo und dessen Unabhängigkeit
der afrikanische Kontinent eine wichtige Rolle in der
gesichert.
Politik der Bundesregierung einnimmt und man gegen-
Aber auch weitere Aufgaben aus der UN-Resolution über den Partnerländern „einheitlich“ auftritt.
wurden durch den NATO-Einsatz in elf Jahren nicht er-
füllt: Nicht alle Flüchtlinge und Vertriebenen konnten in Südafrika ist Wirtschaftslokomotive in der Region
eine sichere Heimat im Kosovo zurückkehren. Nach Be- und Stabilitätsanker mit signifikanten Beiträgen zu Frie-
ginn des Einsatzes wurden noch fast 100 000 Roma und den, Sicherheit, Entwicklung und Integration auf dem
andere Minderheiten verfolgt, beraubt, getötet und ver- gesamten afrikanischen Kontinent. In Südafrika wird
trieben. Noch heute geht es vielen zurückgekehrten 2010 die erste FIFA-Fußballweltmeisterschaft auf afri-
Roma schlecht. Zehntausende müssen weiter in Lagern kanischem Boden ausgetragen, und dies ist allein schon
(B) in anderen Ländern leben. ein Erfolg an sich. Ich bin mir sicher, dass nach der Fuß- (D)
ballweltmeisterschaft die Welt mit anderen Augen auf
Sicherheit wird im Kosovo mehr und mehr von der
den Kontinent Afrika schaut.
dortigen Polizei garantiert. Nach Auskunft der Bundes-
regierung mussten selbst bei den jüngsten gewaltsamen Die seit dem beispiellosen demokratischen Wandel
Auseinandersetzungen am 30. Mai dieses Jahres in Mit- Südafrikas 1994 bestehende entwicklungspolitische Zu-
rovica die anwesenden KFOR-Kräfte nicht eingreifen. sammenarbeit, EZ, ist Teil einer umfassenden deutschen
Die Fortsetzung des Militäreinsatzes der Bundeswehr Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs-, Umwelt- und Au-
im Kosovo auf der Grundlage der UN-Resolution 1244 ßenwirtschaftspolitik. Deutschland und Südafrika vertre-
ist das falsche Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit, ten in multilateralen Foren viele gemeinsame Positionen.
Rückkehr der Flüchtlinge und Wiederaufbau im Kosovo. Die Entwicklungspartnerschaft mit einem der bevölke-
Soweit überhaupt noch internationale Sicherheitskräfte rungsreichsten, politisch bedeutsamsten und stabilsten
erforderlich sind, sollte in erster Linie nichtmilitärische Länder Afrikas soll zweierlei leisten: erstens einen Bei-
Unterstützung auf der Grundlage einer neuen Resolution trag zur Bewältigung der historischen Lasten Südafrikas
der Vereinten Nationen und mit Zustimmung der Ver- bei der Überwindung der strukturellen Ursachen von Ar-
waltung im Kosovo und der serbischen Regierung ge- mut und extremer Ungleichheit und zweitens einen Bei-
leistet werden. trag zur Erreichung regionaler und/oder globaler Ent-
Deshalb stimmen wir zum Antrag der Bundesregie- wicklungsziele.
rung mit Enthaltung. Auch 15 Jahre nach dem Ende der Apartheid ist die
Mehrheit der Bevölkerung von Wohlstand und Zukunfts-
chancen abgekoppelt: 42,9 Prozent der 49 Millionen
Anlage 3 Südafrikaner leben von weniger als 2 US-Dollar am Tag.
Zu Protokoll gegebene Reden Extreme Einkommensunterschiede – Gini-Koeffizient
von 57,8 – und hohe Arbeitslosigkeit – offiziell:
zur Beratung des Antrags: Die Fußballwelt- 23,6 Prozent, inoffiziell: rund 40 Prozent – lassen die
meisterschaft – Eine Chance für Südafrika (Ta- Unzufriedenheit vor allem in den ehemaligen Townships
gesordnungspunkt 17) wachsen. Dort sind auch die Defizite in Kernbereichen
der öffentlichen Ordnung (durchschnittlich 75 Morde,
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Am heu- 650 Einbrüche pro Tag), bei der Erbringung öffentlicher
tigen Abend debattieren wir zu später Stunde einen SPD- Dienstleistungen (etwa 61 Prozent der Kommunen nah-
Antrag zu den Chancen Südafrikas aufgrund der Fuß- men 2005/2006 weniger als 50 Prozent ihrer Aufgaben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4787

(A) wahr) und HIV/Aids-Bekämpfung (Prävalenzrate 15- bis ginn des Programms ist die Zahl der Tests sprunghaft an- (C)
49-Jährige: 18,1 Prozent) am größten. gestiegen, mancherorts um bis zu 80 Prozent.
Aufgrund seiner kohlebasierten Wirtschaft (92 Prozent Viertens. Verbesserung des Systems der beruflichen
der Stromversorgung) ist Südafrika einer der weltweit Bildung als Voraussetzung für die nachhaltige Schaffung
größten CO2-Emittenten (Rang 11 absolut, 10 Tonnen pro von Arbeitsplätzen.
Kopf) und muss in die Verantwortung zum Schutz globa-
ler öffentlicher Güter eingebunden werden. Zugleich Beispiel: Über das Berufsbildungsprogramm konnten
müssen die großen konjunkturgefährdenden Energie-Ver- seit 2001 6,3 Millionen Arbeitnehmer fortgebildet und
sorgungslücken, beispielsweise „black outs“, die auch 400 000 Menschen in Langzeitkursen für den formellen
die Nachbarländer betreffen, geschlossen werden. Arbeitsmarkt ausgebildet werden, die zu 79 Prozent in-
nerhalb von sechs Monaten einen Arbeitsplatz bekamen.
Alle zwei Jahre finden zwischen der Bundesregierung 97 Prozent der Ausgebildeten haben ein Einkommen
und Südafrika Regierungsverhandlungen statt. 2010 deutlich über der Armutsgrenze von 2 US-Dollar pro
wurden in Südafrika Vorhaben in Höhe von 2,5 Millio- Tag. Weitere 323 000 Arbeitslose wurden für den infor-
nen Euro vereinbart. Zusätzlich fördert das BMZ Aktivi- mellen Arbeitsmarkt ausgebildet.
täten von politischen Stiftungen, Kirchen und privaten
Trägern/Nichtregierungsorganisationen in Südafrika. Fünftens. Vorbereitung der WM 2010, der ersten Fuß-
ballweltmeisterschaft auf dem afrikanischen Kontinent.
Bei der Zusammenarbeit konzentriert sich die Bun-
desregierung auf bestimmte Kernbereiche: Beispiel: Über ein Austauschprogramm zwischen den
WM-Austragungskommunen 2006 und 2010 und einen
Erstens. Beseitigung der Defizite in Kernbereichen Beratungsfonds konnten deutsche Experten in bislang
der öffentlichen Ordnung und Verbesserung öffentlicher mehr als 170 Beratungseinsätzen ihr 2006 erworbenes
Dienstleistungen auf allen Ebenen (National-, Provinz- Wissen zu Themen wie Unterkunftsplanung, Abfallma-
und Kommunalverwaltung). nagement, „Fan-Parks“, Verkehrsplanung, Feuerwehr-
und Notarzteinsätzen oder Katastrophenvorsorge an süd-
Beispiele: Mit Unterstützung des Programms „Ge-
afrikanische WM- „Host Cities“ weitergeben. Dies trägt
waltprävention in städtischen Armenvierteln“, das unter
dazu bei, dass die Städte mit den Vorbereitungen gut im
anderem die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur in
Zeitplan sind und die Mitarbeiter der Kommunen nach-
einem der größten Kapstädter Townships, Khayelitsha,
haltig Kompetenzen aufbauen.
ausbaut, hat sich die Sicherheitswahrnehmung der Bevöl-
kerung von 2,3 auf 4,8 – auf einer Skala von 1 bis 10 – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen, ist
verbessert. und bleibt Südafrika ein Schwerpunktland für Deutsch-
(B) land. Dafür steht auch die neue Bundesregierung. (D)
Durch das „Programm zur Stärkung lokaler Regie-
rungsführung“ nehmen Kommunalregierungen ihre Auf-
gaben effizienter, wirksamer und stärker an den Bedürf- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Wenn mor-
nissen der Bürger und Privatwirtschaft ausgerichtet gen die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika mit dem
wahr; beispielsweise wurde in circa 20 Partnergemein- Eröffnungsspiel der Bafana Bafana gegen Mexiko be-
den nachweislich das Geschäfts- und Investitionsklima ginnt, wird über eine Milliarde Menschen weltweit einen
verbessert. unmittelbaren Blick auf das heutige Südafrika werfen.
Zweitens. Ausbau erneuerbarer Energiequellen und Sie werden feststellen, dass sich trotz der vielen Kri-
Erhöhung der Energieeffizienz zur Abfederung der stei- tik von Bedenkenträgern im Vorfeld der Weltmeister-
genden Nachfrage sowie zur Verbesserung des Klima- schaft bereits Vieles gewandelt und verändert hat. Süd-
schutzes. afrika hat sich längst auf den Weg gemacht, die Risse,
die durch die jahrzehntelange Apartheid in der Bevölke-
Beispiel: Mit deutscher Unterstützung werden über rung entstanden sind, wieder zu schließen.
südafrikanische Institutionen zinsverbilligte Darlehen an
die südafrikanische Privatwirtschaft für Investitionen in Die Fußballweltmeisterschaft und die vielen gemein-
Erneuerbare Energien und Energieeffizienzmaßnahmen samen Sportförderprojekte, seien sie staatlich oder auch
vergeben. Dies stärkt die Energiesicherheit, fördert die von nichtstaatlichen Organisationen durchgeführt, tragen
Wirtschaft und schützt das Klima. So wurde auf der ge- hierzu bei.
meinsamen Reise von Bundesminister Westerwelle und
Bundesminister Niebel in Südafrika ein Sonderpro- So hat das Auswärtige Amt im Jahr 2010 unter dem
gramm für regenerative Energien in Höhe von 75,5 Mil- Motto „Menschen bewegen – Grenzen überwinden“ die
lionen Euro verkündet. weltweite Förderung des Sports noch einmal verstärkt.
Viele Sportprojekte davon finden in Afrika, wie beispiels-
Drittens. Prävention von HIV/Aids, dessen Ausbrei- weise in Simbabwe, Namibia, Madagaskar und Süd-
tung alle übrigen Entwicklungserfolge zu konterkarieren afrika, statt. Die meisten sind auch nachhaltige Langzeit-
droht. projekte, die bereits vor der Fußballweltmeisterschaft
begonnen haben und mehrere Jahre über sie hinausgehen
Beispiel: Über das Programm „Freiwilliges Beraten werden.
und Testen“ werden in den drei am stärksten von HIV/
Aids betroffenen südafrikanischen Provinzen 400 Bera- Lassen Sie mich im Folgenden eines dieser Projekte
tungs- und Testzentren gebaut oder rehabilitiert. Seit Be- detaillierter vorstellen.
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(A) Seit Oktober 2008 unterstützt der Fußballexperte schaft in Südafrika im Jahr 2010 wurde rechtzeitig er- (C)
Michael Nees im südafrikanischen Johannesburg für die kannt, und viele kurz- und langfristige Projekte konnten
Dauer von zunächst zwei Jahren den Südafrikanischen initiiert werden. Eines weiteren Antrages oder gar einer
Fußball-Verband (SAFA) als technischer Berater. Die in- Aufforderung durch den Deutschen Bundestag bedarf es
haltlichen Schwerpunkte des Projekts liegen auf der Mo- daher aus meiner Sicht nicht. Lassen Sie uns stattdessen
dernisierung des bestehenden Trainerausbildungssys- die hoffentlich sportlichen fairen Spiele bei der Fußball-
tems und der strukturellen und administrativen Beratung weltmeisterschaft 2010 in Südafrika genießen und uns
des Verbandes. Mit Blick auf die Fußballweltmeister- über die Lebensfreude und Weltoffenheit Südafrikas
schaft 2010 spielte dabei auch die Talentförderung eine freuen.
große Rolle.
Dieses Langzeitprojekt, welches nun in enger Zusam- Dagmar Freitag (SPD): Natürlich fällt nicht erst
menarbeit mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) und morgen, dem Tag des Eröffnungsspiels der Fußballwelt-
der deutschen Botschaft in Pretoria realisiert wird, zeigt die meisterschaft in Südafrika, der Blick der Welt auf den
gute und wichtige Zusammenarbeit zwischen Deutschland afrikanischen Kontinent.
und Südafrika im Bereich des Sports.
Aber für die nächsten vier Wochen geschieht das
Aber auch viele Projekte im unmittelbaren Zusam- schon in einem besonderen Maße; Grund genug, dass
menhang mit der Fußballweltmeisterschaft werden durch wir uns dem Land mit einem Antrag widmen, der nicht
die Sportförderung des Auswärtigen Amtes unterstützt. nur, aber auch die Chancen, die Sport im Rahmen der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik bietet, aufzeigt.
So veranstalten beispielsweise unter dem Motto
„football meets culture“ die Deutsche Botschaft und das Unbestritten ist: Die Republik Südafrika hat in den
Goethe-Institut von Mai bis August Deutschlandwochen letzten Jahren einen erkennbaren Wandel vollzogen, der
in Johannesburg. Sie sollen den Begegnungscharakter nicht nur Wohlwollen, sondern weitere konkrete Unter-
der Fußballweltmeisterschaft unterstreichen. stützung verdient. Mit der Überwindung des Apartheid-
Im Herbst 2010 finden dann in Kapstadt Deutschland- Regimes 1994 konnte sich Südafrika wirtschaftlichen
wochen unter dem Motto „20 Jahre Deutsche Einheit“ Beziehungen öffnen. Die Fortschritte gipfeln sichtbar für
statt. Der Bogen zum Thema Fußball wird durch ein Ju- alle in dem Zuschlag zur Austragung der Fußballwelt-
gend-Fußballturnier diverser Schulen mit unterschiedli- meisterschaft, dem nach den Olympischen Spielen be-
chem sozialen Hintergrund in Kapstadt unter Leitung der deutendsten Sportereignis der Welt. Erstmalig findet
New World Foundation in Kooperation mit der Deut- solch eine Veranstaltung auf dem afrikanischem Konti-
schen Schule in Kapstadt geschlagen. nent statt – eine Chance weit über Südafrika hinaus.
(B) (D)
Der Sport leistet damit aus meiner Sicht einen un- Die südafrikanische Wirtschaft hat sich seit 1994 er-
schätzbaren Beitrag zur Völkerverständigung. Werte wie heblich stabilisiert; die ökonomischen Kennziffern spre-
Fairness, Toleranz und Weltoffenheit können so spiele- chen für sich: Die Inflation ist kontinuierlich zurückge-
risch übermittelt werden. Er nimmt aber zugleich auch gangen, ein hohes Haushaltsdefizit von 7 Prozent des
eine besondere Rolle im Rahmen der Entwicklungshilfe Bruttoinlandsprodukts konnte in einen Haushaltsüber-
ein. schuss umgewandelt werden. Bis zur weltweiten Finanz-
krise war für Südafrika bis 2008 ein jährliches Wachs-
Durch die Förderung des Breitensports in vielen afri- tum von bis zu 5 Prozent zu verzeichnen; die
kanischen Ländern wird automatisch auch für mehr Inte- ausländischen Direktinvestitionen sind kontinuierlich
gration von Minderheiten und marginalisierten Gruppen gestiegen. Deutschland ist zusammen mit China wich-
in den jeweiligen Gesellschaften geworben. Der Dialog tigster Handelspartner.
zwischen den Kulturen wird angeregt, um bestehende
Vorurteile abzubauen und neuen vorzubeugen. Zweifellos hat die Ausrichtung der Fußball-WM In-
vestitionsanreize in vielen Bereichen ausgelöst: Infra-
Dass bereits ein starker Schwerpunkt der internatio- strukturausgaben wurden erhöht, die Anzahl der Polizis-
nalen Sportförderung des Auswärtigen Amtes bei Afrika ten gesteigert, der Transportsektor ausgebaut, und
liegt, zeigen auch die nachfolgenden Zahlen. deutsche Architekten waren am Bau der Stadien in Kap-
2009 förderte das Auswärtige Amt im Rahmen der stadt, Durban und Port Elizabeth beteiligt. Deutsch-afri-
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Sportmaßnah- kanische Wirtschaftsbeziehungen profitieren von diesem
men in Afrika mit 3,5 Millionen Euro. Dies entspricht positiven Trend, erstmals auch im Bereich erneuerbare
etwa 70 Prozent der für die Internationale Sportförde- Energien. – Auch der Tourismus, ebenfalls wichtiger
rung zur Verfügung stehenden Mittel. Es wurden alleine Wirtschaftsfaktor für Südafrika, befindet sich im Auf-
in Kooperation mit dem DOSB und dem DFB 13 Lang- wind: Die Zahl der Touristen hat sich seit 1994 fast ver-
zeitprojekte in Afrika – weltweit: 17 – und 36 Kurzzeit- dreifacht, trotz bekannter problematischer Sicherheits-
projekte in Afrika – weltweit: 47 – durchgeführt. lage. Das WM-Austragungsland Südafrika wird alles da-
ransetzen, sich in den kommenden vier Wochen als ein
Aus dem Vorgesagten können Sie entnehmen, dass modernes, stabiles und gastfreundliches Land zu präsen-
das Auswärtige Amt bereits sehr intensive Sportförde- tieren.
rung gerade auch mit und in Afrika betreibt. Die zusätz-
liche Aufmerksamkeit für internationale Sportförderung Erinnern wir uns an die Fußballweltmeisterschaft
und gemeinsame Projekte durch die Fußballweltmeister- 2006 in Deutschland: Wer hätte uns zugetraut, dass wir
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(A) als Gastgeber derart ausgelassen die WM feiern und men der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in (C)
weltoffen und herzlich auf die ausländischen Gäste zu- Sportprojekte auf dem afrikanischen Kontinent ein.
gehen? Deutschland hat in vielfältiger Hinsicht von der
Austragung profitiert. Nur ein Beispiel: der ungezwun- Der Deutsche Olympische Sportbund und seine Spit-
gene, fröhliche Stolz, mit dem deutsche Flaggen das zenverbände haben allein seit der Jahrtausendwende
Straßenbild prägten, verbunden mit einem nachhaltigen rund 20 Sportprojekte in Südafrika unterstützt. Die in-
positiven Eindruck, den unsere ausländischen Besucher haltliche Bandbreite ist beeindruckend: Vom Auf- und
mit in ihre Heimatländer nahmen. Wir haben innen- wie Ausbau des Fußballsports auf Regional- und Verbands-
außenpolitisch von der WM 2006 profitiert. Vergleichba- ebene über Triathlon-, Handball-, Hockey- und Ten-
res ist auch Südafrika zu wünschen. Zur Rückschau ge- nisprojekte und Projekte im Sport von Menschen mit Be-
hört aber auch die Erkenntnis, dass es Verlierer bei der hinderungen und explizit an Frauen und Mädchen ge-
Austragung solcher Sportgroßveranstaltungen gibt. Die richtete Sportangebote bis hin zu sozialpädagogisch
Macht der Vermarkter im Auftrag der internationalen geprägten Projekten im Bereich der Arbeit mit Straßen-
Sportverbände, in diesem Fall der FIFA, engt die Mög- kindern und zur Prävention von Gewalt und Kriminalität
lichkeiten der Local Organising Committees in der Re- bei Kindern und Jugendlichen waren viele der Bereiche
gel in einem nicht zu akzeptierenden Maße ein. Der abgedeckt, in denen Sport als Entwicklungsinstrument
Kampf um Vermarktungsrechte und die damit verbunde- wirken kann.
nen Erlöse kennt viele Verlierer und nur wenige Gewin- Insgesamt stand Südafrika im Zentrum von rund
ner. In den nächsten Wochen werden beispielsweise die 50 Sportprojekten seit Aufnahme der Sportförderung
kleinen Straßenhändler, die den Lebensunterhalt ihrer durch das Auswärtige Amt Anfang der 60er-Jahre; ins-
Familien sichern müssen, aus dem Umfeld der Stadien gesamt wurden weltweit über 1 300 Langzeit- und Kurz-
vertrieben, mit Verlusten von mindestens einem Monats- zeitmaßnahmen in über 100 Ländern durchgeführt. Für
einkommen. das Auswärtige Amt zählt die Sportförderung zu den ab-
Bei aller Vorfreude: 16 Jahre nach der Überwindung solut erfolgreichsten Instrumenten, und das mit einem
der Apartheid stehen immer noch viele Südafrikaner am sehr geringen Mittelanteil von nur 0,7 Prozent des Ge-
Rande der Gesellschaft, mit nur geringen Aussichten auf samthaushalts der Kultur- und Kommunikationsabtei-
Bildung und damit ein selbstbestimmtes Leben. 7 Mil- lung des Auswärtigen Amtes. Umso unverständlicher ist,
lionen Menschen gehören zu den Langzeitarbeitslosen, dass die schwarz-gelbe Koalition ausgerechnet im „Jahr
die Arbeitslosenquote der schwarzen Bevölkerung liegt des Sports und der Außenpolitik“ 350 000 Euro weniger
bei 40 Prozent, täglich infizieren sich 1 000 Südafrikaner für die Sportförderung des Auswärtigen Amtes zur Ver-
mit HIV, Südafrika gehört zu den Ländern mit den fügung stellt.
(B) höchsten Mord-, Raub- und Vergewaltigungszahlen Südafrika und der gesamte Kontinent verdienen wei- (D)
weltweit, Energiekrisen prägen den Alltag, Spannungen terhin unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstüt-
und Ausschreitungen in den Townships sind keine Sel- zung.
tenheit.
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schrieb: Marina Schuster (FDP): Die Fußball-WM in Süd-
afrika – ein wunderbares Debattenthema, auf das ich
Südafrika ganz unten: Den Menschen in den Town- mich die ganze Woche gefreut habe. Denn hier geht es
ships von Johannesburg bringt die WM nichts – um gute Nachrichten aus Afrika, um eine Chance.
keine Arbeit, nicht einmal Strom.
Erinnern Sie sich an folgende Schlagzeilen? „Das Ti-
Demnach hat die südafrikanische Regierung umge- cketsystem ist zu kompliziert. Die Stadien sind nicht si-
rechnet 40 Milliarden Euro im Zusammenhang mit der cher. Es schneit. Die Heimmannschaft gibt ein erbärmli-
Weltmeisterschaft in die Infrastruktur gesteckt; in den ches Bild ab. Es gibt Orte, wo man keinem, der eine
Townships jedoch herrscht weiterhin Armut. Große Teile andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Die Welt
der schwarzen Mehrheit Südafrikas finden kaum Zugang ist zu Gast im Jammertal.“
zur Marktwirtschaft. Ihre Chancen auf geregelte Arbeit
sind auch aufgrund unzureichender Bildungsvorausset- Das sind Zitate aus der Vorberichterstattung über die
zungen schlecht. Daher fordern wir die Bundesregierung Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland, die die
auf, Südafrika weiterhin bei der Bekämpfung dieser Pro- Berliner Zeitung zusammengestellt hat. Wenn man nun
bleme zu unterstützen und das Engagement, das der da- vergleicht, welchen Heldenstatus dieses Turnier rückbli-
malige Außenminister Frank-Walter Steinmeier während ckend genießt, dann darf man mal festhalten: Südafrika
seiner Amtszeit entscheidend vorangetrieben hat, fortzu- ist auf einem guten Weg. Es haben noch vor jedem sport-
setzen. Diese Unterstützung kann auf vielfältige Weise lichen Großereignis der Neuzeit die Panikmacher am
geschehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch lautesten geschrien, nur um sich wenig später mit Plas-
auf den Sport als aus unserer Sicht unverzichtbaren Be- tikfähnchen und Fanschal am Bierstand anzustellen.
standteil einer erfolgreichen auswärtigen Kultur- und
Die Entwicklungen der vergangenen sechs Jahre ha-
Bildungspolitik verweisen. Er ist geeignet, langfristige
ben gezeigt: Afrika kann es! Das hat Südafrika stellver-
und nachhaltige Beziehungen aufzubauen und zu nutzen.
tretend für den gesamten Kontinent eindrucksvoll bewie-
Auswärtige Kulturpolitik leistet einen erheblichen sen, trotz aller Skepsis, Widrigkeiten und Hindernisse,
Beitrag zur Festigung von Demokratie. Das Auswärtige die das Land in der Vorbereitung des Turniers aus dem
Amt setzt rund 70 Prozent der Sportfördermittel im Rah- Weg räumen musste. Seit der Vergabe der WM an Süd-
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(A) afrika im Jahr 2004 hatte es immer wieder geheißen: Es einer Politik, die auf Partnerschaft für Frieden und Stabi- (C)
war ein Fehler, ein zu großes Risiko, die Ausrichtung lität setzt, auf wirtschaftliche Entwicklung und auf kul-
dieser Großveranstaltung an ein afrikanisches Land zu turelle Verständigung. Lassen Sie uns diese Aufbruch-
vergeben. Afrika-Pessimisten überall. stimmung, die die anstehende Fußballweltmeisterschaft
spürbar werden lässt, nutzen, um gemeinsam für einen
Der Vorwurf bezog sich erstens auf die organisatori- neuen Blick auf den Kontinent zu werben.
schen Fähigkeiten der Südafrikaner. „Können die so-
was?“ lautete die Frage. Welch Arroganz wurde da sicht- Ich bin mir sicher, dass Südafrika in allen Bereichen
bar! Dabei wurde mal eben übergangen, dass Südafrika für die WM gut vorbereitet ist, und hoffe auf ein Fuß-
bereits 1995 und 2003 die Cricket- und Rugby-Welt- ballfest wie vor vier Jahren in Deutschland. Ein Som-
meisterschaften organisiert hat. Ja, sicher, im Vorfeld mermärchen – auf der Südhalbkugel in diesem Fall als
dieser WM gab es Schwierigkeiten und Verzögerungen Wintermärchen –, wie wir es erlebt haben, wünsche ich
beim Bau der Stadien und der nötigen Infrastruktur. Ich der Regenbogennation. Und wenn ich mir ein Traumfi-
selbst habe mich als Teil der Delegation von Bundes- nale wünschen darf, dann findet es mit einer afrikani-
kanzlerin Merkel im Jahre 2007 vor Ort vom Stand der schen und der deutschen Mannschaft statt!
Bauarbeiten überzeugen können. Erst kürzlich konnte
ich das fertige „Cape Town Stadium“ bewundern. Neben Jens Petermann (DIE LINKE): Südafrika hat unter
den damals schon unübersehbaren Fortschritten an den Präsident Nelson Mandela wichtige Sportereignisse aus-
insgesamt neun Spielorten war es vor allem beeindru- gerichtet: 1995 die Rugbyweltmeisterschaft, 1997 den
ckend zu beobachten, mit welchem Engagement und Africa Cup of Nations. Beide Turniere haben die Gastge-
welch einer Begeisterung alle Beteiligten – unter ande- ber überraschend gewonnen. Beide Turniere haben Süd-
rem auch eine Menge freiwilliger Helfer – bei der Sache afrika wichtige Impulse gegeben mit Blick auf eine ge-
waren. Spätestens da hatte ich keine Zweifel mehr, dass meinsame „Nation“.
alles termingerecht fertig sein würde.
Morgen wird die Fußballweltmeisterschaft in Süd-
Der zweite Vorwurf lautete, das Sicherheitsrisiko sei afrika eröffnet. Ab morgen könnten also Zeichen gesetzt
zu groß. Geradezu grotesk war es, als der Überfall auf werden. Zum ersten Mal wird ein echtes sportliches
den togolesischen Mannschaftsbus Anfang des Jahres im Großereignis auf dem afrikanischen Kontinent stattfin-
Norden Angolas als Beleg für das angeblich unzurei- den. Die Südafrikaner haben große Hoffnung in diese
chende Sicherheitskonzept bei der WM im rund Weltmeisterschaft gelegt: wirtschaftlicher Fortschritt,
2 500 Kilometer entfernten Südafrika herangezogen eine deutlich verbesserte Infrastruktur und – und das vor
wurde. Keine Frage: Südafrika hat eine erschreckend allem – wieder ein stärkeres Gefühl, zusammenzugehö-
(B) hohe Kriminalitätsrate, insbesondere bei Gewaltverbre- ren. (D)
chen – das belegen die Statistiken. Aber auch hier hat die
Regierung, mit der Unterstützung der FIFA und der Teil- All das wäre diesem Land zu wünschen. Noch nie wa-
nehmerländer – unter anderem hat auch das Bundeskri- ren die Blicke der Welt so sehr auf diesen Kontinent ge-
minalamt daran mitgewirkt –, ein umfassendes Sicher- richtet wie jetzt. Aber was sind das für Blicke? Da
heitskonzept erarbeitet, über 100 Millionen Euro schwang und schwingt eine Menge Afrika-Pessimismus
investiert und mehr als 50 000 Polizisten neu eingestellt. mit. Es gab und gibt ein Negativbild vom Krisen-, Kata-
Diese bleiben übrigens auch über die WM hinaus im strophen- und Hungerkontinent Afrika – gerade auch
Dienst, sind also nicht bloß eine kurzfristige Placebo- hier, in Europa.
maßnahme.
Eigentlich ist Südafrika ein wohlhabendes Land mit
Das bringt mich abschließend zum Antrag der SPD- allen seinen Naturschönheiten, seiner Fauna, seinen
Fraktion. Sie listen da eine Reihe von Maßnahmen auf, Weinbergen; aber das ist das Land, das die Touristen se-
die schon längst im Gange sind und auch selbstverständ- hen. Und die meisten Fans werden auch während der
lich über das Ende der WM hinaus fortgeführt werden. WM vieles nicht sehen. Hier irrt der SPD-Antrag: Es ist
Da will ich nur beispielhaft auf die bereits existierende nicht gewollt, dass Townships an den touristischen Ver-
Einbindung der Goethe-Institute und die Stärkung der kehrsadern sichtbar sind. Deshalb hat es Umsiedlungen
Sicherheitskapazitäten der Afrikanischen Union verwei- gegeben. In „Tin Can City“ wohnen die Menschen in
sen, was ebenfalls bereits im Gange ist. Südafrika ist un- einfachen Wellblechhütten, ohne sanitäre Versorgung.
ser strategischer Partner in Afrika. Dies hatten die Mi- Und es ist auch nicht gewollt, dass es – aus Sicherheits-
nister Westerwelle und Niebel bei ihrer gemeinsamen gründen? – Versammlungen in der Nähe der WM-Sta-
Reise betont. Das gilt besonders für unseren Einsatz für dien gibt. Nur leider betrifft dies auch Fußball- und
Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent. Wir haben Bolzplätze. Junge, vor allem schwarze Freizeitkicker
uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, ein neues, sind so vier Wochen lang, auf Geheiß der FIFA, ohne
ressortübergreifendes Afrika-Konzept vorzulegen. Es sportliche Heimat, eine an sich absurde Maßnahme.
wird den sicherheitspolitischen, gesellschaftlichen, öko-
logischen und ökonomischen Herausforderungen ebenso Fast 50 Prozent der Menschen in Südafrika leben un-
Rechnung tragen wie den großen Entwicklungspotenzia- terhalb der Armutsgrenze – im dennoch wohlhabendsten
len des afrikanischen Kontinents. Land des afrikanischen Kontinents. Fast alle diese Men-
schen sind schwarz. Die politische Apartheid mag been-
Wir wollen diese positiven Kräfte auf dem Kontinent det sein, die ökonomische ist es längst nicht. Nirgendwo
stärken und den Aufbruch Afrikas unterstützen – mit in Afrika klafft die Schere zwischen arm und reich so
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4791

(A) weit auseinander wie im gastgebenden Land der Fuß- mals hat es allerdings mit den Realitäten in den 53 unter- (C)
ball-WM 2010. schiedlichen Staaten nur wenig zu tun.
Fraglos wird insbesondere die Verkehrsinfrastruktur Afrika ist schon lange mehr als eine entwicklungspo-
in Südafrika nach der WM besser sein als zuvor. Vorher litische Herausforderung, denn das Afrika von heute ist
gab es keine. Es sollte keine geben. Im Rassismus war in Bewegung. Das zeigt zum Beispiel die Gründung der
die Mobilität der schwarzen Bevölkerung nicht er- Afrikanischen Union und eine Vielzahl von regionalen
wünscht. Ja, es ist sehr viel Geld in die Infrastruktur ge- Entwicklungsinitiativen. Auch gibt es immer mehr de-
flossen. Aber wer kann sich ein Auto oder ein Ticket für mokratische Wahlen. Bei Reisen nach Afrika kann man
den Super-Schnellzug leisten? Die meisten Schwarzen heute fast überall deutlich vernehmen: Afrika entwickelt
fahren mit dem Sammeltaxi oder dem „Armen-Zug“ – ein positives Selbstbewusstsein. Die vielen Menschen
zehn Stunden für umgerechnet sechs Euro. Allerdings dort haben erkannt, dass Afrika sein Schicksal selbst in
muss ein Drittel der Bevölkerung mit weniger als die Hand nehmen und kann und muss. Dabei dürfen wir
15 Rand am Tag auskommen, umgerechnet 1 Euro unsere historisch begründete Verantwortung nicht außen
35 Cent. vor lassen.
Die Weltmeisterschaft ist zweifellos geeignet, diese
Gerne wird vom „schönen Schein“ gesprochen, wenn
positive Entwicklung zu verstärken. Der WM-Titel 1954
die Rede von Südafrika ist. Nicht wenige vermuten, dass
hat auf die ganze deutsche Nation durchaus positiv ge-
nach dem Abpfiff der Weltmeisterschaft zumindest Ka- wirkt, hat die Verkrampfung gelöst und das Selbstbe-
terstimmung aufkommt. Einige Anzeichen dafür sind wusstsein gestärkt. Die Afrikaner sind im Allgemeinen
bereits offenkundig: 1 Million Jobs sollte die WM Süd- genauso fußballverrückt. Deshalb könnte Ähnliches pas-
afrika bringen. Stattdessen sind anscheinend genauso sieren.
viele Jobs im vergangenen Jahr verloren gegangen. Die
streng begrenzten Zonen – vorbehalten den FIFA-Spon- Aber verschließen wir trotzdem nicht die Augen vor
soren – schließen die einheimischen Händler aus. Kein den negativen Realitäten: Tatsächlich relevante wirt-
Fan-Tourist wird in Stadionnähe in den Genuss einer au- schaftliche Verbesserungen von der Fußballweltmeister-
thentischen südafrikanischen Garküche kommen. schaft zu erhoffen, wäre angesichts der Probleme, mit
denen Südafrika zu kämpfen hat, vermessen: Noch nie
Der Zuschlag für Südafrika hat bei vielen – zu seit dem Ende der Apartheid-Ära 1994 hat es in den
Recht – Begehrlichkeiten auf Teilhabe geweckt. Denn Städten so viele Proteste gegen die schlechte öffentliche
auch zwanzig Jahre nach Ende der politischen Apartheid Versorgung und die Korruption auf lokaler und nationa-
leben die Südafrikaner in Parallelgesellschaften – viele ler Ebene gegeben. Die inoffizielle Arbeitslosenquote
(B) Schwarze in Blechhüttendörfern irgendwo im „Regen- liegt bei 40 Prozent, es geschehen im Schnitt 50 Morde (D)
bogenland“. Wie echt ist die Einheit, die wir in den kom- am Tag, 21 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ist
menden vier Wochen in Südafrika sehen werden? Ist HIV-positiv und 70 Prozent der Kinder leben in Armut.
eine Einheit bei einer derartigen ökonomischen Un- Die Probleme sind jedoch nicht nur wirtschaftlich: Seit
gleichheit überhaupt möglich? dem Mord an dem ultrarechten weißen Politiker
Terre’Blanche am 3. April dieses Jahres geht das Ge-
Als Sportler und Fußballfan bin ich froh, dass die WM spenst des Rassenkonflikts wieder um. Julius Malema,
zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent stattfin- der 29-jährige Chef der ANC-Jugendliga, hat das alte
den wird. Zudem hoffe ich, dass dieses Sportereignis ei- Kampflied „Bringt die Buren um, sie sind Vergewalti-
nen kleinen Teil dazu beitragen wird, den Rassismus ein ger“ wieder ausgepackt und ist damit zu einem der be-
wenig zurückzudrängen. Aber ich warne davor, in einem liebtesten Politiker des Landes aufgestiegen. Rassismus
derart kommerzialisierten Event einen Heilsbringer zu ist in Südafrika weit verbreitet. Pretoria leugnet die
sehen, der es nicht sein kann, so sehr ich das bedaure. Fremdenfeindlichkeit, obwohl im Frühjahr 2008 bei ei-
ner Hetzjagd auf Arbeitsimmigranten 60 Menschen zu
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Davor Tode kamen. Zigtausende wurden aus Südafrika vertrie-
können wir Deutsche uns kaum schützen: Sobald es um ben.
die Fußballweltmeisterschaft geht, tritt bei den Jüngeren Mit großer Traurigkeit müssen wir zur Kenntnis neh-
das Sommermärchen 2006 ins Gedächtnis, und ältere men, dass Mandelas hervorragende Ansätze zur Versöh-
Semester erinnern sich an 1954 oder zumindest an die nung nach seinem politischen Abgang nicht intensiv ge-
Erzählungen daran. Das morgen beginnende Fest wird nug weiter verfolgt wurden. Die Gründe hierfür liegen
vermutlich wieder weit mehr als eine Milliarde Men- zum Teil auch in unserer Verantwortung. 1993 hat der
schen in seinen Bann ziehen, und wir wünschen uns alle, IWF Pretoria gezwungen, Schulden in Höhe von 25 Mil-
dass damit ein Sommermärchen 2010 beginnt. liarden Euro zu übernehmen. Dieses Geld war Geld von
Weißen für Weiße. Gleichzeitig wurde Südafrika ein
Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Fest in der
neoliberales Wirtschaftsmodell aufgezwungen, das heißt
Lage sein kann, unser oftmals sehr negativ geprägtes
weitgehende Privatisierung von Staatsvermögen. Der
Bild von Afrika zu überlagern. Afrika hat einen An-
persönliche Reichtum ist zur Triebfeder der politischen
spruch darauf, dass wir diesen Kontinent differenziert
Kaste geworden.
betrachten. Leider haben sich bei uns über Jahre hinweg
Klischees vom verlorenen, hoffnungslosen Schwarzen Wenn wir uns die Verhandlungen zu einem Wirt-
Kontinent verfestigt. Zum Teil ist dies verständlich, oft- schaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und
4792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) dem südlichen Afrika oder das bestehende Freihandels- setzung stehlen Bürgern, Unternehmen und der Verwal- (C)
abkommen zwischen der EU und Südafrika anschauen, tung zu viel Zeit und zu viel Geld – auch wenn schon
können wir feststellen, dass die EU und damit auch erste Fortschritte erreicht wurden. Deshalb wird oft auf
Deutschland auch heute noch der Logik der bedingungs- die Bürokratie geschimpft, auch wenn im Grundsatz ein
losen Liberalisierung von Handelsbeschränkungen frönt. gewisses Maß an Regelungen und Gesetzen notwendig
Nur ein Beispiel für die negativen Auswirkungen einer und sinnvoll ist.
solchen Handelspolitik sind Hähnchen. Wir erinnern uns
ja, wie berechnend und unverantwortlich wir die Hähn- Dieses, seit vielen, vielen Jahren bekannten Dilem-
chenmast in Ghana und Kamerun mit unseren subventio- mas hat sich die Bundesregierung angenommen, und mit
nierten, billigen Hähnchenteilen zerstört haben. Im Han- zu ihren Prioritäten politischen Handelns erklärt. Mit
delsabkommen mit Ghana sind Hähnchenteile nun nach den „Eckpunkten zum Bürokratieabbau und zur besseren
massiven Protesten von der Liberalisierung ausgenom- Rechtsetzung“ hat die christlich-liberale Bundesregie-
men; im südlichen und östlichen Afrika drohen hingegen rung am 27. Januar dieses Jahres „Bürokratieabbau“ und
weiterhin lokale Märkte zerstört zu werden. „bessere Rechtsetzung“ als eigenständige Politikziele
verankert. Dies zeigt sich unter anderem auch in dem
Ich habe positiv begonnen, und ich möchte meine Auftrag an den Koordinator der Bundesregierung für
kleine Rede auch positiv beenden: Die Fußballweltmeis- Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung, Eckart von
terschaft kann schaffen, was im Alltag vieler Südafrika- Klaeden, regelmäßig im Kabinett über den Stand der
ner noch die Ausnahme ist: Begegnungen zwischen Umsetzung des Programms zu informieren.
Schwarz und Weiß, zwischen Arm und Reich, nicht als
Bergarbeiter oder Dienstmädchen, nicht als Hausherr Dass die Bundesregierung in diesem Feld auf dem
oder Managerin, sondern schlicht als Fußballfans. 1995 richtigen Weg ist, bestätigt uns zum Beispiel die OECD,
gab der Slogan „One team – one country“ bei der dama- die am 28. April 2010 ihren „Länderbericht über den
ligen Rugby-Weltmeisterschaft in Südafrika den Start- Stand der besseren Rechtsetzung in Deutschland“ an die
schuss in eine weltweit beachtete und sehr erfolgreiche Bundeskanzlerin übergeben hat. Darin wird die Bundes-
Versöhnungsarbeit. Nelson Mandela gelang es damals, regierung für ihr Engagement ganz ausdrücklich gelobt.
die Weltmeisterschaft zu nutzen, um die noch kurz vor- Die Koordination im Bundeskanzleramt und die Kon-
her durch die Apartheid gespaltene Nation zu einen. trolle durch den Normenkontrollrat sowie eine klare Me-
Dies zeigt auch die Chancen dieser WM für Südafrika. thodik und verbindliche Ziele sorgten – nach OECD-
1995 wurde das südafrikanische Rugby-Team übrigens Beobachtungen – dafür, dass die Rechtsetzung in
Weltmeister. Deutschland immer besser wird. Das ist ein großer Fort-
schritt im Vergleich zum Bericht aus dem Jahr 2003.
(B) (D)
Anlage 4 Und um den Erfolg des Regierungsprogramms wei-
terhin sicherzustellen, wollen wir unsere Anstrengungen
Zu Protokoll gegebene Reden verstärken, den eingeschlagenen Weg konsequent wei-
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur tergehen, ja sogar ausbauen. Die Fraktionen von CDU/
Änderung des Gesetzes über die Einsetzung CSU und FDP im Deutschen Bundestag haben dazu
eines Nationalen Normenkontrollrates (Zusatz- heute einen Entwurf zur „Änderung des Gesetzes zur
tagesordnungspunkt 10) Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates,
NKR-Gesetz“ auf den Weg gebracht.
Kai Wegner (CDU/CSU): Wir sind uns sicherlich in Wie in der Kabinettsklausur im November vergange-
diesem Hause alle einig: Ohne Regelungen ist kein Staat nen Jahres beschlossen, bezieht die Koalition mit dieser
zu machen! Gesetzesnovelle den Normenkontrollrat, NKR, umfas-
Aber wie immer geht es um die richtige Dosis, um die sender in die Rechtsetzung mit ein. Der unabhängige
Balance zwischen dem, was geregelt werden muss, und Normenkontrollrat bleibt die zentrale Institution des Bü-
dem, was nicht geregelt werden soll. Sie kennen alle das rokratieabbaus, wird jedoch erheblich gestärkt, indem
Zitat Lord Dahrendorfs. Er hat einmal gesagt: „Wir brau- das Mandat und die Kompetenzen des NKR ausgeweitet
chen Bürokratie, um unsere Probleme zu lösen. Aber werden.
wenn wir sie erst mal haben, hindert sie uns, das zu tun, Der Normenkontrollrat – ein mit Experten aus Wirt-
wofür wir sie brauchen.“ Das ist – wie ich finde – genau
schaft und Verwaltung besetztes unabhängiges Bera-
die richtige Beschreibung dafür, dass wir – dass die Poli-
tungsgremium der Bundesregierung – wurde bereits im
tik – die Balance finden muss, zwischen dem, was von
Jahr 2006 im Zusammenhang mit der Verabschiedung
staatlicher Seite geregelt werden muss, wo möglicher-
des Regierungsprogramms „Bürokratieabbau und bes-
weise eine Überregulierung stattfindet und wo nützliche
sere Rechtsetzung“ eingesetzt. Bisher prüft der NKR bei
Regelungen fehlen. Diese Balance zwischen diesen drei
Feldern müssen wir finden. allen Gesetzentwürfen der Bundesregierung die Darstel-
lung des bürokratischen Aufwands, der durch die Befol-
Aber dabei muss immer eines das Ziel bleiben, näm- gung sogenannter Informationspflichten bei Bürgern,
lich: Umfang und Nebenwirkungen der Regelungen so Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung entsteht, und
gering wie möglich zu halten. Denn zu viele und zu auf- regt gegebenenfalls die Erarbeitung kostengünstigerer
wendige Regelungen und ihre häufig komplizierte Um- Alternativen an.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4793

(A) Künftig soll diese Begutachtung auf den gesamten monisierung und Verkürzung der Aufbewahrungs- und (C)
Aufwand ausgedehnt werden, der für die Betroffenen bei Prüfungsfristen nach Handels-, Steuer-, und Sozialrecht;
der Erfüllung bundesrechtlicher Vorschriften anfällt. Das betriebliche Beauftragte; Antrag auf gesetzliche Leistun-
ist im § 2 unter dem sogenannten „Erfüllungsaufwand“ gen, insbesondere für Existenzgründer und Kleinunter-
zu verstehen. Während bisher zum Beispiel nur der nehmen sowie bei drohender Firmeninsolvenz, die Si-
Nachweis über den Einbau eines Abgasfilters in die Be- tuation von Menschen, die pflegebedürftig, chronisch
trachtung bürokratischer Belastungen eingeflossen ist, krank oder akut schwer krank sind, Familien und Allein-
werden künftig auch dessen Preis und die Kosten für den erziehende; Erleichterung der elektronischen Übermitt-
Einbau berücksichtigt, die sogenannten sonstigen Kos- lung der Gewerbeanzeige. Damit sind Bereiche ange-
ten der Wirtschaft. sprochen, die jeweils einen großen Teil der Wirtschaft
und der Bevölkerung betreffen, oder aber Bereiche, in
Neben den Regelungsentwürfen der Bundesministe- denen Betroffene in einer besonders schwierigen Situa-
rien soll der NKR künftig außerdem Gesetzesentwürfe tion sind.
des Bundesrates und Regelungsvorhaben aus der Mitte
des Bundestages, soweit eine Fraktion dies beantragt, Konkret heißt das: Im Vordergrund der Betrachtung
prüfen können. Was heißt, dass auch Oppositionsfraktio- steht das, was bei den Betroffenen passiert. Wir stellen
nen einen Entwurf der Koalition dem NKR vorlegen uns während des Gesetzgebungsverfahrens, an dem der
könnte. Damit wäre das Schlupfloch gestopft, dass in der NKR im Verfahren stets beteiligt ist, ex ante, sowie beim
Vergangenheit Vorhaben über Regelungen am NKR Abbau bestehender Bürokratie, an dem der NKR in der
„vorbeigemogelt“ werden konnten. Jeder Initiator – egal, Regel methodisch an den Prozessen beteiligt ist, ex post,
ob Regierungsfraktion oder Opposition – wäre dann also die Frage: Was löst das Recht bei den Betroffenen in der
gut beraten, die Gesetzentwürfe regelmäßig vorab auf Realität aus? Also bei den Bürgerinnen und Bürgern so-
ihre Auswirkungen hinsichtlich der Bürokratiebelastung wie bei der Wirtschaft, den Unternehmen und Betrieben
abzuschätzen. und bei der Verwaltung.
Das entscheidend neue Element des Regierungspro- Das heißt weiterhin: Wir untersuchen nicht mehr nur
gramms ist die Betrachtung des gesamten Aufwands, der eine abstrakte isolierte Norm, sondern – wenn man so
zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung notwen- will – das wahre Leben! Und wie Sie wissen, wirken im
dig ist. Diese Ausweitung des Programms auf den ge- wahren Leben stets viele Normen gleichzeitig. Die Ver-
samten Erfüllungsaufwand bringt einen Perspektiv- waltung ist beispielsweise in aller Regel eine Länder-
wechsel mit sich: Das Recht wird aus der Sicht aller oder Kommunalverwaltung. Da wirken meist Bund,
Betroffenen untersucht und weiterentwickelt. Damit Länder, Kommunen und gegebenenfalls andere Selbst-
betritt die Bundesregierung – auch im internationalen verwaltungsträger, zum Beispiel Krankenkassen, Ren- (D)
(B)
Vergleich – methodisches Neuland. Mit diesem neuen tenversicherung oder berufständische Kammern, zusam-
Ansatz entfällt die bisherige Trennung von Informations- men. Und das bedeutet auch, dass die Bundesregierung
pflichten und anderen zur Normerfüllung auferlegten und damit auch der NKR künftig sehr viel intensiver als
Pflichten; denn man misst die Gesamtbelastung, die sich bisher ebenen- und rechtsbereichsübergreifend arbeiten
für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung durch die Recht- müssen.
setzung ergibt.
Allerdings gebietet die Vernunft auch Grenzen. Ein
Die bisherige Beschränkung auf Informationspflich- Beispiel dazu: Wenn eine vierspurige Straße gebaut wer-
ten war häufig ein Kritikpunkt aus der Wirtschaft und den soll und man dort den Erfüllungsaufwand um
den Verbänden. Aber auch die Bürger bemängelten, dass 25 Prozent reduzieren will, dann ist damit nicht gemeint,
beispielsweise Umstellungs- oder Anschaffungskosten dass man statt einer vierspurigen nur eine dreispurige
als Teil ihrer durch die Befolgung von Vorschriften aus- Straße baut. Mit Erfüllungsaufwand ist also all das ge-
gelösten Belastung bei der Darstellung von Gesetzesfol- meint, was an Aufwand betrieben werden muss, um die
gen nicht berücksichtigt wurden. Die Bundesregierung Straße bauen zu können. Mir ist natürlich aber auch be-
hat daher beschlossen, künftig den gesamten Aufwand wusst, dass die Fragen, wo die Grenze des Messbaren
für alle Betroffenen in den Blick zu nehmen. Dabei be- liegt und welcher Aufwand gesetzlich veranlasst ist, in
treten wir Neuland und entwickeln die bewährten Mess- der Abgrenzung schwierig bleiben. Die Initiative der Re-
und Schätzinstrumente weiter. gierungsfraktionen im Deutschen Bundestag zeigt deut-
Bisher sind wir in der Frage des Standardkosten-Mo- lich, dass Parlament und Regierung zur Steigerung der
dells und der Informationspflichten dem Beispiel ande- Rechtsetzungsqualität in Deutschland an einem Strang
rer Länder, insbesondere den Niederlanden, gefolgt. ziehen. Staatliche Regulierungen soll es nur dort geben,
Wenn wir jetzt ein ähnlich objektives Messverfahren für wo es unbedingt erforderlich ist. Der daraus entstehende
den Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger, die Aufwand muss für die Betroffenen so gering wie mög-
Wirtschaft und die Verwaltung erarbeiten, dann sind wir lich sein.
an der Spitze der internationalen Entwicklung.
Eines will ich sagen: Den Bürgerinnen und Bürgern
Die Bereiche, in denen der Erfüllungsaufwand ermit- sowie der Wirtschaft ist es zu Recht egal, ob nun das
telt und Reduzierungen aufgezeigt werden sollen, sind in Parlament oder die Regierung oder alle gemeinsam bü-
der jetzt anstehenden ersten Phase: Planungs- und Bau- rokratische Belastungen verursachen. Ich begrüße es
recht von Infrastrukturvorhaben; Steuererklärungen, deshalb sehr, dass das Prüfungsrecht des NKR entspre-
steuerliche und zollrechtliche Nachweispflichten; Har- chend erweitert wird. Die geplante Mandatserweiterung
4794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) ist auch Ausdruck der hohen Wertschätzung für die Ar- Den Aufwand an Bürokratie zu reduzieren, war ein (C)
beit des NKR. An dieser Stelle möchte ich mich deshalb Kind der Großen Koalition. Mit dem „Programm für Bü-
ganz herzlich bei allen bedanken, die im Normenkon- rokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ und den drei
trollrat mitarbeiten – sowohl bei denen, die den Normen- Mittelstandsentlastungsgesetzen hatte die letzte Bundes-
kontrollrat selbst bilden, als auch bei den Mitarbeiterin- regierung gezeigt, dass sie es damit ernst meint. Es ist
nen und Mitarbeitern. der Großen Koalition gelungen, Belastungen von rund
7 Milliarden Euro abzubauen. In Anbetracht der kurzen
Die kleinen und mittleren Unternehmen sind dennoch Zeit kann sich das Ergebnis sehen lassen.
nach wie vor durch staatliche Regulierung besonders
stark belastet. Sie können sich keine große Verwaltung Schon im Jahr 2006 hatten wir den Normenkontrollrat
leisten, die „nur“ damit beschäftigt ist, die häufigen und eingesetzt und damit eine Überprüfung und Messung der
kleinteiligen Änderungen des sowieso schon komplizier- bürokratischen Lasten unserer Unternehmen eingeführt.
ten Rechts in Deutschland nachzuvollziehen, Meldungen Es wurde eine Bestandsaufnahme eingeleitet, die inzwi-
abzugeben und Anträge zu stellen. schen abgeschlossen ist. Gleichzeitig schufen wir damit
ein Instrument, um die Gesetzgebung – also uns selbst –
Bislang hat die Bundesregierung Maßnahmen mit zu kontrollieren. Mit der Überprüfung von Gesetzen
Entlastungen von rund 7 Milliarden Euro jährlich auf konnte der Kontrollrat eine Netto-Entlastung von
den Weg gebracht. Das sind knapp 15 Prozent der Ge- 3,6 Milliarden Euro erreichen.
samtbelastung. Wie beim Langstreckenlauf wird die
zweite Hälfte der Strecke sicherlich schwerer als die Ziel der SPD ist aber nicht nur ein Abbau bürokrati-
erste. Dennoch sind weitere Entlastungen möglich und scher Lasten, der zu Einsparungen führt. Es ging auch
nötig. Jetzt muss es endlich zu wirklich spürbaren Ent- immer um die Praxis einer besseren Rechtsetzung. Das
lastungen kommen. Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu den staatli-
chen Stellen soll verbessert werden. An diesem über-
Das Ziel, 25 Prozent der Bürokratiekosten der Wirt- geordneten Ziel halten wir als SPD fest. Uns geht es
schaft im Vergleich zum Stand vom 30. September 2006, darum, Verwaltungsabläufe zu überprüfen und zu mo-
rund 47 Milliarden Euro jährlich, bis 2011 abzubauen, dernisieren, wenn möglich zu vereinfachen. Für uns be-
ist deshalb im Kabinettsbeschluss vom 27. Januar 2010 deutet Bürokratieabbau aber nicht, bewährte soziale oder
als Netto-Vorgabe formuliert worden. Das heißt, die be- gesellschaftliche Standards zu reduzieren oder notwen-
reits erzielten Entlastungen von rund 7 Milliarden Euro dige Aufgaben des Staates infrage zu stellen. Ob im Um-
pro Jahr dürfen nicht durch neue Belastungen an anderer weltschutz, beim Steuerrecht oder beim Arbeitsrecht:
Stelle wieder aufgezehrt werden. Nach jetzigem Stand Eine effiziente Verwaltung ist notwendig, um die Inte-
(B) weitere rund 5 Milliarden Euro an jährlichen Bürokosten ressen der Bürgerinnen und Bürger und des Staates zu (D)
der Wirtschaft bis 2011 abzubauen, ist zwar ehrgeizig, sichern. Daher haben wir ein Interesse an gut ausgebil-
aber erreichbar. detem und motiviertem Personal in der öffentlichen Ver-
waltung. Das möchte ich ausdrücklich klarstellen. In
Denn nur wenn die Menschen in unserem Land das diesem Sinn begrüßen wir nochmals die Einigung zur
Gefühl haben, dass es den tatsächlichen Willen gibt, Bü- Reform der Arbeitsverwaltung. Eine Zerschlagung der
rokratie auf ein Minimum zu reduzieren, dann wächst Jobcenter hätte Langzeitarbeitslose mit neuen Formula-
auch die Akzeptanz staatlichen Handelns, und zwar auf ren belastet und sie zu unterschiedlichen Stellen ge-
allen Ebenen. schickt. Das verhindern wir nun durch eine Änderung
des Grundgesetzes.
Die Erfahrungen der Vergangenheit, insbesondere im
Hinblick auf das Steuerrecht, haben dazu geführt, dass Noch immer kostet die deutsche Bürokratie die Wirt-
die Unternehmer erhebliche Zweifel daran haben, ob die schaft rund 48 Milliarden Euro. Bis Ende 2011, so das
Politik tatsächlich jemals die Kraft zum spürbaren Büro- Ziel, soll ein Viertel davon abgebaut sein. Die bisher
kratieabbau findet. Aber wir müssen die Kraft dafür fin- untersuchten Informationspflichten machen aber nur
den und dafür aufbringen; denn Bürokratieabbau ist ein 15 Prozent der Bürokratiekosten insgesamt aus. Die ge-
dringend erforderlicher Beitrag zu mehr Wachstum und plante Stärkung des Kontrollrates und die Ausdehnung
Beschäftigung in Deutschland, sozusagen ein Konjunk- seiner Zuständigkeiten ist daher nachvollziehbar. Da
turprogramm zum Nulltarif. Und dieses Potenzial wollen geht der vorliegende Gesetzentwurf in die richtige Rich-
und werden wir nutzen. tung. Eine Ausweitung der Untersuchung über Informa-
tionspflichten hinaus ist richtig. Die Überprüfung von
Gesetzentwürfen gewinnt damit eine neue Qualität. Es
Andrea Wicklein (SPD): Der Abbau von Bürokratie, wird nicht mehr nur unnötige Bürokratie abgebaut, son-
die Unternehmen und Bürger belastet, ist ein wichtiges dern auch eine effektive Verwaltung ermöglicht.
Ziel unserer Wirtschaftspolitik. Wir wollen, dass sich Deutschland nimmt damit eine Vorreiterrolle in Europa
Unternehmer auf die Erreichung ihrer wirtschaftlichen ein.
Ziele konzentrieren, anstatt sich mit dem Ausfüllen von
umständlichen Anträgen beschäftigen zu müssen oder Diese Vorreiterrolle muss Deutschland stärker nutzen.
Berichte zu schreiben. Darin sind wir uns hier sicher alle Bereits mehrfach hat der Normenkontrollrat in seinen
einig. Gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Lage ist es Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass die europäi-
wichtig, unnötige Bremsen in der Wirtschaft zu lösen. sche Ebene in die Anstrengungen zum Bürokratieabbau
Dazu gehört der Abbau von Bürokratie. mit einbezogen werden muss. Bereits die Hälfte aller
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4795

(A) Bürokratiekosten wird in Deutschland durch europäische Ort, an dem Formulare erstellt werden und der eigentli- (C)
Regelungen verursacht. Hier muss die Bundesregierung che Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern stattfin-
in den Gremien der EU aktiver werden und zum Beispiel det. Die Zusammenarbeit mit diesen Stellen ist daher un-
eine Folgekostenabschätzung für alle europäischen abdingbar.
Rechtsakte erreichen.
Wir begrüßen daher die Modellprojekte, die der Nor-
National können wir durch eine Ausdehnung der Be- menkontrollrat in diesem Bereich unternommen hat. Es
fugnisse des Nationalen Normenkontrollrates voran- ging um die Anträge zum Elterngeld, zum Wohngeld
schreiten. Das setzt aber voraus, dass der Normenkon- und zum BAföG. Damit hat der Normenkontrollrat ganz
trollrat auch zu dieser Arbeit befähigt wird. Der direkt den Sinn des Bürokratieabbaus für die Bürgerin-
Gesetzentwurf der Koalition sieht zwar eine Ausdeh- nen und Bürger in den Fokus genommen. Daran sollte er
nung der Mitglieder des Rates auf zehn Personen vor, weiter arbeiten. Er wird so auch zu einem Beratungsgre-
sagt aber nichts über die Mitarbeiterausstattung im Se- mium für untergeordnete Ebenen.
kretariat des Normenkontrollrates. Es wird zu überprü-
fen sein, ob zwei weitere Stellen im Sekretariat ausrei- So wissen wir jetzt, dass das Ausfüllen eines BAföG-
chend sind, um die Aufgaben zu erfüllen. Antrages 335 Minuten dauert, also rund 5½ Stunden.
Dabei halten die Hälfte aller Antragsteller die Formulare
Das Gleiche gilt für den Faktor Zeit. Nur wenn Ge- in Teilen für unverständlich. Die BAföG-Ämter brau-
setzentwürfe rechtzeitig dem Normenkontrollrat zugelei- chen dann mindestens 1½ Monate zur Bearbeitung, in
tet werden, kann er sich überhaupt damit beschäftigen. Grenzfällen sogar ½ Jahr. Da bleibt für den Bürokratie-
Sicher gibt es Ausnahmesituationen, in denen ein abbau viel zu tun! Der Normenkontrollrat hat dazu Vor-
schnelles Handeln des Gesetzgebers unabdingbar ist. schläge zusammengetragen, die sicher eine nähere Be-
Das zeigen Beispiele in den letzten zwei Jahren, als es trachtung wert sind.
um die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ging. Trotz-
dem stellen wir immer wieder fest, dass Gesetzentwürfe Am Ende sind jedoch alle Anstrengungen umsonst,
in nächtlichen Runden endverhandelt werden, die dann wenn aufgrund schlechter Politik ständig neue bürokrati-
eine Stellungnahme des Normenkontrollrates vor der sche Hürden für die Bürgerinnen und Bürger hinzukom-
Einbringung in den Bundestag ausschließen. men. Ein Beispiel ist das sogenannte Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz
Wichtig ist auch, dass die neuen Aufgaben des Nor- für Hotelübernachtungen hat am Ende mehr Bürokratie
menkontrollrates hinreichend definiert werden. Die De- erzeugt, bei den Hotels genauso wie bei den Ämtern.
finition und das Verständnis des Begriffs „Erfüllungsauf- Das kann jeder nachvollziehen, der seit 1. Januar in ei-
wand“, den der Rat ermitteln soll, bedarf der genauen nem Hotel übernachtet hat und dort auch ein Frühstück
(B) Erörterung. Ob die im vorliegenden Gesetzentwurf ge- bestellte. Dieses Beispiel zeigt, dass auch beim Abbau- (D)
fundene Formulierung ausreichend und abschließend ist, ziel von 25 Prozent auf der Basis des Jahres 2006 nicht
muss diskutiert werden. Es wird nicht mehr nur das nur abgeschaffte, sondern auch neue Regelungen in die
Standardkosten-Modell anzuwenden sein, wir brauchen Bilanz einfließen müssen. Außerdem müssen wir selbst
einen neuen Ansatz. In der Schweiz ist unlängst vom beim Formulieren von Gesetzen die damit verbundenen
Schweizerischen Gewerbeverband ein Modell entwi- bürokratischen Belastungen immer mitdenken. In den
ckelt worden. Der Deutsche Bundestag kann jedoch vergangenen Jahren haben wir da einen Bewusstseins-
Stellungnahmen des Normenkontrollrates nur dann in wandel ausgelöst, den wir alle verinnerlichen müssen.
seiner Arbeit berücksichtigen, wenn eindeutig erkennbar
ist, auf welcher Grundlage überprüft wurde.
Frank Schäffler (FDP): Seit 2006 unterstützt der
Geplant ist ebenfalls, Gesetzesvorlagen der Fraktio- Nationale Normenkontrollrat, NKR, die Bundesregie-
nen in die Prüfungen mit einzubeziehen. Das ist eine rung beim Bürokratieabbau. Er hat sich dabei als unab-
konsequente Schlussfolgerung der bisherigen Zielset- hängige und kompetente Institution einen Namen ge-
zung. Die Erfahrungen des Nationalen Normenkontroll- macht und ist allgemein anerkannt. Mit dem vor-
rates sind inzwischen dafür ausreichend. Vorgeschlagen liegenden Gesetzentwurf wollen wir ihn erheblich stär-
wird, dass auf Antrag einer Fraktion – damit auch gegen ken. Er soll künftig nicht mehr nur die Entwürfe der
den Willen der Einbringer – Gesetzentwürfe überprüft Bundesregierung, sondern auch Vorhaben des Bundesra-
werden. Es muss aber sichergestellt werden, dass der tes und aus der Mitte des Bundestages – auf Antrag einer
Normenkontrollrat nicht zu einem Verschiebebahnhof Fraktion – prüfen. Die inhaltlichen Prüfungskompeten-
der Regierungsfraktionen für unliebsame Oppositions- zen des NKR werden durch § 4 Abs. 2 NKRG erweitert.
entwürfe wird. Ebenso sollten die Entscheidungen des Danach kann der NKR beispielsweise die Eins-zu-eins-
Bundesrates in die Bemessung einbezogen werden. Hier Umsetzung von EU-Richtlinien oder Erwägungen zur
sind die Länder gefragt. Befristung und Evaluierung von Gesetzen prüfen.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf bedeutet für uns Wichtig ist dabei jedoch, dass der NKR nach wie vor
nicht das Ende der Anstrengungen zum Bürokratieab- auf eine Plausibilitätsprüfung und die Prüfung der Me-
bau. In seiner Arbeit hat der Normenkontrollrat deutlich thodengerechtigkeit beschränkt ist. Die Ziele und Zwe-
gemacht, dass es sinnvoll erscheint, auch über den Tel- cke der jeweiligen Regelung sind nicht Gegenstand der
lerrand der Gesetzgebung hinaus zu schauen. Der Voll- Kontrolle durch den NKR, sondern unterliegen weiter-
zug der Gesetze bei Ländern, Gemeinden oder Sozial- hin der politischen Entscheidung der Rechtsetzungsor-
verbänden ist ebenso entscheidend. Dort ist nämlich der gane. Das Primat der Politik bleibt selbstverständlich ge-
4796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) wahrt. Der NKR wird in seiner beratenden Rolle Aus Sicht eines Bauunternehmens entstehen aber Kos- (C)
gestärkt, behält aber seine politische Neutralität und Un- ten. Bedeutet dies nach dem hier vorgelegten Gesetz,
abhängigkeit. dass solche Vorschriften unter Bürokratiekosten fallen
oder nicht? Früher kamen Ausländer nach Deutschland
Die christlich-liberale Koalition bekräftigt das Ziel, und lobten die deutsche Infrastruktur, die übrigens eine
die Informationspflichten für die Wirtschaft um 25 Pro- Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg ist. Heute sind
zent abzubauen. Wir wollen aber nun beim Bürokratie- viele Besucher unseres Landes schockiert, wie sehr un-
abbau einen entscheidenden Schritt weitergehen. Bisher sere Straßen, Verkehrsmittel oder Universitäten verlot-
wurden nur die Informationspflichten in den Blick ge- tern. Der Skandal um die Kölner U-Bahn ist nur ein Bei-
nommen. Allerdings begegnet Bürokratie Bürgern und spiel, dass Sie mit Bürokratie nicht die Kosten für die
Unternehmen vielfach auch in anderen Bereichen. Wir Allgemeinheit sondern die Kosten für schlampige Unter-
wollen den Ansatz deshalb ausweiten und mit dem Er- nehmen meinen. Damit benachteiligen Sie auch jene Be-
füllungsaufwand den gesamten messbaren Zeitaufwand triebe, die auf hohem Niveau arbeiten.
und die Kosten, die durch die Befolgung einer bundes-
rechtlichen Vorschrift entstehen, darstellen. Der Bürokratieabbau der Bundesregierung ging im-
Auch Vertragspflichten zwischen Privaten werden mer mit dem Abbau der Qualität amtlicher Statistiken,
künftig einbezogen. Dabei werden solche Erklärungen, mit geringeren Umweltstandards oder Datenschutz ein-
die für das Vertragsverhältnis grundlegend sind, also bei- her. Ich habe von Ihnen auch noch nie etwas zu der un-
spielsweise Angebot und Annahme oder eine Kündigung säglichen Bürokratie gehört, die Sie etwa Menschen
eines Vertrages, nicht einbezogen. Berücksichtigt wer- zumuten, die ihre Arbeit verloren haben und zur Arbeits-
den aber jene von den Bürgern als Bürokratie empfunde- agentur müssen. Das alles verstecken Sie hinter nebulö-
nen Informationspflichten wie beispielsweise Warnhin- sen Konzepten wie der Standardkostenmessung.
weise oder Begründungspflichten. Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher nur die
Die sich aus den Stellungnahmen des NKR ergebende 100. Fortsetzung einer schlechten Seifenoper. Jedes Jahr
umfassende Kenntnis der Folgen, die ein Gesetz für die fällt den Arbeitgeberverbänden etwas Neues ein, was ih-
Betroffenen hat, erleichtert dem Gesetzgeber eine be- nen das Leben schwer macht. Und jedes Mal legt die
wusste und verantwortungsvolle Entscheidung bei der Bundesregierung einen neuen Gesetzentwurf vor, der
Rechtsetzung und leistet somit einen wichtigen Beitrag nichts anderes ist als der Wunschzettel der Arbeitgeber-
zur besseren Rechtsetzung. Bürokratieabbau und bessere verbände in Form einer Bundestagsdrucksache. Ihnen
Rechtsetzung wirken wie ein Wachstumsprogramm zum geht es beim Bürokratieabbau nur darum, Gesetze der
Nulltarif. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, wollen Politik, die den Lobbyisten nicht schmecken, den Stem-
(B) CDU/CSU und FDP dieses Potenzial nutzen. pel bürokratisch zu verpassen. Daran ändert auch das (D)
Lippenbekenntnis nichts, dass es sich hierbei nicht um
einen Eingriff in die Politik, sondern nur um die Bewer-
Michael Schlecht (DIE LINKE): Keine Bundesre-
tung von Bürokratiekosten handelt.
gierung der Nachkriegszeit hat die Wirtschaft so an die
Wand gefahren. Um das wirtschaftliche Desaster perfekt Die Praxis zeigt etwas anderes: In der Modellregion
zu machen, lassen Sie mitten in der Krise die Bevölke- zum Bürokratieabbau Ostwestfalen-Lippe stiegen Um-
rung das radikalste Sparprogramm der Nachkriegsge- weltverbände und Gewerkschaften aus dem Projekt aus.
schichte bezahlen. Dies wird die Inlandsnachfrage Ihr Vorwurf lautet: Unter dem Deckmantel des Bürokra-
abwürgen und insbesondere den Mittelstand in Deutsch- tieabbaus wird der Naturschutz demontiert und einseitig
land treffen. Alles, was ihnen zu Wirtschaft noch ein- Politik für die Wirtschaft gemacht, nämlich auf Kosten
fällt, sind daher Sonntagsreden über Bürokratieabbau. der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer
Sie konnten bislang nicht einmal nachweisen, dass die Rechte.
bisherigen Befugnisse des Normenkontrollrates einen
wesentlichen Beitrag zur Effizienz der Gesetzgebung Ich habe daher einen ganz praktischen Vorschlag: Vor
oder der Belebung der Wirtschaft geleistet haben. Der drei Jahren versorgten Sie Edmund Stoiber mit einem
Normenkontrollrat soll zukünftig nicht nur die Kosten Job in Brüssel. Er ist dort ehrenamtlicher Leiter einer
der Informationspflichten durch Gesetze überprüfen, Arbeitsgruppe zum Bürokratieabbau. Ich würde gerne
sondern die Kosten des Vollzugs. Außerdem sollen nicht wissen, was er dort eigentlich macht und wie viel Ton-
nur Gesetzesvorlagen der Bundesregierung, sondern nen Papier und Geld mit dieser Arbeitsgruppe verbrannt
auch des Bundesrates bzw. des Bundestages überprüft wurde? Das wäre doch einmal eine schöne Aufgabe für
werden. So weit, so gut. Die Linke unterstützt selbstver- den Normenkontrollrat.
ständlich effiziente Gesetze, die keine sinnlosen Kosten
verursachen.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Problem ist, was Sie unter Bürokratie verstehen. Zunächst einmal begrüße ich es sehr, dass endlich ein
Dazu reicht ein Blick in das Steuerkonzept der FDP. Die Gesetzentwurf vorgelegt wird, den wir im Wirtschafts-
FDP will ihre Steuergeschenke für Besserverdiener etwa ausschuss federführend beraten können. Daran herrscht
durch die Senkung der Standards beim Straßenbau finan- nämlich Mangelware, seit Rainer Brüderle als Bundes-
zieren. Das hätte sich Berlusconi nicht besser ausdenken wirtschaftsminister im Amt ist. Und ich freue mich, dass
können. Viele Länder beneiden uns um Bauvorschriften Schwarz-Gelb erste Vorbereitungen macht, um Bürokra-
zur Wärmedämmung. Damit wird viel Energie gespart. tie abzubauen, wie im Koalitionsvertrag versprochen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4797

(A) Leider war es das auch schon mit der Freude, denn der Etappenziel auf dem Weg zur angestrebten Netto-Entlas- (C)
Gesetzentwurf bleibt leider auf halbem Wege stehen. tung der Wirtschaft um 25 Prozent bis Ende 2011 im Ver-
gleich zu 2006 erreicht. Dabei geht es aber nur um die In-
Union und FDP lassen die Chance verstreichen, den formationspflichten, keineswegs um die tatsächlichen
Normenkontrollrat viel stärker in den Dienst der Abge- Bürokratiekosten, die zum Beispiel durch Behörden-
ordneten zu stellen. Das ist sehr bedauerlich. Denn was gänge, Genehmigungs- und Zertifizierungsverfahren aus-
nutzt es, wenn die Fraktionen den Normenkontrollrat zu gelöst werden. Hier sollte nicht weiter Zeit vertan wer-
einer Stellungnahme auffordern können, diese Stellung- den. Zum Beispiel sollten die Ministerien bei ihren
nahme aber im Zweifel erst erfolgt, wenn das Gesetzge- Vorschlägen zum Bürokratieabbau, die sie bis zum 1. Juli
bungsverfahren abgeschlossen ist? Das ist ein Placebo, vorlegen müssen, bereits auf die Reduzierung des gesam-
und ich hoffe, dass wir hier im Ausschuss noch eine bes- ten Erfüllungsaufwands abzielen.
sere Lösung finden werden. Es sollte die Regel und nicht
die Ausnahme sein, dass der Normenkontrollrat eine ab- Dieser Gesetzentwurf schafft einen Rahmen, um den
schließende Stellungnahme abgibt, bevor ein Gesetzge- Bürokratieabbau voranzubringen. Die konkreten Maß-
bungsverfahren abgeschlossen wird. nahmen müssen folgen. Hier bleibt die Regierung in einer
Bringschuld. Nötig wäre ein umfassendes Bürokratieab-
Ganz ähnlich ist es mit dem Nettoziel zum Bürokra- bauprogramm, das unnötige bürokratische Belastungen
tieabbau. Die Regierung hat sich in ihrem 2009er Be- aus allen geltenden gesetzlichen Regelungen zusammen-
richt zum Stand des Bürokratieabbaus zum Nettoziel be- stellt und Vorschläge zum Abbau entwickelt. Fakt ist
kannt, und das haben wir auch sehr begrüßt. Die kleinen auch, dass die Bundesebene allein keinen Erfolg haben
und mittleren Unternehmen haben nichts davon, wenn wird, die Bürokratielasten entscheidend abzubauen. Wir
wir hier im Bundestag an der einen Stelle unnütze Belas- brauchen eine gemeinsame Initiative von Bund, Ländern
tungen streichen, aber an anderer Stelle doppelt und und Kommunen. Bürokratieabbau muss von einer politi-
dreifach neue Pflichten aufbauen. Das zeigt sich zum schen Floskel zu einem verbindlichen Ziel werden. Denn
Beispiel bei dem missglückten Reparaturversuch für die weniger Bürokratie ist ein langfristig wirksames Kon-
Sofortabschreibungen für geringwertige Wirtschaftgüter. junkturprogramm, das zudem wenig kostet. Die Ministe-
Da steht jetzt zwar wieder die alte Wertgrenze von rien sollten deshalb für jedes Jahr verbindliche Bürokra-
410 Euro drin, aber daneben existiert ein Wahlrecht für tieabbauziele für ihr Haus formulieren, und die Minister
die vorherige Sammelpostenregelung. Das ist alles sehr sollten jährlich mit den Haushaltsberatungen im Deut-
kompliziert und unnötig aufwendig für die Unterneh- schen Bundestag und seinen Ausschüssen zur Einlösung
men. Oder auch die Steuerermäßigung für Hoteliers und dieser Ziele sowie zu den Zielen des Folgejahres Rede
das dann folgende Hickhack mit getrennter Abrechnung und Antwort stehen.
(B) von Übernachtung und Frühstück und so weiter. (D)
Das Nettoprinzip für den Bürokratieabbau macht also
durchaus Sinn. Allerdings steht im Gesetzentwurf von Anlage 5
Schwarz-Gelb von einem Nettoziel nichts drin. Dieses Zu Protokoll gegebene Reden
Nettoziel sollten wir unbedingt noch in die Berichts-
pflichten der Bundesregierung hineinschreiben. Damit zur Beratung des Antrags: Unsere Meere brau-
wäre gesichert, dass künftig entlastende und belastende chen Schutz (Tagesordnungspunkt 18)
Maßnahmen im Jahresbericht der Bundesregierung zum
Bürokratieabbau gegenübergestellt werden. Wir hätten Ingbert Liebing (CDU/CSU): Täglich erschüttern
endlich ein klares Bild, wie sich die Bürokratielasten tat- uns die Nachrichten und Bilder von der Ölkatastrophe
sächlich entwickeln. Ich bin mir sicher, wir werden uns vor der Südküste der USA. So erfährt derzeit ein Thema
die Augen reiben, wie wenig sich im Saldo bisher verän- eine hohe Aufmerksamkeit: der Schutz der Meere, ein
dert hat. wichtiges Anliegen. Die Berichte, die uns tagtäglich aus
Für die Bürgerinnen und Bürger, für Selbstständige dem Golf von Mexiko erreichen, machen deutlich, welch
und Mittelständler geht es darum, dass Bürokratieabbau gravierenden Einfluss menschliche Aktivitäten auf das
für sie wirklich spürbar wird. Bisher ist diese Spürbarkeit marine Ökosystem haben können und wie wichtig ein ef-
aber eher gering. Das hat auch der Normenkontrollrat be- fektiver Schutz der Meere ist. Auf schmerzliche Art und
reits angemahnt. Deshalb sehe ich es als großen Fort- Weise werden wir daran erinnert, wie groß die Bedeu-
schritt an, dass wir Abgeordneten künftig mit dem ge- tung der Ozeane und Meere für unser tägliches Leben
samten Erfüllungsaufwand konfrontiert werden, den die ist.
Vorschläge der Bundesregierung, der Länder und auch Zwar wurde dem Meeresschutz in den vergangenen
Vorschläge aus der Mitte des Bundestages heraus für die Jahren auf verschiedenen Ebenen verstärkt Rechnung
Bürger und für die Unternehmen auslösen. An diesem getragen. Es wurde bereits viel Gutes erreicht, dennoch
gesamten Erfüllungsaufwand sollten dann aber auch die geben wir uns mit dem bisher Erzielten noch nicht zu-
Bürokratieabbauziele gemessen werden. Ansonsten er- frieden. Noch lange nicht wurden alle Probleme einer
gibt sich ein falsches Bild: Im letzten Bericht hat sich die zufriedenstellenden Lösung zugeführt.
Regierung nämlich noch gefeiert, dass sie bis Ende 2009
die Bürokratiekosten der Wirtschaft aus Informations- Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass der
pflichten von 47,6 Milliarden Euro pro Jahr bereits um vorliegende Antrag der SPD-Fraktion eine wahllose An-
rund 6,6 Milliarden Euro abgebaut habe. Damit wäre das einanderreihung meerespolitischer Aspekte darstellt. Ein
4798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) umfängliches Sammelsurium, ohne jede Form der Prio- stellt dabei ein Kriterium dar („Die Eigenschaft und (C)
risierung. Teilweise werden nur Themen benannt, aber Mengen der Abfälle im Meer haben keine schädliche
keine Lösungen. Zudem lässt er wesentliche Bereiche Auswirkungen auf die Küsten- und Meeresumwelt“) –
ganz aus, zum Beispiel die Auswirkungen der illegalen neben zehn weiteren. Der vorliegende Antrag, der in Be-
Fischerei, Fragen der in Nord- und Ostsee versenkten zug auf die MSRL ausschließlich von Müll spricht,
Munition oder Wechselwirkung von Schifffahrt und greift somit zu kurz und wird dem umfassenden Ansatz
Meeresumwelt. Ihr Antrag benennt ein wichtiges der MSRL in keiner Weise gerecht.
Thema, ist aber mit ganz heißer Nadel gestrickt.
Drittens. Vermüllung der Meere. Die Vermüllung der
Erstaunlich finde ich auch die Forderungen der SPD, Meere bringt mich zu meinem dritten Punkt. Mit Blick
wofür sich die Bundesregierung alles verstärkt einsetzen auf die Forderung in Ziffer 6, die Bundesregierung möge
soll. Wo waren Sie denn in den vergangenen elf Regie- sich stärker auf europäischer und internationaler Ebene
rungsjahren, Ihr SPD-Umweltminister in den vergange- dafür einsetzen, dass der Eintrag gefährlicher und radio-
nen vier Jahren? Im Grunde ist Ihr Antrag eine schal- aktiver Stoffe, von Nährstoffen und Abfällen so weit wie
lende Ohrfeige für Gabriel, wenn so viel zu kritisieren möglich gesenkt wird, bitte ich Folgendes zu beachten:
und so wenig zu loben ist. Dabei ist doch auch viel Gutes Deutschland ist seit den 1970er-Jahren Mitglied der
auf dem Weg. HELCOM (Ostsee) und der OSPAR (Nordsee und des
Nordostatlantiks). Das bedeutet, dass sich unser Land im
Gerne möchte ich drei Forderungen aus Ihrem Antrag Rahmen regionaler Kooperationen bereits seit vielen
exemplarisch herausgreifen: Jahren intensiv dieser Problematik widmet. Dieser regio-
Erstens. Meeresschutzgebiete. Im Bereich der Mee- nale Ansatz ist deshalb so wichtig, da Lösungen am bes-
resschutzgebiete ist Deutschland Vorreiter. Im Jahr 2010, ten dort entwickelt und am effektivsten umgesetzt wer-
das durch die Generalversammlung der Vereinten Natio- den, wo die Probleme entstehen.
nen zum „Internationalen Jahr der biologischen Vielfalt“ Beim Thema „Vermüllung der Meere“ helfen aber
ausgerufen wurde, erfüllt die Ostseeregion als erste Überdramatisierungen nicht weiter. Plastik und anderer
Meeresregion weltweit die Zielvorgabe der UN-Konven- Müll in den Meeren ist ein Problem, aber wenn gerade in
tion zur Biologischen Vielfalt. Sie ist weltweit die erste den vergangenen Tagen Meldungen durch die Medien
Meeresregion, die es geschafft hat, mindestens 10 Pro- geisterten, allein die Reinigung des sieben Kilometer
zent der Meeresfläche als Meeresschutzgebiete vorwei- langen Strandes von Westerland auf Sylt erbringe täglich
sen zu können. Innerhalb des deutschen Ostseegebietes bis zu zwei Tonnen Müll, jährlich 23 000 Müllsäcke,
sind sogar mehr als 35 Prozent als Meeresschutzgebiete dann muss man sich dies schon etwas genauer ansehen.
ausgewiesen. Das ist vor allem die Menge Müll, die die Strandbesu-
(B) (D)
Die Deutsche Nationale Meeresstrategie setzt klare cher hinterlassen – unter anderem in Müllbehältern, wie
Akzente für eine integrierte Meeresschutzpolitik und bil- es sich gehört. Müll aus dem Meer wird zwar nicht sepa-
det eine wesentliche Grundlage für die Mitwirkung auf rat erfasst, aber dürfte örtlichen Schätzungen zufolge
regionaler und europäischer Ebene. Nicht zuletzt be- vielleicht gerade 1 Prozent umfassen. Wenn das UBA
treibt Deutschland im Rahmen von OSPAR die Identifi- mit diesen argumentiert, aber den Eindruck erweckt, es
zierung und Ausweisung von Meeresschutzgebieten im gehe um Müll aus dem Meer, wird dies also den Fakten
Nordostatlantik auf hoher See. Diese Liste ließe sich be- nicht gerecht. Dem Thema helfen wir mit solchen Dis-
liebig fortsetzen, aber schon jetzt ist deutlich geworden: kussionen nicht weiter.
Im Bereich der Meeresschutzgebiete hat Deutschland Dabei gibt es natürlich auch an den Stränden Pro-
eindeutige Erfolge vorzuweisen. bleme mit Müll aus dem Meer. Ich nenne immer wieder
vorkommende Anlandungen von Öl aus illegaler Öl-Wä-
Aber es geht nicht nur um die Ausweisung von Mee-
sche auf dem Meer, oder das Paraffin-Problem: kein
resschutzgebieten, sondern viel wichtiger sind die kon-
schädlicher Stoff, aber ein Stoff, der eben nicht an die
kreten Rechtsetzungen, was in diesen Schutzgebieten
Strände gehört und deshalb von den Kommunen teuer
künftig erlaubt und was verboten sein soll. Es geht um
entsorgt werden muss.
konkrete Maßnahmenprogramme. Dafür war gerade im
vergangenen Monat die HELCOM-Konferenz in Mos- Insgesamt zeichnet der Antrag ein falsches Bild, denn
kau ein wichtiger Fortschritt für die Ostsee. er zeichnet ein Bild deutscher Passivität mit Blick auf
den Meeresschutz. Wir sollten es aber vermeiden, den
Zweitens. Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL). Eindruck zu erwecken, als dass alles schlecht sei und
Das Ziel der MSRL, die am 15. Juli 2008 in Kraft trat, ist bislang nichts substanziell Gutes erreicht worden sei. Ich
es, Meeresschutz und Meeresnutzung in eine Balance zu habe anhand einiger ausgewählter Beispiele deutlich ge-
bringen. Der integrative Politikansatz, der der Richtlinie macht, dass dem Schutz der Meere in den vergangenen
zugrunde liegt, dient dem Schutz des marinen Ökosys- Jahren verstärkt Rechnung getragen wurde. Auch in Zu-
tems als Ganzes. Dies schließt die biologische Vielfalt kunft werden wir weiter dafür sorgen, dass den Meeren
und die Meeresschutzgebiete als Unterpunkte ein. Priori- die Aufmerksamkeit zuteilwird, die sie um ihrer selbst
täres Ziel der Richtlinie ist es, bis 2020 einen guten Um- Willen verdienen, aber die wir ihnen auch aus Eigeninte-
weltzustand der europäischen Meere zu erreichen. Dazu resse zukommen lassen müssen.
hat die Richtlinie im Anhang I elf qualitative Deskripto-
ren entwickelt, die den Zustand bzw. die Gesundheit der Diese Absicht möchte ich mit einem Beispiel unter-
Meere messen sollen. Der Eintrag von Müll in die Meere streichen, das aktueller nicht sein könnte: Es erfüllt mich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4799

(A) mit großer Freude, dass es uns anlässlich der aktuellen Ihrem Antrag geforderten Punkte befinden sich bereits in (C)
internationalen Verhandlungen zur Zukunft der IWC am Umsetzung. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir im
heutigen Tag gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden Meeresschutz noch viel erreichen müssen. Unterstützen
Antrag für die Fortsetzung und Verbesserung eines kon- Sie deshalb den Bundesumweltminister bei der Umset-
sequenten Walschutzes zu verabschieden. Das ist ein zung seiner Pläne zum internationalen Meeresschutz und
starkes Votum des Deutschen Bundestages für den bei der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie.
Schutz der großen Meeressäuger, ein wichtiger Beitrag
zum Meeresschutz.
Frank Schwabe (SPD): Wir haben als SPD-Bundes-
tagsfraktion diese Debatte nicht zufällig für heute bean-
Josef Göppel (CDU/CSU): Der Antrag „Unsere tragt. Denn heute ist der Weltozeantag und es ist wichtig,
Meere brauchen Schutz“ fasst die Vorschläge zum Mee- dass heute diese Debatte zum Thema Meere und deren
resschutz zusammen. Viele bekannte Probleme werden Schutz geführt wird. Den Weltozeantag gibt es nun
in der Tat richtig angesprochen; die Dinge müssen den- schon seit einigen Jahren, seit letztem Jahr ist er offiziell
noch im Einzelnen abgearbeitet werden. von der UN anerkannt. Der diesjährige Tag der Ozeane
steht unter dem Motto „Unsere Ozeane: Möglichkeiten
Ihr Antrag folgt im Wesentlichen der Rede von Bun- und Herausforderungen“.
desminister Röttgen zum Meeresschutz vom 12. Mai
dieses Jahres. Ich darf den Bundesumweltminister zitie- Wie wichtig die Meere sind, erschließt sich mit einem
ren: „Die Meere sind ein kostbares Naturerbe. Sie bilden Blick, wenn man unseren Planeten aus dem Weltall be-
die größten zusammenhängenden Ökosysteme der Erde. trachtet. Wir leben auf dem Blauen Planeten. Die Meere
99 Prozent des Lebensraumes, den unser Planet zur Ver- bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche, bieten volumen-
fügung stellt, ist hier angesiedelt. Es ist deshalb unser ur- mäßig 99 Prozent des Lebensraumes auf dem Planeten
eigenes Interesse, biologische Vielfalt und dynamische und stellen somit das größte Ökosystem dar. Die Meere
Meeresökosysteme in einem sicheren, sauberen, gesun- sind Ursprung allen Lebens, sie sind Regulator für das
den und produktiven Zustand zu erhalten.“ Um die Viel- Klima unserer Erde, sie bergen gewaltige Energieres-
falt der Meeresökosysteme und ihren Artenreichtum zu sourcen und sind eine wichtige Nahrungsquelle. Die
erhalten und zu sichern, haben die Europäische Union Meere sind ein kostbares Naturerbe. Sie bilden die größ-
und die Bundesregierung bereits gehandelt. Seit dem ten zusammenhängenden Ökosysteme der Erde.
15. Juli 2008 ist die Europäische Meeresstrategie-Rah-
menrichtlinie 2008/56/EG, MSRL, in Kraft. Ziel der Der Schutz der Meere ist deshalb besonders wichtig.
Richtlinie ist es, den Meeresschutz und die Meeresnut- Lange Zeit wurden die Meere in einem Irrglauben an die
zung in eine Balance zu bringen. Bis zum Jahr 2020 soll Unerschöpflichkeit der Ressourcen und eine grenzenlose
(B)
damit ein „guter Umweltzustand“ der europäischen Regenerationsfähigkeit genutzt. Die Folgen dieses Han- (D)
Meere erreicht werden. dels wurden viel zu spät erkannt. Heute drohen ökologi-
sche Risiken und negative Auswirkungen auf die Meeres-
Am 1. Oktober 2008 hat die Bundesregierung die umwelt. In nur wenigen Jahrzehnten hat der Mensch es
„Nationale Strategie für die nachhaltige Nutzung und geschafft, die ältesten Lebensräume unseres Planeten bis
den Schutz der Meere“, kurz „Nationale Meeresstrate- an die Belastungsgrenze und darüber hinaus auszubeu-
gie“, beschlossen. Damit wird die Europäische Richtli- ten. Der faszinierenden Vielfalt der Ozeane droht die
nie in deutsches Recht umgesetzt. Für den Schutz der Vernichtung. Damit wird aber auch gleichzeitig die Nut-
biologischen Vielfalt der Meere soll bis 2012 ein welt- zung der Meere durch den Menschen beeinträchtigt.
weites Netz von Meeresschutzgebieten geschaffen wer- Meeresumweltschutz dient also auf der einen Seite dazu,
den. Deutschland wird zu diesem Ziel 10 000 Quadratki- Schädigungen des Ökosystems Meer zu verhindern und
lometer ausgewiesener Natura-2000-Gebiete beisteuern. gleichzeitig das Potenzial für seine nachhaltige Nutzung
Zurzeit werden im Bundesumweltministerium die not- zu sichern. Dieses Ziel kann am besten durch die Inte-
wendigen Schutzverordnungen und die Bewirtschaf- gration meeresschutzrelevanter Aspekte in andere Poli-
tungspläne erarbeitet, um die Nachhaltigkeit sicherzu- tikbereiche wie Fischerei, Landwirtschaft, Industrie,
stellen. Verkehr usw. erreicht werden.
Das Wattenmeer, das zum Großteil im vergangenen Deshalb sprechen wir in unserem Antrag verschie-
Jahr in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufge- denste Aspekte an. Einen anderen Aspekt haben wir vor
nommen wurde, ist eines der größten Feuchtgebiete der einigen Stunden schon besprochen, deshalb möchte ich
Erde und ein einzigartiger Lebensraum. Hier kooperie- den Schutz der Wale nur kurz anreißen. Es ist gut, dass
ren wir bereits jetzt erfolgreich und grenzüberschreitend sich der Deutsche Bundestag geschlossen für einen kon-
mit unseren Nachbarstaaten. sequenten Schutz von Walen ausgesprochen hat. Somit
Auch im Punkt Klimaschutz möchte ich Herrn haben wir der Bundesregierung für die Verhandlungen in
Röttgen zitieren, der sagt: „Klimaschutz bedeutet Mee- Agadir in Marokko den Rücken gestärkt. Obwohl von
resschutz. Aber es gilt auch: Meeresschutz bedeutet Kli- großer Bedeutung ist, dass sich die Internationale Wal-
maschutz.“ fangkommission – IWC – auf ein Verbot von Walfang
einigen wird, dürfen wir jedoch nicht aus den Augen
Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit, verlieren, dass der Bestand der Wale nicht nur durch
zum Schutz der Meere aktiv zu handeln. Sie sehen, der rücksichtslose Jagd massiv gefährdet wurde und immer
vorliegende Antrag rennt offene Türen ein. Viele der in noch gefährdet ist. Neben dem Walfang werden die
4800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) größten Säugetiere unserer Erde durch viele Gefahren chern und damit der Erderwärmung entgegenwirken. (C)
bedroht. Dabei spielt die Verschmutzung der Umwelt Seit Beginn der Industrialisierung haben sie bereits so
eine große Rolle wie beispielsweise Belastungen mit viel Kohlendioxid aufgenommen, dass der Säuregrad
Dauergiften. des Wassers um 30 Prozent angestiegen ist. Bis 2100
wird er voraussichtlich um weitere 100 Prozent wach-
Die Auswirkungen chemischer Verschmutzung auf sen, falls der CO2-Ausstoß in seiner derzeitigen Höhe
Wale und Delfine gehen von direkten Vergiftungen bis fortgesetzt wird. Konsequenzen hat das vor allem für
hin zur Beeinträchtigung und Zerstörung wichtiger Le- kalkbildende Organismen wie Muscheln, Schnecken,
bensräume. Langlebige organische Verbindungen wie Seeigel, Kalkalgen oder kalkhaltiges Plankton.
zum Beispiel Pestizide, etwa DDT, oder Industriechemi-
kalien wie die Polychlorierten Biphenyle gelangen in die Die Folgen der Versauerung der Weltmeere gehören
marine Umwelt und reichern sich bis zum Ende der Nah- jedoch zu den bislang noch am wenigsten erforschten
rungskette an. Und wer steht am Ende der Nahrungs- Klimaproblemen. Für den Schutz der Arktis sind jedoch
kette? Es sind die Wale und Delfine. In einigen Gebieten nicht nur Maßnahmen gegen den Klimawandel notwen-
der Welt sind die an den Strand gespülten toten Körper dig. Wir brauchen einen internationalen Vertrag zum
von Walen und Delfinen so stark kontaminiert, dass sie Schutz der Arktis nach dem Vorbild des Antarktisvertra-
als Giftmüll gesondert entsorgt werden müssen. Aber ges. Um die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhin-
auch der Klimawandel, militärische Sonare und der dern, muss sich die Bundesregierung nachdrücklich und
zehntausendfache Tod der Wale als sinnloser Beifang in unverzüglich für ein Moratorium einsetzen mit dem Ziel,
den Netzen der Weltfischerei stellen das Überleben der sämtliche Gebietsansprüche oder sonstigen Ansprüche
Meeressäuger infrage. Um die Wale umfassend zu schüt- im Hinblick auf die arktischen Ressourcen bis zu einem
zen, müssen wir gleichzeitig auch stärker ihren Lebens- endgültigen Schutzabkommen zurückzustellen.
raum schützen. Womit wir wieder beim Thema unseres
Antrags wären. Die Arktis und ihr Schutz sind keine Themen, die es
auf die Titelseiten der Zeitungen schaffen. Sie sind je-
In zunehmenden Maße wächst die Bedrohung der doch genauso wichtige Themen wie die Verschmutzung
Meere durch den Klimawandel. Die Folgen des Klima- der Meere durch Öl. Natürlich haben wir in unserem An-
wandels werden voraussichtlich immens sein. Wenn die trag auch die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko ange-
globale Erwärmung nicht auf unter zwei Grad Celsius sprochen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für
begrenzt wird, drohen ganze marine Ökosysteme zu ver- ein Moratorium für Öl-Tiefseebohrungen einzusetzen,
schwinden. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen solange die Technologien noch nicht verfügbar sind, um
auf, dass der Klimawandel große Veränderungen und auftretende Unfälle zu beherrschen. Auch haben wir das
Schäden für die Meeresumwelt und die Küsten verursa- Problem der Meeresverschmutzung durch Produktions- (D)
(B)
chen wird, die erhebliche Folgen für den Menschen ha- wasser der Bohrplattformen angesprochen. Die Bundes-
ben dürften. Die Oberflächenschichten erwärmen sich, regierung muss sich auf europäischer und internationaler
der Meeresspiegel steigt immer rascher an, die Meere Ebene dafür einzusetzen, dass beim Betrieb von Ölplatt-
versauern zunehmend und die Meeresökosysteme sind formen die Techniken zur Reinigung der Produktions-
bedroht. Die Menschheit ist dabei, Prozesse im Meer an- wasser verbessert werden. Der Haupteintrag von Öl in
zustoßen, die in den letzten Jahrmillionen ohne Beispiel die Meere durch Ölplattformen erfolgt nicht durch spek-
sind, gleichzeitig aber wegen der erheblichen geophysi- takuläre Unfälle, sondern durch den täglichen Betrieb
kalischen Verzögerungseffekte den Zustand der Welt- auf den Ölplattformen. Um diesen Eintrag zu vermin-
meere für Jahrtausende bestimmen werden. Damit greift dern, ist beim Betrieb der Ölplattformen darauf hinzuar-
der Mensch an entscheidender Stelle in die Funktions- beiten, dass der Ölanteil im Produktionswasser weiter
weise des Erdsystems ein, wobei viele Folgen noch nicht abgesenkt wird, bis eine Produktionsweise erreicht wird,
genau vorhersehbar sind. Deshalb ist Klimaschutz für bei der keinerlei umweltbelastende Stoffe mehr in die
den Schutz und Erhalt des Lebens in den Meeren unab- Umwelt abgegeben werden.
dingbar. Wir brauchen möglichst schnell ein Kioto-An-
schlussabkommen, das Minderungsverpflichtungen ent- Auch fragen wir an, ob denn alles getan wird, damit
hält, mit denen das Zwei-Grad-Ziel erreicht werden sich so ein schrecklicher Unfall, wie wir ihn gerade im
kann. Golf von Mexiko erleben, nicht vor der deutschen Küste
ereignen kann. Und sollte doch so ein Unfall passieren,
Um den Umfang und die Konsequenzen des Klima- ob das Unfall- und Katastrophenmanagement gegen Öl-
wandels auf die maritime Umwelt zu untersuchen, star- unfälle effektiv genug gestaltet ist und alle denkbaren
tete das Forschungsschiff „Polarstern“ gestern eine vier- Gefahrenlagen umfasst.
monatige Reise in arktische Gewässer. Die Erwärmung
und Versauerung der Meere sowie ein deutlicher Anstieg Wenn wir heute über den Schutz der Meere reden, so
des Meeresspiegels sind heute bereits messbar. Auch die muss auch der Schutz der marinen Artenvielfalt im Zen-
Umweltschutzorganisation Greenpeace ist mit ihrem trum stehen. Die Vereinten Nationen haben 2010 als In-
Schiff „Esperanza“ unterwegs im hohen Norden. Wis- ternationales Jahr der biologischen Vielfalt ausgerufen.
senschaftler sollen für Greenpeace untersuchen, wie sich Diese Proklamation dient dazu, das Thema biologische
die Eisschmelze und die Ozeanversauerung in der emp- Vielfalt mit seinen vielen Facetten weltweit stärker ins
findlichen Polarregion auswirken. Hintergrund dieser öffentliche Bewusstsein zu rücken. Zurzeit schwindet
Untersuchungen ist, dass die Ozeane einen großen Teil die biologische Vielfalt weltweit in einer Geschwindig-
des von Menschen verursachten Kohlendioxids spei- keit, wie sie in der Geschichte vorher nicht beobachtet
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4801

(A) wurde. Die aktuelle Rate des globalen Artensterbens Auf europäischer Ebene gilt seit 2008 die Meeresstra- (C)
übersteigt die angenommene natürliche Aussterberate tegie-Rahmenrichtlinie, die den Ordnungsrahmen für die
um das 100- bis 1 000-fache. Nach Daten der Weltnatur- notwendigen Maßnahmen für alle EU-Mitglieder
schutzorganisation IUCN sind derzeit weltweit mehr als schafft. Bis 2020 soll ein „guter Zustand der Meeresum-
16 000 Arten vom Aussterben bedroht, darunter etwa ein welt“ in allen europäischen Meeren erreicht bzw. erhal-
Viertel aller Säugetiere, ein Drittel aller Amphibienarten ten werden. Hier existiert schon einmal eine Strategie,
und 12 Prozent der Vogelarten. Bei den Ökosystemen die den Schutz des Meeres vorantreibt. Sie legt den Öko-
zeigt sich ein ähnliches Bild: Karibische Korallenriffe systemansatz zugrunde und wählt den integrativen Poli-
sind bereits zu 80 Prozent zerstört, 35 Prozent aller Man- tikansatz.
groven wurden innerhalb der letzten 20 Jahre vernichtet.
Die Vertragsstaaten der Konvention über die Biologi-
Nach Angaben der Sachverständigenrates der Bun- sche Vielfalt, CBD, haben bereits 2004 das Ziel formu-
desregierung gelten 88 Prozent der Fischbestände in den liert, bis 2012 ein Netzwerk von Meeres- und Küsten-
europäischen Meeren als übernutzt, 30 Prozent der Be- schutzgebieten einzurichten. Auf der Landfläche der
stände als bedroht. Deshalb ist es von höchster Wichtig- Erde sind derzeit etwa 10 Prozent unter besonderen
keit, dass ein globales Netzwerk von Meeresschutzge- Schutz gestellt. Bei den Meeren sind es weltweit nur
bieten durch das UN-Übereinkommen über Biologische 0,5 Prozent. Daher bin ich ganz auf Ihrer Seite, dass der
Vielfalt, CBD, geschaffen wird. Meeresschutzgebiete Natur auch hier die notwendigen Schutzräume einzuräu-
sind Gebiete, in denen die wirtschaftlichen Nutzungsin- men sind. Deutschland ist auf einem guten Weg, da wir
teressen aufeinander abgestimmt sind und ihre Ausbrei- bereits etwa 10 000 Quadratkilometer als Natura-2000-
tung dem Schutzauftrag entsprechend begrenzt wird. Gebiete ausgewiesen haben.
Dazu gehören Fischerei, Öl- und Gasförderung sowie
Sand- und Kiesabbau. Meeresschutzgebiete sind ein Wir werden uns für den Aufbau eines globalen Sys-
Schlüsselinstrument gegen den Verlust der marinen Ar- tems von Meeresschutzgebieten gerade im Hinblick auf
tenvielfalt und für den Schutz der Meere und ihrer Be- die 10. Vertragsstaatenkonferenz in Nagoya/Japan ein-
wohner. In Meeresschutzgebieten können sich über- setzen. Momentan haben wir noch den Vorsitz der Kon-
fischte Bestände erholen, und die Fischerei profitiert von ferenz.
wachsenden Populationen. Ein effektives Netzwerk von Die Forderung der Einrichtung eines weltweiten Net-
Meeresschutzgebieten muss groß genug sein, um Arten zes von Meeresschutzgebieten haben wir ausdrücklich
und ökologische Prozesse nachhaltig zu sichern und zu im Koalitionsvertrag festgehalten. Wir setzen uns gerade
erhalten. Wichtig dabei ist auch eine wirkungsvolle und im Jahr der Biologischen Vielfalt dafür ein, dass der Ver-
(B) effiziente Kooperation bei der Ausweisung und dem Ma- lust der Artenvielfalt gestoppt wird, so auch der marinen (D)
nagement von grenzüberschreitenden Schutzgebieten. Arten. Der Artenschutz ist eine globale Aufgabe. Inter-
Sei es beim Artenschutz, bei der Fischerei oder dem nationale Natur- und Artenschutzabkommen sind bedeu-
Klimaschutz: Ziel muss sein, die Nutzung und Bewah- tend für die Koordination der Maßnahmen. Internatio-
rung der Meere wieder miteinander zu verbinden. Wir nale Maßstäbe zur Bewertung der Biodiversität müssen
müssen den Schutz der Meere vermehrt auf die politi- stärker erforscht werden. Eine ständige Verbesserung der
sche Agenda setzen und hartnäckig und mit langem Wissensgrundlage in Bezug auf die Meere ist Vorausset-
Atem für Verbesserungen kämpfen. Als Politik müssen zungen für die Gestaltung von wirkungsvollen Schutz-
wir hierfür den Dialog suchen und dafür eintreten, dass maßnahmen.
kurzfristiges Profitdenken durch langfristige Verantwor- Auch der Klimawandel mit einem weltweiten Anstieg
tung abgelöst wird. der Temperatur wirkt sich auf die Meeresumwelt aus.
Ein steigender CO2-Gehalt der Luft führt zur Versaue-
Angelika Brunkhorst (FDP): Der Schutz der Meere rung der Meere. Saures Wasser erschwert den minerali-
ist insgesamt nach wie vor eine große Herausforderung. schen Aufbau neuer Korallen, Muscheln oder Schnecken
Die Erhaltung der Ökosysteme und der biologischen und kann zu deren Zerstörung führen.
Vielfalt der Meere dient dem Schutz der gemeinsamen
Liebe Kollegen von der SPD, die von Ihnen angespro-
natürlichen Ressourcen. Davon wollen letztendlich auch
chene Forderung, sich verstärkt für den Abschluss eines
wir immer wieder profitieren.
internationalen Kioto-Anschlussabkommens einzuset-
Es ist ganz richtig, die Wichtigkeit des Lebensraums zen, damit das Zwei-Grad-Ziel erreicht werden kann, ist
Meer hervorzuheben. Da stimme ich Ihnen voll und ganz wünschenswert, aber in der Umsetzung schwierig. Wie
zu. Ihre im Antrag angesprochenen Verlustszenarien wir in Kopenhagen gesehen haben, war eine Einigung
sind nachvollziehbar, dennoch ist die daraus entstandene gerade mit den großen Schwellenländern und den USA
Projektion von absoluten Vernichtungsszenarien mir zu auf derartige Ziele momentan nicht möglich. Nicht alle
dramatisch. Länder fühlten sich diesem Ziel gleichermaßen ver-
pflichtet und wollten mit einer ambitionierteren Klima-
Die FDP sieht in der verantwortungsvollen Nutzung schutzpolitik beispielsweise die Meere schützen. Leider
der Meeresressourcen eine besondere Herausforderung. haben nur 25 der 193 Teilnehmerstaaten sich auf der Kli-
Meeresschutz und Meeresnutzung sollen in Balance ge- maschutzkonferenz in Kopenhagen verständigt, die glo-
bracht werden. bale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen.
4802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Liebe Kollegen von der SPD, Sie fordern den Ab- zwei Güterzüge mit 20 Kesselwagen Öl in den Golf von (C)
schluss eines internationalen Vertrags zum Schutz der Mexiko. Das sind jetzt, nach mehr als sieben Wochen,
Arktis nach dem Vorbild des Antarktisvertrags und die 130 000 Tonnen. Die Versuche des Mineralölkonzerns,
Einsetzung eines Moratoriums. Der Antarktisvertrag das ausströmende Öl irgendwie aufzuhalten, scheitern
kann aus unserer Sicht nicht ohne Weiteres auf die Ark- bisher. Wir sind so erschrocken, dass wir gar nicht rich-
tis übertragen werden, da die Gebietsansprüche inner- tig mitbekommen haben, dass am 21. Mai knapp
halb der Arktis noch nicht eindeutig geklärt sind. Es ist 1 000 Kilometer vor der deutschen Küste ein ähnlicher
völkerrechtlich noch völlig unklar, ob der Nordpol – und Unfall geschah. Die größte norwegische Bohrinsel
vor allem das Nordpolarmeer – überhaupt von einer Na- „Gullfaks C“ musste 89 Mitarbeiter evakuieren. Ein Si-
tion beansprucht werden kann: 1994 trat die Seerechts- cherheitsventil versagte. Mit mehr als 600 Kubikmeter
konvention der Vereinten Nationen in Kraft, nach der Schlamm konnte das Förderloch versiegelt werden.
Staaten Anspruch auf Meeresregionen erheben können,
die bis zu 200 Seemeilen vor ihrer Küste liegen. Eine Mitte Mai sind an Rügens Nordstränden und wenig
Entscheidung der Vereinten Nationen, wer wo seine später auch vor Usedom etwa 100 Kubikmeter Paraffin
Grenzen rund um den Nordpol ziehen darf, steht noch angelandet. Das waren mehr als 2 000 Küchenmülleimer
aus. Die betreffenden Staaten müssen wissenschaftliche voll, die von vielen Helfern weggetragen wurden. Die
Belege vorweisen, die ihre Ansprüche stützen. Wasserschutzpolizei vermutet, dass das Wachs beim
Auswaschen eines Schifffrachtraums illegal in der Ost-
Der Schutz der Meeresumwelt und des Nordostatlan- see entsorgt wurde. Das ist jetzt ein kleines Beispiel für
tiks ist in dem OSPAR-Abkommen geregelt, bei dem Meeresverschmutzung vor unserer Haustür. Fast unbe-
Deutschland Mitglied ist. Hier sind schon eindeutige merkt passieren die kleinen Verschmutzungen täglich
Schutzregelungen bis hin zur Arktis getroffen worden. überall und belasten in der Summe die Meere ebenfalls
Der Schutz der Meere, die Nutzung der Meeresressour- weltweit.
cen und die Entwicklung der maritimen Wirtschaft sehen
wir als eine große Herausforderung an. Ich habe das schon vor einer Woche gesagt, Euro-
Krise hin oder her: Unsere natürlichen Lebensgrundla-
gen befinden sich ebenfalls in einer Krise. Ein wirksa-
Sabine Stüber (DIE LINKE): Das Thema Meeres- mer Meeresschutz duldet keinen Aufschub. Dazu sind
schutz hatten wir in den letzten Monaten häufiger im klare Prioritäten mit knappen zeitlichen Vorgaben uner-
Bundestag auf der Tagesordnung. Die unterschiedlichen lässlich. Und darum werden wir uns als Linke in den
Anlässe waren die 11. Trilaterale zum Wattenmeerschutz Fachausschüssen bemühen.
im März, der internationale Tag der Biologischen Viel-
falt im Mai und in dieser Woche zum Tag des Meeres. In
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) ihren Inhalten ähneln sich die Anträge. Warum wohl? Ich freue mich ganz ehrlich über den Antrag der SPD: Er (D)
Der Zustand unserer Meere ist nicht erst seit heute be- deckt sich in seinen Positionen mit unseren Vorstellun-
sorgniserregend. Die Meere werden als Lebensraum sys- gen von nachhaltiger Meerespolitik. Er ergänzt, was hier
tematisch zerstört durch Unmengen Müll am Meeresbo- bereits vor zwei Wochen mit unserem Antrag themati-
den und in den Küstenregionen, durch Überfischung, siert wurde. Dennoch hat diese Debatte etwas sehr Bitte-
Ölverschmutzung und anderen Schadstoffeintrag. Das res: Zum Welttag der Ozeane sollte man eigentlich die
zunehmende Vordringen des Menschen mit seinen Akti- Schönheit und Größe dieser wichtigen Ressource feiern.
vitäten in der Tiefsee lässt selbst diesen ganz speziellen Aber wir alle wissen: Zu feiern gibt es nichts. Zum ei-
Lebensräumen kaum eine Chance. Sei es die industrielle nen, weil trotz aller Bemühungen der Zustand der Meere
Fischerei mit Grundschleppnetzen oder die Erdölförde- weiter schlecht ist, vor allem jedoch, weil wir täglich
rung in der Tiefsee: Die Ressourcenausbeutung erfolgt schreckliche Bilder vom Meeresboden sehen. Das Öl
ohne Rücksicht auf Verluste. sprudelt jetzt seit sieben Wochen unaufhörlich und ver-
Mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der EU seucht Meer und Küsten.
sollte 2008 die Notleine zumindest für die europäischen Die schöne saubere und grüne Welt, die uns BP in sei-
Meeresgebiete gezogen werden. Hohe Ziele sind ge- nen Kampagnen vorgegaukelt hat, ist endgültig passé.
steckt. Bis 2020 soll sich die Situation ins Positive um- „Zum Glück“ kann ich nur sagen! Wer Dreck macht,
kehren. Das kann anhand festgeschriebener Kriterien muss auch dazu stehen. Es kann nicht sein, dass Milliar-
auch überprüft werden. den mit Öl verdient werden, und man gleichzeitig mit
Jetzt daran zu erinnern und Maßnahmen zur konse- Kampagnen aus der Portokasse Umweltschützer sein
quenten Umsetzung der Meeresstrategie der EU einzu- will. Bei fast 17 Milliarden Dollar Gewinn allein im letz-
fordern, können wir nur unterstützen. Und gerade weil ten Jahr hat BP seit 1997 etwa 200 Millionen Dollar für
uns die Realität mal wieder eingeholt hat: Meeresschutz seine Imagekampagne ausgegeben. Für den Einstieg in
braucht Internationalität. den klimaschädlichen Ölsandabbau wurde dagegen das
Fünfzigfache bezahlt.
Seit dem 20. April fließt Erdöl in den Golf von Me-
xiko. Die Schätzungen der täglichen Menge reichen von Kurz nach der Explosion der Ölplattform im Golf von
1 500 Tonnen bis 3 400 Tonnen. Ein Vergleich in Güter- Mexiko haben wir Grünen vor den dramatischen Folgen
zügen für meine und Ihre Vorstellungskraft, Kolleginnen gewarnt. In der Debatte hier im Haus hat die Union sich
und Kollegen: Ein Kesselwagen fasst 60 Tonnen und ein – vor gerade mal vier Wochen – darüber gewundert, dass
Güterzug zieht circa 20 solcher Wagen. Nehmen wir den wir hier über die Zukunft der Energieversorgung reden
mittleren Wert von 2 500 Tonnen, dann strömen täglich wollen. Und den Kolleginnen und Kollegen der FDP war
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4803

(A) es nicht einmal wert, überhaupt an dieser Debatte teilzu- dieser wechselhaften Geschichte. Und dazu beauftragt (C)
nehmen. uns unsere Verfassung. Das Anliegen dieses Tagesord-
nungspunktes wiegt schwer genug, um das Grundgesetz
Es ist letztendlich erschütternd, dass es immer solche
an dieser Stelle auch zu zitieren: „Die Würde des Men-
Katastrophen braucht, um zur Einsicht zu kommen.
schen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Denn wir müssen mit aller Konsequenz sagen: Das
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Menschenwürde
Ganze ist ein GAU der Ölindustrie! Klar ist jetzt: Wir
müssen weg vom Öl! Ich freue mich sehr, dass inzwi- zu schützen heißt, Menschenrechte zu schützen, und es
schen auch die FDP dieser Forderung folgt. heißt vor allem, diejenigen zu schützen, die den Schutz
der Würde und der Rechte anderer Menschen verteidi-
Immerhin hat es bei diesem GAU der Ölindustrie nur gen und dadurch selber in Gefahr geraten. Dazu ist die
vier Wochen gedauert, um aus einer Katastrophe die Lenkungsmacht der staatlichen Gewalt, die Politik, ver-
richtigen Konsequenzen zu ziehen. Ich hoffe, dass Sie pflichtet. Alle demokratischen Kräfte und Parteien in
Ihren verbalen Ankündigungen jetzt auch Taten folgen diesem Land stehen hier auf einem gemeinsamen Boden.
lassen und unserem und dem Antrag der SPD folgen.
Der GAU von Tschernobyl macht mir da nicht gerade Die Koalition aus CDU/CSU und FDP weiß sich da-
Mut: Hier haben Sie ja auch nach 25 Jahren den Irrweg rüber hinaus einem gemeinsamen Wertekodex verpflich-
noch nicht erkannt. tet, der in der jüdisch-christlichen Tradition ebenso wur-
zelt wie im aufklärerischen Humanismus des liberalen
Wir sehen hier ganz klar: Maximales Gewinnstreben Bürgertums. Diese Werte haben zur Ausprägung des Be-
geht viel zu schnell auf Kosten der Allgemeinheit. Und griffes der Menschenwürde und zur Formulierung der
deswegen muss es jetzt eine eindeutige Botschaft an alle Menschenrechte geführt. So wird es nicht überraschen,
Marktliberalen geben. Wir alle müssen sagen: Angebot dass ich mich namens meiner Fraktion im Ausschuss für
und Nachfrage nach Erdöl dürfen nicht länger einzige Menschenrechte und Humanitäre Hilfe positiv und zu-
Handlungsmaxime sein. Wir als Politik müssen eindeu- stimmend zum Anliegen der heute zu beschließenden
tig festlegen, wann Schluss ist mit der rücksichtslosen Anträge geäußert habe. Menschenrechte und der Schutz
Ausbeutung unseres Planeten. Wir müssen sagen, wie von Verteidigerinnen und Verteidigern dieser Rechte ste-
unsere Energieversorgung ohne Öl aussehen kann – und
hen in unserer Prioritätenliste weit oben. Auch inhaltlich
welchen Beitrag die Energiekonzerne hierzu zu leisten
gibt es in beiden Anträgen Passagen, die wir begrüßen,
haben.
insbesondere im SPD-Antrag. Ich zitiere aus dem Be-
Nur mit dieser Ehrlichkeit wird sich wirklich etwas richt: „Die Fraktion der CDU/CSU erklärt, dass die
ändern. Nur wenn wir wirklich den Schritt hin zu einer Schnittmenge mit dem Antrag der SPD-Fraktion sehr
weitestgehend erdölfreien Wirtschaft machen, werden groß sei.“ Zu dieser Aussage stehe ich und stehen wir,
(B) wir die Meere schützen und den Klimawandel men- nach wie vor. (D)
schenverträglich halten können.
Zugleich machen mir die beiden Anträge Bauch-
Nach jüngsten Berechnungen wird in der Folge der schmerzen, denn sie suggerieren unterschwellig, dass die
Katastrophe im Golf von Mexiko die Ölknappheit dras- Bundesregierung und die Regierungskoalition sich dem
tisch steigen, und zwar schon zwischen 2013 und 2015 – Thema zu wenig widmen würden. Beide Anträge unter-
also noch im Laufe dieser Legislatur. Wer jetzt noch so schlagen die Ergebnisse der bisherigen Debatten und Be-
weitermachen will wie bisher, der ist mindestens genau schlüsse dieser Legislaturperiode.
so wenig dicht wie das Loch im Golf von Mexiko.
Ich darf daher erinnern: Für die Regierungskoalition
Reißen wir das Ruder herum und investieren in die ist das Thema Menschenrechte von zentraler Bedeutung,
einzige Möglichkeit, die uns bleibt: Fördern wir die er- weil es als ein Querschnittsthema alle Politikbereiche
neuerbare Energien! betrifft. Darum haben wir bereits zu Beginn der Legisla-
turperiode zügig zum Thema gearbeitet und am 16. De-
zember 2009 den umfassenden Antrag „Menschenrechte
Anlage 6 weltweit schützen“ in den Deutschen Bundestag einge-
Zu Protokoll gegebene Reden bracht, der am 22. März 2010 beschlossen wurde. Dieser
Beschluss musste gegen die Stimmen der Fraktionen der
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des SPD, von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gefasst
Berichts zu den Anträgen: zu werden, und das zeigt leider, dass es hier nicht nur um
– Menschenrechtsverteidiger brauchen den die Sache selbst, nämlich den Schutz der Menschen-
Schutz der Europäischen Union rechte, sondern um eine parteipolitisch gefärbte Instru-
mentalisierung des Themas ging. Ähnlich lesen sich die
– Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidige- neuerlichen Anträge. Sie enthalten Forderungen, die im
rinnen und Menschenrechtsverteidiger von der CDU/CSU eingebrachten und vom Deutschen
(Tagesordnungspunkt 21) Bundestag beschlossenen Antrag bereits enthalten sind.
Ich darf noch einmal erinnern: Wir haben einen
Frank Heinrich (CDU/CSU): Der weltweite Schutz 17 Punkte umfassenden Forderungskatalog an die Bun-
der Menschenrechte war und ist ein zentrales Anliegen desregierung formuliert, der zum Ziel hat, „konsequent
bundesdeutscher Politik. Dazu gemahnt uns unsere Ge- für die Menschenrechte in allen Politikbereichen einzu-
schichte, die leuchtenden wie auch die finsteren Kapitel treten“. Diese Forderungen umfassen Themenbereiche
4804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) wie: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Entwick- in der Dauer der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im (C)
lungszusammenarbeit, die weltweite Abschaffung von ersten Halbjahr 2007 für die konsequente Umsetzung der
Todesstrafe, Folter und unmenschlicher Behandlung, Leitlinien zu Menschenrechtsverteidigern ein und ergriff
den Einsatz gegen die Beschränkungen der Presse- und die Initiative zur weltweiten Erarbeitung lokaler Imple-
Meinungsfreiheit, den Kampf gegen Sklaverei, Ausbeu- mentierungsstrategien der EU.
tung und Menschenhandel, den Einsatz gegen Kinderar-
beit, Kindersoldaten, Zwangsprostitution, Zwangsheirat Und darum, eben weil wir dem Los der Verteidigerin-
und Praktiken wie Genitalverstümmelung, den Einsatz nen und Verteidiger von Menschenrechten nicht tatenlos
gegen jegliche Benachteiligung aufgrund von Religion, zusehen können und dürfen, enthält unser Antrag „Men-
ethnischer Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientie- schenrechte weltweit schützen“ – welchen, um es noch
rung weltweit, den Kampf für Religionsfreiheit und die einmal zu betonen, die gesamte Opposition in diesem
Lage christlicher Minderheiten. Hohen Hause abgelehnt hat – eine explizite Aufforde-
rung an die Bundesregierung, die betroffenen Menschen
Dazu forderten wir auf institutioneller Ebene: die zu schützen. Ich zitiere: „Der Deutsche Bundestag for-
Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur Kinderrechts- dert die Bundesregierung auf, ... über die deutschen Aus-
konvention der Vereinten Nationen – was im Übrigen landsvertretungen in akuten Fällen die notwendigen
mittlerweile erreicht worden ist –, den Einsatz bei den Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidi-
Nichtunterzeichnerstaaten des Römischen Statuts des gern zu ergreifen und diese gegebenenfalls auch unter
Internationalen Strafgerichtshofs für eine baldige Ratifi- Nutzung der entsprechenden Vorschriften des geltenden
zierung – was ich persönlich übrigens durch meine Teil- Ausländerrechts kurzfristig zeitweilig in der Bundesre-
nahme an der Konferenz zur Überprüfung des Römi- publik Deutschland aufzunehmen.“
schen Statuts in Kampala/Uganda unterstützt habe – und
die Unterstützung des Europäischen Gerichtshof für Damit sind viele Forderungen der beiden vorliegen-
Menschenrechte bei der Ausübung seiner Aufgaben. den Anträge obsolet. Entweder sind sie bereits Bestand-
teil bundesdeutscher und europäischer Menschenrechts-
Damit diese Forderungen auch wirklich mit Leben er-
politik. Oder sie sind im Antrag „Menschenrechte
füllt werden können, braucht es – wie Sie, meine Damen
weltweit schützen“ enthalten.
und Herren der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen zu
Recht betonen – die Beobachter und Verteidiger der Auch gibt es im Detail einige abweichende Positionen
Menschenrechte vor Ort. Dass Menschenrechtsverteidi- der CDU/CSU-Fraktion zu den vorliegenden Anträgen.
ger dabei vielerorts unter Gefahr für ihr eigenes Leben Ich beschränke mich auf drei davon:
agieren, ist ein trauriger, skandalöser und nicht hinnehm-
barer Zustand. Ich denke an die großen Menschenrechts- Erstens. Die SPD fordert in Punkt 3 die Einbeziehung
(B) (D)
verteidiger des 20. Jahrhunderts: Mahatma Ghandi in In- von Menschenrechtsverteidigern und Menschenrechtsor-
dien oder Martin Luther King in den Vereinigten ganisationen in die Diskussion der Vorschläge des Rates
Staaten, die für ihre Sache mit dem Leben bezahlen der EU. Diese Forderung ist unangemessen, da sie ent-
mussten. Aber ich denke auch an Begegnungen hier in weder bereits in der Vorfeldarbeit durch das Auswärtige
Berlin mit Menschenrechtsverteidigern aus Honduras, Amt geleistet wird oder aber in einen Bereich eingreifen
aus Israel/Palästina und vielen anderen Ländern mehr, will, der dem Auswärtigen Amt vorbehalten ist.
die vor Mitgliedern des Menschenrechtsausschusses die
gefährlichen Umstände ihres Wirkens geschildert haben. Zweitens. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
Diese Menschen sind in Gefahr! wird unter Bezugnahme auf die Antwort der Bundesre-
gierung auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die
Darum hat sich der Deutsche Bundestag bereits 2003 in Grünen dargestellt, die Bundesregierung hätte trotz ihrer
einem interfraktionellen Antrag – Drucksache 15/2078 – Kenntnis der Bedrohung von Menschenrechtsverteidi-
zum Schutz von bedrohten Menschenrechtsverteidigern gern in Honduras keine notwendigen Maßnahmen zu
verpflichtet. deren Schutz unternommen. Dabei wird in der Antwort
Darum hat die spanische EU-Ratspräsidentschaft in erläutert, dass Vertreter der deutschen Botschaft fortlau-
Rücksprache mit der Bundesregierung das Vorhaben ei- fend die Situation der Menschenrechte in Honduras be-
ner Verbesserung des Schutzes von Menschenrechtsver- obachten sowie bilateral, im EU-Rahmen und in der
teidigern angekündigt. Koordinierungsgruppe der wichtigsten Geber, G 16,
Kontakt mit Menschenrechtsverteidigern haben. Deren
Darum ist die Unterstützung von Menschenrechtsver- Angehörige werden durch die Botschaft zu Gesprächen
teidigern seit langem fester Bestandteil der EU-Men- empfangen, womit der Schutz dieses Personenkreises
schenrechtspolitik. Die Leitlinien zu Menschenrechts- deutlich wird.
verteidigern wurden bereits am 14. Juni 2004 vom
Allgemeinen Rat der Außenminister angenommen. Da- Drittens. Gefordert wird im selben Antrag, das Amt
mit wurde ein genereller Bezugsrahmen mit Empfehlun- eines Verbindungsbeamten für Menschenrechtsverteidi-
gen für konkrete Maßnahmen der EU beim Einsatz für ger beim Auswärtigen Amt einzusetzen und in den
den Schutz dieser Personengruppe geschaffen. Am Auslandsvertretungen zu gewährleisten, dass ein Ver-
12. Juni 2006 verabschiedete der Rat der Außenminister bindungsbeamter vor Ort für die aktiven Menschen-
infolge der umfassenden Evaluierung zur Umsetzung der rechtsverteidiger unter Ausstattung notwendiger Kapazi-
Leitlinien Empfehlungen, die eine Verbesserung der Im- täten zur Verfügung steht. Wir sehen darin eine unnötige,
plementierung zum Ziel hatten. Deutschland setzte sich sehr teure Aufblähung eines auch ohne dieses Amt gut
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4805

(A) funktionierenden Verwaltungsapparates und damit die Chebeya, der bekannteste Menschenrechtler der Demo- (C)
Vergeudung finanzieller Ressourcen. kratischen Republik Kongo. Er wurde vor vier Tagen tot
aufgefunden. Zuvor war er in Kinshasa einer Polizeivor-
Damit komme ich zum Schluss. Liebe Kolleginnen und
ladung gefolgt. Nun ist er tot. Es wird davon ausgegan-
Kollegen der Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/
gen, dass er Opfer eines Gewaltverbrechens geworden
Die Grünen, ich achte und ehre Ihr Engagement für den
ist. Wir sind zutiefst erschüttert und empört über diese
Schutz von Menschenrechtsverteidigern. Die Anträge in
der vorliegenden Form lehnt meine Fraktion ab. Statt- Tat. Er war der international bekannteste Vorkämpfer für
dessen fordere ich Sie auf, Ihrerseits die Schnittmenge die Menschenrechte in der Demokratischen Republik
mit dem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ zu Kongo. Als Präsident der Menschenrechtsorganisation
erkennen und mit der Regierungskoalition gemeinsam „Voix de Sans-Voix“, VSV, auf Deutsch „Stimme der
die Beschlüsse daraus umzusetzen. Stimmlosen“, setzte er sich für mehr Freiheit der
Menschen im Kongo, also für mehr Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit, ein. Mit Chebeya verliert die Demo-
Christoph Strässer (SPD): Nach 13-jährigen Ver- kratische Republik Kongo eine ihrer wenigen unbestech-
handlungen ist am 9. Dezember 1998 die Erklärung der lichen Stimmen, die beharrlich auf staatliche Willkür
Vereinten Nationen zu Menschenrechtsverteidigern ver- und Gewalt und Missachtung der Menschen- und Bür-
abschiedet worden. Die langen Verhandlungen machen gerrechte aufmerksam machten. Chebeyas Tod ist für die
deutlich, wie schwierig es war, sich auf einen allgemein Menschen im Kongo eine Katastrophe und für uns eine
verbindlichen Konsens zu einigen, was Menschenrechts-
traurige Mahnung, in unserem Engagement für den
verteidiger eigentlich sind. In der Erklärung heißt es:
Schutz von Menschenrechtsverteidigern nicht nachzuge-
„Menschenrechtsverteidiger ist grundsätzlich jeder, der
ben und alles für ihre Sicherheit zu tun. Deshalb fordern
sich friedlich für die Förderung und den Schutz von
wir auch eine rückhaltlose Aufklärung des Falles.
Menschenrechten einsetzt.“
Der Deutsche Bundestag hat sich bereits in einer Ent- Dieses Beispiel steht für viele, in denen sich Men-
schließung im Jahr 2003 für einen intensiveren Schutz schenrechtsverteidiger trotz der Gefahr für ihr eigenes
von Menschenrechtsverteidigern stark gemacht, im Jahr Leben für Menschenrechte und Demokratie einsetzen.
2005 hat die EU Richtlinien zum Schutz von Menschen- Gerade uns Demokraten sollte das dazu bringen, diese
rechtsverteidigern verabschiedet. Gerade in Zeiten des Arbeit zu unterstützen und zu würdigen.
internationalen Terrorismus ist es wichtig, den Schutz
von Menschenrechtsverteidigern zu verstärken; denn Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion diesen An-
manche Regierung nutzt die Auseinandersetzung mit trag eingebracht. Bevor ich auf einige Inhalte zu spre-
chen komme, möchte ich diesbezüglich die Regierungs-
(B) dem Terrorismus auch als Vorwand, um Menschenrechte (D)
einzuschränken oder außer Kraft zu setzen. koalition fragen, wo denn ihr parlamentarischer Beitrag
zum Schutz und zur Unterstützung von Menschenrechts-
Deshalb ist es gut und richtig, dass die spanische EU- verteidigern verblieben ist. Oder anders und deutlicher
Ratspräsidentschaft anregt, das vorhandene Instrumenta- formuliert: Es ist wirklich ein Armutszeugnis sonder-
rium zu überprüfen und die Umsetzung bereits beschlos- gleichen, dass von Union und FDP zu diesem wichtigen
sener Maßnahmen zu beschleunigen. Bereich der Menschenrechtspolitik nichts kommt. Und
Immer wieder, in der letzten Zeit zunehmend, errei- liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
chen uns Berichte des Büros der Sonderberichterstatterin kommen Sie mir bitte in diesem Zusammenhang nicht
der VN für Menschenrechtsverteidiger, wonach die Ge- mit dem Abschnitt zu den Menschenrechtsverteidigern
fährdung von Menschenrechtsverteidigern zunimmt und in ihrem total substanzlosen Antrag „Menschenrechte
die Bereitschaft der Staaten zur Kooperation sinkt. weltweit schützen“. Denn die Forderung unter Punkt 17
– ich zitiere –, „über die deutschen Auslandsvertretun-
Immer wieder erreichen uns auch in Deutschland er- gen in akuten Fällen die notwendigen Maßnahmen zum
schütternde Mitteilungen über das Schicksal von Rechts- Schutz von Menschenrechtsverteidigern zu ergreifen
anwälten, Journalisten, Parlamentariern, Gewerkschafts- und diese gegebenenfalls auch unter Nutzung der ent-
mitgliedern oder Vertretern von Frauenorganisationen sprechenden Vorschriften des geltenden Ausländerrechts
oder Minderheiten, die nichts weiter getan haben, als kurzfristig zeitweilig in der Bundesrepublik Deutschland
sich für die unveräußerlichen Rechte Anderer einzuset- aufzunehmen“, ist erstens aus einem interfraktionellem
zen und die dann selbst Opfer staatlicher Repression Antrag einfach abgeschrieben, und zum Zweiten haben
oder paramilitärischer Gruppierungen werden. Deshalb Sie sich seinerzeit auch nur auf diesen Passus im inter-
ist Unterstützung für Menschenrechtsverteidiger nach fraktionellen Antrag eingelassen, weil wir Sie dazu ge-
wie vor dringend erforderlich; deshalb unterstützten wir drängt haben. Des Weiteren ist diese auf Ihr Verlangen
die Initiativen der spanischen Ratspräsidentschaft nach- schwammig formulierte Einzelforderung natürlich viel
drücklich. Denn es sind Menschenrechtsverteidiger, die zu wenig, um der Wichtigkeit des Themas wirklich ge-
die friedliche Entwicklung zu mehr Demokratie und
recht zu werden. Außerdem: Was heißt Ihre Forderung
Rechtsstaatlichkeit weltweit konkret und unter Einsatz
eigentlich konkret? Heißt es, wie im Fall von Syrien,
ihres Lebens tatsächlich voranbringen.
Rücknahmeabkommen zu schließen obwohl dort Men-
Zu unser aller Erschrecken und Bedauern sind Men- schenrechtsverteidiger wie Herr Labwani oder Anwar el-
schenrechtsverteidiger oft auch Opfer von Gewalttaten Bunni nachweislich rechtswidrig inhaftiert, gefoltert und
und politischen Morden, so zum Beispiel Floribert misshandelt werden?
4806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Es ist leider so, dass auch im Fall der Menschen- gen Menschen. Menschenrechtsverteidiger bedürfen (C)
rechtsverteidiger Ihre menschenrechtspolitischen Aussa- deshalb eines besonderen Schutzes durch die internatio-
gen entweder gar nicht vorhanden oder völlig unzurei- nale Gemeinschaft. Dieses Thema nehmen wir sehr
chend sind und zu allem Überfluss die konkrete Politik ernst:
ihren vermeintlichen Ansprüchen sogar zuwider ist.
Der Schutz und die Unterstützung von Menschen-
Warum sonst unterstützen Sie nicht unseren Antrag, rechtsverteidigern sind ein thematischer Schwerpunkt
das Rückübernahmeabkommen mit Syrien sofort aufzu- bei der Projektförderung des Auswärtigen Amtes. Das
kündigen? Rückführungen in einen Staat, in dem Folter Auswärtige Amt förderte unter anderem eine regionale
nicht nur nicht untersagt, sondern aktiv eingesetzt wird, Konferenz afrikanischer Menschenrechtsverteidiger in
dürfen unter Geltung des absoluten Folterverbots nicht Uganda, auf der vom Auswärtigen Amt über die EU-
hingenommen werden. Leitlinien informiert wurde. Neben dem ständigen Aus-
tausch mit Menschenrechtsverteidigern vor Ort und in
Was wir brauchen, sind konkrete, menschenrechtlich Berlin, unter anderem über die Möglichkeit der verbes-
und politisch pragmatisch schnell umsetzbare Vor- serten Umsetzung der Leitlinien, setzt sich das Auswär-
schläge wie die Schaffung eines Amtes einer Verbin- tige Amt – auch in konkreten Einzelfällen – in bilatera-
dungsbeamtin oder eines Verbindungsbeamten für len Gesprächen auf allen Ebenen, einschließlich der
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts- Minister, für Menschenrechtsverteidiger ein.
verteidiger beim Auswärtigen Amt und in den deutschen
Auslandsvertretungen, ausgestattet mit den erforderli- Aktuell wird über die Aufnahme von circa 20 irani-
chen Kapazitäten und Kompetenzen. schen Oppositionellen, die in der „grünen Revolte“ eine
Rolle spielten und sich momentan noch in der Türkei be-
Außerdem ist es unabdingbar, über die deutschen finden, gesprochen. Die Gespräche und Verhandlungen
Auslandsvertretungen die notwendigen Maßnahmen sollen demnächst mit einem positiven Ergebnis und der
zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und Aufnahme der Oppositionellen beendet sein. Der Men-
Menschenrechtsverteidigern zu ergreifen, diese in Fällen schenrechtsbeauftragte Markus Löning hat sich erfolg-
akuter Bedrohung für 12 bis 24 Monate in der Bundesre- reich beim Bundesinnenministerium eingesetzt, um die
publik Deutschland aufzunehmen und sie während die- Aufnahme zu beschleunigen. Dafür möchte ich Markus
ser Zeit finanziell mit einem deutlich über der Grund- Löning danken.
sicherung liegenden Betrag zu unterstützen.
Sowohl der Antrag der SPD als auch der Antrag von
Weil dies auch in dem Antrag „Mehr Schutz für Men- Bündnis 90/Die Grünen lassen gerade im Feststellungs-
schenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsvertei- teil genau das vermissen, was bereits geleistet wird.
(B) diger“ der Grünen gefordert wird, werden wir auch die- (D)
sen Antrag unterstützen. Die Bundesregierung setzt sich für die weitere Ver-
besserung von Monitoring- und Berichtssystemen zum
Wer schützen will, muss konkrete Schritte zu deren Schutz von Menschenrechtsverteidigern ein, auch um
Schutz vorschlagen und vor allem auch im eigenen Land die bereits existierende enge Zusammenarbeit mit Nicht-
durchführen. Weder das eine noch das andere macht die regierungsorganisationen weiter zu vernetzen und damit
Regierungskoalition. Deshalb bitte ich alle ernsthaft effizienter zu gestalten. So verfolgt die Bundesregierung
menschenrechtlich engagierten Kollegen von Union und Meldungen von Nichtregierungsorganisationen über das
FDP, die Anträge von Grünen und SPD zu unterstützen. Schicksal von Menschenrechtsverteidigern weltweit.
Aber vermutlich wird auch die Menschenrechtspolitik
ihrem Parteikalkül geopfert, wie so einiges andere ver- In der täglichen Praxis berichten die deutschen Aus-
mutlich auch. landsvertretungen regelmäßig über die Situation von
Menschenrechtsverteidigern. Darauf aufbauend setzt
sich Deutschland im Kontext bilateraler Dialoge mit
Marina Schuster (FDP): Der FDP ist der Schutz
Menschenrechtsverteidigern und durch förmlich politi-
von Menschenrechtsverteidigern ein wichtiges Anlie-
sche Demarchen für verfolgte Menschenrechtsverteidi-
gen. Bereits im ersten Antrag zu „Menschenrechte welt-
ger ein.
weit schützen“ haben wir als Koalitionsfraktionen die
Menschenrechtsverteidiger erwähnt und beschlossen, Ihre Forderungen, liebe Kollegen von der SPD, sind
dass die Bundesregierung über die deutschen Auslands- sehr allgemein gefasst. Insbesondere Ihre Forderung 7
vertretungen in akuten Fällen die notwendigen Maßnah- zeigt, dass Sie sich noch nicht mit den Tätigkeiten der
men zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern er- Bundesregierung, insbesondere mit der Arbeit von
greift und diese gegebenenfalls auch unter Nutzung der Markus Löning als Beauftragtem der Bundesregierung
entsprechenden Vorschriften des geltenden Ausländer- für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, auseinander-
rechts kurzfristig zeitweilig in der Bundesrepublik setzen.
Deutschland aufnimmt.
Auch der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen igno-
Oft führe ich Gespräche mit den mutigen Menschen, riert die bereits unternommenen Anstrengungen und Er-
die sich aus der Zivilgesellschaft heraus für den Schutz, folge der deutschen Bundesregierung in Bezug auf
die Förderung und die Durchsetzung der Menschen- Schutz der Menschenrechte und von Menschenrechts-
rechte einsetzen, oft unter Einsatz ihrer körperlichen Un- verteidigern. Dies gilt insbesondere vor dem Hinter-
versehrtheit oder ihres eigenen Lebens. Ich bin sehr grund Ihrer Kritik, Herr Kollege Beck. Noch bevor
dankbar und beeindruckt von der Leistung dieser muti- Markus Löning sein Amt überhaupt angetreten hat, hat-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4807

(A) ten Sie nichts besseres zu tun als gleich mal Kritik gegen gerinnen und Menschenrechtsverteidiger beim Auswär- (C)
die Person und das Amt des Beauftragten der Bundesre- tigen Amt zu schaffen. Auch die Forderung, dass in den
gierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu deutschen Auslandsvertretungen eine Verbindungsbeam-
äußern. tin oder ein Verbindungsbeamter als konkreter An-
sprechpartner für die Menschenrechtsverteidigerinnen
Markus Löning hat lieber Taten sprechen lassen. So und Menschenrechtsverteidiger zur Verfügung stehen
hat sich Markus Löning nach seinem Amtsantritt mit ei- muss, halten wir für unerlässlich. Die Argumentation der
nem Brief an alle Leiter der deutschen Auslandsvertre- Regierungskoalition, dass hierfür finanzielle Engpässe
tungen gewandt und für besondere Aufmerksamkeit bei beständen, sind völlig inakzeptabel, da an dieser Frage
der Umsetzung der EU-Leitlinien zu Menschenrechts- der konkrete Schutz von Gesundheit und Leben der Be-
verteidigern geworben. Die Unterstützung für Men- troffenen hängen kann.
schenrechtsverteidiger soll auch Thema bei der anste-
henden Botschafterkonferenz im Herbst sein. In allen Wir wollen wirtschaftliche und menschenrechtliche
seinen bisherigen Reisen sind Treffen mit Menschen- Notwendigkeiten der Arbeit von Botschaften nicht ge-
rechtsverteidigern erfolgt. Hierüber hat er in den Aus- geneinander ausspielen. Wenn aber auf der einen Seite
schusssitzungen ausführlich berichtet. Mittel für den Ausbau der Stellen für wirtschaftliche Be-
ratung und Zusammenarbeit in den Botschaften zur Ver-
Die Bundesregierung zeigt mit all diesen Maßnahmen fügung gestellt werden können, für die konkrete Siche-
die sichtbare Unterstützung von Menschenrechtsvertei- rung der Arbeit der Menschenrechtsverteidigerinnen und
digern nach außen und trägt der überragenden Bedeu- Menschenrechtsverteidiger jetzt aber fehlende Finanzen
tung von Menschenrechtsverteidigern für die weltweite angeführt werden, ist das nicht akzeptabel. Die Fraktion
Durchsetzung der Menschenrechte Rechnung. Die Linke wird sich dafür einsetzen, dass entsprechende
Ich danke all denen, die diesen Weg unterstützen. Mittel im Haushalt zur Verfügung gestellt werden müs-
sen, da wir den Schutz der Betroffenen für eine zentrale
menschenrechtspolitische Aufgabe der deutschen Au-
Annette Groth (DIE LINKE): Menschenrechtsver- ßenpolitik halten.
teidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger werden in
vielen Ländern der Erde bedroht und verfolgt. Men- Trotzdem müssen wir auch einige kritische Anmer-
schenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsvertei- kungen zu den beiden Anträgen machen. Wir unterstüt-
diger sind als Anwältinnen und Anwälte, aktive Gewerk- zen das Anliegen beider Anträge völlig, finden es jedoch
schafterinnen und Gewerkschafter, Sozialarbeiterinnen problematisch, dass in beiden Anträgen keine Aussagen
und Sozialarbeiter oder in journalistischen Berufen tätig. über die schwierige Situation der Menschenrechtsvertei-
Aber auch viele Geistliche oder Studierende kämpfen digerinnen und Menschenrechtsverteidiger in Deutsch-
(B) unter Einsatz ihres Lebens für die Rechte der Menschen. land vorgenommen werden. Viele Verbände, Initiativen (D)
Sie organisieren Demonstrationen, schaffen Öffentlich- und Einzelpersonen setzen sich seit vielen Jahrzehnten
keit und untersuchen Menschenrechtsverletzungen in ih- für die Rechte der benachteiligten Menschen hier in
ren Ländern. Sie sind es, die Verletzungen der Men- Deutschland ein, ohne dass sie eine institutionelle Förde-
schenrechte trotz schwerer Repressionen in die rung für ihre wertvolle Arbeit erhalten. Wenn wir uns
Öffentlichkeit bringen und Widerstand organisieren. beispielsweise die wertvolle Arbeit der vielen antirassis-
tischen, antiziganistischen und migrationspolitischen
Durch ihre Informationen an internationale Gremien Gruppen anschauen, die aufgrund einer fehlenden Finan-
oder Einrichtungen der Vereinten Nationen schaffen sie zierung häufig nicht wissen, wie sie ihre Arbeit finanzie-
vielfach die Grundlage für eine internationale Debatte ren können, besteht auch hier in Deutschland dringender
über diese Menschenrechtsverletzungen. Dabei setzen Handlungsbedarf. Die Linke würde sich deshalb wün-
sie häufig ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel, um schen, dass im Rahmen dieser Diskussion auch eine kon-
anderen Menschen zu helfen. Ohne diese mutige Arbeit krete Verbesserung der Finanzierung von Gruppen und
wäre die Durchsetzung der Menschenrechte undenkbar. Verbänden in Deutschland sichergestellt wird, da auf-
Deshalb brauchen sie einen intensiveren Schutz. grund der fehlenden finanziellen Möglichkeiten notwen-
dige menschenrechtspolitische Arbeit real eingeschränkt
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschen- wird.
rechtsverteidiger werden verfolgt, obwohl sie sich mit
demokratischen und friedlichen Mitteln für ihre Ziele Beide Anträge machen deutlich, dass es innerhalb der
einsetzen. Wir erwarten deshalb von der deutschen Au- Fraktionen im Deutschen Bundestag wenige Unter-
ßenpolitik, dass sie sich für den konkreten Schutz der schiede zu diesem Thema gibt. Aus diesem Grund ist die
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts- Ablehnung der Anträge durch die Regierungsparteien in
verteidiger einsetzt und konkrete Maßnahmen für ihren den Ausschüssen völlig unverständlich. Hier wird mit
Schutz ergreift. Um dies zu erreichen, können konkrete parteitaktischen Überlegungen verhindert, dass der
Verbesserungen der bisherigen organisatorischen Aus- Deutsche Bundestag eine klare Positionierung zur Wei-
stattungen in den Auslandsvertretungen und im Auswär- terentwicklung der Arbeit des Auswärtigen Amtes vor-
tigen Amt ein wichtiger Schritt sein. Die beiden heute zu nimmt. Die Regierungsfraktionen nehmen damit billi-
diskutierenden Anträge zeigen hier konkrete Möglich- gend in Kauf, dass mögliche Verbesserungen für die
keiten auf. Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts-
verteidiger nicht vorgenommen werden.
Die Fraktion Die Linke unterstützt den Vorschlag von
Bündnis 90/Die Grünen, eine Verbindungsbeamtin oder Die Fraktion Die Linke wird beiden Anträgen zustim-
einen Verbindungsbeamten für Menschenrechtsverteidi- men.
4808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bereits daran, eine Forderung zum Schutze engagierter (C)
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts- Menschen zu unterstützen, einzig, weil sie formell von
verteidiger leisten zum Schutz und zur Förderung von der Opposition gestellt wurde. Was die Koalition hier be-
Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit einen un- treibt, ist Menschenrechtsverhinderungspolitik.
schätzbaren Beitrag. In Ausübung dieser wertvollen Ar-
beit werden sie jedoch häufig selber zur Zielscheibe von Deutschland kann es sich keinesfalls leisten, auf das
Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Ganz beson- Amt einer Verbindungsbeamtin oder eines Verbindungs-
ders davon bedroht sind jene Menschenrechtsverteidige- beamten zu verzichten. Bereits jetzt sind wir auf diesem
rinnen und Menschenrechtsverteidiger, die selber diskri- Gebiet schlechter aufgestellt als viele unserer Partnerlän-
minierten Gruppen angehören: Frauen, Homo-, Bi- oder der in der EU. Würden wir die spanische Initiative igno-
Transsexuelle, Angehörige religiöser oder ethnischer rieren, gerieten wir noch weiter ins Hintertreffen. Viel
Minderheiten etwa werden als Menschenrechtsverteidi- wichtiger als diese Überlegung ist aber, dass wir andern-
gerinnen und Menschenrechtsverteidiger häufig noch in- falls die Menschenrechtsverteidigerinnen und Men-
tensiver diskriminiert und verfolgt als zuvor. Ihr Mut schenrechtsverteidiger im Stich ließen. Gerade von uns,
und ihre Motivation, aktiv für den Schutz der Menschen- von Deutschland, sollten sie aber den Schutz erwarten
rechte einzustehen, sind daher besonders schützens- und können, der notwendig ist, um ihre Sicherheit zu ge-
unterstützenswert. währleisten und ihnen manchmal sogar Leib und Leben
zu retten.
Zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen
und Menschenrechtsverteidigern hat die EU bereits im Unsere zweite zentrale Forderung ist, in den deut-
Jahr 2004 Leitlinien, die „Guidelines on Human Rights schen Auslandsvertretungen zu gewährleisten, dass eine
Defenders“, verabschiedet. Der spanische EU-Ratsvor- Verbindungsbeamtin oder ein Verbindungsbeamter für
sitz möchte diesen Schutz nun noch weiter ausbauen die vor Ort aktiven Menschenrechtsverteidigerinnen und
und strebt an, dass sowohl auf EU-Ebene als auch in Menschenrechtsverteidiger und die für diese Tätigkeit
den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils ein Amt einer notwendigen Kapazitäten zur Verfügung stehen. Not-
Verbindungsbeamtin oder eines Verbindungsbeamten wendig ist nämlich nicht nur das Amt einer Verbin-
für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschen- dungsbeamtin oder eines Verbindungsbeamten hier in
rechtsverteidiger geschaffen wird. Diese Verbindungsbe- Berlin. Mindestens ebenso wichtig ist, dass in den tat-
amten sollen eine koordinierende Funktion haben und sächlich betroffenen Ländern unbürokratisch und schnell
zur Durchsetzung der Leitlinien zum Schutz von Men- Hilfe geleistet wird. Hierzu ist es vonnöten, in den deut-
schenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsvertei- schen Auslandsvertretungen in zumindest jenen Staaten,
digern beitragen. Wir stellen daher in unserem Antrag in denen Menschenrechtsprobleme zu befürchten sind,
(B) drei wesentliche Forderungen: Verbindungsbeamtinnen oder Verbindungsbeamte einzu- (D)
setzen. Derzeit wird diese Aufgabe in der Regel einzel-
Erstens fordern wir die Bundesregierung auf, das Amt nen Referatsleiterinnen und -leitern übertragen und tritt
einer Verbindungsbeamtin oder eines Verbindungsbeam- daher zuweilen aufgrund der Arbeitsbelastung zu weit in
ten für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschen- den Hintergrund. Nicht dass Sie mich falsch verstehen:
rechtsverteidiger beim Auswärtigen Amt einzusetzen Die Motivation und der Wille sind bei zuständigen und
und damit der spanischen Initiative zu folgen. Der Be- motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
auftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspoli- Botschaften schon jetzt vorhanden. Es fehlt ihnen je-
tik und Humanitäre Hilfe, Herr Markus Löning, hat bei doch schlichtweg die Zeit, sich neben ihren hauptamtli-
seinem Besuch im Ausschuss für Menschenrechte und chen Aufgaben auch noch intensiv um den Schutz von
Humanitäre Hilfe am 19. Mai dieses Jahres deutlich Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts-
seine Sympathie und Zustimmung für diesen Vorschlag verteidigern zu kümmern. Auch diese Forderung hat der
bekundet. Sie können dies in der Beschlussfassung nach- Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung aus-
lesen: Er sagte, der Vorschlag, im Auswärtigen Amt ei- drücklich unterstützt.
nen „Focal Point“ einzurichten, sei eine gute Idee. Es
stelle sich einzig die Frage, ob man diesen – wie in unse- Es geht bei dieser zweiten Forderung nicht um interne
rem Antrag gefordert – dauerhaft einrichte oder ob man Formalia des Auswärtigen Amtes. Sie entfaltet unmittel-
nur für eine absehbare Zeit jemanden dafür abstelle, um bare Wirkung für das Leben vieler Menschen. Denn zum
in dieser Zeit die Situation zu verbessern. Wir sind da- Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und Men-
rauf eingegangen, haben dem zugestimmt und dadurch schenrechtsverteidigern werden seitens der Bundesrepu-
versucht, es den Menschenrechtspolitikern der Koalition blik selbst in akuten Notfällen die notwendigen Maßnah-
einfach zu machen: Bei der Abstimmung im Ausschuss men häufig nicht ergriffen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel:
haben wir über diese Forderung aus unserem Antrag, die Infolge des Putsches in Honduras im vergangenen
Forderung unter II.1, einzeln und getrennt abstimmen Herbst kamen mindestens 15 Menschenrechtsverteidige-
lassen. Die Abgeordneten der CDU/CSU- und der FDP- rinnen und Menschenrechtsverteidiger ums Leben. Die
Fraktion im Menschenrechtsausschuss haben dennoch Botschaft in Tegucigalpa kannte diese Menschen und
dagegengestimmt – gegen eine Forderung ihres eigenen kannte auch die Gefahren, in denen sie steckten. Sie hat
Menschenrechtsbeauftragten. Das ist schlichtweg pein- uns dies auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion hin in
lich. Menschenrechtspolitik bedeutet, zum Wohle der der Drucksache 17/729 bestätigt. Helfen konnte sie den
Menschen arbeiten zu wollen. Den Koalitionsfraktionen Menschen jedoch nicht. Sie sind tot, weil sie sich für
fehlt hierfür offensichtlich jedes Gespür. Sie scheitern Menschenrechte eingesetzt haben. Das kann und darf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4809

(A) nicht Bestandteil deutscher Außen- und Menschen- nes regionalen Sparkassen- und Giroverbandes gehalten (C)
rechtspolitik sein! werden darf. Dies soll den Willen zur Beibehaltung des
öffentlich-rechtlichen Charakters der Sparkassen zusätz-
Auch unsere dritte Forderung wird von dem Men- lich unterstreichen.
schenrechtsbeauftragten der Bundesregierung ausdrück-
lich unterstützt. Wir fordern unter II.3 unseres Antrages, Damit soll den öffentlich-rechtlichen Sparkassen die
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts- Möglichkeit gegeben werden, ihre Eigenkapitalbasis ei-
verteidiger in Fällen akuter Bedrohung für 12 bis 24 Mo- genverantwortlich zu erhöhen. So weit die Ausgangs-
nate in der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen lage. Dazu ist zunächst einmal festzustellen: Sparkassen-
und sie während dieser Zeit finanziell zu unterstützen. recht ist Landesrecht und obliegt aus gutem Grund der
Herr Löning sagte uns dazu, gegen die Aufnahme von Verantwortung der Entscheidungsträger vor Ort. Daran
bedrohten Menschenrechtsverteidigern spreche nichts; werden wir als CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bun-
dies habe die Bundesregierung gerade im Bezug auf destag nicht rütteln.
20 Menschen aus dem Iran verkündet. Ich hoffe, dass die
Koalitionsabgeordneten im Menschenrechtsausschuss Wir setzen deswegen darauf, dass Landtag und Lan-
diesen Worten aufmerksam zugehört haben. Denn über desregierung in Schleswig-Holstein in einer für die dor-
genau diese Forderung wollen wir hier im Plenum eben- tige Sparkassenorganisation anspruchsvollen Zeit die
falls einzeln und getrennt abstimmen. richtigen Entscheidungen treffen werden, Entscheidun-
gen, die, wie bereits ausgeführt, notwendig sind, um das
Die Koalition sollte sich den ausdrücklichen Empfeh- Sparkassenwesen in Schleswig-Holstein zu stärken und
lungen der von ihr gewählten Regierungsvertreter nicht zu stützen.
ausgerechnet dann widersetzen, wenn es um Menschen-
rechte und das Wohl und Leben verfolgter Menschen Die Veränderung der Regelungen hinsichtlich des Ei-
geht. genkapitals ist im Übrigen kein neuer Vorgang. In ande-
ren Ländern wurden Sparkassengesetze ebenfalls geän-
dert, um die Eigenkapitalbasis zu verbreitern, immer im
Anlage 7 Hinblick darauf, die Rolle der Sparkassen im deutschen
Drei-Säulen-System im Bankenwesen zu erhalten und zu
Zu Protokoll gegebene Reden stärken.
zur Beratung des Antrags: Zukunft öffentlich- Dieses Drei-Säulen-Modell, die Trennung in Privat-
rechtlicher Sparkassen sichern – Privatisierung banken, öffentlich-rechtliche Institute sowie Genossen-
verhindern schaftsbanken, hat sich durchaus bewährt. Es hat dazu
(B) beigetragen, dass Deutschland relativ gut durch die (D)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Im vorliegenden jüngste Finanzkrise gekommen ist.
Antrag fordert die SPD-Fraktion vor dem Hintergrund
der aktuellen Entwicklungen in Schleswig-Holstein die Die Sparkassen nehmen dabei eine wichtige Rolle
Bundesregierung auf, sich für die Stärkung der öffent- ein:
lich-rechtlichen Sparkassen im deutschen Bankensystem Sie versorgen, wie im vorliegenden Antrag ganz rich-
einzusetzen, sich gegen die Möglichkeit zur Bildung von tig ausgeführt wird, insbesondere mittelständische Un-
Stammkapital und dessen beschränkte Übertragbarkeit ternehmen mit Krediten. Wir haben es im Übrigen ganz
einzusetzen und gegenüber der schleswig-holsteinischen wesentlich den Sparkassen und Genossenschaftsbanken
Landesregierung darauf zu drängen, einen entsprechen- zu verdanken, dass es bisher zu keiner Kreditklemme ge-
den Gesetzentwurf zurückzuziehen. kommen ist.
Hintergrund sind die Pläne der christlich-liberalen
Sie stellen gerade im ländlichen Raum die flächende-
Koalition in Schleswig-Holstein, das Sparkassengesetz
ckende Versorgung mit Finanzdienstleistungen sicher.
zu ändern. Durch diese Änderung soll den öffentlich-
rechtlichen Sparkassen in Schleswig-Holstein ermög- Sie genießen vor Ort großes Vertrauen bei Bürgern
licht werden, beschränkt übertragungsfähiges Stammka- und Unternehmen und verfügen über exzellente Kennt-
pital zu bilden – wohlgemerkt: Die Möglichkeit soll er- nisse der lokalen Besonderheiten.
öffnet werden. Über die tatsächliche Bildung entscheidet
der Verwaltungsrat nach vorheriger Zustimmung der Sie sind in vielfältiger Weise in das lokale Gemeinwe-
Vertreter des Trägers, also zum Beispiel der Kommunen sen eingebunden, nicht nur als Kreditgeber und als wich-
und Gemeinden. tiger Arbeitgeber, sondern auch als Förderer von vielen
ehrenamtlichen und gemeinnützigen Initiativen.
Bis zu 25,1 Prozent dieses Stammkapitals sollen von
anderen öffentlich-rechtlichen Sparkassen, deren Trä- Diese wichtigen Funktionen der Sparkassen möchte
gern oder vergleichbaren Trägern gehalten werden. Ver- niemand antasten. Im Gegenteil, das Sparkassenwesen
gleichbarer Träger ist nur, wer sich unter staatlicher als wichtige Säule des deutschen Bankenwesens, gerade
Aufsicht auf die Wahrung von sparkassentypischen Auf- in der Funktion als Partner des Mittelstandes, muss ge-
gaben verpflichtet hat sowie etwaige Ausschüttungen stützt und erhalten werden. Dafür steht die Bundesregie-
und Liquidationserlöse gemeinnützigen oder mildtätigen rung, dafür steht die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
Zwecken zuführt. Darüber hinaus haben CDU und FDP Bundestag, und dafür steht auch – das wird in dem Ge-
beantragt, dass die Beteiligung nur von Mitgliedern ei- setzentwurf des Landes Schleswig-Holstein zur Ände-
4810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) rung des Sparkassengesetzes deutlich – die christlich-li- Aufgabe auskömmliche Eigenkapital zu generieren. Ei- (C)
berale Koalition in Schleswig-Holstein. nige Bundesländer haben sich, wie bereits ausgeführt,
vorsichtig auf diesen Weg gemacht. Schleswig-Holstein
Das Land Schleswig-Holstein will nicht die Sparkas- will dem folgen, und das ist auch gut so.
sen gefährden, sondern im Gegenteil das für das Ge-
meinwohl wichtige Sparkassenwesen im Land schützen. Wir sollten diesen Prozess als Bundespolitik daher
Dies wird im Gesetzentwurf zur Änderung des Sparkas- nicht blockieren, sondern vielmehr kritisch konstruktiv
sengesetzes auch noch einmal ausdrücklich betont. begleiten – in Schleswig Holstein und im Rest unseres
Landes.
Die Zweckbindung der Sparkassen soll durch die
Möglichkeit der Bildung von Stammkapital und deren
beschränkte Übertragbarkeit auf andere öffentlich-recht- Bernd Scheelen (SPD): Im Bundestag hat es bisher
liche Sparkassen, deren Träger oder vergleichbare Trä- einen fraktionsübergreifenden Konsens über das deut-
ger nicht eingeschränkt werden. Die Fraktionen der sche dreigliedrige Bankensystem gegeben. Dieser Kon-
CDU und der FDP im Landtag von Schleswig-Holstein sens schloss immer auch die Sparkassen mit ein. Es
verlangen darüber hinaus unter anderem, dass eine Min- muss deshalb den Bundestag beschäftigen, wenn die Zu-
derheitsbeteiligung an einer Sparkasse an die Mitglied- kunft der öffentlich-rechtlichen Sparkassen gefährdet
schaft in einem regionalen Sparkassen- und Giroverband wird.
gebunden sein soll. Ein entsprechender Änderungsantrag
Eine solche Gefährdung geht aktuell von dem Gesetz-
zum Gesetzesentwurf der Landesregierung wurde noch
entwurf der schwarz-gelben Landesregierung in Schles-
in dieser Woche gestellt.
wig-Holstein zur Änderung des dortigen Sparkassenge-
Wir nehmen das im ersten Teil des Antrages formu- setzes aus. Der Gesetzentwurf droht zum Einfallstor für
lierte Ansinnen der Antragsteller, das Sparkassenwesen die Privatisierung der Sparkassen in Schleswig-Holstein
zu schützen, sehr ernst. Die aufgeworfenen Fragestellun- zu werden. Dies würde den Bestand der gesamten Ver-
gen sind diskussionswürdig und müssen beantwortet bundorganisation der öffentlich-rechtlichen Sparkassen
werden. Wir bezweifeln aber, dass der vorliegende An- infrage stellen und hätte somit über das Land hinaus gra-
trag dazu beiträgt. vierende negative Auswirkungen auf den gesamten
Sparkassensektor.
Wir sind uns sicher, dass die Entscheidungsträger in
Schleswig-Holstein verantwortungsvoll mit der Zukunft Die öffentlich-rechtlichen Sparkassen sind ein unver-
der dortigen Sparkassen umgehen. Auch die CDU- und zichtbarer Teil des Bankensystems. Sie sind der Haupt-
die FDP-Fraktion im Landtag in Schleswig-Holstein ha- kreditgeber für die mittelständischen Unternehmen. Sie
(B) ben ihren Willen dazu erneut durch ihren in Detailfragen stellen einen diskriminierungsfreien Zugang für alle (D)
klarstellenden Änderungsantrag gezeigt. Wir lehnen den Kunden zu Finanzdienstleistungen sicher. Ohne sie wäre
vorliegenden Antrag der SPD daher ab. eine flächendeckende geld- und kreditwirtschaftliche
Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regio-
Wir lehnen den Antrag aber auch deswegen ab, weil nen nicht gesichert.
er sich der Einsicht verweigert, dass Sparkassen zukünf-
tig neue Wege bei der Beschaffung von Eigenkapital ge- Diese Funktion können Sparkassen aber nur aufgrund
hen müssen. Nach den beiden Finanzkrisen kann und ihrer öffentlich-rechtlichen Struktur, der Einhaltung des
wird die Finanzbranche nicht mehr bleiben, wie sie war. Regionalprinzips und ihres öffentlichen Auftrags erfül-
len. Bei einer Privatisierung der öffentlich-rechtlichen
Im Rahmen der diskutierten und der bereits auf den Sparkassen würden kurzfristige Renditeinteressen an die
Weg gebrachten Regulierungsmaßnahmen wird die Ver- Stelle der bisherigen Gemeinwohlorientierung treten.
stärkung des Eigenkapitals für Banken eine entschei- Die SPD wendet sich deshalb gegen die Privatisierung
dende Rolle spielen. Die Überlegungen des Baseler Aus- der Sparkassen!
schusses zum Beispiel zur Leverage Ratio sind hierfür
nur ein Beispiel. Die Sparkassenorganisation wird also Die schleswig-holsteinische Landesregierung betritt
die Frage beantworten müssen, wie sie dieses Eigenkapi- mit der in ihrem Gesetzentwurf enthaltenen Option zur
tal generiert. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Bildung beschränkt übertragungsfähigen Stammkapitals
kommunalen Träger der Sparkassen bundesweit ver- bei öffentlich-rechtlichen Sparkassen leichtfertig Neu-
mehrt in einer komplexen Finanzsituation befinden. Vor land. Nach Einschätzung der kommunalen Spitzenver-
diesem Hintergrund wird sich immer häufiger die Frage bände und des Deutschen Sparkassen- und Giroverban-
stellen, inwieweit die Sparkassen zur Konsolidierung der des birgt diese Option die Gefahr eines Verstoßes gegen
Haushalte ihrer jeweiligen Träger beitragen können. In- europäisches Wettbewerbsrecht. Der Gesetzentwurf
sofern wird der Druck, soweit gesetzlich zulässig, an die droht deshalb zu einem Dammbruch zur Privatisierung
Kommunen als Träger auszuschütten, größer werden der Sparkassen zu werden. Dies scheint Schwarz-Gelb in
und das Thesaurierungspotenzial mithin sinken. Kiel nicht zu stören.
Wir werden diesen Herausforderungen, bei allem Re- Bereits die Möglichkeit zur Bildung und Übertragung
spekt vor den im Antrag der SPD formulierten Beden- von Stammkapital ist ein Schritt in Richtung Privatisie-
ken, nicht dadurch begegnen können, dass wir so tun, als rung. Sparkassen werden dadurch zu Finanzbeteiligun-
dürfe sich nichts ändern. Sparkassen werden andere gen, die bei Nichterreichen einer gewünschten Rendite
Wege als bisher einschlagen müssen, um das für ihre veräußert werden können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4811

(A) Für die Stammkapitalbildung gibt es dabei keine Die SPD will diese Art der eigenen Vorsorge durch (C)
überzeugenden betriebswirtschaftlichen Argumente. Fu- die Finanzmarktakteure unterbinden. Aus den schlechten
sionen von Sparkassen oder die Stärkung der Eigenmit- Erfahrungen mit der Sparkasse Südholstein und der
telausstattung einer öffentlich-rechtlichen Sparkasse Nord-Ostsee Sparkasse sollen keine Lehren gezogen
sind mit den bestehenden sparkassenrechtlichen Mitteln werden. Die somit nur plakative Forderung der SPD,
auch ohne den Einsatz von Stammkapital möglich. sich bei den Bemühungen zur Stabilisierung und Stär-
kung von Finanzinstituten einseitig auf Sparkassen zu
Die größte Gefahr liegt aber darin, dass der Gesetz- fokussieren, verkennt zudem den Reformbedarf auch in
entwurf erstmals die Übertragbarkeit von Stammkapital den anderen kreditwirtschaftlichen Bereichen. Nicht zu-
nicht auf öffentlich-rechtliche Sparkassen und kommu- letzt die mittlerweile bundeseigene Hypo-Real-Estate-
nale Träger beschränkt. Einbezogen wird nämlich mit Gruppe muss so gestärkt werden, dass von ihr keine
der HASPA Finanzholding die Trägerin einer freien neuen Gefahren für andere Marktteilnehmer ausgehen.
Sparkasse und damit ein privates Rechtssubjekt. Dies
wird von der schwarz-gelben Landesregierung zwar be- Schon vor dem Hintergrund des Beihilferechts ist
stritten. Die EU-Kommission hat aber bereits deutlich nicht ersichtlich, warum die Bundesregierung sich ein-
erkennen lassen, dass sie die Haspa als Privaten einord- seitig für die Stärkung von Sparkassen im Wettbewerb
nen wird. beispielsweise mit Genossenschaftsbanken einsetzen
sollte. Die Koalition bekennt sich auch weiterhin zu ver-
Wird die Übertragbarkeit nicht auf den öffentlich- gleichbaren Wettbewerbsbedingungen für Institute aller
rechtlichen Bereich beschränkt, ist nach der Rechtspre- Rechtsformen.
chung des Europäischen Gerichtshofs eine Privilegie-
rung bestimmter Rechtsträger gegenüber anderen poten- Nicht nur deswegen ist die vorliegende Initiative der
ziellen Investoren unzulässig. Es besteht somit das SPD abzulehnen. Vor allem die grundgesetzlich ge-
Risiko, dass die EU-Kommission wegen der unzulässi- schützte Zuständigkeit der Landesparlamente für die
gen Veräußerungsbeschränkung ein Vertragsverletzungs- Sparkassengesetzgebung gilt es zu wahren. Allein aus
verfahren einleitet. Selbst wenn dies unterbleibt, könnten diesem Verfassungsprinzip kann die Bundesregierung
sich private Investoren auf eine Gleichstellung mit der nicht auf die freie Meinungsbildung der gewählten Ab-
HASPA Finanzholding berufen und sich damit in eine geordneten im schleswig-holsteinischen Landesparla-
Sparkasse hineinklagen. ment Einfluss nehmen.

Die SPD fordert deshalb die schleswig-holsteinische


Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Machen wir uns doch
Landesregierung auf, ihren Gesetzentwurf zurückzuzie-
nichts vor: Der Hintergrund für den Vorstoß zur Ände-
(B) hen. Der offensichtlich gegen das europäische Wettbe- rung des Sparkassengesetzes ist die desaströse Schief- (D)
werbsrecht verstoßende Gesetzentwurf darf nicht zum
lage der öffentlich-rechtlichen Finanzwirtschaft in
Einfallstor für die Privatisierung der Sparkassen werden!
Schleswig-Holstein. Durch die Risikogeschäfte der HSH
Nordbank mussten die Sparkassen einen Vermögensver-
Dr. Volker Wissing (FDP): Ein leistungsfähiges und lust in dreistelliger Millionenhöhe hinnehmen. Als Ent-
stabiles Finanzsystem ist für die wirtschaftliche Ent- lastung schlägt die schwarz-gelbe Regierungsfraktion
wicklung unseres Landes unerlässlich. Nicht zuletzt mit nun vor, dass fremde Kreditinstitute künftig Minder-
dem Koalitionsvertrag erneuern Union und FDP daher heitsbeteiligungen an den öffentlich-rechtlichen Kredit-
das gemeinsame Bekenntnis zum dreigliedrigen Banken- instituten von bis zu 25,1 Prozent erwerben können. Vo-
system, bestehend aus Privatbanken, Volks- und Raiffei- raussetzung ist laut Gesetzentwurf, dass diese neuen
senbanken sowie Sparkassen. Privatpersonen und Unter- Anteilseigner aus dem „öffentlichen Bereich“ stammen
nehmen profitieren von dieser wettbewerbsintensiven müssen. Die Landesregierung beansprucht mit dem Ge-
Bankenlandschaft. setz, die Eigenkapitalausstattung der Institute zu stärken.
Tatsächlich aber wird einer Teilprivatisierung von Spar-
Die Bundesregierung setzt sich mit zusätzlichen An- kassen Tür und Tor geöffnet.
strengungen für die nachhaltige Stabilisierung des Fi-
nanzsektors ein. Hierzu zählt die strukturelle Verbesse- Elf Sparkassen in Schleswig-Holstein sind noch
rung privater und hoheitlicher Aufsichtssysteme ebenso „echte“ Sparkassen: Sie sind öffentlich-rechtlich struktu-
wie die Stärkung langfristiger Wachstumskräfte durch riert, dürfen nur in einem bestimmten Gebiet tätig wer-
wettbewerbsorientierte Reformen. den und schütten ihre Gewinne an Stiftungen in der Re-
gion aus. 2009 waren das bei der Sparkasse Holstein
Unser Ziel ist es, die Widerstandsfähigkeit aller rund 5,2 Millionen Euro. Mit der von CDU und FDP ge-
Marktteilnehmer – unabhängig von der Rechtsform – planten Gesetzesänderung sollen sich nun auch anders
nachhaltig zu stärken. Als Fundament einer wirkungs- organisierte, „unechte“ Sparkassen an den „echten“ be-
volleren Bankenregulierung werden die Kapitalanforde- teiligen können. Das Gesetz bereitet den Weg für die
rungen differenziert nach Risiko und Systemrelevanz HASPA Finanzholding, Mutter der Hamburger Spar-
verstärkt. In Krisenzeiten auftretende Verluste werden kasse, Haspa, bei den schleswig-holsteinischen Sparkas-
zukünftig in größerem Umfang selbst zu tragen sein. Die sen einzusteigen. Wenngleich die Haspa mit Verweis auf
Bildung von Stammkapital auch durch Sparkassen ent- ihre öffentlichen Aufgaben gerne den Eindruck vermit-
spricht dieser Zielsetzung einer effizienten Risikovor- telt, keine private Bank zu sein, ist sie doch auch keine
sorge durch Eigenkapitalbildung. öffentliche. Denn das Hamburger Geldinstitut hat eine
4812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010

(A) Sonderstellung inne. Für sie gilt das Regionalprinzip Carstensen, aus den Rücklagen der Sparkassen jetzt ver- (C)
nicht, und es ist unklar, wer eigentlich die Holding kon- äußerbares Stammkapital zu machen, lenkt die Diskus-
trolliert. sion um die Sparkassen in die falsche Richtung. So soll
sich einmal mehr die Auseinandersetzung in der vorder-
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund, DStGB, gründigen Frage erschöpfen: Privatisierung oder Teilpri-
und der Sparkassen- und Giroverband für Schleswig- vatisierung – ja oder nein?
Holstein, SGVSH, haben die schwerwiegenden Konse-
quenzen einer solchen Neuregelung bereits mehr als Dabei bestehen im Sparkassenbereich bereits ohnehin
deutlich gemacht: Wenn die Haspa bei den Sparkassen große Herausforderungen: Aus Brüssel droht Ungemach
einsteigen darf, dann ist die Option eröffnet, dass sich mit Reformen bei der Einlagensicherung, die einmal
Privatbanken dasselbe Recht erstreiten und damit das öf- mehr die Funktionsweise des öffentlich-rechtlichen Sek-
fentlich-rechtliche Finanzwesen in Richtung Privatisie- tors wie des genossenschaftlichen Sektors in Deutsch-
rung treiben. Sparkassenfremde Anbieter könnten sich land ignorieren. Doch es ist nicht nur notwendig, Bedro-
auf die Kapitalverkehrsfreiheit und die Niederlassungs- hungen dieser Art zu thematisieren. Es geht nicht nur um
freiheit in den EU-Mitgliedstaaten berufen und hierüber die Abwehr unerwünschter Gesetzgebung in Europa
den Erwerb von Sparkassenanteilen in Schleswig-Hol- oder einzelnen Bundesländern, sondern auch darum, die
stein erzwingen. Dies würde den Fortbestand des Spar- Gemeinwohlorientierung angesichts neuer Herausforde-
kassenwesens – und damit das Rückgrat der Kreditver- rungen neu zu gestalten. Gemeinwohlorientierung darf
sorgung für kleinere und mittelständische Unternehmen – sich bei weitem nicht in Mittelstandsfinanzierung, Konto
massiv gefährden. Der Beitrag, den die Sparkassen nicht für jedermann und Mittelausschüttung für gemeinnüt-
zuletzt auf Grundlage ihrer kleinteiligen Strukturierung zige Zwecke erschöpfen. Sosehr Bündnis 90/Die Grünen
und regionalen Verankerung zum wirtschaftlichen Leben von der Bedeutung eines öffentlichen Bankensektors in
vor Ort leisten, würde dann bald der Vergangenheit an- Deutschland und in Europa – und übrigens auch von der
gehören. volkswirtschaftlichen Richtigkeit – überzeugt sind, so-
sehr fordern wir eine Neuausrichtung der Sparkassen.
Abzulehnen ist in der Tat bereits die Möglichkeit, bei Denn nur wenn sie der Gesellschaft Leistungen bieten,
öffentlich-rechtlichen Sparkassen Stammkapital einzu- die Privatbanken nicht erbringen können oder wollen,
führen und den Trägern der Institute die Option einzu- haben sie eine Daseinsberechtigung von öffentlichem In-
räumen, Anteile zu veräußern. Hierdurch wird den Spar- teresse und sind daher schützenswert.
kassen kein frisches Kapital zur Verbesserung ihrer
Eigenmittelausstattung zugeführt. Das Gesetz würde Ich will also die Diskussion nicht in der Frage Eigen-
völlig falsche Anreizstrukturen für öffentliche Träger kapital/Stammkapital vertiefen. Da stimmen wir dem
Antrag der SPD zu. Ich denke, die darin aufgeführten (D)
(B) schaffen, weil diese dann Sparkassenanteile veräußern
können, beispielsweise um sich finanziell zu entlasten. Bedenken wird auch Schwarz-Gelb, im Land wie im
Wäre der schleswig-holsteinischen Regierung an einer Bund, nicht von der Hand weisen können: Eine Stärkung
Aufstockung der Kapitaldecke wirklich gelegen, könnte der Eigenkapitalbasis wird mit der Umwandlung von Si-
dies im Übrigen auch mittels stiller Einlagen erfolgen. cherheitsrücklagen in Stammkapital nicht erreicht. Im
Der jetzige Gesetzentwurf ist nichts anderes als ein Ein- Gegenteil: Bei einer Verzinsung des Stammkapitals
fallstor für die vor allem von der FDP geplante Zerstö- würde die Eigenkapitalbasis sogar geschmälert. Auf den
rung des öffentlichen Finanzsektors. Dem erteilen wir ersten Blick vielleicht einleuchtend, langfristig aber pro-
eine entschiedene Absage. Der Antrag der SPD geht in blematisch und für die Zukunft der Sparkassen insge-
die richtige Richtung. Die öffentlich-rechtlichen Spar- samt gefährlich ist der geplante Einstieg der Hamburger
kassen sind in ihren Strukturen zu erhalten. Wir wollen Sparkasse Haspa. Schließlich bewertet die EU-Kommis-
keine Privatisierung durch die Hintertür und stimmen sion deren Eigner, den Hanseatischen Sparkassen- und
heute dem Antrag der SPD zu. Allerdings fordert der Giroverband, HSGV, als privatrechtlich. Wer also den
Antrag im letzten Spiegelstrich eine Intervention der Einstieg der Haspa betreibt, der öffnet den Einstieg für
Bundesregierung in Richtung der Landesregierung von andere Privatbanken. Nebenbei: Damit würde die FDP
Schleswig-Holstein. Dies ist natürlich nicht korrekt, weil ausnahmsweise einmal der Erfüllung eines ihrer Wahl-
die Gesetzesvorlage nicht von der Landesregierung, son- versprechen wenigstens einen Schritt näherkommen, hat
dern von den Koalitionsfraktionen eingereicht worden die FDP doch in ihrem Wahlprogramm die Umwandlung
ist. Deshalb kann die Landesregierung ihren Gesetzent- der Sparkassen in Aktiengesellschaften gefordert. Wie
wurf auch nicht zurückziehen, sondern nur die Fraktio- schon gesagt: Privatisierung um jeden Preis. Sparkassen
nen von FDP und CDU können dies tun. als bloße Finanzbeteiligungen. Darauf läuft es hinaus.
Das machen wir nicht mit, und das werden auch die Bür-
gerinnen und Bürger nicht mitmachen, deren Restver-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): trauen in die Finanzbranche neben dem genossenschaft-
Was die schwarz-gelbe Landesregierung in Schleswig- lichen Bereich insbesondere den insgesamt soliden und
Holstein mit den Sparkassen vorhat, ist nichts anderes bürgernahen Sparkassen zu verdanken ist. Damit ist ge-
als eine Trippelschrittprivatisierung durch die Hintertür. sagt, was zu dieser falsch motivierten und zu erwarten-
Nicht die Frage nach dem Warum und Wofür leitet diese den fatalen Änderung des Sparkassengesetzes in Schles-
Regierung, sondern eine fragwürdige und in anderen Be- wig-Holstein gesagt werden muss.
reichen schon vielfach gescheiterte Privatisierungsdok-
trin, die den privaten Banken ein Einfallstor zum Spar- Ich will die Diskussion vielmehr auf die Funktion der
kassengeschäft öffnet. Die Absicht der Regierung Sparkassen lenken. Ihre Rolle, die ihren öffentlich-recht-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Juni 2010 4813

(A) lichen Status legitimiert, können sie unserem Verständ- bei ihrer eigenen Anlagepolitik berücksichtigen. Dazu (C)
nis nach nur ausfüllen, wenn sie sich konsequent als mo- wiederum bedarf es bundespolitischer Rahmensetzun-
derne, nachhaltig wirtschaftende Finanzdienstleister gen. Das ist ein Thema, das die Bundesregierung völlig
aufstellen, die in ihren Investments konsequent auch ignoriert – dabei liegen gerade hier enorme Potenziale
ökologische, soziale und ethische Kriterien berücksichti- für den deutschen Finanzmarkt, ganz abgesehen von der
gen, und wenn sie zugleich den öffentlichen Auftrag ins schlichten Notwendigkeit einer Neuorientierung der Fi-
Zentrum ihres Geschäftsmodells stellen sowie in Bezug nanzströme zur Bewältigung von Finanz-, Klima- und
auf Transparenz und Offenheit eine Vorreiterrolle ein- Hungerkrise.
nehmen. Im Zentrum der modernen Sparkasse stehen
für uns drei zentrale Eigenschaften: die ökologische und Ein weiterer wichtiger Punkt, den die Koalition bis
heute nicht ernst genug nimmt, ist der Anlegerschutz.
die soziale Ausrichtung sowie Transparenz und demo-
Hier haben etliche Sparkassen in den vergangenen Jah-
kratische Verfasstheit.
ren nicht gerade geglänzt. Auch sie haben ihren Kundin-
Den Sparkassen öffnet sich eine Vielzahl von nen und Kunden riskante, den Bedürfnissen des jeweili-
ökologischen Handlungsmöglichkeiten: Unternehmens- gen Kunden nicht entsprechende Produkte wie
leitlinien, Umweltmanagement, Investitionsrichtlinien, Zertifikate aufgedrängt – und sich danach aus der Ver-
Produktgestaltung und Beratungskompetenz sowie Un- antwortung zu stehlen versucht. Dabei müssten die Spar-
terstützung nachhaltiger Unternehmen können zentrale kassen auch hier ihrer Vorbildfunktion gerecht werden,
Ansatzpunkte einer ökologischen Ausrichtung einer wenn sie, was wir wollen, einen öffentlichen Auftrag
Sparkasse sein. Das am Finanzmarkt angelegte Kapital verfolgen. Bundes- und Landesgesetzgeber sind deshalb
sollte neben den übrigen Aspekten der Anlagestrategie aufgefordert, statt an neuen Privatisierungseinfallstüren
eben auch nachhaltige Gesichtspunkte umfassen. Spar- zu arbeiten, den gemeinwohlorientierten Fortbestand der
kassen sollten sich verpflichten, Angebote nachhaltiger Sparkassen in einem Drei-Säulen-Bankensystem zu er-
Geldanlagen anzubieten, und entsprechende Kriterien möglichen.

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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