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Plenarprotokoll 16/55

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

55. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 29: Stellungnahme der Bundesregierung


(Drucksache 16/1360) . . . . . . . . . . . . . . . 5353 D
a) – Zweite und dritte Beratung des von
den Fraktionen der CDU/CSU und der Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin
SPD eingebrachten Entwurfs eines BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5354 A
Gesetzes zur Einführung des Eltern- Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5355 D
geldes
(Drucksachen 16/1889, 16/2785, Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 5356 D
16/2788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5353 A Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5357 B
– Zweite und dritte Beratung des von der Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5358 B
Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Einführung Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5358 C
des Elterngeldes Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5359 C
(Drucksachen 16/2454, 16/2785,
16/2788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5353 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5361 A
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5363 D
und Jugend Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5365 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5367 A
Lenke, Miriam Gruß, Cornelia Pieper,
weiterer Abgeordneter und der Frak- Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5367 C
tion der FDP: Flexible Konzepte für Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5368 B
die Familie – Kinderbetreuung und
frühkindliche Bildung zukunftsfähig Jürgen Kucharczyk (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5368 D
machen Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5370 C
Wunderlich, Karin Binder, Klaus Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . 5371 C
Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN: Elterngeld Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5372 D
sozial gestalten Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5373 A
(Drucksachen 16/1168, 16/1877, 16/2785) 5353 C Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5373 D
c) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Siebter Familienbericht
Familie zwischen Flexibilität und Ver- Tagesordnungspunkt 30:
lässlichkeit – Perspektiven für eine Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,
lebenslaufbezogene Familienpolitik Annette Widmann-Mauz, Peter Albach, wei-
und terer Abgeordneter und der Fraktion der
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dagmar Zusatztagesordnungspunkt 10:


Freitag, Dr. Peter Danckert, Martin Gerster,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae,
SPD: Sport und Bewegung in Deutschland Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, weiterer
umfassend fördern – Bewusstsein für Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
gesunde Lebensweise stärken NISSES 90/DIE GRÜNEN: Deutscher
(Drucksache 16/1648) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5376 A Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel –
Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 5376 B (Drucksache 16/2752) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5393 B
Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5378 A
in Verbindung mit
Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5379 B
Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5380 A
Zusatztagesordnungspunkt 11:
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5380 D
Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Troost,
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Dr. Barbara Höll, Roland Claus, weiterer Ab-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5381 D geordneter und der Fraktion der LINKEN:
Hermann-Josef Scharf (CDU/CSU) . . . . . . . . 5382 D Sparkassen-Namensschutz sichern – EU-
Recht wahren – Parlamentarische Ein-
Reinhold Hemker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5384 A flussnahme sicherstellen
(Drucksache 16/2745) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5393 B
Tagesordnungspunkt 31: Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 5393 C
Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5395 B
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, weiterer Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5396 B
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN:
Verzicht auf Mehrwertsteuererhöhung Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5398 A
(Drucksache 16/2507) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5385 C
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5385 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5398 D
Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5386 D
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 5387 D Tagesordnungspunkt 32:
Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5389 A a) Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5389 C Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5391 C GRÜNEN: Treibhausgasemissionen bei
Dienstreisen ausgleichen – Vorbildfunk-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ tion der öffentlichen Hand erfüllen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5392 B (Drucksache 16/1066) . . . . . . . . . . . . . . . 5399 D
Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5392 C b) Antrag der Abgeordneten Hellmut
Dr. Uwe Küster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5392 C Königshaus, Dr. Karl Addicks, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Keine Flugticket-
Zusatztagesordnungspunkt 9: abgabe – Mit solider Finanzpolitik
mehr Haushaltsmittel erwirtschaften
Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Meister, (Drucksache 16/2660) . . . . . . . . . . . . . . . . 5400 A
Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU c) Beschlussempfehlung und Bericht des
sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
(Everswinkel), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt- menarbeit und Entwicklung
Brauer, weiterer Abgeordneter und der Frak- – zu dem Antrag der Abgeordneten
tion der SPD: Deutscher Finanzdienstleis- Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin,
tungsmarkt im Wandel – Bezeichnungs-
Monika Knoche, weiterer Abgeordne-
schutz für Sparkassen erhalten
ter und der Fraktion der LINKEN:
(Drucksache 16/2748) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5393 A
Flugticketabgabe jetzt – Entwick-
lungsfinanzierung auf breitere
in Verbindung mit Grundlagen stellen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 III

– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN:
Hoppe, Kerstin Andreae, Marieluise 70. Jahrestag der Gründung der Interna-
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter tionalen Brigaden in Spanien – Würdigung
und der Fraktion des BÜNDNIS- des Kampfes deutscher Freiwilliger an der
SES 90/DIE GRÜNEN: Umsetzung Seite der Spanischen Republik für ein anti-
des EU-Stufenplans zur Entwick- faschistisches und demokratisches Europa
lungsfinanzierung (0,7-Prozent-Ziel) (Drucksache 16/2679) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5411 D
durch Flugticketsteuer unterstützen
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5411 D
(Drucksachen 16/1203, 16/1404,
16/2783) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5400 A Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5412 D
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5414 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5400 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5415 A
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5401 B Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5415 C
Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5403 A Monika Knoche (DIE LINKE)
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5404 B (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . 5415 D

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5406 B Dr. Rainer Stinner (FDP)


(Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . 5416 A
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 33: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5416 B
Antrag der Abgeordneten Florian Toncar,
Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5416 D
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP: Rechtsstaatskonforme Be-
handlung von Verhafteten nach der Über- Anlage 1
gabe durch deutsche Stellen im Ausland Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5417 A
sicherstellen
(Drucksache 16/2096) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5407 B
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 5407 C Anlage 2
Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5408 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Antrags: Rechtsstaatskonforme Behandlung
Johannes Jung (Karlsruhe) (SPD) . . . . . . . . . 5409 D von Verhafteten nach der Übergabe durch
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ deutsche Stellen im Ausland sicherstellen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5410 D (Tagesordnungspunkt 33)
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5417 D

Tagesordnungspunkt 34:
Anlage 3
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke,
Monika Knoche, Dr. Norman Paech, weiterer Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5419 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5353

(A) (C)

Redetext

55. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Sitzung ist eröffnet. Frauen und Jugend (13. Ausschuss)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis c auf: – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,
Miriam Gruß, Cornelia Pieper, weiterer Abge-
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- ordneter und der Fraktion der FDP
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Flexible Konzepte für die Familie – Kinder-
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des betreuung und frühkindliche Bildung zu-
Elterngeldes kunftsfähig machen
– Drucksache 16/1889 – – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Karin Binder, Klaus Ernst, weite-
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
(B) rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- (D)
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
KEN
zur Einführung des Elterngeldes
Elterngeld sozial gestalten
– Drucksache 16/2454 –
– Drucksachen 16/1168, 16/1877, 16/2785 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Berichterstattung:
Jugend (13. Ausschuss) Abgeordnete Ingrid Fischbach
Dr. Eva Möllring
– Drucksache 16/2785 – Christel Humme
Caren Marks
Berichterstattung: Ina Lenke
Abgeordnete Ingrid Fischbach Jörn Wunderlich
Dr. Eva Möllring Diana Golze
Christel Humme Ekin Deligöz
Caren Marks
Ina Lenke c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
Jörn Wunderlich regierung
Diana Golze Siebter Familienbericht
Ekin Deligöz Familie zwischen Flexibilität und Verlässlich-
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- keit – Perspektiven für eine lebenslaufbezo-
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung gene Familienpolitik
und
– Drucksache 16/2788 – Stellungnahme der Bundesregierung

Berichterstattung: – Drucksache 16/1360 –


Abgeordnete Dr. Ole Schröder Überweisungsvorschlag:
Dr. Frank Schmidt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Otto Fricke Finanzausschuss
Roland Claus Ausschuss für Bildung, Forschung und
Anna Lührmann Technikfolgenabschätzung
5354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU ökonomischen Selbstständigkeit oder ökonomische Ab- (C)
und der SPD zur Einführung des Elterngeldes liegt je ein hängigkeit von Vater Staat bedeutet. Zeit ist Geld. Das
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Elterngeld schafft Zeit – Zeit für Kinder mit ihren Eltern
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. und Zeit für Eltern mit ihren Kindern.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Die Entwicklung in den nord- und westeuropäischen
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Staaten hat auch gezeigt, dass die Einführung des Eltern-
höre keinen Widerspruch. geldes ein wichtiger Baustein ist, um die Kinderarmut
zu reduzieren. Denn vom Elterngeld profitieren insbe-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- sondere Alleinerziehende und Geringverdiener. Eltern-
ministerin Frau von der Leyen. geld ist immer besser als Sozialhilfe. Mit dem Elterngeld
wird betont: Arbeit wird anerkannt.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Siebte Familienbericht hat ein zentrales Thema. Das ist
die Dynamik von Familie. Familie verändert sich im Deshalb hat der im Elterngeld enthaltene Geringverdien-
Laufe der Zeit. Kinder wachsen heran, Väter und Mütter erbonus einen so hohen Stellenwert.
werden zu Großvätern und Großmüttern. Das heißt, dass
sich Familienpolitik vor allem auch am Lebenslauf Ein auffallender Befund des Siebten Familienberich-
orientieren muss. Eine Familie mit einem Säugling hat tes ist, dass Mütter mit Kindern unter sechs Jahren in den
andere Bedürfnisse als eine Familie mit Teenagern oder neuen Bundesländern ein geringeres Armutsrisiko als in
eine Familie, in der ältere Angehörige gepflegt werden. den westlichen Bundesländern haben, weil der Kontakt
Familienpolitik ist damit eine Politik, die die ganze Zeit zum Beruf für sie selbstverständlicher ist.
im Laufe des Lebens in einer Familie betrachtet. Das Elterngeld beinhaltet auch die Partnermonate.
Die aktuelle Shell-Jugendstudie bringt das auf den Zum ersten Mal bekommen Väter die ehrliche Chance,
Punkt. Mit einem wirklich glücklichen Leben verbinden sich für ihre unersetzliche Rolle Zeit zu nehmen.
Jugendliche in erster Linie Familie. Aber sie wissen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
auch ganz genau, dass es nicht einfach ist, Ausbildung, der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
Beruf, Partnerschaft, Karriere und Kindererziehung un- GRÜNEN]: Das machen Väter seit Jahrhun-
ter einen Hut zu bringen. Die Folgen dieser Skepsis sind derten! Frauen schließlich auch!)
(B) hohe Kinderlosigkeit und das Verschwinden der Mehr- (D)
kindfamilie. Das heißt, Familie ist nach wie vor zeitge- Jetzt eröffnen wir ihnen die Möglichkeit, diese Grenz-
mäß, aber die Rahmenbedingungen, die wir als Gesell- erfahrung für einen bestimmten Zeitraum zu machen,
schaft Familien im 21. Jahrhundert zumuten, sind nicht sich Tag und Nacht um ihr Kind zu kümmern und für das
mehr zeitgemäß. Kind da zu sein.
Zwei von drei jungen Frauen wollen heute Kinder (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und Beruf, und zwar in ganz unterschiedlichen Ausprä- NEN]: Die Frauen müssen das tun! Aber die
gungen, von Teilzeit bis Vollzeit. Sie möchten, dass Fa- Männer bekommen jetzt bloß ein Angebot!)
milienwerte und berufliches Fortkommen Hand in Hand Mit dieser Grenzerfahrung geht eine schier unbe-
gehen. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Zwei von schreibliche Explosion von Gefühlen einher. Bislang
drei jungen Männern wollen mehr Erzieher als nur Er- war es für Väter keine Selbstverständlichkeit, am An-
nährer ihrer Kinder sein. Sie wünschen sich Zeit mit ih- fang des Lebens ihres Kindes da zu sein, sich Zeit neh-
ren Kindern. Auch hier sieht die Wirklichkeit oft anders men zu können, Zeit zu haben und diese Erfahrung ma-
aus. Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklich- chen zu können.
keit haben die jungen Menschen mit Verzicht beantwor-
tet: entweder Verzicht auf Kinder oder Verzicht auf Ent- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
faltung des Erlernten im Beruf. NEN]: Es hat noch nie jemand die Männer da-
ran gehindert, ihre Kinder zu erziehen!)
Es geht auch anders. Es ist im 21. Jahrhundert mög-
lich, die Verantwortung für Erziehung und für Einkom- Auch wenn wir in der heutigen Debatte zu Recht über
men als gemeinsame Verantwortung von Männern und Zahlen, Daten und Fakten sprechen müssen, kann man
Frauen zu sehen. gar nicht oft genug hervorheben: Kinder sind ein schier
unbeschreibliches Glück.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Das zeigen unsere west- und nordeuropäischen Nach- FDP)
barn. Deshalb wird im Familienbericht das Elterngeld
ganz klar unterstützt, weil die Entscheidung, sich für Ich möchte an dieser Stelle dem Parlament, vor allem
eine bestimmte Zeit verantwortlich um sein Kind zu dem Fachausschuss, ausdrücklich dafür danken, dass wir
kümmern, genauso wichtig ist wie der Beruf. Das Eltern- heute diesen historischen Moment erleben können. In
geld macht auch deutlich, dass die persönliche Verant- nur zehn Monaten ist es gelungen, ein vollkommen
wortung für ein Kind nicht automatisch die Aufgabe der neues Leistungsgesetz auf die Beine zu stellen und die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5355
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) Situation junger Eltern und ihrer Kinder in Deutschland Dort wird auch das Risiko einer überbehüteten, einer (C)
grundlegend zu verbessern. vereinzelten Kindheit beschrieben, einer Kindheit, die
sich vor allem im Transport zwischen organisierten Ter-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- minen abspielt. Wörtlich ist von einer „Terminkindheit“
neten der SPD) die Rede. Im Kindergarten oder in der Tagespflege tref-
Im Siebten Familienbericht werden drei Forderungen fen Kinder andere Kinder und haben Zeit, um zu toben,
aufgestellt: ein Neuzuschnitt der Geldleistungen – zum miteinander zu spielen und ihre eigenen Grenzen auszu-
Beispiel das Elterngeld –, eine Verbesserung der Chan- testen. Und sie lernen ihre Altersgenossen in ihrer gan-
cen im Arbeitsalltag und mehr Zeit. Nachbarschaftsnetze zen Vielfalt kennen. Das, meine Damen und Herren, ist
und Mehrgenerationenhäuser entlasten die Familien und ein unschätzbarer Integrationsfaktor.
schaffen dadurch Zeit. Aber die entscheidende Infra- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
struktur – auch das wird betont – ist eine flexible, viel-
fältige Kinderbetreuung. Das sage ich vor allem vor dem Hintergrund, dass
heute jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migra-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tionshintergrund hat. Integration und Toleranz kann eine
Auch hierzu wurden im Siebten Familienbericht eindeu- Gesellschaft nicht wirkungsvoller und kostengünstiger
tige Aussagen getroffen. Familienpolitik muss sich am schaffen als dadurch, dass sie kleine Kinder von Anfang
Lebenslauf orientieren. Das heißt, das Elterngeld und die an im Alltag selbstverständlich miteinander spielen und
Kinderbetreuung werden nicht gegeneinander ausge- miteinander reden lässt.
spielt. Sie gehen Hand in Hand. Wir verabschieden heute in zweiter und dritter Le-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sung das Elterngeld als einen ersten, wichtigen Baustein
einer Familienpolitik, die sich am Lebenslauf orientiert,
In den ersten Tagen, Wochen und Monaten wünschen einer Familienpolitik, die die realen Probleme, aber auch
sich die jungen Eltern nichts mehr als gemeinsame Zeit die Wünsche der jungen Menschen ins Auge nimmt, ei-
mit ihrem Neugeborenen. Erst allmählich erweitert sich ner Familienpolitik, die den jungen Männern und Frauen
ihr Horizont, übrigens auch der des Säuglings, im Hin- am Anfang des 21. Jahrhunderts – die in Zukunft eine
blick auf andere Kinder und andere Erwachsene. Ebenso enorme Verantwortung werden tragen müssen – die
ist es selbstverständlich, dass die Kinderbetreuung nach Chance gibt, für Erziehung wie Einkommen gleicherma-
der ersten engen Phase mit ihrem Kind zunehmend in ßen in der Verantwortung zu stehen.
den Fokus der Eltern rückt.
Vielen Dank.
(Ina Lenke [FDP]: Ja, aber es wird nichts
(B) gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D)

Im Sommer dieses Jahres wurde der Erste Bericht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
zum Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDP-
vorgelegt. Endlich tut sich etwas. Allerdings haben wir Fraktion.
noch eine lange Wegstrecke vor uns, die wir zügig zu-
rücklegen müssen. Gegenwärtig kann für fast jedes (Beifall bei der FDP)
siebte Kind unter drei Jahren ein Kinderbetreuungsange-
bot zur Verfügung gestellt werden; im Jahre 2002 war Ina Lenke (FDP):
das nur für jedes zehnte Kind möglich. In großen Städten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das El-
kann zurzeit fast jedem vierten Kind unter drei Jahren terngeld als Einkommensersatzleistung für berufstätige
ein Betreuungsplatz angeboten werden. In Westdeutsch- Väter und Mütter soll Einkommenseinbußen im ersten
land hat sich die Zahl der Betreuungsplätze fast verdop- Lebensjahr des Kindes abmildern. Dieser grundsätzli-
pelt, allerdings von einem sehr niedrigen Niveau ausge- chen politischen Aussage stimmt die FDP-Bundestags-
hend. fraktion voll zu, Frau von der Leyen.
Immer noch bestehen große Ost-West-Unterschiede. (Beifall bei der FDP)
Inzwischen sind aber in fast allen Kommunen konkrete
Schritte zum Ausbau der Kinderbetreuung in Arbeit. Es Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen, ist
liegen also entsprechende Beschlüsse des Gemeindera- aber anders als das, was die Familienministerin vorhatte.
tes, des Stadtrates oder der Kreisverwaltung vor. Zwei Ich habe lange gewartet, dass Sie, Frau von der Leyen, in
Drittel der Kommunen haben bereits mit dem Ausbau Ihrer Rede auf das Elterngeldgesetz zu sprechen kom-
der Kinderbetreuung begonnen. Jede dritte Kommune men. Es kam mir in Ihrer Rede zu kurz.
will ihr Ziel vor 2010 erreichen. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Was wir hier gehört haben,
Kinderbetreuung schafft nicht nur Zeit für Eltern,
war das Wort zum Sonntag!)
sondern auch Zeit für Bildung und Zeit für die frühe För-
derung von Kindern. Kinder brauchen vor allem andere Ein großer Teil ist Sozialleistung, nicht Einkommens-
Kinder, um sich zu entwickeln. Das sage ich auch vor ersatzleistung. Deshalb enthält das Gesetz viele Kon-
dem Hintergrund, dass inzwischen jedes dritte Kind struktionsfehler. Das sind nicht die einzigen Gründe,
keine Geschwister hat. Im Familienbericht ist nicht nur weshalb die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht
vom Risiko der Vernachlässigung von Kindern die Rede. zustimmen wird. Wir sind der Überzeugung, dass das
5356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Ina Lenke
(A) Elterngeld nur erfolgreich sein kann, wenn nach dem Erstens. Nach Angaben des Familienministeriums (C)
ersten Geburtstag des Kindes die Anschlussbetreuung werden 155 000 Familien mit einem Einkommen von
gesichert ist. Die Aussage, die die Ministerin heute ge- unter 30 000 Euro pro Jahr schlechter gestellt.
macht hat, steht für sich: Das wird auch ab dem 1. Januar
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
2008 nicht in ganz Deutschland der Fall sein.
DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
– Ja, Sie haben Recht, Frau Schewe-Gerigk: Das ist ein
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Skandal.
Was nutzt Eltern oder Alleinerziehenden ein Jahr El- (Beifall bei der FDP)
terngeld, wenn anschießend Krippenplätze oder Tages-
mütter und -väter fehlen? Zweitens – das ist mein Lieblingsthema –:
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ah,
DIE GRÜNEN) jetzt!)
Das Familienministerium hat dazu nachweislich keine Berufstätige Ehefrauen, die auf Steuerklasse V arbeiten,
nennenswerten Anstrengungen unternommen. Es gibt (Lachen bei der CDU/CSU)
kein schlüssiges Gesamtkonzept der Bundesregierung
für die Betreuung von Kindern nach dem ersten Le- sind die Verliererinnen. Ich werde den Bürgern das be-
bensjahr, wenn das Elterngeld ausläuft. Es hat auch kei- gründen. Sie wissen das, tun aber nichts richtig.
nen Kinderbetreuungsgipfel gegeben, auf dem sich die (Beifall bei der FDP)
Bundesregierung mit den Ländern und Kommunen auf
ein gemeinsames Konzept geeinigt hätte. Weder die da- Noch einmal: Berufstätige Ehefrauen, die auf Steuer-
malige SPD/Grüne-Bundesregierung, die acht Jahre re- klasse V arbeiten, sind bei diesem Gesetz die Verliere-
giert hat, rinnen.
(Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ (Nicolette Kressl [SPD]: Sie müssen ja nicht
DIE GRÜNEN: Sieben Jahre!) auf Steuerklasse V arbeiten!)
noch die große Koalition von Union und SPD hat die Bei einem Bruttolohn von beispielsweise 2 000 Euro
Städte und Gemeinden beim Ausbau der Kinderbetreu- pro Monat erhalten sie mit Lohnsteuerklasse V ein ge-
ung finanziell unterstützt. ringeres Elterngeld als mit Lohnsteuerklasse III.
(Unruhe bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sollen sie
(B) DIE GRÜNEN) doch die Steuerklasse III nehmen, Frau Lenke! (D)
Wer zwingt sie denn?)
– Es ist so. Sie können ruhig protestieren. Acht Jahre
lang waren die Grünen dabei und es ist nichts passiert. Dadurch haben sie monatlich 390 Euro weniger im
Portemonnaie. Deshalb schlägt die FDP das Bruttolohn-
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: prinzip vor. Das ist gerechter.
Sieben Jahre!)
– Dann waren es sieben Jahre. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das hat Kollegin Hendricks?
gereicht!)
Wenn Sie so nickelig sind, dann wollen Sie nur von Ih- Ina Lenke (FDP):
ren Defiziten ablenken. Aber gerne.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Meine Damen und Herren, den jungen berufstätigen Frau Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, dass die
Paaren fehlt eine verlässliche Grundlage für ein Leben Wahl der Steuerklassen von Ehepartnern jederzeit auch
mit Kindern. Bereits in der Expertenanhörung des Bun- unterjährig – so heißt das – geändert werden kann?
destages zum Elterngeld und auch jetzt durch die har-
sche Kritik des Bundesrechnungshofes wurde öffentlich, (Sibylle Laurischk [FDP]: Das stimmt so
dass Teile des Elterngeldgesetzes unvereinbar mit dem nicht!)
Grundsatz der Gleichbehandlung in unserer Verfassung Wenn eine Frau schwanger wird, dann kann sie also zum
sind. Dazu wird meine Kollegin Sibylle Laurischk an- Finanzamt gehen und eine andere Steuerklasse wählen,
schließend Stellung beziehen. sodass der Berechnung des Elterngeldes dann natürlich
(Christel Humme [SPD]: Ist doch schon längst ein anderes Einkommen zugrunde liegt.
erledigt!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Die FDP-Fraktion hat ihre Position zur notwendigen
Kinderbetreuung und zu den Schwachpunkten des El- Ina Lenke (FDP):
terngeldgesetzes in zwei Anträgen begründet. Unsere Frau Hendricks, ich bitte Sie, sich die Regelungen
Kritikpunkte: zum Elterngeld ganz genau durchzulesen. Sie wissen,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5357
Ina Lenke
(A) dass nicht das Durchschnittseinkommen der letzten drei Leben erfahren, und zwar nicht nur im Steuerberatungs- (C)
Monate, sondern der letzten zwölf Monate genommen büro.
wird, und dass eine Schwangerschaft neun Monate dau-
ert. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jörn
Wunderlich [DIE LINKE])
(Ilse Falk [CDU/CSU]: Ja, eben: Eine normale
Schwangerschaft dauert neun Monate!) Von der Diskriminierung von Ehefrauen mit
Steuerklasse V komme ich zu meinem dritten Punkt:
Das ist der erste Grund. ALG-II-Empfänger erhalten ein Mindestelterngeld
von 300 Euro. Dazu habe ich von der Familienministerin
Der zweite Grund ist, dass in Ihrem Koalitionsvertrag noch keine Aussage gehört; denn das, Frau von der
steht, dass Sie die Lohnsteuerklassen reformieren wollen Leyen, hat mit der politischen Idee des Einkommens-
und dass Sie einen Wechsel unterbinden, wenn es um die ersatzes nichts mehr gemein. Dagegen erhält eine
Berechnung des Mutterschaftsgeldes geht, das acht Wo- Alleinerziehende, die selbstständig ist, kein Elterngeld
chen lang gezahlt wird. Diese Möglichkeit gibt es dort – man höre genau zu –, wenn sie über 30 Stunden arbei-
nicht. ten muss, um ihre Existenz zu sichern. Sie hat auch mit
Frau Hendricks, ich will Ihnen nur sagen, dass Sie als einem geringen Einkommen keinen Anspruch auf El-
Staatssekretärin und ich, die ich in diesem Beruf gear- terngeld. Ist das sozial gerecht? Frau von der Leyen hat
beitet habe, diese steuerlichen Fachgesichtspunkte sehr eben in ihrer Rede gesagt, Elterngeld ist immer besser
wohl kennen. Sie glauben aber doch nicht, dass sich eine als Sozialhilfe. Ja, der Meinung bin auch ich. Aber das
Verkäuferin, eine Facharbeiterin oder eine Ärztin mit gilt auch für Selbstständige.
diesen Dingen besonders gut auskennen.
(Beifall bei der FDP)
(Ute Kumpf [SPD]: Die wissen das besser als
Viertens: Teilzeitarbeit. Neu ist die Anrechnung der
Sie, Frau Lenke!)
Teilzeitarbeit auf das Elterngeld. Zwei Drittel des Gehal-
Sie werden ein böses Erwachen haben, wenn sie das El- tes bei Teilzeitarbeit wird angerechnet. Diese Regelung
terngeld beantragen werden. Das ist Fakt. Ihre fachspezi- – so die Meinung der FDP – schränkt die Wahlfreiheit
fische Aussage wird den Eltern nicht helfen. der Familien enorm ein. Beim Erziehungsgeld war das
nicht der Fall. Da konnte man etwas hinzuverdienen.
Um diese Wortmeldung jetzt abzuschließen, sage ich
noch einmal: Frau Hendricks, die FDP schlägt das Brut- Fünftens: Geringverdienerregelung. Die Geringver-
tolohnprinzip vor. Es wäre auch kein Problem gewesen, dienerregelung ist wirklich zu kompliziert. Verdient man
dies in dieses Gesetz einzubauen. – das muss man einmal öffentlich sagen – weniger als
(B) (D)
1 000 Euro netto, erhält man für jeweils 2 Euro weniger
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gehalt als 1 000 Euro 0,1 Prozent mehr Elterngeld. Bei
996 Euro wären das 0,2 Prozent mehr Elterngeld, bei
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
994 Euro 0,3 Prozent, bei 992 Euro 0,4 Prozent usw.
frage Ihrer Kollegin Laurischk?
(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist ein Dreisatz!)
Ina Lenke (FDP): Das ist ein bürokratisches Ungetüm.
Gerne.
(Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]:
(Ute Kumpf [SPD]: Jetzt müssen sie sich Das ist ein Dreisatz! – Caren Marks [SPD]:
schon selbst befragen!) Das ist ein einfacher Dreisatz!)
Damit sind wir wieder beim Thema Bürgernähe.
Sibylle Laurischk (FDP):
Wenn Sie einfachere Gesetze machten, dann könnten die
Frau Kollegin Lenke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu Bürger sie verstehen. Wenn Sie sie aber so kompliziert
nehmen, dass die unterjährige Änderung der Steuer- machen, wie Sie das tun, werden die Bürger sie nicht
klasse V in die Steuerklasse III nur dann möglich ist, verstehen und in die Falle laufen, die Sie aufgestellt ha-
wenn beide Ehepartner einverstanden sind, was in der ben.
Regel nicht der Fall ist, weil das eine Verkürzung des
Einkommens des Mannes bedeutet? Sechstens: die Stichtagsregelung. Alle Paare, deren
Kinder nach dem 31. Dezember 2006 geboren werden,
(Lachen bei der SPD und der CDU/CSU) erhalten das neue Elterngeld. Kommt das Baby aber
Insofern wird die Steuerklasse V zumindest bis zum Jah- schon Silvester zur Welt, gilt noch die alte Regelung.
resende aufrechterhalten, was bei Scheidungsfällen ein Dazu habe ich von Bürgern sehr viele Protestbriefe er-
Problem ist. halten. Ich kann die Menschen verstehen: Wenn Sie das
Elterngeld als Einkommensersatz als eine neue politi-
sche Weichenstellung verstehen, dann hätte die Bundes-
Ina Lenke (FDP):
regierung sozialverträgliche Übergänge schaffen müs-
Frau Laurischk, da Sie als Rechtsanwältin auf diesem sen.
Gebiet Erfahrung haben, stimme ich Ihnen zu. Ich habe
die Frage von Frau Hendricks so beantwortet, wie es die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Realität vorgibt, wie es die Bürger und Bürgerinnen im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
5358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Ina Lenke
(A) Die FDP fordert die Bundesregierung auf, ein verfas- Ihre Rede, Frau Lenke, ist von der Frustration der Op- (C)
sungskonformes Gesetz vorzulegen. Wir wollen eine position und der Tatsache geprägt, dass die Familien-
Einkommensersatzleistung für den Elternteil, der seine politik in Ihrer Fraktion nachrangig ist.
Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinder einschränkt. Die
FDP fordert bei der Berechnung des Elterngeldes, das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bruttolohnprinzip gelten zu lassen, um die gravierenden der CDU/CSU)
finanziellen Nachteile bei der Steuerklasse V gar nicht Es ist schade, dass gute Arbeit bzw. gute Gesetze keine
erst entstehen zu lassen. Anerkennung finden.
Wir fordern mehr Freiraum bei der zeitlichen Gestal-
tung des Elterngeldes; das ist uns wichtig. Wenn Unter- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
nehmen Teilzeitmodelle anbieten und sich Eltern bei der Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Betreuung des Säuglings wochen- oder tageweise ab- Kollegin Lenke?
wechseln wollen, darf das beim Elterngeldanspruch
nicht zu ihrem Nachteil führen. Dazu ein kurzes Bei- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie hat
spiel: Die Mutter betreut das Kind montags und diens- doch gerade die ganze Zeit geredet! – Fritz
tags, der Vater mittwochs, donnerstags und freitags. Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So
Diese Möglichkeit kommt in Ihrem Gesetzentwurf zur wichtig ist das auch wieder nicht!)
Einführung des Elterngeldes nicht vor.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Caren Marks (SPD):
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja.

Ich will als familienpolitische Sprecherin der FDP


Ina Lenke (FDP):
ganz deutlich sagen: Die Unternehmen müssen sich end-
lich auf Familien mit Kindern einstellen; das ist äußerst Frau Kollegin, nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir in
wichtig. Hier muss ein Paradigmenwechsel erfolgen. der vorherigen und in dieser Legislaturperiode zwei Ent-
schließungsanträge zu diesem Thema eingebracht haben,
(Beifall bei der FDP) die Sie offenbar nicht gelesen haben?
Was die „diffuse Kritik“ angeht, überlassen wir die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bewertung besser den Bürgern. Ich finde, das ist ziem-
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. lich platt.
(B) (D)
Ina Lenke (FDP): Caren Marks (SPD):
Ich komme zum Schluss. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt auf Ihre dif-
Eine zukunftsorientierte Familienpolitik muss alle fuse Kritik eingehen und erläutern, warum sie unberech-
Lebensgemeinschaften mit Kindern und auch alle Berufe tigt ist. Welchen Rückhalt Sie bei Ihrem familienpoliti-
gleichermaßen im Blick haben. Familien brauchen mehr schen Vorgehen haben, hat Ihre Fraktion schon mehrfach
Wahlfreiheit, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu deutlich gemacht. Ich glaube, darauf muss ich jetzt nicht
gestalten. Mit diesem Gesetzentwurf zur Einführung des näher eingehen.
Elterngeldes ohne flankierende Maßnahmen wird das (Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist eine Unver-
kein Schritt in eine familienfreundliche Zukunft sein. schämtheit, Frau Marks! Haben Sie nicht mehr
(Beifall bei der FDP) zu bieten?)
Warum wird aus dem Kinderwunsch oft keine Kin-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: derwirklichkeit? Diese komplexe Frage durchdringt
Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks, SPD- viele Aspekte. Es gibt keine einfache Erklärung; es gibt
Fraktion. vielmehr mehrere Antworten.

(Beifall bei der SPD) Eine Antwort lautet: Die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf ist in Deutschland alles andere als einfach.
Auf das Lebensmodell „Kinder oder Karriere“ hatten
Caren Marks (SPD): Männer noch nie wirklich Lust. Inzwischen ist auch im-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau mer mehr gut ausgebildeten Frauen die Lust auf dieses
Ministerin von der Leyen! Liebe Kolleginnen und Kolle- Entweder-oder vergangen. Frauen meiner Generation
gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zuerst einmal wissen, wovon ich rede. Viele sind nach einem guten
möchte ich an meine Vorrednerin, Frau Lenke, gerichtet Abitur – meistens sind sie besser als ihre Mitschüler –
feststellen: Ihre diffuse Kritik am Elterngeld ist unbe- und einem Studium mit gutem Abschluss – ebenfalls
gründet. häufig besser als die männlichen Hochschulabsolven-
(Widerspruch bei der FDP) ten – ein paar Jahre erwerbstätig und steigen die ersten
Schritte auf der so genannten Karriereleiter empor. Un-
Die Teilzeitmöglichkeiten während des Bezugs des El- terdessen beginnt die biologische Uhr zu ticken und die
terngelds sind sehr wohl flexibel handhabbar. Entscheidung für oder gegen ein Kind rückt näher.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5359
Caren Marks
(A) Der Entschluss für ein Kind bedeutete für die meisten Miriam Gruß (FDP): (C)
Frauen in Westdeutschland, mindestens drei Jahre aus Frau Kollegin, Sie haben mehrfach davon gespro-
dem Beruf auszusteigen, weil es so gut wie keine Kin- chen, dass die Familienpolitik die Rahmenbedingungen
derbetreuung für unter Dreijährige gab. Längere berufli- verbessern müsse. Sind Sie geneigt, zur Kenntnis zu
che Auszeiten sind mit einem Karriereknick verbunden. nehmen, dass familienfreundliche Rahmenbedingungen
Für viele Frauen ist der berufliche Einstieg mehr als vor allen Dingen bedeutet hätten, nicht zum 1. Januar
schwierig. Die Aufgabe der Erwerbstätigkeit von Müt- 2007 die Mehrwertsteuer zu erhöhen?
tern ist zudem mit großen finanziellen Einbußen verbun-
(Beifall bei der FDP und der LINKEN und der
den. Das wird sich durch das Elterngeld ändern.
Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
Das traditionelle Mutterbild bzw. das Hausfrauenmo- GRÜNEN] – Lachen bei der SPD)
dell entspricht seit Jahren nicht mehr den Lebenswün-
schen der meisten Frauen. Mütter begeben sich während Caren Marks (SPD):
der ersten Lebensjahre ihres Kindes ungern in die wirt- Frau Gruß, die FDP stellt mittlerweile in jeder De-
schaftliche Abhängigkeit von ihrem Partner. batte im Bundestag die Frage nach der Mehrwertsteuer-
erhöhung. Das scheint bei Ihnen ein pawlowscher Reflex
Das Modell der Einverdiener- bzw. Versorgerehe ist zu sein. Ich habe daher mit Verlaub keine Lust, auf Ihre
überholt. Frauen sind gut ausgebildet, erwerbsorientiert Zwischenfrage ernsthaft zu antworten.
und selbstbewusst. Abgesehen von Frauen à la Eva
Herman wollen sie eine größere materielle Unabhängig- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
keit und wünschen sich mehr Betreuungs- und Erzie- der CDU/CSU)
hungsverantwortung der Männer bzw. Väter. Auch der aktuelle Siebte Familienbericht ist ein Plä-
Veränderte Lebenswirklichkeiten bzw. Lebenswün- doyer für eine nachhaltige Familienpolitik. Der Fami-
sche benötigen veränderte Rahmenbedingungen. Das hat lienbericht untermauert den in den letzten Jahren von
die SPD erkannt und der Familienpolitik in den letzten uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einge-
leiteten Politikwechsel. Eine moderne Familienpolitik ist
beiden Legislaturperioden einen sehr hohen Stellenwert
ein Mix aus Infrastruktur, Zeit und Geld. Familien benö-
eingeräumt. Nicht zuletzt bestimmt eine moderne, nach-
tigen – das ist klar – eine verbesserte Infrastruktur für
haltige und sozial gerechte Ausgestaltung der Familien-
Bildung und Betreuung, mehr Zeit, zum Beispiel durch
politik die zukünftige Entwicklung unseres Landes.
familienfreundliche Arbeitswelten, und nicht zuletzt
Kinder bedeuten eine Bereicherung, sowohl indivi- Geld für eine gezielte finanzielle Unterstützung. Mit
(B) duell als auch gesellschaftlich. Die Entscheidung für dem Tagesbetreuungsausbaugesetz für Kinder unter drei (D)
Kinder ist und bleibt eine sehr persönliche. Ich will an Jahren und mit dem Investitionsprogramm zur Förde-
dieser Stelle deutlich sagen: Es gibt hier kein Richtig rung von Ganztagsschulen haben wir in der letzten Le-
oder Falsch. Es darf keine Trennung der Gesellschaft in gislaturperiode eine wichtige Grundlage zur besseren
Kinderlose und Kinderhabende geben. Als Familienpoli- Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschaffen.
tikerin möchte ich keine Bevölkerungspolitik betreiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vielmehr möchte ich durch die Verbesserung der Rah-
menbedingungen all denen Mut machen, die Kinder- Ich freue mich, dass der von uns Sozialdemokratinnen
wünsche haben, aber bisher zögern, sich diese zu erfül- und Sozialdemokraten eingeschlagene Kurs in der gro-
len. ßen Koalition nun mit vereinten Kräften fortgesetzt
wird. Gemeinsam ist es uns in der großen Koalition ge-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lungen, das zentrale familienpolitische Projekt in der
laufenden Legislaturperiode, das Elterngeld, umzuset-
Die Entscheidung für Kinder darf weder ein Armuts- zen.
risiko noch ein Hemmschuh für die berufliche Entwick-
lung sein. Darüber hinaus benötigen Eltern und Kinder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
heute und zukünftig eine Politik, die die Gesellschaft, CDU/CSU)
das heißt die Lebens- und Arbeitswelt, nachhaltig kin- Es freut mich, dass der von Renate Schmidt mit großen
der- und familienfreundlich gestaltet. Engagement auf den Weg gebrachte Entwurf eines Ge-
setzes zur Einführung des Elterngeldes – herzlichen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dank dafür – bereits heute verabschiedet wird.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
Kollegin Gruß? CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Caren Marks (SPD): Ein guter Tag für Deutschland, ein guter Tag für die Fa-
Gerne. milien!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Natürlich ist das Elterngeld nicht die Antwort bzw.
Bitte, Frau Gruß. die Lösung für alle Probleme, denen Familien heute
5360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Caren Marks
(A) begegnen. Das Elterngeld ist vielmehr ein wichtiger eingeladen, aus Worten und Forderungen Taten werden (C)
Baustein einer modernen Familienpolitik. Mit dem El- zu lassen.
terngeld fördern wir Familien in den ersten zwölf bzw.
14 Monaten nach der Geburt. Gerade während dieser (Nicolette Kressl [SPD]: So wie in Nordrhein-
Westfalen!)
Zeit benötigen Kinder eine intensive Betreuung. Eltern
wünschen sich in dieser Phase mehr Zeit für ihr Kind. Aber als Sie, meine Damen und Herren von der FDP, in
Rheinland-Pfalz noch mitregiert haben, musste Sie der
(Zuruf von der FDP: Und danach?) Ministerpräsident Kurt Beck in Sachen Bildung und Be-
Mit dem Kernelement des Elterngeldes, der Einkom- treuung noch zum Jagen tragen.
mensersatzleistung, ermöglichen wir Eltern, sich diese (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])
Zeit ohne finanzielle Sorgen zu nehmen und danach so
schnell wie möglich wieder in den Beruf zurückzukeh- In Ihrem Entschließungsantrag kritisieren Sie recht dif-
ren. Da hier unabhängig vom Partnereinkommen ein fus das neue Elterngeld. Sie kritisieren unterschiedliche
finanzieller Ausgleich für den betreuenden Elternteil Zielsetzungen und komplizierte Berechnungen. Aber,
vorgesehen ist, bedeutet dies insbesondere für Mütter Frau Lenke, ein einfacher Dreisatz dürfte auch Sie nicht
wirtschaftliche Selbstständigkeit innerhalb der Partner- überfordern. Dass das Elterngeld vielschichtig wirkt, ist
schaft. eine Stärke des Instruments.

Durch die Partnermonate geben wir Vätern mehr An die Damen und Herren von der PDS gerichtet: Wir
Möglichkeiten, sich partnerschaftlich an der Kinderbe- können das reflexartige Einklagen von mehr sozialer
treuung zu beteiligen. Durch die Einkommensersatzleis- Gerechtigkeit in diversen Anträgen vernehmen. Ihr Bild
tung gewinnen Eltern mehr Wahlfreiheit hinsichtlich von sozialer Gerechtigkeit ist nicht nur sehr einge-
der Elternrolle. Es gibt nun eine echte Alternative zur schränkt, sondern größtenteils auch falsch. Das Eltern-
traditionellen Rollenaufteilung. Das Elterngeld ist ein geld ist durch den Sockelbetrag, die Begrenzung für
Spitzenverdiener und die Geringverdienerkomponente
wichtiges gleichstellungspolitisches Instrument, das aber
sozial gerecht und ausgewogen. Sowohl der Siebte Fa-
auch Kindern zugute kommen wird; denn Kinder brau-
milienbericht als auch der Zweite Armuts- und Reich-
chen Väter und Mütter.
tumsbericht zeigen auf, dass sich Armutsrisiken von Fa-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) milien am wirkungsvollsten mindern lassen, wenn die
Erwerbstätigkeit der Eltern unterstützt wird. Eine frühe
Das Elterngeld bietet insbesondere Müttern den An- Förderung der Kinder und Anreize zur Aufnahme und
reiz, nach der Kinderphase schneller als bisher in den Ausweitung von Erwerbstätigkeit helfen, Armut zu
(B) Beruf zurückzukehren. Die neue Regelung des Ge- durchbrechen und wirkliche Chancengleichheit für Kin- (D)
schwisterbonus verstärkt diesen Anreiz. Auch Allein- der herzustellen. Am Beispiel unserer nordeuropäischen
erziehende profitieren von dem Elterngeld, weil es die Nachbarstaaten sieht man eindrucksvoll, dass die Ein-
wirtschaftliche Eigenständigkeit bei der Erwerbsunter- führung des Elterngelds und die Steigerung der Frauen-
brechung sichert. erwerbsquote die Armutsrate bei Kindern und Familien
hat sinken lassen. Das Elterngeld ist ein wichtiger Bau-
Frau Lenke, Sie fordern in Ihrem Antrag, die Betreu- stein einer nachhaltigen Familienpolitik. Es ist ein Kind
ungs- und Bildungssituation zu verbessern. Das ist der SPD, auf das wir stolz sind.
grundsätzlich zu begrüßen. Wie Sie wissen, meine Kol-
leginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, haben wir Vielleicht lautet in zehn oder 20 Jahren eine Zeitungs-
mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz einen Meilen- überschrift: „Aus Kinderwunsch wird immer mehr Kin-
stein in Richtung Ausbau der Kinderbetreuung und früh- derwirklichkeit“. Der Grund dafür: Deutschland ist ein
kindliche Förderung gesetzt. Die Richtung stimmt. Aber kinder- und familienfreundliches Land geworden. Die
eines muss klar sein: Nur in einem verantwortungsvollen Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt. Frauen und
Bündnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird Männer teilen sich partnerschaftlich Kindererziehung
es gelingen, unser Land wirklich familienfreundlicher zu und Erwerbsarbeit. Gute Betreuungsangebote unterstüt-
gestalten. zen Familien, frühe Bildung eröffnet Kindern echte
Chancen. Familien sind nicht mehr überfordert. Die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wirtschaft ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Kinder-
lachen und Kindertoben, Urlaube und Restaurantbesu-
Der Siebte Familienbericht und der Bericht der Bun- che mit Kindern werden gern gesehen, Kinder sind wirk-
desregierung über den Stand des Ausbaus der Kinderta- lich willkommen. – Eine schöne Aussicht.
gesbetreuung für unter Dreijährige bestätigen, dass der
eingeschlagene Weg richtig ist. Erfolge sind bereits Herzlichen Dank.
sichtbar. Frau Ministerin von der Leyen hat die Zahlen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
vorhin genannt. Familien benötigen Taten und die haben der CDU/CSU)
wir, die SPD-Bundestagsfraktion, vorzuweisen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Paul Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Lehrieder [CDU/CSU]: Mit der Union!) Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion
Die Linke.
Da, Frau Lenke, wo die FDP mitregiert, in wenigen
Ländern und manchen Kommunen, sind Sie herzlich (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5361

(A) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): hardliner im letzten Moment noch viele der im Land le- (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und benden Ausländerinnen und Ausländer von dem Eltern-
Kollegen! Die Fraktion Die Linke wird diesem Entwurf geldanspruch aus.
eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes nicht zu-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unglaub-
stimmen können.
lich! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Uner-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) hört!)
Nach fast zehn Monaten Diskussion ist der Wille der Sie haben eine Menge Geld in den Haushalt einge-
Koalition zur sozial besseren Ausgestaltung des Eltern- stellt, ohne zu wissen, ob Sie es überhaupt verfassungs-
gelds nach wie vor nicht erkennbar. Im Gegenteil: Be- gemäß ausgeben. Entgegen den Bedenken der Sachver-
schämend an der breiten Diskussion ist zum einen die ständigen aus der Anhörung zum Elterngeld, entgegen
Arroganz gegenüber außerparlamentarischem Sachver- den Bedenken von Juristinnen und Juristen, entgegen
stand. den Bedenken karitativer Wohlfahrtsverbände, entgegen
den Bedenken von über 18 000 Petentinnen und Peten-
(Nicolette Kressl [SPD]: Was?) ten und entgegen den Bedenken des Bundesrechnungs-
Zum anderen verstetigen Sie, Frau von der Leyen, char- hofs
mant lächelnd, die sozialen Ungerechtigkeiten Ihrer (Nicolette Kressl [SPD]: Ausgerechnet Sie be-
Politik. ziehen sich auf den Bundesrechnungshof!)
Sie schaffen es sogar, im Einvernehmen mit den nehmen Sie nur geringfügige redaktionelle Änderungen
Koalitionspartnern in zehn Monaten Gesetze zur Schröp- an diesem Gesetzentwurf vor.
fung von Arbeitslosen, Geringverdienern und Allein-
erziehenden durchzupeitschen sowie das größte Steuer- Sie, Frau von der Leyen, geben an – sie selbst sind
erhöhungsprogramm seit Bestehen der Bundesrepublik keine Juristin –, dass Sie sich auf den Rat Ihrer Juristen
zu beschließen. verlassen. Seien Sie gewarnt; denn Ihre Juristen haben
im Rechtsausschuss trotz Kenntnis der verfassungsrecht-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lichen Bedenken des Bundesrechnungshofs, ohne ein
neten der FDP) Wort und ohne mit der Wimper zu zucken, diesem Ge-
Schlimmer noch: Sie potenzieren die sozialen Ungerech- setzentwurf zugestimmt.
tigkeiten in einem unerhörten Ausmaß. Ausgerechnet in
Haushaltsdebatten um den Einzelplan 17, bei dem Sie, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau von der Leyen, nennenswert Geld zur Ausweitung Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
(B) der Förderung von Familien in die Hand nehmen, produ- Kollegin Kressl? (D)
zieren Sie mit dem Elterngeld einen sozialpolitischen
Skandal erster Ordnung. Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Nein. Da muss die Koalition jetzt durch.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der neten der FDP – Lachen bei der CDU/CSU
Kollegin Griese? und der SPD – Ute Kumpf [SPD]: Das wun-
dert mich schon sehr, Herr Wunderlich!)
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Wir – auch die Kollegin Griese – hatten sowohl im Noch vorgestern wurde hier seitens der Koalition be-
tont, dass der Bundesrechnungshof schreiben könne, was
Familienausschuss als auch im Rechtsausschuss ausrei-
er wolle. Ein derartiges Verhalten der Regierung kennen
chend Gelegenheit, über dieses Thema zu diskutieren.
Deswegen muss sie sich meinen Vortrag jetzt erst einmal wir schon aus der Debatte zur Föderalismusreform.
Mich wundert da inzwischen nichts mehr.
anhören. Sie kann ja nach Beendigung meiner Rede eine
Kurzintervention machen. Das Elterngeld ist eine prinzipiell positive Entwick-
lung in der Familienpolitik und findet unsere Unterstüt-
(Kerstin Griese [SPD]: Danke! Das entscheide
zung.
ich noch selber!)
(Nicolette Kressl [SPD]: Wirklich?)
Das Elterngeld benachteiligt Eltern mit niedrigem
oder gar keinem Erwerbseinkommen. Im Wissen darum, – Ja, wirklich. –
dass jedes siebte Kind in Deutschland auf einem Ein-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist
kommensniveau lebt, das es von einer angemessenen so-
sehr verwunderlich!)
zialen und gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt, ver-
schärfen Sie weiter die Kinderarmut in Deutschland. Was mich und meine Fraktion daran aber besonders
Eine dreiviertel Milliarde Euro nehmen Sie, Frau von stört, ist – ich wiederhole es – die soziale Unausgewo-
der Leyen, gemeinsam mit der Bundesregierung in die genheit, das Festhalten an einer Umverteilung von Arm
Hand, um Gut- und Besserverdienenden den Zugang zu nach Reich. Das Gesetz soll Menschen ermutigen, sich
steuerfinanzierten Sozialleistungen zu ermöglichen. Die für Kinder zu entscheiden. Wir brauchen primär nicht
wirklich Bedürftigen schließen Sie aus. Um den Skandal mehr Kinder, sondern weniger Kinder, die in Armut und
perfekt zu machen, nehmen Sie auf Drängen der Unions- Not aufwachsen.
5362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Jörn Wunderlich
(A) (Beifall bei der LINKEN – Johannes dass berufliche Gründe nicht zur Übertragbarkeit der (C)
Singhammer [CDU/CSU]: So ein Schwach- Partnermonate auf den anderen Elternteil führen kön-
sinn!) nen. Das sind aber auch schon die einzigen Verbesserun-
gen. – So weit zu dem aus meiner Sicht positiven Ansatz
Außerdem brauchen wir mehr Eltern, die ihre Vorstel-
zur Einführung des Elterngeldes.
lung von Familienleben ohne finanzielle Zwänge oder
Sorgen um den Arbeitsplatz leben können. Wir brauchen Es gibt, wie von mir schon mehrfach betont, Tenden-
eine Kultur der Familien- und Kinderfreundlichkeit; dies zen in der Politik der Ministerin und der Koalition, die
wird aber nicht erreicht, indem eine Umverteilung der diesen durchaus positiven Ansatz konterkarieren. Wo
Leistungen an Familien von Arm nach Reich stattfindet. liegen die spitzfindigen Feinheiten in Ihrer familien- und
sozialpolitischen Mogelpackung, Frau von der Leyen?
Wie heißt es so schön zur Problemschilderung zum
Die Einführung des Elterngeldes geht nach wie vor zu-
Elterngeld – ich zitiere –:
lasten der Einkommensschwachen, der Alleinerziehen-
In Deutschland steht Familien dann am wenigsten den, der ALG-II-Empfänger sowie der Migrantinnen
Geld zur Verfügung, wenn die Kinder am kleinsten und Migranten.
sind.
(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht
In der in Ihrem Gesetzentwurf formulierten Lösung des wahr! – Christel Humme [SPD]: Das ist doch
Problems heißt es dann unter anderem – ich zitiere –: eine Lüge! Jetzt wissen wir auch, warum Sie
keine Zwischenfragen zulassen!)
Es
– damit ist das Elterngeld gemeint – Erstens. Die Änderung der Anspruchsberechtigung
von Migrantinnen und Migranten bedeutet eine rechtli-
eröffnet einen Schonraum, damit Familien ohne fi- che Verschlechterung für die Betroffenen. Grundsätzlich
nanzielle Nöte in ihr Familienleben hineinfinden … ist zu kritisieren, dass die Begründung zu diesem Ände-
rungspunkt von Ihnen stillschweigend ausgespart wird,
(Christel Humme [SPD]: Ist doch so!)
obwohl das Bundesverfassungsgericht – in anderem Zu-
Warum, frage ich dann, sollen diejenigen, die in unserer sammenhang – diese Ungleichbehandlung für verfas-
Gesellschaft ohnehin schon finanziell schlecht dastehen, sungswidrig erachtet hat, wenn von einem dauerhaften
noch schlechter gestellt werden, als sie es ohnehin schon Aufenthalt ausgegangen werden kann bzw. muss, unab-
sind? hängig vom Aufenthaltstitel. Der in der geänderten Fas-
sung enthaltene pauschale Ausschluss von Menschen
(Beifall bei der LINKEN)
mit einem Aufenthaltstitel, der erkennen lässt, dass ein
(B) Müssen nicht gerade sie gefördert werden? voraussichtlich dauerhafter Aufenthalt vorliegt, ist si- (D)
cherlich verfassungswidrig und nicht nachzuvollziehen.
(Christel Humme [SPD]: Dummes Zeug!) Der in der geänderten Fassung enthaltene Ausschluss
– Diese Fragen müssen Sie sich schon gefallen lassen. – von Kettengeduldeten ist nicht sachgerecht und verfas-
Oder herrscht auch bei Ihnen der Geist wie bei einigen sungsrechtlich ebenfalls zweifelhaft. Die an eine bereits
Ihrer Fraktionskollegen, welche sich beispielsweise vor längerfristig bestehende dauerhafte Erwerbstätigkeit ge-
Arbeitslose, die ihre Lebensmittel bei der Tafel holen knüpfte Auffangklausel des § 1 Abs. 7 Nr. 3 des Eltern-
müssen, stellen und diesen auf Fragen nach der Mehr- geldgesetzes in der Ausschussfassung mit einer Dreijah-
wertsteuer entgegnen: Was regt ihr euch denn so über die resfrist reicht nicht aus, um die Verfassungswidrigkeit
Mehrwertsteuererhöhung auf? Sie betrifft in der Regel der Regelung zu entkräften.
eh nur Sachen, die ihr euch nicht leisten könnt.
Zweitens. Die Nichtberücksichtigung der steuer-
(Nicolette Kressl [SPD]: Lebensmittel sind freien Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nacht-
von der Mehrwertsteuererhöhung nicht betrof- arbeit bei der Einkommensermittlung ist nach meiner
fen!) Überzeugung falsch. Wenn das Elterngeld eine Lohner-
satzleistung sein soll, wie Sie immer sagen, dann muss
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können jetzt auch der gesamte Lohn berücksichtigt werden. Die jet-
entgegnen, dass Sie mit Ihren Änderungsanträgen im zige Regelung benachteiligt Berufsgruppen in der Indus-
Ausschuss Neuregelungen getroffen haben. Das ist rich- trie und Frauen in typischen Frauenberufen, die etwa
tig. Es bedarf auch schon etwas Mühe, um die gut ver- Schichtdienst leisten.
packten Unzulänglichkeiten im Elterngeldgesetz heraus-
zufinden. (Beifall bei der LINKEN)
Erfreulich ist, dass Sie einen Regelungsvorschlag der Drittens. Es ist unverständlich, warum nicht eine ver-
Verbände und Sachverständigen aufgegriffen haben besserte Regelung des gleichzeitigen Teilzeitelterngeld-
bezuges in die Liste Ihrer Änderungen aufgenommen
(Kerstin Griese [SPD]: Also doch keine Igno-
wurde. Schließlich haben viele Verbände darauf hinge-
ranz gegenüber außerparlamentarischer Bera-
wiesen, dass hier im Gesetz eine klare Benachteiligung
tung!)
der Betroffenen enthalten ist. Eltern, die gleichzeitig ihre
und die flexible Zuschlagsregelung anstelle einer starren Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinderbetreuung redu-
Fristenregelung für den Geschwisterbonus vorgesehen zieren, erhalten nur sieben statt 14 Monate Teilzeit-
haben. Auch erfreulich ist: Es soll klargestellt werden, elterngeld.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5363
Jörn Wunderlich
(A) (Nicolette Kressl [SPD]: Quatsch!) Die Unehrlichkeit der Bundesregierung im Umgang (C)
mit Kindern und Familien schreit zum Himmel. Sie fei-
Auch diese Regelung ist verfassungsrechtlich fragwür- ern sich, weil Sie das Elterngeld auf einen guten Weg ge-
dig. bracht haben.
Ein Alternativvorschlag der Verbände, der vom Deut- (Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)
schen Juristinnenbund zur Anhörung vorgestellt wurde
und ohne weiteres realisierbar wäre, wird von Ihnen, Im gleichen Atemzug kürzen Sie massiv Sozialleistun-
Frau von der Leyen, wie gehabt, charmant lächelnd in gen und greifen den Familien heftig in die Taschen. Sie
die Ablage getan. Wir wenden uns entschieden gegen sind stolz darauf, dass Sie durchgesetzt haben, dass Aus-
eine Benachteiligung von Eltern, die sich allen Widrig- länder mit vorübergehender Aufenthaltsgenehmigung
keiten zum Trotz für ein partnerschaftliches Modell der vom Elterngeldbezug ausgeschlossen werden und diese
Kinderbetreuung in der ersten Zeit nach der Geburt ent- Neuregelung keine Anreize zur Zuwanderung nach
scheiden. Ihr Vorschlag ist ein fatales Signal in Richtung Deutschland setzt. So war es in einer Presseerklärung zu
Gleichstellungspolitik. lesen.
(Beifall bei der LINKEN) Ich bin der Meinung, dass wir in Bezug auf das El-
terngeld nicht auf dem von der Regierung so viel be-
Viertens. Die ausgewiesene Stichtagsregelung führt schworenen guten Weg sind. Wenn dies dann noch als
zu einer Ungleichbehandlung von Familien mit Kindern großer Schritt für die Menschheit bezeichnet wird, kann
fast gleichen Alters. Warum bekennen Sie sich nicht zu ich für unser Land wirklich nur hoffen, dass diese Regie-
einer Übergangsregelung, die zeitlich und auch finan- rung bei der Politik der kleinen Schritte bleibt.
ziell klar einzugrenzen und überschaubar ist?
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein Letztes noch an die Koalition. Schon Konfuzius
konnte weit in die Zukunft blicken, denn er kannte wohl
Mit einem kühlen Lächeln in den Reihen der Koalition die große Koalition. So hat er gesagt:
wird dieses Anliegen – von übrigens einigen Tausenden
von Petenten – ad absurdum geführt. Wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit be-
steht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu machen.
Weil die schwarz-rote Regierung mit dem Elterngeld
nach eigenen Angaben 155 000 Familien – ich wieder- Danke schön.
hole: 155 000 Familien – schlechter stellt und nicht da- (Beifall bei der LINKEN – Caren Marks
(B) nach fragt, wie es nach einem Jahr Elterngeldbezug für [SPD]: Bezieht sich wohl auf den Streit zwi- (D)
diese Familien weitergeht, fordert die Fraktion Die schen Linkspartei und PDS!)
Linke: Erstens. Für Einkommensschwache, Eltern in
Ausbildung und Erwerbslose darf das Elterngeld keine
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
finanziellen Einbußen nach sich ziehen. 300 Euro mo-
natlich müssen Eltern über 24 Monate zur Verfügung Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager,
stehen. Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ab-
NEN])
lösung des Erziehungsgeldes und die Einführung eines
Zweitens. Das Elterngeld darf nicht auf den Bezug von zeitlich verdichteten, erwerbsbezogenen Elterngeldes
Arbeitslosengeld II und den Kinderzuschlag angerechnet kann ein sinnvoller Baustein einer modernen Familien-
werden. Drittens. Alleinerziehende dürfen nicht benach- politik sein. Ich sage aber bewusst: kann.
teiligt werden.
Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben mit diesem
(Nicolette Kressl [SPD]: Werden sie auch Elterngeld Versprechen verbunden. Sie haben gesagt, es
nicht!) solle dazu beitragen, Familie und Beruf besser zu verein-
baren. Sie selber haben die Erwartung formuliert – junge
Ihnen muss unabhängig von ihrem Erwerbsstatus wie Familien haben diese Erwartung auch –, dass hiermit
Paaren bis zu 14 Monate lang Elterngeld gezahlt werden. eine Überbrückungshilfe für das erste Lebensjahr des
Viertens. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die die Le- Kindes gegeben wird, um danach wieder in den Beruf
bensverhältnisse von Eltern und Kindern verbessern. einzusteigen. Jetzt aber werden viele junge Familien
schon nach einem Jahr feststellen können, dass genau
Wir stehen für einen Wechsel in der Familien- und dieses Versprechen nicht eingehalten werden kann,
Kinderpolitik und fordern eine stärkere Übernahme
öffentlicher Verantwortung für Kinder und Familien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinder und Familien benötigen soziale Sicherheit und und bei der FDP)
Entwicklungsmöglichkeiten, nicht nur schöne Worte, die
an der Ernsthaftigkeit zweifeln lassen. weil es in vielen westdeutschen Flächenländern für die-
sen Wiedereinstieg keine Betreuungsinfrastruktur
(Beifall bei der LINKEN) gibt.
5364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Krista Sager
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nigt, ob Sie Anreize für oder gegen Erwerbstätigkeit set- (C)
sowie bei Abgeordneten der FDP) zen wollen.
Diese jungen Familien werden zu Recht den Eindruck (Nicolette Kressl [SPD]: Aber die Ergebnisse
haben, dass die Politik ihnen wieder einmal falsche Ver- sind gut!)
sprechungen gemacht hat und sie jetzt im Regen stehen Bei gleichzeitiger Teilzeitarbeit von Eltern ist die jetzt
lässt. So wird es aussehen. gefundene Lösung immer noch ungerecht.
(Ute Kumpf [SPD]: So ein Quatsch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Traurige ist, dass Sie heute den Eindruck hinterlas- sowie bei Abgeordneten der FDP)
sen haben, dass Sie auf dieser Baustelle nichts, aber auch Sie haben es auf der einen Seite nicht für nötig gehalten,
gar nichts tun wollen, dass Sie daran nichts ändern wol- bei Alleinverdienerhaushalten eine Obergrenze für das
len. Partnereinkommen festzusetzen, aber auf der anderen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seite bestrafen Sie Transferleistungsbezieher mit einer
sowie bei Abgeordneten der FDP – Caren Verkürzung der Bezugsdauer. Das ist doch ungerecht
Marks [SPD]: Ich dachte, wir hätten mit den und unstimmig.
Grünen das TAG beschlossen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN – Johannes Singhammer
Rot-Grün hat mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz
[CDU/CSU]: Elterngeld ist keine Strafe! – Zu-
und dem Ganztagsprogramm die richtigen Weichen ge-
rufe von der SPD)
stellt.
Sie machen hier Politik nach dem Motto: Dit und dat,
(Christel Humme [SPD]: Nehmen Sie das ein- von jedem wat. – Das scheint ja geradezu ein Leitmotiv
mal zur Kenntnis! – Caren Marks [SPD]: Wir Ihrer Regierungspolitik insgesamt zu sein.
arbeiten weiter daran! – Weitere Zurufe von
der SPD: Genau!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt muss der nächste Schritt kommen. Dieser besteht in
der Verankerung eines Rechtsanspruchs auf Kinderbe- So kann man aber keine stringente und moderne Fami-
treuung ab dem ersten Lebensjahr. lienpolitik machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die einzelnen Familien müssen in ihrer Entscheidung
und bei der LINKEN) nicht stringent sein. Eltern müssen selber entscheiden,
(B) was sie wollen. Aber die Politik darf doch nicht beliebig (D)
Man fragt sich in der Tat: Warum gehen Sie diesen sein. Die Politik muss doch einmal die Fakten zur
Schritt nicht? Sie wissen doch selber, dass ohne diesen Kenntnis nehmen, auch dann, wenn sie eigentlich nicht
Schritt Ihr stolzes Werk zu großen Enttäuschungen führt in ihr Weltbild passen.
und ein riesiger Flop wird.
Tatsache ist doch, dass die jungen Familien heute eher
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein partnerschaftliches Lebenskonzept verwirklichen
wollen, dass aber der Wunsch junger Mütter nach Er-
Mein Eindruck ist, dass Sie sich in der Auseinander-
werbstätigkeit und die Möglichkeit der Aufnahme einer
setzung um eine moderne Familienpolitik in Ihren eige-
Erwerbstätigkeit in Deutschland ganz besonders schlecht
nen Reihen so aufgerieben haben, dass Sie sich jetzt
zusammengehen. Tatsache ist, dass wir in Deutschland
sozusagen zur Erholung lieber in das Reich der hehren
ein im internationalen Vergleich extrem hohes Armuts-
Worte zurückziehen möchten
risiko bei Alleinerziehenden haben, aber auch bei Eltern
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Stimmt mit kleinem Einkommen. Tatsache ist auch, dass in Län-
doch gar nicht!) dern mit besseren Erwerbsmöglichkeiten für Frauen und
besseren Betreuungsstrukturen mehr Kinder geboren
und bloß nicht die Auseinandersetzung um die Familien- werden und ein besserer Schutz der Familien vor Armut
politik weiterführen wollen, weil Ihnen das offensicht- besteht. Wir zahlen zwar besonders hohe Transferleis-
lich zu mühselig geworden ist. tungen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Caren Marks [SPD]: Das wollen Sie doch ge-
Die Ausgestaltung des Elterngeldes zeigt doch, dass Sie rade verlängern! Wo ist denn da die Strin-
immer noch keine Einigung in der Frage erreicht haben, genz?)
wohin Sie eigentlich wollen. Worum soll es denn gehen? das führt aber keinesfalls dazu, dass die Familien besser
Soll das Elterngeld eine Überbrückungshilfe für er- vor Armut geschützt sind.
werbstätige Frauen darstellen, damit sie dann wieder in
die Erwerbstätigkeit einsteigen können, oder handelt es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sich um eine Kinderprämie unabhängig von der vorher- Das sind doch Tatsachen, die man zur Kenntnis nehmen
gehenden Erwerbstätigkeit? muss.
Bei der Auseinandersetzung um den Geschwisterbo- Man muss auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass die
nus haben Sie sich erst in den allerletzten Tagen geei- schlechte Betreuungsinfrastruktur dazu führt, dass ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5365
Krista Sager
(A) rade in Problemstadtteilen, das Recht der Kinder auf sie sind Opposition. Sie müssen etwas finden, um gegen (C)
frühe individuelle Förderung, das Recht der Kinder auf ein gutes Konzept zu sein. Aber auf Ihre Rede, Frau
Bildung von Anfang an, ignoriert und mit Füßen getre- Sager, war ich gespannt.
ten wird. Dieser Gedanke gehört auch dazu.
(Ina Lenke [FDP]: Das sollten Sie sich nicht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN antun, Frau Fischbach!)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN –
Christel Humme [SPD]: So ein Schwachsinn!) Ich war gespannt darauf, weil ich schon etwas länger da-
bei bin und mich noch sehr gut an die Diskussionen im
Wir werden in wenigen Jahren einen Fachkräfte- letzten Jahr erinnern kann, als Sie in der Regierungsver-
mangel haben. Wir leisten uns aber immer noch ein Ehe- antwortung waren. Vielleicht hätten Sie einmal in der
gattensplitting, das Anreize dafür bietet, dass die jungen, Rede Ihrer Kollegin Deligöz dazu nachlesen sollen, wie
gut ausgebildeten Frauen möglichst zu Hause bleiben. sie sich zu den vagen Vorstellungen des Elterngeldes ge-
Das sind doch alles Baustellen, bei denen wir erwarten äußert hat, die damals bereits auf der Tagesordnung stan-
können, dass sie von einer Familienministerin angegan- den. Ihre Fraktion hat damals an dieser Stelle vehement
gen werden. deutlich gemacht, wie wichtig die Verabschiedung des
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tagesbetreuungsausbaugesetzes mit Blick auf das El-
und bei der LINKEN) terngeld ist. Jetzt sind Sie in der Opposition und sagen:
keine Politik der falschen Versprechungen. Meinten Sie
Ich will gern zugestehen, dass das in Ihren eigenen Rei- damit Ihre Versprechungen vom letzten Jahr?
hen nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig ist und
keine leichte Auseinandersetzung bedeutet. Aber Sie (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
müssen diese Baustellen angehen. wie bei Abgeordneten der SPD)
Sie haben sich auch nicht zu Wort gemeldet, als ei- Ich mache keinen Hehl daraus, dass es die Frau
nige Ihrer Herren Vorschläge für ein Familiensplitting Ministerin vor allem in den eigenen Reihen nicht leicht
gemacht haben und darüber schwadronierten. Das Fami- hatte. Die Koalitionspartner haben in Sachen Familien-
liensplitting setzt im Prinzip das System des Ehegatten- politik sehr unterschiedliche Vorstellungen. Wir wollen
splittings, die alte Politik in neuem Gewand fort. Dazu den Familien keine Vorgaben machen, in welcher Form
haben Sie nichts gesagt, obwohl das als Familienminis- sie zusammenzuleben haben und wie sie ihre Zukunft zu
terin Ihre Aufgabe gewesen wäre. gestalten haben. Die Familien sind klug genug, selber
darüber zu entscheiden. Trotz der hohen Zahl der Ehe-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) scheidungen wollen sich 89 Prozent der jungen Men-
(B) Ein Letztes noch zur Stichtagsregelung; Frau Lenke schen für Familie und Kinder entscheiden. Es ist uns ein (D)
hat es angesprochen. Ich frage mich wirklich, warum Sie Anliegen, sie dabei zu unterstützen. Wir brauchen Rah-
sich das antun. Wir können uns doch alle vorstellen, wie menbedingungen, durch die es jungen Menschen ermög-
es wenige Wochen vor dem Jahreswechsel sein wird. licht wird, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen.
Alle Regionalzeitungen werden voll sein mit entzücken-
Ich weiß noch genau, was ich vor einem Jahr an die-
den Bildern von süßen Neugeborenen und wir werden
ser Stelle gesagt habe. Ich habe mich damals – die ehe-
lesen können, dass es für diesen bedauerlichen, armen,
malige Ministerin sitzt im Plenum; sie kann sich sicher-
kleinen, süßen Fratz kein Elterngeld geben wird, weil er
lich noch daran erinnern – vehement gegen das
zwei Wochen zu früh auf die Welt gekommen ist. Wer
ausgesprochen, was damals vorgelegt wurde, nämlich
wird dann wohl der Schuldige sein? Die Schuldigen wer-
ein reines Lohnersatzprogramm für Eltern, die beide be-
den doch die Regierung sein und vor allem die gemeine
rufstätig sind. Das war nicht das, was wir wollten. Wir
Familienministerin. Warum tun Sie sich das an? Ich be-
wollen den Familien nämlich nicht vorschreiben, dass
greife das wirklich nicht. Wenigstens an diesem Punkt
Vater und Mutter arbeiten müssen. Wir wollen vielmehr
sollten Sie den Rat der Opposition ernst nehmen. Er ist
ein Programm, in dem sich alle wiederfinden. Deswegen
in diesem Fall nicht nur gut, sondern er ist ausnahms-
sind wir dankbar, Frau Ministerin, dass wir es mit dem
weise auch gut gemeint.
Mindestelterngeld geschafft haben, dass jede Familie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, – unabhängig von der doppelten Erwerbstätigkeit – nun
bei der FDP und der LINKEN) von dem Elterngeld profitieren kann. Jede Familie be-
kommt also mindestens 300 Euro, unabhängig davon, ob
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beide, also Vater und Mutter, berufstätig sind. Das ist ein
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Fischbach, Erfolg. Diese Regelung können wir heute gut mittragen.
CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD)
neten der SPD) Wir sehen die Notwendigkeit, Familien in der Phase
ihrer Gründung stärker zu unterstützen. Herr
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Wunderlich, erlauben Sie mir folgende Bemerkung: Ihre
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine lieben Kol- Polemik mit den Zitaten fand ich nicht so prickelnd. Ich
leginnen und Kollegen! Bei Frau Lenke und Herrn glaube, das haben Sie gar nicht nötig. Außerdem ist es
Wunderlich war es mir klar. Sie waren Opposition und für unser Vorhaben nicht hilfreich, wenn man so billig
5366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Ingrid Fischbach
(A) und polemisch argumentiert. Diese Polemik sollten Sie sich gerne um die Kinder kümmern wollen. Ein Drittel (C)
an dieser Stelle besser unterlassen. der befragten Männer hat allerdings gesagt – das hat uns
Frauen nicht maßlos erstaunt –, auf Hausarbeit hätten sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keine Lust. Aber diese Arbeit gehört nun einmal zur Fa-
neten der SPD) milienarbeit. 88 Prozent der berufstätigen Frauen haben
Wir wollen den Familien in den Situationen, in denen gesagt – das war für uns für die Entwicklung des Eltern-
der finanzielle Verlust am schmerzhaftesten ist, einen geldkonzeptes ausschlaggebend –, dass sie sich gerne
Ausgleich geben. Das Elterngeld beträgt 67 Prozent des um ihre Kinder kümmern und Kinder erziehen wollen,
Nettoeinkommens bis zu einer Maximalgrenze von dass sie aber auch berufstätig bleiben wollen. Das zeigt
1 800 Euro monatlich und ist auf ein Jahr angelegt. uns, dass dieses Konzept richtig ist und dass wir auf dem
Trotzdem gibt es Vorwürfe, das sei das „Wort zum Sonn- richtigen Weg sind.
tag“ und es sei unklar, was nach Ablauf des Jahres
Genauso richtig und wichtig ist für uns, dass wir den
komme.
Bezugszeitraum von einem Jahr auf zwei Jahre erweitert
Frau Ministerin, Sie sind zwar noch nicht lange im haben, wenn es die finanziellen Verhältnisse möglich
Amt. Aber die Vehemenz, mit der Sie in der kurzen Zeit machen. Das heißt, man kann das Elterngeld auf zwei
familienpolitische Leistungen durchgesetzt haben, haben Jahre splitten und somit den Bezug verlängern. Das ist
wir in den vergangenen Jahren nicht erlebt. Dafür danke richtig und wichtig.
ich Ihnen im Namen der Familien ganz herzlich.
(Ina Lenke [FDP]: Da fehlt ganz viel
(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl Flexibilität!)
[SPD]: Aber Frau Fischbach!)
Ein letzter Punkt, den ich inhaltlich ansprechen
– Ich denke dabei an die steuerliche Absetzbarkeit der möchte, ist der Geschwisterbonus. An dieser Stelle
Kinderbetreuungskosten, um die es am Anfang des Jah- muss man deutlich machen, wie aufnahmefähig wir wa-
res einen harten Kampf gab. Diesen Kampf hat die Fa- ren. Frau Lenke und Frau Sager sagten, die Regierung
milienministerin ausgefochten und sich für die Familien solle sich auch einmal die Vorschläge der Sachverständi-
eingesetzt, obwohl sie dafür doch gar nicht federführend gen und der Opposition anhören. An dieser Stelle
zuständig war. Frau Kressl, auch Sie dürfen einmal lo- möchte ich ein ganz herzliches Dankeschön an den Juris-
bend erwähnen, dass das eine gute Sache für die Fami- tinnenbund in Person von Frau Fuchsloch aussprechen,
lien in unserem Lande ist.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
(B) [SPD]: Dagegen habe ich doch nichts!) GRÜNEN) (D)
Mit der Geringverdienerkomponente – Frau Lenke die sich wirklich bemüht hat, die in einer Anhörung ge-
hat sie kompliziert vorgerechnet – äußerten Meinungen der Sachverständigen zusammen-
(Ina Lenke [FDP]: Es ist so kompliziert! Es ist zuführen und zu einer einheitlichen Vorgehensweise zu
sogar noch komplizierter!) kommen. Diese Regierung hört zu, das unterscheidet sie
sicher von den Vorgängerregierungen. Wir nehmen gut
gehen wir einen richtigen Weg. Es muss deutlich sein, gemeinte Vorschläge auf und arbeiten sie in unsere Vor-
dass sich Arbeit immer lohnen muss. Es kann nicht da- lagen ein.
rum gehen, alle Menschen in allen Lebenssituationen
finanziell gleich zu stellen. Ich halte die Geringverdie- (Ina Lenke [FDP]: Einen einzigen!)
nerkomponente, wie gesagt, für einen guten Weg. Denn:
– Es waren mehr als zwei, Frau Lenke. Sie sind an ande-
Auch wenn die Eltern weniger verdienen, lohnt es sich
rer Stelle nicht in der Lage, überhaupt einen aufzuneh-
für sie, eine Arbeit aufzunehmen.
men. Insofern seien Sie froh, dass wir diese aufnehmen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und konnten.
der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Ein Lieblingsthema der Union in den letzten Monaten Heiterkeit bei der SPD)
waren sicherlich die Partnermonate.
Wir haben den Vorschlag des Juristinnenbundes auf-
Man soll ja ehrlich miteinander umgehen. Wenn man genommen. Das heißt, der Geschwisterbonus ist so for-
sich die Auswertung von Umfragen einmal ansieht muliert worden, wie er vorgeschlagen wurde. Wird in-
– auch innerhalb der CDU und ebenso der CSU; ich will nerhalb eines bestimmten Zeitraumes ein zweites Kind
die CSU nicht außer Acht lassen –, geboren, wird das Elterngeld um 10 Prozent, mindestens
aber um 75 Euro erhöht. Das ist sicherlich nicht viel
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir
wissen, was wir wert sind!) – diese Kritik wird geäußert –; aber es ist ein Zeichen,
das uns allen und vor allen Dingen den Familien gut tut,
dann stellt man fest, dass 67 Prozent aller befragten die sich auch für ein zweites und drittes Kind entschei-
Männer diese Partnermonate begrüßen. Kollege den. Denn wir haben ja nicht nur das Problem der Kin-
Singhammer wird es gleich sicherlich noch einmal sa- derlosigkeit, sondern auch das Problem, dass uns die
gen: 53 Prozent der berufstätigen Männer zwischen Mehrkinderfamilien fehlen. Dadurch haben wir keinen
18 und 45 Jahren begrüßen diese Partnermonate, weil sie Ausgleich, der ansonsten vorhanden wäre. Wir haben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5367
Ingrid Fischbach
(A) also ein Zeichen gesetzt, sich für mehr Kinder auszu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
sprechen. Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, diesmal von der Kollegin Kressl?
(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])
Ingrid Fischbach (CDU/CSU):
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Da die Uhr angehalten wird, jederzeit.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Nicolette Kressl (SPD):
(Nicolette Kressl [SPD]: Zur Mehrwertsteuer!) Frau Kollegin, ich konnte leider bei den Ausschussbe-
ratungen nicht dabei sein. Deshalb wollte ich nachfra-
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): gen. Sie haben doch sicherlich im Ausschuss miteinan-
Immer wieder gern. der besprochen, dass es überhaupt nicht wahr ist, dass es
eine besondere Benachteiligung von Studentinnen gibt,
Ina Lenke (FDP): dass es im Gegenteil aufgrund der Geringverdienerrege-
lung, wenn Studentinnen und Studenten – was sie ja sehr
Frau Fischbach, Sie haben sicher genau wie ich viele
häufig tun – einen Job haben, sogar sein kann, dass sie
Briefe von Studentinnen bekommen, die beklagen, dass
im Vergleich zum bisherigen Erziehungsgeld besser ge-
die jetzigen Regelungen zum Elterngeld für sie sehr
stellt werden?
nachteilig sind. Sie bekommen nämlich nur ein Jahr und
nicht zwei Jahre Elterngeld. Sie haben gerade gesagt, wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
alle wollten, dass Frauen früher das erste Kind bekom-
men, damit dann auch ein zweites und ein drittes Kind Ingrid Fischbach (CDU/CSU):
komme. Ich bin der Meinung, dass es gerade Studentin-
Das ist sehr richtig; ich danke Ihnen für die Klarstel-
nen durch finanzielle Hilfe ermöglicht werden sollte, ein lung. Wir müssen aber sagen, dass das für ein Jahr gilt.
Kind großziehen zu können. Wenn sie dann berufstätig
Insofern hat Frau Kollegin Lenke nicht ganz Unrecht.
sind, haben sie schon einen Ganztagskindergartenplatz
Aber es gibt hier eine deutliche Besserstellung im ersten
für ihr Kind. Diese Möglichkeit haben Sie aber in dem
Jahr und auch das darf man erwähnen. Ich danke Ihnen
vorliegenden Gesetzentwurf verschlechtert. Ich würde
noch einmal für die Klarstellung.
Sie gerne fragen: Warum haben Sie diese zum Beispiel
für Studentinnen schlechtere Komponente gewählt? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
(Beifall bei der FDP)
(B) Die Sachverständigen des Siebten Familienberichts (D)
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): haben sich natürlich auch zum Elterngeld geäußert. Sie
Frau Lenke, natürlich kann man sagen: Ein Jahr ist haben festgestellt – ich möchte zitieren –:
viel zu wenig, damit verschlechtert sich die Situation. Ein einkommensabhängiges Elterngeld hat … die
Gerne hätten wir zwei, drei, sechs oder auch zehn Jahre gleiche Bedeutung wie die … Fortbildung für den
vorgesehen; da bin ich mit Ihnen vollkommen d’accord. Beruf, denn es ist eine Freistellung von der Er-
(Sibylle Laurischk [FDP]: Zehn Jahre werbsarbeit zur Unterstützung der Entwicklung von
Studium?) Humankapital einer Wissensgesellschaft.

Verantwortungsvolle Politik heißt aber auch, die Rah- Hier wird noch einmal ganz deutlich, welche beson-
menbedingungen zu beachten. Da die Kassenlage ist, dere Verantwortung junge Paare übernehmen, wenn sie
wie sie ist, muss man bestimmte Vorgaben berücksichti- Kinder bekommen und sich der Erziehung ihrer Kinder
gen; das ist das eine. widmen. Wir sollten gemeinsam alles tun, damit die
Rahmenbedingungen für junge Eltern besser werden, als
Das Zweite ist – da hoffe ich auf Ihre Unterstützung, sie bisher gewesen sind. Das würde es ermöglichen, dass
darauf, dass Sie zum Beispiel der Fraktion der FDP in die Entscheidung für das Kind spontaner, schneller und
Nordrhein-Westfalen Hilfestellung geben; sie ist dort normaler getroffen wird. Wir sind uns doch auch alle
zusammen mit der Fraktion der CDU in der Regierungs- darüber im Klaren: Wenn wir, die wir jetzt Eltern sind,
verantwortung –, dass wir zum Beispiel auch Hoch- damals alle überlegt hätten, ob es der richtige Zeitpunkt
schulabsolventinnen und Studentinnen mehr Kinderbe- ist, ein Kind zu bekommen, hätten wir viele Kinder nicht
treuungsangebote eröffnen müssen. Das ist etwas, das bekommen. Wir haben es damals als normal empfunden,
wir ganz schnell gemeinsam lösen könnten. Ich würde Kinder zu bekommen. Ich glaube, das ist ein wichtiger
mich freuen, wenn wir beide gemeinsam einen solchen Punkt, den wir in unseren Betrachtungen nicht außer
Vorstoß machen würden. Das heißt, wir müssen die Rah- Acht lassen dürfen.
menbedingungen für junge Frauen, die sich im Studium
befinden, verbessern. Das heißt ferner, Angebote für die Wir brauchen eine kinder- und familienfreundli-
qualitativ gute Betreuung der Kinder zu schaffen. Das chere Gesellschaft. Sie können mir glauben: Wenn es
machen wir zusammen als eine Initiative; darauf freue dazu eine Gesetzesvorlage gäbe, hätten wir sie schon
ich mich sehr. Das können wir ganz schnell umsetzen. längst auf den Weg gebracht. Sie gibt es aber nicht. Be-
ginnen muss das in unseren Köpfen. Ich kann nur dafür
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) werben, dass wir unsere täglichen Handlungen daraufhin
5368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Ingrid Fischbach
(A) überprüfen, ob wir wirklich so kinderfreundlich sind, Einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot nach (C)
wie wir manchmal tun. Ich glaube, an der einen oder an- Art. 3 Grundgesetz hat der Bundesrechnungshof aufge-
deren Stelle täte uns ein wenig mehr Kinderfreundlich- zeigt. Wir nehmen das ernst. Die Bezieher von ALG I
keit gut. Das ist ein Zeichen, das die jungen Leute brau- werden sehr wohl 300 Euro Mindestelterngeld erhalten,
chen, das die Familien brauchen, um zu erkennen: Sie nicht jedoch die Berechtigten, die zuvor gearbeitet ha-
werden von uns, den Politikern, geachtet, respektiert und ben; sie erhalten lediglich 67 Prozent ihres bemessungs-
gefördert. erheblichen Einkommens als Entgeltersatzleistung. Inso-
weit sind diejenigen, die zuvor gearbeitet haben, unter
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Umständen schlechter gestellt als zuvor arbeitslose Be-
zieher von Elterngeld. Bezüglich des Leistungsbezuges
Frau Kollegin.
werden also zuvor Arbeitslose völlig ungerechtfertigt
besser gestellt als diejenigen, die bis zur Geburt des Kin-
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): des gearbeitet haben.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Bischof Huber
über die Bedeutung der Familie schließen: (Beifall bei der FDP)

Heute geht es darum, die Bedeutung der Familie Selbstständige, die mehr als 30 Stunden arbeiten, wer-
wie das Glück mit Kindern neu zu entdecken … Für den nicht einmal das Mindestelterngeld erhalten. Das ist
beides ist neues Zutrauen nötig. Ein Zutrauen zur eine Entmutigung für erwerbstätige Frauen.
Leistungsfähigkeit unserer Familien. Und ein Zu- (Beifall bei der FDP)
trauen zu einem Leben mit Kindern.
Nicht nachvollziehbar ist, warum Alleinerziehende,
Wir von CDU/CSU haben dieses Zutrauen: Für un- die vor der Geburt gearbeitet haben, zwei Partnermonate
sere Familien, für unsere Kinder, für unsere Zukunft! anerkannt bekommen sollen, erwerbslose Alleinerzie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hende dagegen nicht. Auch im Ausschuss erhielten wir
auf diese Frage keine Antwort. Paare, die sich die Er-
werbsarbeit und die Betreuungsarbeit parallel aufteilen,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden das Elterngeld nur für die verkürzte Bezugsdauer
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk, von sieben Monaten erhalten. Auch das ist für uns nicht
FDP-Fraktion. nachvollziehbar.
(Beifall bei der FDP) Hinweisen möchte ich auf die Benachteiligung von
Ausländern. Dieses Thema wurde im Ausschuss noch
(B) Sibylle Laurischk (FDP): schnell nachgeschoben. Frau Ministerin, Sie sind für (D)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Frauen zuständig. Ich glaube, dass diese Regelung ge-
Herren! Frau Ministerin, an Ihrem Gesetzentwurf gefällt rade ausländische Frauen sehr einschränken wird.
mir gut, dass Sie das Thema der Väter in den Blick ge- Es bleibt mir leider nicht mehr Redezeit. Deswegen
nommen haben. Das Stichwort „Vätermonate“ hat mir komme ich zu meinem Resümee, zum Resümee der
die Hoffnung gegeben, dass die Bedeutung der Väter FDP-Fraktion: Frau Ministerin, Sie handeln nach dem
in der Diskussion stärker herausgestellt wird. Ich sage Motto „Augen zu und durch!“. Dieses Gesetz wird Ihnen
bewusst als alleinerziehende Mutter und Scheidungs- aber auf die Füße fallen.
anwältin: Väter finden in Deutschland zu wenig statt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und der LINKEN)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dennoch bleiben – das muss ich insbesondere nach der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Diskussion im Ausschuss feststellen – verfassungs- Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Kucharczyk,
rechtliche Bedenken. Deswegen wird die FDP-Fraktion SPD-Fraktion.
diesen Gesetzentwurf ablehnen müssen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Die Vermischung von einkommensunabhängiger So- CDU/CSU)
zialleistung, nämlich dem Mindestelterngeld in Höhe
von 300 Euro, das allen Eltern in Anerkennung ihrer Er- Jürgen Kucharczyk (SPD):
ziehungsleistungen anrechnungsfrei gezahlt werden soll, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
und der gleichfalls aus Steuermitteln gewährten Einkom- Ministerin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine
mensersatzleistung, dem eigentlichen Elterngeld in sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Le-
Höhe von 67 Prozent des letzten über einen Zeitraum sung zum Elterngeld setzt die jetzige Koalition in der Fa-
von zwölf Monaten erzielten Einkommens, fällt uns be- milienpolitik den richtigen Weg, den die vorherige Re-
sonders ins Auge. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz ist gierung eingeschlagen hat, konsequent fort. Der Siebte
die Grundlage für das Mindestelterngeld als einkom- Familienbericht macht deutlich: Das Elterngeld, das es
mensunabhängige Sozialleistung nach Bedürftigkeit. Als beiden Elternteilen ermöglicht, eine berufliche Auszeit
Grundlage für die Gewährung als Einkommensersatz- zu nehmen, ist der richtige Weg in eine Zukunft der ver-
leistung reicht das nicht. Die verfassungsrechtlich sau- antwortlichen Gleichstellungs- und Familienpolitik.
bere Lösung wäre eine beitragsfinanzierte Leistung, wie
es sie in Schweden gibt. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5369
Jürgen Kucharczyk
(A) Dabei ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf frauenmodell, bei dem der Ehemann voll berufstätig ist (C)
keineswegs nur ein Frauenthema. Junge Eltern haben und die Ehefrau keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, wäre
heute den Anspruch, selbst zu entscheiden, wer von bei- eine Auszeit des Vaters untragbar.
den wie lange zu Hause bleibt, um ohne finanzielle Eng-
60 Prozent der Personen in Elternzeit entscheiden
pässe für ein Kind zu sorgen. Dafür bietet das Elterngeld
sich heute noch für das traditionelle Modell: Der Vater
die notwendige Flexibilität. Im ersten Lebensjahr des
ist in Vollzeit berufstätig, während die Mutter die Eltern-
Kindes erhält ein nicht voll erwerbstätiges Elternpaar die
zeit in Anspruch nimmt und keiner Erwerbsarbeit nach-
Option auf eine Lohnersatzleistung in Höhe von 67 Pro-
geht. Danach nimmt die Mutter ihre zuvor ausgeübte Tä-
zent des vormaligen Nettoeinkommens des betreuenden
tigkeit – jedoch meist in Teilzeit – wieder auf.
Elternteils. Mit mindestens 300 Euro – auch für zuvor
nicht arbeitende Eltern – und maximal 1 800 Euro unter- Die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen bewegen
stützen wir junge Familien bei ihrer wichtigen Aufgabe fast ausschließlich Frauen dazu, die Elternzeit zu bean-
der Kinderbetreuung in den ersten Monaten. Bei einer spruchen. Nur wenn keine finanziellen Nachteile zu er-
Mindestbeteiligung der Väter von zwei Monaten wird warten sind, werden auch Väter die Elternzeit vermehrt
das Elterngeld 14 Monate lang gezahlt. in Betracht ziehen. Insgesamt sind 50 Prozent der eltern-
zeitberechtigten Haushalte der Meinung, dass das jetzige
Im Gegensatz zum Erziehungsgeld kombinieren wir Erziehungsgeld nicht ausreicht, um den zu erwartenden
nun eine höhere finanzielle Unterstützungsleistung mit Einkommensverlust auszugleichen.
einer kürzeren Laufzeit. Das entspricht den aktuellen Le-
bensumständen junger Eltern. Sie möchten ihren Le- Wir sehen, weitere Wege in der Familienpolitik sind
bensstandard nicht gefährden und haben beruflich kaum notwendig. Deshalb liegt es an uns, dafür zu sorgen, dass
Aufstiegsmöglichkeiten, wenn sie für mehrere Jahre aus junge Männer ebenso wie ihre Altersgenossinnen dazu
dem Arbeitsleben ausscheiden. bereit sind, ein Stück Lebenszeit in ihre Familie zu in-
vestieren.
Dem Anschein nach entscheiden sich heute viele
junge Männer gegen die Gründung einer Familie. Ist (Beifall bei der SPD)
diese Aufgabe wirklich eine Last? Ist es so viel weniger Dabei gilt es aber auch, mit unserem familienpolitisch
attraktiv, Kinder zu bekommen und zu erziehen, als dem eingeschlagenen Weg die Rahmenbedingungen für Fa-
Beruf absoluten Vorrang einzuräumen? Es muss einmal milien in den Bereichen Infrastruktur, Betreuungsange-
ganz deutlich gesagt werden: Kinder machen Spaß. Sie bote und Hilfen für Eltern insgesamt fortzusetzen. Ein
bereichern das Leben und sind eine schöne Herausforde- entscheidender Baustein, die beruflichen Unsicherhei-
rung, für die es sich lohnt, zu kämpfen. ten zu minimieren und so bei Vätern einen Anreiz für
(B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Leben mit Kindern zu schaffen, wird das Elterngeld (D)
sein. Nach seiner Einführung haben Unternehmen kei-
Als zweifacher Vater und zweifacher Großvater kann ich nen Grund mehr, automatisch davon auszugehen, dass
Ihnen das versichern. die Frau mit Gründung einer Familie ihre vermeintlich
vorbestimmte Rolle als Familienmanagerin einnimmt.
Eine Meinungsumfrage des Forschungsinstituts Ipsos
Die Chancengleichheit im Beruf wäre damit ein weite-
unter Männern hat ergeben, dass sich 68 Prozent der be-
res Stück nach vorn gebracht.
fragten Männer durchaus vorstellen können, Elternzeit
zu nehmen. Das zeigt deutlich: Väter wollen heute be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wusst mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Die Rea- der CDU/CSU)
lität zeigt leider, dass vielen, die heutzutage eine Auszeit
Solange es allerdings Personalverantwortliche gibt,
vom Job für ihre Kinder nehmen, dies, insbesondere in
die junge Frauen bei der Arbeitsplatzvergabe benachtei-
Führungspositionen, als Nachteil in den Unternehmen
ligen, weil sie im gebärfähigen Alter sind, wird das Pro-
ausgelegt wird. Dort setzen wir nun in einem ersten
blem der Kinderlosigkeit in unserer Gesellschaft mit
wichtigen Schritt mit dem Elterngeld an. Die Unterneh-
dem Elterngeld allein nicht gelöst.
mensvorstände würden gut daran tun, sich an unseren
skandinavischen Nachbarländern zu orientieren. Am (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
dortigen System wird deutlich, wie die Vereinbarkeit CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
von Familie und Beruf funktionieren kann. NEN)
Laut einer DIW-Studie ist es für Männer außerordent- Denn nur eine aufgeklärte und zukunftsorientierte Ge-
lich wichtig, über ein stabiles Einkommen zu verfügen, sellschaft wird nicht mehr thematisieren, dass Frauen
ehe sie eine Familie gründen. Gerade für Väter ist die Rabenmütter sind, wenn sie arbeiten, sondern es als nor-
Höhe des Nettolohns entscheidend, um außerberufliches, mal ansehen.
familiäres Engagement attraktiv zu gestalten. Seit der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes 2001, das bis
CDU/CSU)
zu 30 Wochenstunden Erwerbsarbeit während der In-
anspruchnahme der Elternzeit zulässt, sind immerhin Fakt ist, dass bislang nur die Hälfte aller Mütter aus
5 Prozent der Personen in Elternzeit Männer. Diejenigen der Elternzeit in die Erwerbstätigkeit zurückkommen.
Elternpaare, die heute keine Elternzeit in Anspruch neh- Das sind zu wenig. Die Berufstätigkeit von Frauen ge-
men, begründen dies überwiegend mit finanziellen und rade in Zeiten eines drohenden Fachkräftemangels zu
beruflichen Nachteilen. Auch beim traditionellen Haus- fördern, muss in unser aller Interesse sein.
5370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Jürgen Kucharczyk
(A) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/
Die Grünen.
Dazu gehört allerdings auch, wirtschaftspolitisch etwas
zu unternehmen, um dem Trend von immer weniger fes-
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ten Arbeitsplätzen hin zu immer mehr Patchworkbiogra-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
fien Einhalt zu gebieten. Auch die deutsche Wirtschaft
Frau Fischbach, Sie haben der Ministerin gerade gratu-
trägt Mitverantwortung für die künftigen Generationen in
liert, dass sie das Elterngeld durchgesetzt hat. Dazu sage
unserem Land. Praktika, befristete Arbeitsverhältnisse,
ich von meiner Seite – hier haben Sie Recht –: Das tue
Teilzeit oder – im schlimmsten Fall – Erwerbslosigkeit
auch ich. Aber die Frage ist doch nicht, warum sich die
bieten zu wenig materielle Sicherheit, um Kinder groß-
Ministerin durchgesetzt hat, sondern warum Sie ihr mit
zuziehen. Arbeitsplatzsicherheit und die Perspektive, all dem, was Sie gesagt haben – die Stichworte lauten:
den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können, wer- Wickelvolontariat, Bevormundungen und Ähnliches –,
den dazu beitragen, dass sich Männer und Frauen eher so viele Steine in den Weg gelegt haben. Sie hätten ihr
für Kinder entscheiden. diese Steine erst gar nicht in den Weg legen sollen. Dann
Eine nachhaltige Familienpolitik muss, wenn sie eine hätte sie es womöglich viel leichter gehabt und dann hät-
zukunftsorientierte Änderung der bestehenden Rollen- ten Sie ihr auch nicht auf diese Weise gratulieren müs-
verteilung anstrebt, umso mehr auch Geschlechterpoli- sen.
tik sein. Für unsere Gesellschaft ist es wertvoll und uner- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
lässlich, dass auch berufstätige Karrierefrauen Kinder Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Oh! Das
bekommen und ihnen ein Vorbild sein können. ist ja rührend!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Kucharczyk, Sie haben Recht: Gesellschaftli-
cher Wandel braucht Zeit. Wir wissen nicht, wie sich
Daher möchte ich betonen: Wir brauchen einen gesell- das Elterngeld auswirken wird. An einem Punkt bin ich
schaftlichen Wandel. allerdings etwas optimistisch: Ich erhoffe mir sehr, dass
sich zumindest bei den Vätern etwas tun wird. Denn
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um zu verdeutli- junge Väter wollen mehr partnerschaftliches Miteinan-
chen, dass wir die Leistungen für Familien nicht auf das der. Die Rahmenbedingungen und der dazu nötige finan-
erste Jahr beschränken wollen, erinnere ich ausdrücklich zielle Spielraum werden nun endlich geschaffen. Man
an das Tagesbetreuungsausbaugesetz, welches den Aus- kann die jungen Väter nur noch auffordern: Ergreift
(B) bau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die steuer- diese Chance! Allerdings haben sie jetzt auch eine Aus- (D)
liche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten vor- rede weniger, wenn es nach wie vor so sein sollte, dass
sieht, und die steuerliche Förderung haushaltsnaher ihre Frauen die Erziehungsarbeit allein bewältigen und
Dienstleistungen. das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie al-
lein lösen müssen.
Selbstverständlich gibt es auch im Hinblick auf das
Elterngeld noch Verbesserungsvorschläge. Für uns So- (Heiterkeit der Abg. Sibylle Laurischk [FDP])
zialdemokraten sind nicht alle Entscheidungen zufrie- Hier ist auch die Initiative der Väter gefragt.
denstellend, aber wir haben einen Kompromiss ausge-
handelt, mit dem wir unsere erfolgreiche Familienpolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der letzten Wahlperiode fortsetzen. Für die Bezieher des und bei der SPD)
ALG II bzw. der Grundsicherung haben wir eine Rege- Nun komme ich zu meinen Kritikpunkten: Noch ges-
lung realisiert, die vorsieht, dass für die Dauer von zwölf tern habe ich eine Pressemeldung der CDU gelesen, in
Monaten ein Elterngeld in Höhe von 300 Euro gezahlt der sie die ursprüngliche Fassung der Regelung der Part-
wird. Diese Ergänzung des Elterngeldes um ein Leis- nermonate als staatliche Bevormundung betitelt hat.
tungselement für Eltern mit geringem Einkommen ist
wichtig, um allen Erziehenden eine Mindestleistung zu (Christel Humme [SPD]: Ja, ja!)
garantieren. Den qualitativen Unterschied zwischen der Formel
Mit dem Elterngeld treffen wir die richtige Entschei- „10 plus 2“ und der Formel „12 plus 2“ konnte mir bis-
dung für die Zukunft. Mit der Förderung der Elternzeit her niemand erklären.
für beide Erziehungsberechtigten legen wir den Grund- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Doch!
stein für einen Wandel vom nicht mehr zeitgemäßen Das Zweite sind zwei Monate mehr! –
Hausfrauenmodell hin zu einer emanzipierten und ge- Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Adam
schlechtergerechten Gesellschaft. Mit dem Elterngeld Riese, Frau Kollegin!)
sind wir auf dem richtigen Weg. Wir in der Koalition re-
den nicht nur über bessere Familienpolitik, sondern wir Das liegt daran, dass es keinen gibt. Daher werden auch
Sie einen solchen Unterschied hier nicht darstellen kön-
packen sie auch kreativ und konstruktiv an.
nen. Entweder sind beide Modelle eine staatliche Bevor-
Herzlichen Dank. mundung oder keines der beiden Modelle ist eine staatli-
che Bevormundung. Werden Sie sich endlich einmal
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) einig, was Sie eigentlich wollen!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5371
Ekin Deligöz
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Christel Humme [SPD]: Aber nur mit Zustim- (C)
und bei der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: mung der Länderkammer!)
Das ist ganz einfach! Das hat etwas mit den
Grundrechenarten zu tun!) Wir müssen ihn einführen. Solange wir das nicht tun,
wird sich auf dem Markt wenig tun. Das Tagesbetreu-
Von Ihrer Seite wurde gesagt, Studierende würden ungsausbaugesetz war gut. Aber es muss mehr Betreu-
nicht schlechter gestellt. Das ist aber die Unwahrheit. ungseinrichtungen geben. Sonst wird Ihr Elterngeld ins
Das stimmt nicht. Für ein Paar, das sich für das Haus- Leere laufen und nur zu Mitnahmeeffekten führen – und
frauenmodell entscheidet, gilt das Modell „12 plus 2“. zwar der Besserverdienenden. Das kann ja wohl nicht
Ein Paar, das sich entscheidet, während der Elternzeit zu Ziel der Familienpolitik sein!
studieren, erhält das Elterngeld aber nur zwölf Monate
lang. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Nicolette Kressl [SPD]: Nein! Das ist nicht
richtig! Das ist falsch! – Johannes Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Singhammer [CDU/CSU]: Stimmt nicht!) Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
– Doch, genau das machen Sie. Wenn Studierende nur
zwölf Monate Elterngeld bekommen und alle anderen 14, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gibt es eine Ungleichheit. Das gilt erst recht für die Ar- neten der SPD)
beitslosengeld-II-Empfänger: Auch diesen werden nur
zwölf Monate Elterngeld gewährt. Diese soziale Un- Johannes Singhammer (CDU/CSU):
gleichheit können Sie eigentlich nicht verteidigen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herren! Einige tun hier so, als werde mit dem Eltern-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – geld, das wir am heutigen Tag verabschieden wollen, ein
Christel Humme [SPD]: Es sind immer dann Sorgenkind den politischen Lebensweg beginnen. Das
zwölf Monate, wenn kein Einkommen da ist!) Gegenteil ist der Fall: Für die meisten Eltern ist das El-
Geschwisterbonus. Sie sagen, Sie hätten den Zeit- terngeld ein Wunschkind, auf das sie sehnlich warten.
raum, um in den Genuss des so genannten Geschwister- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
bonus zu kommen, auf 36 Monate verlängert. Schauen
Sie einmal genau nach, was Sie eigentlich gemacht ha- Die Kinderstube ist gut ausgestattet, für die Erziehung
ben: Sie haben nicht die Geschwisterbonusregelung ge- wird gesorgt – das Elterngeld wird eine gute Zukunft ha-
(B) ändert, sondern Sie haben deutlich mehr Anreize für die ben. Bis zu 1 800 Euro im Monat plus Kindergeld be- (D)
Erwerbstätigkeit von Frauen nach der Geburt des ersten trägt die höchstmögliche Transferleistung. 300 Euro als
Kindes gesetzt, Mindestelterngeld, ohne großen bürokratischen Auf-
wand, plus – beim ersten Kind – 154 Euro Kindergeld
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Wollten Sie macht 454 Euro für jedermann, für jederfrau, für jedes
das nicht?) Elternpaar. Das ist doch kein Pappenstiel! Ich verstehe
indem Sie die Bemessungsgrundlage verändert haben. nicht, wie man hier krampfhaft versuchen kann, das El-
Ich finde es gut, dass Sie das gemacht haben; terngeld kleinzureden, es madig zu machen. Freuen wir
uns doch, dass wir gemeinsam einen Schritt nach vorne
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Na gemacht haben!
also!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
denn damit fördern Sie nicht das Zuhausebleiben, son- Sibylle Laurischk [FDP]: Sie müssen die Pro-
dern die Erwerbstätigkeit. bleme wahrnehmen! Sie können nicht alles
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schönreden! – Ina Lenke [FDP]: Wir können
uns auf vieles freuen, auch auf Weihnachten!)
Aber stehen Sie endlich dazu! Ihre Ministerin tut das
auch; das ist gut so. Warum verstecken Sie sich hinter Für uns ist wichtig, dass die unterschiedlichen Le-
Floskeln, warum sagen Sie nicht einfach, was Sie ma- bensmodelle berücksichtigt werden, das heißt, auch die
chen? Das wäre eine ehrliche Politik. klassische Familie zu ihrem Recht kommt. Deshalb war
für uns auch entscheidend, ein Mindestelterngeld vorzu-
Mein letztes Argument: Ich weiß, Sie möchten das sehen. Selbstverständlich ist es ein Vorteil, wenn für die
R-Wort nicht hören. Gemeint ist der Rechtsanspruch. Vätermonate statt der Regel „12 minus 2“ – das heißt
Kinderbetreuung ist für Sie ein unbeherrschbares Na- zehn Monate, wenn der Vater nicht aussetzt – „12 plus 2“
turereignis. Sie verstecken sich hinter den Kommunen gilt, was bedeutet, dass zwei Bonusmonate hinzukom-
und den Ländern, wenn Sie darauf verweisen, dass der men, wenn der Vater aussetzt. Wer nicht erkennt, dass
Bund nichts tun könne. dies ein erheblicher Vorteil ist, sollte einmal die Grund-
(Iris Gleicke [SPD]: So ein Unfug!) rechenarten durchgehen! Wir sind froh, dass wir die El-
ternmonate bzw. Vätermonate durchgesetzt haben. Das
Ich kann nur eins sagen: Für einen Rechtsanspruch ist ist eine Verbesserung.
der Bund zuständig. Wir auf Bundesebene können den
Rechtsanspruch einführen. (Beifall bei der CDU/CSU)
5372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Johannes Singhammer
(A) Ebenso wichtig war uns die Einführung einer Gering- den es in dieser Debatte auch geht – die Ministerin hat (C)
verdienerkomponente, das heißt, dass Menschen mit das zu Recht angesprochen –, wird festgestellt, dass die
wenig Einkommen nicht mit Arbeitslosengeld-II-Emp- Situation der Familien nach wie vor alles andere als be-
fängern gleichgesetzt werden und dass für Familien, in friedigend ist, was insbesondere der Blick auf die Gebur-
denen der betreuende Elternteil vor der Geburt des Kin- tenzahlen zeigt, und dass der Maßnahmenkatalog, in
des weniger als 1 000 Euro netto verdient hat, das El- dem die vielen Leistungen an die Familien stehen, alles
terngeld von 67 auf 100 Prozent des Nettoeinkommens andere als transparent und übersichtlich ist.
angehoben werden kann.
(Ina Lenke [FDP]: Das ist beim Elterngeld
Das ist auch wichtig für die Gruppen, über die wir ge- auch so, Herr Singhammer!)
rade gesprochen haben, weil das im Einzelfall eine Bes-
Deshalb begrüße ich es, dass die 145 Familienleistungen
serstellung bedeutet.
auf den Prüfstand gestellt werden, dass wir sie bewerten
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ina und dann versuchen – das werden wir nicht nur versu-
Lenke [FDP]: Für je 2 Euro 0,1 Prozent mehr! chen, sondern auch schaffen –, einige breite Schneisen
Das ist ja wohl lächerlich!) für eine übersichtliche Familienförderung zu schlagen.
Auch an die Kolleginnen und Kollegen von der FDP ge- (Ina Lenke [FDP]: Das hätte zuerst gemacht
richtet, sage ich: Dahinter verbirgt sich ein Grundsatz, werden müssen! – Sibylle Laurischk [FDP]:
den auch Sie, so denke ich, alle unterschreiben können: Das müsste jetzt weitergeführt werden!)
Arbeit muss sich immer lohnen – auch beim Elterngeld.
Die durch den reduzierten Bürokratieaufwand eingespar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ten Mittel wollen wir für die Familien reservieren und
des Abg. Uwe Barth [FDP]) ausgeben. Ich denke, dass dem alle hier zustimmen kön-
nen.
Kinderreichtum darf nicht materielle Armut bedeuten.
Deshalb war es für uns wichtig, einen Geschwister- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
bonus einzuführen. Ursprünglich waren 24 Monate im Das gilt auch für die so genannte demografische
Gesetzentwurf vorgesehen. Auch das war schon ein Rendite. Immer häufiger ist zu hören, man könne hier
Fortschritt. Nun ist es uns mit der Ausdehnung auf und dort etwas einsparen. Das betrifft alle Körperschaf-
36 Monate gelungen, eine größere Wahlfreiheit zu ga- ten. Durch den Geburtenrückgang ist in der Tat für viele
rantieren. Das heißt, niemand wird bei der Familienpla- – auch für die Kommunen – eine neue Situation entstan-
nung unter Druck gesetzt. Ich glaube, dass das ein wich- den. Es gibt immer weniger Kinder. Deshalb werden
tiger Schritt ist, um die Familien mit mehr Kindern, die auch weniger Aufwendungen notwendig.
(B) in dieser Debatte immer wieder beschworen worden (D)
sind, ein Stück weit voranzubringen. Darüber bin ich
froh. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegin Lenke?
Sie haben noch nicht verstanden, was da ge-
schrieben wurde!) Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Schließlich ist noch ein weiterer Punkt von Bedeu- Aber sehr gerne.
tung: Das Elterngeld wird attraktiv sein. Die Menschen
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Du sollst die
warten darauf. Wir wollen aber auch, dass dadurch nicht
Wahrheit sagen!)
falsche Anreize für die Immigration ausgelöst werden.
Deshalb war es uns wichtig, dass Nichtdeutsche, die
sich nur vorübergehend in unserem Land aufhalten, eben Ina Lenke (FDP):
kein Elterngeld erhalten können. Das ist auch gerechtfer- Herr Grübel, Herr Singhammer und ich haben ein gu-
tigt; denn ein Spezialitätenkoch beispielsweise, der sich tes kollegiales Verhältnis. Das mag zwischen Ihnen und
nur für einige Zeit hier in Deutschland aufhält, hat einen mir ja anders sein.
anderen Status als jemand, der dauerhaft in Deutschland (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!)
lebt.
Herr Singhammer, ich habe eine wirklich ernsthafte
Wir freuen uns, dass die Wirtschaft dieses Elterngeld Frage. Wir alle wollen, dass die 145 Familienleistungen
gut angenommen hat. In einer kürzlich durchgeführten zusammengeführt und geprüft werden. Wir müssen uns
Befragung wurde festgestellt, dass sich eine große Mehr- fragen, welche notwendig sind und welche erhöht oder
heit von 72 Prozent mitverantwortlich dafür sieht, den gestrichen werden müssen. Meine Frage lautet: Warum
Beschäftigten die Entscheidung für Kinder zu erleich- ist das nicht im ersten Schritt geschehen? Bezogen auf
tern. Das ist ein erheblicher Fortschritt. Viele der befrag- dieses Ergebnis hätte dann ein neuartiges Elterngeld ent-
ten Arbeitgeber zeigen sich jetzt auch für konkrete stehen können. Warum kommt der zweite Schritt vor
Maßnahmen offen, durch die insbesondere der Wieder- dem ersten?
einstieg ins Erwerbsleben erleichtert wird.
Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass wir uns mit Johannes Singhammer (CDU/CSU):
dem Elterngeld nicht begnügen wollen. Das ist ein erster Liebe Frau Kollegin Lenke, das Vorhaben, die
wichtiger Schritt. In dem Siebten Familienbericht, um 145 Familienleistungen zu bewerten, zu prüfen und neu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5373
Johannes Singhammer
(A) zu ordnen, ist eine geradezu titanenhafte Aufgabe. Damit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C)
werden nämlich 50 Jahre Familienpolitik in Deutschland
neu bewertet und erarbeitet. Das kann nicht in ein paar Ich bedanke mich herzlich bei der Frau Ministerin da-
Wochen geschehen. für – das haben wir schon gehört –, dass das so schnell
geklappt hat. Ich danke auch herzlich Renate Schmidt
Uns war wichtig, dass das Elterngeld, das wir ver- hier im Plenum, die die Voraussetzungen zur Einführung
sprochen haben, rasch und unverzüglich auf den Weg ge- dieses Elterngeld geschaffen hat.
bracht wird. Schneller als bis zum 1. Januar kommenden
Jahres war das nicht möglich. Wir sind froh, dass wir das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
geschafft haben. Ich versichere Ihnen: Wir werden die der CDU/CSU)
Neuordnung der Familienleistungen zügig angehen und Wir haben eine gemeinsame Antwort auf die Frage
erfolgreich sein. von jungen Männern und Frauen gefunden, wie sie in
Zukunft Familienarbeit und Beruf untereinander besser
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
aufteilen können. Eine Umfrage in dieser Woche hat ge-
neten der SPD)
zeigt, dass in der Tat 68 Prozent der Männer – Herr
Lassen Sie mich kurz meinen Gedanken zu Ende Kucharczyk hat das schon erwähnt – bereit sind, Eltern-
bringen. Der Geburtenrückgang wird in vielen Berei- zeit zu nehmen. Ich sage an dieser Stelle: Ich wäre froh,
chen des Finanzwesens zu Einsparungen führen. Diese wenn nur die Hälfte der Männer dies tatsächlich machen
Einsparungen dürfen aber nicht zur Konsolidierung der würde; denn das wäre eine Steigerung von heute
Haushalte verwandt werden. Wir brauchen hier zumin- 5 Prozent auf 34 Prozent in der Zukunft. Das heißt, etwa
dest eine Aufrechterhaltung des Status quo in allen Be- 700 Prozent mehr Männer als heute würden Elternzeit
reichen der öffentlichen Haushalte, sodass Leistungen nehmen. Das würde ich sehr begrüßen.
im Sinne von Kinder- und Familiengerechtigkeit auf
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dem bisherigen Niveau bleiben. Jeder durch Geburten-
rückgang eingesparte Euro soll und sollte für Familien der CDU/CSU und der FDP)
verwandt werden; das ist ganz wichtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in der
Vergangenheit – das war auch in der Ausschussdebatte
Die finanzielle Gerechtigkeit wird weiterhin eine
so – habe ich immer geglaubt, das Aufbrechen bestehen-
große Rolle spielen. Das ist aber nicht der einzige Punkt.
der Rollenbilder sei auch Ihr Thema.
Wichtig ist auch ein Umdenken in den Köpfen in unse-
rem Land. Familien und Kinder gehören in unsere Ge- (Ina Lenke [FDP]: Ja, natürlich!)
sellschaft. Mit dem Elterngeld haben wir nicht nur die
– Natürlich? Jetzt stellen Sie sich allerdings hier hin und
(B) langjährige Forderung erfüllt, ein finanzielles Aus- lehnen unseren Gesetzentwurf zur Einführung des El- (D)
gleichssystem zu schaffen und so die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu verbessern, sondern wir haben terngeldes mit dem alleinigen Argument ab, es sei ver-
auch dazu beigetragen, dass Familien und Kinder bei uns fassungswidrig.
einen ganz hohen Stellenwert haben. Diesen werden wir (Ina Lenke [FDP]: Das machen wir nicht!)
weiter ausbauen.
Solche Argumente kommen eigentlich immer nur dann,
Ich danke Ihnen. wenn man selber kein Konzept hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD)
Das lässt vermuten, dass Sie kein schlüssiges familien-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
politisches Konzept vorlegen können. Sie geben den jun-
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPD- gen Männern und Frauen keine Antwort auf ihre Fragen.
Fraktion.
(Ina Lenke [FDP]: Das ist wirklich platt!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Christel Humme (SPD):
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- Kollegin Laurischk?
nen! Entgegen dem, was in der Medienlandschaft nach-
zulesen ist, hat sich Rot-Schwarz am heutigen Tag geei-
nigt. Christel Humme (SPD):
Bitte.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir verabschieden heute das Gesetz zur Einführung Sibylle Laurischk (FDP):
des Elterngeldes. Wir haben es geschafft – das sage ich Frau Kollegin Humme, wir haben ausgeführt, dass in
nicht ohne Stolz; darauf hat auch Frau Fischbach hinge- dem Gesetzentwurf eine Vielzahl von Ungereimtheiten
wiesen –, uns trotz verschiedener Familienbilder zu ver- besteht und dass Ungleichbehandlungen vorgesehen
ständigen. Ab dem 1. Januar 2007 profitieren 365 000 Fa- sind, die sicherlich auch verfassungsrechtlich relevant
milien von der Einführung des Elterngeldes, und zwar sind. Nehmen Sie zur Kenntnis und wie stehen Sie dazu,
stärker als von dem jetzigen Erziehungsgeld. Das ist ein dass die von mir angeführten Ungleichbehandlungen
wesentlicher Erfolg dieser Koalition. sicherlich auch zu einer Vielzahl sozialgerichtlicher
5374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Sibylle Laurischk
(A) Verfahren führen werden? Nach meiner Einschätzung dern. Auch darauf geben wir eine Antwort. Frauen mit (C)
wird eine Vielzahl von Betroffenen zur Klärung der Be- kleinem Einkommen wird das Einkommen bis zu
rechnungsgrundlage für das Elterngeld den Klageweg 100 Prozent ersetzt. Familien mit mehreren kleinen Kin-
beschreiten müssen. Das wird die Verschärfung der Lage dern erhalten einen gesonderten Bonus. Ich denke, das
an den Sozialgerichten und eine stärkere finanzielle Be- ist sozial gerecht.
lastung der Justizhaushalte zur Folge haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Christel Humme (SPD):
Wenn ich Ihren Entschließungsantrag richtig verstan- Ein weiteres Risiko ergibt sich aus der längeren Be-
den habe, begründen Sie Ihre Forderungen unter ande- rufspause. Die Frauen haben oft Schwierigkeiten, an-
rem – – schließend wieder eine Beschäftigung aufzunehmen. Sie
haben berufliche Nachteile und ihnen fehlt eine eigen-
(Ina Lenke [FDP]: Unter anderem!) ständige Absicherung im Alter.
– Ich kann nicht alles zitieren; dann bräuchte ich drei Darum ist es sozial gerecht, das Elterngeld grundsätz-
Stunden. lich nur für ein Jahr zu zahlen und anschließend die Auf-
Ich will nur Ihr Argument der verfassungsrechtlichen nahme der Beschäftigung zu erleichtern. Ich bin der
Bedenken aufgreifen. Sie meinen, dass eine steuerfinan- Meinung, dass teure – leider oft wirkungslose; das muss
zierte einkommensabhängige Leistung eine verfassungs- man kritisch feststellen – Wiedereinsteigerprogramme
rechtlich unzulässige Ungleichbehandlung ist. Wir nach einer langen Familienphase der Vergangenheit an-
haben aber mit der Arbeitslosenhilfe jahrelang steuerfi- gehören sollten. Auch das ist zu berücksichtigen, wenn
nanzierte und einkommensorientierte Leistungen ge- es um soziale Gerechtigkeit geht.
währt. Wir haben uns bewusst entschieden, auch den Arbeits-
(Nicolette Kressl [SPD]: Jahrzehntelang!) losengeldempfängern zwölf Monate lang 300 Euro El-
terngeld zu zahlen, obwohl wir dafür sehr kritisiert wur-
Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand dage- den. Den Linken ist das zu wenig – sie haben offenbar
gen verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht hat. viel Geld in der Haushaltskasse
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Nicolette Kressl [SPD]: Aber sich auf den
der CDU/CSU – Sibylle Laurischk [FDP]: Das Bundesrechnungshof beziehen! – Johannes
ist keine Antwort auf meine Frage!) Singhammer [CDU/CSU]: Sehr wunderlich!)
(B) – Doch, das war die Antwort auf Ihre Frage. – ja, das hat Herr Wunderlich gesagt; ich komme gleich (D)
auf den Bundesrechnungshof zu sprechen –, sie wollen
Oberstes Ziel des Elterngeldes – das wurde heute zwei Jahre Elterngeld für Arbeitslose. Die FDP schließt
schon mehrfach gesagt – ist die Geschlechtergerechtig- sich dem Bundesrechnungshof an. Sie hätten lesen sol-
keit. Im Laufe der Debatte ist aber auch immer wieder len, was der Bundesrechnungshof dazu festgestellt hat,
die Frage der sozialen Gerechtigkeit angesprochen wor- Herr Wunderlich. Er empfiehlt nämlich, Arbeitslosen
den. Ich meine, beides hängt eng miteinander zusam- kein Elterngeld zu zahlen. So ist das hier im Parlament
men. Es lohnt sich vielleicht, das Elterngeld auch unter ganz links und rechts.
diesem Aspekt zu betrachten.
(Ina Lenke [FDP]: Das möchte ich mir aber
Dabei stellt sich zunächst die Frage, an wen sich das verbitten! Jetzt reicht es aber!)
Elterngeld vor allem richtet. Ich glaube, es ist heute noch
nicht richtig deutlich geworden, wen wir damit erreichen – Ganz rechts wäre falsch. Es geht um die Sitzordnung.
wollen. Es geht um Männer und Frauen um die 30 – über Wir halten sowohl das eine als auch das andere für unge-
95 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe sind be- recht. Wir wollen die Schwächsten in unserer Gesell-
rufstätig –, die sich für eine Familie entscheiden wollen. schaft, die Arbeitslosen, mitnehmen und dafür sorgen,
Diesen Menschen möchten wir mit unserem Elterngeld dass auch sie vom Elterngeld profitieren. Deshalb haben
die Entscheidung für Familie und Beruf erleichtern. wir uns für diese Lösung entschieden. Sie ist sozial ge-
recht.
Wir wissen, dass die berufstätigen Frauen in dieser
Altersgruppe keine Reichtümer verdienen. Sie verdienen (Beifall bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Ha-
im Durchschnitt 1 200 Euro. Wir fördern also nicht die ben Sie keine anderen Argumente? So primitiv
Reichen und es geht uns auch nicht um eine Umschich- haben wir hier über Familienpolitik noch nie
tung. Im Gegenteil: Wir wissen schließlich, dass bei der diskutiert!)
Gründung einer Familie das größte Risiko von den
Frauen getragen wird. Wenn Frauen zu Hause bleiben Herr Kucharczyk hat Recht: Die Vereinbarkeit von
und ein Einkommen wegfällt, ist es deshalb richtig, Familie und Beruf darf zukünftig nicht allein Angele-
67 Prozent dieses Einkommens zu ersetzen, um den Le- genheit der Frauen sein. Wenn sich mehr Männer an der
bensstandard der Familien zu sichern. Familienarbeit beteiligen – ich hoffe, dass das Elterngeld
dazu führen wird –, dann ergeben sich auch Veränderun-
Ein besonderes Risiko tragen Geringverdiener gen in den Betrieben. Frauen werden mehr Chancen ha-
– auch das wurde bereits angesprochen –, darunter viele ben, wenn es um Bewerbung und Beförderung geht.
Alleinerziehende und Familien mit zwei und mehr Kin- Männer trauen sich eher, in die Elternzeit zu gehen, weil
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5375
Christel Humme
(A) auch sie einen Anspruch auf Elterngeld haben. Wir kom- Wir kommen zur Abstimmung über den von den (C)
men dann der tatsächlichen Gleichstellung sehr viel nä- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
her. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes
auf Drucksache 16/1889. Der Ausschuss für Familie, Se-
Wir ersetzen heute das Erziehungsgeld durch das El-
nioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner
terngeld und erreichen damit mehr Geschlechtergerech-
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2785, den Ge-
tigkeit und gleichzeitig – davon bin ich überzeugt – mehr
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
soziale Gerechtigkeit.
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-
Aber wir alle sind uns im Parlament einig – ich glaube, mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
das muss ich nicht mehr betonen –, dass neben der Ein- bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
führung eines Elterngelds unbedingt die Betreuungssi-
tuation verbessert werden muss. Dritte Beratung
Frau Ministerin, der von Ihnen angesprochene Siebte und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Familienbericht enthält viele Vorschläge, die deutlich Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
machen, was in Zukunft eine nachhaltige Familienpoli- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
tik ausmacht. Zwei Leitlinien stehen dabei im Vorder- wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der
grund: zum einen gleiche Chancen für die Geschlechter Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenom-
und zum anderen gute Entwicklungschancen aller Kin- men.
der. Das alles erfordert eine wirksame finanzielle Förde-
rung, mehr Zeit und eine bessere Infrastruktur. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Frau Lenke, Sie haben gesagt, wir hätten nichts mehr Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen.
gemacht. Aber Sie, die Sie genauso wie ich schon seit Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
1998 Mitglied dieses Parlaments sind, wissen ganz ge- der FDP auf Drucksache 16/2809? – Wer stimmt dage-
nau, dass wir den Perspektivwechsel, der im Siebten gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
Familienbericht gefordert wird, mit dem Ganztagsschul- den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des
programm von 2003 und dem Tagesbetreuungsausbau- Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Ge-
gesetz von 2005 längst eingeleitet haben. Diesen Prozess genstimmen der Fraktion der FDP abgelehnt.
setzen wir heute mit dem Elterngeld und in Zukunft Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
– wenn das Angebot an Betreuungsplätzen in den Kom- des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2810? –
(B) munen nicht ausgebaut wird – mit einem Rechts- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- (D)
anspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige ßungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/
fort; darauf haben wir uns in der Koalition festgelegt. CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) abgelehnt.
Wir müssen zudem mehr für Bildung und Betreuung Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-
tun. Dafür stellen wir – wie im Familienbericht gefor- fehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren,
dert – alle steuerlichen Maßnahmen auf den Prüfstand, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/2785 fort. Unter
damit wir mehr in Betreuung und Erziehung investieren Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
können. Ich bin gespannt, welche familienpolitischen schuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ein-
Konsequenzen wir gemeinsam aus dem Siebten Fami- führung des Elterngeldes auf Drucksache 16/2454 für
lienbericht ziehen. erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Schönen Dank. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b: Der Ausschuss empfiehlt
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir zur Ab- des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1168
stimmung kommen, möchte ich Frau Staatsministerin mit dem Titel „Flexible Konzepte für die Familie – Kin-
Müller – sie ist leider schon gegangen; aber gerade war derbetreuung und frühkindliche Bildung zukunftsfähig
sie noch da – für die Zukunft – sie geht für ein Jahr in machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
den Erziehungsurlaub – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der
(Zurufe: Elternzeit!)
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU
– Entschuldigung, Elternurlaub – bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
(Zurufe: Nein! Elternzeit!) Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
alles Gute wünschen.
Die Linke auf Drucksache 16/1877 mit dem Titel
(Beifall) „Elterngeld sozial gestalten“. Wer stimmt für diese
5376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – In Deutschland treiben insgesamt 27 Millionen Men- (C)
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Frak- schen in über 90 000 Vereinen aktiv Sport. 2,5 Millionen
tionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der Freizeitsportler engagieren sich in ihrer Freizeit ehren-
CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion amtlich, sei es als Betreuer, sei es als Trainer. 11 Prozent
Die Linke angenommen. aller ehrenamtlich Tätigen in Deutschland sind allein
im Sportbereich tätig. Somit gibt es keinen anderen Be-
Tagesordnungspunkt 29 c: Interfraktionell wird Über- reich, in dem sich so viele Bürgerinnen und Bürger eh-
weisung der Vorlage auf Drucksache 16/1360 an die in renamtlich engagieren wie im Bereich des Sports.
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Wer sich bewegt, bleibt fit, sowohl körperlich als
Dann ist die Überweisung so beschlossen. auch geistig. Schon die Römer sagten: Mens sana in cor-
pore sano. Ich glaube, diese Weisheit hat nach wie vor
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Gültigkeit. Deswegen ist es meines Erachtens eine ge-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus sellschaftspolitische Aufgabe, dazu beizutragen, dass
Riegert, Annette Widmann-Mauz, Peter Albach, man sich gesund und ausgewogen ernährt und eine
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der gesunde Lebensweise an den Tag legt.
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dagmar (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang
Freitag, Dr. Peter Danckert, Martin Gerster, wei- Thierse)
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wie verschiedene Studien in der jüngsten Zeit leider
Sport und Bewegung in Deutschland umfas- Gottes offenbart haben, gibt es durchaus auch Defizite,
send fördern – Bewusstsein für gesunde insbesondere im Schulbereich. Gerade die jüngste
Lebensweise stärken Sprint-Studie zum Sportunterricht, die die Länder in
Auftrag gegeben haben, offenbart, dass bedauerlicher-
– Drucksache 16/1648 – weise jedes sechste bis siebte Kind an den deutschen
Überweisungsvorschlag: Schulen übergewichtig ist und dass die Schülerinnen und
Sportausschuss (f) Schüler in Deutschland am Tag durchschnittlich sage
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz und schreibe dreieinhalb Stunden vor dem Fernseher
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bzw. vor dem Computer verbringen.
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Detlef Parr [FDP]: Das spricht nicht für die
Ausschuss für Bildung, Forschung und Eltern!)
(B) Technikfolgenabschätzung (D)
Ausschuss für Tourismus Die Schäden und die Auswirkungen sind allgegen-
wärtig, seien es Haltungsschäden, Rückenleiden oder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Essstörungen – jedes fünfte Kind in Deutschland leidet
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich unter Essstörungen –, seien es mangelnde Konzentra-
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. tionsfähigkeit, abnehmende Lernbereitschaft, Herz- und
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Kreislauferkrankungen oder die schon eben erwähnte
Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion. Fettleibigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es muss uns alle erschrecken, dass 43 Prozent aller
4- bis 17-Jährigen bei einer einfachen Rumpfbeuge nicht
bis zur Fußsohle kommen. Ich kann Sie nur dazu animie-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): ren, dies einmal zu versuchen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!
Werte Kollegen! Das Jahr 2006 hat meines Erachtens (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt sofort?)
beispiellos gezeigt: Sport tut Deutschland gut und den Ich hoffe, dass die Prozentzahl in diesem Haus niedri-
Deutschen tut Sport gut. Ob bei der Fußballweltmeister- ger ist. 86 Prozent aller Kinder zwischen vier und 17
schaft im Juni/Juli, ob bei den Weltreiterspielen in Aa- können nicht einmal eine Minute lang auf einem Bein
chen oder während der Hockeyweltmeisterschaft in stehen und 35 Prozent aller untersuchten Jugendlichen
Mönchengladbach, überall waren die Faszination und konnten nicht einmal mindestens zwei Schritte rück-
die Euphorie in Deutschland gigantisch. wärts balancieren.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Detlef Parr [FDP]: Da hat die große Koalition
bessere Erfahrungen gemacht!)
Das bisherige Jahr hat gezeigt: Sport trägt enorm zur
Verstärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls bei. Dies sind meiner Meinung nach Auswirkungen, die
Sport hat eine enorme gesellschaftspolitische Bedeu- besorgniserregend sind. Sie sind ein ganz klares Signal
tung. Sport ist in Deutschland die größte Volksbewe- dahin gehend, dass alle gesellschaftlichen Ebenen, nicht
gung, die es gibt. Das Sprichwort, dass Sport die nur die Bundesebene und auch nicht nur alle politischen
schönste Nebensache der Welt sei, hat sich in diesem Ebenen, aufgefordert sind, hier entsprechend gegenzu-
Jahr in herausragender Weise bewahrheitet. steuern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5377
Stephan Mayer (Altötting)
(A) Ich halte es für besorgniserregend, dass die Anzahl Es ist allenthalben bekannt: Die Zivilisationskrankhei- (C)
der Sportstunden immer mehr zurückgeht. Ich führe ten, die Gesellschaftskrankheiten, etwa Herzinfarkt,
viele Gespräche mit mittelständischen Unternehmen. Schlaganfall, stressbedingte oder chronische Krankhei-
Dadurch habe ich viele Appelle vernommen, die Lehr- ten, nehmen zu. Die Krankenkassen schlagen überall
pläne zu straffen, um für vermeintlich wichtigere Unter- Alarm. Es wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren durch
richtsfächer mehr Schulstunden zur Verfügung zu stel- die zunehmende Fettleibigkeit und die verstärkte Bewe-
len. Ich bitte aber, bei dieser Gelegenheit nicht außer gungsarmut eine Kostenexplosion erwartet. Deshalb ist
Acht zu lassen, dass viele Jugendliche außerhalb der es meines Erachtens wichtig, dass die Bonusprogramme,
Schule keine Gelegenheit wahrnehmen, Sport zu treiben. die viele gesetzliche Krankenkassen schon anbieten,
Deswegen ist es meines Erachtens wichtig, dass Sport- auch im Zuge der Gesundheitsreform überleben und
unterricht zumindest zwei oder drei Stunden in der Wo- weiterhin angeboten werden können.
che angeboten wird. Dieses Fach ist – das bitte ich mit
zu bedenken – für Schüler mit schwächeren Schulleis- Prophylaxe und Prävention sind allemal wesentlich
tungen durchaus eine Möglichkeit, sich zu profilieren günstiger als spätere Behandlung oder Rehabilitation. Es
und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. gibt auch hierzu ganz positive Aspekte im Bereich der
Sportvereine. Über 7 000 Sportvereine in Deutschland
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bieten insgesamt über 14 000 gesundheitsbezogene und
neten der SPD und der FDP) gesundheitsfördernde Maßnahmen für 5 bis 6 Millionen
Bürgerinnen und Bürger an. Ich bitte darum, auch darauf
Das kann positive Auswirkungen auf die Leistungen und zu achten, dass diese wichtigen Programme, die die
auf die Erfolge in anderen Schulfächern haben. Wir müs- Sportvereine in Deutschland auf ehrenamtlicher Basis
sen in Zukunft mit Sicherheit schon früher anfangen, und finanziell günstig anbieten,
Kinder und Jugendliche an den Sport heranzuführen.
Man darf den gesamten Bereich der Kindergärten hier (Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig!)
nicht ausklammern.
zukünftigen gesetzgeberischen Maßnahmen, etwa einem
Ein ganz wichtiger Punkt ist mit Sicherheit, dass die möglichen Präventionsgesetz, nicht zum Opfer fallen.
Infrastruktur im Sportbereich deutschlandweit verbes-
sert wird. Früher gab es in der Nähe eines jeden einen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Spielplatz. Dies ist heute leider Gottes nicht mehr so. Es neten der SPD – Detlef Parr [FDP]: Also Ver-
ist ganz entscheidend, dass alle politischen Ebenen et- zicht auf das Gesetz?)
was dafür tun, dass wir in Deutschland eine ausgewo- Abschließend möchte ich sagen: Es sollte unser aller
gene und angemessene Sportstättenlandschaft haben. Petitum sein, ob auf der Bundes-, auf der Landes- oder (D)
(B)
Bei dieser Gelegenheit bitte ich, immer zu bedenken, auf der kommunalen Ebene: Wir sollten nicht am Sport
dass wir – natürlich auch aufgrund der veränderten Fami- sparen, sondern mit dem Sport sparen. Ich möchte dies
lienverhältnisse und der veränderten Schullandschaft – gerade nicht mit dem Appell verbinden, dabei immer
verstärkt das Bedürfnis haben, nach 20 Uhr Sport zu trei- neue Gesetze zu schaffen.
ben. Wir sollten uns an dieser Stelle vielleicht einmal (Detlef Parr [FDP]: Sehr gut!)
Gedanken machen, ob es sinnvoll ist, die Bundes-Immis-
sionsschutzverordnung so zu ändern, dass strengere
Immissionsschutzwerte nicht schon ab 20 Uhr, sondern Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
erst ab 22 Uhr gelten. Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen; sonst
wird es zu anstrengend.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Ein sehr wichtiger Punkt ist in diesem Zusammen- Ich komme gerne zum Ende und zitiere nur noch ein
hang, dass Sportvereine und Schulen in Zukunft stärker oberstes Verfassungsorgan, nämlich den Präsidenten des
zusammenarbeiten. Es gibt in Bayern ganz positive Er- Bundesverfassungsgerichts. Er hat vor kurzem gesagt:
fahrungen mit dem Programm „Sport nach 1“. Dieses
Programm sieht vor, dass die Sportvereine nach Schul- Der Gesetzgeber muss sich wieder mehr auf die
schluss in die Schulen kommen und Sportmöglichkeiten Grundlagen der freiheitlichen Verfassungsordnung
anbieten; die Teilnahme geschieht natürlich auf freiwilli- besinnen. Er sollte Freiheit, Selbstbestimmung und
ger Basis. Im Angebot sind unter anderem Sportarten, Eigenverantwortung der Bürger stärken, anstatt sich
die in der Schule in der Regel nicht betrieben werden. um alle gesellschaftlichen Felder bis zur letzten Fa-
Ich glaube, dieser Ansatz sollte in Zukunft noch stärker cette selbst kümmern zu wollen.
verfolgt werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!)
Ein Bereich, der bei der Förderung der Bewegung und Herzlichen Dank.
des Sports in Deutschland keinesfalls außer Acht gelas-
sen werden darf, ist der Gesundheitssektor. Es ist er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schreckend, dass die jüngste Studie des Robert-Koch-In- neten der SPD und der FDP – Zuruf von der
stituts ergeben hat, dass insgesamt 50 Prozent aller SPD: Was war denn das für ein komischer
Frauen und 67 Prozent aller Männer übergewichtig sind. Schluss?)
5378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sen die Länder, die in diesem Bereich Nachholbedarf ha- (C)
Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak- ben, dazu bewegen, den Unterrichtsausfall im Fach
tion. Sport einzudämmen und wenigstens die Mindeststun-
denzahl zu sichern. Das wäre eigentlich schon wenig
(Beifall bei der FDP) genug. Wir brauchen mehr qualifizierte Lehrer. Sport,
Bewegung und Ernährung müssen bei der pädagogi-
Detlef Parr (FDP): schen Ausbildung zu Schwerpunkten werden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stephan
Mayer hat zu Recht Hans-Jürgen Papier zitiert. Wir sind (Beifall bei der FDP)
hier sehr nahe beieinander. Ich kann das nur unterstrei- Ausreichende und angemessene Sportstätten bereit-
chen. – Zum Präventionsgesetz werde ich nachher noch zustellen, gehört auch zu unseren Forderungen, die wir
etwas sagen. im Januar bereits formuliert haben. Ich denke, wir müss-
Am 18. Januar hat die FDP-Fraktion den Antrag ten einmal darüber nachdenken, den Goldenen Plan Ost
„Sprint-Studie des Deutschen Sportbundes darf nicht auf einen Goldenen Plan Gesamtdeutschland auszuwei-
folgenlos bleiben – Jetzt bundesweite Wende im Schul- ten. Wir haben in ganz Deutschland große Probleme mit
sport einleiten“ vorgelegt, der am 16. Februar in diesem der Erhaltung und dem Ausbau von Sportstätten. Ich be-
Haus debattiert wurde. grüße sehr, dass sich die Koalitionsfraktionen in diesem
Zusammenhang unserer Forderung nach einer Verbesse-
(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Da haben wir rung des Schwimmunterrichts angeschlossen haben.
schnell gearbeitet, gell?) Die Zahl der Nichtschwimmer unter den Kindern und
Jugendlichen ist dramatisch hoch.
Sieben Monate später machen CDU/CSU und SPD
ihre damalige Ankündigung wahr, einen Koalitionsan- Wichtig sind auch Kampagnen wie „Sport tut
trag einzubringen, der – ich darf hierzu meinen geschätz- Deutschland gut“, an der sich die Bundesregierung be-
ten Kollegen Klaus Riegert aus jener Debatte zitieren – teiligt. Da wäre es spannend, zu wissen, was eigentlich
„die gesellschaftspolitischen und die sportpolitischen aus dem unter Federführung des Bundesverbrauchermi-
Aspekte des Sports einschließlich des Schulsports und nisteriums 2005 initiierten Wettbewerb zur Förderung
anderer Elemente umfasst“. Das ist eine ganz schön gesunder Kinder in der Familie geworden ist, der immer-
lange Zeit, um sich über die umfassende Förderung von hin mit 15 Millionen Euro dotiert ist und über vier Jahre
Sport und Bewegung in Deutschland zu einigen. laufen sollte. Darum sollte sich der Gesundheitsaus-
schuss, Frau Dr. Bunge, auch einmal etwas mehr küm-
(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Aber gründlich
mern.
(B) gearbeitet haben wir!) (D)
(Zuruf von der FDP: Wohl wahr!)
Das ist ein weiteres Beispiel für langwierige Abstim-
mungsprobleme einer großen Koalition auf einem ei- Intensiver beschäftigen müssen wir uns mit der Ab-
gentlich streitfreien Feld. Wenn Sie schon dafür sieben sicht der Bundesregierung, den Entwurf eines Präven-
Monate brauchen, wie soll es dann eigentlich bei der Ge- tionsgesetzes, obwohl er in der letzten Wahlperiode
sundheitsreform weitergehen? schon an der parlamentarischen Hürde gescheitert ist, er-
neut vorzulegen. Das Zitat von Hans-Jürgen Papier hat
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der
Stephan Mayer mir schon vorweggenommen, sonst hätte
LINKEN: Richtig!)
ich es hier eingebracht. Ich will jetzt nur noch auf die
Wir freuen darüber, dass wir die Debatte jetzt endlich Antwort einer Kleinen Anfrage vom März 2006 einge-
weiterführen können. Wenn man beide Anträge neben- hen, in der es bezüglich eines Präventionsgesetzes heißt:
einander legt, findet man schon viele Gemeinsamkeiten.
Die Bundesregierung hält das Gesetz für notwen-
Ich möchte bereits hier unsere Bereitschaft signalisieren,
dig, um die Kooperation und Koordination der Prä-
Kollege Riegert, bei den Ausschussberatungen zu einem
vention sowie die Qualität der Maßnahmen der So-
gemeinsamen Antrag zu kommen. Wir werden sehen.
zialversicherungsträger und -zweige übergreifend
Einig sind wir uns darüber, dass auch vor dem Hinter- zu verbessern und die Aktionen an Präventionszie-
grund einer Neuorientierung unseres Gesundheitssys- len auszurichten, denen sich diese und weitere Prä-
tems ein möglichst früher Einfluss auf Lebensstil und ventionsträger verpflichtet fühlen.
Lebensgewohnheiten unserer Kinder und Jugendli-
Man könnte auch sagen: verpflichtet fühlen müssen. –
chen durch Elternhaus und Schule dringend geboten ist.
Dem muss ich energisch widersprechen. Im Hinblick auf
Einig sind wir uns auch darüber, dass viele Sportver- die knappen finanziellen Ressourcen kommt es vielmehr
eine hervorragende, die Gesundheit fördernde Pro- darauf an, keine neuen bürokratischen Strukturen zu
gramme anbieten, die Bestandteil von Bonusregelungen schaffen, sondern die vorhandenen koordiniert zu nut-
für die Versicherten sein und von den Krankenkassen zen. Dabei spielt eine Optimierung der Zusammenarbeit
auch anderweitig vertraglich unterstützt werden sollten. staatlicher Organisationen mit der Selbsthilfe, die einen
speziellen Zugang zu den Betroffenen hat, eine große
Konsens besteht mittlerweile auch darüber – vor sie- Rolle.
ben Monaten sah das noch ein bisschen anders aus –, die
Schulsportstudie „Sprint“ mit ihren Ergebnissen ernst zu Wir gehen von einem freiheitlichen Menschenbild
nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir müs- aus, das den eigenverantwortlichen Bürger in den Mit-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5379
Detlef Parr
(A) telpunkt stellt. Das bedeutet vor allem, dass niemand we- (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das war Lob!) (C)
gen seiner Lebensweise ausgegrenzt, benachteiligt oder
diskriminiert werden darf. Stattdessen setzen wir auf und bin, ehrlich gesagt, geschätzter Detlef Parr, ein we-
Anreize zu gesundheitsbewusstem Verhalten. Es darf nig enttäuscht über diesen Wortbeitrag.
keine fürsorgliche staatliche Bevormundung geben, die Erinnern wir uns noch einmal: Die FDP hatte sich in
allen Bürgern einen bestimmten Lebensstil aufzwingt. der Tat am 16. Februar dieses Jahres im Nachgang zur
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer bevor- Sprint-Studie hier sozusagen zum Retter des Schulsports
mundet denn?) in Deutschland aufschwingen wollen.

Die Angebote zur Prävention sollen auf die Bedürfnisse Wir konnten diesen Antrag damals nicht gutheißen,
der Zielgruppen zugeschnitten und geeignet sein, ge- weil wir gesagt haben, dieses wichtige Thema allein auf
sundheitsgerechtes Verhalten zu begünstigen. Sie müs- den Schulsport zu beziehen, ist aus unserer Sicht ein
sen dem Bürger ermöglichen, auf guter Information ba- Fehler. Wir haben weiter gesagt, wir können diesen An-
sierende Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet für die trag auch inhaltlich nicht gutheißen, weil die Forderung,
Präventionsstrategie, dass nicht in erster Linie Verbote mehr leistungsorientierten Sportunterricht in Deutsch-
und Reglementierungen im Vordergrund stehen, sondern land zu forcieren, unserer Ansicht nach der falsche Weg
Anreize und Informationen. ist. Das sagen im Übrigen auch zahlreiche Untersuchun-
gen.
(Beifall bei der FDP)
(Detlef Parr [FDP]: Das haben wir sieben Mo-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in seiner Berliner nate debattiert! Das haben wir jetzt registriert,
Rede „Bildung für alle“ es reicht!)
(Martin Gerster [SPD]: Die war bemerkens- – Lieber Detlef Parr, Sport und Bewegung sind der gro-
wert schwach!) ßen Koalition so wichtig, dass wir heute hier im Plenum
hat Bundespräsident Horst Köhler den Sport an verschie- über unseren eigenen Antrag debattieren.
denen Stellen erwähnt. Er hat dabei deutlich gemacht (Detlef Parr [FDP]: Sieben Monate!)
– ich zitiere –:
Denn wir glauben, dass das Thema Sport und Bewe-
Bei der Konkurrenz um die knappe Schul- und
gung nicht nur eine Frage im Zusammenhang mit dem
Lernzeit dürfen Fächer wie Musik, Kunst und Sport
Schulsport ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche He-
nicht ins Hintertreffen geraten. Denn Musik, Kunst
rausforderung darstellt, der wir uns stellen müssen.
und Sport bringen Vernunft und Gefühl zusammen,
(B) und das ist wichtig für die Persönlichkeit und gut (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D)
für Intuition und Kreativität.
Ich habe den Eindruck, dass wir gerade erst am
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dienstag dieser Woche in unserer Annahme bestätigt
der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] worden sind, denn da wurde die Studie KIGGS veröf-
[SPD]: Da hat er einmal Recht gehabt!) fentlicht. Vielleicht haben Sie von der Opposition das
Ich füge hinzu: Sport und Bewegung müssen wie selbst- auch wahrgenommen. Dabei wurde deutlich, dass das
verständlich wieder zu den Grundfertigkeiten wie Lesen, Problem in Deutschland nicht ist, dass der Sportunter-
Rechnen und Schreiben gehören. Dann sind wir auf dem richt zu wenig leistungsorientiert gestaltet wird, sondern
richtigen Weg. vielmehr ist, dass Kinder aus sozial schwachen Familien
und aus Migrantenfamilien kaum bewegungsaktiv sind.
Herzlichen Dank. Die Chance der regelmäßigen sportlichen Betätigung ist
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in diesen Gruppen zwei bis dreimal geringer, vor allem
der CDU/CSU und der SPD) bei Mädchen. Das ist doch an dieser Stelle das Problem
in Deutschland.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Forscher der Studie KIGGS empfehlen uns, die
Ich erteile das Wort Kollegen Martin Gerster, SPD- geschlechtsspezifischen, schichtspezifischen und mi-
Fraktion. grationsspezifischen Unterschiede im Bewegungsver-
halten von Herauswachsenden als notwendige Ansatz-
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- punkte für gezielte Interventionen von Politik und
NEN]: Wo ist eigentlich eure sportpolitische Gesellschaft zu nutzen. Insofern widerspreche ich auch
Sprecherin? – Gegenruf des Abg. Reinhold dem, was Sie vorhin für die FDP-Fraktion in punkto Prä-
Hemker [SPD]: Die bewegt sich zurzeit!) ventionsgesetz gesagt haben.

Martin Gerster (SPD):


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Noch vor einer Viertelstunde war ich guten Mutes und Kollege Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
voller Hoffnung, dass wir heute den ereignisreichen Tag Kollegen Parr?
erleben, an dem die FDP auch einmal einen Antrag der
Koalitionsfraktionen lobt. Ich habe allerdings in den ers- Martin Gerster (SPD):
ten Minuten relativ viel Kritik gehört Ja, gern.
5380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

(A) Detlef Parr (FDP): an die Weltreiterspiele – waren wir vorne mit dabei. Das (C)
Herr Kollege Gerster, wenn Sie den Antrag der FDP- ist ein gutes Zeichen.
Fraktion lesen und die Leistungsorientierung heraus-
Ich möchte trotzdem eine kritische Bemerkung ma-
stellen, haben Sie dann verstanden, dass wir mit Leis-
chen. Ich habe die Befürchtung, dass wir uns jetzt insbe-
tungsorientierung die individuelle Leistungsorientie-
sondere aufgrund des von der Fußballweltmeisterschaft
rung meinen, also dass der Einzelne im Rahmen seiner
ausgelösten Schubs zu stark auf Fußball fixieren. Das
Möglichkeiten im Schulsport leistungsmäßig gefördert
gilt möglicherweise auch für die olympischen Sportar-
werden soll und damit individuell mehr Freude am
ten. Bewegung und Sport sind aber viel mehr als Fuß-
Sport, mehr Freude an der Leistung haben soll, und dass
ball, Hockey und die olympischen Sportarten. Es gibt
nicht die Spitzenleistung gemeint ist?
nämlich noch ganz andere Möglichkeiten, sich zu bewe-
gen. Diese sollten nicht außer Acht gelassen werden.
Martin Gerster (SPD): Wir Parlamentarier sollten daher darauf achten, dass wir
Lieber Kollege Detlef Parr, ich habe den Antrag gele- uns nicht zu stark auf bestimmte Sportarten oder auf
sen. Man kann die Formulierung so verstehen, wie Sie Teilbereiche wie beispielsweise den Schulsport fokussie-
das jetzt hier vorgetragen haben. Man kann sie auch an- ren.
ders verstehen. Ich habe deutlich gemacht, dass aus mei-
ner Sicht das Problem beim Thema Sport und Bewegung Herzlichen Dank.
in Deutschland nicht etwa die mangelnde Leistungsori- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
entierung ist, sondern dass bestimmte Gruppen in der CDU/CSU)
Deutschland viel zu wenig bewegungsaktiv sind. Insbe-
sondere fehlen die Möglichkeiten, sich entsprechend zu
bewegen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Martina Bange
Ich möchte das auch gern im Hinblick auf unseren
Antrag deutlich machen. Ich kann in dieser kurzen Rede- (Zurufe: Bunge!)
zeit nicht auf jedes Detail eingehen. Aber ich fand es – Entschuldigung, Martina Bunge – von der Fraktion
schon sehr interessant, dass in dem FDP-Antrag zum Die Linke.
Beispiel leider nicht auf das Programm „Soziale Stadt“
der Bundesregierung Bezug genommen wird, das ich in (Beifall bei der LINKEN)
diesem Zusammenhang als ein gutes Programm ansehe.
Mit ihm sollen Stadtteile, die zu Problemquartieren, zu Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
so genannten Bewegungswüsten geworden sind, umge- Bange machen gilt nicht!
(B) staltet und gestärkt werden. Ich glaube, das ist ein richti- (D)
ger Ansatz, den wir auf jeden Fall weiter verfolgen soll- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ten. Vielleicht können wir uns darüber im Ausschuss Den Grundtenor Ihres Antrages, verehrte Kolleginnen
auch noch einmal verständigen. und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, kann ich,
kann meine Fraktion begrüßen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU) (Reinhold Hemker [SPD]: Schön!)
Ich möchte an der Stelle noch einmal betonen, wie Ja: Sport und Bewegung gehören zu einer gesunden Le-
wichtig es für die Einzelne oder den Einzelnen ist, schon bensweise und sie müssen gefördert werden. Als Vorsit-
im jugendlichen Alter tätig zu werden und sich genü- zende des Ausschusses für Gesundheit sage ich: Mehr
gend zu bewegen. Geschieht das nicht, können die Spät- Sport und Bewegung ist die beste Gesundheitsreform.
folgen in der Tat für den Einzelnen oder die Einzelne (Beifall bei der LINKEN)
verheerend sein. Ich glaube, auch gesamtgesellschaftlich
müssen wir unbedingt daran arbeiten, dass junge Heran- Was mich aber umtreibt, ist, dass zwischen vielen und
wachsende im Hinblick auf Motorik frühzeitig Sport schönen richtigen Worten, wie im vorliegenden Antrag,
treiben. Wir wissen aus den Studien von Professor und Ihrem Handeln in Regierung und im Parlament – ich
Spitzer, dass dies auch elementare Auswirkungen auf die meine nicht speziell die Anwesenden, sondern die Koali-
Entwicklung von Intelligenz und von sozialen Fähigkei- tionsfraktionen insgesamt – eine riesige Lücke klafft.
ten und Kompetenzen hat.
(Zuruf von der SPD: Jetzt sind wir gespannt!)
Deshalb sage ich: Gut, dass der Sport auch Thema
Die Fakten: Sie fordern die Bundesregierung auf, auf
beim Integrationsgipfel der Bundesregierung ist.
die Länder einzuwirken, um die in der Schulsportstudie
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sehr richtig!) „Sprint“ aufgeführten Defizite im Schulsport zu behe-
ben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Das ist ein ganz wichtiges Thema in diesem Zusammen- warum stimmen Sie dann bei der Föderalismusreform
hang. Gut, dass wir in Deutschland auch in vielen Sport- dafür, die Zuständigkeit für die Bildung und damit auch
arten wieder ganz vorn mit dabei sind. Ich habe bei- für den Sport einzig auf die Länder zu verlagern?
spielsweise bei der Fußballweltmeisterschaft gemerkt,
dass sie bei ganz vielen jungen Leuten wieder Enthu- (Beifall bei der LINKEN – Klaus Riegert
siasmus ausgelöst hat, Sport zu treiben. Aber auch in an- [CDU/CSU]: Weil die das am besten können!
deren Sportarten wie Hockey und Reiten – ich erinnere Sie sind nahe dran! – Dr. Uwe Küster [SPD]:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5381
Dr. Martina Bunge
(A) Die Verfassungsgerichtsurteile waren ein- Initiativen punktuell und temporär abstrampeln, bevor die (C)
schlägig! Lesen bildet!) gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen wird,
hier flächendeckende und dauerhafte Lösungen zu schaf-
Ich denke, der Zug ist abgefahren. Da müssen Sie schon
fen? Kommen Sie endlich mit dem Präventionsgesetz aus
selber alle sozusagen in die Spur gehen und Ihren Lan-
den Hinterstuben heraus!
desregierungen auf die Füße treten.
(Detlef Parr [FDP]: Nein!)
Dennoch wäre es sinnvoll, sich auf Ausstattungsstan-
dards für die sportliche Infrastruktur zu verständigen Der Gesundheitsausschuss nimmt sich dieser Aufgabe
– das gilt auch für die Standards für Menschen mit Be- gerne an. Herr Parr, wir werden die dann zur Diskussion
hinderungen –, den Investitionsbedarf zu ermitteln und stehenden Modellprojekte gerne auswerten.
ein kommunales Investitionsprogramm zu starten, wie
es meine Fraktion seit langem vorschlägt. Noch eines: Gesundheitsförderung ist für jedes Al-
ter wichtig. Ich will jetzt nicht meine Beweglichkeit de-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ monstrieren,
CSU: Und wer soll das finanzieren?)
(Detlef Parr [FDP]: Das wäre spannend!)
Sie fordern die Bundesregierung auf, im anstehenden
Präventionsgesetz der Bedeutung von Sport und Bewe- die ich durch Prävention wiedererlangt habe. Aber nicht
gung angemessen Rechnung zu tragen. Sie zitieren eine erst die Studie des RKI hat gezeigt: Gesundheitsförde-
kanadische Studie, wonach jedem Dollar, der in die För- rung ist besonders für Kinder und Jugendliche wichtig.
derung körperlicher Bewegung investiert wird, eine Er- Kinder können am wenigsten dafür, in welche Le-
sparnis zwischen 2 und 5 Dollar im Arbeits- bzw. Ge- bensumstände sie hineingeboren werden. Sie brauchen
sundheitsbereich folgt. Ich frage: Wäre es da nicht gleiche Chancen. Deshalb müssen Kinder in den Mittel-
sinnvoll, die Prävention vor der Gesundheitsreform aus- punkt der Gesundheitsförderung gestellt und ihr Be-
zugestalten oder zumindest mit ihr? Das Präventionsge- wusstsein für eine gesunde Lebensweise gestärkt wer-
setz soll aber nach Aussage der Ministerin erst nach der den, aber dies bitte nicht nur mit Worten, sondern auch
Gesundheitsreform und nach der Novellierung des Pfle- mit Taten.
gegesetzes kommen. Ich danke.
(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Da kann man (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
auch ohne Gesetz schon viel tun!) neten der SPD)
Das wird angesichts des Dilemmas, mit dem wir bei der
Gesundheitsreform konfrontiert sind – für die Pflege Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) (D)
schwant mir Ähnliches –, erst im Herbst nächsten Jahres Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Hermann,
der Fall sein. Warum muss noch mehr Zeit verstreichen, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
um die unübersehbaren Synergien zu erschließen?
Sie schreiben sehr richtig, dass die Bewegungserzie- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hung umso nachhaltiger ist, je komplexer sie erfolgt, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
also von Kindesbeinen an: in der Familie, im Kindergar- Herren! Vor einem Jahr hat sich die große Koalition
ten, in der Schule, im Sportverein und in einem bewe- sportpolitisch zusammengerauft, im Koalitionsvertrag
gungsfreundlichen Umfeld. Das Präventionsgesetz aus den ersten verbalen Flachpass produziert und jetzt ein
der vorigen Legislaturperiode sah für diesen Fakt die Jahr lang geübt und trainiert, um einen großen verbalen
Prävention in „Lebenswelten“ vor. Schaut man aber in Wurf zum Sport vorzustellen. In der Tat, es ist ein verba-
die noch nicht autorisierten Gesetzentwürfe zur Gesund- ler Wurf. Umfassend werden die Probleme und Heraus-
heitsreform, dann erkennt man, dass im ersten Entwurf forderungen beschrieben; die Benachteiligten und Be-
über § 20 a noch die Überschrift „Prävention und Ge- hinderten haben Sie übrigens vergessen. Umfassend
sundheitsförderung in Lebenswelten“ stand. In den fol- wird die Notwendigkeit beschrieben, dass umfassend ge-
genden Entwürfen steht davon nichts mehr. Da kann ei- handelt werden soll. Leider muss man sagen: Das, was
nem angst und bange werden; um beim Wort des Sie in dem vorliegenden Antrag produziert haben, ist
Präsidenten zu bleiben. umfassend allgemein. Auch Ihre Reden waren so allge-
mein.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Sie vermeiden es, eigene, klare bundespolitische
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Winfried Konzepte vorzulegen, die Sie hier durchsetzen und ver-
Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der antworten können.
Witz war gut!) (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Die Sie sieben
Meines Erachtens ist Folgendes unerträglich: Jahre- Jahre lang vorgelegt haben!)
lang haben sich viele Expertinnen und Experten in unzäh-
Sie reden über das, was andere Ebenen tun sollen. Inso-
ligen Runden über Gesundheitsziele verständigt. Einige
fern haben Sie sozusagen folgenden Beitrag geliefert:
Länder haben solche Ziele für Kinder und Jugendliche
Wort statt Sport!
formuliert. Neben Stressabbau und gesunder Ernährung
wurde eindeutig die intensivere Bewegung genannt. Wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
lange noch sollen sich Engagierte in Modellprojekten und Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!)
5382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Winfried Hermann
(A) Sie haben viel gesprochen und nichts dazu gesagt, was (Detlef Parr [FDP]: Aber der Gesundheitszu- (C)
Sie tun wollen. stand der Kinder ist doch nicht toll!)
Was könnte der Bund tun? Der Bund kann einiges Es ist allerdings klar geworden, dass das von der so-
tun, auch wenn er verfassungsmäßig gar nicht für die zialen Schicht der Familie abhängt. Kinder aus Migran-
Schule, den Schulsport usw. zuständig ist. Trotzdem tenfamilien oder aus sozial benachteiligten Schichten
kann er etwas tun. schneiden besonders schlecht ab,

Beispiel eins: Sportstättenbau und Sportstättensa- (Detlef Parr [FDP]: Nicht nur aus Migranten-
nierung. Sie haben wortreich beschrieben, wie schwie- familien!)
rig die Situation ist. Aber den Goldenen Plan Ost haben im Hinblick sowohl auf die Übergewichtigkeit als auch
Sie schon jetzt beschnitten. So kann man zwar vorgehen; auf die Beweglichkeit. Dabei gibt es schon seit einigen
aber Sie haben überhaupt keine Alternativen vorgelegt. Jahren ein Programm namens „Integration durch Sport“.
Zum Beispiel hätte man sagen können: Es gibt ein er- Dies ist aber mit viel zu geringen Mitteln ausgestattet
folgreiches Altbausanierungsprogramm, mit dem von und hat deshalb das Integrationsangebot nicht wirklich
der KfW und über den Bundeshaushalt der Klimaschutz bereichern können. Wir wollen die Mittel dafür aufsto-
gefördert wird. Man hätte sagen können: Wir legen ein cken, weil wir da einen Schwerpunkt sehen. Wir wollen
Sportstättensanierungsprogramm auf, weil Sportstätten die Benachteiligung beim Sport durch verschiedene Mo-
auch ökologisch saniert werden müssen delle aufgreifen und wollen das flächendeckend im Land
umsetzen, um Anstöße für die Kommunen und Länder
(Zuruf von der CDU/CSU: Warum haben Sie
zu geben, damit sie in diesem Bereich etwas tun.
das sieben Jahre nicht gemacht?)
Die KIGGS-Studie mahnt ganz eindeutig an: Hier ist
und es auch dort etwas zu fördern gibt. Sie könnten um- politische Intervention angesagt. Sie haben das ja sogar
weltfreundlich umgestaltet werden. Das wäre ein An- zitiert. Aber wo ist Ihre konkrete politische Intervention?
stoß, die Sportstättensituation auf diese Weise zu verbes- Es passiert nichts. Der Antrag ist ein allgemeiner verba-
sern. ler Rundumschlag über das Gute und das Schöne im
(Beifall bei der LINKEN – Detlef Parr [FDP]: Sport und darüber, wie notwendig und wichtig der Sport
Unseren Antrag haben die Grünen aber abge- ist. In allen Punkten, wo man hätte konkret werden kön-
lehnt!) nen, sind Sie nicht konkret geworden.
Wer wirklich etwas dazu beitragen will, dass Bewe-
Man hätte das Förderprogramm „Spiel- und bewe-
gung und Sport in Deutschland gefördert werden, der
gungsfreundliche Stadt“ auflegen können. Ich will nicht
(B) sagen, dass man Milliarden hätte ausschütten können. sollte Sportpolitik nicht als besorgtes Plaudern über die (D)
Misere im Sport und die allgemeine Unbeweglichkeit
Aber man hätte zumindest Anstöße geben und die Kom-
der Jugend missverstehen, der sollte auch nicht viel da-
munen davon überzeugen können. Man hätte auch sagen
rüber reden, was alle anderen tun sollten, der sollte viel-
können: Wir sehen die Notwendigkeit, das Bundesbau-
mehr endlich einmal auf den Tisch legen, was er selber
gesetzbuch zu ändern und hineinzuschreiben, dass
tun kann und will.
wohnortnahe Spiel- und Sportgelegenheiten zu schaffen
sind bzw. dass die bestehende Situation zu verbessern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
ist. Detlef Parr [FDP]: Diese Dampfplauderei ma-
chen die Grünen auch schon seit sieben Jah-
(Zurufe von der SPD: Warum haben Sie kei- ren! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]:
nen Antrag gestellt? – Wo ist denn Ihr An- Das war ein Eigentor! – Weiterer Zuruf von
trag?) der CDU/CSU: Wir sind gespannt auf den An-
Nichts ist getan worden. trag der Grünen!)

Beispiel zwei. Sie sprechen davon, dass Bewegung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
im Alltag besonders wichtig ist. Wir haben vor einigen Ich erteile das Wort Kollegen Hermann-Josef Scharf,
Jahren den Masterplan Fahrrad aufgelegt und noch zu CDU/CSU-Fraktion.
rot-grünen Zeiten umgesetzt. Seitdem herrscht Stagna-
tion. Hier könnte man sagen: Bewegung ist im Alltag (Beifall bei der CDU/CSU)
wichtig; also fördern wir das sichere Radfahren von Kin-
dern und Jugendlichen zur Schule oder von Erwachse- Hermann-Josef Scharf (CDU/CSU):
nen zu ihren Arbeitsplätzen. Daran hätten Sie ansetzen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
und sagen können: Wir wollen, dass das endlich umge- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Laut Umfra-
setzt wird, und wir wollen nicht nur darüber reden. gen unter der Bevölkerung findet es fast jeder besser,
Gesundheit zu erhalten, als Krankheiten zu kurieren.
Dritter Punkt. Sie haben alle schon aus der KIGGS-
Prävention ist also die bessere Wahl. Aber die Realität
Studie, die in dieser Woche herauskam, zitiert; sie wurde
sieht erschreckend anders aus.
übrigens von Rot-Grün angestoßen. Darin gibt es ein
Modul „Motorik“ und man muss festhalten: Die Ergeb- Am Montag hat uns das Robert-Koch-Institut wissen-
nisse sind nicht so dramatisch schlecht, wie es vorher be- schaftlich fundiert bestätigt, was wir eigentlich schon
hauptet wurde. seit langem wussten: Fast jedes siebte Kind in Deutsch-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5383
Hermann-Josef Scharf
(A) land ist zu schwer. Die meisten Kinder leiden unter Hal- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
tungsschäden und – wir haben es schon gehört – beinahe neten der SPD und des Abg. Detlef Parr
jedes zweite Kind bekommt keine ordentliche Rumpf- [FDP])
beuge hin. Die fortschreitende Bewegungsarmut bei
Meines Erachtens gibt es hier noch viele ungenutzte Po-
Kindern ist für uns alle ein alarmierendes Signal. Vor tenziale.
diesem Hintergrund sehen wir uns als große Koalition in
der Verantwortung, Sport und Bewegung in Deutschland Werdende Mütter wünschen sich an erster Stelle für
umfassend zu fördern und uns alle zu einer gesünderen ihr Neugeborenes: Hauptsache, gesund! Gott sei Dank
Lebensweise zu motivieren. werden die meisten Kinder auch gesund geboren. Aber
spätestens hier setzt die Verantwortung der Mutter und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des Vaters an, ihr Kind zu einer gesunden Lebensweise
neten der SPD – Swen Schulz [Spandau] zu erziehen. Die Vorbildfunktion von Eltern gegen-
[SPD]: Das haben viele von uns nötig!) über ihren Kindern bei der Ernährung und der Freizeit-
gestaltung wird oft unterschätzt. Wo, wenn nicht zu
Seit Jahren können die Ausgaben der sozialen Versi- Hause, in der Familie, sollen Kinder lernen, was zu einer
cherungssysteme nicht mehr durch die Einnahmen ge- ausgewogenen Ernährung gehört?!
deckt werden. Natürlich erhält dennoch jeder Kranke
eine ausreichende Behandlung ungeachtet der Ursache (Beifall bei der CDU/CSU)
seiner Erkrankung. Das wollen wir so und das entspricht Wenn der Fernseher oder der Computer das Familienle-
unserem Leitbild, dem christlichen Menschenbild. Nur ben bestimmt, sind Bewegungsarmut und Konzentra-
müssen wir uns fragen lassen, wie lange ein solches Sys- tionsstörungen vorprogrammiert. Ein sachgerechter Um-
tem funktionieren kann, das ein solidarisches und ver- gang mit diesen neuen Medien muss erlernt werden.
antwortliches Handeln eines jeden Einzelnen voraus-
setzt. (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann
[CDU/CSU])
Ich möchte hier keine Debatte über die Gesundheits-
Unsere Sportvereine spielen für die Motivation zu
reform führen. Aber wenn wir es schaffen, unseren An- körperlicher Betätigung eine unschätzbare Rolle. Sie
trag mit Leben zu erfüllen, ist das sicher eines der besten stärken durch ihre Angebote den Bürger in seiner Ver-
Versicherungssysteme für unsere Gesundheit. antwortung für seine physische Fitness und sein gesund-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heitliches Wohlbefinden. Unsere Vereinslandschaft weist
neten der SPD) eine so reiche Vielfalt auf, dass jede sportliche Neigung
und Vorliebe abgedeckt wird. Derzeit erfreut sich das
(B) (D)
Um das Bewusstsein für eine gesündere Lebensweise Nordicwalking immer größerer Beliebtheit. Besonders
neu zu beleben, bedarf es einer großen Bewegung, wobei bei unserer älteren Generation vergrößert sich die An-
alle, Eltern, Erzieher, Lehrer, die Kommunen, die Länder hängerschaft. Durch das Engagement von vielen tausen-
und wir hier auf Bundesebene, gefordert sind. Die Prä- den ehrenamtlich tätigen Bürgern können viele ihre Frei-
vention, das Praktizieren einer gesunden Lebensweise, zeit aktiv gestalten. Den Ehrenamtlichen gilt an dieser
muss von Kindesbeinen an erlernt werden. Wenn unser Stelle unser aller Dank.
Nachwuchs gesünder aufwächst, treten viele Krankhei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
ten erst gar nicht auf. Wir müssen deshalb bei der Früh- Reinhold Hemker [SPD])
betreuung von Kindern, im Kindergarten und in der
Schule ansetzen. Der Sportunterricht an unseren Schu- Wie wir auch im Koalitionsvertrag betont haben, sind
len muss wieder den ihm gebührenden Stellenwert inner- wir uns ihrer herausragenden Bedeutung für unser aller
halb des Ausbildungsplanes eines jeden Kindes erhalten. Gemeinwohl bewusst und möchten bürgerschaftliches
Engagement weiter stärken.
(Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr Der heutige Antrag möchte zu einer neuen Gesund-
[FDP]: Sehr richtig!) heitskultur beitragen. Um diesen Prozess zu stärken,
Erste Erfolge können wir bereits verzeichnen; zufrie- werden wir in Kürze erneut über das Präventionsgesetz
den stellend sind sie aber noch nicht. Durch Spiel und diskutieren.
Wettkampf werden nicht nur Fitness, Ausdauer und (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Hoffentlich!)
Kraft trainiert; unsere Kinder erwerben auch wichtige
soziale und psychische Fähigkeiten. Sport ist auch Bil- Wir möchten Prävention als eine eigenständige Säule
dung. Ich appelliere an die Verantwortlichen der Länder im Gesundheitswesen verankern.
und Kommunen, uns hierbei zu unterstützen. (Detlef Parr [FDP]: Dazu bedarf es keines
Gesetzes!)
(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann
[CDU/CSU]) Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung:
Nehmen wir einmal an, unsere Staatskassen wären ge-
An dieser Stelle möchte ich auf die besondere Situa- füllt, unser Gesundheitssystem bräuchte sich über die
tion behinderter Kinder hinweisen. Sport ist eine wun- Ausgabenseite keine Gedanken zu machen. Dennoch
derbare Möglichkeit, den Integrationsprozess auf spiele- würde es nicht möglich sein, Gesundheit, die durch
rische Weise zu erleichtern. leichtsinniges Verhalten – vielleicht aus Unkenntnis
5384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Hermann-Josef Scharf
(A) heraus – aufs Spiel gesetzt wurde, hundertprozentig zu- 3 000-Schritt-Kampagne mit dem schönen Schrittzäh- (C)
rückzuerhalten, auch nicht durch die beste Therapie. ler, der zu Tausenden verteilt wurde. Man muss sich
Lernen wir also endlich wieder, unser wertvollstes Gut, doch nur die Rahmenkonzepte der Initiativen ansehen,
unsere Gesundheit, zu achten und zu schützen. die jetzt umgesetzt werden.
Herzlichen Dank. Von daher verstehe ich in solchen Debatten nie, wa-
rum wir uns hier hinstellen und derart klagen. Es ist klar,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
dass wir die Fehlentwicklungen aufdecken müssen. Des-
halb ist es hilfreich, wenn die Institute – teilweise wer-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den sie von uns noch mitbezahlt – die Lücken aufdecken
Nun hat Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion, und die Schwächen aufzeigen. Die Wirklichkeit in
das Wort. Deutschland sieht aber anders aus. Wenn man Deutsch-
land mit anderen Ländern vergleicht, sieht man, dass
Reinhold Hemker (SPD): man solche Möglichkeiten dort gar nicht hat. Das hat
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! auch das UNO-Jahr „Sport and Physical Education“ auf-
Es ist schon lustig, wenn Sportskameraden wie Winfried gezeigt. In diesem Zusammenhang haben wir gesehen,
Hermann, mit dem ich noch bis vor wenigen Monaten wie es in anderen Ländern aussieht. Wir haben gesehen,
gemeinsam in einer Koalition gekämpft habe, jetzt, nach wie sich die deutschen Sportverbände, Initiativen und
einigen Monaten großer Koalition, so tun, als ob in die- andere daran beteiligt haben, Sport in Ländern wie in
ser Zeit hinsichtlich der Umsetzung nichts passiert sei. Afrika zu unterstützen. Herausgekommen ist, dass wir
Denn es war doch so, dass wir Sportpolitiker in der letz- uns mit all dem, was wir haben, sehen lassen können.
ten Legislaturperiode Initiativen auf den Weg gebracht (Heiterkeit des Abg. Norbert Barthle [CDU/
haben, und zwar einvernehmlich, die dann in einen Ent- CSU])
wurf für ein Präventionsgesetz eingemündet sind. Dass
sich dann die politischen Verhältnisse geändert haben, – Ich sehe, dass ein guter Skiläufer unter uns bereits
sodass wir auf der Grundlage dessen, was in der letzten lacht. Bevor wir auf die Skier steigen, müssen wir trai-
Legislaturperiode beschlossen wurde, quasi einen Neu- nieren, damit wir uns nicht die Knochen brechen oder
anfang machen mussten – sei’s drum! Entscheidend ist die Muskeln zerreißen.
doch, was in den letzten Jahren in der Gesellschaft pas-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
siert ist: Auf der Grundlage des Rahmenkonzeptes
„Sport Pro Gesundheit“ des Deutschen Sportbundes Das genau, lieber Norbert, liefert das Stichwort, das
wurden für viele Lebenswelten – „Settings“, um das für unsere Diskussion wichtig ist: Bewusstsein für
(B) Wort noch einmal aufzugreifen; so steht es im alten Prä- gesunde Lebensführung. Das ist der dritte Block in un- (D)
ventionsgesetz und so wird es im neuen wieder stehen – serem Antrag. Was die gesunde Lebensführung angeht,
begeisternde Sportangebote geschaffen. Ich muss mir so gibt es in der Tat einen Graben zwischen Möglichkeit
nur ansehen, was allein in meinem Umfeld im Zuge der und Realität. Wir wissen doch alle, auch wir Abgeord-
Einrichtung der offenen Ganzheitsgrundschule gesche- nete, dass wir ständig sagen: Ich habe keine Zeit. Da
hen ist. Trainer aus den Vereinen sind in die Schulen ein- nehmen wir natürlich lieber die Fahrbereitschaft als das
geladen worden. Es finden Arbeitsgemeinschaften statt. Fahrrad. Die Häuser des Bundestages sind auch so ein-
Neue Mitglieder für die Sportvereine werden gewonnen. gerichtet, dass es überall tolle Aufzüge gibt. Dabei
könnte man wenigstens für eine Etage die Treppe neh-
Ein anderes Beispiel: Wir haben uns alle gewünscht,
men. Aber unser Bewusstsein ist eben ein anderes: In
dass es zu einer Zertifizierung der Fitnesscenter kommt,
dieser Republik gibt es alles. Wir können es uns leisten.
die man früher Muckibuden genannt hat. Heute sind das
Also fahren wir auch mit dem Auto. Während die Kinder
vielfach Gesundheitszentren, die mit den Krankenkassen
im südlichen Afrika morgens bis zu zwei Stunden zur
zusammenarbeiten und im Präventionsbereich hervorra-
Schule laufen und mittags die gleiche Strecke zurück,
gende Programme auflegen. In meinem Wahlkreis hat
diskutieren wir hier über die Frage, ob wir nicht noch ei-
sich eine Bürgerinitiative gebildet, die sich für einen
nen Bus mehr einsetzen können, damit die Kinder auch
Barfußpfad, vom Kneippbecken bis zur Sandspielwiese,
noch für die letzten 200 Meter vor der Haustür abgeholt
engagiert. Es gibt dort eigene Tümpel für die Kinder, die
werden.
dort – so haben wir es früher genannt – „rumräubern“
können, um einen Begriff aus dem Fitnesssport aufzu- Mit anderen Worten: Ich glaube, dass wir Abgeord-
nehmen. nete uns daran beteiligen können, dieses Bewusstsein für
eine gesunde Lebensführung zu fördern. Wir in diesem
(Heiterkeit des Abg. Rolf Hempelmann
Hause sind Vorbilder. Gott sei Dank haben wir ja die
[SPD])
Sportgemeinschaft Bundestag, die nicht nur zu Skifrei-
– Der Präsident von Rot-Weiß Essen lacht schon. Er zeiten einlädt, sondern auch Laufgruppen hat, sich am
könnte uns sicher weitere solcher tollen Beispiele erzäh- Fußballsport beteiligt und jedes Jahr ganz in der Nähe
len. vom Bundestag zeigt, wie wichtig es ist, zu walken, zu
laufen und Skaterwettbewerbe durchzuführen.
Herr Staatssekretär aus dem Gesundheitsministe-
rium, hören Sie gut zu! Sie sollten mit Ihrem Ministe- Warum sage ich das? Lieber Winfried Hermann, lie-
rium alle diese Initiativen begleitend fördern und nicht ber Detlef Parr, natürlich werden wir, die sich an dieser
nur eigene Initiativen stärken, wie die lobenswerte Debatte beteiligenden Sportpolitiker, in dieser Legisla-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5385
Reinhold Hemker
(A) turperiode wieder tätig werden und einen neuen Anlauf führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C)
für ein Präventionsgesetz nehmen. Aber angesichts des- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
sen, was in der letzten Legislaturperiode geschehen ist, so beschlossen.
rege ich an: Wir sollten uns nicht wieder so sehr mit den
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Formalien beschäftigen – damit, ob der Bund 40 Prozent
des eingesammelten Kapitals bekommen soll, ob das Beratung des Antrags der Abgeordneten
nicht zu wenig ist oder ob das Land 40 Prozent erhalten Dr. Lothar Bisky, Dr. Gregor Gysi, Oskar
soll –, sondern lieber darüber reden, wie auf der Basis all Lafontaine, weiterer Abgeordneter und der Frak-
der positiven Beispiele, die ich erwähnt habe, ein groß tion der LINKEN
angelegter Kriterienkatalog ausgestaltet werden kann.
Verzicht auf Mehrwertsteuererhöhung
Einige von Ihnen wissen, dass ich selbst den „Drei-
klangsport“, wie ich ihn nenne, betreibe. Hierbei er- – Drucksache 16/2507 –
schöpft sich die Bewegung nicht im Laufen, sondern Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
zum Anfang wird das Urelement Wasser genutzt. Wenn Haushaltsausschuss
sich Kleinkinder im Wasser bewegen, schafft dies die
Grundlage für eine gute Motorik. Anschließend nutzt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
man bei diesem Sport eine der größten Errungenschaf- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
ten, die es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat: Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
das Rad bzw. das Fahrrad. Zum Schluss erst kommt das höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Laufen, was wiederum vielfältige Bewegungsmöglich- Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
keiten in sich birgt. Es hat mich sehr gefreut, dass ein Barbara Höll, Fraktion Die Linke, das Wort.
Kollege in seiner Rede darauf hingewiesen hat, dass das
Nordicwalking mittlerweile zu einer richtigen Bewe- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Uwe Küster
gung geworden ist. [SPD]: Was für ein tosender Beifall!)
Wenn wir all das verfolgen, dann werden wir es
schaffen, aus dem Homo Sedens – ich habe eben noch Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
einen Kollegen gefragt, ob mein Latein nach 50 Jahren Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
noch einigermaßen stimmt – wieder einen Homo Mo- Linke hat Ihnen einen kurzen, prägnanten Antrag vorge-
vens zu machen, also jemanden, der sich auf vielfältige legt: Nehmen Sie die Mehrwertsteuererhöhung zurück!
Art und Weise bewegt. Ohne dass sich jeder von uns Ich möchte drei Argumente für diesen Antrag anführen:
Erstens handelt es sich bei der Mehrwertsteuererhöhung
(B) gleich bemühen sollte, dreifacher Olympiasieger zu wer- um die größte Wahllüge des vergangenen Jahres. (D)
den, können wir dann vielleicht bald wieder mit Emil
Zátopek sagen: „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch (Beifall bei der LINKEN)
läuft.“
Zweitens machen Sie damit ganz klar Politik gegen die
Schließen möchte ich mit dem schönen Wort: Bewe- Interessen der Mehrheit der Bevölkerung.
gung ist Leben, erst der Stillstand bringt den Tod.
Drittens haben Sie damit eine absolut konjunktur-
(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: feindliche Maßnahme beschlossen.
Dann geh mal lieber laufen!)
(Beifall bei der LINKEN)
In diesem Sinne wünsche ich uns allen alles Gute für un-
sere weiteren Debatten. Herr Staatssekretär, richten Sie Lassen Sie mich kurz zu allen drei Argumenten aus-
der Ministerin aus, dass wir in dieser Legislaturperiode führen: Sicherlich ist Ihnen allen noch in Erinnerung,
ein gutes Präventionsgesetz auf den Weg bringen wer- dass Frau Merkel im vergangenen Jahr durch die Lande
den. zog und tönte, dass sie für eine ehrliche Politik sei und
deshalb im Wahlkampf die Wahrheit sagen werde. Da-
Herzlichen Dank! mals hat sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um
2 Prozentpunkte angekündigt. Nicht in einer einzigen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wahlkampfveranstaltung war von einer Erhöhung der
der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Na, na!
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte die Rede. Das war
Das war ja eine ganz schöne Rede! Aber der
eine Lüge der CDU/CSU.
Schluss war nichts!)
(Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: [CDU/CSU]: Gucken Sie mal lieber, was Sie
Ich schließe die Aussprache. in Mecklenburg-Vorpommern gemacht haben!
Ich sage nur: Haushaltssperre! – Weiterer Zu-
Das soll aber nicht heißen, dass Sie sich nun alle fort- ruf von der CDU/CSU: Jetzt seien Sie doch
bewegen sollen. Es wäre gut, wenn noch ein paar Abge- nicht so kleinlich!)
ordnete hier bleiben würden; denn die Debatte geht wei-
ter. Nun zur SPD. Sie sind durch die Lande gezogen und
haben überall verkündet, dass es mit Ihnen keine Mehr-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf wertsteuererhöhung geben werde. Ich denke, insbeson-
Drucksache 16/1648 an die in der Tagesordnung aufge- dere Ihre Stammwählerinnen und Stammwähler, aber
5386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Dr. Barbara Höll


(A) auch viele andere Bürgerinnen und Bürger haben Sie als denken –, geantwortet haben: Da es nicht sicher ist, ob (C)
Garanten dafür gesehen, dass sich die CDU/CSU mit ih- die Mehrwertsteuererhöhung in voller Höhe weitergege-
rem Anliegen nicht durchsetzen wird. ben wird, besteht für das nächste Jahr kein Handlungsbe-
darf. – Nein, es besteht auch für 2008 kein Handlungsbe-
Aber was ist geschehen? Es wurde nicht eine 1-pro- darf. Sie haben vor, zu warten bis zur Erhebung der
zentige Mehrwertsteuererhöhung beschlossen – das hätte Verbrauchs- und Einkommensstatistik im Jahr 2008, und
man sich als Ergebnis der Verhandlungen einer großen wollen dann überlegen, ob es ab 2009 zu einer Änderung
Koalition ja noch vorstellen können –, sondern Sie ha- kommen muss. Das ist mit uns nicht zu machen.
ben sich darauf verständigt, die Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte zu erhöhen. Sie sind mit dieser Politik konjunkturfeindlich, ob-
wohl Sie wissen, dass die Binnenkonjunktur in
(Frank Schäffler [FDP]: Das ist skandalös!) Deutschland der große Schwachpunkt ist. Mit dieser
Einen solch dreisten Griff in die Taschen der Bürgerin- Mehrwertsteuererhöhung verteuern Sie ausgerechnet die
nen und Bürger gab es in der gesamten Geschichte der Waren, Produkte und Dienstleistungen der kleinen und
Bundesrepublik Deutschland nicht. mittelständischen Betriebe, die von der angeblich tollen
Entlastung durch die Senkung des Beitrags zur Arbeits-
(Beifall bei der LINKEN) losenversicherung nichts haben, weil diese nur einen
Bis 1968 betrug die Mehrwertsteuer 10 Prozent. Sie Bruchteil dessen ausmacht, was durch die Mehrwert-
wurde dann erhöht, ebenfalls 1978, 1979, 1983, 1993, steuererhöhung an Kosten entsteht. Deshalb lehnen wir
1998, jeweils um einen Prozentpunkt. Nun haben Sie in sie ab.
Ihrer großen Koalition beschlossen, die Mehrwertsteuer Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zurück zu einer ehrli-
gleich um 3 Prozentpunkte auf 19 Prozent zu erhöhen. chen Politik, falls Sie dazu in der Lage sind! Machen Sie
Sie erhoffen sich eine Sanierung Ihres Haushaltes durch eine Kehrtwendung! Sagen Sie Nein zu dieser Mehr-
Mehreinnahmen von anfangs 20 bis 23, später 24 Mil- wertsteuererhöhung, machen Sie sie rückgängig! Unsere
liarden Euro pro Jahr. Wir lehnen das ab. Es ist Ergebnis Unterstützung hätten Sie.
einer feigen Politik, jeden Einzelnen zu belasten, um die,
die Geld haben, zu verschonen. Das ist eine Politik ge- Ich danke.
gen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, insbe- (Beifall bei der LINKEN)
sondere gegen die Interessen derjenigen, die ihr Einkom-
men Monat für Monat vollständig in den Konsum Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
stecken müssen, Menschen mit niedrigem oder keinem Ich erteile das Wort Kollegen Otto Bernhardt, CDU/
eigenen Einkommen. CSU-Fraktion.
(B) (D)
Selbst das Bundesfinanzministerium geht davon aus, (Beifall bei der CDU/CSU)
dass, wenn der Handel die Mehrwertsteuererhöhung in
voller Höhe weitergibt, jeder Bundesbürger, jede Bun-
desbürgerin ab dem nächsten Jahr pro Monat 29 Euro Otto Bernhardt (CDU/CSU):
mehr ausgeben wird – ausgeben muss! Dies betrifft Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Menschen mit einem hohen Einkommen natürlich kaum. Herren! Die beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer
Nach Ihren eigenen Berechnungen käme es bei dieser um 3 Prozentpunkte ab 1. Januar kommenden Jahres ge-
kleinen Gruppe der Bevölkerung zu einem geringen Ein- hört mit Sicherheit zu den schwierigsten und unpopu-
kommensverlust, während die Masse der Bevölkerung lärsten Entscheidungen der großen Koalition. Ich sage
einen großen Einkommensverlust hinzunehmen hätte. aber gleich zu Beginn meiner Ausführungen: Sie war
Wie ist das erst für Menschen, die Arbeitslosengeld II nicht nur richtig, sondern auch notwendig. Ohne diese
bzw. Hartz IV bekommen, das heißt 345 Euro monat- Erhöhung wird es nicht möglich sein, die Staatsfinanzen
lich! Wir können nicht genau sagen, wie viel von diesen in Deutschland nachhaltig zu sichern.
345 Euro tatsächlich für Produkte ausgegeben wird, die (Beifall bei der CDU/CSU)
dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen, und
wie viel für Produkte, die dem vollem Mehrwertsteuer- Die große Koalition verfolgt damit zwei Ziele – das
satz unterliegen. Doch selbst wenn wir davon ausgehen, darf man nicht aus den Augen verlieren –, nämlich zum
dass nur die Hälfte des Geldes für Letztere ausgegeben einen die schon genannte Sanierung der öffentlichen
wird, hieße das bei 345 Euro eine Mehrbelastung von Finanzen – ich komme noch darauf – und zum anderen
5 bis 10 Euro im Monat. Das ist unzumutbar, es ist eine den Abbau bzw. die Verringerung der so genannten
Frechheit. Sie brauchen sich dann nicht zu wundern, Lohnzusatzkosten.
wenn Bürgerinnen und Bürger sagen: Wozu sollen wir Sie wissen, dass einer der 3 Prozentpunkte – er macht
wählen gehen? Die da oben machen doch sowieso, was etwa 7 Milliarden Euro aus – sozusagen ein durchlaufen-
sie wollen: Sie machen das, was uns schadet. der Posten ist. Der daraus resultierende Betrag wird voll
(Beifall bei der LINKEN) für die Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge
verwendet; die Lohnzusatzkosten sinken. Diese 7 Mil-
Vor diesem Hintergrund finde ich es eine besondere liarden Euro sind auch nachfragemäßig, also konjunktur-
Dreistigkeit, dass Sie auf eine Kleine Anfrage, die ich politisch, zu neutralisieren. Sie werden von den 82 Mil-
Ihnen gestellt habe – wie Sie die Mehrwertsteuererhö- lionen Menschen aufgebracht, die Mehrwertsteuer zahlen,
hung bei den Transferleistungen zu berücksichtigen ge- und die 35 bis 36 Millionen, die eine sozialversiche-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5387
Otto Bernhardt
(A) rungspflichtige Beschäftigung haben, erhalten sie. Hier Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer so- (C)
wird es keinen Ausfall der Nachfrage geben. liden Haushaltspolitik und einer guten Wirtschaftspoli-
tik. Das dürfen wir nicht vergessen.
Von den verbleibenden 2 Prozentpunkten erhalten die
Länder einen für die Sanierung ihrer Finanzen. Sprechen Nun zum sozialen Aspekt der Mehrwertsteuererhö-
Sie einmal mit den Finanzministern der Länder. Herr hung. Die große Koalition hat ganz bewusst entschieden,
Spiller und ich haben das gestern Morgen getan. Jeder dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent
hat diesen Teil in seinem Haushalt eingeplant. Es gibt nicht angehoben wird. Das ist gerade im Hinblick auf
keinen Landesfinanzminister, der sagt, dass er darauf den sozialen Aspekt ein wichtiger Beitrag.
verzichten könne.
Wenn Sie sich die Einkommenssituation der Empfän-
Dann bleibt noch 1 Prozentpunkt für uns, den Bund. ger so genannter unterer Einkommen anschauen, dann
Wer hier behauptet, dass wir diesen Betrag nicht brau- wissen Sie, dass die Miete eine entscheidende Größe
chen, der kennt entweder die Zahlen nicht, versteht die – um nicht zu sagen: die entscheidende Größe – ist. Für
Zusammenhänge nicht oder ist böswillig. sie wird bekanntlich keine Mehrwertsteuer gezahlt. Eine
Sie wissen, dass wir in diesem Jahr 38 Milliarden zweite wichtige Position sind die Grundnahrungsmittel.
Euro an neuen Schulden machen werden. Wenn Sie das Dort ändert sich nichts, sodass Sie davon ausgehen kön-
in Relation zum Bruttoinlandsprodukt setzen, dann se- nen, dass gerade dieser Teil – er macht mindestens
hen Sie, dass wir in diesem Jahr die Chance haben, unter 50 Prozent der Ausgaben aus – durch diese Erhöhung
dem Maastricht-Kriterium von 3 Prozent zu bleiben. Die nicht tangiert ist.
Meldung von heute besagt, dass es 2,6 Prozent sein wer- Bezüglich des Einflusses auf die Konjunktur gibt es
den. Wenn Sie das aber in Relation zu den Anforderun- unterschiedliche Aussagen. Ich bleibe dabei: Natürlich
gen des Grundgesetzes stellen, ist das nicht positiv für die Konjunktur, aber die erwarte-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, richtig, ten großen Einbrüche wird es nach allen uns vorliegen-
Art. 115 Grundgesetz!) den Informationen nicht geben.
dann sehen Sie, dass wir noch viele Milliarden Euro von Ich komme auf ein Argument zu sprechen, das wahr-
dem vorgegebenen Ziel entfernt liegen, da wir Investi- scheinlich gleich von der FDP vorgetragen wird: Die
tionen von rund 23,5 Milliarden Euro planen. Der Ge- Steuereinnahmen sprudeln. Nun wissen Sie natürlich,
danke, dass wir 2007 den Art. 115 des Grundgesetzes dass wir in dem verabschiedeten Haushalt 2006 schon
wieder nicht einhalten, ist für die große Koalition nicht höhere Steuereinnahmen eingeplant haben. Sie wissen
hinnehmbar. ebenso – ich komme auf die Haushaltsberatungen zu-
(B) rück –, dass auch im Haushalt 2007 höhere Steuerein- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nahmen eingeplant sind. Sie wissen darüber hinaus, dass
Wir sprechen nicht nur von einer soliden Finanzpolitik, nicht nur der Haushalt 2006, der zurzeit unsere Grund-
wir machen sie auch. lage ist, sondern auch der Haushalt 2007 nach wie vor
erhebliche Risiken aufweist; das ist bei allen Haushalten
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) so. Aber wir sind natürlich über jeden Euro froh, den wir
Wir haben in erster Lesung über den Haushalt 2007 mehr einnehmen und dann nutzen können, um das
gesprochen; demnach verringern wir die Nettoneuver- Ganze gegebenenfalls an anderer Stelle, wo es vielleicht
schuldung von jetzt 38 Milliarden Euro auf 22 Milliar- zu höheren Ausgaben kommt, zu kompensieren.
den Euro. Diese 16 Milliarden Euro sind durch Einspar- Deshalb sage ich abschließend sehr deutlich: Die
maßnahmen nicht aufzubringen, auch wenn die FDP das große Koalition hat mutig entschieden. Wir sind bereit,
immer wieder sagt und Sie von den Linken das offen- auch unpopuläre Maßnahmen zu treffen, wenn es um die
sichtlich auch meinen. Im Gegenteil: Wenn ich mir die Sanierung der Finanzen des Staates geht. Damit sind wir
Anträge der Linken anschaue, dann sehe ich, dass die auf dem richtigen Wege. In diesem Sinne werden wir
Ausgaben bei Ihnen noch deutlich höher sein würden. weiter verfahren. Es bleibt bei der beschlossenen Erhö-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hung der Mehrwertsteuer.
Ich sage an dieser Stelle: Ohne diese 7 Milliarden Euro (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
werden wir den Anforderungen des Grundgesetzes im
kommenden Jahr nicht gerecht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun kann es so sein, dass bei Ihnen stabile Finanzen Ich erteile das Wort Kollegen Volker Wissing, FDP-
keine entscheidende Rolle spielen. Fraktion.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war
schon immer so!) Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Okay. Als Ökonom sage ich aber: Alle Länder, die dem FDP lehnt den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Ziel der Haushaltssanierung langfristig nicht die notwen-
dige Bedeutung beigemessen haben, haben letztlich (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Was?)
keine solide Wirtschaftspolitik gemacht.
Ihr Antrag gleicht einem schlechten Buch mit einem Su-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) pertitel. Man sieht die Überschrift und hält auch den
5388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Dr. Volker Wissing


(A) Inhalt für wunderbar. Aber dann schaut man sich den In- Wenn dem Staat die Kosten davonlaufen, dann müssen (C)
halt an und ist enttäuscht. die Bürger mehr bei der Regierung abliefern. 140 Mil-
liarden Euro zusätzlich kostet die große Koalition die
Langer Frust nach kurzer Lust!
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land: Erhöhung der
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer, Kürzung
der Pendlerpauschale und des Sparerfreibetrages usw.
So ging es uns, als wir Ihren Antrag gelesen haben. Bei
usf. Die schwarz-rote Koalition kostet die Menschen
der Überschrift Ihres Antrags „Verzicht auf Mehrwert-
wirklich Milliardenbeträge und kommt sie damit teuer
steuererhöhung“ freuen wir uns als FDP – das ist keine
zu stehen.
Frage – und wären an sich auch sofort dabei. Aber die
Ernüchterung stellt sich sehr schnell ein, wenn man den (Beifall bei der FDP)
Antrag bis zum Ende liest.
Man fragt sich unwillkürlich: Bekommt diese große
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ihr seid nicht Koalition eigentlich nie genug? Die Menschen würden
für alles zu haben!) das staatliche Abkassieren vielleicht verstehen und darin
Dabei zeigt sich wieder einmal: Die neue Linke ist noch einen gewissen Sinn sehen, wenn damit spürbare
der alte Lafontaine. Was Sie von uns unterscheidet, ist, Sanierungserfolge verbunden wären. Stattdessen be-
dass wir konsequent auf Steuersenkungen und Entlastun- obachtet man, dass alles in den staatlichen Kassen versi-
gen setzen. Sie senken die Steuern an der einen Stelle, ckert und unser Land keinen entscheidenden Schritt vor-
erhöhen sie aber ordentlich und kräftig an der anderen ankommt. Selbst wenn es wirklich zu den erwarteten
Stelle. Das ist kein Konzept. Steuermehreinnahmen von 20 Milliarden Euro kommen
sollte, wäre das wirklich Letzte, was sich die große Ko-
(Beifall bei der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE alition vorstellen könnte, eine bereits beschlossene Steu-
LINKE]: Da, wo man etwas holen kann, bei ererhöhung, die nun wirklich überflüssig ist, zurückzu-
den Vermögenden, da wollen wir zugreifen!) nehmen.
So, Frau Kollegin Höll, schafft man keine Arbeitsplätze Sie nutzen Ihre große Mehrheit nur zum Erhöhen von
und Wirtschaftswachstum schon gar nicht. Steuern und eben nicht zur Entlastung der Menschen in
Im letzten Absatz Ihres Antrages zeigen Sie Ihr wah- unserem Land. Wenn die Bundeskanzlerin erklärt, dass
res Gesicht: Sie wollen die Steuern erhöhen, und zwar wir mehr Steuern als erwartet eingenommen und somit
die Einkommensteuer, einen Überschuss erreicht haben, der an die Menschen
zurückgegeben werden soll, dann macht sie das dadurch,
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Hohe Ein- dass sie nicht noch etwas an anderer Stelle erhöhen will.
(B) kommen!) (D)
Das ist doch durchsichtig. Die Menschen durch-
die Unternehmensteuer und die Erbschaftsteuer. Ihr schauen das. Sie wollen keine Entlastungen, weil Sie die
Klassiker: die Einführung der Vermögensteuer. Sie wol- Uneinigkeit in der großen Koalition nur überstehen, in-
len also noch stärker abkassieren, als das die große dem Sie den Staat dick aufblähen, abkassieren und die
Koalition schon macht. Das ist ein starkes Stück. finanziellen Probleme zulasten der Bürgerinnen und
(Beifall bei der FDP) Bürger in unserem Land lösen.
Falsche Thesen werden nicht dadurch richtig, dass (Beifall bei der FDP)
man sie gebetsmühlenartig wiederholt. Das Problem der 140 Milliarden Euro sind ein hoher Preis für eine
Linken ist, dass sie geistig in der Vergangenheit stehen überschaubare Leistung, die Sie abliefern. Keine der ver-
geblieben sind. Für Sie sind Unternehmer immer noch sprochenen Lösungen der großen Probleme dieses Lan-
Gegner. des wurde umgesetzt. Vom angekündigten Durchregie-
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir sind nicht die ren ist nicht ansatzweise etwas zu erkennen. Frau Merkel
Neoliberalen wie Sie, das stimmt!) scheitert schon an den eigenen Ministerpräsidenten.
Wenn man Gewinne erwirtschaftet, erscheint Ihnen das Die Bürgerinnen und Bürger müssen 140 Milliarden
höchst verdächtig. Solange Sie aus diesem Stadium nicht Euro abliefern, aber Sie bieten ihnen keine Lösung der
herauskommen, sind Sie nicht in der Lage, die Zukunft großen Probleme: keine Sanierung der sozialen Siche-
dieses Landes mitzugestalten. rungssysteme und keine vernünftige Haushaltskonsoli-
dierung. Nichts von dem, was notwendig ist, passiert in
(Beifall bei der FDP) unserem Land. Das ist die ernüchternde Bilanz einer Re-
Sie müssen irgendwann einmal begreifen, dass man in gierungskoalition, die einst mehr Freiheit wagen und
der Marktwirtschaft nicht gegeneinander, sondern nur durchregieren wollte und große Schritte angekündigt
miteinander erfolgreich sein kann. Ein Miteinander setzt hat.
jedoch gegenseitiges Vertrauen voraus.
Sie sollten wenigstens einmal Mut und Entschlossen-
Der Paradigmenwechsel, der in der Politik zurzeit heit zeigen und die nachweislich überflüssige Mehrwert-
stattfindet, ist bedenklich. Während Steuererhöhungen steuererhöhung – Sie hatten vor der Bundestagswahl
bei der großen Koalition geradezu in Mode sind, ist Spa- durchaus Recht – aufgeben. Es wäre mutig, zu sagen:
ren eine Sekundärtugend geworden. Schwarz-Rot sucht Wir erkennen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Wir
sein Heil in Mehreinnahmen durch Steuererhöhungen. haben abkassiert und eine Mehrwertsteuererhöhung be-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5389
Dr. Volker Wissing
(A) schlossen, die wir nicht brauchen. Wir haben 20 Mil- Sie sind nicht daran interessiert, dass wir als Parlament (C)
liarden Euro Mehreinnahmen erzielt. Wofür brauchen über den Tag hinaus auch für unsere Kinder und Enkel
wir die zusätzlichen 19,5 Milliarden Euro aus der Mehr- Verantwortung zu tragen haben.
wertsteuererhöhung?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Es wäre ein Zeichen von Mut, zuzugeben, dass Sie et- der CDU/CSU)
was falsch gemacht haben, und es zurückzunehmen.
Dass Sie diesen Mut nicht haben, lässt weit blicken. Von Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dieser Koalition ist nichts Vernünftiges zu erwarten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
(Beifall bei der FDP)
Lydia Westrich (SPD):
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ja.
Ich erteile das Wort Kollegin Lydia Westrich, SPD-
Fraktion. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
(Beifall bei der SPD) Liebe Kollegin Westrich, würden Sie bitte zur Kennt-
nis nehmen, dass wir uns sicherlich in dem Punkt von Ih-
nen unterscheiden, dass wir Ihre Politik nicht für alterna-
Lydia Westrich (SPD): tivlos halten, und dass wir selber in unserem Antrag
Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen – den Ihr Vorredner eben kritisiert hat – Alternativen
und Kollegen! Wir haben erst vor kurzem mit dem Haus- aufzeigen: eine Reform der Einkommensbesteuerung
haltsbegleitgesetz die Erhöhung der Mehrwertsteuer von mit einem niedrigen Eingangssteuersatz und einem or-
16 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2007 beschlossen, wie dentlichen Spitzensteuersatz. Warum nicht wieder – wie
wir es gemeinsam im Koalitionsvertrag festgelegt haben. bei Herrn Kohl – 50 Prozent?
Ein Teil des zusätzlichen Aufkommens wird, wie Herr
Bernhardt erklärt hat, zur Senkung des Beitrags zur Ar- Wir schlagen außerdem eine Vermögensbesteuerung
beitslosenversicherung verwendet und kommt damit den – damit hätten wir die Bundesländer entlastet – und eine
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und auch den neue Erbschaftsbesteuerung vor.
Unternehmen unmittelbar zugute. Der ermäßigte Steuer-
satz für die körperliche und geistige Nahrung sowie für Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
den ÖPNV wird beibehalten. Frau Kollegin, Sie müssen eine Frage stellen und dür-
Es war keine leichte Entscheidung. Wir wissen, dass fen nicht Ihr Programm darlegen.
(B) (D)
wir die Menschen damit spürbar belasten. Aber die Ent-
scheidung ist Teil unseres gemeinsamen Fahrplans, in Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
der Koalition eine wachstumsorientierte Haushaltspoli- Ja, Herr Präsident. – Können Sie mir zustimmen, dass
tik fortzuführen. damit sehr wohl Alternativen auf dem Tisch liegen und
wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN – Reinhard Schultz
[Everswinkel] [SPD]: Kohl gehört also zu den
Vornehmstes Ziel ist dabei, die Konsolidierung der Klassikern der Linken!)
öffentlichen Haushalte voranzubringen, und zwar so
schnell und dauerhaft wie möglich. Dazu gehören ge-
zielte Einsparungen bei Subventionen und sonstigen Lydia Westrich (SPD):
Fördertatbeständen, der Abbau von Steuervergünstigun- Frau Kollegin Höll, wir haben uns hier schon einmal
gen, Einsparungen bei der öffentlichen Verwaltung und darüber auseinander gesetzt. Dadurch, dass Sie es nun
einzelne Steuersatzanhebungen, darunter auch bei der wiederholen, wird es nicht besser. Wir, die Koalition,
Mehrwertsteuer. sind jedenfalls daran interessiert, eine wachstumsorien-
tierte Politik zu machen.
Es ist bekannt – auch Herr Wissing müsste das wis-
sen –, dass der Abbau von Steuervergünstigungen und (Lachen bei der LINKEN)
Subventionen erst mittelfristig haushaltswirksam wird, Wir wollen Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze schaf-
weil Übergangsregelungen und Vertrauensschutz zu be- fen und nicht Maßnahmen ergreifen – zur Wiedereinfüh-
rücksichtigen sind. Deswegen haben auch die Sachver- rung der Vermögensteuer sage ich nachher noch etwas –,
ständigen bestätigt, dass bei unserer Haushaltslage kurz- die günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ver-
fristig wirksame Maßnahmen wie Steuererhöhungen hindern.
unerlässlich sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Sie, meine Damen und Herren von der linken Frak- CDU/CSU)
tion, waren gegen jeden einzelnen Vorschlag. Sie sind
nicht daran interessiert, dass unser Staat handlungsfähig Das ist für die Menschen wichtiger als eine Erhöhung
bleibt. des Spitzensteuersatzes.
(Widerspruch bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
5390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Lydia Westrich
(A) Meine Damen und Herren von der Linken, ich sehe, dass werden. Zuletzt betrugen die Einnahmen gerade einmal (C)
Sie sich ständig vor der Verantwortung für die Zukunft rund 500 Millionen Euro.
drücken, weil es einfacher ist, in den Tag hinein Politik
zu machen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Da müsste
man natürlich reformieren!)
Herr Wissing, auch wenn sich die Einnahmeseite er-
Sie müssten sich doch ein bisschen Realismus bewahrt
freulicher entwickelt als erwartet, bleibt – das müssen Sie
haben. Was glauben Sie denn, wie schnell große und
zugeben – ein riesengroßer gesamtstaatlicher Schul-
kleine Vermögen aus Deutschland weg sind oder in Stif-
denberg in Höhe von weit über 1 Billion Euro bestehen.
tungen geparkt sind, wenn wir uns mit der Wiederbele-
Gerade Ihre Fraktion hat sich ständig mahnend geäußert,
bung dieser Steuerart beschäftigen? Dann können Sie die
wenn wir das Maastrichtkriterium nicht erfüllt haben.
Finanzverwaltung Silberlöffel zählen schicken und die
Fast 15 Prozent der Ausgaben müssen wir für Zinszah-
Vermögensteuer darauf berechnen lassen. Glauben Sie
lungen aufwenden. Wie weit sollen wir Ihrer Meinung
mir, der Aufwand wird sehr viel größer sein als der Er-
nach dieses Spiel noch treiben?
trag!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Leo
tion, Ihr Antrag ist für mich ein deutliches Zeichen, dass
Dautzenberg [CDU/CSU]: Guter Erkenntnis-
Sie den von Ihnen so hochgeschätzten Wirtschaftsökono-
prozess, Frau Kollegin!)
men Keynes gründlich missverstanden haben, oder Sie
beweisen damit, dass seine Theorien in der Praxis nicht Außerdem haben wir damals, als die Vermögensteuer
funktionieren können. Gebetsmühlenartig hat Ihr Frakti- weggefallen ist, die Erbschaftsteuer als Kompensation
onsvorsitzender seit Jahren gefordert: In wirtschaftlich erhöht.
schlechten Zeiten muss der Staat Förderprogramme
auflegen und sich verschulden, um die Wirtschaft anzu- Solche Wirtschaftstheorien wie die von Keynes, die
kurbeln. Der von Ihnen bevorzugte Sachverständige Pro- von Ihnen ständig vorgetragen werden, wurden schon
fessor Jarass, der natürlich ebenfalls gegen die Mehr- ausprobiert, zum Beispiel in solchen wichtigen und
wertsteuererhöhung wettert, hat fast in jeder Anhörung glücklichen Ausnahmefällen wie bei der deutschen Ein-
vorgetragen, dass wir antizyklisch handeln müssen und heit. Aber es gibt nicht nur eine angenehme Seite der
staatliche Förderprogramme auflegen sollen. Aber zeigt Medaille, sondern auch eine zwingende. Wir, die Koali-
sich wie momentan ein Silberstreif am Horizont, ist der tion, wollen die Schulden, die wir machen mussten, so-
zweite Teil der Theorie prompt vergessen. Sofort werden bald wie möglich zurückführen, damit der Staat hand-
neue Begehrlichkeiten wach und der Schuldenberg bleibt lungsfähig bleibt. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen.
(B) bestehen bzw. wächst bei der nächsten Wirtschaftsdelle (Beifall bei der SPD) (D)
wieder. Das ist Politik nach dem Motto „Nach mir die
Sintflut!“. Es wundert mich nicht, dass die FDP zumindest der
Überschrift Ihres Antrages zustimmt.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Da sagen die
Ökonomen, der Zeitraum ist viel zu kurz!) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben das ja
auch vertreten!)
Sie hat mit Verantwortungsbewusstsein wenig zu tun, ist
allerdings bequem und kommt bei Versammlungen im- – Ich hätte mir auch andere Lösungen vorstellen kön-
mer gut an; denn Sie gaukeln damit vor, dass Sie die vor- nen. – Die neoliberalen Kolleginnen und Kollegen wol-
handenen Probleme im Handumdrehen lösen können, len sowieso alles privatisieren. Ihnen kann ein enges
ohne jemandem wehzutun. Korsett des Staates nur Recht sein. Aber Sie von der Lin-
ken sollten wissen, dass ein schwacher Staat nur den
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) starken Schultern nützt. Die Schwachen, deren Anwalt
Sie mit Ihrem Antrag angeblich sein wollen, brauchen
Ich persönlich hätte mir vielleicht ebenfalls eine an-
den starken Staat. Sie brauchen einen Staat, der Schulen,
dere Lösung vorstellen können. Aber Koalitionen funk-
Straßen und Pflegeheime bauen kann,
tionieren nur, wie Sie aus eigenen Erfahrungen wissen,
wenn es ein Geben und Nehmen gibt. Eines ist klar: (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Deswegen
Auch andere Lösungen hätten den Menschen wehgetan; lassen Sie die Vermögenden heraus!)
denn sie hätten ebenfalls dem Erreichen des Ziels dienen
müssen, den Haushalt dauerhaft und wirksam zu konso- der Familien unterstützt, für hochwertige Bildung sorgt
lidieren. Wie man es dreht und wendet, irgendwo hätte und günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft
es schmerzhafte Einschnitte geben müssen. Auch das schafft. Als Koalition verfolgen wir genau dieses Ziel.
hätte Ihnen nicht gefallen. Wir hätten dann ähnliche De- Wir brauchen Wachstum. Dafür haben wir ein 25-Mil-
batten über Maßnahmen geführt und Sie hätten sich liarden-Euro-Programm in Gang gesetzt, das vom Stra-
ebenfalls verweigert. Sie machen keine Politik für die ßenbau bis zur Familienförderung reicht – heute haben
Zukunft. wir über das Elterngeld abgestimmt – und die Wirtschaft
unterstützt und belebt. Die Wirtschaftsentwicklung ist
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Trauen Sie robust. Viele Unternehmen werden das bestätigen.
sich doch einmal an die Reichen!)
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Dass die Wirt-
Es ist ein Witz, dass Sie ständig wiederholen, dass die schaft die Regierung bestätigt, ist fast schon
Einnahmen aus der Vermögensteuer es schon richten ein Wunder!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5391
Lydia Westrich
(A) Dass am nächsten 1. Januar der große Hammer Mit den von den Linken vorgeschlagenen Ersatzfinan- (C)
kommt, glaubt in diesem Saal eigentlich niemand. Sie zierungsmaßnahmen erreichen wir eher das Gegenteil.
wissen selbst, dass klammheimlich viele Preise schon er- Deswegen müssen wir diesen Antrag natürlich ablehnen.
höht worden sind. Wenn wir Ihrem Antrag folgen wür-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den, dann hieße das, dass die Konsumenten die höheren
der CDU/CSU)
Preise sowieso bezahlen würden, der Staat das Nachse-
hen hätte und die Unternehmen höhere Gewinne erzielen
würden. Wenn sie die hier versteuern, hätten wir viel- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
leicht noch einige zusätzliche Einnahmen. Einen seriö- Ich erteile das Wort Kollegen Gerhard Schick, Frak-
sen Haushalt kann man mit diesen Vermutungen nicht tion Bündnis 90/Die Grünen.
aufstellen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
So weh es tut: Die Mehrwertsteuererhöhung wird ge-
NEN):
braucht. Ich will mich nicht damit abfinden, jährlich
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Grü-
40 Milliarden Euro mehr an Zinsen zahlen zu müssen.
nen haben dem Haushaltsbegleitgesetz nicht zuge-
Ich will das Geld, das heute für Zinsen gezahlt werden
stimmt, weil wir gegen die Mehrwertsteuererhöhung
muss, in Bildung, in Wissenschaft, in Weiterbildung, in
sind. Es hat sich nichts geändert an unserer Position. Wir
Integration, in Umweltschutz, in erneuerbare Energien
sind nach wie vor gegen die Mehrwertsteuererhöhung.
und in Familienförderung stecken. Ich will die Netto-
Aber Ihr Antrag, Frau Höll, bringt uns in der Debatte
kreditaufnahme schnell auf null senken und endlich an
nicht weiter. Er reflektiert den Diskussionsstand, den wir
die Tilgung der Schulden herangehen. Wir stehen in der
vor der Sommerpause hatten, als es um dieses Gesetz
Verantwortung für die zukünftigen Generationen. Das ist
ging. Dieser Antrag ist nicht nur kurz, sondern er ist lei-
Zukunftsmusik; ich weiß das. Aber mit unserer Haus-
der auch dünn. Wir Grünen haben dagegen eine Reihe
haltspolitik der maßvollen Erhöhung der Einnahmeseite
von neuen Ideen in die Diskussion eingebracht. Ich
und moderater Ausgabenkürzung können wir diese Töne
werde gleich darauf zurückkommen. Mit diesen Ideen
jetzt schon hören. Wir werden unserer Verantwortung als
würden wir in der Debatte weiterkommen. Ich würde
Koalition für die Zukunft gerecht.
mir von der Linksfraktion innovative Vorschläge erwar-
Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, Armutsri- ten und nicht nur diesen Einzeiler, auf die Mehrwertsteu-
siken in unserem Land zu bekämpfen, dann verlangen ererhöhung zu verzichten. Das ist wirklich nicht nur
Sie nicht den Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung, kurz, sondern dünn.
sondern helfen Sie mit, die Haushaltsungleichgewichte
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) zu korrigieren und dadurch für die Ausgaben in For- (D)
schung, in Entwicklung, in Bildung und in Innovationen Die große Koalition spricht von Prioritäten und be-
Raum zu schaffen. Nur indem wir den Menschen die gründet die Mehrwertsteuer mit nicht tragenden Argu-
Chancen einräumen, ein gutes Erwerbseinkommen zu menten. Frau Westrich, Sie sagen, Haushaltskonsolidie-
erzielen, kommen wir gegen Armut an. Deshalb tun wir rung sei das vornehmste Ziel. Auch Herr Bernhardt hat
als Koalition alles, um günstige Rahmenbedingungen für es angesprochen: Solide Haushaltspolitik und gute Wirt-
die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen her- schaftspolitik gehören zusammen. Damit rennen Sie bei
zustellen. Nur durch den Ausbau von Bildungs-, Ausbil- uns Grünen natürlich offene Türen ein; denn dieser Zu-
dungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten haben die sammenhang ist extrem wichtig.
Menschen wirkliche Teilhabechancen.
Wenn Haushaltskonsolidierung wirklich Ihr vor-
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Den Menschen nehmstes Ziel wäre, dann müsste Ihr Haushalt anders
wäre es lieber, wenn sie weniger Steuern zah- aussehen. Von den 20 Milliarden Euro Mehreinnahmen
len müssten!) durch die Mehrwertsteuererhöhung bleiben für die Kon-
solidierung nur 16 Milliarden Euro: Sie reduzieren die
– Herr Wissing, für die Zukunft ist die andere Politik Neuverschuldung von 38 Milliarden Euro auf 22 Mil-
richtig. liarden Euro. Das heißt, im Endeffekt nutzen Sie die
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Auch für die Potenziale nicht wirklich. Wir Grünen haben in den
Zukunft!) Haushaltsberatungen Vorschläge für Einsparungen in
Milliardenhöhe vorgelegt, die Sie alle abgelehnt haben.
Auch Sie würden das einsehen, wenn Sie in der Regie- Haushaltskonsolidierung als Ihr vornehmstes Ziel zu be-
rung sitzen würden. Sie sagen das jetzt nur, weil Sie in zeichnen und damit die Mehrwertsteuererhöhung zu be-
der Opposition sind. Selbst Ihr großer Vorsitzender hat gründen, das funktioniert nicht; sonst müsste Ihre Haus-
zugegeben, dass Sie das alles mitmachen würden, wenn haltspolitik anders aussehen.
Sie in eine Koalition eintreten könnten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie müssen mir
erklären, wann er das gesagt hat!) Auch das Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken,
wird gern zur Begründung der Mehrwertsteuererhöhung
– Das kann man in Zeitungsartikeln nachlesen. – Wie herangezogen. Wir machen bei einer Senkung der Lohn-
viele Mehrwertsteuererhöhungen haben Sie denn schon nebenkosten gern mit. Die Lohnnebenkosten steigen
mitgemacht? Das muss ich Ihnen auch noch einmal sa- durch die Politik der großen Koalition aber; sie sinken
gen. eben nicht. Daher lässt sich Ihre Mehrwertsteuer-
5392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Dr. Gerhard Schick


(A) erhöhung auch nicht damit begründen, dass Sie die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Lohnnebenkosten senken wollen. Kollege Grund, bitte.
Wenn Sie an der Mehrwertsteuererhöhung schon fest-
halten wollen, dann nutzen Sie sie bitte komplett zur Manfred Grund (CDU/CSU):
Senkung der Lohnnebenkosten, um eine neue Dynamik Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt
am Arbeitsmarkt auszulösen. Aber auch diesen Vor- 12.23 Uhr. Wir haben eine gute halbe Stunde über das
schlag von uns haben Sie abgelehnt. Thema „Sinnhaftigkeit der Mehrwertsteuererhöhung“
debattiert. Es sind alle Argumente ausgetauscht worden.
Sie haben eben von einer wachstumsorientierten Poli- In den Vorrunden ist vereinbart worden, diesen Antrag in
tik gesprochen. Dazu muss ich sagen: Wenn man solch die Ausschüsse zur weiteren Beratung zu überweisen.
ein Konjunkturrisiko eingeht, dann ist das natürlich eine Dabei geht es um einige Milliarden Euro, um eine Be-
heikle Sache. Wenn Sie an der Mehrwertsteuererhöhung oder auch eine Entlastung der Steuerzahler.
schon festhalten wollen, dann gehen Sie doch bitte in
drei Stufen vor, um es konjunkturunschädlich zu machen Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion widerspricht dem
und die Wachstumspotenziale nicht zu gefährden. Dieser Antrag auf sofortige Abstimmung. Wir beantragen die
Vorschlag wurde vom Finanzminister hier ebenfalls in Überweisung an die Ausschüsse, so wie es vorgesehen
Bausch und Bogen abgelehnt, mit der wackeligen Be- ist.
gründung, er schätze keine Fortsetzungsromane. Sie ha-
ben sich mit diesem Gedanken also nicht einmal ernst- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
haft auseinander gesetzt. Kollege Küster, bitte.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Uwe Küster (SPD):
Es stellt sich natürlich die Frage: Welche Funktion hat Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
diese Mehrwertsteuererhöhung eigentlich? Es ist ziem- der Aufstellung der Tagesordnung für diese Woche ha-
lich klar: Sie brauchen die Mehrwertsteuererhöhung, um ben wir uns sehr wohl überlegt, was man mit diesem An-
die Schwächen Ihrer Politik zu überdecken. Sie brau- trag, den die Linke hier debattieren wollte, macht. Natür-
chen sie als Schmiermittel für die Koalition. Sonst wür- lich haben wir im Ältestenrat gemeinsam entschieden,
den beim Thema Haushalt nämlich dieselben Konflikte dass dieser Antrag an die Ausschüsse überwiesen und
wie bei allen anderen Reformen, die Sie in Angriff ge- dort debattiert werden soll.
nommen haben, massiv aufbrechen. Die Mehrwertsteuer
hat nur die Funktion, hier die Wogen zu glätten, damit Wenn man im Plenum einen solchen Antrag, nach
dem in viele Gesetze eingegriffen werden soll, sofort
(B) Sie wenigstens an einer Stelle Ruhe haben. Das kann entscheiden wollte, müsste man hier im Grunde genom- (D)
doch nicht die Begründung sein, wenn Sie die Bürger in
diesem Maße belasten. men eine öffentliche Ausschusssitzung durchführen.
Dem kann man natürlich folgen. Herrn Beck, der immer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für einen Geschäftsordnungsantrag gut ist, sich hier aber
entgegen seinem Fachwissen einem solch unsoliden An-
Sie haben Glück: Die Konjunktur gibt Ihnen Rücken-
trag der Fraktion DIE LINKE zuwendet, kann ich nur ra-
wind. Aber Sie sollten sich auf dieses Glück nicht ver-
ten, zukünftig genauer zu überlegen, was das heißt.
lassen. Sie kennen die Risiken für die Konjunktur: Öl-
preiserhöhungen, Krise in Nahost. Das sind durchaus Wir dürfen nicht glauben, mit einer „Husch, husch!“-
gefährliche Signale. Wir wünschen uns, dass Sie unsere Entscheidung könnte man eine hier mit einer übergroßen
sinnvollen Vorschläge ernst nehmen und Ihre Politik in Mehrheit des Hauses getroffene Entscheidung einfach
diesem Punkt überdenken. wegwischen. Schlicht und ergreifend muss ich sagen:
Ich halte es für unsolide, mit einer möglichen Zufalls-
Danke. mehrheit hier irgendetwas erreichen zu wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Was wollen Sie erreichen Herr Kollege Beck – außer
Spektakel und Brimborium? Was haben Sie, Herr Beck,
Ich schließe die Aussprache.
in der letzten Zeit hier eigentlich inhaltlich zustande ge-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf bracht? Das kann man natürlich machen. Was Sie hier
Drucksache 16/2507 an die in der Tagesordnung aufge- tun, ist Kasperletheater. Wir sind aber hier im Bundes-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- tag.
verstanden? Wir wollen in Ruhe über solche Dinge beraten. Des-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wegen bleibt die SPD-Fraktion dabei – die CDU/CSU-
GRÜNEN]: Nein!) Fraktion hat es schon beantragt –: Überweisung in die
Ausschüsse. Wir wollen das in Ruhe beraten. Dort kön-
– Kollege Beck, bitte. nen wir die Sachargumente austauschen. Dann werden
wir sehen, was daraus wird.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank.
Wir beantragen die sofortige Abstimmung über die-
sen Antrag. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5393

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): (C)
Kollege Küster, der Sinn Ihrer Übung ist erfüllt. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Wenn ich das richtig sehe, hat die Koalition ihre Mehr- Kollegen! Heute Nachmittag wird die Bundesregierung
heit. Sie haben Ihre disziplinarische Anstrengung also endgültig Stellung nehmen zu den Forderungen der EU-
erfolgreich beendet. Kommission im Zusammenhang mit dem Beihilfever-
Bestehen Sie weiterhin auf Abstimmung? – Dann fahren, das sich auf die Sanierung der seinerzeitigen
kommen wir zur Abstimmung über den Antrag des Kol- Berliner Bankgesellschaft und der daran hängenden Ber-
legen Beck. Wer dem Antrag des Kollegen Beck zu- liner Sparkasse mit öffentlichen Mitteln gründete.
stimmt, über den Antrag auf Drucksache 16/2507 sofort
abzustimmen, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer Aus diesem Grunde ist es umso sinnvoller, dass wir
stimmt dagegen? – Das Letztere ist die Mehrheit. Damit als Parlamentarier heute möglichst gemeinsam und frak-
ist der Antrag des Kollegen Beck abgelehnt und die tionsübergreifend deutlich machen, wie wir zu der tradi-
Überweisung des Antrags auf Drucksache 16/2507 an tionellen Eigentumsordnung im deutschen Banken-
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse be- sektor stehen, also zum dreigliedrigen Bankensystem
schlossen. mit Privatbanken, Volksbanken und Sparkassen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
[SPD]: Beck ist Spielführer vom Kasperle-
theater!) Wir halten es für wenig hilfreich, dass die EU-Kom-
mission versucht, eine Zangenbewegung auszuführen,
Ich rufe die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf: indem sie das laufende Beihilfeverfahren benutzt, um
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten damit gleichzeitig das schwebende Vertragsverletzungs-
Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard verfahren wegen § 40 des Kreditwesengesetzes, das so-
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion zusagen die Grundlage der Eigentumsordnung für die
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Sparkassen darstellt, zu befördern.
Schultz (Everswinkel), Bernd Scheelen, Ingrid
Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Wir, die SPD, die CDU/CSU, die Grünen – das ent-
Fraktion der SPD nehme ich jedenfalls dem wortgleichen Antrag der Grü-
nen – und die Linke – ich bin gespannt, was von der FDP
Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im kommen wird –, stehen mit einer offensichtlich breiten
Wandel – Bezeichnungsschutz für Sparkassen Mehrheit hinter dieser Eigentumsordnung, die auch ge-
erhalten mäß EU-Verträgen ausschließlich Angelegenheit der na-
(B) – Drucksache 16/2748 – tionalen Parlamente ist. (D)
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Andreae, Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, CDU/CSU)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wenn darüber verhandelt wird, ob die Bundesregie-
rung gegenüber der EU zusagen kann, § 40 KWG zu
Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im verändern, mag das auf den ersten Blick eine Regierungs-
Wandel – Bezeichnungsschutz für Sparkassen angelegenheit sein, aber letztendlich ist das Parlament
erhalten
gefragt, nämlich wir. Wir bringen mit unserem Antrag
– Drucksache 16/2752 – zum Ausdruck: Wir wollen an dieser Eigentumsordnung
nichts ändern.
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Dr. Barbara Höll, Roland Claus, weiterer Das hat Gründe. Wir sind kein Verein zur Pflege öko-
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN nomischer Traditionen, sondern wir wissen, dass sich
Sparkassen-Namensschutz sichern – EU- das dreigliedrige System seit vielen Jahren bewährt hat,
Recht wahren – Parlamentarische Einfluss- dass die Sparkassen insbesondere in wirtschaftlich
nahme sicherstellen schwierigen Zeiten einen hohen Stabilisierungsfaktor für
den gesamten Finanzsektor darstellen, dass die Sparkas-
– Drucksache 16/2745 – sen nicht nur die Geldversorgung in der Fläche sicher-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die stellen, sondern insbesondere auch für die kleinen Leute,
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre die auf Transferleistungen angewiesen sind und woan-
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ders kein Girokonto – ich nenne nur das Stichwort „Gi-
rokonto für jedermann“ – bekommen, da sind. Wir wis-
Ich eröffne die Aussprache. sen, dass die Sparkassen etwa 43 Prozent der gesamten
(Unruhe) Mittelstandsfinanzierung über Unternehmenskredite in
Deutschland leisten. Wir wissen, dass zwei Drittel aller
Bevor ich dem Kollegen Reinhard Schultz, SPD- Kredite für das Handwerk inzwischen über die Sparkas-
Fraktion, das Wort erteile, bitte ich die Kollegen, die an sen laufen. Wir wissen, dass jede zweite Existenzgrün-
der Debatte jetzt nicht teilnehmen wollen, ihre Gesprä-
dung in Deutschland mithilfe von Sparkassen zustande
che draußen fortzusetzen. – Bitte, Herr Kollege.
kommt. Angesichts dieser Erfolgsgeschichte möchten
(Beifall bei der SPD) wir ungern am System rütteln lassen.
5394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Reinhard Schultz (Everswinkel)


(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) (C)
der CDU/CSU)
Eine Kumulation von Missmanagement, krimineller
Warum will überhaupt jemand daran rütteln? Regel- Energie und Totalversagen der Aufsichtsgremien hat
mäßig hört man zum Beispiel vom IWF, wenn er sich hier dazu geführt, dass mit riesigem öffentlichen Auf-
über die Stabilität des deutschen Finanzplatzes und der wand dieses Bankenkonglomerat saniert werden musste.
deutschen Wirtschaft Gedanken macht, die Aussage, Es war natürlich das Recht der EU, sich in diesen Beihil-
häufig sogar relativ unvermittelt: Im Übrigen wäre es fefall einzumischen. Dabei hat sie nun einmal entschie-
schon längst an der Zeit, dass der öffentlich-rechtliche den, dass diese Bankengruppe, sobald sie erfolgreich sa-
Sparkassensektor zur Privatisierung freigegeben wird. niert ist, komplett und diskriminierungsfrei verkauft
Ich frage mich immer, warum. Aus den Berichten, die werden muss. Sie gibt nicht vor, an wen, aber es darf
wir vom IWF zu lesen bekommen, lässt sich das nicht keine künstlichen Hürden geben, die in die eine oder an-
herleiten. Vielmehr sprechen zum Beispiel die Berichte dere Richtung lenken. Das ist letztendlich zu akzeptie-
über Stresstests des IWF – den Bankensektor unterzieht ren, so bedauerlich das aus meiner Sicht auch ist. Wir
er regelmäßig solchen Tests – eine ganz andere Sprache. halten uns an diese Entscheidung; aber wir wollen be-
Bei diesen Stresstests werden extreme wirtschaftliche wusst diesen Sonderfall von dem Schicksal des gesam-
Situationen simuliert und es wird geschaut, wer diese ei- ten Sparkassensektors isolieren, mit dem er auch gar
nigermaßen glücklich übersteht. Wenn man die Berichte nichts zu tun hat.
liest, stellt man nämlich fest, dass von den drei Säulen
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
– Banken, Volksbanken und Sparkassen – regelmäßig
LINKEN)
die Sparkassen am besten abschneiden. Trotzdem fordert
der IWF ausdrücklich die Privatisierung. Das ist nicht Selbst die Berliner Bankgesellschaft war als eine Art
nachvollziehbar. Holding mehr eine privatrechtliche Konstruktion, in die
dann eine ehemals öffentlich-rechtliche integriert wor-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den ist. Da hätte man vielleicht vor zehn Jahren als Auf-
der LINKEN)
sicht „reingrätschen“ können; das hat man aus politi-
Wer hätte etwas von der Privatisierung? Es gibt eine schen Gründen jedoch nicht getan. Dieser Fehler ist aber
Reihe von Privatbanken, die diese regelmäßig fordern. kein Grund dafür, dass man den Fehler für alle anderen
Deren Dachverband flüstert dem zuständigen EU-Kom- öffentlichen Kreditinstitute und Sparkassen sozusagen
missar, auf dessen Schreibtisch er sozusagen übernach- zur Regel macht.
tet, regelmäßig ins Ohr: Sparkassen privatisieren, Spar- Auch die Fragen nach Name und Gattung sind nicht
kassen privatisieren, Sparkassen privatisieren! Warum auseinander zu halten. Der Name „Sparkasse“ bezeich- (D)
(B) wollen die Privatbanken dies? Weil sie in der Vergan-
net etwas ganz Besonderes, Spezielles, nämlich öffent-
genheit mit ihrer Geschäftspolitik komplett gescheitert lich-rechtlich organisiert und dem Gemeinwohl ver-
sind. Einige Banken gibt es gar nicht mehr als eigenstän- pflichtet. Wer den Namen „Sparkasse“ führt, muss
dige Banken, andere haben sich völlig aus der Fläche zu- öffentlich-rechtlich organisiert und dem Gemeinwohl
rückgezogen, stehen damit für die Geldversorgung in verpflichtet sein. Wer eine Bank führt, die nicht dem Ge-
diesem Bereich nicht mehr zur Verfügung und haben den meinwohl verpflichtet ist oder nicht öffentlich-rechtlich
Mittelstand bzw. die Existenzgründer als Kunden verlo- ist, darf sie nicht Sparkasse nennen. Deshalb wollen wir
ren. Nachdem sie eingesehen haben, dass ihre Geschäfts- den Namenschutz, wie es so schön heißt
politik falsch war, würden sie sich ganz gerne des Ver-
triebsnetzes der Sparkassen bedienen. Das ist ihre (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bezeich-
Absicht: Sie wollen sich fett fressen zulasten anderer. nungsschutz!)
Ich denke, es ist nicht Aufgabe des Parlaments, ihnen
hierzu die Hand zu reichen. – oder auch Bezeichnungsschutz –, der in § 40 Kredit-
wesengesetz zugrunde gelegt ist, gemäß unserem Ent-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schließungsantrag ausdrücklich aufrechterhalten. Das ist
der CDU/CSU und der LINKEN) im Interesse der gesamten Sparkassenfamilie und der da-
ran hängenden Kommunen, denen die Sparkassen gehö-
Die Sparkassen sind schon etwas Besonderes. Sie ren, der 377 000 Mitarbeiter, der Kunden und des Mittel-
sind nicht nur öffentlich-rechtlich organisiert, sie sind standes, der darauf angewiesen ist. Sie alle können sich
auch in besonderer Weise dem Gemeinwohl verpflichtet. in dieser Frage auf die SPD-Fraktion und auf die Koali-
Die Gewinne, die sie machen, müssen sie entweder the- tion verlassen.
saurieren oder für gemeinnützige Zwecke im weitesten
Sinne in der Regel in ihrer Region zur Verfügung stellen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer ist denn
Auch das trägt natürlich zur Stabilität von regionalen der andere Teil der Koalition? Das ist die
bzw. kommunalen und politischen Strukturen vor Ort Union!)
bei. Einen solchen Stabilitätsfaktor möchten wir sehr un-
– Bitte?
gerne opfern.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Also, der an-
Nun zur Frage Berliner Bankgesellschaft und dazu dere Teil ist die Union!)
gehöriger Sparkasse. Hierbei handelt es sich um einen
unglücklichen historischen Sonderfall. Das sage ich in – Das musst du gleich selber sagen, Leo. Ich würde in
aller Offenheit; die Berliner mögen es mir verzeihen. vielen Fällen gern Generalprokura von Euch bekommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5395
Reinhard Schultz (Everswinkel)
(A) Ich habe sie aber noch nicht, deshalb musst du be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein!) (C)
stimmte Dinge schon selbst aussprechen.
Die Verhandlungsbilanz der Bundesregierung in Brüssel
Ich denke, wir müssen die Frage Beihilfeverfahren ist bislang katastrophal. Sie schaden mit diesem Rumge-
und Vertragsverletzungsverfahren als ein Paket sehen. eiere dem Finanzplatz Deutschland.
Deshalb bitten wir die Bundesregierung, das weiterhin
als ein Paket zu behandeln. Wir dürfen nicht auf den Ver- Sie hätten eigentlich aus dem Verhandlungsdebakel
such der EU hereinfallen, das auseinander zu dröseln um Anstaltslast und Gewährträgerhaftung im Jahr 2001
und erst die Beihilfefrage zu entscheiden und dann trotz- lernen müssen. Die Vorgehensweise der damaligen rot-
dem zu versuchen, das generelle Sparkassenrecht und grünen Bundesregierung erinnert an den Elefanten im
Sparkassenprivileg zu kippen. Porzellanladen. Heute können wir feststellen: Anstalts-
last und Gewährträgerhaftung führten zu Refinanzie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rungsvorteilen, die man heute an den schlechteren Ra-
Es muss letztendlich eine Lösung aus einem Guss geben. tings der Landesbanken ablesen kann. Fakt ist: Die
damalige Bundesregierung konnte sich mit Drohungen in
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Brüssel nicht durchsetzen. Der Finanzmarkt in Deutsch-
Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung land ist durch den Wegfall von Anstaltslast und Gewähr-
gut verhandelt, dass sie die heutige Stellungnahme des trägerhaftung gestärkt worden.
Parlamentes mit zur Grundlage ihrer Stellungnahme Wir müssen die Diskussion um den Finanzplatz
macht und dass das Parlament der Regierung gegen Deutschland offensiv führen, nicht rückwärts gewandt.
Übergriffe, die weder rechtlich noch sachlich geboten Nur das hilft dem Mittelstand und den Arbeitsplätzen in
sind, den Rücken stärkt. Ich bin ganz zuversichtlich, diesem Land.
dass wir Rücken an Rücken im Interesse der Sparkassen
aus dieser Angelegenheit gut herauskommen. Fakt ist: Wir haben in Europa mit die höchsten Kre-
ditzinsen. Wir haben mehr Bankstellen als Bäckereien
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Fraktionen, und Tankstellen zusammen.
die auf unterschiedlichen Wegen zum Ausdruck bringen,
dass auch sie unseren Antrag in Ordnung finden. Die (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Wir
Linken haben mir gesagt, dass sie ihren Antrag gleich brauchen auch mehr Geld als Brötchen!)
zurückziehen und unserem zustimmen werden. Die Grü- Es gibt in Deutschland keine Bank mehr, die in Europa
nen haben wortgleich denselben Antrag vorgelegt, weil unter den Top Ten ist. Dabei sind wir in Europa mit Ab-
sie aus irgendwelchen Gründen nicht im Kopf unseres stand die größte Volkswirtschaft. Länder um uns herum
Antrages erscheinen konnten. haben ihre Finanzmärkte reformiert, haben ihr Banken- (D)
(B)
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- system durchlässiger gemacht und den Staatsanteil redu-
NEN]: Ich sage gleich etwas dazu!) ziert. Deutschland hat dagegen in Europa nach wie vor
den höchsten Staatsanteil im Bankensektor. In Spanien,
Ich sage: Bei den vielen Großkarierten gibt es schon Un- Italien, Schweden, in den Niederlanden und in Frank-
terschiede in der Größe des Karos; das ist manchmal so. reich wurden nach teilweise schweren Krisen Reformen
Letztendlich zählt das Ergebnis: Es wird eine breite aktiv eingeleitet. Der Wettbewerb wurde intensiver,
Mehrheit geben. Bankprodukte sind preiswert und die Institute stehen
Herzlichen Dank. profitabel da.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Das Dreisäulensystem in Deutschland ist längst in
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Veränderung begriffen. Der Vertrieb über das Inter-
net hebelt das Regionalprinzip aus, an das sich die Lan-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: desbanken ohnehin nicht halten. Der Einstieg von priva-
Ich erteile dem Kollegen Frank Schäffler von der ten Investoren bei einer Landesbank, der HSH
FDP-Fraktion das Wort. Nordbank, ist bereits erfolgt. Das Land Nordrhein-West-
falen will seinen Anteil an der West-LB ebenfalls priva-
tisieren. Landesbanken übernehmen längst Privatban-
Frank Schäffler (FDP): ken. Gleichzeitig findet ein konstruktiver Wettbewerb in
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit den Ländern um das beste Sparkassengesetz statt. Das
um den Namen „Sparkasse“ geht mit Ihrem Antrag in begrüßen wir ausdrücklich.
eine neue Runde. Bisher sind die Verhandlungen der
Bundesregierung mit der EU-Kommission ein Auf und Thomas Fischer, der Vorstandssprecher der West-LB
Ab der Gefühle gewesen. Erst sicherte die Bundeskanz- und Präsident des Bundesverbandes Öffentlicher Ban-
lerin im Mai bei der Einführung des neuen Sparkassen- ken, hat am 25. November 2004 im „Handelsblatt“ er-
präsidenten Haasis noch vollmundig zu, den öffentlich- klärt:
rechtlichen Status der Sparkassen zu schützen. Dann Wir sollten es den Eigentümern von Landesbanken
schlug die Bundesregierung eine Insellösung für die Ber- und Sparkassen überlassen, wie sie mit ihren Eigen-
liner Sparkasse vor. Etwas später legte die Regierung tumstiteln verfahren. Das ist nicht Sache von Vor-
dann einen neuen § 40 Kreditwesengesetz vor, der auch ständen und Verbandspräsidenten.
private Rechtsformen und private Eigentümer zuließ.
Jetzt machen Sie mit Ihrem Antrag eine Rolle rückwärts. Das sehe ich genauso.
5396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Frank Schäffler
(A) In diesem Prozess schlagen Sie jetzt in Ihrem Antrag Kreditwirtschaft einschließlich der Sparkassen nach- (C)
vor, Berlin wieder zu einer Insel zu machen. Wenige drücklich warnen.
Tage vor dem Tag der Deutschen Einheit ist dies beson-
ders pikant. Sie akzeptieren mit der Insellösung Berlin Kollege Schäffler, Sie haben angesprochen, an wel-
immerhin, dass Sie sich an die Entscheidung der EU- cher Stelle sich die jeweiligen deutschen Banken im in-
Kommission zu den Umstrukturierungsbeihilfen zuguns- ternationalen Ranking befinden. Die derzeitige Position
ten der Landesbank Berlin Holding halten wollen. Da der deutschen Banken hat etwas damit zu tun, dass in der
waren aus dem Regierungslager in den letzten Tagen und Vergangenheit gerade in der Säule der privatwirtschaft-
Wochen auch schon andere Töne zu hören. lich organisierten Banken im Gegensatz zu international
agierenden Banken nicht viel umstrukturiert wurde. Das
Eine diskriminierungsfreie Privatisierung der Landes- ist der Grund dafür, warum gerade Banken dieses Berei-
bank Berlin Holding und damit auch der Sparkasse Ber- ches bei der Marktkapitalisierung nur unter den ersten 20
lin kann jedoch nur erfolgen, wenn Rechtssicherheit zu finden sind. Das hat nichts damit zu tun, wie es um
besteht und wenn alle Bieter den Geschäfts- und Vermö- den öffentlich-rechtlichen Bereich bestellt ist.
genswert zu gleichen Bedingungen erwerben können.
Erst dann kann das Veräußerungsverfahren eingeleitet (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
werden. Dazu ist das Zeitfenster für eine Verständigung der SPD)
mit der EU-Kommission sehr klein. Gelingt dies nicht,
dann drohen Deutschland Schadensersatzforderungen in Es erfreut mich, dass auch die Fraktion des Bündnis-
einer Größenordnung von bis zu 9,7 Milliarden Euro. ses 90/Die Grünen von einer Kakofonie Abstand nimmt.
Ich sehe es ihr daher nach, dass sie den Antrag der
Ich glaube nicht, dass Sie das Beihilfeverfahren vom Koalitionsfraktionen einfach kopiert hat. Die CDU/CSU,
Vertragsverletzungsverfahren trennen können. Dazu die SPD und die Grünen sprechen also heute beim
hat diese Bundesregierung zu viele Scherben in Brüssel Thema Sparkassen mit einer Stimme. Es bleiben nur
verursacht. Sie werden mit Ihrem Antrag die Fronten noch die Vielstimmigkeit in der FDP und die falsche
weiter verhärten. Deshalb sind Ihre Anträge nicht hilf- Tonlage der Fraktion Die Linke.
reich. Die Bundesregierung sollte sich um einen Erfolg
bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission bemü- Ich denke, es ist unstrittig, dass wir im Deutschen
hen. Bundestag in der großen Mehrzahl den Bezeichnungs-
schutz im Hinblick auf die öffentlich-rechtlichen Spar-
Sie schlagen die Schlachten der Vergangenheit. Ein kassen und damit § 40 des Kreditwesengesetzes in sei-
jahrelanger Rechtsstreit mit der EU-Kommission nem Kern erhalten möchten. Aber dieses gemeinsame
schwächt den Finanzplatz Deutschland. Wir werden uns Ziel allein reicht nicht aus. Wir – damit meine ich die
(B) daran nicht beteiligen und uns deshalb der Stimme ent- (D)
verhandlungsführende Bundesregierung im Schulter-
halten. schluss mit dem Parlament – brauchen auch einen ge-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie opfern die meinsamen Weg dorthin.
Sparkassen!)
Der Weg, den Sie, meine Damen und Herren der
Wir fordern Sie auf, sich endlich auf die Kommission Fraktion Die Linke, in Ihrem Antrag vorschlagen, ist
zuzubewegen und sich mit ihr zu einigen, damit die an- dazu mit Sicherheit nicht geeignet. Sie nageln die Bun-
stehende deutsche Ratspräsidentschaft nicht weiter be- desregierung auf zwei Verhandlungslinien fest. Entwe-
lastet wird. Wir Liberale wollen einen dynamischen Fi- der soll die Bundesregierung auf ihrem Kompromissvor-
nanzmarkt zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger und schlag vom Juni dieses Jahres beharren oder sie soll ein
insbesondere des Mittelstandes in diesem Lande. Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Ge-
richtshof in Kauf nehmen. Beides ist kein gangbarer
Vielen Dank. Weg. Das Beharren auf einem Kompromissvorschlag
(Beifall bei der FDP) widerspricht dem Wesen jeder Verhandlung, bei der sich
immer wieder neue Positionen entwickeln können und
sollen. Die wissentliche Inkaufnahme und das geradezu
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: offensichtliche Ansteuern eines Verfahrens vor dem Eu-
Ich erteile das Wort Kollegen Leo Dautzenberg, ropäischen Gerichtshof sind, gesamtstaatlich betrachtet,
CDU/CSU-Fraktion. unverantwortlich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wenn wir den Bezeichnungsschutz im Hinblick auf
Sparkassen in Deutschland bewahren möchten, kommt
Leo Dautzenberg (CDU/CSU): es auf Folgendes an: Zunächst einmal müssen wir die
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Bundesregierung in ihren aktuellen komplizierten Ver-
Kolleginnen und Kollegen! Die Vielstimmigkeit ist ge- handlungen mit der EU-Kommission unterstützen. Die
rade in der Politik nicht immer ein Garant für eine ge- Bundesregierung hat wie wir den Bezeichnungsschutz
meinsame Komposition. Manchmal endet der vielstim- im Hinblick auf Sparkassen zum Ziel. Wir kämpfen hier
mige Einsatz, geschieht er auch in vermeintlich für eine gemeinsame Sache. Dafür sollten wir als Parla-
gemeinsamer Sache, in Kakofonie. Vor einer derartigen ment den Verhandlungsführern den Weg für eine gute
Kakofonie möchte ich in unserer heutigen Diskussion Verhandlungslösung bereiten und diesen Weg, meine
über die Zukunft des deutschen Dreisäulensystems in der Damen und Herren von der Linken, nicht verbauen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5397
Leo Dautzenberg
(A) Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist dazu ge- Diese doppelte Gefechtslage – § 40 Kreditwesenge- (C)
eignet, einen solchen Weg zu bereiten. Wir legen die setz auf der einen Seite und Beihilfeverfahren Bankge-
Bundesregierung einerseits nicht auf eine einzige Ver- sellschaft Berlin auf der anderen Seite – macht die Ver-
handlungslinie fest. Andererseits beziehen wir aber auch handlungen für die Bundesregierung sehr kompliziert.
sehr deutlich Position zur Bedeutung des Dreisäulensys- Ich würde mir wünschen, dass gerade bei den hauptver-
tems einschließlich der Sparkassen. Dadurch zeichnen antwortlich handelnden Berliner Akteuren etwas mehr
wir mögliche Lösungsansätze vor und machen deutlich: Gespür für diese Problematik entwickelt würde.
Wir sind nicht bereit, jedes Brüsseler Verhandlungser-
Wenn Herr Sarrazin, der Finanzsenator, sagt, dass es
gebnis zu akzeptieren.
nicht sein Job sei – ich zitiere –, „über die Rolle der öf-
Worin besteht nun die besondere Bedeutung des Drei- fentlich-rechtlichen Banken im deutschen System zu
säulensystems einschließlich der Sparkassen als ihrem philosophieren, sondern das Beste für Berlin zu tun“,
integralen Bestandteil? Ich bin fest davon überzeugt, dann mag das von seiner Warte aus durchaus legitim
dass gerade der Wettbewerb zwischen und innerhalb der sein. Dann darf man aber ebenso erwarten, dass er die
drei Säulen dafür gesorgt hat und weiterhin sorgt, dass Verhandlungen über die grundsätzliche Problematik zu
wir in Deutschland eine flächendeckende Versorgung § 40 Kreditwesengesetz nicht zusätzlich mit seinen Äu-
mit Bankdienstleistungen sowohl für Privathaushalte als ßerungen stört.
auch für Unternehmen sicherstellen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) So wie ich uns Parlamentariern rate, beim Bezeich-
nungsschutz für Sparkassen Kakofonie zu vermeiden, so
Zu dieser Versorgung trägt jede Säule in unterschiedli- erwarte ich auch von den Verhandlungsführern – die In-
cher Weise bei, die Privatbanken ebenso wie die Genos- teressenvertretung der Sparkassen eingeschlossen; da ist
senschaftsbanken und die Sparkassen. ja auch nicht alles einheitlich –, dass sie mit einer
Die besonderen Leistungen der Sparkassen beruhen Stimme in Brüssel sprechen.
dabei vor allem auf ihrem besonderen Strukturmerkmal. Ich bin davon überzeugt, dass der Antrag der Koali-
Das sind erstens die kommunale Bindung und zweitens tionsfraktionen zwei Funktionen erfüllt. Zuerst und vor
die gemeinwohlorientierte Ausrichtung in der Geschäfts- allem ist der Antrag ein eindeutiges Signal an die EU-
politik und Gewinnverwendung. Institutionell abgesi- Kommission. Er zeigt: Wir wollen einerseits das Drei-
chert werden diese Strukturmerkmale der Sparkassen säulensystem in Deutschland weiterentwickeln und für
(B) durch das Regionalprinzip und die öffentliche Rechts- die Zukunft fit machen. Andererseits wollen wir aber (D)
form. auch seine Stärken bewahren. Als einer dieser Stärken
bekennen wir uns eindeutig zu dem Bezeichnungsschutz
Ziel muss es sein, dass diese institutionelle Absiche- für die Sparkassen. Neben dem Signal an die EU-Kom-
rung bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission mission soll der Antrag aber auch eine praktische Hilfe-
im Sinne des § 40 KWG – das heißt im Kern – bewahrt stellung für die Bundesregierung sein. Er soll die Ver-
wird. Diese institutionelle Absicherung ist das am besten handlungen positiv flankieren.
geeignete Instrument, um die von uns gewollte Gemein-
wohlorientierung der Sparkassen auch zukünftig sicher- Mit diesem Flankenschutz wollen wir dazu beitragen,
zustellen. Ich bin davon überzeugt, dass wir gute Chan- dass die Bundesregierung zu einer einvernehmlichen
cen haben, mit der EU-Kommission eine Lösung im Lösung mit der EU-Kommission kommt. Dies gilt so-
Sinne dieser Forderung zu erzielen. wohl für den Sonderfall Berlin als auch für § 40 Kredit-
wesengesetz insgesamt. Ziel ist eindeutig die Einstellung
Denn wir haben gute Argumente, auch EU-rechtliche, des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland.
auf unserer Seite. Ich möchte hier nur zwei nennen. Ers- Dies gebietet alleine unsere gesamtstaatliche Verantwor-
tens lässt Art. 295 EG-Vertrag die Eigentumsordnung in tung. Dass wir dieses Ziel allerdings nicht um jeden
den Mitgliedstaaten unberührt. Das heißt, die Entschei- Preis verfolgen, macht der Antrag ebenso deutlich.
dung über die Privatisierung eines öffentlich-rechtlichen
Kreditinstituts fällt in die Zuständigkeit des jeweiligen Ich würde mich freuen, wenn heute aus unserer viel-
Mitgliedstaates. Zweitens enthält der Bezeichnungs- stimmigen Fürsprache für das deutsche Dreisäulensys-
schutz für Sparkassen gemäß § 40 KWG keine Diskrimi- tem und die Sparkassen eine einstimmige und damit
nierung, da er sowohl für inländische als auch für aus- noch viel deutlichere Unterstützung würde. Ich werbe
ländische Investoren gilt. damit um Ihre Unterstützung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
Losgelöst von dieser grundsätzlichen Problematik des
§ 40 Kreditwesengesetz ist der Fall des Beihilfeverfah- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
rens der Bankgesellschaft Berlin zu betrachten; darauf
wurde ja schon von Kollegen Bezug genommen. Ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
denke, wir sind uns darin einig, dass es hierbei um einen Ich erteile das Wort Kollegen Axel Troost, Fraktion
Sonderfall geht. Für diesen Sonderfall sucht die Bundes- Die Linke.
regierung derzeit richtigerweise einen gesonderten Lö-
sungsansatz mit der Kommission. (Beifall bei der LINKEN)
5398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

(A) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): und Kollegen von CDU/CSU und SPD ihm gar nicht (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hätten widersprechen können.
Lassen Sie mich mit einer ganz einfachen Frage anfan-
(Beifall bei der LINKEN)
gen: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Spar-
kassen und der Deutschen Bank? Sparkassen leisten, Oppositionsarbeit ist zwar ein hartes Geschäft; heute
bei aller Kritik im Einzelnen, eine Grundversorgung sehen wir aber: Die Bewegung hat sich gelohnt. Wir sind
auch in strukturschwachen Gebieten. Sparkassen können in der Sache ein ganzes Stück weitergekommen. In letz-
ein wichtiges Instrument kommunaler Wirtschaftspolitik ter Sekunde kam die Debatte über den Namensstreit
sein. Sparkassen haben keine Renditeziele in Höhe von noch auf die Tagesordnung. In letzter Sekunde legen Sie
25 Prozent. Sparkassen sind öffentlich-rechtlich und einen Antrag vor, der dieselbe Stoßrichtung wie unserer
müssen nicht Gewinne maximieren wie die Privatban- hat.
ken. Weil das so ist – das sage ich ganz klar –, sollen
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Gemeinwohl-
Bürgerinnen und Bürger auch am Namen erkennen kön-
orientierung ist etwas anderes als Verstaatli-
nen, welches Institut eine Sparkasse und welches Institut
chung!)
eine Privatbank ist.
– Das steht in unserem Antrag doch überhaupt nicht
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
drin. – In letzter Sekunde zeigen Sie dem Finanzministe-
neten der SPD)
rium – das hat Herr Schäffler durchaus richtig erkannt –
Das ist klar und transparent. Das sichert das erfolgreiche die rote Karte. Das ist kein Zufall, das hängt vielmehr
Dreisäulensystem der deutschen Kreditwirtschaft. mit unserer Hartnäckigkeit zusammen.
Leider ist diese Klarheit in Gefahr. Die EU-Kommis- Klar ist aber auch, dass das nicht allein unser Erfolg
sion und der Bundesverband deutscher Banken behaup- ist. In allen großen Parteien rumort es. Es gibt dort etli-
ten: Der Namensschutz für Sparkassen ist mit Europa- che Stimmen, die sagen: Das Finanzministerium muss
recht nicht vereinbar. Was setzt das Finanzministerium diesbezüglich endlich an die kurze Leine genommen
dem entgegen? Nichts. In den Verhandlungen mit Brüs- werden.
sel fährt es seit Monaten einen völlig undurchsichtigen
(Beifall bei der LINKEN)
Zickzackkurs. Es hat keine Strategie, die man nachvoll-
ziehen könnte. Diesen Zickzackkurs sollte das Parlament Der Erfolg von heute ist also ein Erfolg einer großen
nicht länger hinnehmen. Koalition. Damit meine ich nicht Schwarz-Rot, sondern
die unausgesprochene große Koalition, die aus Mitglie-
(Beifall bei der LINKEN)
dern verschiedener Parteien besteht, die für Sparkassen
(B) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU streiten. In dieser großen Koalition hat jeder an seinem (D)
und der SPD, ich habe mich über Ihren Antrag wirklich Platz im Sinne der Sache gekämpft. Jetzt sehen wir den
sehr gefreut. Seien wir doch ehrlich: Ihr Antrag, der fünf Erfolg. Ich hoffe, es wird nicht der letzte sein.
Tage vor Ablauf der Frist für Verhandlungen mit Brüssel
(Beifall bei der LINKEN)
vorgelegt wurde, ist eine Ohrfeige für das Finanzminis-
terium. In letzter Sekunde haben Sie wirklich ordentli-
che Arbeit geleistet. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Kerstin Andreae, Frak-
(Beifall bei der LINKEN) tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Weil das so ist, kann ich für die Fraktion Die Linke
sagen: Wir ziehen unseren Antrag zurück, weil wir er- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
reicht haben, was wir erreichen wollten. Wir haben er- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
reicht, dass wir heute über die Sparkassen debattieren. Herren! Das Dreisäulensystem hat sich bewährt. Viele
Vor allen Dingen haben wir erreicht, dass das Parlament Redner haben bereits darauf hingewiesen, dass das Ne-
zum Zickzackkurs von Herrn Steinbrück laut und deut- beneinander von Sparkassen, Genossenschaftsbanken
lich Nein sagt. und privaten Kreditinstituten für einen erfolgreichen
Wettbewerb sorgt. Davon profitieren die deutsche Wirt-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
schaft und die Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen.
SPD: Das war jetzt aber unnötig!)
Sparkassen leisten mit ihrer flächendeckenden Präsenz,
Oppositionsarbeit ist insbesondere für die Linke ein mit ihrer kommunalen Bindung und mit ihrer gemein-
hartes Geschäft. In der letzten Zeit haben wir immer und wohlorientierten Ausrichtung einen unverzichtbaren
immer wieder gesagt: Es kann doch nicht sein, dass das Beitrag zum deutschen Finanzmarkt. Ihre erfolgreiche
Parlament dem tatenlos zuschaut. Mittelstandsfinanzierung ist von großem Wert für den
Wirtschaftsstandort Deutschland.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das tun wir ja
auch nicht!) Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in ih-
rem Bemühen, den Bezeichnungsschutz für Sparkassen
In der letzten Woche haben wir im Finanzausschuss eine
gemäß § 40 des Kreditwesengesetzes zu erhalten. Wo
Selbstbefassung zu diesem Thema für diese Woche ver-
Sparkasse draufsteht, muss auch Sparkasse drin sein.
abredet. Als deutlich wurde, dass Sie eher nicht handeln
würden, haben wir unseren Antrag geschrieben. Wir ha- Wir fordern die Bundesregierung daher auf, im lau-
ben ihn bewusst weich formuliert, damit die Kolleginnen fenden Vertragsverletzungsverfahren dafür Sorge zu tra-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5399
Kerstin Andreae
(A) gen, dass der wesentliche Inhalt des § 40 erhalten bleibt. Heute haben Sie noch einmal eine Rolle rückwärts (C)
Das heißt, Finanzdienstleistungsinstitute, die den Namen gemacht. Herr Dautzenberg hat gesagt – ich zitiere Sie
und das Logo „Sparkasse“ führen, müssen die Pflicht zur jetzt nicht wörtlich, aber inhaltlich vermutlich richtig –,
Gemeinwohlorientierung und das Regionalprinzip erfül- er würde sich freuen, wenn heute aus der Vielstimmig-
len. So weit, so gut. keit eine Einstimmigkeit würde. Wir haben über den
Weg, Ihren Antrag auch unter unserem Namen einzu-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr schön!) bringen, versucht, diese Einstimmigkeit im Vorfeld her-
Wie stärkt man nun die Verhandlungsposition des beizuführen. Wir freuen uns natürlich, dass Sie in die-
Finanzministers in Brüssel? Sie haben es gesagt: indem sem Fall auch unserem Antrag zustimmen werden.
man ihm den Rücken stärkt – das sagten Sie, Herr Wir bitten Sie eindringlich, bei derart wichtigen sach-
Schultz – und indem man mit einer Stimme spricht – das politischen Themen Ihre kleinliche Art aufzugeben, um
sagten Sie, Herr Dautzenberg. Deswegen gab es sehr mit einer gemeinsamen Stimme die Position in den Ver-
früh die Überlegung und die gemeinsame Absprache: handlungen stärken zu können. Denn die Sache ist es
Lasst uns bei diesem wichtigen Thema das Parteienge- wert.
zänk aus der Debatte heraushalten und einen gemeinsa-
Vielen Dank.
men Antrag stellen, um die Verhandlungsposition in
Brüssel zu stärken. Das wäre die richtige Strategie gewe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nun haben wir gesagt: Ja, weil das die richtige Strate- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gie ist und die Verhandlungsposition dadurch gestärkt Ich schließe die Aussprache.
wird, stellen wir mit Ihnen einen gemeinsamen Antrag. Wir kommen zur Abstimmung. Es ist vereinbart, dass
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: über die gleich lautenden und inhaltsgleichen Anträge
Wenn es auch schwer fällt!) der Fraktionen der CDU/CSU und SPD sowie der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen gemeinsam abge-
Es hat sehr lange gedauert, bis ein Antrag aus den Rei- stimmt werden soll. – Dagegen höre ich keinen Wider-
hen der großen Koalition kam, weil man überlegt hat, ob spruch. Dann verfahren wir so.
der Termin – bis jetzt 4. Oktober – vielleicht noch ein
bisschen weiter nach hinten geschoben wird. Wir stimmen also ab über die Anträge der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion des Bünd-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Zeit- nisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutscher Finanz-
(B)
punkt, wann man so etwas macht, ist auch ent- dienstleistungsmarkt im Wandel – Bezeichnungsschutz (D)
scheidend!) für Sparkassen erhalten“. Wer stimmt für die Anträge auf
den Drucksachen 16/2748 und 16/2752? – Wer ist dage-
– Der Zeitpunkt war entscheidend. Es hat eine Weile ge- gen? – Enthaltungen? – Dann sind die Anträge ange-
dauert. Insofern sage ich ganz klar: Die Initiative der nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Linkspartei war richtig, um Schwung in die Sache zu Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Frak-
bringen. tion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion.
(Beifall bei der LINKEN) Die Fraktion Die Linke hat beantragt, ihren Antrag auf
Drucksache 16/2745 mit dem Titel „Sparkassen-Namens-
Dann haben Sie Anfang der Woche Ihren Antrag ein- schutz sichern – EU-Recht wahren – Parlamentarische
gereicht. Wir haben Ihnen signalisiert: Ja, wir machen Einflussnahme sicherstellen“ für erledigt zu erklären. Wer
mit, weil wir Sachpolitik machen. stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? –
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dann ist der Antrag einstimmig für erledigt erklärt.
Was passiert? Die Union signalisiert: Wenn die FDP Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a bis c auf:
nicht mitmacht, können die Grünen nicht mitmachen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Den Zusammenhang müssen Sie mir einmal erklären. Er Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter,
ist mir nicht klar. Dass die Haltung der FDP seit jeher ist, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
die Position der Sparkassen zu schwächen und langfris- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
tig sogar § 40 anzugehen, ist bekannt. Daher können Sie
Treibhausgasemissionen bei Dienstreisen aus-
doch nicht ernsthaft zu uns sagen: Das eine geht nur zu-
gleichen – Vorbildfunktion der öffentlichen
sammen mit dem anderen.
Hand erfüllen
(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) – Drucksache 16/1066 –
Insofern muss ich sagen: Sie haben sich auf eine ganz Überweisungsvorschlag:
kleinliche Parteienlösung eingelassen und sind nicht den Innenausschuss (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
gemeinsamen Weg eines fraktionsübergreifenden An- Finanzausschuss
trags gegangen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklung
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Haushaltsausschuss
5400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Nahezu alle internationalen Entwicklungsexperten (C)
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Ernst Burgbacher, stimmen darin überein, dass die bisherigen Anstrengun-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gen zur Erreichung der Millenniumsziele überhaupt
nicht ausreichen. Die Zahl der Hungernden steigt. Sie
Keine Flugticketabgabe – Mit solider Finanz- liegt mittlerweile bei 850 Millionen Menschen. Wir ha-
politik mehr Haushaltsmittel erwirtschaften ben schon viel darüber diskutiert: Tag für Tag sterben
– Drucksache 16/2660 – 30 000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten. Eine Ex-
pertenkommission der Vereinten Nationen, die Kofi
Überweisungsvorschlag: Annan eingesetzt hat, ruft dazu auf, die weltweiten Aus-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f) gaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre
Finanzausschuss Hilfe mehr als zu verdoppeln. Dies sei nötig, um über-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie haupt noch eine Chance zu haben, der Erreichung der
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Millenniumsziele nahe zu kommen.
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Selbstverständlich geht es nicht allein um Geld. Ge-
Haushaltsausschuss
nauso notwendig sind Reformen in den Entwicklungs-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ländern, in unserer Entwicklungszusammenarbeit und
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- natürlich auch in den internationalen Handelsbeziehun-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) gen. Nichtsdestotrotz brauchen wir schlicht und ergrei-
fend auch deutlich mehr Geld. Die Koalition hat das er-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike kannt. Sie gibt ehrlich zu, dass die enorme Erhöhung der
Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Mittel, die zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist,
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Frak- nicht allein aus dem Haushalt zu bestreiten ist. Deshalb
tion der LINKEN hat sie in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, neue
Geldquellen aufzutun und sich für die Einführung inno-
Flugticketabgabe jetzt – Entwicklungsfinan-
vativer Finanzierungsinstrumente einzusetzen. Jetzt
zierung auf breitere Grundlagen stellen
müssen diesen Worten endlich Taten folgen.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae, Marieluise Beck (Bremen), sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Man kann natürlich ewig darüber diskutieren, welche
Finanzierungsinstrumente am besten geeignet sind.
(B) Umsetzung des EU-Stufenplans zur Ent- Wenn es nach uns ginge, dann hätte Deutschland längst (D)
wicklungsfinanzierung (0,7-Prozent-Ziel) eine Initiative zur Einführung der Devisenumsatzsteuer,
durch Flugticketsteuer unterstützen der Tobin Tax, oder der Kerosinsteuer mit ihrer ökologi-
– Drucksachen 16/1203, 16/1404, 16/2783 – schen Lenkungswirkung ergriffen. Aber wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass es dagegen auf internationaler
Berichterstattung: Ebene große Widerstände gibt.
Abgeordnete Dr. Christian Ruck
Dr. Sascha Raabe Was ist gegenwärtig machbar und umsetzbar? Frank-
Hellmut Königshaus reich, Brasilien, Chile, Norwegen, Südkorea und 13 wei-
Heike Hänsel tere Staaten haben es uns vorgemacht. In diesen Ländern
Ute Koczy wird bereits eine Flugticketsolidarabgabe erhoben oder
man steht unmittelbar vor ihrer Einführung. In Frank-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die reich beträgt diese Abgabe für innereuropäische Flüge in
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die der Touristenklasse 1 Euro und für Interkontinentalflüge
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten in der Businessclass 40 Euro. Das hält niemanden vom
erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann Fliegen ab. Aber es bringt immerhin zusätzliche Einnah-
ist das so beschlossen. men von 200 bis 300 Millionen Euro pro Jahr, die zur
Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria ver-
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem wendet werden können. Würde man das schwedische
Kollegen Thilo Hoppe von der Fraktion des Modell, das kurz vor seiner Einführung steht, auf
Bündnisses 90/Die Grünen. Deutschland übertragen, ginge es um ganz andere Sum-
men. Dann kämen Einnahmen in Höhe von 1 Milliarde
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Euro zusammen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Trauerspiel, dass Deutschland abseits steht
Endlich können wir im Deutschen Bundestag über zwei und sich nicht dazu durchringen kann, dem Aufruf von
Anträge beraten und abstimmen, die schon vor vielen Kofi Annan zu folgen. Es ist beschämend, dass sich
Monaten eingebracht, aber leider von der Mehrheit des Deutschland nicht der Initiative von Jacques Chirac und
Hauses in eine lange Warteschleife geschickt worden Lula anschließt.
sind. Es geht um die Einführung einer Flugticketabgabe
zur Finanzierung von Entwicklungsvorhaben für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ärmsten der Armen. und bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5401
Thilo Hoppe
(A) Vorgestern haben wir im Ausschuss für wirtschaftli- 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes zu erhöhen. Es (C)
che Zusammenarbeit und Entwicklung ausführlich über ist vorgesehen, dass der entwicklungspolitische Haushalt
Reformen der Entwicklungszusammenarbeit diskutiert. – der Einzelplan 23 – im Haushaltsjahr 2007 einen Auf-
Es wurde immer wieder betont, dass wir international wuchs von ungefähr 300 Millionen Euro erhält. Als Ent-
anschlussfähig werden, uns am Agenda-Setting beteili- wicklungspolitikerin begrüße ich das ausdrücklich. Ich
gen und auf der internationalen Bühne stärker auftreten halte es für einen wichtigen und richtigen Schritt, um un-
müssen. Jetzt stehen wichtige Entscheidungen an. Die sere Ziele – die Bekämpfung der Ursachen von Armut,
18 Länder, die ich erwähnt habe, diskutieren darüber, Konflikten und Kriegen – zu erreichen.
wie die Mittel unter der Verantwortung von Unitaid ver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wendet werden sollen. Deutschland beteiligt sich an die-
neten der SPD)
ser internationalen Debatte nicht und steht abseits.
Die begrüßenswerten Aufwüchse spiegeln unser globa-
Ich bin mir sicher, dass die Entwicklungsministerin
les Politikverständnis wider und die Tatsache, dass sich
und viele Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition
die Bundesregierung unter Angela Merkel ihrer Verant-
heute am liebsten unserem Antrag zustimmen würden,
wortung für die Ärmsten dieser Welt bewusst ist. Im
wenn es nicht die Koalitionszwänge geben würde. Der
Koalitionsvertrag haben wir festgehalten, dass wir die
Wirtschaftsminister stellt sich quer, weil er den faden-
ODA-Quote auf 0,7 Prozent des Bruttonationalproduk-
scheinigen Argumenten der Luftfahrtbranche folgt.
tes erhöhen werden.
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das kennen wir ja!)
Wie wollen Sie das machen? Sagen Sie ein-
Finanzminister Steinbrück fürchtet Schlagzeilen in der mal!)
„Bild“-Zeitung, in denen von einer neuen Steuerabzocke Dazu wollen wir, wenn nötig, neben der Erhöhung der
die Rede sein könnte. Haushaltsmittel und der Entschuldung der Entwick-
(Hellmut Königshaus [FDP]: Zu Recht!) lungsländer innovative Finanzierungsinstrumente heran-
ziehen, um den EU-Stufenplan umzusetzen.
Sein Vorgänger hingegen, der Kollege Hans Eichel – er
ist heute leider nicht hier –, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Erläutern Sie einmal, wie Sie das machen wol-
(Hellmut Königshaus [FDP]: Es ist ja auch Freitag- len!)
mittag! Dann ist er doch nie hier!)
Für dieses Jahr und das kommende Jahr ist schon jetzt
verfährt ganz anders: Er hat einen Appell von ATTAC abzusehen, dass wir die Zielmarken unseres Stufenpla-
(B) unterschrieben, eine Flugticketabgabe einzuführen. Jetzt (D)
nes zur Erhöhung der ODA-Quote erreichen werden.
würde ich gerne an den Kollegen Eichel appellieren;
aber er ist nicht hier. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ach!)
(Hellmut Königshaus [FDP]: Es ist Freitag-
nachmittag! Da ist er nie da!) Wie Sie sehen, stellt sich die Frage nach zusätzlichen
Mitteln zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Ich bitte alle, die diese Initiative unterstützt haben, die
sich im Ausschuss, in den Diskussionen, in der entwick- Unser Nachbar Frankreich hat zum 1. Juli 2006 eine
lungspolitischen Community klar und deutlich für eine zusätzliche Abgabe auf innereuropäische und transkonti-
Flugticketabgabe ausgesprochen haben, uns jetzt nicht nentale Flüge eingeführt, die zwischen 1 und 40 Euro
mit Vertröstungsfloskeln zu kommen, sie bräuchten noch liegt. Jetzt fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
Zeit – sie haben viele Monate gehabt –, oder auf andere von Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland solle sich
Instrumente zu verweisen, die noch in der Diskussion kurzfristig dem französischen Modell anschließen, um
sind. Jetzt ist der Zeitpunkt, Rückgrat zu zeigen und sich mit den zusätzlichen Einnahmen zu gewährleisten, dass
klar und deutlich für die Flugticketabgabe auszuspre- die ODA-Quote entsprechend erhöht wird. Frankreich
chen. Bitte stimmen Sie den Anträgen zu. rechnet damit, dass die Flugticketsteuer zu Mehrein-
nahmen von circa 200 Millionen Euro führt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]:
Immerhin!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für Deutschland werden, würde es das französische Sys-
Das Wort hat nun die Kollegin Anette Hübinger für tem übernehmen, Einnahmen von rund 270 Millionen
die CDU/CSU-Fraktion. Euro prognostiziert. Das heißt, mit einem solchen Instru-
ment würden wir unseren Beitrag zwar erhöhen, doch
(Beifall bei der CDU/CSU) ein Durchbruch wäre das nicht.

Anette Hübinger (CDU/CSU):


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Besser gar nichts machen, oder? Lieber gar
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
nichts als etwas?)
reden wir darüber, auf welchem Weg wir das Ziel, das
wir uns gesetzt haben, erreichen: unsere Mittel für ent- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen,
wicklungspolitische Zusammenarbeit bis 2015 auf führt Deutschland mit unseren EU-Partnern intensive
5402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Anette Hübinger
(A) Gespräche über die Entwicklung und Ausgestaltung in- Stärkung von Wirtschaftswachstum, Wohlstand und soli- (C)
novativer Instrumente zur Finanzierung der Entwick- der Staatführung.
lungspolitik. Auch über eine Flugticketabgabe wird da-
Hier unterscheiden wir uns auch von Ihnen, liebe Kol-
bei diskutiert. Wichtig wäre allerdings eine europaweite
leginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Ihrer Mei-
Akzeptanz, gleich für welches Instrument wir uns ent-
nung nach soll sich die Entwicklungspolitik rein ökono-
scheiden. Bevor wir neue Finanzierungsinstrumente he-
mischen Gesetzmäßigkeiten unterwerfen. Solidarisches
ranziehen, müssen wir deren Notwendigkeit und Wirk-
Handeln muss aber genau dann einsetzen, wenn durch
samkeit sorgsam prüfen.
ökonomische Gesetzmäßigkeiten Ungerechtigkeiten ver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stärkt werden.
neten der SPD – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
DIE GRÜNEN]: Neun Minuten lang nichts neten der SPD)
aussagen!)
Zu deren Ausgleich kann auch eine zusätzliche Abgabe
Dass Mehreinnahmen erzielt werden, darf nicht das im richtigen Maß beitragen, die in ein Gesamtkonzept
alleinige und ausschlaggebende Bewertungskriterium einfließen muss.
sein. Es entspricht nicht einer nachhaltigen Entwick-
lungspolitik, wie wir als CDU/CSU-Fraktion sie verfol- Meine Damen und Herren, wir als CDU/CSU-Frak-
gen. Übrigens hat die Ministerkonferenz der Afrikani- tion sehen zu diesem Zeitpunkt kein Erfordernis, eine
schen Union ihre Besorgnis über die Einführung einer zusätzliche Flugticketabgabe einzuführen, um den
Flugticketsteuer geäußert. Sie befürchtet negative Fol- ODA-Stufenplan einzuhalten.
gen für den Tourismus in Entwicklungsländern. (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]:
Wir sehen das französische Modell auch deshalb kri- Schade!)
tisch, weil die Mittel, die eingenommen werden, in einen Wir sind auf einem guten Weg. Das wird durch die Zah-
noch einzurichtenden Fonds fließen sollen. Deutschland len für dieses und auch für das kommende Jahr belegt.
setzt sich seit längerem für eine straffere Organisations-
struktur der internationalen Entwicklungspolitik ein. Ein Den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
neuer Fonds bedeutet sowohl für die Geberländer als nen, mit dem sie eine Klimaschutzabgabe bei Dienst-
auch für die Entwicklungsländer einen zusätzlichen Ko- reisen fordert, sehen wir als nicht geeignet an, zur Lö-
ordinierungsaufwand und zusätzliche Verwaltungskos- sung umweltpolitischer Probleme beizutragen. Die
ten. dadurch erzielten geringen Einnahmen stehen in keinem
angemessenen Verhältnis zu der damit verbundenen Be-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU) lastung der Verwaltung und den zusätzlich anfallenden (D)
Bürokratiekosten.
Darüber hinaus werden schon heute viele Aufgaben, de-
ren Erledigung man sich mit diesem Fonds zum Ziel ge- (Beifall bei der CDU/CSU)
setzt hat, von bereits existierenden Institutionen abge- Die Bekämpfung der weltweiten Armut ist unser Ziel.
deckt. Die Notwendigkeit dieser Neugründung ist für Sie erfordert weitere Anstrengungen auf internationaler
mich bisher nicht ersichtlich. und nationaler Ebene. Wir sind uns bewusst, dass die Er-
Genauso wenig nachvollziehbar ist für mich der An- wartungshaltung der internationalen Gemeinschaft gegen-
trag der Fraktion der Linken, die fordern, dass weder über Deutschland auch aufgrund seiner herausragenden
Einnahmen aus einer Flugticketsteuer noch Entschul- Expertisen in vielen Feldern der entwicklungspolitischen
dungsmaßnahmen in die ODA-Quote einfließen sollen. Zusammenarbeit sehr hoch ist. Gerade deshalb lassen
wir uns aber nicht zu voreiligen Handlungen drängen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir verfolgen eine Entwicklungspolitik mit klaren
Sie fordern eine Finanzierung aus reinen Haushaltsmit- Zielen und erfassbaren Ergebnissen, die vor den kriti-
teln. Wer die Augen vor der Haushaltssituation Deutsch- schen Augen der Öffentlichkeit standhält. Wir sind auf
lands so verschließt, wie Sie dies tun, der gefährdet letzt- einem guten Weg, den ODA-Stufenplan einzuhalten. Die
endlich das gemeinsame Ziel, nämlich die Armut in der Forderung zur Einführung einer Flugticketabgabe halten
Welt zu reduzieren. wir zum jetzigen Zeitpunkt für nicht erforderlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herzlichen Dank.

Neben neuen Finanzierungswegen müssen wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wirksamkeit der eingesetzten öffentlichen Mittel einer
kritischen Überprüfung unterziehen und wir müssen un- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ser Ziel noch klarer und deutlicher formulieren. Die Frau Kollegin Hübinger, das war Ihre erste Rede in
CDU/CSU-Fraktion hat für sich drei klare Ziele heraus- diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche
gearbeitet: erstens die Solidarität mit den ärmsten Men- Ihnen weiterhin alles Gute.
schen aufgrund unseres christlich-humanitären Weltbil-
(Beifall)
des, zweitens die Gefahrenabwehr und die Herstellung
von Sicherheit für die Entwicklungsländer und damit Nun hat der Kollege Hellmut Königshaus für die
letztendlich auch für unser eigenes Land und drittens die FDP-Fraktion das Wort.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5403

(A) Hellmut Königshaus (FDP): Da wussten Sie im Übrigen schon – das sage ich, weil (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist Sie „Bravo“ gerufen haben –, dass der Bund wegen der
schon eine merkwürdige Melange von Anträgen, die wir Föderalismusreform für die Bildung gar nicht mehr zu-
hier gemeinsam beraten sollen. ständig sein wird. Trotzdem haben Sie das öffentlich be-
hauptet. Nun ist in der Tat die Bildung weg, die Eigen-
(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Na, heimzulage aber auch. Das Geld behält natürlich der
na!) Finanzminister. So haben Sie die Menschen mit Ihrer
Die Grünen wollen einen ökologischen Ausgleich für Argumentation getäuscht.
Dienstreisen – natürlich auf Kosten der Steuerzahler – So wäre es auch mit der Flugticketabgabe. Die Grü-
und eine Flugticketabgabe – diese wollen im Übrigen nen sind wenigstens ehrlich und bezeichnen sie als eine
auch die Linken –, die natürlich erst recht auf Kosten der Steuer. Damit wäre sie nicht zweckgebunden. Aber sie
Bürger – in diesem Fall der Reisenden – erhoben werden würde die Belastungen der Bürger, über die wir gespro-
soll. Sie liegen damit im Übrigen auf einer Linie mit chen haben – 140 Milliarden Euro pro Jahr –, noch wei-
dem Bundesfinanzminister, der den Bürgern nach seiner ter erhöhen. Da hilft auch kein Hinweis – das wurde hier
Rückkehr aus dem Urlaub – quasi noch auf der Gangway immer wieder angeführt – auf Schweden, Frankreich
stehend – ihren Anspruch auf Urlaubsreisen streitig ma- oder andere Länder. Wir müssen die Belastungen unserer
chen wollte. Bürger betrachten. Ein Blick auf die Situation in Paris,
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Mit einem Euro Timbuktu oder sonst wo hilft da nicht weiter, sondern
ganz bestimmt nicht! – Fritz Kuhn [BÜND- unsere Bürger müssen für uns die Richtgröße sein. Da
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Witzbold von der hilft vielleicht für die einen oder anderen, die das nicht
FDP! Ein gelungener Witz!) wissen, ein Blick in die Lohntüten der Durchschnittsver-
diener.
Dabei tut die Koalition schon einiges dafür, den Bürgern
das Reisen wirtschaftlich unmöglich zu machen – vor al- (Beifall bei der FDP – Christian Carstensen
lem, aber nicht nur mit Steuer- und Abgabenerhöhungen. [SPD]: Wer hat Ihnen denn da was erzählt? –
Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie sich aber aufschreiben lassen!)
Ein gelungener Witz zu später Stunde!)
– Auch Sie sollten da einmal hineinschauen. Durch-
Nun beantragen die Grünen, Herr Kuhn, und die schnittsverdiener – das darf ich einmal in Richtung auf
Linke das, was sich die Koalitionäre nicht oder jeden- die Großkoalitionäre sagen – arbeiten auch Freitagnach-
falls noch nicht trauen, nämlich noch mehr draufzupa- mittag, auch wenn das anders abgesprochen sein sollte.
(B) cken: eine Flugticketabgabe – wie es so schön heißt – als (D)
Einstieg in die Schaffung „innovativer Finanzierungs- Wenn also mehr Geld benötigt wird, dann darf man
instrumente“. Eine wahrhaft große Koalition der Abkas- nicht abkassieren, sondern das muss durch Sparen er-
sierer! wirtschaftet werden. Aber brauchen wir hier und jetzt
überhaupt mehr Geld für die Entwicklungszusammenar-
Zum „Dienstreiseantrag“ der Grünen ist nur eines zu beit?
sagen: Es kommt darauf an, Dienstreisen auf das abso-
lute Minimum zu reduzieren. Das wäre der beste Beitrag (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Oh ja,
zum Klimaschutz und würde der Vorbildfunktion der öf- wir brauchen mehr!)
fentlichen Hand eher gerecht als solche Pseudoaktivitä- Angesichts der Positionen im Einzelplan 23, dem Ent-
ten. wicklungshaushalt, kann dies zumindest derzeit nur ver-
neint werden. Wir müssen die dort genannten Projekte
Nun zur Flugticketabgabe. Koalition und Bundesre-
erst einmal durchforsten; denn da könnten wir Milliar-
gierung haben die Einführung einer Flugticketabgabe
den freimachen.
bereits mehrfach angekündigt. Wie so oft, haben sie
auch bei dieser Ankündigung nur heiße Luft produziert. (Widerspruch bei der SPD)
In diesem Fall muss man sagen: Gott sei Dank! Es ist
nämlich zu bezweifeln, dass die Einnahmen unter dem Ich will hier einige Beispiele nennen: China wird
Strich wirklich der Entwicklungshilfe zugute kommen noch immer mit Finanzhilfen bedacht, ein Land, das
würden. über 1 Billion US-Dollar als Devisenreserve verfügt.
Hunderte Millionen Euro werden in fragwürdige Schul-
Es ist ein alter Trick von Rot-Grün, der jetzt von denerlasse und Budgethilfen geschaufelt. Da gehen Mil-
Schwarz-Rot wiederbelebt wird: Man erhöht eine Steuer lionen über Millionen in unkontrollierte und unkontrol-
oder Abgabe, verbindet das mit einem guten Zweck, der lierbare multilaterale Fonds.
damit angeblich verfolgt wird, vergisst nach der Steuer-
erhöhung diesen guten Zweck und stopft mit den Mehr- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
einnahmen die selbst verschuldeten Haushaltslöcher. GRÜNEN]: Haben Sie das mit den Wirt-
schaftspolitikern abgesprochen, was Sie da
So haben Sie erst jüngst – natürlich für einen guten fordern?)
Zweck – die Eigenheimzulage gestrichen, und zwar für
die Bildung, wie Sie behauptet haben. Zusätzlich bedienen Sie noch den Moloch des Euro-
päischen Entwicklungsfonds. Der EEF hatte gar keine
(Christian Carstensen [SPD]: Bravo!) Verwendung für die Mittel. Trotzdem wollen Sie dieses
5404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Hellmut Königshaus
(A) Jahr wieder 700 Millionen Euro hinschaufeln. Während Alle anderen demokratischen Parteien in diesem (C)
noch gar nicht alle Mittel des 8. EEF abgerufen waren, Hause einschließlich der Linkspartei und der Grünen,
haben Sie zugestimmt, einen 9. EEF aufzulegen und da- die die Anträge eingebracht haben, sind sich mit uns da-
für noch einmal Mittel freizumachen. Nun wollen Sie rin einig, dass mehr Geld für die Entwicklungszusam-
700 Millionen Euro jährlich in einen 10. EEF zusätzlich menarbeit notwendig ist, wie wir es auch auf der Millen-
einzahlen, während noch 3,5 Milliarden Euro als deut- niumskonferenz auf internationaler Ebene beschlossen
sche Zahlungsverpflichtung offen sind. Ein Fass ohne haben, und dass wir die so genannte ODA-Quote – also
Boden! den Anteil der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit
am Bruttoinlandsprodukt – bis 2015 auf 0,7 Prozent stei-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gern wollen. Das versprechen wir übrigens schon seit
10 Milliarden!) über 20 Jahren. Jetzt sind wir endlich auf einem guten
– 3,5 Milliarden Euro sind viel Geld, Herr Kuhn, auch Weg. Ich bin mir in der Zielsetzung mit der Opposition
wenn es die Grünen nicht wahrhaben wollen. völlig einig, dass wir die im Koalitionsvertrag getroffe-
nen Vereinbarungen erfüllen wollen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Keine Sachkenntnis!) Sie müssen aber auch berücksichtigen, dass dank des
Engagements unserer Ministerin und der gesamten Bun-
Dafür wollen Sie die Bürger mit einer zusätzlichen desregierung im Haushalt 2006 ein Aufwuchs der Mittel
Flugticketsteuer noch weiter schröpfen? Das darf doch um 300 Millionen Euro zu verzeichnen war. Im Haus-
wohl nicht wahr sein! halt 2007 sind 324 Millionen Euro mehr vorgesehen.
(Beifall bei der FDP) Das allein ist schon mehr als die 200 Millionen Euro, die
in Frankreich durch die Erhebung der Flugticketabgabe
Solange Sie keine überzeugenden Verwendungsmöglich- zusammenkommen.
keiten aufzeigen und neue Projekte nicht begründen kön-
nen, können wir einer Erhöhung des EZ-Haushalts und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
erst recht der Einführung einer neuen Steuer nicht zu-
stimmen. Den hungernden Menschen in Afrika ist es egal, wo-
her das Geld kommt. Davon, dass jemand mehr Geld für
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ein Flugticket ausgibt, wird noch keiner satt. Wichtig ist,
dass genug Geld zusammenkommt, damit den Menschen
(Beifall bei der FDP)
geholfen werden kann. Die Abgabe selbst wäre nur ein
mögliches Mittel zum Zweck; aber nicht der Zweck sel-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ber.
(B) (D)
Das Wort hat nun der Kollege Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hartwig
Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Deswegen haben wir uns im Sommer Zeit genom-
men, Herr Kollege Hoppe, um abzuwarten, wie sich der
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Haushalt 2007 entwickeln wird. Da wir mit diesem
Haushalt mit einem Plus von fast 8 Prozent auf einem
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen sehr guten Wachstumskurs sind, sind wir davon ausge-
und Kollegen! Wenn man eine Weile mit einem Kolle- gangen, dass wir zum Januar 2007 keine zusätzlichen
gen im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Mittel durch ein innovatives Finanzierungsinstrument
und Entwicklung zusammenarbeitet, der an Anhörungen brauchen. Denn laut Koalitionsvertrag wollten wir im
teilnimmt und viele Länder bereist, dann fragt man sich, Jahr 2006 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent erzielen.
was er sich dort wohl angeschaut hat, wenn er hier so tut, Wir haben aber schon 2005 – also ein Jahr früher – mit
als wären die Mittel für die Entwicklungszusammen- einer ODA-Quote von 0,35 Prozent gezeigt, dass wir gut
arbeit nicht sinnvoll, weil sie irgendwo versenkt würden, im Plan liegen.
wenn er den Aufwuchs des Entwicklungsetats infrage
stellt, und meint, wir sollten stattdessen lieber in die Wir werden uns aber auch damit befassen müssen,
Lohntüten der Deutschen schauen, Herr Königshaus. wie wir das Niveau gemäß unserer Zielsetzung im
Wenn täglich 30 000 Menschen an den Folgen von Hun- Haushalt 2008 halten bzw. steigern können. Bis dahin
ger und Armut sterben, wenn fast die Hälfte der Weltbe- werden einige Entschuldungseffekte auslaufen. Es ist
völkerung von weniger als 2 US-Dollar pro Tag lebt und richtig, dass wir die ärmsten Länder entschuldet haben;
800 Millionen weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Ver- es ist aber auch klar, dass dann wieder viel Geld ge-
fügung haben, dann ist es schäbig, wenn Sie hier mit ei- braucht wird.
nem Glas Wasser in der Hand und wohlgesättigt dafür
eintreten, den Ärmsten der Armen kein Geld mehr zur (Zurufe von der LINKEN: Genau! – ODA-
Verfügung zu stellen. Sie sollten sich fragen, ob Sie in Quote!)
dem Ausschuss richtig aufgehoben sind.
Die ODA-Quote würde nämlich wieder sinken, wenn
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ man keine neuen Mittel generiert. Insofern glaube ich,
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dass wir uns dann gemeinsam mit möglichen innovati-
CDU/CSU und der LINKEN) ven Finanzierungsinstrumenten befassen müssen, um
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5405
Dr. Sascha Raabe
(A) den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag entsprechend für die Entwicklungszusammenarbeit. Ich glaube, es (C)
2008 zusätzliche Mittel aufzubringen. lohnt sich, dieses krasse Missverhältnis zu beseitigen.
Ich will nicht alle Argumente der Lobbyisten aufgrei- Es geht aber nicht nur ums Geld. Die Entwicklungs-
fen, die gegen die Flugticketabgabe vorgebracht wurden. zusammenarbeit muss auch kohärent sein. Ich ärgere
Auch ich habe mich über einiges geärgert, das ich als un- mich, dass Frankreich ständig als leuchtendes Vorbild
fair und unehrlich empfand. Zum Beispiel haben die dargestellt und behauptet wird, dass es wegen der Flug-
Luftverkehrswirtschaft und der BDI alle Abgeordneten ticketabgabe so gut zu den ärmsten Menschen sei. Wer
angeschrieben – auch Sie haben das aufgegriffen, Frau wie der Kollege Hoppe und ich an den letzten Welthan-
Hübinger –, wobei etwas falsch dargestellt wurde, näm- delsrunden teilgenommen hat, in denen es eigentlich da-
lich dass sich die Afrikanische Union gegen eine Flugti- rum ging, im Sinne einer Entwicklungsrunde faire und
cketabgabe ausgesprochen hätte. Damit hat die Luftver- gerechte Handelsbedingungen für die Ärmsten der Welt
kehrswirtschaft schlicht gelogen. Wir haben uns nach zu erreichen, weiß, dass Frankreich mit seinen Agrarsub-
der Quelle erkundigt. Schließlich erhielten wir die klein- ventionen und seinem Agrarprotektionismus die Ent-
laute Antwort, dass, wie aus einem Dokument hervor- wicklungsländer ständig vor den Kopf gestoßen hat, um
gehe, die Verkehrsminister in der Afrikanischen Union die französischen Landwirte zu schützen. Nach einer
keine Ticketabgabe für innerafrikanische Flüge erheben Weltbankstudie gehen den Entwicklungsländern dadurch
wollten, um damit Start- und Landebahn und andere In- mehrere Hundert Milliarden Euro jährlich verloren. Die
frastrukturmaßnahmen zu finanzieren. Die Afrikanische Menschen verhungern buchstäblich wegen des Agrar-
Union hat natürlich niemals beschlossen, dass sie kein protektionismus der Franzosen. Trotzdem werden die
Geld mehr für die Hungerbekämpfung haben will. Das Franzosen wegen eines geringen Effektes in Höhe von
ist völliger Blödsinn. 200 Millionen Euro gelobt. Dazu kann ich nur sagen:
Seht lieber zu, dass ihr gerechte Welthandelsbedingun-
An dieser Stelle muss gesagt werden, dass manche gen schafft! Damit würdet ihr mehr erreichen als mit ei-
Argumentationen, die große Wettbewerbsnachteile an ner Flugticketabgabe.
die Wand malen, nicht ganz einleuchtend sind. Wenn die
Ticketabgabe für alle Airlines gleichermaßen gilt und (Beifall bei der SPD)
wenn Transitpassagiere davon ausgenommen werden,
dann frage ich mich allen Ernstes, welchen Schaden es Um im Bild zu bleiben: Das französische Engage-
anrichtet, wenn ein Economypassagier 1 Euro bzw. ment für die Entwicklungszusammenarbeit ist Economy-
4 Euro mehr, wie es das französische Modell vorsieht, class, während wir momentan Businessclass sind. Wir
für einen Flug bezahlen soll. Man darf nicht vergessen, wollen aber bis 2015 in die Firstclass kommen. Wir tre-
ten für gerechte Welthandelsbedingungen ein und wollen
(B) wie viel schon heute an Sicherheitsgebühren und Flug- die ODA-Quote auf 0,7 Prozent steigern und so unsere (D)
hafensteuern auf die Flugtickets aufgeschlagen wird. Ich
glaube daher, dass der Tourismus durch die Einführung Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit fast verdop-
einer Ticketabgabe nicht wegbricht. peln. Wir sollten uns vor Augen führen, dass das
6 Milliarden bis 7 Milliarden Euro mehr sind. Darüber
Dass sich sogar die US-amerikanische Botschaft in muss man in unserer Gesellschaft eine ehrliche Debatte
einem Brief an den Haushaltsausschuss an uns wendet führen. Man darf nicht so tun, als würde das Geld an an-
und mehr oder weniger deutlich sagt, dass wir in der derer Stelle verplempert und man könnte es einfach ir-
heutigen Debatte darauf achten sollen, dass die bean- gendwoher holen. Es reicht ebenfalls nicht, wie Sie,
tragte Flugticketabgabe abgelehnt wird, weil sonst alles meine Damen und Herren von der Linkspartei, so zu tun,
zusammenbricht, halte ich für einen ungewöhnlichen als könnte man alles aus dem deutschen Verteidigungs-
Vorgang. Offenbar glaubt die US-amerikanische Regie- haushalt finanzieren. Sie gehen in allen Ihren Haushalts-
rung, uns frei gewählten und demokratisch legitimierten anträgen – egal ob sie das Gesundheitswesen, die Ren-
Abgeordneten solche Tipps erteilen zu müssen. Wer tenversicherung, den sozialen Bereich oder die
hätte gedacht, dass die Weltmacht USA von unserer Entwicklungshilfe betreffen – davon aus, dass man alles
Flugticketabgabe in die Knie gezwungen wird? Das mit den für den Eurofighter eingestellten Mitteln finan-
halte ich für sehr überzogen. Wenn wir schon dabei sind, zieren könnte. Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge über-
Kollegen in anderen Ländern Ratschläge zu geben: Die steigen mittlerweile den Verteidigungshaushalt um das
Kollegen im US-amerikanischen Kongress sollten die Fünffache.
Mittel, die sie weltweit für das Militär und den Irakkrieg
Es reicht nicht, zu sagen, dass das Geld vom Himmel
ausgeben, besser für die Entwicklungszusammenarbeit
fällt. Wir müssen in unserer Gesellschaft eine Debatte
verwenden.
darüber führen, wie und wie viel Geld wir für die Ar-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mutsbekämpfung aufbringen wollen. Es ist in diesem
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Zusammenhang alles andere als hilfreich, wenn der
LINKEN) Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutsch-
lands, Bischof Huber, in der „Bild am Sonntag“ vor eini-
Dann gäbe es mehr Sicherheit auf der Welt und die Si- gen Wochen schreibt, die Armen in Deutschland erinner-
cherheitsgebühren an den Flughäfen wären geringer. ten ihn an die Hungernden im Sudan. Ich weiß nicht,
Weltweit wurden im letzten Jahr 1 000 Milliarden Euro was ihn da geritten hat. Ich kann Bischof Huber nur
für Militär, Rüstung und Krieg, davon ein Großteil für empfehlen, mit den guten kirchlichen Entwicklungs-
den Irakkrieg, ausgegeben, aber nur 70 Milliarden Euro organisationen nach Afrika zu gehen und sich dort
5406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Dr. Sascha Raabe


(A) anzuschauen, was Hunger wirklich bedeutet. Vertei- ten gesammelt, Abgeordnete haben unterschrieben. (C)
lungsgerechtigkeit in Deutschland ist sicherlich ein ATTAC wollte Peer Steinbrück über 1 000 Unterschrif-
wichtiges Thema, gerade für uns Sozialdemokraten, ten übergeben. Er hat sich geweigert, diese Unterschrif-
keine Frage. Wenn wir aber so tun, als wären die Men- ten überhaupt anzunehmen. Im Internet gibt es bereits
schen in Deutschland vom Hungertod bedroht, dann 120 000 Unterschriften für die Ticketabgabe, die dem
wird es natürlich schwierig, in der deutschen Bevölke- Fonds UNITAID zugute kommen soll. Die Regierung
rung Akzeptanz dafür zu finden, dass mehr Steuermittel hat nicht reagiert. Ich kann nur feststellen: Die Bevölke-
oder andere Mittel aufgebracht werden sollen, um den rung ist hier weiter als die Bundesregierung. Sie ist be-
Menschen auf der Welt zu helfen, die wirklich vom Hun- reit, Entwicklung zu unterstützen.
ger bedroht sind. Deswegen appelliere ich an uns alle,
dass wir bei allem „Gejammer“, das wir manchmal (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo
gerne veranstalten, nicht vergessen, dass es uns hier Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
noch sehr gut, ich möchte sagen: verdammt gut geht. Wir sprechen von einer Abgabe in Höhe von 1 Euro
Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass Milliar- im Inland, von 4 Euro bei internationalen Flügen und ei-
den Menschen auf der Welt unsere Hilfe brauchen. De- nem entsprechend höheren Betrag für Flüge mit der
nen wollen wir helfen. Wenn wir zusammenhalten, wer- Businessclass. Das sind wahrlich keine großen Beträge.
den wir es gemeinsam schaffen, unsere Verpflichtung zu Heute haben wir über die Mehrwertsteuererhöhung
erfüllen. Ob das Geld aus einer Flugticketabgabe oder diskutiert. Sie haben keine Skrupel, die Mehrwertsteuer
aus anderen Quellen kommt, die Hilfe muss kommen. um 3 Prozentpunkte zu erhöhen,
Dazu wollen wir beitragen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
aber bei solchen Abgaben verweigern Sie sich. Der
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Grund ist: Sie haben nicht den Mut, den Menschen noch
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
eine weitere Abgabe zuzumuten. – Wir sind für die Strei-
GRÜNEN)
chung der Mehrwertsteuererhöhung und plädieren für
die Unterstützung solch wichtiger Initiativen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun erteile ich der Kollegin Heike Hänsel für die (Beifall bei der LINKEN)
Fraktion Die Linke das Wort.
Es geht auch um die internationale Zusammenar-
(Beifall bei der LINKEN) beit. Es wäre eine Probe, ob wir es schaffen, Steuern in-
ternational zu vereinbaren und national zu erheben. Zie-
(B)
Heike Hänsel (DIE LINKE): hen viele Länder mit? 18 Länder weltweit machen mit, (D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 40 Länder haben ihr Interesse bekundet. Die Bundesre-
Vorab möchte ich ein Wort zu Ihnen sagen, Herr Raabe. publik, die gern international Verantwortung übernimmt,
Man kann nicht eine Armut gegen eine andere ausspie- aber fast nur noch militärisch, ist nicht dabei. Es wäre
len. Armut ist immer subjektiv. Ich finde, Leute, die wichtig, zu zeigen, dass wir bei solch einer zivilen Initia-
nicht arm sind, sollten sich zurückhalten, über die Armut tive und einer internationalen Vereinbarung mitmachen.
und die Situation der Menschen zu urteilen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Sascha Raabe Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
[SPD]: Aber dass sie nicht wie die Menschen Das wäre ein wichtiges Zeichen. Es wäre auch wichtig,
im Sudan hungern, da geben Sie mir Recht?) über die Verwendung der Gelder in diesem Fonds zu
– Ja, aber soziale Ausgrenzung kann auch hier zu schwer sprechen. So geht es zum Beispiel darum, billige Gene-
wiegenden Folgen führen. Man kann nicht die eine Ar- rika für die Bekämpfung von Aids einzukaufen und da-
mut gegen die andere ausspielen. Wir haben die Auf- mit Einfluss auf das zu nehmen, was dieser Fonds ma-
gabe, Armut generell, egal wo und in welcher Form sie chen kann. Wenn man aber nicht dabei ist, hat man keine
auftritt, zu überwinden. Möglichkeit, Vorschläge zu machen. Insofern sind wir
hier in meinen Augen international isoliert.
(Beifall bei der LINKEN)
Ganz kurz zum Antrag der Grünen: Unser Antrag un-
Wir haben wie die Grünen einen Antrag eingebracht,
terscheidet sich von dem der Grünen. Wir wollen das
eine Flugticketabgabe zu erheben. Wir möchten diese
Aufkommen aus der Flugticketabgabe nicht auf die
Abgabe nicht, Herr Königshaus, um Haushaltslöcher zu
ODA-Quote anrechnen. Wir brauchen Umschichtungen
stopfen. Uns ist es vielmehr ein Anliegen, einen Beitrag
im Haushalt, die dazu führen, dass die ODA-Quote er-
zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tbc zu leisten.
höht wird. Es ist nicht unser einziges Ziel, die ODA-
Das sind große Herausforderungen. Da ist jeder Tropfen,
Quote zu erhöhen. Es muss vielmehr eine ganz andere
der auf den heißen Stein fällt, sehr wichtig, für manche
Politik gemacht werden, die einen Beitrag zur Entwick-
Menschen überlebenswichtig.
lung leistet. Wir betrachten die Abgabe als ein zusätzli-
Wir hatten den Antrag im Frühjahr gestellt. Mittler- ches Finanzierungsinstrument. Wir halten es für eine
weile haben wir Herbst und leider wird er erst jetzt be- neue Herausforderung, in die internationale Besteuerung
sprochen. Es gab während dieser Zeit viele Initiativen einzusteigen. Die Kerosinsteuer ist sehr wichtig, ebenso
außerhalb des Parlaments. ATTAC hat viele Unterschrif- die Devisentransaktionssteuer. Da gibt es viele Vor-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5407
Heike Hänsel
(A) schläge und viele Ideen. Das wäre ein Schritt in die rich- Überweisungsvorschlag: (C)
tige Richtung. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Für uns wäre die richtige Antwort auf die Fragen der Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Globalisierung, in diese Richtung zu gehen. Deswegen
hoffen wir, dass sich die die Bundesregierung tragenden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Koalitionsfraktionen doch noch einen Ruck geben Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
– Herr Raabe und Herr Ruck, Sie haben sehr viele Vor- Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
teile einer Flugticketabgabe genannt – und diesem An- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
trag zustimmen. Das würde uns sehr freuen. Wir halten
es für die richtige Initiative. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Burkhardt Müller-Sönksen von der FDP-Frak-
Danke. tion.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo
Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Auf der Tagesordnung standen Themen wie die Mehr-
Ich schließe die Aussprache. wertsteuererhöhung, der Namensschutz der Sparkassen
und – zuletzt – die Flugticketabgabe. Damit haben wir
Bezüglich der Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b uns auf das Ausland zubewegt. Das ist auch Inhalt dieses
wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf FDP-Antrags. Wir wollen, dass die deutsche Beteiligung
den Drucksachen 16/1066 und 16/2660 an die in der Ta- an Geheimgefängnissen und an Folterungen – Sie alle
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. kennen diese Themen – geklärt wird. Wir bemühen da-
Dabei soll die Vorlage auf Drucksache 16/1066 zu Ta- bei nichts Geringeres als das Grundgesetz, unser aller
gesordnungspunkt 32 a federführend beim Innenaus- Basis.
schuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Mit großer Mehrheit haben wir gestern die Fortset-
schlossen. zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
am ISAF-Einsatz in Afghanistan beschlossen. Die letz-
Tagesordnungspunkt 32 c: Beschlussempfehlung des ten Monate haben jedoch gezeigt, wie instabil die Lage
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und in Afghanistan ist. Bewaffnete Auseinandersetzungen
Entwicklung auf Drucksache 16/2783. Der Ausschuss sind dort leider tägliche Realität. Von der Gefahr, in be-
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die waffnete Auseinandersetzungen involviert zu werden,
(B) Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf bleiben auch die deutschen Soldaten im Norden des Lan- (D)
Drucksache 16/1203 mit dem Titel „Flugticketabgabe des nicht verschont. Gleichzeitig ist es der afghanischen
jetzt – Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundla- Regierung bisher nicht gelungen, ihre Staatsgewalt über
gen stellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- die Stadtgrenzen von Kabul hinaus stabil auszudehnen.
lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist Von einer landesweiten Etablierung rechtsstaatlicher
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koali- Standards, die mit denen der Bundesrepublik Deutsch-
tionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stim- land auch nur annähernd vergleichbar sind, kann in Af-
men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion ghanistan bisher keine Rede sein.
des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
In Übergangssituationen wie derjenigen in Afghanistan
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt kommt es im Rahmen internationaler Friedensmissionen
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion auch zur Verhaftung von Personen durch internationale
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1404 Streitkräfte. Solche Verhaftungen werden in Afghanistan
mit dem Titel „Umsetzung des EU-Stufenplans zur Ent- und im Kosovo auch von Angehörigen unserer Bundes-
wicklungsfinanzierung (0,7-Prozent-Ziel) durch Flugti- wehr vorgenommen. Zudem wirken Bundeswehrange-
cketsteuer unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschluss- hörige an Verhaftungen durch Angehörige anderer
empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann Nationen mit. Von der Bundeswehr festgenommene
ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Personen werden anschließend regelmäßig den zuständi-
Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen gen örtlichen Behörden übergeben, wie es zum Beispiel
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen die Rules of Engagement für den Libanoneinsatz vorse-
angenommen. hen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 33 auf: Allerdings fehlt es bisher an Informationen über den
Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian weiteren Verbleib der festgenommenen Personen. Die
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner entscheidende Frage lautet deshalb: Wie lässt sich für
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion uns sicherstellen, dass diejenigen, an die unsere Bundes-
der FDP wehr festgenommene Personen übergibt, auch ein Min-
destmaß an rechtsstaatlichen Garantien gewährleisten?
Rechtsstaatskonforme Behandlung von Ver-
hafteten nach der Übergabe durch deutsche Diese Frage mag sich zunächst theoretisch anhören
Stellen im Ausland sicherstellen – in der Tat hat sich bisher mehr die Rechtswissenschaft
damit beschäftigt –, aber wenn sich Deutschland darauf
– Drucksache 16/2096 – einrichten muss, in der Welt eine immer größere Rolle
5408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Burkhardt Müller-Sönksen
(A) bei internationalen Friedensmissionen zu übernehmen, Bei einer Beteiligung deutscher Soldaten an interna- (C)
als das in der Vergangenheit der Fall war, kommt dieser tionalen Friedensmissionen kommt hinzu, dass diese
speziellen Frage eine immer größere Bedeutung zu. Dies Teil der deutschen öffentlichen Gewalt sind und damit
gilt insbesondere dann, wenn Verdächtige im Rahmen der Grundrechtsbindung des Art. 1 Grundgesetz unter-
des weltweiten Kampfs gegen den Terror in geheimen worfen sind. Ich will jetzt am Freitagnachmittag keine
Gefängnissen inhaftiert, unter Einsatz von Folter verhört Vorlesung über Verfassungsrecht halten;
werden und ihnen ein rechtsstaatliches Verfahren vorent-
halten wird. (Zuruf von der SPD: Das ist aber schade! Ma-
chen Sie doch!)
Unter dem Eindruck solch gravierender Menschen-
nur so viel: Die Verfassung verlangt hier ganz klar eine
rechtsverletzungen muss durch uns sichergestellt wer-
aufklärende Regelung. Das Verfassungsgericht hat klar
den, dass deutsche Stellen – dazu gehört die Bundeswehr –
gesagt – Bestimmtheitserfordernis –, dass wir solche Re-
durch ihre Handlungen keinen Beitrag zu solchen Vor-
gelungen vorzugeben haben und es nicht einfach jedem
gängen leisten. Erst mit dieser Gewissheit kann die Bun- einzelnen Soldaten vor Ort überlassen dürfen, mit dem
desrepublik Deutschland glaubhaft und selbstbewusst Grundgesetz unter dem Arm solche Verhaftungen vorzu-
auftreten, wenn sie international die Aufklärung von nehmen.
Menschenrechtsverletzungen einfordert. Die immense
Bedeutung, die einem rechtsstaatlichen und menschen- Noch ein letztes Wort. Diplomatische Versicherun-
rechtskonformen Verhalten internationaler Streitkräfte gen allein reichen hier nicht aus, wenn sichergestellt
bei Friedensmissionen zukommt, haben uns – leider in werden soll, dass Personen, die von deutschen Soldaten
negativem Sinne – die Misshandlungen von irakischen im Ausland verhaftet werden, einer rechtsstaatskonfor-
Gefangenen im Gefängnis von Abu Ghureib in Bagdad men Behandlung zugeführt werden. Die Unzulänglich-
gezeigt. keit und Unverbindlichkeit solcher Zusagen hat sich in
der Vergangenheit bereits mehrfach erwiesen. Deswegen
Die Verantwortung für das Schicksal einer Person, die fordert meine Fraktion hier verbindliche Regeln. Deswe-
von Angehörigen der Bundeswehr, zum Beispiel in Af- gen unser Antrag, meine Damen und Herren, liebe Kol-
ghanistan, festgenommen wurde, darf für die Bundes- legen.
wehr nicht mit der Überstellung an eine örtlich zustän-
dige Stelle enden; denn eine solche Bedenkenlosigkeit Es darf am Ende nicht heißen: Die Bundeswehr macht
stünde uns, der Bundesrepublik Deutschland, nicht zu. im Ausland keine Gefangenen. – Die Bundeswehr soll
Im Gegenteil: Wenn Angehörige unserer Bundeswehr im Ausland Gefangene machen, aber sie muss sich auch
bei einem Auslandseinsatz einen Menschen, sei er Kom- Gedanken darüber machen, was mit diesen Gefangenen
battant oder Nichtkombattant, verhaften, übernimmt die nach Überstellung an die zuständigen örtlichen Stellen
(B) Bundeswehr damit auch im rechtlichen Sinne eine Ver- passiert, und darf sie nicht ihrem Schicksal überlassen. (D)
antwortung für diesen Menschen; denn sie hat mit der
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Festnahme eine Ursache für die weitere Behandlung des
Festgenommenen geschaffen. (Beifall bei der FDP)
Dieser Verantwortung kann sich die Bundeswehr
– damit auch wir als Deutscher Bundestag – nicht da- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
durch entziehen, dass sie den Festgenommenen einem Die Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion
anderen Staat überstellt und die Augen davor ver- hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)
schließt, was danach mit ihm geschieht, ob er zum Bei-
spiel gefoltert wird. Das gilt insbesondere dann, wenn Damit hat als nächster Redner der Kollege Michael
die verhaftete Person einem Rechtssystem überantwortet Leutert von der Fraktion Die Linke das Wort.
wird, das – ich nenne Afghanistan als Beispiel – noch im (Beifall bei der LINKEN)
Aufbau befindlich ist und in dem grundlegende Rechts-
staatsgarantien nach unseren Maßstäben nicht gewähr-
leistet werden können. Michael Leutert (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es kann nicht angehen, dass sich Deutschland auf der Klar ist, dass sich deutsche Soldaten im Ausland an
ganzen Welt einerseits gegen Folter und Geheimgefäng- deutsches Recht und Gesetz zu halten haben und damit
nisse und für die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestga- auch an unser Wertesystem, das die Menschenrechte be-
rantien einsetzt – das vertreten wir fraktionsübergreifend – inhaltet. Nichts anderes wird in diesem Antrag der FDP
und andererseits gegenüber jenen Menschen gleichgültig skizziert. Durch ihn soll die Bundesregierung darauf
ist, deren Schicksal unsere Bundeswehr im Ausland we- festgelegt werden, dass sie sich insbesondere dann, wenn
sentlich beeinflusst, wenn nicht sogar begründet hat, wie die Bundeswehr Gefangene im Ausland macht und an
ich schon ausgeführt habe. Es geht also nicht an, dass Drittstaaten übergibt, auch daran hält. In diesem Sinne
wir nach außen einen hohen Maßstab bei Menschenrech- unterstützen wir den FDP-Antrag ganz klar.
ten und Rechtsstaatlichkeit setzen und sogar predigen
– das meine ich in sehr positivem Sinne – und uns beim (Beifall bei der LINKEN und der FDP)
Einsatz deutscher Soldaten im Ausland genau dieser Allerdings geht uns dieser Antrag nicht weit genug.
Verantwortung entziehen.
(Beifall bei der FDP) 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5409
Michael Leutert
(A) (Zuruf von der SPD: Habe ich mir doch ge- Ein Letztes. Auch in den vorangegangenen Tagesord- (C)
dacht, dass da noch etwas kommt!) nungspunkten wurde oft über Geld gesprochen. Die
Mehrheit dieses Bundestages hat in den letzten acht Ta-
Ich möchte auch erklären, warum. Wir haben uns in die- gen Auslandseinsätze der Bundeswehr beschlossen, die
sem Hause ja schon sehr oft darüber unterhalten, wie Kosten in Höhe von 640 Millionen Euro – das ist die of-
sich deutsche Behörden, insbesondere Geheimdienste, fizielle Zahl – mit sich bringen. Wenn wir Auslandsein-
im Ausland verhalten. Wir haben darüber diskutiert, dass sätze in solch einer finanziellen Größenordnung be-
Geheimdienstmitarbeiter in Guantanamo Gefangene ver- schließen, dann sollten wir erst recht darauf achten, dass
hören, einem Lager, in dem die Menschenrechte nicht so menschenrechtliche Grundstandards dort eingehalten
groß geschrieben werden, wie es eigentlich sein sollte. werden, wo unsere Soldaten aktiv sind.
Damit sind wir wieder bei unseren amerikanischen Eine Bemerkung kann ich mir hier nicht verkneifen.
Freunden. An dieser Stelle kann man von ihnen wieder Bei den letzten Tagesordnungspunkten wurde immer
einmal ganz klar die sofortige Schließung von Guanta- wieder von den leeren Kassen gesprochen. Gleichzeitig
namo fordern. beschließen wir aber Auslandseinsätze in einer Größen-
ordnung von 640 Millionen Euro. Ein solches Verhalten
(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie führt das Argument der leeren Kassen ad absurdum.
des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]) Danke.

Mit dieser Forderung ist allerdings eine gewisse Ambi- (Beifall bei der LINKEN – Volker Beck
valenz verbunden: Während Guantanamo im Fokus der [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zy-
Öffentlichkeit steht – wir wissen wenigstens einigerma- nisch!)
ßen, was da abläuft –, wissen wir nicht, was in den vie-
len nicht öffentlichen Guantanamos stattfindet. Es bleibt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zu befürchten, dass diese nicht öffentlichen Guantana- Nun hat das Wort der Kollege Johannes Jung für die
mos auch nach Schließung von Guantanamo bestehen SPD-Fraktion.
bleiben.
(Beifall bei der SPD)
Auf alle Fälle bleibt festzuhalten: In Guantanamo op-
fert Amerika unter strategischen Gesichtspunkten Men- Johannes Jung (Karlsruhe) (SPD):
schenrechte. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
ist: Wie handelt unsere Regierung? Da möchte ich an Herren! Dieser Antrag der Kollegen von der FDP gilt ei-
(B) Usbekistan erinnern; darüber haben wir hier schon ge- nem ernsten Thema und hat ein berechtigtes Anliegen (D)
sprochen. Das Regime in Usbekistan ist eines der grau- zum Inhalt. Ganz gewiss müssen und wollen wir sicher-
samsten auf der Welt. Ich kenne kein anderes Land, in stellen, dass von deutschen Sicherheitskräften im Aus-
dem über 800 Personen bei einer Demonstration über land festgenommene und den dortigen Behörden über-
den Haufen geschossen wurden. Deutschland opfert stellte Personen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen
auch dort unter strategischen Gesichtspunkten Men- behandelt werden.
schenrechte,
Auch in dieser Legislaturperiode wurde vom Bundes-
(Beifall bei der LINKEN) tag, von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregie-
rung mehrfach die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in
nämlich indem wir dort den Militärflughafen Termes be- der internationalen Politik im Allgemeinen und im Spe-
treiben und dieses Jahr auch noch 19 Millionen Euro ziellen bei der Bekämpfung des internationalen Terroris-
Wirtschaftshilfe unter dem Deckmantel der Entwick- mus betont. Ich erinnere hier gern und auch aus aktuel-
lungszusammenarbeit leisten. Ich halte dies, ehrlich ge- lem Anlass an den Beschluss des Bundestages vom
sagt, für einen Skandal. 26. Januar dieses Jahres. Darin heißt es kurz und bündig
unter Punkt 3:
Jetzt ist die Frage, wie wir unsere Regierung, die un-
gefähr das Gleiche wie die amerikanische Regierung Der Deutsche Bundestag bekräftigt nochmals seine
macht, indem sie Menschenrechte unter strategischen grundsätzliche Auffassung zur Einhaltung der
Gesichtspunkten opfert, darauf verpflichten, dass sie bei grundlegenden Menschenrechte und Grundfreihei-
der Übergabe von Gefangenen an Drittstaaten auf Men- ten von Gefangenen, wie er sie bereits zum Aus-
schenrechte achtet. Angesichts dessen geht, wie ich druck gebracht hat.
denke, der Antrag nicht weit genug, weil er das Parla-
Dies ist übrigens eine Passage aus dem Beschluss des
ment letztendlich wieder außen vor lässt. Er müsste um
Bundestages zu Guantanamo, gilt also der gegenwärti-
die Forderung ergänzt werden, dass die Bundesregierung
gen US-Administration und nicht einem labilen Über-
einen monatlichen Bericht darüber abgibt, wann wer
gangsregime im einem Failing State. Das macht diesen
verhaftet und an welchen Drittstaat übergeben wurde.
Beschluss in meinen Augen noch gewichtiger.
Das müsste als laufender Bericht gestaltet werden, so-
dass wir nachvollziehen können, wo sich die Betroffe- Er hat leider keineswegs an Aktualität eingebüßt;
nen in Gefangenschaft befinden und was mit ihnen in denn in den USA hat gestern nach dem Repräsentanten-
Gefangenschaft passiert ist. Zumindest diese Ergänzung haus auch der Senat das neue Antiterrorgesetz gebilligt.
werden wir in die laufenden Beratungen einbringen. Wir alle wissen, dass damit die so genannten alternativen
5410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Johannes Jung (Karlsruhe)


(A) Verhörmethoden und das gesamte staatliche Antirechts- wird insbesondere dann politisch bedeutsam, wenn (C)
staatsprogramm von Guantanamo formal legalisiert wer- wie in jüngster Zeit der Verdacht entsteht, dass Ver-
den soll. Das ist ungeheuerlich und wird von der ameri- dächtige im Rahmen des weltweiten Kampfes ge-
kanischen Bürgerrechtsunion zu Recht als drastischer gen den Terror in geheimen Gefängnissen inhaf-
Rückschrift für die Menschenrechte scharf kritisiert. tiert, unter Einsatz von Folter verhört und einem
rechtsstaatlichen Verfahren vorenthalten werden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP,
der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Dann fordern Sie noch, die Bundesrepublik solle sich
GRÜNEN) vergewissern, dass sie mit ihren eigenen Handlungen
keinen Beitrag zu solchen Vorgängen leiste.
Hoffnung gibt mir einzig der Anlass, der hinter diesen
gesetzgeberischen Maßnahmen steckt. So war es nach Was soll das in einem Antrag, der ernst genommen
einer Serie von Gerichtsurteilen letztlich der Oberste Ge- werden soll? Das ist Politik als Suggestion und Sie sug-
richtshof der USA, der die bisherige Praxis der militäri- gerieren hier eine Komplizenschaft, die es nicht gibt.
schen Sondertribunale für rechtswidrig erklärt hat. (Zuruf von der FDP: Nein!)
Wer sich die Mühe macht – damit komme ich konkret Die SPD hat als Regierungspartei bewiesen, dass sie
zum Antrag der Fraktion der FDP – und ein bisschen in diese Praxis nicht unterstützt.
den Bundestagsdrucksachen stöbert, stellt fest, dass die
FDP immer wieder um das heutige Thema kreist. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
FDP-Fraktion erhält auch immer wieder geduldig Ant- Unser Beitrag dient der Rechtsstaatlichkeit und den
worten auf allerlei Anfragen, die sie zu diesem Thema Menschenrechten. Dies gilt auch und besonders bei Mi-
stellt. Allerdings ist in Ihren Beiträgen keine inhaltliche litäreinsätzen. Ich fürchte, in Ihrem Antrag kommt nicht
Weiterentwicklung erkennbar. Sie stagnieren und wie- die ehrliche Sorge um die Menschenrechte zum Aus-
derholen sich. druck. Nein, hier obsiegt die kleinliche, taktische Ab-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – sicht.
Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Weil sich (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das können die
bei der Regierung nichts geändert hat!) Bürger Gott sei Dank besser beurteilen!)
Das legt den Schluss nahe, dass Sie das Thema taktisch Ihr Antrag wird der komplizierten internationalen
und nicht inhaltlich bearbeiten. Das ist sehr bedauerlich. Rechtslage nicht gerecht. Als Beispiel seien die rules of
Ich bitte Sie deshalb herzlich, diese geduldigen Antwor- engagement bei UN-Einsätzen genannt. Ihr Antrag
ten, die Sie immer wieder erhalten, auch einmal zur macht Andeutungen, die nicht belegt werden. Als Bei-
(B) Kenntnis zu nehmen und intellektuell zu verarbeiten. (D)
spiel sei die angebliche Unwirksamkeit diplomatischer
Das spart so manchen Antrag. Zusagen genannt. Ihr Antrag hilft mit sechs Einzelforde-
rungen am Ende und der Generalforderung – sie steht
Das, was sich die FDP heute in diesem Antrag über allem –, alles müsse noch verbindlicher werden als
wünscht, ist durch das Völkerrecht, durch zwischenstaat- bisher, niemandem über den Status quo hinaus weiter.
liche Vereinbarungen und durch die UN-Mandatierun-
gen bei Einsätzen längst abgedeckt. Kurzum: Ihr Antrag verbessert nichts. Deshalb emp-
fehlen wir, diesen Antrag nach Überweisung abzuleh-
(Zuruf von der FDP) nen.
– Ich komme gleich auf die Fälle. – Dort, wo Sie Pro- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
bleme in der Operationalisierung guter Absichten sehen
– die haben wir natürlich –, liefern Sie selbst keinen ein- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
zigen Verbesserungsvorschlag. Ihre Generalforderung, Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das
bestehende verbindliche Regelungen noch verbindli- war eine gute Begründung!)
cher zu machen, ist weder geistreich noch hilfreich. Hin-
sichtlich der praktischen Fragen im konkreten Einsatz- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
fall hätte Ihnen vielleicht auch die Antwort der Ich erteile nun dem Kollegen Volker Beck das Wort
Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Linke weitergeholfen. Dort wird am Beispiel von ISAF
in Afghanistan Wesentliches dazu erläutert. Schauen Sie Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sich bitte auch diese Antwort einmal an. Meine Damen und Herren! Das Anliegen der Antrag-
Ihr Antrag ist aus meiner Sicht nicht nur sachlich un- steller, dass bei der Behandlung von Gefangenen, die
genügend, er ist auch politisch durchsichtig; denn Sie von der Bundeswehr im Ausland gemacht werden, die
unternehmen damit den untauglichen Versuch, aus Ver- Menschenrechtsstandards eingehalten werden, teilen wir
dächtigungen gegenüber der Bundesregierung und staat- selbstverständlich. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir
lichem Handeln im Allgemeinen taktisch Kapital zu uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig. Selbstver-
schlagen. Ich zitiere aus Ihrem Antrag: ständlich ist auch die Bundeswehr bei ihren Auslands-
einsätzen an Recht und Gesetz gebunden.
Diese Frage
Die UN-Charta, die Menschenrechtsstandards des Euro-
– also die Frage der rechtsstaatskonformen Behandlung – parates und das Grundgesetz verhindern aus unserer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5411
Volker Beck (Köln)
(A) Sicht bereits jetzt die Übergabe von Gefangenen an an- das Schweigen der Waffen durchgesetzt – ist das zy- (C)
dere Staaten, wenn damit zu rechnen ist, dass ihre nisch.
Grundrechte geschmälert werden. Dies ist heute gelten-
Noch zynischer klingen diese Worte, wenn man sich
des Recht und ist eine Selbstverständlichkeit. Auch die
die Situation im Sudan – wir waren doch gemeinsam
Bundeswehr muss sich an den hohen Maßstäben des
dort – anschaut. Es besteht nicht das Problem, dass wir
Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Wahrung
zu viel tun, um den Friedensprozess mit dem Südsudan
der Rechte überstellter Personen messen lassen.
abzusichern. Es besteht vielmehr das Problem, dass wir
Der Antrag weist auf ein reales Problem hin. Dieses zu wenig tun oder zumindest nicht die Bereitschaft er-
Problem ist nicht in fehlenden rechtlichen Übereinkom- klärt haben, mehr zu tun, um den Völkermord in Darfur
men begründet, sondern es hat mit der Frage zu tun: Wie zu beenden.
wird praktisch überprüft, dass sich die Vertragsparteien, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
mit denen wir gegebenenfalls im Rahmen des Gefange- bei der CDU/CSU und der SPD)
nenaustausches zusammenarbeiten, tatsächlich an die
von ihnen zugesicherten Standards halten? Da kommt es Auch wenn das noch ein paar 100 Millionen kostet:
nicht so sehr, wie es in Ihrem Antrag suggeriert wird, auf Diese Millionen zahlen wir gern, um einen Genozid zu
die Frage an, ob es sich um eine diplomatische Zusiche- stoppen. Deshalb muss ich sagen: Dieses Argument soll-
rung oder um völkerrechtliche Übereinkommen handelt. ten Sie besser zurückziehen. Das war der Sache nicht an-
gemessen.
Im Übrigen rate ich beim Thema völkerrechtliche
Übereinkommen dazu, die Länder, die dies noch nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gemacht haben, zu bewegen, die entsprechenden Kon- und bei der SPD – Hartwig Fischer [Göttin-
ventionen des Europarates zu unterzeichnen. Diese gen] [CDU/CSU]: Herr Beck, er weiß es ja
gibt es nicht nur für die Mitglieder des Europarates, son- auch besser! Das ist das Traurige!)
dern sie können auch von anderen Staaten unterschrie-
ben werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Das Problem liegt darin, dass wir nicht wirklich über-
prüfen, was mit den Gefangenen geschieht, die wir über- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
stellt haben. Ich glaube, wir sollten im Ausschuss im Drucksache 16/2096 an die in der Tagesordnung aufge-
Zuge der Diskussion über den Antrag – die Diskussion führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
hat nicht das Ziel, ihn zu beschließen – darüber reden, verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
wie das Monitoring von solchen Verfahren verbessert so beschlossen.
(B) werden kann. (D)
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Meine Idee in diesem Zusammenhang ist – sie muss Beratung des Antrags der Abgeordneten
nicht die einzige sein –, die Position des Menschen- Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Dr. Norman
rechtsbeauftragten der Bundesregierung zu stärken, Paech, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
indem wir ihn in die Lage versetzen, in Kooperation mit der LINKEN
dem Auswärtigen Amt und mit dem diplomatischen
Dienst vor Ort Nachforschungen anzustellen. Er kann 70. Jahrestag der Gründung der Internationa-
sich dafür einsetzen, dass die Gefangenen ordentlich be- len Brigaden in Spanien – Würdigung des
handelt werden, dass sie nicht verschwinden, dass sie Kampfes deutscher Freiwilliger an der Seite
nicht gefoltert werden und dass sie entweder als Kriegs- der Spanischen Republik für ein antifaschisti-
gefangene oder als Strafgefangene im Rahmen eines sches und demokratisches Europa
rechtsstaatlichen Verfahrens behandelt werden.
– Drucksache 16/2679 –
Man kann sicher auch andere Modelle entwickeln. Überweisungsvorschlag:
Aber man muss sich daranmachen, das Problem des Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Monitorings zu lösen. Man darf nicht glauben, man Rechtsausschuss
könne durch die Produktion von zusätzlichem Papier auf
internationaler Ebene etwas für die Menschenrechte tun. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Es geht darum, dass die Menschenrechte in diesem Be- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
reich gestärkt werden. Deshalb müssen wir zu einer Ver- Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
besserung der realen Situation kommen. höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Der Kollege Leutert hat den Betrag von einigen Kollegen Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
100 Millionen Euro erwähnt, den wir für Auslandsein-
sätze ausgeben. Er spricht davon, dass dies zeigt, wie (Beifall bei der LINKEN)
verkehrt unsere Politik sei, weil für andere Dinge kein
Geld da sei. Angesichts der Situation im Libanon und in Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Israel – dort haben die Vereinten Nationen, militärisch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
unterstützt durch die internationale Staatengemeinschaft, Für den deutschen Faschismus war Spanien vor
5412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Wolfgang Gehrcke
(A) 70 Jahren der Probelauf für einen barbarischen Krieg, schichte dieses vereinten Deutschlands, auch anders zu (C)
mit dem er später ganz Europa überzog. Damals gab es schreiben.
zwei Gesichter Deutschlands. Es gab auch ein Deutsch-
(Beifall bei der LINKEN)
land, das Krieg und Faschismus aufhalten und abwenden
wollte. Mit den deutschen Freiwilligen in den Internatio- Ich bitte nicht gerne um irgendetwas; ich bitte schon
nalen Brigaden beschäftigt sich das deutsche Parlament gar nicht besonders gerne den Bundestag um irgendet-
heute zum ersten Mal seit seinem Bestehen im Plenum. was. Aber ich bitte Sie sehr, auch diesem anderen
Auch das ist leider sehr bezeichnend. Deutschland Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich
bitte Sie sehr darum, beizutragen, dass in einer anderen
Zwei Persönlichkeiten, die in Spanien ihr Leben für Art und Weise mit unserer Geschichte umgegangen
die Republik, die Freiheit und gegen den Faschismus wird. Und ich bitte auch sehr darum, dass wir in einer
eingesetzt haben, befinden sich heute auf der Zuschauer- neuen Art und Weise auf unsere Nachbarländer blicken,
tribüne unseres Parlamentes. Ich freue mich ausgespro- dass wir zur Kenntnis nehmen, was sich in Spanien unter
chen, dass Santiago Carrillo, der frühere Generalsekre- der Zapatero-Regierung und in Frankreich verändert hat.
tär der Kommunistischen Partei Spaniens, und Kurt
Goldstein, der Ehrenpräsident des Internationalen Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
Auschwitzkomitees, unserer Debatte beiwohnen. zum Schluss Willy Brandt zitieren. Willy Brandt
schrieb 1937, wie wichtig es sei, über den Spanischen
(Beifall im ganzen Hause) Bürgerkrieg aufzuklären. Wörtlich:
Auch das hat für das deutsche Parlament eine große Be- Gelingt uns das in genügendem Maße …, dann
deutung. wird Einheit einkehren, dann wird Hitler von der
Die Geschichte des deutschen Widerstandes gegen spanischen Krankheit nicht mehr genesen.
den Faschismus begann nicht erst mit dem Zweiten Sicherlich wäre mein Fraktionsvorsitzender Oskar
Weltkrieg. Die deutschen Freiwilligen im spanischen Lafontaine berufener als ich, Willy Brandt zu zitieren.
Bürgerkrieg waren Teil des antifaschistischen Wider-
standes Deutschlands. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass dieser Er steht in seiner Tradition; ich stehe nicht in der Tradi-
Teil des Widerstandes in die Erinnerungskultur aufge- tion.
nommen wird, dass er endlich wieder Gesicht und (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Stimme erhält. Unter den Interbrigadisten waren Kolle- Na, na! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Da ist die
gen von uns, Abgeordnete des Reichstages und des Bun- SPD ganz begeistert!)
(B) destages. Stellvertretend nenne ich Artur Becker, Fritz (D)
Kahmann, Peter Blachstein, Gustav Gundelach und Aber der Begriff der Einheit verbindet Oskar Lafontaine
Willy Brandt. Ich schlage vor, dass sich der Ältestenrat und mich in dieser Frage. Ich bitte Sie sehr, dass wir als
des Bundestages damit beschäftigt, ob nicht auch in die- Deutscher Bundestag deutlich machen: Geschichtlich
sem Parlament eine Ehrentafel an diejenigen Menschen hat Brandt über Hitler, hat Demokratie über den Faschis-
erinnern sollte, die ihr Leben gegen den Faschismus in mus gesiegt. Auch das haben wir heute zu verteidigen.
Spanien eingesetzt haben. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN und dem (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NIS 90/DIE GRÜNEN)
Es geht uns um das Gedenken, um das Denken, um
das Nachdenken. Wir Linken hinterfragen unsere eigene Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Geschichte kritisch. Es geht auch darum, die einseitige Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Manfred
Wahrnehmung des spanischen Bürgerkrieges zu kor- Grund, CDU/CSU-Fraktion.
rigieren. Sagen wir es einmal so: Die Republik West hat (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Die SPD
eine rechte Schlagseite. Es geht darum, dieses Über- hat auf ihren Redebeitrag verzichtet! –
bleibsel des Kalten Krieges zu korrigieren. Im spani- Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das
schen Bürgerkrieg hatte Deutschland zwei Gesichter: hat Willy Brandt nicht verdient! – Dr. Rainer
das der Legion Condor, die Guernica in Schutt und Stinner [FDP], zur SPD gewandt: Ihr seid
Asche legte, und das der Interbrigadisten, deren Heimat sprachlos! – Burkhardt Müller-Sönksen
vor Madrid war und die diese Heimat gegen den Faschis- [FDP]: Herr Grund, gleich die SPD mit vertei-
mus verteidigten. Für die einen gab es im Westen nach digen!)
1945 Renten; Straßen und Kasernen wurden nach ihnen
benannt. Über die Taten der anderen wurde geschwie-
Manfred Grund (CDU/CSU):
gen.
Es gibt Umarmungen, gegen die sich Willy Brandt
Heute bricht der Deutsche Bundestag dieses Schwei- nicht mehr wehren kann. – Frau Präsidentin! Meine sehr
gen. Damit setzt er auch ein Signal dafür, dass wir nach verehrten Damen und Herren! Bei der Vorbereitung auf
der Vereinigung nicht einfach Geschichte West fort- diesen Tagesordnungspunkt, bei der Wiederannäherung
schreiben und fortschreiben können, sondern dass wir an das Thema „Internationale Brigaden in Spanien“ ha-
den Mut haben sollen, eine andere Geschichte, die Ge- ben in der DDR sozialisierte Bundesbürger Bilder vor
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5413
Manfred Grund
(A) Augen, die noch von einer sehr einseitigen und verklä- rüstung durch die Sowjetunion zu einem außenpoliti- (C)
renden Geschichtsbetrachtung geprägt sind und die schen Werkzeug Stalins.
sich auch im Antrag der Linksfraktion wiederfinden, so
das Bild von den Antifaschisten aus der ganzen Welt, die (Widerspruch bei der LINKEN)
für die Rechte des spanischen Volkes und seiner demo-
In den Schützengräben Spaniens wiederholten sich die
kratisch gewählten Regierung unter dem Satz „Für eure
stalinistischen Säuberungen der Jahre 1937 und 1938.
und unsere Freiheit!“ kämpften.
Stalinisten klagten gegen so genannte Linksabweichler,
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig!) Anarchisten und Trotzkisten wegen Feigheit vor dem
Feind oder Abweichlertum. Nicht selten führte das am
Unter den deutschen Freiwilligen werden im Antrag Ende zur Exekution. Spionage und Personenüberwa-
unter anderem Hans Beimler und Willy Brandt nament- chungen waren an der Tagesordnung. In den Truppentei-
lich erwähnt. Zu beiden wäre etwas anzumerken, aber len arbeitete ein Netz von Agenten. Es wurden schwarze
auch zu den im Antrag nicht erwähnten Spanienkämp- Listen geführt.
fern Wilhelm Zaisser und Erich Mielke.
Für die Überwachung der deutschsprachigen Spani-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da sehen enkämpfer scheint zeitweilig Wilhelm Zaisser zuständig
Sie mal!) gewesen sein. Ein enger Mitarbeiter Zaissers war Erich
Denn der Antrag der Linken, Herr Kollege Gehrcke, ist Mielke. Beide avancierten später zu Staatssicherheitsmi-
Teil einer Legendenbildung, die sich der Deutsche Bun- nistern der DDR. Zaisser wurde beschuldigt, Anfang
destag in dieser Einseitigkeit nicht zu Eigen machen Dezember 1936 die Erschießung politisch unliebsamer
sollte. Personen veranlasst zu haben. Über Erich Mielke
schreibt Wolf Biermann in seiner „Ballade von den ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dorbenen Greisen“:
Das im Antrag gezeichnete Bild folgt dem in der Hey Mielke, du warst ein Spanienkämpfer?
DDR gepflegten Erbe der Spanienkämpfer, freilich auch Ich glaube dir nichts, du warst privilegiert
in der charakteristischen Einseitigkeit, durch die sich Wir wissen, du hast die Trotzkisten und andre
kommunistische Historiengemälde auszeichnen. Die Genossen feig hinter der Front liquidiert
Rolle der Kommunisten wird im Stil einer Heiligenle-
gende geschildert, politisch unliebsame Einzelpersonen Willy Brandt – er wurde bereits erwähnt –, der sich
oder Ereignisse werden totgeschwiegen und ausgeblen- zeitweilig als Vertreter der linkssozialistischen SAP in
det. Barcelona aufgehalten hatte, entging der im Früh-
(B) jahr 1937 einsetzenden Verhaftungswelle dadurch, dass (D)
Die Internationalen Brigaden waren von der Komin- er Spanien rechtzeitig verließ.
tern rekrutierte und ausgebildete Freiwilligenverbände,
die im spanischen Bürgerkrieg an der Seite der gewähl- Am nördlichen Stadtrand von Madrid fiel bei der In-
ten spanischen Regierung gegen die von Franco ange- spektion eines Frontabschnitts der bei den einfachen deut-
führten aufständischen Verbände kämpften. schen Interbrigadisten beliebte, von der offiziellen KPD-
Führung aber beargwöhnte Politkommissar Hans
(Widerspruch bei der LINKEN – Volker
Beimler. Bis heute ist unklar, ob Hans Beimler einer sta-
Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Die
linistischen Säuberung zum Opfer gefallen ist. Eine Ver-
einen sind die gewählte Regierung, die ande-
traute Beimlers sprach von einem Mord seitens des
ren die Aufständischen! – Weitere Zurufe von
sowjetischen Geheimdienstes GPU. Das Kapitel der Ge-
der LINKEN)
nossenmorde wurde und wird bis heute – auch in Ihrem
– Es waren Freiwillige, die im Auftrag der spanischen Antrag – verschwiegen.
Regierung gegen die von Franco geführten aufständi-
schen Verbände gekämpft haben. Was ist daran falsch, Es ist die Einseitigkeit des Geschichtsbildes, die eine
Kollege Ramelow? parlamentarische Auseinandersetzung mit dem Antrag
der Linksfraktion erschwert. Nichtsdestotrotz wird in
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: War das den Ausschussberatungen über den geschichtlichen
nicht ein Militärputsch?) Kontext zu reden sein. Das, was tatsächlich angemessen
herausgestellt werden muss, wird zu würdigen sein.
Mehr als die Hälfte der insgesamt circa 40 000 Inter-
brigadisten kam im Zuge der Kampfhandlungen ums Le- Vielen Dank.
ben. Viele kamen im Zuge der stalinistischen Säube-
rungen ums Leben; denn ein sehr dunkles Kapitel der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Interbrigaden sind die stalinistischen Säuberungen, bei FDP – Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Das ist
denen die Internationalen Brigaden Opfer und Täter wa- doch genauso einseitig, wie die Legion Condor
ren. einfach wegzulassen!)

Zu Anfang waren die Interbrigaden noch eine Samm-


lung von Antifaschisten unterschiedlicher politischer Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
und religiöser Einstellungen. Mit der Zeit wurden sie Das Wort hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner für
aber durch materielle und vor allem ideologische Auf- die FDP-Fraktion.
5414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

(A) Dr. Rainer Stinner (FDP): Forderungen. Diesem Dilemma stehen Sie hier in der (C)
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Bundesrepublik Deutschland gegenüber.
legen! Ich bin der Fraktion Die Linke für diesen Antrag (Widerspruch bei der LINKEN)
sehr dankbar; denn dieser Antrag zeigt in aller Deutlich-
keit, mit welcher Heuchelei, Unseriosität und Doppel- Sie sind sehr gut darin, populistische Forderungen zu
züngigkeit sie hier im Deutschen Bundestag ihre Politik stellen. In der Realität sind Sie jedenfalls nicht ange-
betreibt. kommen. Das müssen wir hier sehr deutlich sagen. Rea-
listisch umsetzbare Strategien haben Sie nicht.
Die Fraktion Die Linke fordert uns in ihrem Antrag
auf, den Einsatz deutscher Freiwilliger im spanischen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bürgerkrieg zu würdigen – das erstaunt –; denn das,
Herr Kollege gestatten Sie eine Zwischenfrage des
was vor 70 Jahren – ich zitiere – „ein wichtiger Beitrag
Kollegen Gehrcke?
im Kampf für die Verteidigung demokratischer Werte“
war, bezeichnet die gleiche Fraktion heutzutage als Ter-
rorismus. Dr. Rainer Stinner (FDP):
Nein.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
ist unverschämt!) Oskar Lafontaine – da oben sitzt er – hat in seiner
Rede hier definiert: Terrorismus ist das Töten von Men-
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, schen zum Erreichen politischer Ziele. Herr Gehrcke,
Sie müssen sich entscheiden: Sind kriegerische Mittel das ist die Definition von Oskar Lafontaine hier im
grundsätzlich nicht erlaubt oder nur selektiv? Deutschen Bundestag.
(Zurufe von der LINKEN) (Zuruf von der LINKEN: Sie haben das „un-
schuldige“ weggelassen! Sie haben falsch zi-
Wenn Sie militärische Einsätze im Deutschen Bun- tiert!)
destag grundsätzlich ablehnen, dann muss das auch für
die Vergangenheit gelten. Oder Sie geben zu, dass es – Sie definieren das so. Wenn Sie dazu wenigstens ste-
sinnvolle militärische Einsätze gibt und weniger sinn- hen würden. Das wäre ja in Ordnung. Sie lehnen hier
volle. Diese Diskussion können Sie auch durch Zwi- doch jeden militärischen Einsatz ab. Für Sie gibt es heut-
schenrufe und noch so große Erregung nicht vom Tisch zutage keinen sinnvollen militärischen Einsatz. Aber vor
wischen. Dieser Diskussion müssen Sie sich stellen. 70 Jahren in der goldenen Vergangenheit gab es ihn Ihrer
Meinung nach. Das ist unaufrichtig. Das müssen wir hier
Sie argumentieren heute im Gegensatz zu gestern und sehr deutlich sagen.
letzter Woche völlig anders; das passt hinten und vorne
(B)
nicht zusammen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie end- Sie sind heutzutage zu keiner Abwägung bereit. Wir (D)
lich einmal eine kohärente Politik betreiben. stehen bei jedem einzelnen Einsatz vor einer schwieri-
gen Gewissensfrage. Wir wägen alles ab. Manchmal
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stimmen wir zu und manchmal eben nicht. Zu dieser
grundsätzlich realitätsbezogenen Politik sind Sie nicht
Gregor Gysi hat am 19. September dieses Jahres an bereit.
dieser Stelle gesagt:
Ich persönlich, obwohl ich die Meinung von Pazifis-
Krieg ist eine Höchstform von Terror und mittels ten nicht teile, habe großen Respekt vor wirklichen Pazi-
Terror kann man Terror nicht wirksam bekämpfen. fisten, gerade deshalb, weil es eine sehr hochmoralische
Das Protokoll vermerkt anschließend Beifall bei Ihnen. Position ist, die so wahnsinnig schwierig in der Realität
Sie haben geklatscht. Heute sollten Sie zu diesem Beifall durchzuhalten ist, was Pazifisten immer wieder merken.
stehen. Ist Krieg immer Terror? Dann gilt das natürlich Diese Position teile ich nicht; aber ich respektiere sie.
auch für den Krieg von damals, den Sie befürworten. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wann sagen
Das müssen Sie sich klar machen. Sie etwas zum Antrag?)
(Widerspruch bei der LINKEN) Ihre Position kann ich jedoch nicht respektieren und Ihre
Partei auch nicht. Sie bedienen sich im Pazifismus wie in
Sie müssen sich entscheiden. Ich weiß, dass Ihnen das
einem Gemischtwarenladen.
nicht gefallen kann. Das ist völlig klar. Wenn zwischen
Ihren Argumenten der letzten Tage und denen von heute (Widerspruch bei der LINKEN)
eine solch große Diskrepanz herrscht, dann kann Ihnen
– Das kann Ihnen nicht gefallen; das finde ich gut. Ich
das nicht gefallen. Das würde auch mir nicht gefallen.
bin Ihnen dankbar und freue mich über Ihre Resonanz.
Wenn ich mir die Reden der Kollegin Knoche von ges- Herzlichen Dank. Machen Sie so weiter! Ich freue mich
tern und letzter Woche zum Afghanistaneinsatz vor Au- darüber. Danke schön.
gen führe, komme ich zu dem Ergebnis, dass Ihre Frak-
Ihre Widersprüchlichkeit können Sie so nicht weiter
tion vor 70 Jahren, wenn es sie damals schon gegeben
im Deutschen Bundestag betreiben. Sie wird Tag für Tag
hätte, den sofortigen Abzug aller freiwilligen Truppen
deutlicher. Ein vielleicht nicht einmal schlechtes Anlie-
hätte fordern müssen. Sie hätten Rechtsstaatsbildung,
gen wird so durch die, die es hier vertreten, völlig kom-
Wirtschaftshilfe und die Beachtung von Menschenrech-
promittiert. Wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen.
ten fordern müssen, natürlich – wie immer bei Ihnen –
ohne jede konkrete Möglichkeit zur Verwirklichung der Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5415
Dr. Rainer Stinner
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- damit sie endlich selbstständig handeln können und das (C)
ruf von der LINKEN: Das wundert mich über- Handeln nicht an die Mächtigen übertragen müssen? Wir
haupt nicht!) müssen die Vereinten Nationen handlungsfähig machen,
weil Gewalt als Mittel der Politik ausscheidet. Über
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: diese Fragen müssen wir uns verständigen, wenn wir
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun Herr Kol- nicht immer wieder in Militäreinsätze geraten wollen.
lege Gehrcke. (Beifall bei der LINKEN)
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Jetzt
machen Sie es nicht noch schlimmer!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Stinner.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Es gibt ja immer noch Steigerungsmöglichkeiten. Dr. Rainer Stinner (FDP):
Herr Gehrcke, Sie haben sicherlich zur Kenntnis ge-
Ich finde, dass Herr Stinner einen Anspruch darauf
nommen – zumindest hoffe ich das –, dass ich die Moti-
hat, relativ rasch eine Reaktion auf seine Rede zu erhal-
vation derjenigen, die damals nach Spanien gegangen
ten.
sind, in meiner Rede in keiner Weise angezweifelt bzw.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dass ich diese Personen nicht diskreditiert habe. Ich re-
spektiere ihre Motivationslage völlig.
Seine Argumente waren ja zu erwarten.
Meine Argumentation allerdings gründet auf den Er-
Ich bitte Sie darum, mit mir gemeinsam über Folgen-
fahrungen vom September des Jahres 2006. Denn auch
des nachzudenken: Warum sind diese Freiwilligen nach
heute, sehr geehrter Herr Gehrcke, müssen wir wichtige
Spanien gegangen? Die ganzen geschichtlichen Bemer-
Abwägungen vornehmen. Die Frau Kollegin Knoche
kungen – ich weiche denen nicht aus – machen das Op-
war dabei – vielleicht waren noch einige andere von Ih-
fer, das sie gebracht haben, und ihre Entschlossenheit,
nen anwesend –, als 20 afghanische Parlamentarierinnen
Herr Grund, noch viel größer. Sie waren in einer ge-
uns deutschen Parlamentariern auf unglaublich ein-
schichtlich schwierigen Situation. Sie mussten sich ent-
drucksvolle Art und Weise die folgenden zwei Botschaf-
scheiden. Sie sind nach Spanien gegangen, um die De-
ten auf den Weg gegeben haben: Bleibt auf jeden Fall in
mokratie gegen den Faschismus zu verteidigen.
Afghanistan, geht aber um Gottes willen anders als bis-
(Beifall bei der LINKEN) her vor! Auch die Kollegin Knoche hat das gehört. Den-
noch hielt sie nur wenige Tage später hier im Bundestag
(B) Es waren Freiwillige, die nach Spanien gegangen eine Nullachtfünfzehn-Wischiwaschi-Rede. (D)
sind. Sie haben sich entschieden, mit der Waffe – auch
das darf nicht verschwiegen werden – zu kämpfen. Lieber Kollege Gehrcke, wir müssen auch diese deut-
lichen Botschaften vom September 2006 berücksichti-
Jetzt komme ich auf die Unterschiede zu heute zu gen. Sie können doch nicht nur die Botschaften der
sprechen. Ein Argument unserer Fraktion – das können Jahre 1936 bis 1939, sondern Sie müssen auch die Bot-
wir beweisen – lautet, dass zwar immer mehr Militärein- schaften des heutigen Tages zur Kenntnis nehmen.
sätze mit dem Einsatz für die Menschenrechte begründet Durch meine Argumentation habe ich den Spanienkämp-
werden, dass aber tatsächlich Öl, Erdgas oder andere In- fern in keiner Weise den Respekt versagt; das würde ich
teressen im Mittelpunkt stehen. niemals tun. Ich habe lediglich auf die aktuelle Situation
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar abgestellt und nachgewiesen, dass Ihre heutige Diskus-
Enkelmann [DIE LINKE]: Genau! Das hat sionsgrundlage und Ihre heutige Politik völlig wider-
selbst der Verteidigungsminister gesagt!) sprüchlich sind. Das wird hier wieder einmal deutlich.
Darüber hinaus geht es heutzutage – das lässt sich an (Beifall bei der FDP)
vielen Beispielen belegen – um den Einsatz von Ar-
meen, nicht um das Engagement von Freiwilligen. Zu- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dem muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Zeit eine Das Wort zu einer persönlichen Erklärung erteile ich
andere geworden ist. Beispielsweise bin ich heute fest nun der Kollegin Knoche.
davon überzeugt – das gilt für die Linke insgesamt als
Paradigmenwechsel; das gebe ich zu –, dass politische
Monika Knoche (DIE LINKE):
Probleme nicht mit Gewalt und Bürgerkrieg zu lösen
sind. Eine kurze Erwiderung, Herr Stinner: Es ist nahezu
unverschämt, was Sie sich hier erlauben. Sie selbst sind,
(Beifall bei der LINKEN) als wir die Gespräche mit den Frauen aus Afghanistan
geführt haben, vorzeitig gegangen. In den Gesprächen,
Einer Debatte gehen Sie immer aus dem Weg: Wir
die wir später intern unter Frauen weitergeführt haben,
brauchen andere Regulierungsmechanismen. Daher frage
wurde deutlich, dass die Frauen aus Afghanistan große
ich: Warum eigentlich werden die Vereinten Nationen
Klage führen und den fortdauernden militärischen An-
nicht mit einer ständigen, unter dem Kommando ihres
griff sowie insbesondere die Operation im Süden des
Generalsekretärs stehenden Polizeitruppe ausgerüstet,
Landes – dort ist übrigens die Frauenbeauftragte zu Tode
(Beifall bei der LINKEN) gekommen – eindeutig verurteilen. Wie kommen Sie
5416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

Monika Knoche
(A) dazu, mir Unredlichkeit zu unterstellen? Ihr Verhalten finde ich das Anliegen der Linkspartei, dass wir Deut- (C)
als Parlamentarier ist ungeheuerlich. sche und wir als Deutscher Bundestag der Menschen, die
damals für Europa, für die Demokratie gestritten haben,
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Rainer Stinner
gedenken, erst einmal richtig; das will ich an dieser
[FDP]: Das stimmt nicht! Da hat sie gelogen!
Stelle ausdrücklich sagen. Dieses Grundanliegen sollten
Ich war bei den Gesprächen vom Anfang bis
wir ernst nehmen und unterstützen.
zum Ende dabei! – Hartwig Fischer [Göttin-
gen] [CDU/CSU]: Eine vollkommene Falsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
darstellung! Das ist unglaublich!) und bei der LINKEN)
Dazu gehört aber die Betrachtung der ganzen Ge-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schichte, nicht nur der Beteiligung Deutscher an faschis-
Eine Erwiderung auf eine persönliche Erklärung im tischen Verbrechen wie in Guernica. Dazu gehört ebenso
Plenum ist nicht üblich. die Feststellung: Ja, diejenigen, die als Freiwillige dort
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Darf ich dann auch gekämpft haben, waren nicht alle Demokraten und
eine persönliche Erklärung abgeben?) nicht immer ist dieser Kampf für die Demokratie mit de-
mokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln geführt wor-
– Wenn auch Sie in einigen Sätzen eine persönliche Er- den. Das müssen wir mit aufarbeiten, wenn wir geden-
klärung abgeben wollen, dann gebe ich Ihnen gerne das ken wollen. Es gibt durchaus Geschichtswissenschaftler,
Wort, aber wirklich nur zu einer persönlichen Erklärung. die sagen, dass die Schwächung der republikanischen
Kräfte vor Madrid viel damit zu tun hat, dass innerhalb
Dr. Rainer Stinner (FDP): dieser Brigaden durch die von der Komintern verwende-
Frau Kollegin Knoche, Sie haben die Unwahrheit ge- ten Methoden des Stalinismus die Kräfte des Kampfes
sagt. Ich habe die Sitzung mit den afghanischen Parla- für die Demokratie, diese Stadt zu halten, geschwächt
mentarierinnen im Verteidigungsausschuss persönlich wurden.
geleitet. Ich war bei dieser Sitzung von der ersten bis zur
Deswegen rate ich uns allen: Versuchen wir, in dieser
letzten Sekunde anwesend.
Situation den Respekt vor denjenigen, die da für die De-
Vielen Dank. mokratie, für Europa gekämpft haben, zu verknüpfen mit
einer Betrachtung der Geschichte, die auch die grauen
(Beifall bei der FDP – Hartwig Fischer [Göt- und die schwarzen Seiten dieses Kampfes für die Demo-
tingen] [CDU/CSU]: Tja, so ist das mit der kratie erhellt und aufzeigt. Ich denke, in diesem Sinne
Wahrheit! Das ist das Problem von Teilwahr- können wir deutschen Parlamentarier, wie in diesem An-
(B) nehmung!) trag gefordert, derjenigen, die für die Demokratie dort (D)
gestorben sind, ernsthaft gedenken.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Sie werden im Ausschuss Gelegenheit haben, diesen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Dialog und die weiteren Gespräche fortzusetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Ich erteile nun das Wort als letztem Redner in dieser bei der FDP und der LINKEN)
Debatte dem Kollegen Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis
90/Die Grünen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe nun die Aussprache.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei al- Drucksache 16/2679 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
lem Respekt vor den Argumenten aller Seiten muss ich ten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung ab-
sagen: Ich weiß nicht, ob wir denjenigen, die damals als weichend von der Tagesordnung beim Auswärtigen Aus-
Europäer – das sollten wir uns klar machen – versucht schuss liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
haben, den Putsch eines Militärs gegen eine demokra- sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
tisch gewählte Regierung zu verhindern, mit dieser Form schlossen.
der Debatte gerecht werden.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
und bei der LINKEN)
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Ich sage das mit allem Nachdruck, weil wir uns in der al- destages auf Mittwoch, den 18. Oktober, 13 Uhr, ein.
ten Bundesrepublik Deutschland lange schwer damit ge-
tan haben, mit diesem Teil der Geschichte umzugehen, Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und eine
wie die Debatten über das Jagdgeschwader, das nach angenehme sitzungsfreie Zeit.
Herrn Mölders benannt war, und über die Legion Condor Die Sitzung ist geschlossen.
zeigen. Bis in die jüngste Vergangenheit haben wir ver-
sucht, dieses ein ganzes Stück aufzuarbeiten. Deswegen (Schluss: 14.34 Uhr)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5417

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Addicks, Karl FDP 29.09.2006 Pau, Petra DIE LINKE 29.09.2006

Annen, Niels SPD 29.09.2006 Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 29.09.2006

Bär, Dorothee CDU/CSU 29.09.2006 Pflug, Johannes SPD 29.09.2006

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 29.09.2006 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 29.09.2006


Marieluise DIE GRÜNEN
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 29.09.2006
Bellmann, Veronika CDU/CSU 29.09.2006
Schindler, Norbert CDU/CSU 29.09.2006*
Benneter, Klaus Uwe SPD 29.09.2006
Schummer, Uwe CDU/CSU 29.09.2006
Brunnhuber, Georg CDU/CSU 29.09.2006
Dr. Schwall-Düren, SPD 29.09.2006
Deittert, Hubert CDU/CSU 29.09.2006* Angelica

Faße, Annette SPD 29.09.2006 Seehofer, Horst CDU/CSU 29.09.2006

Freitag, Dagmar SPD 29.09.2006 Dr. Solms, Hermann FDP 29.09.2006


Otto
Gabriel, Sigmar SPD 29.09.2006
(B) Steinbach, Erika CDU/CSU 29.09.2006 (D)
Dr. Geisen, Edmund FDP 29.09.2006
Peter Toncar, Florian FDP 29.09.2006

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 29.09.2006 Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 29.09.2006

Groneberg, Gabriele SPD 29.09.2006 Weißgerber, Gunter SPD 29.09.2006

Haustein, Heinz-Peter FDP 29.09.2006 Dr. Wiefelspütz, Dieter SPD 29.09.2006

Heinen, Ursula CDU/CSU 29.09.2006 Wissmann, Matthias CDU/CSU 29.09.2006

Herrmann, Jürgen CDU/CSU 29.09.2006* Zapf, Uta SPD 29.09.2006

Heynemann, Bernd CDU/CSU 29.09.2006*


* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates
Hilsberg, Stephan SPD 29.09.2006 ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Ibrügger, Lothar SPD 29.09.2006

Jelpke, Ulla DIE LINKE 29.09.2006 Anlage 2


Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 29.09.2006 Zu Protokoll gegebene Rede

Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 29.09.2006** zur Beratung des Antrags: Rechtsstaatskon-
Karl forme Behandlung von Verhafteten nach der
Übergabe durch deutsche Stellen im Ausland si-
Meckel, Markus SPD 29.09.2006** cherstellen (Tagesordnungspunkt 33)

Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 29.09.2006 Ute Granold (CDU/CSU): Die Bundeswehr ist mitt-
lerweile in einer ganzen Reihe von Friedensmissionen in
Nešković, Wolfgang DIE LINKE 29.09.2006 vielen Teilen der Welt im Einsatz. So hat der Deutsche
5418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

(A) Bundestag zum Beispiel gestern die Fortsetzung der Be- gebilligten Operationsplänen ableiten, sehen allerdings (C)
teiligung deutscher Streitkräfte an den Friedensmissio- in der Tat auch eine Möglichkeit zur vorübergehenden
nen der Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) und in Festsetzung von Personen für maximal 96 Stunden vor.
Afghanistan beschlossen. Davon wird in der Regel Gebrauch gemacht, wenn von
diesen Personen eine unmittelbare Gefahr für die Sicher-
Der Antrag der FDP-Fraktion, den wir hier heute be- heit der Soldatinnen und Soldaten oder die Erfüllung ei-
raten, zielt auf die Frage ab, wie die Einhaltung der men- nes Auftrages ausgeht. Die Festgenommenen werden
schenrechtlichen Standards bei der Kooperation zwi- entweder unmittelbar nach Beendigung der Gefahren-
schen Angehörigen der Bundeswehr und nationalen lage oder spätestens nach Ablauf der Frist an die zustän-
Sicherheitsorganen in zu befriedenden Staaten im Rah- digen afghanischen Behörden übergeben.
men des Nation Buildings sichergestellt werden kann.
Daraus schließe ich, dass sie daran zweifeln, dass dies in Die Einsätze deutscher Streitkräfte richten sich bei die-
den Regionen, in denen sich deutsche Sicherheitskräfte sen vorübergehenden Festsetzungen von Personen nach
zurzeit engagieren, sichergestellt ist. den Vorgaben der einschlägigen Bundestagsmandate und
den völkerrechtlichen Grundlagen für den Einsatz. Men-
Lassen Sie mich am Beispiel Afghanistans zeigen, schenrechtliche Standards und die anwendbaren Bestim-
dass die Bundesregierung diesem Thema sehr wohl eine mungen des humanitären Völkerrechts werden dabei
sehr hohe Priorität zumisst. Deutsche Einsatzkräfte be- selbstverständlich stets beachtet.
wegen sich überall, also auch in Afghanistan, immer auf
dem Boden unserer Verfassung. Bereits damit vermitteln Einzelne NATO-Staaten haben nun, wie im vorlie-
sie – wie Sie dies auch fordern – menschenrechtliche genden FDP-Antrag auch für Deutschland gefordert, mit
Standards. der afghanischen Seite bilaterale Vereinbarungen zur
Übergabe festgehaltener Personen an die afghanischen
Der Aufbau örtlicher Sicherheitsbehörden in den Ein-
Behörden geschlossen.
satzgebieten der Bundeswehr liegt – soweit dieser Auf-
trag Teil des internationalen Engagements ist – im Im Rahmen der NATO wird derzeit an einer entspre-
Zuständigkeitsbereich ziviler internationaler Organisa- chenden Vereinbarung zwischen der NATO und der af-
tionen und ziviler nationaler Behörden. Die Bundeswehr ghanischen Regierung gearbeitet, die einen einheitlichen
ist nicht unmittelbar an solchen zivilen Aufbauarbeiten Rahmen schaffen soll für die Übergabe von durch ISAF
beteiligt. festgehaltene Personen an afghanische Behörden unter
In Afghanistan hat anlässlich der Petersberger Konfe- Wahrung der internationalen Rechtsstandards, insbeson-
renz Ende 2001 Deutschland die Führungsrolle beim dere des humanitären Völkerrechts.
Wiederaufbau der afghanischen Polizei übernommen. Eine gesonderte bilaterale Vereinbarung zwischen
(B) Die Koordinierung der Maßnahmen erfolgt in gemeinsa- Deutschland und Afghanistan ist vor diesem Hinter- (D)
mer Federführung durch das Bundesministerium des In- grund also nicht notwendig, da bereits an einer multilate-
nern und das Auswärtige Amt. Im Mittelpunkt unseres ralen Lösung gearbeitet wird.
Engagements standen und stehen der Aufbau und die
Ausstattung zentraler Einrichtungen von Innenministe- In die NATO-Vereinbarung mit Afghanistan sollen
rium und Polizei sowie der Aufbau und die Ausbildung insbesondere folgende Regelungen aufgenommen wer-
eines qualifizierten, professionellen, ethnisch ausgewo- den: festgehaltene und übergebene Personen sind nach
genen Polizeiwesens, das der Demokratie und den Men- den menschenrechtlichen Standards und den Maßgaben
schenrechten verpflichtet ist. des humanitären Völkerrechts zu behandeln. An den
übergebenen Personen werden keine körperlichen Stra-
Soweit Bundeswehrkräfte in die Ausbildung der af- fen (einschließlich der Todesstrafe) vollstreckt.
ghanischen militärischen Sicherheitskräfte eingebunden
sind, richten sich die Ausbildungsinhalte nach anwend- Der Transfer einer von einer ISAF-Truppenstellerna-
baren internationalen menschenrechtlichen Standards tion an Afghanistan übergebenen Person an Dritte – ein-
und dem Leitbild der inneren Führung. schließlich anderer ISAF-Truppenstellernationen – ist
nur mit ausdrücklicher Zustimmung der übergebenden
Die Kräfte, die im Rahmen des ISAF-Mandates zur ISAF-Truppenstellernation möglich. ISAF-Truppenstel-
Sicherheitsunterstützung für die im Aufbau befindlichen lernationen können sich bei der Übergabe von Personen
Staatsorgane Afghanistans in Umsetzung der UN-Reso- ergänzende Zusicherungen geben lassen.
lutionen 1386, 1510 und 1623 eingesetzt werden, haben
den Auftrag, bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so Generell scheint mir der Weg, die mandatsführende
zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsor- Institution, also zum Beispiel die NATO oder die EU,
gane als auch Personal der Vereinten Nationen oder an- die entsprechenden Rahmenvereinbarungen mit den
deres internationales Zivilpersonal in einem sicheren staatlichen Institutionen der befriedeten Staaten treffen
Umfeld arbeiten können. Die Verantwortung für die öf- zu lassen, am praktikabelsten. Auf diese Art und Weise
fentliche Sicherheit und Ordnung ist aber ausdrücklich wird die Einhaltung der Menschenrechte konsequenter
den Afghanen selbst vorbehalten und nicht Teil der für alle truppenstellenden Nationen sichergestellt als
Mandatsrechte von ISAF. Damit steht ISAF also kein ei- durch ein unübersichtliches Geflecht bilateraler Verein-
genes Festnahmerecht zu. barungen.
Die Einsatzregeln für die deutsche Soldatinnen und Die generelle Frage, ob in jedem Einzelfall einer vor-
Soldaten, die sich im Falle von NATO-Operationen wie übergehenden Festsetzung einer Person deutsche Ho-
zum Beispiel in Afghanistan aus den vom NATO-Rat heitsgewalt ausgeübt wird – etwa bei einer Handlung ei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006 5419

(A) nes deutschen Offiziers oder eines Polizisten bei KFOR Anlage 3 (C)
oder UNMIK –, ist darüber hinaus rechtlich umstritten
und gegenwärtig im Rahmen einer Individualbe- Amtliche Mitteilungen
schwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Men- Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit
schenrechte in Straßburg anhängig. Auch die Frage des Schreiben vom 29. September 2006 mitgeteilt, dass sie
jeweils anwendbaren Rechts – Grundgesetz, Menschen- den Antrag Mehr Effizienz und mehr Transparenz
rechte, humanitäres Völkerrecht – kann wohl nicht ein- für mehr Nahverkehr bei konstanten Regionalisie-
heitlich beantwortet werden, sondern jeweils nur von rungsmitteln auf Drucksache 16/951 zurückzieht.
Fall zu Fall.
Der Bundesrat hat in seiner 825. Sitzung am 22. Sep-
Der zivile deutsche Rechtshilfeverkehr mit dem Aus- tember 2006 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz
land findet auf der Grundlage von Vereinbarungen statt, zuzustimmen:
bzw. ist im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in
Strafsachen (IRG) geregelt. Das IRG verpflichtet deut- – Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Verbrau-
sche Behörden, bei der Erfüllung von Ersuchen anderer cherinformation.
Staaten bestimmte nationale rechtliche Standards einzu- Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschließung
halten. So ist die Auslieferung einer Person wegen einer gefasst:
Straftat, die nach dem Recht des ersuchenden Staates mit
der Todesstrafe bedroht ist, nur dann zulässig, wenn der Der Bundesrat begrüßt es, dass der Bundestag nach
ersuchende Staat zusichert, dass die Todesstrafe nicht erfolglosen Anläufen in den Jahren 2001 und 2004 nun-
verhängt oder nicht vollstreckt wird. Auslieferung ist mehr ein Gesetz verabschiedet hat, das nach derzeitigem
eine Leistung im Rahmen der internationalen Rechts- Erkenntnisstand den berechtigten Anliegen der Verbrau-
hilfe. Internationale Rechtshilfe setzt begrifflich das cherinnen und Verbrauchern an einer Verbesserung der
Aufeinandertreffen von Hoheitsrechten mehrerer Staaten Transparenz bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenstän-
voraus. Eine Auslieferung im Sinne des IRG liegt nur den ebenso gerecht wird wie den Belangen des Handels
dann vor, wenn zuvor eine förmliche Festnahme im Hin- und der Wirtschaft und hier vor allem den Belangen klei-
blick auf ein Ermittlungsverfahren erfolgte. ner und mittelständischer Unternehmen sowie landwirt-
schaftlicher Erzeuger.
Doch zurück zu den Friedensmissionen der Bundes-
wehr: Speziell für die Auslandseinsätze unserer Streit- Der Bundesrat begrüßt die Absicht, das Gesetz zu
kräfte hat die Bundesregierung gegenüber dem Men- evaluieren und bittet die Bundesregierung, die Länder
schenrechtsausschuss der Vereinten Nationen am bei der Evaluierung einzubeziehen und im Rahmen ihrer
(B) 5. Januar 2005, bezogen auf den Zivilpakt von 1966, das verbraucherpolitischen Berichterstattung über die Erfah- (D)
heißt den Internationalen Pakt über bürgerliche und poli- rungen mit dem Verbraucherinformationsgesetz regel-
tische Rechte, erklärt: mäßig zu berichten, Vorschläge zur Weiterentwicklung
der Informationsansprüche zu erarbeiten und das weitere
Deutschland gewährleistet gemäß Artikel 2 Absatz 1
Vorgehen eng mit den Ländern abzustimmen.
die Paktrechte allen in seinem Gebiet befindlichen
und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Perso- Gegenstand der Evaluation, der Berichterstattung und
nen. Deutschland sichert bei Einsätzen seiner Poli- der Vorschläge zur Weiterentwicklung der Informations-
zei oder Streitkräfte im Ausland, insbesondere im ansprüche sollen insbesondere folgende Punkte sein:
Rahmen von Friedensmissionen, allen Personen,
soweit sie seiner Herrschaftsgewalt unterstehen, die a) die stärkere Einbeziehung der Unternehmen in die
Gewährung der im Pakt anerkannten Rechte zu. Die verbraucherpolitische Verantwortung unter Wahrung
internationalen Aufgaben und Verpflichtungen der Belange kleiner und mittlerer Betriebe sowie
Deutschlands, insbesondere zur Erfüllung der Ver- landwirtschaftlicher Erzeuger. Dies sollte mit dem
pflichtungen aus der Charta der Vereinten Natio- Ziel erfolgen, die Transparenz bezüglich Produk-
nen, bleiben unberührt. Bei der Ausbildung seiner tionsverhältnissen, Herkunft, Kennzeichnung, Rück-
Sicherheitskräfte im internationalen Einsatz sieht verfolgbarkeit und Eigenkontrollen zu verbessern;
Deutschland eine speziell auf diese ausgerichtete b) die Ausweitung der Auskunftsansprüche über das
Belehrung über die im Pakt verankerten Rechte vor. Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermit-
telrecht hinaus auf andere verbraucherrelevante
Wie Sie meinen Ausführungen entnehmen können,
Sachbereiche wie zum Beispiel den technischen Ver-
misst die Bundesregierung der Einhaltung der Men-
braucherschutz, den Schutz der wirtschaftlichen Be-
schenrechte in ihrem Engagement zur Stabilisierung von
lange der Verbraucherinnen und Verbraucher ein-
zerfallenen oder von Bürgerkriegen verwüsteten Staaten schließlich des Eichwesens sowie die Regulierungs-
wie Afghanistan eine der ethisch-moralischen Dimen- und Überwachungstätigkeit in den Bereichen Ener-
sion des Themas entsprechende hohe Bedeutung zu. Un- gieversorgung, Schienenverkehr und Telekommuni-
ser Land kann nur dann mit der Gewissheit glaubhaft kation;
und selbstbewusst auftreten und international die Auf-
klärung von Menschenrechtsverletzungen einfordern, c) die Nutzung der vorhandenen rechtlichen Möglich-
wenn die Bundesrepublik mit eigenen Handlungen kei- keiten zur aktiven Information der Behörden durch
nen Beitrag zu Menschenrechtsverletzungen leistet. Und möglichst aktuelle und benutzerfreundliche Veröf-
das ist zu jeder Zeit gewährleistet. fentlichung der einzelnen Überwachungsergebnisse
5420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2006

(A) in öffentlich zugänglichen Informationsquellen, zum – Unterrichtung durch die Bundesregierung (C)
Beispiel im Internet; Vorläufige Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006
Verpflichtungsermächtigungen bei Kapitel 08 14
d) die Auswirkungen der Regelungen zum Schutz der Titel 518 01 gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 BHO
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie sonstiger
– Übernahme einer zehnjährigen Mietgarantie für ein
wettbewerbsrelevanter Informationen von Unterneh- Wohnbauprojekt der amerikanischen Streitkräfte im
men auf die Veröffentlichung bzw. Herausgabe von Bereich Grafenwöhr –
Verbraucherinformationen. Die Schaffung eines Ne- – Drucksachen 16/1929, 16/2086 Nr. 1.2 –
gativkatalogs derjenigen Informationen, die keines-
falls als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse oder – Unterrichtung durch den Präsidenten des Bundesrech-
sonstige wettbewerbsrelevante Informationen schüt- nungshofes
zenswert sind, ist in diesem Zusammenhang zu prü- Bericht nach § 99 BHO über die Modernisierung des
fen; staatlichen Haushalts- und Rechnungswesens
– Drucksachen 16/2400, 16/2548 Nr. 1.8 –.
e) die Verzahnung mit den allgemeinen Regelungen zur
Informationsfreiheit sowie über den Zugang zu Um-
weltinformationen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-
Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische
Der Bundesrat hat in seiner 825. Sitzung am 22. Sep- Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-
tember 2006 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen tung abgesehen hat.
zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2
des Grundgesetzes nicht zu stellen:
Auswärtiger Ausschuss
– Gesetz zur Umsetzung der neu gefassten Banken- Drucksache 16/1475 Nr. 1.6
richtlinie und der neu gefassten Kapitaladä- Drucksache 16/1748 Nr. 2.21
quanzrichtlinie Drucksache 16/1748 Nr. 2.23
Drucksache 16/1942 Nr. 1.7
Drucksache 16/1942 Nr. 1.12
– Zweites Gesetz über die Bereinigung von Bundes- Drucksache 16/1942 Nr. 2.46
recht im Zuständigkeitsbereich des Bundesminis-
teriums des Innern
Innenausschuss
– Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe Drucksache 16/993 Nr. 2.1
(B) und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten (D)
Drucksache 16/993 Nr. 2.6
Drucksache 16/1475 Nr. 2.29
– Fünftes Gesetz zur Änderung des Urheberrechts- Drucksache 16/1748 Nr. 2.16
gesetzes Drucksache 16/1748 Nr. 2.25
Drucksache 16/1748 Nr. 2.28
– Gesetz zu dem Abkommen vom 28. Juni 2004 zwi- Drucksache 16/1942 Nr. 2.5
Drucksache 16/1942 Nr. 2.19
schen der Bundesrepublik Deutschland und der Drucksache 16/1942 Nr. 2.50
Republik Singapur zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz
– Gesetz zu dem Abkommen vom 8. Juni 2005 zwi- Drucksache 16/1942 Nr. 1.10
schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- Drucksache 16/1942 Nr. 1.13
land und dem Schweizerischen Bundesrat, han- Drucksache 16/1942 Nr. 2.8
delnd im Namen des Kantons Schaffhausen, über Drucksache 16/1942 Nr. 2.42
Drucksache 16/1942 Nr. 2.44
die Erhaltung einer Straßenbrücke über die Drucksache 16/1942 Nr. 2.48
Wutach zwischen Stühlingen (Baden-Württem-
berg) und Oberwiesen (Schaffhausen)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
– Gesetz zu dem Abkommen vom 8. Juni 2005 zwi- und Reaktorsicherheit
schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- Drucksache 16/1748 Nr. 2.11
land und dem Schweizerischen Bundesrat, han-
delnd im Namen des Kantons Aargau, über Bau
und Erhaltung einer Rheinbrücke zwischen Lau- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
fenburg (Baden-Württemberg) und Laufenburg Drucksache 16/150 Nr. 1.6
(Aargau). Drucksache 16/1748 Nr. 1.7

Ausschuss für die Angelegenheiten


Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat mitge- der Europäischen Union
teilt, dass gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsord-
Drucksache 16/150 Nr. 2.238
nung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Drucksache 16/150 Nr. 2.274
Vorlagen abgesehen wird: Drucksache 16/820 Nr. 1.71

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ISSN 0722-7980

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