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Plenarprotokoll 17/90

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

90. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10061 A


neten Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10062 B
Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin
Lotter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10039 A
Begrüßung des neuen Abgeordneten Cajus Tagesordnungspunkt 4:
Caesar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10039 B
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 10039 B Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-
Möller, Petra Ernstberger, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der SPD einge-
Tagesordnungspunkt 3: brachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Festsetzung des Mindestlohnes
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und (Mindestlohngesetz – MLG)
FDP: Gestärkt aus der Krise – Der deut- (Drucksache 17/4665) . . . . . . . . . . . . . . . 10064 A
sche Mittelstand als Motor für Wachstum,
Wohlstand und Innovation b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
(Drucksache 17/4684) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10040 C Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke,
Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und
Rainer Brüderle, Bundesminister der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10040 D NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10042 A zes für die Einführung flächendecken-
der Mindestlöhne im Vorfeld der
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 10044 A Einführung der Arbeitnehmerfreizü-
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10045 B gigkeit (Mindestlohngesetz)
(Drucksache 17/4435) . . . . . . . . . . . . . . . 10064 A
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . 10046 A
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10064 B
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10049 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 10066 B
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 10051 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10067 A
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10052 D
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 10068 A
Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10053 C
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10069 C
Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10054 D
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10070 B
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 10056 B
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 10071 C
Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10057 B
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10073 A
Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10058 D
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10059 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10074 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10076 C heit hat Vorrang – Atomkraftwerk Gra-
fenrheinfeld sofort abschalten
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10077 C
(Drucksache 17/4688) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 A
Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10079 B
f) Antrag der Abgeordneten Winfried
Peter Weiß (Emmendingen) Hermann, Kerstin Andreae, Alexander
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10079 D Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 10081 D
Rheintalbahn – Modellprojekt für an-
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 10083 C wohnerfreundlichen Schienenausbau
(Drucksache 17/4689) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 B
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10084 D
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10086 B Zusatztagesordnungspunkt 3:
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10087 A a) Antrag der Abgeordneten Inge Höger,
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10088 A Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10089 B LINKE: Vorlage eines Gesetzentwurfes
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10089 D zur Ratifizierung der „Internationalen
Konvention gegen die Anwerbung, den
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . 10091 A Einsatz, die Finanzierung und die Aus-
bildung von Söldnern“ der Generalver-
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10092 B
sammlung der Vereinten Nationen
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10093 D (Drucksache 17/4663) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 B
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10094 B b) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer
(Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Tagesordnungspunkt 27: DIE LINKE: Internationale Ächtung des
Söldnerwesens und Verbot privater mi-
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
litärischer Dienstleistungen aus Deutsch-
rung eingebrachten Entwurfs eines Drit-
land
ten Gesetzes zur Änderung des Straßen-
(Drucksache 17/4673) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 C
verkehrsgesetzes und anderer Gesetze
(Drucksache 17/4144) . . . . . . . . . . . . . . . . 10094 D c) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Gesetzes zur Änderung des BVL-Geset- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brennele-
zes mente-Zwischenlager am Forschungs-
(Drucksache 17/4381) . . . . . . . . . . . . . . . . 10094 D zentrum Jülich ertüchtigen
(Drucksache 17/4690) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 C
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, d) Antrag der Fraktion der SPD: Instru-
Dr. Rosemarie Hein, weiteren Abgeordne- mente zur Bekämpfung der Steuerhin-
ten und der Fraktion DIE LINKE einge- terziehung nutzen und ausbauen
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Drucksache 17/4670) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 D
Änderung des Urheberrechtsgesetzes – e) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Digitalisierung vergriffener und ver- Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin
waister Werke Andreae, weiterer Abgeordneter und der
(Drucksache 17/4661 . . . . . . . . . . . . . . . . 10094 D Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
d) Antrag der Abgeordneten Sabine Schutz vor Bahnlärm verbessern – Ver-
Zimmermann, Diana Golze, Agnes altetes Lärmprivileg „Schienenbonus“
Alpers, weiterer Abgeordneter und der abschaffen
Fraktion DIE LINKE: Fachkräftepoten- (Drucksache 17/4652) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 D
zial nutzen – Gute Arbeit schaffen, bes-
f) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
sere Bildung ermöglichen, vorhandene
Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
Qualifikationen anerkennen
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
(Drucksache 17/4615) . . . . . . . . . . . . . . . . 10095 A
LINKE: Solidarität mit den Demokra-
e) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- tiebewegungen in den arabischen Län-
Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite- dern – Beendigung der deutschen
rer Abgeordneter und der Fraktion Unterstützung von Diktatoren
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicher- (Drucksache 17/4671) . . . . . . . . . . . . . . . 10095 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 III

Tagesordnungspunkt 28: Monika Lazar (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10109 D
a) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 10110 D
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10112 B
Berufskraftfahrer-Qualifikations-Geset-
zes Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10113 A
(Drucksachen 17/3800, 17/4660) . . . . . . . . 10096 A
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10114 A
b) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur bestätigenden Rege- Tagesordnungspunkt 5:
lung verschiedener steuerlicher und
verkehrsrechtlicher Vorschriften des Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Haushaltsbegleitgesetzes 2004 schusses für Kultur und Medien zu dem An-
(Drucksachen 17/3632, 17/3984, 17/4597) 10096 B trag der Abgeordneten Klaus Brähmig,
Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang
c) Zweite und dritte Beratung des von der Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
eines Gesetzes zur Änderung des ZIS- Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser),
Ausführungsgesetzes und anderer Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weite-
Gesetze rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
(Drucksachen 17/3960, 17/4146, 17/4596) 10096 C 60 Jahre Charta der deutschen Heimatver-
triebenen – Aussöhnung vollenden
d) Beratung der dritten Beschlussempfehlung (Drucksachen 17/4193, 17/4651) . . . . . . . . . . 10115 D
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung: zu Einsprü- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 10116 A
chen gegen die Gültigkeit der Wahl zum
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . 10117 C
17. Deutschen Bundestag am 27. Sep-
tember 2009 Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10119 D
(Drucksache 17/4600) . . . . . . . . . . . . . . . . 10096 D
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 10120 C
Kathrin Vogler (DIE LINKE)
(Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 10097 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10121 C
e)–l)
Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10123 A
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
schusses: Sammelübersichten 210, 211, 212,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10124 C
213, 214, 215, 216 und 217 zu Petitionen
(Drucksachen 17/4534, 17/4535, 17/4536, Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 10124 D
17/4537, 17/4538, 17/4539, 17/4540, 17/4541) 10098 A
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . 10125 B
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Zusatztagesordnungspunkt 4: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10126 A
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 10127 C
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10128 D
Dr. Merkel, Dr. von der Leyen,
Dr. Schröder – Unterschiedliche Auffas- Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10129 C
sungen in der Bundesregierung zum
Thema Frauenquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10098 D
Tagesordnungspunkt 6:
Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10099 A
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 10100 A
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10101 C lung zu dem Antrag der Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 10103 A Behrens, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Renate Künast (BÜNDNIS 90/ tion DIE LINKE: Grundrecht auf Wohnen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10104 B sozial, ökologisch und barrierefrei gestal-
ten
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10105 D (Drucksachen 17/3433, 17/4659) . . . . . . . . . . 10130 C
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10107 A Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10130 C
Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 10108 B Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10132 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . 10133 D Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10150 D
Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10135 C
Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10151 C
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10137 A Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . 10153 B
Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10138 C Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10154 B
Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10139 D Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10155 A
Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10141 A
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10156 B
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10141 B

Zusatztagesordnungspunkt 11:
Tagesordnungspunkt 7:
Beschlussempfehlung des Ausschusses für
a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
FDP: Belarus – Repressionen beenden, nung zu einem Antrag: Genehmigung zur
Menschenrechtsverletzungen sanktio- Durchführung eines Strafverfahrens
nieren, Zivilgesellschaft stärken (Drucksache 17/4680) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10157 B
(Drucksache 17/4685) . . . . . . . . . . . . . . . . 10142 D
b) Antrag der Fraktion der SPD: Belarus –
Repressionen beenden, Menschen- Tagesordnungspunkt 9:
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivil- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
gesellschaft stärken von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
(Drucksache 17/4667) . . . . . . . . . . . . . . . . 10142 D wurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisie-
rungs- und Assoziierungsabkommen vom
in Verbindung mit 29. April 2008 zwischen den Europäischen
Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten
einerseits und der Republik Serbien
Zusatztagesordnungspunkt 5: andererseits
(Drucksachen 17/3963, 17/4500) . . . . . . . . . . 10157 C
Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck
(Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Dr. Werner Hoyer, Staatsminister
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10157 D
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10158 D
Belarus – Repressionen beenden, Men-
schenrechtsverletzungen sanktionieren, Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10160 A
Zivilgesellschaft stärken Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10161 A
(Drucksache 17/4686) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10142 D
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 10143 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10162 B
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10144 A Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 10163 B
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 10145 C
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10146 D Tagesordnungspunkt 10:
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10148 A (Leipzig), Sönke Rix, Petra Crone, weite-
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10149 A rer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Monika
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ Lazar, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10149 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Demokra-
tieinitiativen nicht verdächtigen, son-
Tagesordnungspunkt 8: dern fördern – Bestätigungserklärung
im Bundesprogramm „TOLERANZ
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland,
FÖRDERN – KOMPETENZ
Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, wei-
STÄRKEN“ streichen
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Drucksache 17/4551) . . . . . . . . . . . . . . . 10164 C
NIS 90/DIE GRÜNEN: Evaluierung von
Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
regeln, Unabhängigkeit wahren Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordne-
(Drucksache 17/3687) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10150 C ter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 V

für Demokratie und Menschenrechte Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 10186 A


braucht Vertrauen – Keine Verdachts-
kultur in die Projekte gegen Rechts- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
extremismus tragen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10187 D
(Drucksache 17/4664) . . . . . . . . . . . . . . . . 10164 D Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10189 A
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 10164 D Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10189 D
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10190 D
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10166 C
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10167 D
Zusatztagesordnungspunkt 6:
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . 10168 C
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . 10169 A desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 10170 A
Arzneimittelgesetzes
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 10171 A (Drucksachen 17/4231, 17/4720) . . . . . . . . . . 10192 A
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 10172 A
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 10172 B Tagesordnungspunkt 13:
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10172 C Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10173 D LINKE: Alle Waffenexporte des Oberndor-
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10175 B fer Kleinwaffenherstellers verbieten
(Drucksache 17/4677) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10192 B
Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 10176 A
Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10192 C
Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 11: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10193 B
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Auflösung und Abwicklung der Anstalt Tagesordnungspunkt 14:
Absatzförderungsfonds der deutschen a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Land- und Ernährungswirtschaft und der Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
Anstalt Absatzförderungsfonds der deut- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge-
schen Forst- und Holzwirtschaft ordneten Volker Beck (Köln), Marieluise
(Drucksache 17/4558) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10177 A Beck (Bremen), Viola von Cramon-
Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10177 B Taubadel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 10178 A Menschenrechtsschutz bei den OECD-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 10178 D Leitsätzen für multinationale Unterneh-
men stärken
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 10179 B (Drucksachen 17/4196, 17/4613) . . . . . . . 10194 B
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10180 B Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Verpflichtender Menschen-
Tagesordnungspunkt 12: rechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen
Antrag der Abgeordneten Ute Vogt, für multinationale Unternehmen
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer (Drucksache 17/4669) . . . . . . . . . . . . . . . 10194 C
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung in Verbindung mit
(Drucksache 17/4678) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10181 A
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10181 B
Zusatztagesordnungspunkt 7:
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 10182 B
Antrag der Fraktion der SPD: Die Revision
Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10183 C der OECD-Leitsätze für multinationale
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10184 B Unternehmen als Chance für einen stärke-
ren Menschenrechtsschutz nutzen
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10185 A (Drucksache 17/4668) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10194 C
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Tagesordnungspunkt 15: Tagesordnungspunkt 19:


Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Beschlussempfehlung und Bericht des
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abge-
Änderung des Artikel-115-Gesetzes ordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter
(Drucksache 17/4666) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10195 A Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im
Tagesordnungspunkt 16: Patentrecht starten
(Drucksachen 17/1052, 17/4725) . . . . . . . . . . 10205 A
Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn,
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 10205 A
Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: Fairen René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10205 C
Rohstoffhandel sichern – Handel mit Selte- Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10206 B
nen Erden offenhalten
(Drucksache 17/4553) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10195 A Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10207 A
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10207 D
Tagesordnungspunkt 17:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 20:
schusses für Wirtschaft und Technologie zu
Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer
Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeord- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
neter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Frei- EUTM Somalia beenden – Für eine politi-
handelsabkommen mit Indien stoppen – sche Lösung in Somalia
Verhandlungsmandat in demokratischem (Drucksache 17/4248) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10209 B
Prozess neu festlegen
(Drucksachen 17/2420, 17/4616) . . . . . . . . . . 10195 B Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 10209 C
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10195 C Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10210 B
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10211 A
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10196 C
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10212 A
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 10197 C
Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10198 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10213 A
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10199 D Tagesordnungspunkt 21:
Antrag der Abgeordneten Frank Tempel,
Tagesordnungspunkt 18: Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE zu
a) Antrag der Abgeordneten Viola von der Mitteilung der Kommission an das Euro-
Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, päische Parlament und den Rat: Auf dem
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abge- Weg zu einer verstärkten europäischen Ka-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ tastrophenabwehr: die Rolle von Katastro-
DIE GRÜNEN: Einheitlichen EU- phenschutz und humanitärer Hilfe
Flüchtlingsschutz garantieren KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10
(Drucksache 17/4439) . . . . . . . . . . . . . . . . 10200 B hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes
Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer über die Zusammenarbeit von Bundesre-
Abgeordneter und der Fraktion DIE gierung und Deutschem Bundestag in An-
LINKE: Für ein offenes, rechtsstaatli- gelegenheiten der Europäischen Union
ches und gerechtes europäisches Asyl- (Drucksache 17/4672) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10214 A
system
(Drucksache 17/4679) . . . . . . . . . . . . . . . . 10200 C Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10214 B
Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10200 C Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10215 C
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 10217 A
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10201 C
Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10217 B
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 10202 C
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 10203 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10218 A
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10203 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10219 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 VII

Anlage 1 – Antrag: Verpflichtender Menschenrechts-


schutz bei den OECD-Leitsätzen für mul-
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10221 A tinationale Unternehmen
– Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze
für multinationale Unternehmen als
Anlage 2 Chance für einen stärkeren Menschen-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten rechtsschutz nutzen
Andrej Hunko und Ulla Jelpke (beide DIE (Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatz-
LINKE) zu den Abstimmungen über die An- tagesordnungspunkt 7)
träge: Belarus – Repressionen beenden, Men-
schenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivil- Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10229 C
gesellschaft stärken (Tagesordnungspunkt 7 a Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10230 D
und b, Zusatztagesordnungspunkt 5) . . . . . . . 10221 B
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10232 A
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10232 C
Anlage 3 Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10233 B
des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur
Änderung des Arzneimittelgesetzes (Zusatz-
tagesordnungspunkt 6) Anlage 6

Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10221 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung


des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 10223 A des Artikel-115-Gesetzes (Tagesordnungs-
punkt 15)
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 10223 D
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10234 B
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 10224 B
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10235 C
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10225 B Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . 10236 A
Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10237 A
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10238 B
Anlage 4
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10239 A
des Antrags: Alle Waffenexporte des Obern-
dorfer Kleinwaffenherstellers verbieten (Ta-
gesordnungspunkt 13) Anlage 7
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10225 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Fairen Rohstoffhandel sichern –
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10227 D Handel mit Seltenen Erden offenhalten (Ta-
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10228 D gesordnungspunkt 16)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10240 A
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10241 B
Anlage 5
Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10242 A
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10243 A
– Beschlussempfehlung und Bericht: Men-
Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 10243 B
schenrechtsschutz bei den OECD-Leit-
sätzen für multinationale Unternehmen Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
stärken DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10244 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10039

(A) (C)

Redetext

90. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. – Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite-
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bevor wir uns den noch ernsteren Aufgaben zuwen- Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizie-
den, möchte ich den Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann, rung der „Internationalen Konvention gegen
Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter zu die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung
ihrem 60. Geburtstag gratulieren, den sie in den vergan- und die Ausbildung von Söldnern“ der Gene-
genen Tagen gefeiert haben – man möchte es nicht für ralversammlung der Vereinten Nationen
möglich halten.
– Drucksache 17/4663 –
(Beifall) Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Im Namen des gesamten Hauses noch einmal herzliche Auswärtiger Ausschuss
(B) Gratulation und alle guten Wünsche! Rechtsausschuss (D)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der Kollege Leo Dautzenberg hat mit Wirkung vom Ausschuss für Arbeit und Soziales
1. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße ich b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
einmal mehr den Kollegen Cajus Caesar, Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
(Beifall) LINKE
womit der Deutsche Bundestag seinen berühmtesten Ab- Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
geordneten endlich zurückbekommt. Verbot privater militärischer Dienstleistun-
gen aus Deutschland
(Heiterkeit)
– Drucksache 17/4673 –
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
geführten Punkte zu erweitern: Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 1 Vereinbarte Debatte Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
zur Entwicklung in Ägypten Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
(siehe 89. Sitzung)
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
ZP 2 Aktuelle Stunde Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
FDP: NIS 90/DIE GRÜNEN
Gewalttaten und anhaltende Ausschreitungen Brennelemente-Zwischenlager am Forschungs-
in Berlin und anderen Städten im Zuge der zentrum Jülich ertüchtigen
Räumung eines besetzten Hauses („Liebig 14“)
(siehe 89. Sitzung) – Drucksache 17/4690 –
Überweisungsvorschlag:
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
fahren Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ergänzung zu TOP 27 Technikfolgenabschätzung
10040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD – Drucksache 17/4720 – (C)
Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhin- Berichterstattung:
terziehung nutzen und ausbauen Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
– Drucksache 17/4670 –
Dr. Christel Happach-Kasan
Überweisungsvorschlag: Dr. Kirsten Tackmann
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Undine Kurth (Quedlinburg)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss Die Revision der OECD-Leitsätze für multina-
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton tionale Unternehmen als Chance für einen
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- – Drucksache 17/4668 –
NIS 90/DIE GRÜNEN
Überweisungsvorschlag:
Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veraltetes Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/4652 – Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Überweisungsvorschlag: Entwicklung
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden. Ich nehme an, dass Sie
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
damit einverstanden sind. – Das ist offenkundig so.
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Dann können wir entsprechend verfahren.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Solidarität mit den Demokratiebewegungen in Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
den arabischen Ländern – Beendigung der CSU und FDP
deutschen Unterstützung von Diktatoren
Gestärkt aus der Krise – Der deutsche Mittel-
– Drucksache 17/4671 – stand als Motor für Wachstum, Wohlstand
(B) Überweisungsvorschlag: und Innovation (D)
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 17/4684 –
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Entwicklung Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes- Ausschuss für Bildung, Forschung und
regierung zum Thema Frauenquote Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Haushaltsausschuss
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
Belarus – Repressionen beenden, Menschen- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell- sen.
schaft stärken Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
– Drucksache 17/4686 – nächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Techno-
logie, Rainer Brüderle.
ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehn- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-
gesetzes Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie:
– Drucksache 17/4231 –
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deut-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sche Wirtschaft läuft auf Hochtouren. Der Economist
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- spricht bereits von „Germany’s New Wirtschaftswun-
cherschutz (10. Ausschuss) der“. Unter Schwarz-Gelb wird Deutschland in der Welt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10041
Bundesminister Rainer Brüderle
(A) geachtet; unter Rot-Grün wurde Deutschland in der Welt Wir haben Bürokratie im Vergaberecht abgebaut. Wir (C)
verlacht. haben eine Fachkräfteinitiative in der Wirtschaft ange-
stoßen. Drei Viertel der Mittelständler haben bereits
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Das
Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reicht von der exportstarken Maschinenbaubranche bis
NEN]: Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!) zur Boombranche Tourismus. Wir haben einen neuen
Ausbildungspakt mit der Wirtschaft geschlossen. Aber
Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum von
moderne Mittelstandspolitik geht über Programme und
2,3 Prozent. Der DIHK geht nach seiner gestrigen Pro-
Initiativen hinaus.
gnose sogar von 3 Prozent Wachstum für dieses Jahr aus.
In einer global vernetzten Wirtschaft muss Mittel-
Die Investitionsabsichten der Unternehmen haben ei- standspolitik schnell und flexibel reagieren. Wir unter-
nen Rekordwert erreicht. Ich habe noch gut den SPD- stützen den Mittelstand überall und sofort, zum Beispiel
Vorsitzenden im Ohr. Er wollte wegen der angeblichen etwa Unternehmen, die in Nordafrika tätig sind und mit
Investitionsschwäche eine Art Abwrackprämie für Ma- der schwierigen Lage dort konfrontiert sind. Wir haben
schinen. Die Grünen wollen jetzt Ähnliches. Die Wirt- mit unserem Aktionsplan Nordafrika zehn konkrete
schaft investiert ohne Ihre Abwrackfantasien. Der volks- Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, die in
wirtschaftliche Sachverstand der Opposition bewegt sich der Region tätig sind, auf den Weg gebracht. Morgen
irgendwo zwischen Voodoo und Wolkenkuckucksheim. wird es dazu ein Treffen im Bundeswirtschaftsministe-
rium geben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir sind Anwalt für den Mittelstand. Andere führen
Sie wollen vor allem das Falsche, aber davon reichlich. sich als Genosse der Bosse auf. Sie schauen nach Holz-
(Heiterkeit bei der FDP) mann, Hochtief, Opel und Karstadt. Für sie sind Großun-
ternehmen das Maß aller Dinge. Sie stellen die Rolle des
Der Motor für die Wachstumsmaschine ist der Mittel- Mittelstands als Jobmotor infrage. Im SPD-Vorfeld wird
stand. Dieser Aufschwung ist ein Mittelstandsaufschwung. der Mittelstand als Trugbild bezeichnet. Meine Damen
Viele Mittelständler haben ihren Mitarbeiterinnen und und Herren, das ist nicht die Politik der Bundesregie-
Mitarbeitern in harten Zeiten die Treue gehalten. Sie ha- rung. Wir kümmern uns um den Mittelstand.
ben sogar neue Beschäftigte eingestellt. Das ist gelebte (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gelaber!)
Eigenverantwortung, das hat sich bewährt, das ist soziale
Marktwirtschaft, und das ist eine Geisteshaltung. Wir setzen auf Privatinitiative und Eigenverantwortung.
Mein Ideal ist nicht: Oben ein paar Großkonzerne mit
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gewerkschaftsdominanz, und unten fristen ein paar vom (D)
Staat abhängige und subventionierte Ich-AGs ihr Dasein.
Aufgrund des Antrags der Koalitionsfraktionen be- Ein solches Wirtschaftsmodell lässt sich ganz schnell auf
fasst sich der Deutsche Bundestag mit dem Mittelstand. Planwirtschaft umstellen. Davon mögen aktive oder Alt-
Das freut mich sehr; denn der Mittelstand steht im Zen- kommunisten im Bundestag träumen. Wir machen das
trum der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Schwarz- nicht. Wir wollen eine gesunde Mischung von großen,
Gelb hat den Aufschwungmotor Mittelstand gut geölt. mittleren und kleinen Unternehmen.
(Lachen des Abg. Peter Friedrich [SPD] – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei Ihnen läuft
alles wie geschmiert!) Das Wirtschaftsministerium hat letzte Woche eine
Mittelstandsinitiative gestartet. Wir lösen die Wachs-
Wir haben die gröbsten Schnitzer bei der Unternehmen- tumsbremsen für den Mittelstand. Wir müssen das Thema
steuer beseitigt. Wir haben die Erbschaftsteuer refor- der Gewerbesteuer anpacken. Es wäre fatal, wenn die Ge-
miert. Die Opposition dagegen will mit Vermögensteuer werbesteuerreform auf dem Hartz-IV-Verhandlungstisch
und höherer Einkommensteuer den Motor abwürgen. hinten herunterfällt.
Jetzt haben die Grünen als Deckmäntelchen ein Mit- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
telstandspapier aufgeschrieben. Für mich hört sich das Wir wollen unseren top ausgebildeten Frauen opti-
wie grüner Feudalismus an. Erst nimmt man dem Mittel- male Arbeitsbedingungen bieten.
ständler ein Schwein weg, dann gibt man ihm gnädig ein
paar Koteletts zurück. Dafür soll sich der Mittelstand (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie ein-
dann noch artig bedanken. Es ist nämlich so: Eine hö- mal mit Frau von der Leyen!)
here Einkommensteuer trifft nicht nur private Einkom- Im Mittelstand und in Familienunternehmen sind die
men, sie trifft auch 80 Prozent der deutschen Unterneh- Frauen bereits auf dem Vormarsch. Es sollen aber noch
men. Diese sind Personengesellschaften und zahlen mehr Frauen auf den Chefsesseln Platz nehmen.
Einkommensteuer. Das sollten Sie, Frau Scheel, immer
berücksichtigen. Einer muss den Wohlstand erwirtschaf- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ten. Das ist der deutsche Mittelstand. Nach dem Vorbild des nationalen Ausbildungspakts
könnte ein Pakt für Frauen zusätzlich entsprechende Im-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Einer
pulse liefern.
reicht nicht! – Zuruf der Abg. Christine Scheel
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])
10042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Bundesminister Rainer Brüderle


(A) Wir setzen auf den Mittelstand. Wir setzen auf seinen In dem Antrag, den Sie uns heute auf den Tisch legen, (C)
Mut zur Verantwortung und auf seine Leistungsbereit- begrüßen Sie die umfangreichen Maßnahmen der Bun-
schaft. Dieses Vertrauen ist gut angelegt. Es zahlt sich desregierung für den Mittelstand. Sie nennen drei Punkte:
doppelt und dreifach aus. Hier stimmt die Vertrauensren- die Hightech-Strategie, den Ausbildungspakt und die
dite. Die Leistung des Mittelstands verdient Respekt, Mittelstandsinitiative. Wenn wir uns – jenseits der Hoch-
und die Leistung des Mittelstands verdient insbesondere glanzbroschüren – in den Antrag vertiefen, dann können
unsere Unterstützung. wir Folgendes feststellen: Beim Breitbandausbau haben
Sie die Ausbauziele verfehlt. Wir haben das Geld und die
Vielen Dank. Regulierung auf den Weg gebracht. Trotzdem wurden die
(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei Ausbauziele verfehlt. Die Mittelständler und die kleinen
der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] Betriebe in den Gewerbegebieten unserer Gemeinden lei-
[SPD]: Das war es schon?) den heute darunter, dass es den entsprechenden Ausbau
nicht gibt. Wir alle kennen das aus den Wahlkreisen; da-
rüber wird ja auch bei Ihnen eine Debatte geführt. Von
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hightech kann in den Gewerbegebieten, was den staatli-
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Friedrich für chen Beitrag angeht, nicht die Rede sein, Herr Brüderle.
die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Peter Friedrich (SPD): Zum Thema Ausbildungspakt – Sie selbst haben ge-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rade die Verhandlungen angesprochen –: Wo ist denn
ren! Herr Brüderle, vielen Dank, dass Sie Ihr routinemä- Schwarz-Gelb, wenn es darum geht, Schulsozialarbeit
ßiges Selbstlob heute Morgen kürzer gehalten haben als auf den Weg zu bringen? Wo ist denn Schwarz-Gelb,
sonst. wenn es darum geht, dass die Schüler an einen Schulab-
schluss herangeführt werden und dass sie einen Wechsel
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wagen können? Was ist denn aus den Ausbildungsbe-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gleitern geworden? Sie haben sich allen Hilfen verwei-
gert, als es darum ging, Schule eben nicht nur als einen
Ich stelle fest: An den Kernpunkten, die dazu beigetra- reinen Lernort zu begreifen. Gerade diejenigen, die wir
gen haben, dass wir die Wirtschaftskrise überwunden ha- brauchen, die Talente, werden nicht ausreichend geför-
ben, waren Sie und sind Sie nach wie vor nicht beteiligt. dert. Auch die Organisation der Förderung von kleinsten
(B) (Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Kindesbeinen an wäre hier zu nennen. All dem haben (D)
Quatsch! Das ist ein Unsinn!) Sie sich gerade in den Verhandlungen verweigert.
Wir haben eben wieder gehört, dass Sie all die Reformen (Beifall bei der SPD)
und Konjunkturprogramme, die ganz maßgeblich noch
Schauen wir uns die faktische Mittelstandspolitik die-
in der Großen Koalition und unter Rot-Grün angescho-
ser Regierung einmal an: Schwarz-Gelb hat im Bundes-
ben wurden und die uns durch die Krise geführt und Gott
haushalt bei der Regionalförderung gekürzt; das trifft vor
sei Dank auch wieder herausgeführt haben, soweit wir es
allem den Mittelstand und das Handwerk in den entspre-
heute sagen können, abgelehnt haben und in der Sache
chenden Gebieten. Schwarz-Gelb hat bei der Städte-
immer noch ablehnen. Sie haben nicht begriffen, wie
bauförderung gekürzt; das trifft vor allem das Ausbauge-
man Wirtschaftspolitik in Deutschland machen muss.
werbe und das Handwerk in den Städten und Gemeinden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch das Marktanreizprogramm haben Sie gekürzt, wo-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) durch Sie Zukunftsinvestitionen, Energieeffizienz und
bessere Energietechnik verhindern. In der Energiepolitik
Wir sind froh darüber, dass wir in Deutschland wieder haben Sie nicht nur die Monopole und Großkonzerne ge-
Wachstumszahlen haben. Aber wenn Sie sich die Zahlen stärkt, sondern jetzt wollen Sie, wie man lesen kann, auch
genau betrachten – so ehrlich sollten Sie zu sich selbst noch den Einspeisevorrang zurücknehmen, was dazu
sein –, dann sehen Sie: 2009 hatten wir durch die inter- führt, dass die vielen Tausend Handwerker und Mittel-
nationale Wirtschafts- und Finanzkrise einen Absturz ständler, die heute an der Energiewende arbeiten und da-
von minus 4,7 Prozent. Danach hatten wir plus 3,6 Pro- mit Menschen Arbeit bieten, von den Großkonzernen
zent, wesentlich getragen durch das Konjunkturpaket in wieder an die Wand gedrückt werden. Darum geht es Ih-
2010. Wir sind jetzt wieder auf dem Weg dahin, wo wir nen in Ihrer Energiepolitik. Das, was Sie bei der Energie
bereits einmal waren, bevor uns die internationale Fi- veranstalten, ist Mittelstandsfeindlichkeit pur.
nanzkrise mit in den Strudel gezogen hat. Die Zeche da-
für hätten die Menschen und die Mittelständler bezahlt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wenn es das Kurzarbeitergeld, das Konjunkturpaket und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
das Investitionsprogramm auch der Kommunen nicht ge-
geben hätte. Dies alles wurde durch eine aktive Wirt- Nach all dem Eigenlob und all den Beschreibungen
schaftspolitik angeschoben – etwas, was für Sie schon Ihrer dicken Papiere – Handlungen gibt es von Ihrer
per se ein Fremdwort ist. Seite ja nur wenig – kommen Sie dann in Ihrem Antrag
zu ein paar Forderungen. Sie sind im Wesentlichen da-
(Beifall bei der SPD) von getragen, dass die Regierungskoalition die Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10043
Peter Friedrich
(A) regierung auffordert, sich an den Koalitionsvertrag zu Immerhin haben Sie erkannt, dass wir eine neue (C)
halten. Das ist in gewisser Weise amüsant, weil der Ko- Gründungskultur brauchen. Da passt es hervorragend,
alitionsvertrag voller Prüfaufträge steckt. Der wichtigste dass ausgerechnet diese Koalition an einer Stelle, die für
Punkt für Sie – Sie haben ihn gerade noch einmal ange- die Gründer wirklich wichtig ist, eine Verschlechterung
führt – ist das Thema Gewerbesteuer. In dem Antrag herbeigeführt hat. Hier geht es um die Frage: Habe ich
schreiben Sie: die notwendige Sicherheit, auch mit Blick auf meine Fa-
milie, eine Gründung zu wagen? Verfüge ich trotzdem
… entsprechend den Festlegungen im Koalitions- über eine soziale Absicherung? Sie waren diejenigen,
vertrag so bald wie möglich Gesetzentwürfe vorzu- die die Beiträge der freiwillig Versicherten in der Ar-
legen, um kleine und mittlere Einkommen stärker beitslosenversicherung – das sind gerade Existenzgrün-
zu entlasten, … der, Unternehmer in Kleinbetrieben und Freiberufler –
um 300 Prozent erhöht haben. Sie haben es den Grün-
(Beifall bei der FDP) dern erschwert, sich in der Gründungsphase abzusichern.
Sie sind übrigens die Koalition, die mit „Mehr Netto Deswegen sind Sie die Allerletzten, die hier zum Thema
vom Brutto“ angefangen und inzwischen bei deutlich Gründungskultur etwas sagen sollten.
weniger Netto aufgehört hat. Durch das, was Sie bei der (Beifall bei der SPD)
Gesundheitsreform gemacht haben, durch Ihren Mini-
steuerkompromiss haben die Leute weniger Netto im Immerhin haben Sie erkannt, dass wir bei der Unter-
Geldbeutel und nicht mehr. Sie sind die Nettolügen-Ko- nehmensfinanzierung in eine problematische Situation
alition. Insofern ist es gut, wenn Sie in den Antrag geraten. Wir haben Gott sei Dank keine Kreditklemme,
schreiben, dass Sie dies noch immer vorhaben. auch weil wir damals mit Peer Steinbrück in der Banken-
krise mutig gehandelt haben. Herr Brüderle, die Einrich-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tung des Kreditmediators ist Ihnen inzwischen selber
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) peinlich. Sie schreiben in Ihrem Antrag einen sehr ver-
schwurbelten Satz, der nichts anderes bedeutet als Fol-
Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter, die Gemeindefi- gendes: Wir haben das Problem, dass Kredite infolge der
nanzen sollten wachstumsfreundlich reformiert werden. Umsetzung der Basel-III-Richtlinien insbesondere für
Herr Brüderle, Sie haben am 1. Februar bei der Vorstel- die Mittelständler teurer werden. Jetzt frage ich Sie: Wo
lung Ihrer Mittelstandsinitiative gesagt, die Abschaffung sind all Ihre Vorschläge und all Ihre Maßnahmen, um es
der Gewerbesteuer sei die sauberste Lösung. tatsächlich hinzubekommen, dass Mittelständler Eigen-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) kapital oder Eigenkapitalersatz zu vernünftigen Bedin-
(B) gungen erhalten können? Die Antwort auf die entspre- (D)
Sie haben selber gesagt, dass Sie das Thema der Gewer- chende Frage im Ausschuss war: Wir prüfen, wir prüfen,
besteuer bei den Verhandlungen über Hartz IV auf den wir prüfen. – Sie sagen inzwischen nicht einmal, was ge-
Tisch gelegt haben; Sie haben damit die Verhandlungen nau Sie prüfen; Sie sagen nur: Wir prüfen. – Sie haben
überfrachtet. Sie verpassen mit Ihrer Aussage all den keine Antwort auf die Frage. Die von Ihnen veranstalte-
Gewerbetreibenden, die ihre Steuern – keiner zahlt gern ten Bankengipfel haben nichts gebracht. Sie drücken
Steuern – in dem vollen Bewusstsein zahlen, damit ihre sich darum herum, zu sagen: Wir brauchen eine staatlich
Gemeinde zu unterstützen, eine Ohrfeige. Sie verpassen unterstützte Mittelstandsanleihe, um dem Mittelstand
mit dieser Forderung allen Kommunalpolitikern eine dabei zu helfen, neues Eigenkapital aufzubauen.
Ohrfeige. Es geht bei der Gewerbesteuerreform darum,
Summa summarum: Ihr Handeln richtet sich gegen
für eine Gleichbehandlung des Mittelstandes bei der Ge-
eine Unterstützung des Mittelstands, Ihrem Reden zu-
werbesteuer zu sorgen, indem eben nicht nur der Gewer-
folge sind Sie dafür. Es bringt nichts, wenn Sie mitt-
betreibende, sondern auch der Freiberufler zur Zahlung
wochs, donnerstags oder freitags im Parlament noch ein-
herangezogen wird. Es geht darum, eine vernünftige
mal Sonntagsreden halten. Packen Sie besser die Punkte
Finanzierungsbasis für die Gemeinden zu schaffen.
an, die den Mittelstand wirklich betreffen: faire Wettbe-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werbsbedingungen, faire Ausbildungsbedingungen und
DIE GRÜNEN) faire Finanzierungsbedingungen. Damit würden Sie dem
Mittelstand mehr nützen als mit der heißen Luft, die Sie
Während wir damals gemeinsam mit der Union ein ständig produzieren.
Investitionsprogramm gerade zugunsten der Kommunen
aufgelegt haben, springen Sie nun direkt vom Gaspedal (Beifall bei der SPD)
auf die Bremse. Wir erleben jetzt bei der Haushalts-
aufstellung in fast allen Kommunen, dass die Investitions- Präsident Dr. Norbert Lammert:
maßnahmen gestrichen werden, dass sie ihren Haushalt Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/
nicht ausgleichen können. Sie wollen jetzt auch noch die CSU-Fraktion.
wesentliche Finanzierungsquelle der Gemeinden kom-
plett weghauen. Das sind Kommunalfeindlichkeit und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Mittelstandsfeindlichkeit in Reinkultur. neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Schon wieder Wahlkampf! – Gegenruf des
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Deswegen
Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) hat bei euch ja auch Friedrich gesprochen!)
10044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): 4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen und (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unternehmer, die Selbstständigen in den Bereichen In-
Lieber Kollege Friedrich, Sie konnten mit der zeitlichen dustrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen und in den
Länge Ihrer Ausführungen durchaus mit dem Bundes- freien Berufen besitzen in hohem Maße jene Kreativität
wirtschaftsminister konkurrieren; aber hinsichtlich der und Innovationskraft, die für Wachstum und die Schaf-
wirtschaftspolitischen Kompetenz und Substanz war es fung von Arbeitsplätzen unabdingbare Voraussetzung
doch ein bisschen dünn. sind. Insofern haben sowohl die amtierende Bundes-
regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die baden-württembergische Landesregierung von
Es kann gar keine Frage sein: Die Unternehmen unse- Ministerpräsident Stefan Mappus auf das richtige Pferd
res Landes sind mit den größten ökonomischen Heraus- gesetzt: Beide Seiten haben dem Mittelstand Aufmerk-
forderungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutsch- samkeit geschenkt, und zwar insbesondere in der Krise.
land, mit der Bankenkrise und der Euro-Krise, sehr gut
fertig geworden. Das haben wir insbesondere dem Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
telstand zu verdanken. Der Mittelstand hat sich als das Die Bundesregierung hat mit einer Steuerentlastung
stabile Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschaft in Höhe von 24 Milliarden Euro Anfang 2010 insbeson-
erwiesen. Es wird 2011 so sein, dass die meisten der dere dem Mittelstand unter die Arme gegriffen. Wir ha-
320 000 neu entstehenden Arbeitsplätze – so die Schät- ben dadurch eine Kreditklemme verhindert, die eine
zung – aus dem Mittelstand kommen. Kettenreaktion mit Firmenpleiten ausgelöst hätte. Dies
(Beifall bei der CDU/CSU) wurde ja 2008 befürchtet und wäre 2009 beinahe Reali-
tät geworden. Nichts davon ist eingetreten. Die konjunk-
Der Mittelstand ist der Motor für Wachstum, Beschäfti- turelle Rückendeckung seitens der Bundesregierung hat
gung und Ausbildung in Deutschland. Nichts verdeutlicht funktioniert. Das gilt auch für die Hightech-Strategie
dies so sehr wie ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen, ins- 2020, die im Juli des vergangenen Jahres vom Kabinett
besondere auf die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland von Angela Merkel auf den Weg gebracht wurde. Ihr
und in Europa. Bekanntlich beruht der nachhaltige wirt- zentrales Element ist die Stärkung der Innovationskraft
schaftliche Erfolg eines Landes darauf, dass gerade den des Mittelstandes. Sie ermöglicht Vernetzungen der Un-
jungen Menschen, den nachwachsenden Generationen, ternehmen untereinander, aber auch mit der Wissen-
hinreichende Beschäftigungsperspektiven geboten wer- schaft, was Synergieeffekte schafft, deren Wirkung wie-
den. Unser Land tut dies glücklicherweise in hohem derum neue und attraktive Arbeitsplätze sind. Das Ganze
Maße, übrigens insbesondere dank des Mittelstandes. funktioniert bereits gut.
(B) Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete dieser Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass dies auch in (D)
Tage, dass die Werte der Jugendarbeitslosigkeit in Zukunft so bleibt. Ausgehend von der Einsicht, dass
Europa fast überall zweistellig sind. Insbesondere ist die Mittelstandspolitik allen Menschen nützt, ist beim Mit-
Arbeitslosigkeit bei den jungen Menschen in Europa telstand investiertes Geld gut angelegt. Für die gesamte
nach der Krise in die Höhe geschossen. In Schweden, Gesellschaft entsteht so ein Höchstmaß an Mehrwert.
dem vermeintlichen Arbeitnehmerparadies vergangener
Tage, beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote 22,9 Pro- Wir wollen uns in Zukunft vor allem auf drei Berei-
zent. Bei unserem Nachbarn Frankreich beträgt sie fast che konzentrieren:
25 Prozent. 33,4 Prozent sind es in Griechenland. Mehr
als ein Drittel der jungen Menschen zwischen 18 und Erstens: Reduzierung der Staatsverschuldung. Nur ein
25 Jahren ist dort arbeitslos. Unrühmlicher Spitzenreiter Staat, der in der Zeit spart, vermag in der Not solche Ret-
ist Spanien: Dort erreicht die Jugendarbeitslosigkeit den tungspakete aufzulegen, wie wir das in der Krise getan
erschreckenden Wert von 43,6 Prozent. haben. Deswegen ist es oberste Pflicht, nach der Über-
windung der Krise die Ausgaben wieder zurückzufahren
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) und nach Maßgabe der schwäbischen Hausfrau zu agie-
Fast die Hälfte der jungen Menschen in Spanien hat kei- ren, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht zum
nen Job. Nur in drei europäischen Ländern, der Schweiz, Vorbild erklärt hat. Dies ist zwar nicht populär, aber es
den Niederlanden und Deutschland, bewegt sich die Ju- ist notwendig. Wer derzeit Griechenland, Portugal und
gendarbeitslosigkeit im einstelligen Bereich. Besonders Spanien dafür kritisiert, dass sie die Sanierung ihrer
gut sieht es in Baden-Württemberg aus. Baden-Württem- Staatsfinanzen allzu lang hinausgezögert haben, der
berg hat nicht nur die niedrigste Arbeitslosenquote in kann sich in unserem Land nicht den auf Nachhaltigkeit
Deutschland, sondern wir haben mit 2,7 Prozent auch ausgerichteten Sparzielen verweigern. Wir haben die
die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganz Verantwortung, in Europa Avantgarde und Vorbild zu
Europa. Das ist ein Spitzenwert, und darüber dürfen wir sein, auch beim Thema Haushaltskonsolidierung.
uns freuen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Das Negativbeispiel können Sie übrigens in Nord-
Volker Kauder [CDU/CSU]: Über 57 Jahre
rhein-Westfalen sehen, wo eine rot-grün-dunkelrote Lan-
Unionsregierung!)
desregierung das Land in eine unverantwortliche Staats-
Ich möchte es noch einmal sagen: Dies liegt nicht zu- verschuldung hineintreibt. Diesen Weg wollen wir exakt
letzt an unserem stabilen Mittelstand. Die mehr als nicht gehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10045
Thomas Strobl (Heilbronn)
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) spricht. Wir sind die eigentliche Mittelstandspartei. Ich (C)
werde Ihnen das gleich erklären.
Zweitens brauchen wir modernste, sauberste und si-
cherste Verkehrsinfrastrukturen, wenn wir auch in Zu- (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der
kunft wirtschaftspolitisch vorne bleiben wollen. Dazu CDU/CSU und der FDP – Dr. Hans-Peter
sind wir gewillt, die Grünen aber leider nicht. Sie sind Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie sind noch
die Dagegen-Partei, vor allem was die Infrastrukturen nicht mal Mittelmaß, Herr Gysi!)
angeht.
Eines steht nun einmal fest: Der Mittelstand ist das
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rückgrat unserer Wirtschaft:
NEN]: Oh je, oh je!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Der Auftakt zu
Wir wussten bereits, dass Sie gegen Straßen und Flughä- einer Büttenrede!)
fen sind. Seit Stuttgart 21 wissen wir, dass Sie auch ge-
gen die Modernisierung einer hundert Jahre alten Bahn- 70 Prozent aller Beschäftigten und 80 Prozent aller sozial-
strecke und gegen die Modernisierung von Bahnhöfen versicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in Unter-
sind. Und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus: nehmen und im Handwerk mit weniger als 500 Mitarbei-
Jetzt sind Sie auch noch gegen Investitionen in die öko- terinnen und Mitarbeitern. 90 Prozent der 1,4 Millionen
logischsten Verkehrswege überhaupt, gegen Investitio- Jugendlichen werden in mittelständischen Unternehmen
nen in die Schifffahrt. Der Vorsitzende des Verkehrsaus- ausgebildet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unterneh-
schusses, Winfried Hermann, sagte kürzlich, der Ausbau men hat zwischen 2001 und 2008 um über 300 000 auf
von Wasserwegen und Schleusen in Baden-Württemberg nunmehr 3,75 Millionen zugenommen.
sei sinnlos und habe zu unterbleiben. Sie sind letztlich
gegen alles. Sie gefährden damit den wirtschaftlichen (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie
Erfolg dieses Landes. haben ja unser Infoblatt gelesen! Sehr gut!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Allerdings gibt es darunter 2,3 Millionen Soloselbststän-
dige. Darüber müssen wir uns ein anderes Mal unterhal-
Sie gefährden Arbeitsplätze. Sie sind Wohlstandsgefähr- ten.
der.
Die Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen
Drittens möchte ich das Thema Bürokratieabbau an- arbeitet auf dem Binnenmarkt. Sie brauchen deshalb
sprechen. zahlungskräftige Nachfrage nach Waren und Dienstleis-
tungen. Daran mangelt es in Deutschland ganz erheb-
(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: lich; denn der Aufschwung geht an der Mehrheit der (D)
Herr Kollege Strobl. Bürgerinnen und Bürger vorbei.
Jetzt müssen Sie sich die Zahlen anhören; das tut mir
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): leid: 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbei-
Kaum etwas gefährdet wirtschaftlichen Erfolg so wie ten im Niedriglohnsektor. Diese nutzen dem Mittelstand
eine übertriebene Bürokratie. Das darf nicht sein. gar nichts, um es einmal ganz klar zu sagen. Jede dritte
Herr Präsident, ich komme zum Schluss Neueinstellung im sogenannten Aufschwung erfolgt in
Leiharbeit. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklave-
(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] rei.
[SPD])
(Beifall bei der LINKEN)
und möchte an Sie alle appellieren: Unterstützen Sie den
Antrag der Koalitionsfraktionen! Die Umsetzung von Nicht nur die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden
dessen 15 Forderungen wird mithelfen, dass wir nach- ausgebeutet. Vielmehr werden damit auch noch die
haltig aus der Krise herauskommen. Daran sollten wir Löhne der anderen Beschäftigten gedrückt. Für die Leih-
alle ein Interesse haben. arbeiterinnen und Leiharbeiter gibt es nicht einmal einen
Mindestlohn, und zwar dank der FDP, weil sie mit allen
Besten Dank fürs Zuhören. Mitteln versucht, den Mindestlohn zu verhindern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Rund die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt nur mit
befristeten Arbeitsverträgen. Die Zahl der Aufstockerin-
Präsident Dr. Norbert Lammert: nen und Aufstocker stieg um 100 000 auf 1,4 Millionen.
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak- Übrigens auch ganz interessant: Unter den Aufstockern
tion Die Linke. sind 92 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. Frau
(Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil Merkel und andere finden das Aufstocken toll. Ich sage
[Peine] [SPD]: Da kommt der nächste Mittel- Ihnen Folgendes: Wenn jemand einen Vollzeitjob hat,
standsbeauftragte!) gute Arbeit leistet und danach zum Sozialamt gehen
muss, um sein Existenzminimum zu sichern, dann ist das
für die Bundesrepublik Deutschland ein Skandal.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wun- (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der
dern sich, dass die Linke zum Thema Mittelstand FDP: Oh!)
10046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: eine; der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist (C)
Herr Kollege Gysi, nun haben Sie sich ja beinahe eine das andere.
Zwischenfrage bestellt. Die Frage ist, ob Sie diese zulas-
sen wollen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das passt
nicht zusammen!)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Dann wäre das Lohnabstandsgebot eingehalten, und
Es wird zwar keine Frage werden; aber ich lasse sie dann gäbe es all die Probleme nicht, die Sie dadurch an-
natürlich zu. Herr Präsident, Sie müssen aber die Uhr an- richten, dass Sie sowohl die Steigerung des Regelsatzes
halten. als auch die Einführung eines flächendeckenden gesetz-
lichen Mindestlohns verhindern.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN)
Sie werden doch nicht auch nur andeuten wollen, dass
ich Ihnen jemals auch nur zehn Sekunden gestohlen Der Mittelstand braucht den flächendeckenden ge-
hätte. setzlichen Mindestlohn, den Sie verhindern. Er braucht
auch steigende Löhne. Jetzt müssen Sie sich – auch Sie,
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Herr Brüderle – einmal mit der Tatsache auseinanderset-
LINKEN und der SPD) zen, dass es nur eine kapitalistische Industriegesellschaft
auf der Welt gibt, die in den letzten zehn Jahren einen
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Verlust beim Reallohn zu verzeichnen hatte, nämlich
Lieber Kollege Gysi, haben Sie eine Berechnung – es Deutschland: minus 4,5 Prozent – das gab es weder in
wird doch eine Frage –, wie viele Aufstocker es gäbe, den USA noch in Großbritannien noch in Frankreich
wenn wir Ihrem Modell, das einen Hartz-IV-Regelsatz in noch in Skandinavien. Damit müssen Sie sich einmal
Höhe von 500 Euro pro Person vorsieht, folgen würden? auseinandersetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir
dem Mittelstand helfen wollen, brauchen wir jetzt Lohn-
(Zuruf von der LINKEN: Mindestlohn!) steigerungen von mindestens 5 Prozent; besser wären
Haben Sie einmal ausgerechnet, Kollege Gysi, dass, 10 Prozent.
wenn man den von Ihnen geforderten Mindestlohn in (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
Höhe von 11 Euro oder 10 Euro – ich weiß nicht, wie der FDP: 20! 30! 40!)
Tageskurs bei Ihnen gerade ist – einführen würde –
– Nein, wir übertreiben ja nicht.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU) Ich sage Ihnen noch etwas zu höheren Sozialleistun-
(B) gen; dazu gehört auch Hartz IV. Schauen wir uns doch (D)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): einmal dieses einzigartige Schauspiel an, das Union,
Ich schicke Ihnen unsere Programme zu, damit Sie SPD, FDP und Grüne diesbezüglich geliefert haben. Das
das genau wissen. Das ist kein Problem. Bundesverfassungsgericht hat gestern vor einem Jahr
entschieden, dass das Gesetz, in dem die Hartz-IV-Leis-
tungen geregelt sind und das von diesen vier Fraktionen
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
verabschiedet wurde, grundgesetzwidrig ist und dass es
– gerne –, eine vierköpfige Familie etwa 1 000 Euro
bis zum 31. Dezember 2010 eine Neuregelung geben
weniger hätte als eine Familie in Hartz IV, die nach Ih-
muss. Sie haben versagt; es gibt bis heute keine Neu-
rem Modell einen Regelsatz von 500 Euro pro Person er-
regelung.
halten würde?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
von der CDU/CSU: Stimmen Sie doch zu!)
Rechnen müsste man können!)
Ihre Forderungen bezüglich eines Mindestlohns und Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorge-
Hartz IV müssen Sie zusammen betrachten. Wie viele legt, in dem – auch das ist interessant – alle diskriminie-
Aufstocker würde es dann geben? Haben Sie das einmal renden und diffamierenden Strukturen von Hartz IV bei-
ausgerechnet? behalten wurden. Die Steigerung des Regelsatzes um
5 Euro hatten Sie schon vor zwei Jahren angekündigt;
dafür hätten Sie gar nichts berechnen müssen. Sie haben
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): ja auch gar nichts neu berechnet, sondern einfach die
Aufstocker gäbe es nach unserem Modell überhaupt 5 Euro genommen. Wenn das so einfach ist, warum ha-
nicht, weil wir einen flächendeckenden gesetzlichen ben Sie den Gesetzentwurf nicht vor der Sommerpause
Mindestlohn verlangen, der dies eindeutig verhindern vorgelegt?
würde.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Warum so spät? Warum haben Sie das absichtlich verzö-
gert? Sie wollten, dass das Gesetz nicht zustande kommt.
Sie müssen unsere Vorstellungen immer im Zusammen-
hang sehen. Den Regelsatz, den wir für Hartz-IV-Emp- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist der
fängerinnen und Hartz-IV-Empfänger als eine soziale Punkt! – Zuruf von der CDU/CSU: Thema
diskriminierungsfreie Grundsicherung fordern, ist das verfehlt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10047
Dr. Gregor Gysi
(A) Dann haben Sie auch noch das Urteil des Bundesver- lich in diese wunderbare Arbeitsgruppe aufgenommen (C)
fassungsgerichts missachtet. Es liegt keine Berechnung wird.
des Bedarfs für Kinder vor, obwohl das Bundesverfas-
(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Was wir auch
sungsgericht dies verlangt hat.
gemacht haben!)
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Was hat das
denn mit Mittelstandspolitik zu tun? – Gegen- – Ja, natürlich; das haben Sie auch gemacht.
ruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE Am 19. Januar dieses Jahres haben Sie dann – weil
LINKE]: Sehr viel!) Sie ärgerte, dass die Linken jetzt doch von den Neben-
– Das kann ich Ihnen sagen: Der Mittelstand braucht deals erfahren
Kaufkraft, und diese verweigern Sie dem Mittelstand. (Birgit Homburger [FDP]: Mein Gott! Wovon
Das ist das Problem. reden Sie denn da?)
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge- und Sie sich immer wieder unsere prinzipielle Kritik an-
ordneten der CDU/CSU und der FDP) hören mussten – eine illegale Gruppe außerhalb der Ar-
Sie haben die verdeckten Armen nicht aus der Be- beitsgruppe gebildet. Diese illegale Truppe sollte alles
rechnung herausgenommen, und Sie haben bei der Ver- vorbereiten: für den Vermittlungsausschuss, für den
gleichsberechnung nicht mehr die unteren 20 Prozent Bundestag und für den Bundesrat. Das Problem ist nur:
der Einkommen, sondern nur noch die unteren Ohne uns ist selbst diese illegale Truppe zu keinem Er-
15 Prozent einbezogen, um die 5 Prozent, die etwas bes- gebnis gekommen. Damit haben wir es jetzt zu tun.
ser verdienen, nicht in der Vergleichsrechnung zu haben. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Mit
Damit verfolgen Sie ein Ziel: Es sollen nicht mehr als illegalen Truppen haben Sie ja Ihre Erfahrun-
5 Euro werden. Das alles halte ich für grundgesetzwid- gen! Damit kennen Sie sich aus! Das ist wahr!)
rig. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht er-
neut angerufen werden wird. – Ich sage Ihnen eines: Sie sollten einmal darüber nach-
denken, warum Ihre Fraktion nie die Hilfe des Bundes-
Nun haben Sie dieses Gesetz beschlossen, der Bun- verfassungsgerichts benötigt, um ihre Rechte zu bekom-
desrat lehnte es ab, die Bundesregierung berief den Ver- men, und warum nur die Linke immer wieder den Weg
mittlungsausschuss ein, und dieser bildete eine Arbeits- zum Bundesverfassungsgericht gehen muss. Das liegt an
gruppe. Dann passierte das Übliche. Union, SPD, FDP Ihrer grundgesetzwidrigen Einstellung im Verhältnis zur
und Grüne waren sich einig: In diese Arbeitsgruppe neh- Linken. So ist das.
men wir die Linke selbstverständlich nicht mit hinein.
(B) (Beifall bei der LINKEN – Peter Altmaier (D)
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! [CDU/CSU]: Vielleicht liegt das auch an Ih-
Das bringt ja auch nichts!) nen!)
Warum fürchteten Sie uns dort? Aus zwei Gründen: ers- – Damit haben Sie, Herr Altmaier, übrigens auch das
tens, weil Sie keine prinzipielle Kritik an Hartz IV hören Versprechen, das Sie gegenüber dem Bundesverfas-
wollten – denn Sie vier sind sich einig, was Hartz IV sungsgericht abgegeben haben, gebrochen. Ich weiß,
dem Grundsatz nach betrifft –, und zweitens, weil Sie dass die Bundesverfassungsrichter so etwas nicht mö-
befürchteten, dass die Linke dann erfährt, welche Ne- gen.
bendeals dort verabredet werden.
Jetzt gibt es, wie gesagt, kein Ergebnis. Das bedeutet:
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: 6,5 Millionen Betroffene wissen eigentlich nicht, woran
Oh! – Na, na! – Quatsch!) sie sind.
Also haben Sie alle einmütig beschlossen: Die Linke (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sa-
darf nicht daran teilnehmen. gen Sie auch noch mal etwas zum Mittel-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Welt- stand?)
verschwörung!) Das Gesetz, das es einmal gab, ist grundgesetzwidrig
Daraufhin haben wir das Bundesverfassungsgericht und gilt nicht mehr. Ein neues Gesetz liegt aber nicht
angerufen und eine einstweilige Anordnung beantragt, vor. Unter den 6,5 Millionen Betroffenen sind 1,8 Mil-
und das Bundesverfassungsgericht hat dem Vermitt- lionen Kinder.
lungsausschuss Fragen gestellt. Diese Fragen waren so (Dieter Jasper [CDU/CSU]: Mittelstand!)
gestellt, dass dem Vermittlungsausschuss klar war: Die
einstweilige Anordnung wird höchstwahrscheinlich er- Schon jetzt steht fest: Für drei Monate ist ihnen der Zu-
gehen. schuss zum Mittagessen unersetzlich entzogen.
(Birgit Homburger [FDP]: Zum Thema! – (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Reden Sie gerade
Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ir- über die Kinder von Mittelständlern?)
gendwann müssen Sie aber auch noch etwas
Ich finde das alles skandalös. Wenn der einzige Unter-
zum Mittelstand sagen!)
schied zwischen SPD und Grünen auf der einen Seite
Daraufhin hat Herr Altmaier von der Union dem Bun- und Union und FDP auf der anderen Seite darin besteht,
desverfassungsgericht mitgeteilt, dass die Linke natür- dass die einen eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro und
10048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) die anderen eine Erhöhung um 11 Euro wollen, muss ich (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach! So (C)
Ihnen sagen: Auch für arme Leute ist das eine Verhöh- ein Quatsch! Aber dieses Geld wurde doch
nung. Darum kann es im Prinzip nicht gehen. schon versteuert!)
(Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl Ich sage Ihnen: Dieses Entgegenkommen gegenüber
[Heilbronn] [CDU/CSU]: Da hat Ihnen je- Kriminellen nutzt Ihnen gar nichts – ganz im Gegenteil.
mand definitiv die falsche Rede aufgeschrie-
ben! Sehr schade!) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
[Berlin] [FDP]: Sie verstehen gar nichts!)
Wieder einmal wird die Aufgabe, Politik zu machen,
– Ja, es kann schon sein, dass Sie viel mehr von allem
dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Die FDP tut
verstehen. Aber die Ergebnisse Ihrer Politik sehen wir,
alles, um Lohnniveau, Renten- und Sozialleistungen zu
und die sind katastrophal, lieber Herr Lindner.
senken. Ich sage Ihnen: Das ist eine mittelstandsfeindli-
che Politik. (Beifall bei der LINKEN)
Interessant ist auch Folgendes: Die Interessenver- Ich sage Ihnen: Auch Ihre Steuerpolitik ist mittelstands-
bände des Mittelstands fordern Steuervereinfachung und feindlich.
Bürokratieabbau. Im Unterschied zur FDP fordern sie
nicht Steuersenkungen, sondern Steuervereinfachung Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir gut
und Bürokratieabbau. ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen.
Hier ist Ihnen allerdings ein großer Vorwurf zu machen.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das Es gibt in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme.
machen wir ja gerade! Darum kümmern wir
uns!) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir sind
gerade bei der Mittelstandspolitik, Herr Gysi!
Dabei haben sie in uns einen Partner. Nur mal ganz nebenbei!)
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe Ihnen schon einmal erklärt: Das ist
NEN]: Ach ja? Interessant! Seit wann küm- 19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Top-Bildungssystem
mert sich denn die Linke um Bürokratieabbau von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Davon sind
und Steuervereinfachungen?) wir meilenweit entfernt. Sie trennen die Kinder so früh
wie möglich, um soziale Ausgrenzung zu betreiben. Das
– Es gibt wunderbare Steuervereinfachungen: höherer ist nicht der Weg, um ausgebildete Mitarbeiterinnen und
Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer, linearer Ta- Mitarbeiter zu bekommen.
(B) (D)
rifverlauf, endlich ein Abbau des Steuerbauches für die
durchschnittlich Verdienenden, der überhaupt nicht ge- (Beifall bei der LINKEN)
rechtfertigt ist, und eine Erhöhung des Spitzensteuersat-
zes bei der Einkommensteuer von 42 auf 53 Prozent für Allerdings sage ich auch, dass die kleinen und mittel-
alle Einkommen, die man oberhalb von 72 000 Euro er- ständischen Unternehmen zu wenig ausbilden. Wir brau-
zielt. Ja, dann müssten wir alle mehr Steuern zahlen. chen erstens Top-Schulen. Wir brauchen auch eine
Dazu kann ich aber nur sagen: Na und? Das würde für Ausbildungsumlage für Unternehmen, die jene Unter-
mehr Gerechtigkeit sorgen und das Allgemeinwohl stär- nehmen bezahlen müssen, die ausbilden könnten, es aber
ken. nicht tun. Wir brauchen verbindliche Vereinbarungen
über die Zahl der Ausbildungsplätze und ausreichende
(Beifall bei der LINKEN) Studienplätze, und zwar ohne Studiengebühren. Dazu
sage ich Ihnen noch etwas: Die ärmeren Leute in Bayern
Im Übrigen würde das auch Existenzgründerinnen und studieren inzwischen in Berlin, weil es in Berlin keine
Existenzgründern nützen. Studiengebühren gibt. Sie können nicht alles zulasten
Berlins regeln. Das will ich Ihnen auch einmal so deut-
Was machen Sie? Lassen Sie mich ein Beispiel nen- lich sagen.
nen: die Abgeltungsteuer. Die Reichen müssen nach der
Abgeltungsteuer 25 Prozent Steuern zahlen, unter ande- (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
rem auf Zinseinnahmen. Das ist Geld von Geld. Ein Un- der CDU/CSU und der FDP)
ternehmen, das Gewinn gemacht hat und investiert, muss
viel höhere Steuern zahlen. Erklären Sie doch einmal, Wir werden in Berlin keine Studiengebühren einführen,
wieso man fürs Nichtstun, wenn man also Geld be- selbst wenn Sie sie in Bayern erhöhen. Ich glaube aller-
kommt, so viel weniger Steuern zahlen muss, als wenn dings, dass wir von den Studiengebühren wegkommen
man etwas tut. Nein, da haben Sie gar nichts verbessert. müssen.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist Die Forschungsförderung, die Sie planen, planen Sie
doch schon versteuert!) übrigens zu 80 Prozent für Konzerne und nur zu
20 Prozent, lieber Herr Brüderle, für die kleinen und
– Ich kenne die FDP-Argumentation. Wissen Sie, wie mittelständischen Unternehmen; das sind gerade einmal
Ihre Argumentation immer lautete? Sie lautete: Weil es 300 Millionen Euro. Warum erfolgt diese Ungerechtig-
so viel Steuerhinterziehung gibt, muss man den Steuer- keit? – Leider läuft meine Zeit ab. Ich hätte Ihnen noch
hinterziehern entgegenkommen. so viel zu sagen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10049
Dr. Gregor Gysi
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
ruf von der CDU/CSU: Das ist eine gute Nach- sowie bei Abgeordneten der SPD)
richt!)
Das ist die Wahrnehmung der Menschen und ein Grund
– Ich wusste es. Wissen Sie, ich bekomme so selten Bei- dafür, warum Sie in den Umfragen so abschneiden, wie
fall von Ihnen, dass ich ab und zu einen solchen Satz sa- Sie abschneiden.
gen muss, um ihn doch zu bekommen.
Es stimmt: Der Mittelstand ist gut durch die Krise ge-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- kommen. Daher müsste es umgekehrt laufen: Nicht die
neten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von Politik sollte sich dafür auf die Schultern klopfen, was
der FDP: Gut, dann machen wir das noch ein- sie toll gemacht hat. Vielmehr sollten wir dem Mittel-
mal!) stand danken; denn wegen der Stärke der Unternehmer
und Unternehmerinnen sind wir gut durch diese Krise
Lassen Sie mich den letzten Satz sagen. Die größten gekommen. Sie haben es geschafft, das gut zu organisie-
Hemmnisse sind übrigens die Banken, die so gut wie ren, und zwar trotz dieser Regierung und nicht wegen
keine Kredite an kleine und mittelständische Unterneh- dieser Regierung.
men vergeben. Diese Unternehmen haben größte
Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Sie unterneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
men nichts dagegen. Die größten Hemmnisse für den sowie bei Abgeordneten der SPD)
Mittelstand sind die Deutsche Bank und die sich nach ihr Was auch auffällt, ist, dass Sie in Ihrem Antrag – das
richtende Politik dieser Bundesregierung. ist dieses 15-Punkte-Papier; es finden momentan in vie-
Danke schön. len Bundesländern Wahlkämpfe statt, und daher ist es
nicht überraschend, dass wir hier und heute eine Mittel-
(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken standsdebatte führen – Forderungen stellen, die diese
[CDU/CSU]: Sie reden von Schulen! Thema Regierung eigentlich schon längst hätte erfüllen können.
verfehlt! Note sechs!) Es ist bemerkenswert, dass Koalitionsfraktionen ihre ei-
gene Regierung auffordern, etwas Vernünftiges zu tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie haben es in der Vergangenheit geschafft, über die
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel Mehrwertsteuergeschenke für die Hoteliers, über Mil-
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. liarden-Gutscheine für Atomkonzerne, über die Ab-
wrackprämie für die Automobilindustrie so viel Geld zu
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verpulvern, dass das, was Sie selbst in Ihrem Antrag als
(B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wichtig erachten, nämlich die Forschungsförderung für (D)
Kollege Gysi, wenn man einen Großteil der Zeit, die für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, angeb-
die Mittelstandsdebatte vorgesehen war, über Hartz IV lich nicht finanzierbar ist.
redet, bleibt natürlich nur wenig Zeit, um anschließend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
noch etwas zum Mittelstand sagen zu können.
Das ist Ihre Denke, die dahintersteckt: Es geht Ihnen in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirklichkeit um Klientelpolitik. Es geht Ihnen nicht da-
sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ rum, eine vernünftige Strukturveränderung über eine
CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann Rahmengesetzgebung herbeizuführen, wie sie beispiels-
[DIE LINKE]: Das hören Sie nicht gerne!) weise unsere steuerliche Forschungsförderung für den
Aber der Minister war nicht besser. Der Minister hat Mittelstand eine wäre. Sie sagen bei jeder Veranstaltung:
es in sechs Minuten geschafft, hier relativ viel heiße Luft Das ist wichtig; das müssen wir machen. Wenn es aber
abzulassen, aber zu den Problemen, die es zu lösen gilt, konkret wird, dann lehnen Sie ab. Die Grünen hatten ja
kein Wort zu verlieren. bereits einen Antrag dazu gestellt. Die Union und die
FDP haben ihn abgelehnt. Jetzt haben Sie diese Forde-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungen in Ihr Papier geschrieben. Daran sieht man: Es ist
und bei der SPD) irgendwie nett gemeint;
Herr Brüderle, dieses Sich-selbst-Loben, das man von (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der FDP kennt – das betreiben ja viele von Ihnen sehr NEN]: Das ist nur Getöse!)
gerne –, wird in den Ländern mittlerweile so gesehen
– ich bringe ein kurzes Zitat Ihres Landesvize in Hessen, aber sobald es konkret wird, sind Sie abgetaucht.
der Folgendes wörtlich gesagt hat –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Slogan ‚Erfolgreich vor Ort‘ verbietet eigent- Das rächt sich aber. Die KMUs erhalten nur etwa
lich, dass sich Westerwelle vor Ort breit macht. 15 Prozent der Forschungsausgaben. Gerade die kleinen
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und mittelständischen Unternehmen sorgen aber doch in
NEN und bei der SPD) der mittleren Perspektive für das, was wir brauchen: für
Innovationen im Bereich der Fahrzeugtechnologie, Inno-
Das ist zwar hart, zeigt aber, dass das, was Sie hier an vationen im Bereich der Energieversorgung, Innovatio-
guter Politik zu machen glauben, vor Ort anscheinend nen in der chemischen Industrie und den kleinen Unter-
nicht ankommt. nehmen, zum Beispiel der Medizingeräteindustrie. Sie
10050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Christine Scheel
(A) müssen erkennen, dass sehr viel an Förderung fehlt, um wir hätten hier keine Probleme, was natürlich überhaupt (C)
hier voranzukommen. Darauf sollte man den Fokus le- nicht stimmt und von den Unternehmen auch völlig an-
gen. Ansonsten rächt sich das am Ende; denn wir wollen ders gesehen wird.
doch Vorbild sein für vernünftige Produkte auf dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Weltmarkt, die ressourcenarm produziert werden und
wenig Energie verbrauchen. Dafür ist diese Forschungs- Es passiert nichts. Wir haben auch den mehrfach an-
förderung notwendig. Geben Sie sich endlich einen gekündigten Entwurf eines Gesetzes zur schnelleren An-
Ruck, und machen Sie das. erkennung von ausländischen Abschlüssen noch nicht
vorliegen.
Ein anderes Thema, das Sie auch sträflich vernachläs-
sigt haben, ist der Fachkräftemangel. Es wird darüber (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gesprochen, wie viele Fachkräfte fehlen. NEN]: Ja, ungeheuerlich!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es ist ein Problem, wenn eine Ärztin aus einem osteuro-
NEN]: Herr Brüderle, hallo! Fachkräfteman- päischen Land hier nicht im Krankenhaus arbeiten kann,
gel!) weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird, sondern als
Reinigungskraft arbeiten muss, weil Sie das nicht voran-
Wir wissen, dass die Zeit drängt und dass dem Mittel- bringen, und wir gleichzeitig einen Ärzte- und Ärztin-
stand Kosten in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro ent- nenmangel haben.
stehen, weil es diese Fachkräfte nicht gibt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin. Daran sieht man, dass diese Regierung nicht in der Lage
ist, die Probleme, die es zu lösen gilt, auch wirklich an-
Herr Minister, es wäre ganz schön, wenn bei dem Be- zugehen.
mühen der Rednerin, sich an Sie zu wenden, dafür auch
Aufmerksamkeit hergestellt werden könnte. Der Vorschlag, den die Grünen machen, ist: Wir brau-
chen eine Kombination. Heimische Arbeitskräfte müs-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sen weiter gefördert und qualifiziert werden; gleichzeitig
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian brauchen wir bedarfsorientiert eine kontrollierte Zuwan-
Lange [Backnang] [SPD]: Gerade wenn es um derung. Wir haben eine Absenkung der Mindestver-
Fachkräftemangel geht! – Hubertus Heil dienstgrenze auf 40 000 Euro vorgeschlagen. Das erzäh-
[Peine] [SPD]: Das ist der Fachkräftemangel len Sie draußen auch immer herum. In der Praxis haben
in der Bundesregierung!) Sie es aber noch immer nicht politisch umgesetzt.
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ich nehme an, der Herr Minister muss sich zwischen-
durch beraten lassen, wie das Problem des Fachkräfte- Sie sagen immer, man müsse Brücken bauen und etwas
mangels zu lösen ist. Das genau ist das Problem; denn tun; aber Sie sind nicht bereit, hier voranzugehen, weil
innerhalb der Koalition gibt es hier keine klare Linie. Es es zu diesem Punkt keine übereinstimmende Meinung in
wird immer nur darüber geredet, aber es gibt keine Posi- der Koalition gibt. In Wirklichkeit streiten Sie seit zwei
tion. Jahren. Das ist schlimm für unseren Standort und wirft
uns im internationalen Wettbewerb zurück.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Bei der CSU ist es ganz schlimm. Sie diskutiert jetzt
darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist – Ein Beispiel dafür, wie kurzsichtig auch Ihre Energie-
und das im Zusammenhang mit der Diskussion über politik ist, ist die Laufzeitverlängerung für die Atom-
Fachkräfte. Absurder geht es wirklich nicht mehr. kraftwerke, über die wir hier schon öfter diskutiert ha-
ben. Dabei geht es auch um die Frage, was das für
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott, unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen be-
Christine!) deutet. Denn der Mittelstand wird durch eine solche
Wer mittelständische Unternehmen besucht, der weiß, Maßnahme, wie Sie sie mit der Laufzeitverlängerung ge-
wie schwierig die Situation ist, lieber Ernst Hinsken. Wir troffen haben, massiv benachteiligt. Der Ausbau der re-
wissen, wie schwierig die Situation ist, und wir wissen generativen Energien wird gestoppt.
auch, dass die derzeitigen Regelungen, von denen Sie (Jörg van Essen [FDP]: Das haben wir gerade
glauben, dass sie super funktionieren, eben nicht funk- bei der Solarenergie gemerkt! In was für einer
tionieren. Wenn man bei der Regierung nachfragt, dann Wirklichkeit leben Sie denn eigentlich?)
erfährt man zum Beispiel, dass es keine Daten über Vor-
rangprüfungen und darüber gibt, wie lange das dauert. Die kleinen dezentralen Energieversorger wie die Stadt-
Es gibt einfach keine vernünftige Grundlage, sondern es werke werden ausgebremst. Es gibt wütende Briefe aus
wird ins Blaue hinein behauptet, den Regionen, in denen eine dezentrale Versorgung mit
Beteiligung des örtlichen Handwerks gefordert und fest-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ins Grüne gestellt wird, dass diese Regierung mit der von ihr ge-
hinein!) troffenen falschen Entscheidung ein gut geplantes Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10051
Christine Scheel
(A) schäftsmodell zunichte gemacht hat, und zwar zulasten mand, der wie ich selber aus einem Handwerksbetrieb (C)
der Unternehmen vor Ort, vor allem der kleinen und mit- kommt. Deshalb haben wir gerade als Koalition immer
telständischen Betriebe. konsequent deutlich gemacht, dass der Aufschwung vor
allem auf die Unternehmen und Arbeitnehmer zurück-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
geht. Es geht aber auch um vernünftige Rahmenbedin-
Die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der KMU über- gungen. Diese hat die Koalition im letzten Jahr in der
steigt die in den Atomkonzernen um ein Vielfaches. Das Krise geschaffen und damit dazu beigetragen, dass es
ist bekannt. aufwärts ging.
Sie haben die Förderung des Handwerks angekündigt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Was haben Sie aber gemacht? Sie haben bei der energeti- der CDU/CSU)
schen Gebäudesanierung die Förderung zusammen-
Der Mittelstand war der Motor, der uns aus der Krise
gestrichen. Sie haben die Förderung reduziert, obwohl
gezogen hat. Das war auch deshalb möglich, weil
alle wissen, dass das Investitionsvolumen in diesem Be-
Schwarz-Gelb in Berlin und Stuttgart die größten Bro-
reich über 300 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik
cken aus dem Weg geräumt hat.
Deutschland sichert. Wir wissen, dass 1 Euro öffentliche
Investitionen gerade in diesem Bereich weitere 9 Euro (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein
an Investitionen auslöst und dass der Staat letztlich über Quatsch!)
die gezahlte Mehrwertsteuer mehr einnimmt, als er für
Förderung ausgibt. Auch daran wird klar, dass Sie den Wir haben die Wachstumsbremsen beseitigt, beispiels-
Schwerpunkt falsch gesetzt haben. weise durch die Entlastungen bei der Unternehmensteu-
erreform und die mittelstandsfreundliche Regelung der
Für uns steht fest: Der ökologische Mittelstand ist Unternehmensnachfolge, mit der wir die größten Pro-
weltmarktführend. Er ist innovativ und steht für die öko- bleme Ihrer Reform korrigiert haben.
logische Modernisierung. Bremsen Sie sie nicht aus!
Denn die Unternehmen wollen ökologische Modernisie- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein
rung. Sie wollen, dass es auf dem Weltmarkt vernünftige Quatsch!)
Produkte gibt. Dann sind aber auch die entsprechenden Wir haben das auch deshalb getan, weil das Geld, das da
Rahmenbedingungen in Deutschland notwendig, um besteuert wird, schon zigmal versteuert worden ist.
diese Zukunftsorientierung leben zu können. Durch Ihre
Politik machen Sie vielen das Leben ziemlich schwer. Sie haben das Thema Zinsen angesprochen, Herr
Gysi, die Sie höher besteuern wollen. Sie haben von ei-
Danke schön. ner Politik für Kriminelle gesprochen. Sehr verehrter
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Gysi, diejenigen, die in diesem Land sparen und (D)
das tun, was wir von den Menschen erwarten, nämlich
etwas von dem, was sie sich hart erarbeiten, fürs Alter
Präsident Dr. Norbert Lammert: zurückzulegen, sind diejenigen, die für ihr Erspartes Zin-
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger sen bekommen, und diese Menschen beschimpfen Sie
für die FDP-Fraktion. als Kriminelle.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Es geht doch
der CDU/CSU) um Steuerhinterziehung, Frau Homburger!)
Birgit Homburger (FDP): Über diese Aussage sollten Sie einmal nachdenken, Herr
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gysi. Wir machen Politik für die Menschen in diesem
Land, für den kleinen Mann und die kleine Frau, die sich
Es ist derjenige Staat am besten verwaltet und re- anstrengen, die arbeiten und die sparen und davon auch
giert, in welchem der Mittelstand der zahlreichste etwas haben sollen.
ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Es war richtig, dass wir das Jahr 2010 mit einer Ent-
lastung von 24 Milliarden Euro begonnen und damit ei-
Dieses Zitat ist 2 400 Jahre alt. Es stammt von Aristoteles nen Impuls für die Binnennachfrage gesetzt haben.
und trifft den Nagel auf den Kopf. Die Entwicklung in
Deutschland 2010 ist der beste Beweis dafür, dass wir (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Mö-
den Mittelstand brauchen. Ein guter Staat stärkt den Mit- venpicks sagen Danke! – Dr. Axel Troost [DIE
telstand und macht ihn nicht kaputt. Deshalb hat diese LINKE]: Deshalb haben die Kommunen auch
Koalition die Wirtschaftspolitik konsequent auf eine kein Geld mehr!)
Mittelstandspolitik umgestellt. Das werden wir auch so Da komme ich zum Kollegen Friedrich, der hier gesagt
fortführen. hat, wir wollten mehr Netto vom Brutto. Ja, wir haben
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mehr Netto vom Brutto.
der CDU/CSU) (Lachen bei der SPD – Hubertus Heil [Peine]
Der Aufschwung, den wir derzeit erleben, ist zu- [SPD]: Wo denn? Höhere Krankenversiche-
nächst einmal von den Unternehmen und den Arbeitneh- rungsbeiträge! – Christian Lange [Backnang]
mern erarbeitet worden. Das weiß niemand besser als je- [SPD]: Bei den Mövenpicks, oder wo?)
10052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Birgit Homburger
(A) Das Statistische Bundesamt hat gerade festgestellt, dass Bundesrates! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: (C)
die Nettolöhne so stark steigen wie seit 17 Jahren nicht Das ist ja das Allerneuste!)
mehr. Das ist ein Erfolg, den wir erreicht haben.
Das wäre etwas, was tatsächlich Entlastung für die Kom-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – munen bringen würde; das wäre etwas, was Sie machen
Volker Kauder [CDU/CSU]: Die SED-Millio- müssten. Deshalb, Herr Gysi, kann ich Ihnen nur emp-
nen, die sind Verbrechertum, Herr Gysi! Wo fehlen: Stimmen Sie dieser Reform zu!
haben Sie die Millionen der SED versteckt?)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Herr Friedrich, dann stellen Sie sich hier hin und werfen
Wir werden die Mittelstandspolitik konsequent fort-
ausgerechnet dieser Koalition, die nachweislich erreicht
setzen. Wir werden das tun, indem wir entsprechende
hat
Rahmenbedingungen bei der Infrastruktur setzen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo haben Sie
Frau Scheel, Sie haben die erneuerbaren Energien an-
die Millionen der SED versteckt?)
gesprochen. Ich sage Ihnen: Wir fördern erneuerbare
– das sagt auch der Bund der Steuerzahler –, dass die Energien. Wir haben zum ersten Mal einen Fonds für er-
Menschen mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben, neuerbare Energien auf den Weg gebracht, mit dem wir
Lüge vor. Das sagt ausgerechnet jemand, der einer Partei etwas schaffen werden, was Sie nie erreicht haben.
angehört, die einst keine Mehrwertsteuererhöhung wollte
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
und dann eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent
vorgenommen hat. Die größte Steuerlüge in dieser Repu- Wir werden den Bereich Speichertechnologie konse-
blik haben Sie zu verantworten. quent fördern; denn wer für die erneuerbaren Energien
eine große Zukunftschance will, der muss vor allen Din-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!)
gen im Bereich der Speichertechnologie etwas tun. Mit
Wir haben unsere Versprechen gehalten. unserem Fonds werden wir etwas reparieren, was Sie
über Jahrzehnte in der Politik verpennt haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sehr verehrter Herr Gysi, jetzt komme ich noch ein-
mal zu Ihnen und Ihrer Rede, die Sie im Wesentlichen
Hartz IV gewidmet haben. Wer wirtschaftliche Dynamik Präsident Dr. Norbert Lammert:
über höhere Hartz-IV-Sätze regeln will, Frau Kollegin Homburger, der Kollege Gysi möchte
Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Auch!)
(B) (D)
der verkennt Ursache und Wirkung. Deshalb bleibt es Birgit Homburger (FDP):
richtig, dass wir eine Politik zunächst einmal für diejeni- Herr Präsident, ich möchte gern zum Schluss meiner
gen machen, die den Wohlstand in diesem Land erarbei- Rede kommen.
ten; sie müssen mehr haben als diejenigen, die nicht ar-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
beiten. Diese Politik werden wir konsequent umsetzen.
NEN]: Immer das Gleiche! – Zurufe von der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – LINKEN: Oh!)
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb sind
– Also gut, wenn er unbedingt möchte.
Sie für Armutslöhne in Deutschland! Sehr lo-
gisch! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder
[CDU/CSU]: Seit wann sind Sie logisch, Herr Präsident Dr. Norbert Lammert:
Heil?) Das wird ohnehin das krönende Finale Ihrer Rede,
Dann haben Sie hier so wunderschön gesagt, wir soll- (Heiterkeit)
ten nicht alles gegen Berlin regeln. Ich will Ihnen nur sa- weil ich Sie gleich darauf aufmerksam machen möchte,
gen – vielleicht können Sie einmal mit Herrn Wowereit dass mit der Beantwortung dann auch die Redezeit er-
Kontakt aufnehmen –: schöpft ist.
(Zuruf von der LINKEN: Kann mal jemand
reden, der Ahnung hat?) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Ich nehme
Sie haben eine riesengroße Chance. Wenn Sie morgen
auch an, dass es der krönende Abschluss sein wird. Ich
im Bundesrat unserem Vorschlag zur Reform von
wüsste auch nicht, was sonst noch kommen sollte.
Hartz IV zustimmen,
(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Seit wann sind
Sie denn im Bundesrat, Frau Homburger?) Frau Kollegin Homburger, ich habe zwei Fragen. Sie
haben darüber gesprochen, dass Leute, die sparen und
dann bekommen Sie eine Entlastung der Länder und der
die sich dieses Geld erarbeitet haben, zu unterstützen
Kommunen, indem der Bund auf Dauer die Kosten der
sind. Ich habe nichts dagegen gesagt. Ich habe von denen
Grundsicherung übernimmt.
gesprochen, die ihre Steuerzahlungen reduzieren. Das
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja Argument der FDP war immer: Weil bei den Zinsen so
eine parteipolitische Instrumentalisierung des viel Steuern hinterzogen werden – und das ist kriminell –,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10053
Dr. Gregor Gysi
(A) muss man den Kriminellen entgegenkommen und die Wir werden eine konsequente Mittelstandspolitik ma- (C)
Steuersätze senken. chen. Wir werden die Orientierung auf den Mittelstand
in der Steuerpolitik, beim Bürokratieabbau, in der Inno-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: So ein vationspolitik, bei Forschung und Entwicklung und bei
Quatsch!) der Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Dies wird für die
Damit habe ich mich auseinandergesetzt und mit nichts Menschen in diesem Land die besten Ergebnisse brin-
anderem. gen, die man sich vorstellen kann. Wir sind angetreten,
weil wir mehr Chancen für mehr Menschen wollen. Das
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollten werden wir konsequent umsetzen.
doch eine Frage stellen!)
Vielen Dank.
– Ich möchte gerne beantwortet haben, ob sie das auch
so sieht. Ich kann es auch als Frage formulieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Lassen Sie ihn
Präsident Dr. Norbert Lammert:
doch machen!)
Das Wort erhält nun die Kollegin Andrea Wicklein
Frau Enkelmann sagt gerade, in der Geschäftsordnung für die SPD.
steht, man kann auch eine Bemerkung machen, man
(Beifall bei der SPD)
muss gar keine Frage stellen. Aber ich kann übrigens
Fragen stellen. Das fällt mir gar nicht schwer.
Andrea Wicklein (SPD):
Deshalb meine zweite Frage: Sie haben gesagt, denje- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
nigen, die das Ganze erarbeiten, solle es besser gehen. Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der Regie-
Da stimme ich Ihnen voll zu. Dann erklären Sie mir rungsfraktionen. Wenn ich mir den Antrag, den Sie
bitte, warum die FDP gegen einen flächendeckenden ge- eingebracht haben, anschaue, dann entsteht bei mir der
setzlichen Mindestlohn ist, was generell zu einer Lohn- Eindruck, dass Sie Ihrem eigenen Minister Untätigkeit
erhöhung führte. Es sind doch, glaube ich, in erster Linie vorwerfen. Man könnte fast den Eindruck haben, Sie
die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die die müssen Ihren eigenen Minister zum Jagen tragen.
Werte in der Bundesrepublik Deutschland herstellen.
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
(Beifall bei der LINKEN) CSU]: Nein, nein! Den brauchen wir nicht
zum Jagen tragen; der macht das schon alleine
Birgit Homburger (FDP): richtig!)
(B) Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, das, wonach Sie ge- (D)
Schon im ersten Satz des Antrags schreiben Sie richti-
rade gefragt haben, hat der Kollege Martin Lindner vor- gerweise, dass die Unternehmen für den Aufschwung
hin schon völlig richtig ausgeführt. Ihre Politik passt des letzten Jahres verantwortlich sind. Ich möchte noch
überhaupt nicht zusammen. Sie ist in keiner Weise kon- ergänzen: Auch die weitsichtige Politik der SPD in der
sistent. Wir wollen, dass durch eine Stärkung der Arbeit- Großen Koalition war maßgeblich dafür verantwortlich.
nehmer sowie durch eine Stärkung des Mittelstandes Welchen Anteil aber der Bundeswirtschaftsminister an
möglichst viele Menschen in Deutschland die Chance diesem Aufschwung hat, kann man nicht erkennen. Of-
auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung er- fensichtlich halten Sie von der Regierungskoalition es
halten. Das haben wir ausweislich der Zahlen auch er- für notwendig, nach anderthalb Jahren Schwarz-Gelb Ih-
reicht. Die niedrigste Arbeitslosigkeit und die niedrigste ren Minister aufzufordern, die beschlossenen Maßnah-
Jugendarbeitslosigkeit seit 20 Jahren, das ist ein Erfolg men aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag endlich umzu-
unserer Politik. Diese Politik werden wir fortsetzen, und setzen. Minister Brüderle hat seit seinem Amtsantritt
zwar im Sinne der Menschen in diesem Lande. pressewirksam eine ganze Reihe von Initiativen gestar-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker tet, die angeblich dem Mittelstand zugutekommen: die
Kauder [CDU/CSU]: Setzen, Gysi!) Initiative „Gründerland Deutschland“, die Initiative „In-
ternet erfahren“ und die Initiative „Zukunftsmarkt zivile
Herr Gysi, Sie dürfen gerne stehen bleiben, denn Sie hat- Sicherheit“. Vor wenigen Tagen schließlich verkündete
ten zwei Fragen gestellt. der Minister spontan eine neue Technologieoffensive.
Die zweite Frage bezog sich auf die Zinsen. Wir ha- Am laufenden Band Initiativen zu starten, ist reine An-
ben immer wieder deutlich gemacht: Aus unserer Sicht kündigungspolitik.
ist es nicht fair, wenn man auf Erspartes Zinsen be- (Beifall bei der SPD)
kommt und auf diese Zinsen nochmals Steuern bezahlen
muss; denn das ersparte Geld ist bereits zuvor versteuert Ganz offensichtlich, Herr Minister, sehen das die eige-
worden. nen Regierungsfraktionen genauso; denn sie halten es
für nötig, in ihrem Antrag ausdrücklich zu fordern, dass
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So wird man die neue Technologieoffensive auch zügig umgesetzt
zur Millionärspartei, genau so!) wird. Das zeugt nicht gerade von einem großen Ver-
trauen in Ihr Regierungshandeln.
Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb sind wir der
Meinung, dass wir den Menschen möglichst viel von Aber die Krönung des Ganzen ist, dass Herr Brüderle
dem lassen wollen, was sie sich erspart haben. bereits im Januar 2010 einen Neun-Punkte-Plan für den
10054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Andrea Wicklein
(A) Mittelstand verkündet hat und exakt am gleichen Tag ein Drittens: die Innovationsförderung. Auch dazu wurde (C)
Jahr später nun einen Sieben-Punkte-Plan für den Mittel- heute schon zu Recht etwas gesagt. Die Koalitionsfrak-
stand neu verkündet. tionen haben die steuerliche Förderung von Forschung
und Entwicklung in ihren Antrag hineingeschrieben, ob-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da sind zwei wohl sich, wenn ich mich richtig erinnere, Ihr Kollege
weggefallen!) Pfeiffer in der Bundestagsdebatte am 20. Januar von der
Wenn ich diese beiden Initiativen nebeneinanderlege, Einführung der steuerlichen Förderung in dieser Legisla-
stelle ich fest, dass dem Wirtschaftsminister nichts turperiode bereits verabschiedet hat.
Neues eingefallen ist. (Peter Friedrich [SPD]: So ist es!)
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unklar bleibt also, was Sie eigentlich wollen und wann
NEN]: Deshalb ging die Rede auch nur sieben Sie damit beginnen wollen. Die SPD ist ganz klar für eine
Minuten!) steuerliche FuE-Förderung. Diese soll die Projektförde-
rung ergänzen. In Ihrem Antrag wird unter Punkt 7 wieder
Da stelle ich doch ernsthaft die Frage: Was haben Sie in nur schwammig von der Einführung der FuE-Förderung
diesem Jahr getan? Offensichtlich nichts. „unter Berücksichtigung des gebotenen Konsolidierungs-
(Beifall bei der SPD) kurses“ gesprochen.

Entscheidend sind eben Taten, Herr Brüderle, und nicht Sehr geehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen,
Ankündigungen. zusammenfassend ist zu sagen, dass Sie sich mit Ihrem
gesamten Antrag nicht gerade mit Ruhm bekleckert ha-
Trotz der momentan guten Konjunktur liegen doch ben. Er ist unkonkret, und Sie schieben die Probleme vor
die Probleme auf der Hand. Ich möchte einige heraus- sich her. Ich habe die Befürchtung, dass dem Motor Mit-
greifen. Erstens. Stichwort: Gründungen. Auch wenn der telstand bald der nötige Schmierstoff ausgeht, um auf
Trend positiv ist, sind die Zahlen der Gründungen in Dauer das notwendige Tempo zu bringen.
Deutschland nach wie vor ernüchternd. Deutschland
(Beifall bei der SPD)
nimmt unter den 18 hochentwickelten Volkswirtschaften
bei Existenzgründungen nur den vorletzten Platz ein. Ich
frage Sie: Wie und wann wollen Sie die Rahmenbedin- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gungen für eine erfolgreiche Gründungskultur nun kon- Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner für die
kret verbessern? Was wollen Sie für eine bessere soziale CDU/CSU-Fraktion.
Absicherung der Gründer tun? Wann intensivieren Sie
(B) Ihre Bemühungen, Genehmigungsverfahren zu vereinfa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D)
chen? Welche Vorschläge haben Sie, gezielte Existenz- Peter Friedrich [SPD]: Haben wir schon wie-
gründungshilfen auszubauen? Von Ihnen hört man da gar der Wahlkampf?)
nichts.
Julia Klöckner (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
Zweitens. In Deutschland haben es Gründer nach wie und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
vor schwer, an das nötige Kapital zu kommen. Gerade (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott schütze
die Finanzierung von der Geburt bis hin zu den ersten Rheinland-Pfalz!)
Schritten der jungen Unternehmen ist besonders schwie-
rig. Jeder vierte Gründer klagt über große Probleme. Es Herr Gysi, Sie wollten sich heute als neuer Mittelstands-
ist beunruhigend, wenn fast zwei Drittel der befragten beauftragter präsentieren. Ich schätze ja Ihren Sinn für
Experten die Finanzierungsbedingungen für Gründun- subtilen Humor. Ihre Partei ist mitnichten die Mittel-
gen in Deutschland als besonders schlecht einstufen. standspartei. Sie schafft es noch nicht einmal zur Mittel-
Deshalb wäre es doch dringend geboten, Herr Brüderle, maßpartei.
die Bedingungen für Wagniskapital zu verbessern. Ich
frage mich: Wann werden Sie die bereits im Januar 2010 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
angekündigte Überprüfung der steuerlichen Verbesse- Peter Friedrich [SPD]: Das habt ihr schon hin-
rung für Wagniskapital endlich abgeschlossen haben? ter euch!)
Sie haben gefragt, wo denn die Spareinlagen sind.
(Beifall bei der SPD)
Wissen Sie, Herr Gysi, mich würde wirklich interessie-
Wann können wir mit konkreten Vorschlägen für eine ren, wo die Spareinlagen der SED-Vermögen gelagert
Reform des Wagniskapitalbeteiligungsgesetzes rechnen? sind. Auch das könnte von Interesse sein.
Als SPD setzen wir auf erfolgreiche Unternehmen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wagniskapital bereitstellen, auch unabhängig vom High- Widerspruch bei der LINKEN)
Tech-Gründerfonds; denn sie können ihre Erfahrungen
mit den Gründern teilen. Das beweisen die Wagniskapi- Diese Frage hören Sie nicht gern. Sie haben sich ja
talgesellschaften, die es bereits gibt. Wir haben das rechtlich nicht davon losgesagt. Insofern müssten Sie
„Corporate Venture Capital“ genannt. Hier sollten Sie auch wissen, wie gute Geldanlage außerhalb Deutsch-
schnellstmöglich aktiv werden, um das zu erleichtern. lands funktioniert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10055
Julia Klöckner
(A) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was? Die (C)
und Kollegen, noch vor wenigen Jahren sprach das Wall Kohl’sche? – Weitere Zurufe von der SPD)
Street Journal von Deutschland als dem kranken Mann Statt 5 Millionen Arbeitslose noch im Jahr 2005 haben
Europas. Das war 2005 unter der Regierung von Bun- wir jetzt nur noch 3 Millionen Arbeitslose, und die Ten-
deskanzler Schröder. Und heute? Heute sieht es anders denz ist weiter sinkend, liebe Kolleginnen und Kollegen.
aus. Herr Heil, Sie müssen sich erinnern: Schröder sagte ja
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dank Herrn im Jahr 1998, er werde die Arbeitslosigkeit halbieren.
Schröder!) Das hätte er gern für sich beansprucht.

Heute spricht zum Beispiel die Washington Post davon, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben wir
dass die deutsche Wirtschaft die stärkste in der Welt sei, geschafft!)
und das unter der Regierung von Bundeskanzlerin – Sie sagen: Das haben wir geschafft. Spätestens daran
Angela Merkel. sieht man, dass das Bildungssystem an manchen Stellen
des Mathematikunterrichts verbesserungsbedürftig ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Trierische Volksfreund?) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Frau Klöckner,
Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen!)
Heute ist Deutschland zur Konjunkturlokomotive in
Europa geworden, und das übrigens in einer Zeit, in der Lieber Herr Heil, 5 Millionen Arbeitslose waren es
sich andere Volkswirtschaften noch mühselig aus dieser unter Gerhard Schröder. Diese christlich-liberale Regie-
Krise herauskämpfen. rung hat es in greifbarer Nähe, dass die Arbeitslosigkeit
halbiert werden wird. Das danken ihr die Menschen;
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Tut, tut!) denn sie sind in Lohn und Brot. 40 Millionen Menschen
sind in Beschäftigung. Das ist ein Ergebnis guter Politik,
Natürlich gibt es auch noch Nachwehen. Ich denke, die Sie nicht schlechtmachen sollten. Es tut Ihnen weh;
an dieses Problem müssen wir mit Demut herangehen. das weiß ich.
Nichtsdestotrotz ist klar, dass unsere Wettbewerbsposi-
tion nach dieser Finanz- und Wirtschaftskrise stärker ist (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihre Oberfläch-
als zuvor. Nach etwa 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum lichkeit tut ein bisschen weh!)
im vergangenen Jahr schauen wir jetzt auf 2,3 Prozent Aber dieses intelligente politische Krisenmanagement,
Wachstum im Jahr 2011. Natürlich darf nicht jedes dieses Szenario, war richtig und war wichtig. Wir haben
Wachstum blind bejubelt werden. Umso mehr freut es die Kurzarbeit und die Konjunkturpakete auf den Weg
(B) mich, dass der Aufschwung an Breite und an Tiefe ge- gebracht. Und noch eines: Würden Sie einmal mit dem (D)
wonnen hat. Die deutsche Wirtschaft engagiert sich nach Mittelstand sprechen, dann würden Sie auch erkennen,
wie vor intensiv im Export. Die Exportwirtschaft sichert dass dabei genau das, was der Kollege Fuchs, was der
Arbeitsplätze. Kollege Brüderle, was die vielen anderen Kolleginnen
In diesem Zusammenhang möchte ich der Opposition und Kollegen der christlich-liberalen Koalition erkämpft
haben, nämlich die Entlastung in Höhe von 24 Milliar-
eines sagen: Auch die Ernährungswirtschaft sichert Ar-
den Euro seit Jahresbeginn 2010,
beitsplätze.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und der
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guten Appetit!) Hotels!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie sagen, zum Tragen gekommen ist. Dass dies zum Tragen ge-
es sei unanständig, wenn wir Nahrungsmittel produzie- kommen ist, spüren die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ren und ins Ausland schicken, Sie sagen, wir würden ter. Deshalb sage ich: Herzlichen Dank all jenen, die be-
nicht nachhaltig produzieren, weil wir über Bedarf pro- reit sind zu investieren!
duzieren. Es ist unanständig, so etwas in den Ausschüs-
sen zu behaupten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es gehört
GRÜNEN) der Fairness halber dazu, zu sagen, dass Sie durchaus
ökonomischen Sachverstand und Vernunft hatten, als Sie
Ich habe noch nie gehört, dass Sie sich über das impor- noch auf der Regierungsbank saßen,
tierte argentinische Rindfleisch beschweren. Ich danke (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja!)
allen, die an der Exportwirtschaft beteiligt sind, weil sie
Arbeitsplätze und Zukunft sichern. zumindest waren Sie der ökonomischen Vernunft gegen-
über aufgeschlossen. Das hat sich in der Opposition lei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FPD) der etwas gedreht. Wenn man jetzt betrachtet, was bei
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst das Sorgen- Ihnen auf der Oppositionsbank los ist, dann merkt man,
kind, das wir hatten, der inländische Konsum, hat sich dass der Fachkräftemangel akuter ist als jemals gedacht.
erholt. So haben wir für 2011 eine Prognose von rund (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich glaube,
2 Prozent Steigerung. Und das Allerschönste ist: Auch Sie müssen dringend auf die Oppositionsbank
die Schröder’sche Massenarbeitslosigkeit haben wir weit in Rheinland-Pfalz, aber ganz dringend! Ist das
hinter uns gelassen. eigentlich Ihre letzte Rede hier?)
10056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Julia Klöckner
(A) Das zeigt schon allein die Tatsache, dass Herr Gabriel nate, innerhalb welcher 50 Prozent der Arbeitnehmer (C)
die Liberalisierung der Zeitarbeit – übrigens ein echter eingesetzt werden, sind die Grenze.
Erfolg der rot-grünen Agenda 2010 – plötzlich als zen-
tralen Fehler bezeichnet und fröhlich die Rolle rückwärts (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Heil, Sie
macht. reden Unsinn, absoluten Unsinn! Steht im Ge-
setz!)
Schauen wir zum Beispiel nach Rheinland-Pfalz.
– Herr Kauder, beruhigen Sie sich doch einmal. Es ist
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gott schütze nicht gut für die Gesundheit, wie Sie sich aufregen.
Rheinland-Pfalz vor Ihnen! – Zuruf von der
CDU/CSU: Ein sehr schönes Land!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich bin kernge-
sund, Sie arroganter Kerl!)
Dort gibt es Unternehmen wie Mercedes-Benz in Wörth,
die das Prinzip eines dreistufigen Rekrutierungspro- – Herr Kauder, Dünnhäutigkeit ist das eine, aber wir
grammes verfolgen. Dort wird schulbuchmäßig derje- wollen doch mit Frau Klöckner die Frage klären.
nige, der ausscheidet, durch einen bisher befristet Be- Meine einfache Frage an die Spitzenkandidatin der
schäftigten ersetzt, der nun unbefristet angestellt wird. rheinland-pfälzischen CDU: Nach welcher Einarbei-
Ein neuer Zeitarbeitnehmer erhält wiederum einen be- tungszeit gönnen Sie den Menschen gleichen Lohn für
fristeten Vertrag. So rückt einer dem anderen nach. So gleiche Arbeit?
wurden 40 Prozent der Zeitarbeitnehmer zu festen Mit-
arbeitern. Das ist ein Erfolgsmodell. Die Landesregie-
Julia Klöckner (CDU/CSU):
rung in Rheinland-Pfalz möchte genau dieses abschaf-
fen. Lieber Herr Heil, es hilft, wenn man ins Gesetz
schaut.
(Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet
sich zu einer Zwischenfrage) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich kenne das
Herr Heil hat eine Nachfrage; ich erkläre es ihm Gesetz!)
gerne.
Wenn man darin liest, dann kann man einiges verstehen.
Ich verstehe, dass es in der Opposition schwierig gewor-
Präsident Dr. Norbert Lammert: den ist, sich eine Position zu erkämpfen.
Dann will ich dem nicht im Wege stehen. Bitte schön,
Herr Kollege Heil. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ant-
(B) wort! Wie viele Monate?) (D)
(Heiterkeit – Peter Friedrich [SPD]: Früh-
stückspause für den Präsidenten!) – Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Es ist unan-
ständig, die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer zu beschimpfen, die über die Leiharbeit in feste Ar-
Hubertus Heil (Peine) (SPD): beit gekommen sind.
Liebe Frau Klöckner, sehr gnädig von Ihnen, dass Sie
mir etwas erklären wollen. Deshalb darf ich Sie etwas (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
fragen: Sind Sie mit uns der Meinung, dass die Zeit- und derspruch bei der SPD – Hubertus Heil [Peine]
Leiharbeit für Unternehmen ein vernünftiges Flexibili- [SPD]: Beantworten Sie die Frage!)
tätsinstrument sein sollte, um die Auftragsspitzen von Es ist unanständig, weil es viele Betriebe in Deutschland
Unternehmen abzudecken, nicht aber – hier mag der Un- gibt, die mithilfe der Leiharbeit die Auftragsspitzen ab-
terschied sein – ein Einfallstor für Lohndumping? Ich puffern konnten.
sage es noch einmal: Für Auftragsspitzen von Unterneh-
men ist Leiharbeit ökonomisch vernünftig, aber wir erle- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen
ben es, dass das Fehlen des Grundsatzes „Gleicher Lohn meine Frage nicht beantworten!)
für gleiche Arbeit“ zwischen Stamm- und Leihbeleg-
schaften Es ist auch unanständig, dass Sie diese kritische Frage
nicht Ihrem Parteikollegen Beck in Rheinland-Pfalz stel-
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die- len, der beim Nürburgring übrigens 400 Millionen Euro
sen Grundsatz gibt es! Er steht im Gesetz!) versenkt hat und jetzt als Landeseigentümer dort Lohn-
dumping betreibt; denn die Putzkräfte dort verdienen
in der Zeit- und Leiharbeit zu Lohndumping führt. weniger als 5 Euro pro Stunde.
Meine Frage an Sie, Frau Klöckner, ist: Ab wie vielen (Widerspruch bei der SPD – Patrick Kurth
Wochen oder Monaten sind Sie dafür, dass der Grund- [Kyffhäuser] [FDP]: Aha!)
satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ uneingeschränkt
gilt? Ich frage Sie: Wann werden Sie glaubwürdig?
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
steht im Gesetz!) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie eine
Meinung?)
Sind Sie wie die FDP der Meinung, dass die Grenze bei
neun Monaten liegen sollte? Ich sage Ihnen: Drei Mo- – Lesen Sie das Gesetz!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10057
Julia Klöckner
(A) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie weiß schaftlichen Entwicklung zum Ausdruck kam. Es waren (C)
nichts! Sie hat keine Ahnung! Gott schütze die Minister in der schwarz-roten Koalition, Steinbrück,
Rheinland-Pfalz vor Ihnen!) Scholz und andere, die Anfang 2009 die Konjunkturpro-
gramme I und II, die Kurzarbeitergeldregelung und die
Ich bedanke mich sehr herzlich bei unserem Wirt-
Abwrackprämie auf den Weg gebracht haben. Das wurde
schaftsminister, ich bedanke mich bei unseren Kollegin- anerkannt. Das war der richtige Weg.
nen und Kollegen und vor allen Dingen beim Mittelstand
in dieser Republik. Wir müssen es schaffen, die Bildung (Beifall bei der SPD – Christian Lange [Back-
intensiv voranzutreiben und die Ausbildungsreife junger nang] [SPD]: Und wer war dagegen? Die FDP,
Menschen zu garantieren, sodass es für viele Arbeitge- wie immer!)
ber nicht mehr einer Lotterie gleichkommt, welches
Man wird sich erinnern: Es waren die FDP und dieser
Wissen in welchem Abschluss steckt.
Herr Wirtschaftsminister, die dagegen polemisiert ha-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie trau- ben. Die Kurzarbeitergeldregelung von Scholz war das
rig!) absolute Maß der Dinge. Darauf sind wir als Sozialde-
mokraten stolz.
Deshalb müssen wir von dem Flickenteppich in Deutsch-
land wegkommen. Ich fordere die SPD auf, sich der Ini- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf etwas muss
tiative der CDU-Länder anzuschließen, ein gemeinsames man als Sozialdemokrat in diesen Tagen stolz
Abitur oder auch gemeinsame Abschlüsse für die Sekun- sein!)
darstufe I einzuführen;
Wenn über Leiharbeit und über den Niedriglohnsektor
(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] diskutiert wird, muss man einmal zur Kenntnis nehmen,
[FDP] – Peter Friedrich [SPD]: Schwarz-gel- dass wir jährlich über 11 Milliarden Euro aus öffentli-
bes Regierungschaos in Baden-Würtemberg mei- chen Kassen, Staatsgeld, aufwenden, um Arbeitnehme-
nen Sie? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ah- rinnen und Arbeitnehmern, die für wenig Geld arbeiten
nungslos, die Dame!) müssen, eine Aufstockung zu zahlen. Dieses Geld auszu-
geben, ist überflüssig. Deshalb brauchen wir einen ver-
denn eines ist klar: Nur mit gut ausgebildeten jungen nünftigen Mindestlohn, und deshalb brauchen wir ver-
Menschen und mit Freiheit für die Betriebe werden wir nünftige Regelungen in der Leiharbeit.
in Deutschland weiterhin die Lokomotive in Europa
sein. (Beifall bei der SPD)
Noch einmal: Mein Dank gilt den Unternehmerinnen In der Debatte heute ist nach meinem Dafürhalten
und Unternehmern sowie den Arbeitnehmerinnen und das, was wir kürzlich, am 25. Januar, im Handelsblatt le- (D)
(B)
Arbeitnehmern. sen konnten, nicht ausreichend thematisiert worden.
Ernst & Young haben eine Erhebung durchgeführt, nach
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Denen Sie kei- der die Hälfte der mittelständischen Firmen Umsatzein-
nen gleichen Lohn gönnen! – Christian Lange bußen befürchten, weil Fachkräfte fehlen, der Fachkräf-
[Backnang] [SPD]: Viel Spaß in der Opposi- tebedarf nicht ganz zu decken ist. Darauf haben wir
tion!) schon in den letzten Jahren hingewiesen. Wir haben im-
Seien Sie gewiss: Die CDU und die FDP stehen an der mer wieder, hier im Deutschen Bundestag und an-
Seite des Mittelstands. Wir werden sie nicht beschimp- derswo, gefordert: Bildet mehr aus! Denn wer heute aus-
fen, wie das die Opposition tut, weil sie damit Punkte bildet, hat morgen keine Probleme mit Facharbeitern.
machen will. Wer nicht ausbildet, muss anfangen, mit dem Lasso zu
suchen. Das ist der falsche Weg.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Peter Friedrich [SPD]: Nicht mal Landesliga- Rechtzeitig auszubilden, das ist Personalpolitik, sichert
niveau! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Beschäftigung, schafft Umsatz.
Ab auf die Oppositionsbank, aber schnell! – Wir als SPD haben 2008 Papiere, Konzepte zum
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott schütze Fachkräftebedarf vorgelegt. Ich will auf einen Themen-
Rheinland-Pfalz vor der CDU!) bereich hinweisen, für den heute keine Antwort gegeben
worden ist; ich glaube aber, wir müssen ihn angehen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Sehr viele junge Leute im Übergang von der Schule zur
Willi Brase ist der nächste Redner für die SPD-Frak- Berufsausbildung, fast 400 000, sind im sogenannten
tion. Übergangssystem. Ich weiß, dass die Bundesbildungs-
ministerin mit anderen dabei ist, diesen Dschungel zu
(Beifall bei der SPD) durchforsten. Es gibt eine Vielfalt von Maßnahmen, die
höchst ineffizient sind. Es wird Zeit, dass wir hier nach
Willi Brase (SPD): dem Motto „Weniger ist mehr“ verfahren und mehr
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man junge Leute aus den sogenannten Übergangsmaßnahmen
sollte sich doch noch einmal an das erinnern, was in den in konkrete Ausbildung führen. Dafür muss man Geld in
letzten Jahren, vor allen Dingen im letzten Jahr, in den die Hand nehmen und Aktivitäten entfalten. Das vermis-
Wirtschaftsberichten und von den Fachleuten zur wirt- sen wir bei der Bundesregierung.
10058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Willi Brase
(A) Bund und Länder sind in der Qualifizierungsoffensive Individuums; je niedriger das vorhandene Bildungs- und (C)
für Deutschland die Verpflichtung eingegangen, die Zahl Qualifikationsniveau und je höher die Benachteiligung,
der jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung von desto mehr Unterstützung vom Staat, vom Bund, von
17 Prozent in 2008 auf 8,5 Prozent bis 2015 zu halbie- Ländern und Kommunen als Korrektiv für mehr Chan-
ren. Wenn wir dies tatsächlich schaffen, würden wir cengleichheit für Benachteiligte auch im Weiterbil-
nicht nur etwas für den Mittelstand tun, sondern insge- dungsbereich. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir
samt für die jungen Menschen und für die Unternehmen auch im Sinne von Integration, im Sinne von Mitnehmen
in unserem Land. von Menschen, die hier in unserem Land leben, eine
große Weiterbildungskampagne starten. Wir brauchen
(Beifall bei der SPD) sie. Sie ist notwendig und wichtig.
Wir haben in Deutschland mittlerweile – das ist durch
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der Fachkräfte-
mehrere Studien belegt – über 2 Millionen junge Er-
mangel – darauf hat die Bundesagentur für Arbeit An-
wachsene im Alter von 25 bis 35 Jahren ohne Berufsab-
fang des Jahres hingewiesen – kann vermieden werden,
schluss. Wir haben junge Männer und junge Frauen mit
wenn wir nicht weiterhin die Frauen von der Arbeitswelt
Migrationshintergrund – 38 Prozent der Männer, 40 Pro-
ausgrenzen.
zent der Frauen –, die keine Ausbildung haben. Das sind
Millionen von Menschen. (Beifall bei der SPD)
Diese Zahlen verdeutlichen: Wir brauchen mehr In- Es wurden auch weitere Faktoren genannt: Es geht um
vestitionen in Bildung, in Qualifikation, in Berufsausbil- Qualifizierung und Weiterbildung; es geht um Reduzie-
dung. Wir sind der Auffassung, hier handelt diese Regie- rung der Zahl der Studienabbrecher und der Ausbil-
rung zu wenig. Was macht sie denn? Sie kürzt und dungsabbrecher; es geht auch darum, die Zahl der Schul-
streicht den Ausbildungsbonus, der dazu dient, die Zahl abgänger ohne Abschluss zu reduzieren.
der Auszubildenden zu erhöhen. Entsprechende Umfra-
Letztendlich lebt der Mittelstand davon, dass er gute
gen – das stellt auch der Bundesrechnungshof in seiner
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Ich selber
Bewertung fest – haben unter anderem ergeben, dass vor
allen Dingen kleinere Unternehmen dank dieser finan- lebe in einer Mittelstandsregion. Das Ziel muss sein,
gute Bezahlung für gute Arbeit durchzusetzen, statt den
ziellen Unterstützung erstmals wieder in Ausbildung
eingestiegen sind. Warum wird das gestrichen, wenn wir Leiharbeits- und den Niedriglohnsektor auszuweiten.
wissen: „Wir brauchen junge Leute!“? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sie haben den Rechtsanspruch darauf, einen Haupt- (Beifall bei der SPD)
schulabschluss nachholen zu können, gestrichen. Sie ha-
(B) (D)
ben den Eingliederungstitel um 2 Milliarden Euro ge- Präsident Dr. Norbert Lammert:
kürzt. Auch das trifft junge Leute. Stattdessen wird über
Der Kollege Hinsken ist der nächste Redner für die
Zuwanderung ausländischer Fachkräfte diskutiert. Mil-
CDU/CSU.
lionen junger Erwachsener ohne Berufsabschluss, und
dann wollen wir noch welche hereinholen! Das ist der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
falsche Weg. Die Arbeit in Deutschland muss mit denen
gemacht werden, die hier in Deutschland leben, liebe Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Kolleginnen und Kollegen. Das wollen wir als SPD. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der SPD) Auf diese heutige Mittelstandsdebatte habe ich mich ge-
freut.
Letztendlich geht es doch darum, wenn wir den Mit-
telstand stärken und ein Stück weit nach vorne bringen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben wir
wollen, die Weiterbildungs- und Beschäftigungsfähig- geahnt!)
keit zu erhöhen und den Menschen die Chance zu geben, Um den Mittelstand steht es momentan Gott sei Dank re-
ihre Arbeitskraft zu vernünftigen Bedingungen anzubie- lativ gut. Das ist vor allen Dingen dieser Bundesregie-
ten. Die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und Wei- rung zuzuschreiben.
terbildung muss erhöht werden. Es müssen eine zweite
und dritte Chance eröffnet werden. Es muss dafür ge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Bis dahin
sorgt werden, dass keiner zurückgelassen wird, dass das war es gut, jetzt nicht mehr!)
Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen möglich
Das soll auch die breite Öffentlichkeit wissen. Ihnen
ist – darauf habe ich schon hingewiesen – und dass die
werden wir es so oft sagen, bis Sie es endlich einmal ka-
Zahl der Geringqualifizierten, die an Weiterbildungs-
pieren und bereit sind, das zu schlucken.
maßnahmen teilnehmen, bis 2015 auf 55 Prozent gestei-
gert wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Peter Friedrich [SPD]: Du sollst uns
Ja, hier stehen wir vor großen Aufgaben. Wir sind der
keine falschen Dinge beibringen!)
Auffassung, dass man dabei Folgendes berücksichtigen
sollte: Je höher die betrieblichen Kosten, desto höher die Unser Mittelstand ist eine tief in diesem Staat veran-
finanzielle Beteiligung der Betriebe und Unternehmen; kerte Gesellschaftskraft: nah am Menschen und für die
je höher der persönliche Gewinn und das persönliche Gemeinschaft. Dass Deutschland so gut dasteht, dass es
Bildungsnieveau, desto höher die Selbstbeteiligung des weit besser dasteht als alle europäischen Nachbarn, hat es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10059
Ernst Hinsken
(A) gerade seinem starken Mittelstand zu verdanken. Wenn dafür, wie der Mittelstand momentan dasteht, ist darin zu (C)
die Politik also heute eine Lehre aus der Krise zieht – und sehen, dass sich die Eigenkapitalquote in der Krise ver-
das muss sie –, dann die, dass sich Politik für den Mittel- bessert hat. Sie stieg von 12,8 Prozent auf 15,6 Prozent.
stand lohnt. Daher kommt es jetzt, in Zeiten der kräftigen
In diesem Jahr entstehen, so die Bundesregierung,
Erholung, ganz entscheidend darauf an, dass die Bundes-
320 000 neue Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Mittel-
regierung an einem mittelstandsgerechten und nachhalti-
stand. Die über 4 Millionen mittelständischen Unterneh-
gen Kurs festhält. Nur so lässt sich der Aufschwung ver-
merinnen und Unternehmer, Selbstständige in Industrie,
stetigen.
Handwerk, Handel, Dienstleistungen und freien Berufen
Herr Wirtschaftsminister Brüderle, Sie haben es zwar sind damit der Motor für Wachstum, Beschäftigung und
kurz, aber prägnant auf den Nenner gebracht, dass das Ausbildung in Deutschland. Dafür kann nicht genug ge-
Ihre Richtschnur für eine Politik im Sinne des Mittel- dankt werden. Dafür gilt es sich nachhaltig immer wie-
stands innerhalb der Bundesregierung ist. der einzusetzen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Herr Hinsken,
der FDP) darf ich Ihnen eine Frage stellen?)
Die Unionsfraktion ist die Fraktion zweier Parteien – Selbstverständlich dürfen Sie.
für den Mittelstand. Wir lassen uns von niemandem
übertreffen, wenn es speziell um die Stärkung des Mit- Präsident Dr. Norbert Lammert:
telstandes geht. Bitte sehr, Herr Kollege Gysi.
(Zuruf von der LINKEN: Doch, von uns!)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Unsere Politik ist zukunftsorientiert, verlässlich und leis-
Herr Hinsken, ich habe nur eine Frage: Haben Sie zur
tungsfördernd. Das ist ein bisschen anders als das, was
Kenntnis genommen, dass das Barometer, von dem Sie
zum Beispiel Sie von den Grünen wollen.
gesprochen haben, auch veröffentlicht hat, dass 25 Pro-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zent der Kreditverhandlungen der kleinen und mittel-
NEN]: Aha! Jetzt kommen wir dran! Darauf ständischen Unternehmen mit den Privatbanken schei-
habe ich schon gewartet!) tern, das heißt, dass sie keine Kredite bekommen? Was
gedenken Sie denn dagegen zu tun? Sollten wir viel-
Liebe Christine Scheel, Sie wollen doch den Mittel- leicht eine direkte Förderung unter Umgehung der IKB
stand belasten, indem Sie zum Beispiel die Bürgerversi- und der Geschäftsbanken ins Auge fassen, also andere
cherung einführen wollen und die Beitragsbemessungs- Wege einschlagen, um die Zahlungsfähigkeit der ent- (D)
(B) grenze auf 5 500 Euro deutlich anheben wollen.
sprechenden Unternehmen zu erhöhen?
(Peter Friedrich [SPD]: Es sind aber eure Zu-
satzbeiträge, die die Leute belasten!) Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Sie wollen eine Komplettsanierung aller Gebäude inner- Erstens, verehrter Herr Kollege Gysi, sind nicht
halb von 40 Jahren und die vollständige Erzeugung von 25 Prozent der Kreditverhandlungen negativ betroffen.
Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien. Das führt (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
zu höheren Preisen und Mieten. Sie wollen, dass die 25 Prozent? Ein bisschen viel!)
Freiberufler in Zukunft Gewerbesteuer zahlen. Sie wol-
len den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anheben. Zweitens möchte ich ausdrücklich darauf verweisen:
Wenn es hinten und vorne fehlt, dann geht halt nichts.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Stück Ordnungspolitik, der wir Rechnung zu
Aber erst bei höheren Einkommen!) tragen haben.
Das heißt schlicht und einfach auf den Nenner gebracht: (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Darf ich nur
Sie wollen die Leistungsträger unserer Gesellschaft noch sagen, dass Basel III – –)
mehr belasten, als sie ohnehin schon belastet sind. Da
machen wir nicht mit. – Ich bin noch nicht fertig.
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ach so!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Kerstin Andreae [BÜND- Wir werden vor allen Dingen das Notwendige ma-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Ihr schiebt chen. Ich finde es gut, dass der Bundeswirtschaftsminis-
lieber 1 Milliarde Euro in Hotels!) ter einen Kreditmediator eingesetzt hat
Vernünftige Rahmenbedingungen sind das A und O, und (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was
dafür stehen wir. hat er bis jetzt gemacht? – Weitere Zurufe von
der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE
Selten hat der Mittelstand so zuversichtlich in die Zu-
GRÜNEN)
kunft geblickt wie zurzeit. Das möchte ich insbesondere
an die Vorredner Herrn Friedrich von der SPD und an – wenn ich schon gefragt werde, dann möchte ich auch
Sie, Herr Gysi, gerichtet sagen. Das KfW-Ifo-Mittel- antworten dürfen –, weil ich nach einem Gespräch mit
standsbarometer erreichte im Dezember 2010 einen Re- Herrn Metternich in Erfahrung bringen durfte, dass al-
kordstand beim Geschäftsklima. Ein wichtiger Indikator lein im letzten Jahr über 1 000 Fälle beraten wurden, wo-
10060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Ernst Hinsken
(A) nach davon allein 750 auf die Beratung entfallen und bilität. Sie sind bereit, sich zu behaupten; sie sind bereit, (C)
dass bei 247 Fällen intensiv direkt Einfluss genommen alles zu machen und zu tun, um nicht unterzugehen.
wurde. Zu guter Letzt konnten 45 Betriebe mit einem
Was die Gründungsdynamik anbelangt, ist noch etwas
Volumen von 60 Millionen Euro auf der einen Seite und
zu machen. Wir brauchen auch in der Bundesrepublik
dem weiteren Verbleib von über 3 100 Arbeitsplätzen
Deutschland mehr denn je eine starke Gründungswelle.
auf der anderen Seite gerettet werden. Es ist für mich
Ich bin der Meinung, dass die jungen Mitbürger in den
schon wichtig, das in der Antwort auf Ihre Frage auszu-
Schulen nicht mehr nur ausgebildet werden sollten, um
führen.
einmal tüchtige Arbeitnehmer zu werden, sondern auch,
(Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE] meldet um einmal tüchtige Unternehmer zu werden, also den
sich zu einer weiteren Zwischenfrage – Volker Weg in die Selbstständigkeit zu gehen.
Kauder [CDU/CSU]: Ist das jetzt ein Dialog?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Was den Fachkräftemangel anbelangt, verehrte Frau
Herr Kollege Hinsken, Sie können jetzt auch in Ihrer Kollegin Scheel, bin ich der Meinung, dass dieses Pro-
vorbereiteten Rede fortfahren. blem nicht isoliert gesehen werden darf; es muss viel-
mehr mit dem Thema der Verlängerung der Lebens-
(Heiterkeit) arbeitszeit in Verbindung gebracht werden. Ich kann mir
durchaus vorstellen, dass ein älterer Mitbürger bereit ist,
Ernst Hinsken (CDU/CSU): sich bis zum 67. Lebensjahr voll und ganz einzubringen,
Ich lasse eine weitere Zwischenfrage zu. wenn er eine Wochenarbeitszeit von weniger als
40 Stunden – vielleicht von 25 oder 30 Stunden – zu ab-
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): solvieren hat.
Ich möchte eine kleine Zusatzfrage stellen. Basel III (Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch 68-Jährige
wird die Bedingungen für die Kreditvergabe verschär- machen 60 Stunden!)
fen. Es gibt kein Gegensteuern der Regierung. Meinen
Sie nicht, dass man etwas dagegen tun müsste? Da ist vor allen Dingen die Wirtschaft gefordert, etwas
zu machen und zu tun. Denn eines steht unbestritten fest:
Bis zum Jahr 2025 wird das Erwerbstätigenpotenzial in
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Deutschland um mindestens 5 Millionen Personen zu-
Herr Gysi, auch hier liegen Sie ein bisschen falsch: rückgehen.
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ein Meine Damen und Herren, wenn ich bei Veranstaltun-
(B) bisschen?) (D)
gen bin, werde ich von einzelnen Mittelständlern oftmals
Die Regierung steuert selbstverständlich entgegen; sie gefragt: Was tut ihr denn überhaupt? Es ist doch unmög-
hat das Interesse des Mittelstandes im Auge. Die Regie- lich, diese – –
rung wird speziell bei Basel III das Notwendige an Maß-
nahmen und Anreizen tun, das unserer Wirtschaft dient. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie können versichert sein: Die Regierung kann das bes- Herr Kollege, Sie können jetzt nicht ausführlich von
ser als Sie. Ihren Gesprächen berichten, sondern allenfalls eine
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kurze, zusammenfassende Bemerkung dazu machen.

Meine Damen und Herren, zurzeit führen wir eine Ernst Hinsken (CDU/CSU):
große Diskussion über die Frauenquote.
Jawohl. Ich möchte dann nicht von diesen wichtigen
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Au ja!) Gesprächen berichten,
Hier möchte ich die Wirtschaft auffordern, es dem Hand- (Heiterkeit)
werk, einem der größten Mittelstandsbereiche, nachzuma-
obwohl das sehr erleuchtend gewesen wäre.
chen; denn hier sind Frauen in den Betrieben längst auf
dem Vormarsch. Jedes vierte Handwerksunternehmen Ich erlaube mir, darauf zu verweisen, dass die von uns
wird zurzeit von einer Frau gegründet. Bei den Meistern vorgeschlagenen 15 Punkte viele Maßnahmen beinhal-
ist ein konstanter Frauenanteil von über 20 Prozent, bei ten. 10 Punkte davon sind exzellent. Diese gilt es umzu-
den Lehrlingen von über 27 Prozent festzustellen. Immer setzen.
öfter übernehmen die Töchter den Familienbetrieb und
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind es
bringen schon in jungen Jahren viel Ideenreichtum und
jetzt 10 oder 15 Punkte? – Dr. Gesine Lötzsch
Gründerwissen mit.
[DIE LINKE]: Was ist denn mit den anderen
Warum ist diese Mittelstandsdebatte so wichtig? Weil 5 Punkten?)
sowohl in Europa als auch in den USA die kleinen und
Wir werden das machen und tun, um die Herausforderun-
mittleren Unternehmen fast überall die Gesamtzahl der
gen zu meistern. Denn wenn wir Deutschland auf Erfolgs-
Unternehmen ausmachen: Über 99 Prozent der Betriebe
kurs halten wollen, brauchen wir keine „Dagegen“-, son-
sind KMU. Im Jahr 2005 waren in der EU fast 20 Millio-
dern eine „Dafür“-Kultur. Dafür stehen wir, nicht Sie.
nen Unternehmen im nichtfinanziellen Sektor der ge-
werblichen Wirtschaft tätig. Diese Betriebe zeigen Flexi- Danke schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10061
Ernst Hinsken
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) immerhin 10 Prozent mehr als noch im vergangenen (C)
Jahr.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Meine Damen und Herren, ich kenne meine Hand-
Die Kollegin Lena Strothmann erhält nun das Wort werker. Sie sind bei Zukunftsprognosen und Konjunktur-
für die CDU/CSU-Fraktion. umfragen immer eher vorsichtig und eher skeptisch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb sind die aktuellen Aussagen für mich der beste
Beweis für den Stimmungsumschwung in unserem
Lena Strothmann (CDU/CSU):
Land. Bürgerinnen und Bürger investieren wieder in
Werte, in Haus, Hof und Garten. Die Betriebe erhalten
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deut-
mehr Aufträge, sie haben wieder Freude an der Zu-
sche Handwerk ist eine echte Jobmaschine. Wir erwarten
kunftsplanung, an Investitionen und Innovationen. Es
in diesem Jahr mindestens 25 000 neue Arbeitsplätze.
geht ihnen gut, und sie haben mit der christlich-liberalen
Wenn wir in Deutschland vom Mittelstand als Jobmotor
Bundesregierung einen verlässlichen Partner.
und als Motor für Wachstum und Beschäftigung spre-
chen, dann reden wir immer auch über das Handwerk; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
denn mit seinen rund 1 Million Betrieben macht das
Handwerk rund ein Viertel des gesamten Mittelstands in Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass sich diese posi-
Deutschland aus. Knapp 5 Millionen Menschen arbeiten tive Entwicklung fortsetzt. Ein wichtiger Grundstein für
in Handwerksbetrieben, und fast 500 000 junge Men- dieses Fortkommen sind die Innovationen. Sie sind der
schen bekommen dort eine qualifizierte Ausbildung. Da- Motor für Wirtschaftswachstum. Auch hier ist das Hand-
mit sind 11,8 Prozent aller Erwerbstätigen und knapp werk gefragt; denn es ist entgegen der landläufigen Mei-
30 Prozent aller Auszubildenden im Handwerk tätig. nung besonders innovativ. Laut einer Prognos-Studie ist
es sogar hochinnovativ; denn das Handwerk ist immer
Leider wird das Handwerk häufig unterschätzt – ich direkt an der Umsetzung neuer Technologien im Großen
hoffe allerdings, in diesem Hohen Hause nicht mehr –, und im Kleinen beteiligt. Ohne das Handwerk kommt
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei einigen keine Photovoltaikanlage auf das Dach, und ohne das
schon!) Handwerk würden keine schadstoffarmen Autos auf der
Straße fahren.
obwohl sich das Handwerk seit vielen Jahren als stabili-
sierender Faktor unserer Wirtschaft erweist. Mit seiner (Peter Friedrich [SPD]: Das stimmt!)
Kraft und mit seiner Substanz hat das Handwerk auch
Täglich stellen Handwerker ihre Innovationskraft un-
die Wirtschaftskrise sprichwörtlich gemeistert. Zugege-
(B) benermaßen mussten wir mit einigen Maßnahmen unter- ter Beweis, wenn sie für den Kunden individuelle Lö- (D)
sungen entwickeln und einbauen. Die kontinuierliche
stützen. Ich nenne hier zum einen die Verdoppelung des
Entwicklung innovativer Produkte gehört, auch wenn sie
Steuerbonus auf Handwerkerleistungen. Diesen sollten
in der Regel nicht beim Patentamt landen, zum Selbst-
wir in jedem Falle fortführen.
verständnis des Handwerks. Vom Rad aus Stein bis zur
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Leichtmetallfelge – ohne das Handwerk wäre dieser
neten der FDP) Fortschritt nicht möglich gewesen.
Zum anderen konnten wir mit der Aufstockung der För- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
dermittel für die energetische Gebäudesanierung und für Kollegen, es werden auch in Zukunft große Herausfor-
energieeffizientes Bauen derungen auf uns zukommen. Wir haben in unserer Ge-
(Peter Friedrich [SPD]: Habt ihr gekürzt und sellschaft immer mehr ältere Menschen. Die Menschen
nicht aufgestockt! Das Marktanreizprogramm werden dank das medizinischen Fortschritts immer älter.
habt ihr gekürzt!) Dadurch ändern sich auch die Anforderungen an Woh-
nungen, Straßen und öffentliche Gebäude. Wir müssen
in Deutschland 290 000 Arbeitsplätze sichern. Auch die- sie seniorengerecht gestalten bzw. umgestalten. Es wer-
ses Programm sollten wir in Zukunft fortführen. den also viele neue Dienstleistungen in diesem Senioren-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- markt notwendig sein. Ohne das Handwerk ist auch das
neten der FDP) nicht zu schaffen.

Ohne die grundsätzlich gute Struktur und ohne den Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist nicht nur
Willen, Arbeitsplätze zu erhalten und junge Menschen für unsere Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für
auszubilden, wäre das Handwerk nicht gestärkt aus der unsere Gesellschaft, dass die Innovationskraft des Hand-
Krise herausgekommen. Auch das gehört zur Wahrheit. werks gestärkt wird. Voraussetzung für solche Innovatio-
Der Aufschwung, an dem wir alle hart gearbeitet haben, nen sind qualifizierte Fachkräfte.
ist jetzt da. Die Stimmung im Handwerk ist sehr gut. (Willi Brase [SPD]: Richtig!)
„Das Handwerk genießt den Aufschwung“, „Das Hand-
werk hat Appetit auf den Aufschwung“, so titelte in die- Leider melden bereits viele unserer Betriebe, dass sie
ser Woche die Presse in meiner Heimat Ostwestfalen- keine Nachwuchskräfte finden. Deswegen brauchen wir
Lippe. Bundesweit erwarten wir im kommenden Jahr ein dringend gut ausgebildete junge Menschen. Nur mit ih-
Umsatzplus von 5 Prozent. 84 Prozent der Betriebe se- nen können wir auch im europäischen Wettbewerb unse-
hen ihre Zukunft positiv und sind zufrieden. Das sind ren hohen Qualitätsstandard halten und damit Ausbil-
10062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Lena Strothmann
(A) dungsplätze, Arbeitsplätze und unseren Wohlstand Im letzten Jahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum von (C)
sichern. 3,6 Prozent. In diesem Jahr wird mit einem Wachstum
von 2,3 Prozent gerechnet. Die Arbeitslosigkeit ist mit
Allerdings fehlten allein im Herbst bereits 7 000 Aus-
rund 3 Millionen Arbeitslosen so niedrig wie seit zwei
zubildende. Diese Lücke wird sich noch vergrößern,
Jahrzehnten nicht mehr. Die Inflationsrate liegt zwischen
wenn wir nichts dagegen tun. Deswegen müssen wir mit
1 Prozent und 2 Prozent.
der Vorstellung aufräumen, im Handwerk gebe es nur
einfache Tätigkeiten. Dieser Dreiklang aus hohem Wirtschaftswachstum,
sinkender Arbeitslosigkeit und niedriger Inflationsrate
In den vergangenen Jahren hat sich im Handwerk vie-
hat dazu geführt, dass wir vom kranken Mann in Europa
les geändert. Die handwerkliche Arbeit erfordert mehr
zur europäischen Wachstumslokomotive geworden sind.
technisches Wissen. Sie ist anspruchsvoller geworden,
Diese überaus positive Entwicklung hat natürlich Ursa-
und die Berufsbilder der 150 Ausbildungsberufe verän-
chen. Es sind in erster Linie kleine und mittelständische
dern sich. Gleichzeitig steigen damit aber die Anforde-
Unternehmen, die mit Risiko und Leistungsbereitschaft
rungen an die Bewerber und die Berufsausbildung. Des-
Wachstum, Wohlstand und Innovation gesichert haben.
halb ist es in Zukunft wichtig, leistungsstarke Schüler
für das Handwerk zu gewinnen. Vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag habe
ich fast 20 Jahre lang als mittelständischer Familienun-
Das ist eine Herausforderung, der sich das Handwerk
ternehmer gearbeitet. Wir betätigen uns im Bereich des
stellen muss; denn die Schulabgänger der Gymnasien ha-
Maschinenbaus. Seit vielen Jahren sind wir es gewohnt,
ben oft eine andere Lebensplanung, wollen ausschließlich
uns dem nationalen und internationalen Wettbewerb zu
an die Hochschulen. Wir dürfen uns als Politik diesem
stellen. Somit bin ich dem Mittelstand nicht nur verbun-
Trend nicht anschließen und nicht schwerpunktmäßig al-
den, sondern ich weiß aus eigener Erfahrung, wie ein
lein die akademische Ausbildung fördern. Eine Ausbil-
Mittelständler fühlt und agiert,
dung im Handwerk ist eine gute Alternative zum Stu-
dium. Außerdem sucht die Wirtschaft junge Menschen (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist in-
mit Praxisbezug. Sie bietet ebenso zahlreiche Chancen teressant, was Sie wissen!)
und Aufstiegsmöglichkeiten. Meine Damen und Herren,
wir brauchen also nicht nur Fachkräfte, sondern auch junge welche Erwartungen er hat und welche Dinge für ihn
Menschen, die Unternehmen übernehmen. Wir brauchen wichtig sind.
qualifizierte Nachfolger für unsere Betriebe. Eine oft gestellte Frage ist, was wohl das wichtigste
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und wertvollste Gut unseres Unternehmens ist. Da brau-
che ich nie lange zu überlegen: Es ist der Mensch. Eine
(B) Die Bundesregierung unterstützt dankenswerterweise der Grundvoraussetzungen für ein mittelständisches Un- (D)
schon jetzt die Betriebe beim Generationswechsel mit ternehmen sind gut qualifizierte und motivierte Mitar-
der Aktionsplattform „nexxt“. beiter.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
menfassen. Natürlich brauchen wir mehr Akademiker in Christian Lange [Backnang] [SPD]: Vor allem
unserem Land, aber unter dem Fachkräftemangel leidet gut Qualifizierte, Herr Kollege!)
auch das Handwerk. Deshalb muss die duale Ausbildung
ein Schwerpunkt unserer Bildungspolitik bleiben. Dies Die besten Anlagen und Maschinen sind wertlos, wenn
gilt es, nach allen Seiten zu verteidigen. Zusätzlich keine Menschen da sind, um diese zu bedienen. Aus die-
braucht das Handwerk Unterstützung beim Fachkräfte- ser Erkenntnis heraus ist die Akquisition und vor allem
mangel, bei der Unternehmensnachfolge und bei der der Erhalt von qualifiziertem Personal eine der wichtigs-
Umsetzung von Innovationen. Damit verstetigen wir den ten Aufgaben, die ein mittelständischer Unternehmer
Aufschwung, sorgen für Arbeits- und Ausbildungsplätze hat. Gerade vor dem Hintergrund der demografischen
und sichern Wachstum und Wohlstand in unserem Land. Entwicklung muss alles getan werden, um vermehrt leis-
tungsstarke Schulabgänger für eine betriebliche Berufs-
Herzlichen Dank. ausbildung zu gewinnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier hilft der im Oktober letzten Jahres von der Bundes-
regierung, den Ländern und der Wirtschaft unterzeichnete
Präsident Dr. Norbert Lammert: Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der In diesem Programm wird auch der Tatsache Rechnung
Kollege Dieter Jasper für die CDU/CSU-Fraktion. getragen, dass es weiterhin viele junge Leute gibt, die
Schwierigkeiten beim Übergang in die Ausbildung ha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben. Es ist wichtig, dass wir hier niemanden zurücklas-
sen. Dennoch muss immer wieder betont werden – das hat
Dieter Jasper (CDU/CSU): auch meine Kollegin Lena Strothmann getan –, dass auch
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und gerade im handwerklichen und im industriellen Be-
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! reich eine gute Ausbildung und eine gute Qualifikation
von herausragender Bedeutung sind.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja
interessant! Jetzt lernt man den auch mal ken- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen!) neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10063
Dieter Jasper
(A) Ein zentraler Punkt, über den gerade in den letzten tionspflichten gerecht zu werden. Hier ist nicht nur der (C)
Tagen wieder vermehrt diskutiert wurde, ist die Verbes- Deutsche Bundestag aufgefordert, den Bürokratieauf-
serung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das wand deutlich zu reduzieren.
trifft insbesondere auf die Frauen zu.
Der Normenkontrollrat macht in unserem Parlament
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der eine gute Arbeit und bekommt zunehmend mehr Aufga-
LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: benstellungen zugewiesen. Eckart von Klaeden be-
Ach, welche Weisheit! – Hubertus Heil [Peine] schreibt die Situation treffend, wenn er formuliert, dass
[SPD]: Auch für Männer!) es mit den Bürokratiekosten so ist wie mit Zahnschmer-
– Ja, das finde ich. – Wir können es uns nicht erlauben, zen: Wenn du sie hast, bringen sie dich fast um, wenn sie
auf hochqualifizierte weibliche Fachkräfte zu verzich- weg sind, hat man sie auch schnell wieder vergessen. –
ten, nur weil keine Möglichkeiten der Kinderbetreuung Dennoch ist nicht nur der gefühlte, sondern auch der tat-
vorhanden sind. Neben staatlichen Angeboten gibt es in sächliche Bürokratieaufwand enorm. Diese Hemmnisse
unserer Region bereits etliche Firmen, die sich in diesem müssen nicht nur auf deutscher, sondern auch auf euro-
Bereich besonders hervortun und durch familiengerechte päischer Ebene konsequent abgebaut werden. Die Unter-
Angebote ganz neue Facharbeiterschichten für sich er- nehmen brauchen Luft zum Atmen, für Engagement und
schließen. Für viele Berufstätige sind neben dem Lohn Eigeninitiative.
gerade auch diese maßgeschneiderten familiengerechten Auch das Thema Energie möchte ich kurz anreißen.
Jobangebote von zentraler Bedeutung, wenn sie sich um Bei allem Streben nach einer Zukunft mit einer Energie-
einen Arbeitsplatz bewerben. versorgung aus ausschließlich regenerativen Energie-
Noch eines wird deutlich: In Zukunft werden die Un- quellen darf die damit einhergehende immense Kosten-
ternehmen immer mehr um Mitarbeiter und Mitarbeite- belastung der Unternehmen nicht vergessen werden. Es
rinnen werben und kämpfen. Viele Mittelständler haben sind gerade die kleinen und mittelständischen Unterneh-
diese Situation erkannt und reagieren entsprechend. Um men, die standorttreu und standortgebunden sind. Die
den eigentlichen Arbeitsplatz herum entstehen vielfäl- Energiekosten sind für sie ein Fixum, da sie in der Regel
tige Angebote, um Mitarbeiter zu finden, zu binden und nicht die Möglichkeit haben, auszuweichen und ihre
zu motivieren. Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern.
Das gilt natürlich auch für die älteren Mitarbeiter. Wir Zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähig-
müssen Vorbehalte aufgeben und mit falschen Vorurtei- keit ist es deshalb wichtig, Energiepolitik nicht ideologisch,
len aufräumen. Die Erfahrung dieser Menschen ist unbe- sondern ökonomisch und sachorientiert zu betreiben. Die
zahlbar. Es bedarf oft nur kleiner Hilfestellungen, damit Bezahlbarkeit und die Sicherheit der Energieversorgung
(B) (D)
sie weiterhin aktiv und produktiv am Erwerbsleben teil- sind normative Voraussetzungen für die Existenz eines
nehmen können. Das ist nicht nur betriebswirtschaftlich, Betriebes. Die kumulierte Belastung aus Strompreis,
sondern auch volkswirtschaftlich von hohem Nutzen. Stromsteuer, EEG-Abgabe, Emissionshandel usw. darf
die Unternehmen nicht erdrücken und ihrer Wettbewerbs-
Entscheidend ist der richtige Mix aus Auszubildenden,
fähigkeit berauben.
alten und jungen Menschen. Wenn dieser Mix gelingt,
dann ist das die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches Es gibt viele Themen, die den Mittelstand berühren:
gemeinsames Wirtschaften. Ist dieser Mix einmal gefun- Fragen der Unternehmensnachfolge und der Finanzie-
den, dann wird ein Mittelständler alles tun, um diesen zu rung, Forschung und Entwicklung, Rohstoffsicherheit
erhalten. Gerade in den Zeiten der Krise haben viele Un- und viele andere mehr.
ternehmer an ihren Mitarbeitern festgehalten, damit im
Aufschwung wieder eine schlagkräftige Mannschaft zur Viele dieser Fragestellungen werden von uns in der
Verfügung steht. christlich-liberalen Koalition richtig erkannt. Zahlreiche
Aktivitäten wie die Hightech-Strategie, der Nationale
Auch hier zeigt sich wieder, dass insbesondere kleine Pakt für Ausbildung, die Mittelstandsinitiative usw. sind
und mittelständische Unternehmen nicht in Quartalser- mehr als nur Schritte in die richtige Richtung. Der Mit-
gebnissen denken, sondern in längerfristigen Zeiträu- telstand ist das Herzstück unseres Wirtschaftssystems.
men. Dieses Denken wurde durch die von der Bundesre- Wir müssen daran arbeiten, einen effizienten Ordnungs-
gierung beschlossene Regelung zum Kurzarbeitergeld und Handlungsrahmen zu schaffen, in dem dieses Herz-
unterstützt. Nur so konnte aus gemeinsamer Kraft gelin- stück seine optimale Leistung erreichen kann.
gen, dass wir gestärkt aus der Krise herausgekommen
sind. Es zeigt sich, dass sich Wirtschaftspolitik nicht in Während andere Parteien in diesem Hause kommunis-
schönen Worten erschöpft, sondern an der richtigen tischen und sozialistischen Ideologien nachjagen, sind
Stelle ganz konkret helfen kann. wir bereit, uns den Realitäten zu stellen und auf den
Eine weitere Frage, die oft gestellt wird, ist, was uns Grundprinzipien der Marktwirtschaft eine sachorientierte
Mittelständler am meisten beschwert. Da fallen mir zwei und zweckgebundene Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Stichworte ein: die Bürokratie und die Energie. Die Das ist gut für unsere Unternehmen, und das ist gut für die
überbordende Bürokratie ist für jedes Unternehmen eine Menschen in unserem Land.
große Last. Gerade die kleinen und mittelständischen Danke schön.
Betriebe leiden besonders. Hier fehlt es oft an Know-
how und an Personal, um den Abgabe- und Informa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
10064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: dann muss man feststellen: Handeln ist geboten. Wer (C)
Ich schließe die Aussprache. Leistungsgerechtigkeit will, wer will, dass es einen gu-
ten und anständigen Lohn für gute Arbeit gibt, der
Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage auf braucht den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland.
der Drucksache 17/4684 an die in der Tagesordnung auf- Es ist Zeit, zu handeln.
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, da-
mit sind Sie einverstanden. – Dann ist die Überweisung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
so beschlossen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf: Es geht um Anstand, um anständige Löhne, um Leis-
tungsgerechtigkeit. Es geht aber auch, meine Damen und
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Herren von der Koalition, um fairen Wettbewerb zwi-
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Petra schen Unternehmen. Es findet ein Dumpingwettbewerb
Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der zuungunsten bzw. zulasten anständiger Unternehmerin-
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines nen und Unternehmer statt, die anständige Löhne zahlen
Gesetzes über die Festsetzung des Mindestloh- wollen, die aber den Druck, der entsteht, wenn sie beim
nes (Mindestlohngesetz – MLG) Lohnniveau mit Schmutzkonkurrenz konfrontiert wer-
– Drucksache 17/4665 – den, nicht mehr aushalten. Diese Unternehmen brauchen
Überweisungsvorschlag:
fairen Wettbewerb. Auch deshalb brauchen wir einen ge-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) setzlichen Mindestlohn in Deutschland.
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, Außerdem sind es die Steuerzahlerinnen und Steuer-
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- zahler, die uns heute am Fernseher zuschauen oder oben
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs auf den Zuschauerbänken sitzen – –
eines Gesetzes für die Einführung flächende-
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So viele
ckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einfüh-
sind es bei Ihnen nicht! – Abg. Dr. Martin
rung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Mindest-
Lindner [Berlin] [FDP] verlässt den Plenar-
lohngesetz)
saal)
– Drucksache 17/4435 –
(B) – Herr Lindner geht und brüllt; so kennen wir ihn. Ich (D)
Überweisungsvorschlag: sage Ihnen: Das zeigt auch, welche Wertschätzung er ge-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss genüber den arbeitenden Menschen in Deutschland in
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dieser Stunde hat.
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
rung die Aussprache 90 Minuten dauern. – Ich höre kei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Es sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in die-
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem sem Land, die Jahr für Jahr insgesamt 11 Milliarden
Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. Euro aufbringen und dafür sorgen müssen, dass Armuts-
löhne aufgestockt werden können. 11 Milliarden Euro
(Beifall bei der SPD) geben wir im Bundeshaushalt für ergänzendes Arbeitslo-
sengeld II aus. Ich gebe zu: Die Hälfte der Betroffenen
Hubertus Heil (Peine) (SPD): sind nicht in Vollzeitarbeit, sondern sind Minijobber.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt dem Deut- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Eben!)
schen Bundestag heute den Entwurf eines Gesetzes zur Aber auch für diesen Bereich gilt: Es werden Stunden-
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Wir ha- löhne gezahlt, von denen die Menschen nicht leben kön-
ben dafür gute Gründe. Über 20 Prozent der Arbeitneh- nen.
merinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten
derzeit im Niedriglohnsektor. Übrigens: 70 Prozent der- Die andere Hälfte ist zum großen Teil in Teilzeit, wer-
jenigen, die dort arbeiten, sind Frauen. Wir haben die Si- den Sie sagen. Aber es bleibt ein erklecklicher Teil, über
tuation, dass laut Studien mittlerweile über 5 Millionen 360 000 Menschen in Deutschland, der von morgens bis
Menschen in Deutschland weniger als 8 Euro die Stunde abends schuftet, nicht genug Geld hat, um leben zu kön-
verdienen, Herr Hinsken. Weniger als 8 Euro die Stunde! nen, und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt
Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass 1,2 Mil- holen muss. Das ist nicht nur gegenüber den Familien
lionen Menschen in diesem Land weniger als 5 Euro die und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die hart
Stunde verdienen, arbeiten, unwürdig.
(Andrea Wicklein [SPD]: Es ist nicht zu (Zuruf von der FDP: Wer hat denn so etwas
fassen!) eingeführt?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10065
Hubertus Heil (Peine)
(A) Es ist ökonomischer Unsinn, dass wir in diesem Land ist, etwas gegen den Missbrauch von Zeit- und Leih- (C)
mit immer mehr Geld der Steuerzahler staatliche Ar- arbeit zu tun.
mutslohnbewirtschaftung zu leisten haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem DIE GRÜNEN)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der
Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist weder christlich
SPD: Skandal!)
noch liberal.
Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt.
Zeit- und Leiharbeit können und sollen ein vernünfti-
Wir wollen den Vorrang für tarifvertragliche, branchen-
übliche Mindestlöhne, wie wir sie in vielen Branchen ges Instrument für Unternehmen sein, um Auftragsspit-
zen abzudecken. Aber Zeit- und Leiharbeit dürfen nicht
schon durchgesetzt haben. Wir wollen im Übrigen dafür
weiter ein Einfallstor für Lohndumping in diesem Land
sorgen, dass solche Löhne einfacher durchzusetzen sind,
indem wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen sein.
Wirtschaftszweigen die Möglichkeit eröffnen, zu Min- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
destlöhnen zu kommen. Wir wollen einen Vorrang für ta- DIE GRÜNEN)
rifvertragliche Lösungen.
Deshalb brauchen wir zweierlei. Wir brauchen im Vor-
Wir brauchen allerdings auch den gesetzlichen Min- feld des 1. Mai 2011 – ab diesem Datum gilt die volle
destlohn. Wir erleben in vielen Bereichen, dass Tarif- Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa – einen Mindest-
autonomie nicht mehr vernünftig funktioniert, weil Ar- lohn auch in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Ich meine
beitgeberverbände und auch Gewerkschaften nicht gut allerdings einen richtigen Mindestlohn und nicht das,
genug organisiert sind. Dies führt zu dem Ergebnis, dass was Sie vorgelegt haben, nämlich einen Placebomindest-
es zu keiner anständigen Lohnfindung kommt. lohn. Sie wollen einen Mindestlohn nur für die verleih-
freie Zeit. Wir sagen: Wir brauchen eine absolute Lohn-
Lassen Sie mich an dieser Stelle, wie es heute Morgen
untergrenze für die Zeit- und Leiharbeit. Sie sind aber
schon geschehen ist, den Bezug schaffen zu den Ver-
nicht bereit, dem zuzustimmen.
handlungen, die gestern an der Unwilligkeit und der Un-
fähigkeit der schwarz-gelben Koalition vorerst geschei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tert sind. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir brauchen also einen Mindestlohn über das Arbeit-
DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ nehmer-Entsendegesetz und nicht Ihr Placebokonstrukt
CSU und der FDP) eines Referenzlohns, den man dann auch noch unter-
(B) schreiten kann. Wenn Sie die Leute „verklappsen“ wol- (D)
– Nein. Ich will Ihnen das sagen. Herr Hinsken, ich war
len, dann machen Sie ruhig weiter so. Der Mindestlohn
ja dabei. Ich habe es doch erlebt. – Am Montag und
Dienstag hieß es, Frau Merkel werde das jetzt zur Chef- in der Zeit- und Leiharbeitsbranche ist nur das eine.
sache machen. Die Chefsache, die sie geleistet hat, war, Das andere – das Wichtigere – ist, dass wir den
ihre Koalition auf ein Njet zu allen Vorschlägen, die wir Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchset-
gemacht haben, zu verständigen. Wenn das Chefsache zen.
ist, Herr Altmaier, dann ist mir angst und bange um die
Zukunft des Landes in der Zeit, in der Frau Merkel noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bundeskanzlerin ist. Chefsache bedeutet bei Ihnen DIE GRÜNEN)
Scheitern. Zu Frau Klöckner – jetzt ist auch sie weg – kann ich nur
(Beifall bei der SPD – Pascal Kober [FDP]: sagen: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor dieser Frau.
Ihre Verhandlungskommission ist sich unei- Bernhard Vogel hat damals recht gehabt, als er sagte:
nig!) Gott schütze Rheinland-Pfalz. Das ist geschehen. Die
Rheinland-Pfälzer haben seit 1991 klugerweise nicht
Wir haben in mehreren Bereichen Vorschläge ge- mehr die CDU an die Macht gewählt. Ich sage Ihnen:
macht. Wir müssen uns bemühen – darüber wird noch an Frau Klöckner hat vorhin auf meine Frage, wie das mit
anderer Stelle zu reden sein –, den Regelsatz im Bereich dem gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei, geantwortet,
Hartz IV verfassungskonform zu gestalten. dies sei schon im Gesetz verankert. Da hat sie recht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Der ist verfas- Aber da steht sie in der Tradition von Helmut Kohl, nach
sungskonform!) dem Motto: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit.
Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert, aber es
Wir haben nach wie vor erhebliche Zweifel an dem, gibt ein Schlupfloch, das zu einem Scheunentor gewor-
was Frau von der Leyen vorgelegt hat. den ist.
Beim Bildungspaket fehlt die Berücksichtigung der (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das
Schulsozialarbeit. Sie ist notwendig, um tatsächlich da- Schlupfloch denn geschaffen?)
für zu sorgen, dass Kinder aus sozial schwachen Fami-
lien Hilfe bekommen. Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, meinet-
halben nach einer angemessenen Einarbeitungszeit von
Ich empfinde es geradezu als ein Stück aus dem Toll- vier Wochen. Im Rahmen des Kompromisses haben wir
haus, dass diese Koalition überhaupt nicht dazu bereit sogar drei Monate angeboten, was verdammt schwer zu
10066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) realisieren gewesen wäre. Wir brauchen die Verwirkli- werks ist kürzlich in der FAZ mit den Worten zitiert wor- (C)
chung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Ar- den:
beit“; Leihbelegschaften und Stammbelegschaften müs-
Es kann nicht sein, dass unsere guten Mitarbeiter in
sen bei gleicher Arbeit gleich verdienen. Es ist unfair,
eine Lohnspirale nach unten gezogen werden.
wenn zwei an einem Band stehen und der eine einen ho-
hen und der andere einen niedrigen Stundensatz be- Damit hat er recht.
kommt. Das ist auch deswegen unfair, weil ein Stamm-
belegschaftsmitarbeiter mit einem hohen Stundensatz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
somit Angst hat, dass er demnächst durch den ersetzt Bernd Scheelen [SPD]: Tosender Beifall! –
wird, der neben ihm als Dumpinglöhner missbraucht Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wird. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist eine Frage NEN]: Aber was tun Sie jetzt?)
von Anstand, Würde und ökonomischer Vernunft. Durch die Anträge, die heute vorliegen und mit denen
die SPD und die Grünen einen vom Staat verordneten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und dekretierten Mindestlohn einführen wollen,
Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Einer Kommission, Herr Weiß!)
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
wird allerdings die Tatsache verwischt, dass wir in der
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen auch im Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten,
Streit um Hartz IV eine Lösung. Herr Kollege Heil, ein Instrumentarium geschaffen ha-
ben, um Mindestlöhne in Deutschland einzuführen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es! – Brigitte Pothmer
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!)

Hubertus Heil (Peine) (SPD): Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das Sie
Wir sind verhandlungsbereit; aber wir stimmen nur schon erwähnt haben, novelliert und darin eine ganze
zu, wenn es zur Verbesserung der Lebenssituation von Reihe von Branchen neu aufgenommen.
hart arbeitenden Menschen kommt. Deshalb: Gleicher (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nehmen wir
Lohn für gleiche Arbeit und Mindestlöhne in Deutsch- doch alle!)
land!
Wir haben das Mindestarbeitsbedingungengesetz novel-
(B) Herzlichen Dank. liert, (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das nicht
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine funktioniert!)
Lötzsch [DIE LINKE])
um in all den Bereichen, in denen es wenige oder keine
Tarifverträge gibt, die Möglichkeit zu schaffen, dass auf
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Antrag, zum Beispiel von Arbeitgebern, Arbeitnehmern
Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/ oder auch von beiden gemeinsam, Mindestlöhne festge-
CSU-Fraktion. setzt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich finde es schon bemerkenswert: Kaum sind die So-
der FDP) zialdemokraten ein bisschen länger als ein Jahr in der
Opposition, können Sie sich offensichtlich nicht mehr an
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): das erinnern, was Sie mit uns zusammen beschlossen ha-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- ben.
gen! Faire Löhne für gute Arbeit gehören zu einer funk- (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder
tionieren sozialen Marktwirtschaft. [CDU/CSU]: Alles vergessen! Was für ein
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schlechtes Gedächtnis! – Dr. Barbara
SPD und der FDP) Hendricks [SPD]: Der Rahmen wird ja nicht
mehr genutzt!)
Daran machen gerade wir, die Union, die Partei der so-
zialen Marktwirtschaft, keine Abstriche. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Be- legin Pothmer zulassen?
geisterung bei der CDU/CSU! – Katja Mast
[SPD]: Aber Sie tun nichts!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Das ist eine Position, die selbstverständlich nicht nur Gerne.
die Gewerkschaften, sondern Gott sei Dank auch viele
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einnehmen. Der Prä- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sident der Arbeitgeberverbände des Hessischen Hand- Bitte schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10067

(A) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sondern eine Frage an Herrn von Dohnanyi und an den (C)
Herr Weiß, Sie haben hier gerade auf die Möglichkei- Hauptausschuss.
ten nach dem MiArbG hingewiesen. Können Sie uns
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
vielleicht sagen, wie viele Mindestlöhne über das
neten der FDP – Hubertus Heil (Peine) (SPD):
MiArbG zustande gekommen sind und wie häufig die
Die Antwort war: Gar keine! Keine Branche
Bundesregierung in Kenntnis der Tatsache, dass es große
hat einen Mindestlohn über das MiArbG! –
Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gibt, selber tätig
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geworden ist und Branchen vorgeschlagen hat, in denen
NEN): Das war nichts! Wir haben nichts! Keine
Mindestlöhne gezahlt werden sollten?
Mindestlöhne! Das MiArbG bringt nichts!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gute
Entschuldigung. Diese Frage richtet sich nicht an die
Frage! Jetzt nicht ausweichen, Herr Weiß! –
Bundesregierung oder an den Deutschen Bundestag. –
Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/
CSU]: Auch die Landesregierungen, Frau (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Natürlich!)
Pothmer!)
Wir, Herr Kollege Heil, haben in der Großen Koalition
Regelungen geschaffen, nach denen der Hauptausschuss
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): zuständig ist.
Frau Kollegin Pothmer, es liegt bislang ein Antrag
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie hätten auch
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein Gesetz machen können!)
NEN]: Ah!)
Der Hauptausschuss entscheidet. Appellieren Sie an den
der dbb Tarifunion vor, um nach dem Mindestarbeitsbe- Hauptausschuss und an Ihr Parteimitglied Klaus von
dingungengesetz einen Mindestlohn für Mitarbeiterin- Dohnanyi! Er ist dafür zuständig, nicht die Bundeskanz-
nen und Mitarbeiter in Callcentern einzuführen. lerin und auch nicht der Deutsche Bundestag.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und wie lange (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
schon?) ordneten der FDP – Brigitte Pothmer [BÜND-
Der Vorsitzende des noch von dem früheren Bundes- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können selber
arbeitsminister Olaf Scholz eingesetzten Hauptausschus- Anträge stellen!)
ses, Wir haben bereits mit dem Arbeitnehmer-Entsende-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vertagt!) gesetz, das wir zusammen novelliert haben, allgemein-
verbindliche Mindestlöhne für eine Reihe von Branchen
(B) (D)
der nach diesem Gesetz notwendig ist, ist Klaus von in ganz Deutschland festgelegt: im Bauhauptgewerbe, in
Dohnanyi, der bekanntlich ebenfalls einer großen deut- etlichen Branchen des Baunebengewerbes, für die Ge-
schen Partei angehört. bäudereiniger, Wäschereidienstleistungen, die Abfall-
wirtschaft und die Pflegebranche. Gestern hätten Sie von
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nicht ganz so
Rot und Grün im Vermittlungsausschuss die Chance ge-
groß! Ein bisschen groß! – Thomas
habt, für drei weitere Branchen in Deutschland eine kon-
Oppermann [SPD]: Einer guten Partei! –
krete Vereinbarung zur Einführung von Mindestlöhnen
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guter Mann!
zu treffen, nämlich für die Zeitarbeit, das Wach- und
Das war noch ein Hamburger Bürgermeister!)
Schließgewerbe und die Weiterbildungsbranche.
– Ich wollte den Sozialdemokraten auch einmal etwas
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Nettes sagen. –
neten der FDP – Katja Mast [SPD]: Scheinlö-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war es dann sungen haben Sie angeboten! – Hubertus Heil
aber auch!) [Peine] [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört!)
Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Klaus von Herr Heil, wenn Sie das, was Sie zur Notwendigkeit
Dohnanyi, muss sich nun mit diesem Antrag beschäfti- von Mindestlöhnen vorgetragen haben, wirklich ernst
gen. Ich gehe einmal davon aus, dass Herr von Dohnanyi meinten, dann hätten Sie die ausgestreckte Hand der Ko-
deswegen noch keine Entscheidung im Hauptausschuss alition und der Bundesregierung zur Vereinbarung von
herbeigeführt hat, weil seine Gespräche mit den Mitglie- drei zusätzlichen Mindestlöhnen gestern nicht ausschla-
dern dieses Hauptausschusses, der zur einen Hälfte mit gen dürfen.
Arbeitgebervertretern und zur anderen Hälfte mit Arbeit-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nehmer- und Gewerkschaftsvertretern besetzt ist, in die-
neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
ser Frage noch nicht zu einer Einigung geführt haben.
Das können Sie ohne uns machen, Herr Weiß!
Deswegen ist die Frage, wann dieser Antrag der dbb Ta-
Das reicht nicht!)
rifunion beschieden wird, keine Frage an die Bundes-
regierung, – Herr Kollege Heil, Sie, die Sozialdemokraten und die
Grünen, haben dieses Thema in die Verhandlungen des
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch! Warum
Vermittlungsausschusses eingebracht, nicht wir.
machen Sie keinen Gesetzentwurf? – Brigitte
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber
Doch!) notwendig!)
10068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) Ich wiederhole: Wenn Sie es mit Mindestlöhnen wirklich Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (C)
ernst meinten, Nein, ich weiche nicht aus, Herr Kollege Heil.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schauen Sie Wenn Sie schon über Formalien reden wollen
sich unsere Anträge an!)
(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine]
dann hätten Sie das Angebot im Vermittlungsausschuss, [SPD])
für drei weitere Branchen eine konkrete Vereinbarung zu
treffen, nicht ausschlagen dürfen. Insofern ist alles, was – doch, das war so –,
Sie sagen, schlichtweg unglaubwürdig. (Katja Mast [SPD]: Nein, die Frage war
konkret!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: dann will ich Folgendes klarstellen: Im Vermittlungsver-
Scheinheilig! Alles scheinheilig hier!) fahren können formal nur am Gegenstand des Sozialge-
setzbuches II Änderungen vereinbart und vorgenommen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Alles andere sind politische Verabredungen.
Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage von Dazu hat die Bundesregierung eine Protokollerklärung
Herrn Heil zulassen? vorgelegt, die morgen auch dem Bundesrat vorliegen
wird. Darin bringt die Bundesregierung ihren klaren
Willen zum Ausdruck, nach den Regeln des Arbeitneh-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): mer-Entsendegesetzes zu verbindlichen Mindestlohn-
Bitte schön. regelungen bei der Leiharbeit, im Wach- und Dienstleis-
tungsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche zu
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kommen.
Bitte schön, Herr Heil. Sie haben nach dem Grundsatz des Equal Pay gefragt.
(Katja Mast [SPD]: Sie haben ihn doch erst
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
abgelehnt!)
Kollege Weiß, ich will Ihnen nichts vorwerfen, son-
dern Sie aufklären, weil Sie an den Verhandlungen nicht Equal Pay, die gleiche Bezahlung von Stammbelegschaft
beteiligt waren. Ohnehin hat sich Ihre Fraktion relativ und Leiharbeitern, ist Bestandteil des Gesetzes. Die rot-
stark zurückgehalten. Ich muss Ihnen mitteilen: Es sind grüne Koalition hat damals
keine Mindestlöhne für drei Branchen angeboten wor-
(B) den. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Beantworten (D)
Sie bitte meine Frage, Herr Weiß! – Gegenruf
Im Einzelnen war es folgendermaßen: Sie haben kei- des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie
nen richtigen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeit, müssen schon die Antwort anhören!)
sondern einen Placebomindestlohn vorgeschlagen. Sie die Sonderregelung in das Gesetz eingefügt, dass per Ta-
haben gestern auf Druck der FDP im Vermittlungsaus- rifvertrag von dem Equal-Pay-Grundsatz abgewichen
schuss beim Wach- und Sicherheitsgewerbe noch eine werden kann.
Änderung vorgenommen, nämlich dass Sie als Bundes-
regierung das Verfahren nur begleiten wollen. Tun Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
bitte nicht so, als hätten Sie einen Mindestlohn zugesagt. neten der FDP)
Last, but not least haben Sie für die Weiterbildungs- Rot-Grün trägt die Verantwortung dafür, dass in
branche keinen Weg aufgezeigt, wie wir tatsächlich zu Deutschland nicht nach dem Equal-Pay-Grundsatz be-
einem Mindestlohn kommen. zahlt wird. Sie haben dieses Gesetz verabschiedet.
In Unkenntnis kann man viel Unsinn erzählen, Herr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Weiß. Meine Bitte ist: Machen Sie den Menschen nichts neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
vor! Sie haben keine Mindestlöhne angeboten. Vor allen Können Sie die Frage beantworten, Herr
Dingen haben Sie nichts getan, um dem Grundsatz Weiß?)
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gerecht zu werden.
– Ich trage alles vor, Herr Heil. – Sie können der Proto-
Meine Frage ist: Sind Sie wie Ihr Koalitionspartner kollerklärung der Bundesregierung entnehmen, was fest-
FDP der Meinung, Herr Weiß, dass der Grundsatz „Glei- gelegt wurde.
cher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach neun Monaten
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihre Meinung,
gelten soll, wissend, dass die Mehrheit der Arbeitnehme-
Herr Weiß!)
rinnen und Arbeitnehmer in der Zeit- und Leiharbeits-
branche, nämlich fast 90 Prozent, nichts davon hätte? Ist – Ich trage sie doch vor. Sie stellen hier Behauptungen
das die Meinung von Herrn Weiß, dem CDU-Vertreter auf. Wie es war, kann jeder in den Drucksachen schwarz
der Arbeitnehmerschaft? Bitte nicht ausweichen! auf weiß nachlesen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katja Die Bundesregierung hat in der Protokollerklärung
Mast [SPD]: Auf die Antwort bin ich ge- Folgendes festgelegt: Wir erwarten jetzt von den Tarif-
spannt! Und nicht ausweichen!) partnern, dass sie Tarifverträge schließen und Regelun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10069
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) gen schaffen, ab wann in der Leiharbeitsbranche Equal Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (C)
Pay und kein abgesenkter Lohn gilt. – Bitte schön.
(Katja Mast [SPD]: „Neun Monate“ war die
Frage!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Wenn das in einem Jahr nicht erfolgt ist, dann werden
wir gesetzgeberisch handeln. Aber es sollen erst einmal
diejenigen verhandeln, die dafür Verantwortung tragen. Anton Schaaf (SPD):
Herr Kollege Weiß, da Sie hier Redlichkeit einfor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dern: Würden Sie mir recht geben, dass es im Zusam-
Katja Mast [SPD]: Neun Monate! – Hubertus menhang mit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-
Heil [Peine] [SPD]: Neun Monate?) Entsendegesetzes einen Antrag der Tarifparteien in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche gab, über die Allgemein-
Ich finde es unglaublich, welche Show Sie veranstal- verbindlichkeitserklärung den vereinbarten Mindestlohn
ten und wie Sie sich einfach der Verantwortung entzie- zu garantieren,
hen. Die Verantwortung liegt bei denen, die dafür zu-
ständig sind, Tarifverträge abzuschließen. Das sind die (Zuruf von der FDP: Hatten wir nicht!)
Arbeitgeber und die Gewerkschaften.
dass Sie, die Union, die Unterstützung für die Allge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – meinverbindlichkeitserklärung mit dem Hinweis auf
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie feige, diese konkurrierende Tarifverträge verweigert haben und dass
Frage nicht zu beantworten, Herr Weiß! Ver- die konkurrierenden Tarifverträge, die Sie als Begrün-
dammt feige!) dung für einen nicht vereinbarten Mindestlohn in der
Zeit- und Leiharbeitsbranche angemahnt haben, von ei-
Weil es mir aber nicht um Wahlkampf und auch nicht ner Gewerkschaft abgeschlossen worden sind, die nicht
um politische Polemik geht, tariffähig war, nämlich von einer CGB-Gewerkschaft?
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zu feige, die Sie haben sich darauf berufen, dass es konkurrierende
Frage zu beantworten! – Katja Mast [SPD]: Tarifverträge gibt. Ginge es nach uns, nach den Arbeit-
Neun Monate!) gebern und den Arbeitnehmern in der Zeit- und Leihar-
beitsbranche, gäbe es schon seit zwei Jahren einen Min-
sondern weil es mir darum geht, dass das Prinzip „Faire
destlohn. Sie haben das verhindert, Herr Weiß. Würden
Löhne für gute Arbeit“ in Deutschland durchgesetzt wer-
Sie das bestätigen?
(B) den kann, (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Mo- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
naten?) GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
habe ich die herzliche Bitte, dass sich die Ministerpräsi- Weiß, der Lohndrücker!)
denten der Sozialdemokraten morgen im Bundesrat noch
einmal ernsthaft die Frage stellen, ob sie nicht doch einer Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Vereinbarung mit der Bundesregierung und der Regie- Herr Kollege Schaaf, Sie haben diese Frage in Bun-
rungskoalition hier im Deutschen Bundestag zustimmen destagsdebatten schon mehrmals gestellt.
wollen,
(Katja Mast [SPD]: Aber nie beantwortet be-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schämen Sie kommen!)
sich! Feige! – Katja Mast [SPD]: Neun Mo-
nate, Herr Weiß! Sie sind feige!) Ich muss Ihnen auf diese Frage die gleiche Antwort wie
zuvor geben: Es ist richtig, dass wir in der Großen Koali-
die es möglich macht, dass wir für drei weitere Branchen tion über die Frage gesprochen haben, ob wir Regelungen
in Deutschland eine konkrete Verabredung zur Einfüh- zur Zeitarbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf-
rung von Mindestlöhnen bekommen und dass das die nehmen. Es war damals leider so – ich bedauere, dass es
Behandlung des Themas Sozialgesetzbuch II, bei dem so war –, dass die vier Arbeitgeberverbände, die es in
kein Unbeteiligter mehr versteht, worüber wir eigentlich Deutschland in der Zeitarbeitsbranche gibt, dieses Vorha-
streiten, zu einem befriedigenden und guten Abschluss ben wegen ihrer unterschiedlichen Tarifverträge be-
gebracht wird. kämpft haben.
(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Die Kanzlerin
[Peine] [SPD]: Feige ist das von der CDA! hatte es schon zugesagt, und Sie sind wortbrü-
Unglaublich! – Katja Mast [SPD]: Und von chig geworden!)
Herrn Weiß auch!)
So konnten wir die Frage, ob es einen Tarifvertrag gibt,
den wir nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für all-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gemeinverbindlich erklären können und durch den die
Herr Weiß, der Kollege Schaaf hat den Wunsch nach entsprechenden Bedingungen erfüllt werden, nicht klä-
einer Zwischenfrage. Würden Sie sie zulassen? ren.
10070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) Es gibt in der Zeitarbeitsbranche in dieser Frage heute Tarifvertrag auf Dauer schlechter gestellt werden kann (C)
Gott sei dank eine Weiterentwicklung: als ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen doch (Katja Mast [SPD]: Neun Monate!)
gar nicht über das Arbeitnehmer-Entsendege- Das ist die heutige Rechtslage.
setz reden!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Ihre
Auch durch gutes Zureden haben sich alle vier Arbeitge- Meinung?)
berverbände in der Zeitarbeitsbranche mit allen Gewerk-
schaften auf einen gemeinsamen Mindestlohn verstän- – Ja, langsam! – Wir sind bereit und willens, die unbe-
digt. Damit liegen jetzt die Voraussetzungen dafür vor, fristete Absenkung des Lohns abzuschaffen und das
Ganze zu befristen.
(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])
(Katja Mast [SPD]: Was denken Sie denn?)
dass wir ohne weiteren Streit den gemeinsamen Min-
destlohn bei allen Zeitarbeitsverbänden in Deutschland Nun ist es so:
für allgemeinverbindlich erklären könnten. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nach neun
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Monaten kommt ein Kind zur Welt! So ant-
GRÜNEN]: Könnten!) worten Sie doch mal!)
Frau Kollegin Mast, die Frage, die Sie mir stellen, muss
Das ist der große Unterschied zu dem, was in der Zeit
nicht der Abgeordnete Peter Weiß oder der Deutsche
der Großen Koalition geschehen ist.
Bundestag beantworten,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es gab gestern
keine Überzeugung?)
gar kein Angebot im Vermittlungsverfahren!
Sie wollen doch gar nicht über das Entsende- diese Frage müssen die Tarifpartner beantworten, die
gesetz reden! Der verlängerte Arm der Lohn- diese Tarifverträge abgeschlossen haben.
drücker sind Sie! – Weiterer Zuruf von der
(Beifall bei der CDU/CSU)
SPD: Dann brauchen Sie doch das Vermitt-
lungsverfahren nicht!) Frau Kollegin Mast, damit wir nicht unnötig in die
Tarifautonomie eingreifen müssen, haben wir gesagt:
In den Anträgen und auch in der Rede des Kollegen Wir setzen jetzt eine Frist von einem Jahr. In diesem ei-
Heil ist nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden, nen Jahr sollen uns die Tarifpartner ein befriedigendes (D)
(B) dass am 1. Mai dieses Jahres die Arbeitnehmerfreizügig-
Ergebnis zum Thema Equal Pay vorlegen. Wenn sie das
keit auch für diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht tun, dann werden wir handeln. Wenn es die Tarif-
aus der Europäischen Union eingeführt wird, deren Her- partner selbst nicht schaffen, dann werden wir einen
kunftsländer im Jahr 2004 der EU beigetreten sind. Zeitpunkt festlegen, ab dem Equal Pay in Deutschland
gezahlt werden muss.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Herr Weiß, ich hätte noch die Zwischenfrage von
neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Frau Mast zu bieten. Möchten Sie die zulassen? – Bitte.
So viel Feigheit in einem Mann!)

Katja Mast (SPD): – Das ist keine Feigheit von mir, Herr Kollege Heil. Mut
müssen die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerk-
Herr Kollege Weiß, ich möchte die Frage wiederho-
schaften aufbringen. Wenn sie ihn nicht aufbringen,
len, die Ihnen Hubertus Heil gestellt hat und die Sie
dann sind wir willens, zu handeln. Darin besteht der
nicht beantwortet haben. Ursula von der Leyen, Angela
Mut.
Merkel und die FDP haben vor neun Monaten einen
Kompromiss zum Thema „Gleiches Geld für gleiche Ar- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist so mutig
beit“ vorgelegt, den Sie in der Koalition gemeinsam tra- wie Sie bei Herrn Schröder! – Hubertus Heil
gen können. Als Leiharbeitnehmerin oder Leiharbeit- [Peine] [SPD]: Die Feigheit der CDA! Und
nehmer muss man in Deutschland neun Monate warten, das soll Arbeitnehmerschaft in der CDU sein!)
bevor man das gleiche Geld wie die Kollegin oder der
Obwohl wir im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und im
Kollege bekommt. Meine Frage lautet: Wie ist Ihre Hal-
Mindestarbeitsbedingungengesetz die Möglichkeiten ge-
tung zu diesem Vorschlag?
schaffen haben, branchenbezogene Mindestlöhne festzu-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Persönliche legen, wird vorgeschlagen, einen Mindestlohn per staatli-
Haltung!) chem Dekret zu bestimmen. Interessanterweise wird von
den Sozialdemokraten ein Mindestlohn von 8,50 Euro in
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): der Stunde und von den Grünen 7,50 Euro in der Stunde
vorgeschlagen. In einer ganzen Reihe von Branchen, die
Frau Kollegin Mast, um es noch einmal festzuhalten:
heute schon eine Mindestlohnregelung haben, liegt der
Die derzeitige gesetzliche Regelung in Deutschland ist
Mindestlohn über 7,50 Euro oder 8,50 Euro,
in der Tat so – damals von der rot-grünen Koalition be-
schlossen –, dass ein Zeitarbeiter, ein Leiharbeiter per (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott sei Dank!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10071
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu der Klaus Ernst (DIE LINKE): (C)
Auffassung gekommen sind, dass es wirtschaftlich ver- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
tretbar ist, einen höheren Mindestlohn zu zahlen. Das ist Herren! Sehr geehrter Herr Weiß, Sie haben eben einen
zu begrüßen. glänzenden Auftritt gehabt, als Sie bewiesen haben, wie
man um eine Frage herumeiern kann, ohne sie zu beant-
(Beifall bei der CDU/CSU) worten. Das war wirklich ein Glanzstück.
Die Frage, die Sie sich stellen müssen, heißt: Wird (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
dann, wenn ein staatlicher Mindestlohn festgelegt wird, neten der SPD)
in all den Branchen, in denen heute schon ein besserer,
Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben. Sie haben of-
höherer Mindestlohn gilt, die Bereitschaft abnehmen,
fensichtlich keine Ahnung von der betrieblichen Reali-
überhaupt Vereinbarungen über einen besseren Mindest-
tät. Wenn Sie die hätten, würden Sie feststellen, dass es
lohn zu treffen? Müssen nicht diejenigen, denen schon
kaum einen Menschen gibt, der in einem Betrieb anfängt
heute ein höherer Mindestlohn zugesagt worden ist, da-
und dasselbe verdient wie der, der vielleicht schon 5, 10
mit rechnen, dass ihre Verträge auslaufen, nicht verlän-
oder 20 Jahre in diesem Betrieb arbeitet. Das ist die Rea-
gert werden und sie zurückfallen auf das, was per staatli-
lität. Deshalb ist es überhaupt nicht notwendig, eine Re-
cher Gesetzgebung verordnet worden ist? Die Frage
gelung zu treffen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leih-
müssen Sie beantworten.
arbeitnehmer, wenn sie an einen Betrieb verliehen
Diese Frage haben zu Recht auch kluge Gewerkschaf- werden, auch noch weniger erhalten als die anderen Ar-
ter und Sozialdemokraten gestellt. Ich will daran erin- beitnehmer, die in dem Betrieb anfangen. Warum eigent-
nern, dass der frühere Vorsitzende der IG BCE, Hubertus lich? Die Neun-Monate-Regelung ist Humbug. Sie ste-
Schmoldt – hen in dieser Frage offensichtlich auf der Seite der FDP;
sonst hätten Sie, Herr Weiß, hier eine klare Antwort ge-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein kluger geben. Die sind Sie schuldig geblieben.
Mann!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
– ein kluger Mann; Sie haben recht –, auf die Frage nach neten der SPD)
der geeigneten Höhe für einen Mindestlohn geantwortet Sie, Herr Weiß, lenken offensichtlich sehr gern von
hat – ich zitiere –: Das muss in den einzelnen Branchen der Verantwortung dieser Regierung und auch von Ihrer
ausgehandelt werden, wie jeder normale Tarifvertrag eigenen ab. Sie lenken ab, wenn Sie sagen: „Das sollen
auch. Wo Hubertus Schmoldt recht hat, hat er recht. doch bitte schön Gewerkschaften und Arbeitgeber re-
geln“, nur weil Sie sich weigern, einen flächendecken-
(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D)
den gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Für die
der FDP) Armut in Deutschland, für die Armut der Menschen, die
Es wäre gut, die Sozialdemokraten wie auch die Grünen arbeiten und trotzdem von ihrem Lohn nicht leben kön-
würden diesem Ratschlag von Hubertus Schmoldt Rech- nen, sind diese Regierung und Sie, Herr Weiß, mitver-
nung tragen. antwortlich. Dafür können sich die Menschen in diesem
Land bei Ihnen bedanken, um das in aller Klarheit zu sa-
Wir, die Union, stehen für Folgendes: Zur sozialen gen.
Marktwirtschaft gehören faire Löhne für gute Arbeit. (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
Wir haben mit zwei Gesetzen das Instrumentarium dazu mendingen] [CDU/CSU]: Wir legen keine
geschaffen. Wir wollen es nutzen. Das, was Sie beantra- Löhne fest!)
gen, ist letztendlich die Verabschiedung von dem, was
Sie selber mit uns zusammen geschaffen haben. Die Tat- Um es deutlich zu machen: Angesichts der 1,4 Millio-
sache, dass Sie im Vermittlungsausschuss so gehandelt nen Menschen, die hier trotz Arbeit ihren Lohn aufsto-
haben, wie Sie gehandelt haben, zeigt, dass Sie es gar cken müssen, wovon 330 000 in Vollzeitarbeit arbeiten,
nicht ernst meinen. Bitte, korrigieren Sie morgen durch angesichts von 6,55 Millionen Niedriglöhnern in diesem
Ihre Ministerpräsidenten diese Haltung. Es gibt eine Land – wir wissen, dass ihre Zahl steigt, seit Sie regie-
Chance für mehr allgemeinverbindliche Mindestlöhne in ren – könnten Sie ein wenig demütiger sein, wenn Sie
Deutschland. Nutzen wir sie! Ergreifen Sie die ausge- hier nach vernünftigen Lösungen gefragt werden. Schie-
streckte Hand der Union und der Regierung! Schlagen ben Sie die Verantwortung nicht auf andere ab.
Sie sie nicht aus; dann sind Sie glaubwürdig. Das Nichtstun der Bundesregierung ist Ursache für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diese Armut. Frau von der Leyen ist heute nicht da. Da-
für habe ich Verständnis; denn sie musste nachts viel ar-
beiten. Sie weiß jetzt, wie das ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir auch! –
Klaus Ernst hat jetzt für die Fraktion Die Linke das Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was soll
Wort. denn das?)
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth Die Bundesarbeitsministerin dieses Landes saust immer
[Kyffhäuser] [FDP]: Sechs Minuten Wege durch die Gegend und redet von den Kindern, für die sie
zum Kommunismus!) sich ganz besonders verantwortlich fühlt. Dazu kann ich
10072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Klaus Ernst
(A) Ihnen sagen: Kinderarmut ist immer Armut der Eltern. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist (C)
Wenn die Eltern durch nicht vorhandene Mindestlöhne doch bei euch genauso! Ihr habt doch genau
armgemacht werden, ist auch die Bundesarbeitsministe- das gleiche Problem!)
rin persönlich dafür verantwortlich, wenn sie sich in die-
– Könnten Sie vielleicht einmal die Luft anhalten? Sie
ser Weise verhält.
ersticken ja fast. – Ich kann nur sagen: Jeder, der einen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Mindestlohn unter 7,80 Euro verdient, ist logischerweise
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE berechtigt, ergänzendes Arbeitslosengeld II zu beziehen,
GRÜNEN) also Aufstocker zu sein. Das kann doch nicht sein. Sie
können doch nicht Mindestlöhne fordern und gleichzei-
Wir wissen, dass insbesondere Frauen von Mindest- tig alle, die den Mindestlohn beziehen, ins Aufstocken
löhnen betroffen sind und dass von drei Menschen, die treiben.
unter 1 000 Euro verdienen, zwei Frauen sind. Es ist
zwar schön, dass sich Frau von der Leyen dafür einsetzt (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– das unterstützen auch wir –, dass auch in den Füh- NEN]: Wir wollen eine Kommission!)
rungsetagen Frauen sitzen; es arbeiten aber ganz viele Zur SPD muss ich sagen: Sie fordern 8,50 Euro. Sie
Frauen in den Betrieben, die ihre Existenz nicht sichern wissen genauso gut wie ich, dass jemand mit einem
können, weil die Bundesarbeitsministerin und diese Re- Lohn von unter 9,46 Euro in der Stunde nach 45 Versi-
gierung Mindestlöhne verweigern. Das ist ein Zustand, cherungsjahren noch eine Grundsicherung im Alter be-
den Sie ändern müssen. Diesen Zustand können Sie kommen muss, weil seine Rente zu niedrig ist. Deshalb
nicht einfach weglächeln. sagen wir den Grünen: Jeder Lohn unter 7,80 Euro führt
dazu, dass Sie die Leute zu Aufstockern machen und
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
dass der Staat die Löhne zahlen muss, was Sie doch ei-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
gentlich hier bemängeln. Der SPD muss ich sagen: Jeder
GRÜNEN)
Lohn unter der Grenze von 9,46 Euro führt dazu, dass
Jetzt zur FDP, weil ich von ihr den einen oder anderen Sie die Menschen hinterher in die Altersarmut treiben.
netten Zwischenruf gehört habe. „Leistung muss sich Deshalb sagen wir: Es ist schon richtig, dass wir 10 Euro
lohnen“, höre ich da. Wissen Sie, was sich bei Ihnen loh- fordern.
nen muss? Offensichtlich soll sich die Abzockerei bei (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
Ihnen lohnen. Ich habe vorhin in der Debatte die Rede FDP: Wer bietet mehr? – Matthias W.
Ihrer Fraktionsvorsitzenden gehört. Wenn man sich da- Birkwald [DIE LINKE]: Gute Arbeit, guter
gegen verwahrt, dass die CDs veröffentlicht werden, mit Lohn!)
(B) denen die zur Verantwortung gezogen werden können, (D)
die Steuerhinterziehung betreiben, dann schützt man da- Im Übrigen kann ich nicht verstehen, warum sich
mit die Abzocker und Steuerhinterzieher und kümmert SPD und Grüne in dieser Frage nicht am Ausland orien-
sich offensichtlich nicht um die Menschen in diesem tieren. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von
Land, die einen Mindestlohn brauchen. Das ist die Hal- 9,73 Euro, in Frankreich gibt es einen Mindestlohn von
tung der FDP. 9 Euro.
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: In Rumä-
der FDP) nien sind es 96 Cent, in Bulgarien sind es
75 Cent!)
Es ist unglaublich, dass eine Partei, deren Umfrage-
werte offensichtlich unter 5 Prozent liegen, vernünftige Warum, bitte schön, machen Sie den billigen Jakob? Ge-
Löhne für Millionen von Menschen verhindern kann. hen Sie doch voran und machen Sie mehr als die ande-
Das ist ein unglaublicher Zustand in diesem Land. ren! Sie sollten nicht immer hinter den anderen herlau-
fen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN – Sebastian Körber (Beifall bei der LINKEN)
[FDP]: Herr Gysi war unterhaltsamer!)
Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen noch sa-
Meine Damen und Herren, die Gesetzentwürfe der gen, dass laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung
Grünen und der SPD gehen in die richtige Richtung. Ei-
nige Fragen bleiben trotzdem. Eine Frage bezieht sich (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht immer
auf die 7,50 Euro Mindestlohn im Gesetzentwurf der den DGB beschimpfen!)
Grünen. 70 Prozent der Bürger auf die Frage, ob sie einen gesetz-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lichen Mindestlohn wollen, mit Ja geantwortet haben.
NEN]: Mindestens!) Bei dem reichsten Fünftel der Gesellschaft waren es üb-
rigens noch 57 Prozent, die sich für einen Mindestlohn
– Mindestens. Das ist ja in Ordnung. – Nun fordern Sie ausgesprochen haben. Dass Ihnen Ihre Klientel davon-
beim Bezug von Arbeitslosengeld II einen Regelsatz von läuft, haben Sie ja schon gemerkt.
420 Euro. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass
(Zuruf des Abg. Pascal Kober [FDP])
bei einem Regelsatz von 420 Euro beim Arbeitslosen-
geld II der Mindestlohn mindestens 7,80 Euro betragen Wenn die Bürger dieses Landes in dieser Frage mehr-
müsste. heitlich eine klare Position einnehmen und einen Min-
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Klaus Ernst
(A) destlohn fordern, aber diese Regierung einen solchen Sachverständigkeit überzeugt – dann müssen Sie sie un- (C)
verweigert, dann handelt diese Regierung gegen die abhängig arbeiten lassen – oder Sie sind es eben nicht.
Mehrheit der Bürger dieses Landes. Das ist der eigentli- So wie Sie es sich vorstellen, ist eine solche Kommis-
che Skandal. sion eine bloße Maskerade für politisch willkürlich fest-
gesetzte und geschätzte Löhne.
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W.
Birkwald [DIE LINKE]: Das ist undemokra- Ich möchte auf die von Ihnen stets mantraartig vorge-
tisch! – Zuruf von der FDP: So wird das tragene Begründung eingehen, dass Menschen, die einen
nichts!) Mindestlohn nach Ihren Vorstellungen bekommen, dann
keine staatliche Unterstützung mehr benötigen würden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dabei verkennen Sie die heute schon gültigen Fakten.
Diese widerlegen Ihre Vorstellung sehr deutlich und für
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
jeden nachvollziehbar. Sie wissen ganz genau, dass
das Wort.
98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten über ein existenz-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sicherndes Einkommen verfügen. Es sind nach Angaben
der BA nur etwa 4 100 alleinstehende Arbeitnehmer, die
Pascal Kober (FDP): trotz Vollzeitjob auf ergänzende staatliche Hilfen dauer-
haft angewiesen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Heil,
lieber Herr Ernst, liebe versammelte Gesellschaft der (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann können
Zwischenfrager! Vielleicht gestatten Sie, dass ich an die- wir ja so weitermachen!)
sem Punkt der Debatte auf die beiden vorliegenden Ge-
setzentwürfe eingehe. Die Situation, dass der eigene Lohn nicht zum Leben
ausreicht, ist heute in aller Regel nur für Alleinerzie-
(Katja Mast [SPD]: Und auf die neun hende und für Paare mit mehreren Kindern zutreffend.
Monate!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und das sind
Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegen Ge- ganz wenige!)
setzentwürfe vor. In beiden Gesetzentwürfen wird die
Einrichtung einer Kommission gefordert, die einen flä- Um diese aber unabhängig von zusätzlichen staatlichen
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bestimmen Leistungen zu machen – auch das wissen Sie –, würde es
soll. eines Stundenlohns von mindestens 13 Euro bedürfen;
aber den fordert noch nicht einmal die Partei Die Linke.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie werden das Aufstocken, das Sie hier immer diskredi-
(B) NEN]: Nach dem Vorbild von England! – tieren und problematisieren, weder durch einen Mindest- (D)
Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Guter Vor- lohn von 8,50 Euro noch von 7,50 Euro verhindern
schlag!) können. Hören Sie deshalb endlich auf mit der Diskrimi-
nierung von Aufstockerinnen und Aufstockern. Es ist
Diese Kommission soll vom Bundesministerium für Ar- nichts Ehrenrühriges, seinen Lohn durch Arbeitslosen-
beit und Soziales eingerichtet werden. Das kann man, geld II aufzustocken.
auch wenn man das Ziel an sich nicht teilt, noch nach-
vollziehen. Beide Gesetzentwürfe verweisen vollkom- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Viele wollen
men zu Recht darauf, dass die Kommission die sozialen das aber nicht! – Dr. Gesine Lötzsch [DIE
und ökonomischen Auswirkungen des Mindestlohns bei LINKE]: Fragen Sie mal die Leute, wie die das
der Fortschreibung berücksichtigen soll. sehen!)
Doch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen von Es ist auf jeden Fall besser, als arbeitslos zu sein.
Bündnis 90/Die Grünen und SPD, kommt der große Wi-
derspruch in Ihren Gesetzentwürfen. Es ist nämlich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
überhaupt nicht nachvollziehbar, warum die Kommis- Aufstocken ist für viele ein erster Schritt zurück in ein
sion, die Sie einsetzen wollen, nicht entscheiden darf, Erwerbsleben ganz ohne Transferbezug.
wie hoch der Ausgangsmindestlohn ist und ob zum Zeit-
punkt der Einsetzung einer solchen Kommission ein (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Spätrömische
Mindestlohn überhaupt sinnvoll ist. Es ist doch erstaun- Dekadenz! Das sagte Ihr Vorsitzender!)
lich, dass Sie Ihrer eigenen Kommission von Anfang an, Im Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen wer-
noch bevor sie überhaupt eingesetzt ist, misstrauen. den die gleichen Fehler wie im SPD-Entwurf gemacht.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Sie sind sich Auch Sie bestimmen die Höhe des Mindestlohns erst
selbst nicht sicher, ob Sachverständige, wenn sie gefragt einmal politisch selbst und lassen dann erst Ihre Kom-
würden, überhaupt einen Mindestlohn befürworten wür- mission arbeiten. Auch Sie misstrauen Ihrem eigenen
den, geschweige denn in der von Ihnen vorgeschlagenen Vorschlag, auch Sie misstrauen der Sachverständigkeit
Höhe von 8,50 Euro bei der SPD und 7,50 Euro bei den Ihrer Kommission.
Grünen. Das zeigt, wie viel Vertrauen Sie in Ihre eigene Ich will auf die Löhne eingehen,
Kommission, in Ihren eigenen Vorschlag haben, nämlich
überhaupt nicht. Entweder sind Sie von der Idee einer (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
unabhängig arbeitenden Kommission und von deren NEN]: Mindestlöhne!)
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Pascal Kober
(A) die Sie vorschlagen: 7,50 Euro bei den Grünen – ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
habe es bereits erwähnt –, 8,50 Euro bei der SPD, und Jetzt hat das Wort Brigitte Pothmer für Bündnis 90/
die Linken schlagen 10 Euro vor. Wer von Ihnen hat Die Grünen. Ihr wollen wir sehr herzlich danken, dass
denn nun recht? sie uns an ihrem Geburtstag mit einer Rede beehrt, und
von Herzen gratulieren.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das muss die Kommission entschei- (Beifall)
den!)
Was ist die richtige Höhe des Mindestlohns? Vielleicht Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
können mir die Grünen die Frage beantworten, weswe- Vielen Dank, Frau Präsidentin. Was wäre schöner, als
gen sie nur 7,50 Euro fordern und nicht 8,50 Euro. Frau mit Ihnen allen meinen Geburtstag zu feiern?
Pothmer, Sie sprechen nach mir, vielleicht können Sie
(Beifall im ganzen Hause – Paul Lehrieder
das erklären. Wieso fordert die SPD eigentlich nicht
[CDU/CSU]: Jetzt könnte eine nette Rede
10 Euro, wenn die Linkspartei 10 Euro für richtig hält?
kommen! – Weitere Zurufe)
(Katja Mast [SPD]: Wir wollen keine neun – Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass Sie mir
Monate!) einmal zuhören, Frau Krellmann.
Warum fordert die Partei Die Linke nicht 12 Euro, was „Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit ge-
der baden-württembergische Landesverband der Linken, kommen ist“, hat Victor Hugo gesagt. Eines kann ich Ih-
wie ich von meinem Kollegen Herrn Schlecht erfahren nen versichern: Der Mindestlohn ist so eine mächtige
habe, bundesweit für richtig hält? Warum folgen Sie Idee.
nicht Ihren Kollegen aus Baden-Württemberg? Sie se-
hen: Offensichtlich ist die Höhe des Mindestlohns poli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tisch nicht so leicht festzulegen. sowie der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller
[SPD])
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Die Zeit des Mindestlohns ist längst gekommen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP und CDU/CSU,
Ich frage mich generell, warum Sie zum Beispiel das können Sie schon daran erkennen, dass der Wider-
nicht dem von Ihnen sonst immer so geschätzten Wirt- stand bröckelt und dass Sie zunehmend in die Defensive
schaftsweisen Peter Bofinger folgen, der sich zwar für geraten.
(B) einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, aber nur in (D)
Höhe von 5 Euro, weil – so sagt er – höhere Mindest- (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)
löhne Arbeitsplätze kosten würden. Der Niedriglohnsektor hat sich immer weiter ausge-
Der Mindestlohn, wie Sie ihn sich vorstellen, wird breitet. Herr Kober, Sie sprachen von einem logischen
nicht nur, sondern ist bereits zum politischen Spielball Denkfehler. Dazu will ich Ihnen einmal sagen: Wir ha-
geworden. Ich bin mir sicher, dass die Grünen bis zur ben nicht nur die im Blick, die alleinstehend sind und
nächsten Bundestagswahl nicht bei einem Mindestlohn aufstocken; wir haben alle die im Blick, die Löhne von
von 7,50 Euro bleiben werden. Falls eine Partei mehr als zum Beispiel unter 5 Euro die Stunde bekommen. We-
10 Euro fordern sollte, dann wird die Linke diese sofort gen dieser Menschen – das sind fast 2 Millionen in die-
überbieten. sem Land – brauchen wir einen gesetzlichen Mindest-
lohn.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir wüssten gern, was die FDP (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
möchte!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Pascal Kober [FDP]: Und in wel-
Aber wir sind hier nicht bei einer Auktion, sondern wir cher Höhe?)
sollten nach einer verantwortungsvollen Politik streben,
Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit droht jetzt weitere
die die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht und
Niedriglohnkonkurrenz. Deshalb brauchen wir einen
nicht gefährdet.
ordnungspolitischen Rahmen, auch um den sozialen
Wir als christlich-liberale Koalition setzen uns für Frieden in diesem Land zu erhalten. Die deutschen Ar-
diejenigen ein, die Arbeit suchen. Wir kümmern uns so- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind wahrlich nicht
wohl um die Menschen, die im Erwerbsleben sind, als fremdenfeindlich, aber wenn sie die Erfahrung machen
auch um diejenigen, die dieses Glück gerade nicht ha- müssen, dass die Polen, die Slowenen, die Litauer als
ben. Wir bauen nicht mit Mindestlöhnen Mauern auf, so- Lohndrücker auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen,
dass diese Menschen den Arbeitsmarkt nie betreten kön- dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich die Fehler
nen, sondern wollen ihnen Brücken bauen und Ihrer Politik gegen die ausländischen Beschäftigten wen-
Möglichkeiten erhalten. den, und das wollen wir verhindern.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) LINKEN)
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Brigitte Pothmer
(A) 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fordern Es ist wirklich dreist und es ist „Out of Rosenheim“, (C)
inzwischen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber mitt- wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hätten lauter
lerweile, lieber Herr Kober, sind es auch die Führungs- Mindestlöhne angeboten. Ich habe mir die Protokollno-
kräfte in Deutschland, die eine gesetzliche Lohnunter- tiz zu dem Vorschlag der Einführung von Mindestlöhnen
grenze wollen. in der Weiterbildungsbranche und in der Sicherheits-
branche noch einmal angeschaut. In der Protokollnotiz
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau! –
für den Bundesrat beschreiben Sie nur den Prozess, wie
Pascal Kober [FDP]: Reden Sie doch mal zu
man zur Erstreitung von Mindestlöhnen kommen
Ihrem Antrag!)
könnte. Und dabei verschärfen Sie die Anforderungen an
Mehr als ein Drittel der Topmanager sagt: Wir brauchen die Erstreckung von Mindestlöhnen noch zusätzlich. Es
gerade wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine ge- wäre gut, Herr Weiß, wenn Sie mir einmal zuhören wür-
setzliche Lohnuntergrenze. den; in Ihrer Protokollnotiz steht nämlich, dass der Tarif-
ausschuss einstimmig darüber entscheiden muss. Das ist
(Pascal Kober [FDP]: Und wie hoch?) falsch. Davon steht überhaupt nichts im Gesetz. Das ist
Sie müssen sich einmal fragen, für wen Sie eigentlich eine Verschärfung. Das zeigt auch, dass Sie Mindest-
noch sprechen. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie löhne in diesen Branchen gar nicht wollen. Da ist nichts,
die Interessen der 15 Prozent vertreten, die Sie, wenn aber auch gar nichts in trockenen Tüchern.
auch irrtümlicherweise, einmal gewählt haben, oder wol-
len Sie nur noch die 4 Prozent in den Blick nehmen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sich jetzt in den Umfragen für Sie entscheiden? und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Über Ihren Vorschlag zu Mindestlöhnen in der Zeitar-
beit ist hier schon geredet worden. Dazu brauche ich
Ihr Kollege Kauch hat das längst verstanden. Wo ist nicht mehr viel auszuführen. Ich kann Ihnen nur sagen:
er eigentlich? Er hätte heute einmal reden sollen. Das, was Sie vorgeschlagen haben, wird für die Zeit-
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Der muss arbeiterinnen und Zeitarbeiter nicht wirklich eine Lö-
sich ausruhen!) sung darstellen, weil nach Ihrem Vorschlag diejenigen,
die in Niedriglohnbranchen arbeiten, weiterhin Hunger-
Er hat nämlich gesagt: Die ablehnende Haltung meiner löhne bekommen sollen. Der Placeboeffekt von Equal
Partei zum gesetzlichen Mindestlohn muss infrage ge- Pay ist hier auch schon thematisiert worden. Diese Poli-
stellt werden. Wir müssen die Denkverbote bei der FDP tik der Anscheinserweckung hilft nun wirklich nieman-
aufheben. dem weiter.
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der SPD) Jetzt wollen Sie das alles wieder an die Tarifparteien
delegieren. Diese sollen es richten, und wenn sie es nicht
Ihr sächsischer Wirtschaftsminister sagt: Die Ablehnung schaffen, soll eine Kommission eingesetzt werden. Sie
eines gesetzlichen Mindestlohns darf kein Dogma sein. – vertagen damit das Problem erstens auf den Sankt-Nim-
Lieber Herr Kober, was hat Herr Kauch, was hat Herr merleins-Tag. Zweitens frage ich mich, Herr Kober, wo-
Morlok, was Sie nicht haben? her plötzlich Ihre Wertschätzung für die Tarifparteien
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommt.
sowie bei Abgeordneten der SPD – Pascal (Pascal Kober [FDP]: War immer schon so! –
Kober [FDP]: Ich habe zu Ihrem Antrag gere- Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/
det!) DIE GRÜNEN])
Jetzt wende ich mich an Sie, die Kollegen von der
Ich habe noch gut im Ohr, was Ihr Parteivorsitzender
CDU/CSU. Es ist doch Ihr Kollege Christian Bäumler, der
über die Gewerkschaften gesagt hat. Ich will es Ihnen
stellvertretende Bundesvorsitzende Ihres Arbeitnehmer-
noch einmal in Erinnerung rufen. Es ist noch nicht lange
flügels, gewesen, der alle Hoffnung auf die Hartz-IV-Ver-
her, da hat Ihr Parteivorsitzender gesagt:
handlungen gesetzt und gesagt hat: Damit wollen wir
den Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn schaffen. – Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
Er ist jetzt genauso enttäuscht in Deutschland.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Von
Er hat weiter behauptet, die Politik der Gewerkschaften
Ihnen ist er enttäuscht, Frau Pothmer!)
koste mehr Jobs, als die Deutsche Bank jemals abbauen
wie ich, Herr Weiß, und zwar von Ihren Verhandlungs- könnte. Das vor dem Hintergrund der Politik, die die Ge-
führerinnen und Verhandlungsführern. werkschaften in der Wirtschaftskrise gemacht haben!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Pascal Kober [FDP]: Das war überhaupt nicht
und bei der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] der Hintergrund!)
[CDU/CSU]: Nein! Sie haben Nein gesagt! –
Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Zum Min- Das vor dem Hintergrund des Beitrags, den sie geleistet
destlohn stand nichts im Verfassungsgerichts- haben, dass Arbeitsplätze erhalten werden konnten! Das
urteil!) ist wirklich eine Unverschämtheit.
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Brigitte Pothmer
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Der Kollege Dr. Johann Wadephul hat sehr viel unter-
LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: nommen, um endlich mit Frau Pothmer gemeinsam Ge-
Und das am Geburtstag!) burtstag zu feiern. Er hat dafür gesorgt, dass wir aus die-
sem Anlass eine Sitzung des Deutschen Bundestages
Ihre neue Wertschätzung der Gewerkschaften nimmt Ih- durchführen.
nen doch niemand mehr ab. Ihr sozialpolitisches Credo
lautet doch: gegen mehr Mitbestimmung, immer gegen (Heiterkeit)
Arbeitnehmerrechte Wir gratulieren auch Ihnen, Herr Wadephul, sehr herz-
(Ulrike Flach [FDP]: Jetzt ist aber einmal gut!) lich und wünschen Ihnen Gottes Segen.

und jetzt mit voller Kraft gegen den gesetzlichen Min- (Beifall)
destlohn.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Herr Kober, Sie haben ja noch einmal behauptet, Min- Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die charmante
destlöhne vernichten Arbeitsplätze. Begrüßung!
(Pascal Kober [FDP]: Können Arbeitsplätze (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vernichten! – Bettina Hagedorn [SPD]: An- NEN]: Wir beide und Bertolt Brecht!)
geblich!)
– Ja, wir beide und Bertolt Brecht. Darüber kann man
– Also, angeblich. – Schauen Sie einmal auf die Home- philosophieren. Ich sehe, wie Frau Pothmer zu Tränen
page des BMAS. Ihr Ministerium ist da schon weiter. gerührt ist. Ich gratuliere auch ihr von Herzen. Gesund-
Dort heißt es ausdrücklich, dass es keine negativen Be- heit muss man ihr nach dieser vitalen Rede ja gar nicht
schäftigungseffekte gibt, wenn Mindestlöhne sinnvoll mehr wünschen. Nachdem sie sich auch phänotypisch
eingeführt werden. mit ihrer Kleidung der Union annähert, können wir viel-
leicht in Zukunft noch mehr Gemeinsamkeiten suchen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meine sehr verehrten Damen und Herren.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Pascal Kober [FDP]: Nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
10 Euro! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Über Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Was sagen
den Sinn diskutieren!) Sie zu Ihrer roten Krawatte?)

Dazu machen wir Ihnen in unserem Gesetzentwurf einen Ich habe das erfreut zur Kenntnis gekommen. Ihre ohne-
(B) Vorschlag. Wir wollen, dass eine Mindestlohnkommis- hin vorhandene Attraktivität wird dadurch nochmals ge- (D)
sion eingesetzt wird, die sehr genau hinschaut, wie sich steigert.
Mindestlöhne in einer bestimmten Branche auswirken, (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])
und entsprechende Anpassungen vornimmt. Das ist un-
– Herr Heil, machen Sie sich keine Hoffnungen.
ser Vorschlag. Natürlich wollen wir, dass die Tarifpar-
teien Mindestlöhne oberhalb dieser unteren Lohngrenze (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)
verabreden können. Das haben ja auch Sie, Herr Weiß,
Von den Sozialdemokraten haben wir in unserem ver-
noch einmal in den Mittelpunkt gestellt. Ich kann mir gangenen Lebensjahr, Frau Pothmer, schon einmal etwas
also sicher sein, dass auch Sie unserem Gesetzentwurf Ähnliches in Form eines Antrags bekommen, der jetzt
zustimmen werden. von den Juristen in Gesetzesform gebracht worden ist.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Die Argumente dazu sind ausgetauscht, und man fragt
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Paul sich, was der Gesetzentwurf heute eigentlich soll. Aber
Lehrieder [CDU/CSU]: So nicht!) wer die Rede von Herrn Heil verfolgt hat, hat das schnell
gemerkt: Er hat dieses Thema mit der Regelsatz-Debatte
Ich sage Ihnen noch einmal – und mit der Blockade verknüpft, die Rot-Grün im Ver-
mittlungsausschuss zulasten der Bedürftigen durchge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: führt hat. Man erkennt: Hier soll Wahlkampf geführt
werden. Es geht Ihnen nicht um die Bedürftigen und die-
Frau Kollegin! jenigen Menschen, die – der Kollege Weiß hat darauf
hingewiesen – in drei wichtigen Branchen einen Min-
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): destlohn hätten bekommen können, sondern Sie brau-
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –: Rüsten chen Wahlkampfmunition. Angesichts Ihrer Umfrage-
Sie ab in Sachen Mindestlohn! Nachdem ich Ihre Rede- werte verstehe ich das zwar, aber in Ordnung ist es nicht,
beiträge gehört habe, meine ich, zwischen den Zeilen le- Herr Kollege Heil.
sen zu können, dass auch Sie einen gesetzlichen Min- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
destlohn wollen. Herr Weiß, geben Sie es doch zu! neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In Hamburg brauchen wohl Sie ein bisschen
Munition, oder?)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ Wenn wir uns einmal Ihre Aussagen zur beschäfti-
CSU]: Na, na!) gungspolitischen Ausgangslage in Deutschland vor Au-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10077
Dr. Johann Wadephul
(A) gen führen, dann könnte man den Eindruck haben, als Klaus Ernst (DIE LINKE): (C)
lebten wir in einem Land, in dem Armut und Not nur so Danke, Herr Kollege. – Sie haben gerade gesagt,
grassierten. Wenn Sie aber die beschäftigungspolitische wenn im Ergebnis ein Mindestlohn herauskäme, dann
Situation und auch die Arbeitslosenstatistiken Deutsch- müsste im Zweifelsfall der Steuerzahler die Kosten tra-
lands einmal innerhalb der Europäischen Union verglei- gen.
chen, dann stellen Sie fest, dass wir gerade aufgrund der
Entwicklung des vergangenen Jahres – insofern hätten Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass der Steuerzahler
Sie seit der Erstantragstellung vielleicht einmal darüber durch den nicht vorhandenen Mindestlohn und dadurch,
nachdenken müssen – an fünfter Stelle von allen 27 EU- dass er permanent die zu niedrigen Hungerlöhne aufsto-
Mitgliedstaaten stehen. cken muss, schon jetzt belastet ist? Vorhin ist in der De-
batte von 11 Milliarden Euro jährlich gesprochen wor-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und den.
Äthiopien!)
Zweitens. Würden Sie mir zustimmen, dass bei einer
– Der Äthiopien-Vergleich leuchtet mir jetzt nicht unmit-
Erhöhung des Mindestlohns die notwendigen staatlichen
telbar ein.
Zuschüsse sinken könnten, der Steuerzahler also, entge-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Verglichen mit gen Ihrer Auffassung, eher entlastet und nicht belastet
Äthiopien sind wir reich!) würde?
Dies ist ein Erfolg unserer Politik und einer ausgewo- Drittens. Sie haben über die Frage einer Untergrenze
genen Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutsch- diskutiert und in diesem Zusammenhang von einem
land, in die man, wenn man Erfolg haben will, nur dann Überbietungswettbewerb gesprochen. Sind Sie nicht der
eingreifen soll, wenn man wirklich ein besseres Regel- Auffassung – ganz einfach gefragt –, dass es auch zur
werk zu bieten hat. Aber das ist bei nüchterner Betrach- Würde des Menschen gehört, dass er von dem Lohn für
tung der beiden Gesetzentwürfe und der Vorstellungen seine Vollzeitarbeit leben können muss, ohne der staatli-
der Linken nicht der Fall. chen Fürsorge anheimzufallen?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN)
neten der FDP)
Der Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen, Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
dass das, was Sie hier vorschlagen, schon in sich nicht Herr Kollege Ernst, zunächst einmal habe ich mich
konsistent ist. Man kann einmal bei der Höhe der Sätze bei den Ausgaben, die den Steuerzahler treffen würden,
anfangen – Herr Kober hat sie schon aufgezählt –: auf die Regelsätze bezogen. Sie sind aus unserer Sicht
(B) 7,50 Euro, 8,50 Euro, 10 Euro. Man könnte im Grunde nachvollziehbar berechnet. Wir haben übrigens keinen (D)
wie auf einer Versteigerung fragen: Wer bietet mehr? gegenläufigen Vorschlag von der Opposition zur Kennt-
Wenn man Ihren Vorschlag für einen Mindestlohn, nis nehmen können.
Herr Ernst, zugrunde legen und Ihre Regelsatzberech-
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch über-
nungen dazunehmen würde, dann käme man zu dem
haupt nicht!)
Schluss, dass auch die von Ihnen geforderten 10 Euro
nicht ausreichen würden. Insofern ist Ihre Berechnung Sie behaupten immer nur, Frau Kollegin Ferner, unsere
noch nicht einmal in sich konsistent. Aber das alles muss Berechnung sei verfassungswidrig. Aber Sie haben
am Schluss irgendjemand bezahlen, im Zweifel die Steu- keine konsistente Gegenberechnung vorgelegt; Sie sind
erzahlerinnen und Steuerzahler. sie uns bis zum heutigen Tage schuldig geblieben, auch
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die zahlen das in den Nachtsitzungen.
doch jetzt schon!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Bei der Haushaltslage in Deutschland ist das schlicht Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
und ergreifend nicht verantwortbar. Deswegen, Herr NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch
Kollege Ernst, sind diese Vorstellungen – sowohl die Ih- überhaupt nicht!)
rigen als auch die Vorstellungen der Grünen und der Herr Kollege Ernst, ich finde es übrigens abenteuer-
SPD – zum jetzigen Zeitpunkt zurückzuweisen. lich, hier Frau von der Leyen vorzuwerfen, sie sei keine
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nachtarbeit gewohnt.
neten der FDP)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habe ich nicht
gesagt! Lesen Sie im Protokoll nach!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, der Kollege Ernst würde Ihnen gerne Sie liegen vollkommen falsch, wenn Sie glauben, Mütter
eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen? seien keine Nachtarbeit gewohnt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Ja, bitte. Frau von der Leyen hat wirklich eine Ahnung davon,
was es bedeutet, nachts aktiv zu sein.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zuhören! Lesen
Bitte schön. Sie es bitte im Protokoll nach!)
10078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Johann Wadephul


(A) – Sie haben es vorhin so formuliert. Stellen Sie es gege- der Verbraucher nicht immer bereit, das dafür notwen- (C)
benenfalls richtig. dige Geld auszugeben. Das ist nun einmal die Realität.
Das finde ich persönlich nicht richtig – Sie wahrschein-
Der zweite Punkt. Wir streiten doch nicht über die lich auch nicht –, aber es ist die Realität. Insofern ist es
Frage, welches Mindesteinkommen ein Mensch braucht, wohlfeil, zu sagen: Ein Mindestlohn ist sozusagen das
um leben zu können. Patentrezept. Nein, ein Mindestlohn – das muss man ehr-
(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Doch! – licherweise sagen – birgt die Gefahr, dass reguläre,
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Darüber streiten sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse im Nie-
wir auch!) driglohnsektor verschwinden und im Bereich der
Schwarzarbeit landen.
– Hören Sie jetzt vielleicht freundlicherweise zu! Auch
ich habe einen Geburtstagswunsch; er ist identisch mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
dem Wunsch der Kollegin Pothmer. Das ist die Kehrseite der Medaille. Das ist zwar nicht
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Einen haben schön, aber man muss es an dieser Stelle ehrlicherweise
Sie frei!) ansprechen.
– Danke. – Wie gesagt, darüber streiten wir nicht. Die Ich würde mich gerne den vermeintlich unabhängigen
Frage ist doch, wie sich das Mindesteinkommen zusam- Kommissionen zur Festlegung des Mindestlohns wid-
mensetzt und wie wir in einem ganz bestimmten Bereich men, die in beiden Gesetzentwürfen auftauchen. Dabei
Arbeit für Menschen generieren können. möchte ich zwei Aspekte beleuchten. Zum einen geht es
um die Frage, wie unabhängig solche Kommissionen ei-
Es war Wolfgang Schäuble, der schon in den 90er- gentlich sein können: Wie viel Unabhängigkeit trauen
Jahren darüber nachgedacht hat, Kombilohnmodelle zu Sie ihnen zu? Das Ende der Unabhängigkeit beginnt,
entwickeln. Herr Heil, die Regierung Schröder hat das wenn Sie den Kommissionen vorschreiben würden, dass
dann erfolgreich umgesetzt. Man hatte damals die Idee: der Mindestlohn nicht unter 7,50 Euro bzw. 8,50 Euro
Wir müssen im Niedriglohnsektor Arbeit für Menschen pro Stunde liegen darf. Ich frage Sie nach Ihrer realisti-
generieren, weil es auch zur Menschenwürde gehört, schen Einschätzung: Glauben Sie eigentlich wirklich,
dass man eine Aufgabe hat und für seine Arbeit eine Ent- dass die entsprechende Zahl, wie auch immer sie festge-
lohnung bekommt. Wenn diese Entlohnung nicht aus- setzt würde, aus den politischen Auseinandersetzungen
reicht, um davon menschenwürdig zu leben, dann ist es im Rahmen von Wahlkämpfen herausgehalten werden
eine Selbstverständlichkeit, dass der Staat hier ergän- könnte? Ich glaube, nicht aus einem Wahlkampf. Frau
zend unterstützt und eingreift. Das ist im Kern ein richti- Mast, die Grünen haben auch noch gesagt, wir müssten
(B) ger Ansatz, zu dem wir weiterhin stehen. regionale Unterschiede machen. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Auch Rot und Grün sollten eigentlich dazu stehen, NEN]: Nein! Die Kommission guckt sich das
denn gerade im Niedriglohnsektor haben wir außer- an!)
ordentlich viele Arbeitsplätze geschaffen. Natürlich soll Das heißt, wir müssten in den einzelnen Bundesländern
es nicht bei diesen Arbeitsplätzen bleiben; das sind doch eine unterschiedliche Mindestlohnhöhe definieren.
Einstiegsarbeitsverhältnisse, die eine Brücke zu solchen
Arbeitsverhältnissen schlagen können, in denen mehr (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Einkommen erzielt werden kann, NEN]: Das macht die Kommission!)

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dann würde jeder Landtagswahlkampf im Kern aus der
NEN]: Das funktioniert doch nicht!) Aussage bestehen: Ich biete mehr Mindestlohn, und des-
wegen wählt bitte meine Partei. Das wäre das Ende der
sodass keine ergänzende staatliche Unterstützung benö- Tarifautonomie und der Beginn der politischen Bestim-
tigt wird. Das ist doch der Kern. mung des Mindestlohns.
Wir haben hier vorhin eine Debatte über den Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stand geführt. Sie müssen einmal die Kehrseite der Me-
Ob wir den Menschen damit einen Gefallen tun würden,
daille sehen: Wenn wir hier einen Mindestlohn festset-
ist die große Frage.
zen, dann müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
– das sind oftmals beispielsweise kleine Handwerksbe- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den tun
triebe, von denen in der vorangehenden Debatte die wir damit einen Gefallen!)
Rede gewesen ist – diesen Mindestlohn in der Folge er-
Lange Rede, kurzer Sinn:
wirtschaften. Wir alle können immer mit dem berühmten
Beispiel von der Friseuse kommen. Nur, schauen Sie (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, sehr kurz!)
sich einmal die wirtschaftliche Realität in Deutschland
Wir haben in Deutschland – das ist der Unterschied zu
an: Viele Handwerksbetriebe haben Mühe, höhere Preise
den wichtigsten europäischen Nachbarländern, mit de-
am Markt durchzusetzen.
nen Sie uns hier vergleichen – Tarifautonomie und sta-
Da befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie bile Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind übrigens
im Lebensmittelbereich. Hier sagen alle immer: Lebens- beteiligt, wenn vom Mindestarbeitsbedingungengesetz
mittel müssen angemessen Geld kosten dürfen. Nur ist abgewichen wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10079
Dr. Johann Wadephul
(A) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die wortet haben. Das ist nicht gerade ein Ausweis einer be- (C)
aber den Mindestlohn fordern! Verdi und DGB sonders mutigen Haltung.
fordern den Mindestlohn!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Das machen nicht irgendwelche gruseligen Arbeitgebe- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
rinnen und Arbeitgeber allein. Die Gewerkschaften sind GRÜNEN)
immer dabei, Herr Kollege Heil. Das sollten Sie nicht
vergessen. Wir haben eine Tarifautonomie, die sich in Vertretern der Arbeitnehmerschaft müsste es doch mög-
über 60 Jahren bewährt hat. Sie sorgt dafür, dass wir auf lich sein, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um
schwierige wirtschaftliche Situationen, wie das 2009 der eine klassisch liberale Position handelt, die an Irrsinn
Fall war, flexibel reagieren können. Den wirtschaftli- kaum zu überbieten ist. Wir alle wissen, dass die Be-
chen Aufschwung, den wir in Deutschland erlebt haben, schäftigungsverhältnisse in diesem Bereich in der Regel
das Jobwunder, das wir in Deutschland erlebt haben, eine Laufzeit von neun Monaten unterschreiten.

(Zuruf von der LINKEN: 400-Euro-Job-Wun- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!)
der!) Das zeigt, dass die vorgeschlagene Regelung sich nicht
haben wir kluger Politik zu verdanken. Wir haben nie auf die Realität bezieht. Sie ist nicht für die Wirklichkeit
verschwiegen, dass das mit der Agenda 2010 begonnen gedacht, sondern für irgendetwas anderes. Vielleicht ist
hat. Sie verschweigen das schamhaft, was ich tragisch sie für die FDP-Wirklichkeit gedacht, aber nicht für die
finde. wirkliche Wirklichkeit.
(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das stimmt Es wäre angemessen, wenn auch der CDU/CSU-Ver-
ja gar nicht! Das hätten Sie gern!) treter der Arbeitnehmerschaft dazu eine klare Position
formulieren würde, zumal es für die Koalition inzwi-
Der Aufschwung hat aber auch damit zu tun, dass wir schen peinlich wird. Heute Morgen habe ich in einer
nachfolgend gute strukturpolitische Entscheidungen in überregionalen Tageszeitung ein Interview mit dem Chef
Deutschland getroffen haben. Nicht zuletzt verdanken von Manpower gelesen. Manpower ist weltweit eine der
wir das Jobwunder aber der Intelligenz und dem Augen- größten Verleihfirmen. In diesem Interview wird Jeffrey
maß der Tarifpartner. Joerres, Chef des internationalen Personaldienstleisters
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die wollen doch Manpower, zitiert. Er „steht der derzeit diskutierten glei-
den Mindestlohn! Haben Sie das noch nicht chen Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäf-
gemerkt? Tarifpartner sind für den Mindest- tigten (Equal Pay) offen gegenüber“.
lohn!)
(B) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
Die Tarifpartner haben unser Vertrauen. Wir sollten NEN]: Die sind alle weiter als die FDP und die
sie bei ihrer schwierigen Arbeit unterstützen und versu- CDU!)
chen, politische Einmischung so weit wie möglich zu
verhindern. Ein wörtliches Zitat aus dem Interview: „Wenn es so
kommt, dann stellen wir uns darauf ein.“
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die sind alle viel weiter als die FDP und im Gefolge
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Herr Weiß und die Herren und Damen von der CDU/
Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr gut!) CSU.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat Ottmar Schreiner von der SPD-Frak-
tion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß
Ernst [DIE LINKE]) zulassen?

Ottmar Schreiner (SPD):


Ottmar Schreiner (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang möchte ich ein paar Bemerkungen zu mei- Ja, sicher. Wir wollen ja die Debatte beleben.
nen Vorrednern machen, um die Diskussion etwas zu be-
leben. Zunächst eine Bemerkung zu Herrn Weiß, dem Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Vertreter der Arbeitnehmerschaft in der CDU/CSU- Herr Kollege Schreiner, ich finde es persönlich sehr
Fraktion: erfreulich, dass der Chef einer großen Zeitarbeitsfirma
eine solche Erklärung abgibt. Es ist aber auch diese
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!)
Frage zu beantworten: Warum schließt Manpower nicht
Herr Weiß, bei allem Respekt, ich finde es sehr bedauer- bereits morgen mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag
lich, dass Sie die Frage, ob Sie eine Neunmonatsfrist, die ab, in dem festgelegt wird, dass für Zeitarbeitsmitarbei-
von der FDP vorgeschlagen worden ist, als Vorausset- terinnen und -mitarbeiter, die über Manpower vermittelt
zung für die Umsetzung des Anspruches „Gleicher Lohn werden, ab dem ersten Tag Equal Pay gezahlt und der
für gleiche Arbeit“ für angemessen halten, nicht beant- Lohn nicht abgesenkt wird?
10080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die stellen sich noch vertreten. Wahrscheinlich vertreten Sie nur noch (C)
darauf ein! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das Ihre eigenen Interessen. Es gibt aber niemanden mehr,
hat sich doch schon rumgesprochen! Wie kann der sich von Ihnen vertreten fühlt.
man denn so weltfremd sein?)
(Zuruf von der FDP: Sie werden doch zuge-
– Herr Kollege Ernst, ich frage jetzt den Kollegen ben, dass das alles Ihre Idee war!)
Schreiner.
Hier zeigt sich die Koalition schon relativ hilflos.
Sie haben damals im Bundestag das heute geltende Weiter weist Manpower darauf hin, auch ein Mindest-
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mitbeschlossen, das vor- lohn von 7,60 Euro für Ungelernte sei akzeptabel. Er
sieht, dass eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter und sagt:
Festangestellte gilt; es sei denn, per Tarifvertrag wird
nach unten abgewichen. Es ist also jederzeit möglich, … das zahlen wir sowieso schon, und es würde der
diese Abweichung per Tarifvertrag wieder aufzuheben Branche guttun. Insofern stehen wir dem Mindest-
und eine gleiche Bezahlung herzustellen. lohn offen gegenüber.
Dann soll doch Manpower diesen Tarifvertrag schlie- Meine Güte, ich frage mich, wer in dieser Republik
ßen, aber nicht uns, der Politik, dieses Thema zuspielen. noch Ihre Position unterstützt.
Es liegt doch in erster Linie in der Verantwortung der Ta- Lidl steigt an die Spitze des Klassenkampfes und for-
rifpartner und nicht in der des Deutschen Bundestages, dert einen Mindestlohn von 10 Euro brutto pro Stunde.
Equal Pay herzustellen.
(Zuruf von der FDP: Warum sind Sie bei
(Beifall bei der CDU/CSU) 8,50 Euro?)

Ottmar Schreiner (SPD):


Man könnte die Palette der Einrichtungen, die das for-
dern, erweitern. Im Kern gibt es niemanden mehr, der
Herr Kollege, Sie wissen doch selbst, dass das tarifli- die Position der Koalition bei dieser Frage unterstützt.
che Unterbieten der „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“- Das ist die erste Bilanz, die man an dieser Stelle ziehen
Regelung von einer Gewerkschaft angepackt worden ist, kann.
der die zuständigen Gerichte die Tarifmächtigkeit abge-
sprochen haben. Damit sind natürlich die anderen Ge- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
werkschaften massiv unter Druck gesetzt worden mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dem Ergebnis, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für
Herr Weiß, Sie haben ferner mit Nachdruck darauf be-
gleiche Arbeit“ tariflich nicht mehr gehalten werden
standen, dass zu Folgendem Stellung bezogen wird. Sie
(B) konnte. Das war die Lage in den vergangenen Jahren. (D)
sagten, wenn der Gesetzgeber einen allgemeinen gesetz-
Wenn das so ist, dann ist der Gesetzgeber aus Ge- lichen Mindestlohn festlege, dann entstehe ein Druck
meinwohlgründen verpflichtet, Schlimmeres zu verhin- nach unten in Richtung dieses allgemeinen Mindestlohns.
dern und seinerseits Regelungen zu treffen. Sie fragten, wie man damit umgehen solle.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wenn das richtig wäre, müsste es entsprechende Er-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß fahrungen aus dem Ausland geben. Sie wissen, dass in
[Emmendingen] [CDU/CSU]: Das Problem ist über 20 EU-Ländern ein gesetzlicher Mindestlohn gilt.
doch jetzt weg!) Aus keinem dieser Länder wird berichtet, dass das ein-
getreten ist, was Sie befürchten.
– Ich weiß nicht, ob der Christliche Gewerkschaftsbund
verschwunden ist oder ob es ihn noch irgendwo in Re- Im Übrigen gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe
serve gibt. von sozialpolitischen Regelungen, wie etwa das Bundes-
urlaubsgesetz, die Arbeitszeitgesetzgebung usw., mit de-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: nen der Gesetzgeber Mindeststandards festgelegt hat.
Aber die Tarifgemeinschaft!) Diese Regelungen können jederzeit von den Tarifpar-
Dieser ist offenkundig in diesen tariflichen Fragen zu al- teien verbessert werden. In der Realität werden sie auch
lem fähig und zu nichts wirklich nutze. verbessert. Von einer Sogwirkung nach unten kann also
in keinem Fall die Rede sein.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Ich habe nicht so richtig verstanden, worauf Herr
Der Chef von Manpower sagt weiter: Wadephul im Ernst hinauswollte.
Der Grundgedanke, dass gleiche Arbeit gleich be- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ernst sitzt
zahlt wird, ist ja richtig – auch wenn es im Einzel- da drüben!)
fall nicht immer so einfach ist.
Herr Wadephul, unter anderem haben Sie gesagt, dass es
Das ist okay. Das geht aber auch an die Adresse der FDP. Besorgnisse hinsichtlich der Beschäftigungseffekte gebe.
Wenn die großen Leiharbeitsfirmen den Grundsatz Sie kommen aus Schleswig-Holstein. Laden Sie doch
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für richtig halten und einmal die Low Pay Commission des britischen Parla-
sagen, dass sie sich damit arrangieren können, wenn der ments nach Deutschland ein. Diese Kommission existiert
Gesetzgeber entsprechende Regelungen trifft, dann stellt schon seit etlichen Jahren und setzt sich zusammen aus
sich die Frage, wessen Interessen Sie hier eigentlich Vertretern der Industrie, des Handwerks, der Gewerk-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10081
Ottmar Schreiner
(A) schaften und der Wissenschaft. Auch uns schwebt eine Da müssten die Christdemokraten Farbe bekennen. Es (C)
solche Zusammensetzung einer solchen Kommission vor. ist ein klassisch liberaler Grundsatz, dass in einer Markt-
Fragen Sie die Low Pay Commission aus Großbritannien wirtschaft die Preise und Löhne, die es auf dem Markt
nach ihren spezifischen Erfahrungen bezogen auf die Fra- gibt, auf dem Markt gebildet werden. Demnach hätten
gen, die Sie hier formuliert haben. Sie würden sich wun- wir es auf dem Arbeitsmarkt mit einer Art Kartoffel-
dern und glauben, Sie hätten es mit einer sozialdemokra- markt zu tun. Aber der Arbeitsmarkt ist mit einem Kar-
tischen Vereinigung zu tun, toffelmarkt nicht vergleichbar, weil wir es auf dem Ar-
beitsmarkt mit Menschen zu tun haben, und Menschen
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) haben Würde. Daraus ergibt sich der Wert der Arbeit des
und das ausgerechnet in Großbritannien, wo dies nicht Menschen.
unbedingt zu erwarten ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Kein Vertreter der Koalition hat auch nur einen einzi- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
gen Satz zu den neuen Herausforderungen ab dem GRÜNEN)
1. Mai dieses Jahres gesagt. Das können Sie in vielen Dokumenten der katholischen
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Soziallehre und in den entsprechenden evangelischen
Schriften nachlesen. In diesem Punkt unterscheiden wir
Was ist, wenn die uneingeschränkte Freizügigkeit der Ar- uns fundamental von den Liberalen.
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den mittel- und
osteuropäischen Ländern, die seit 2004 EU-Mitglied sind, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zum 1. Mai dieses Jahres in Kraft tritt? Was ist, wenn zum Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Beispiel polnische Arbeitgeber polnische Arbeitnehmer
oder baltische Arbeitgeber baltische Arbeitnehmer zu in
ihrer Heimat üblichen Preisen in Deutschland einsetzen? Ottmar Schreiner (SPD):
Wir Sozialdemokraten haben nichts gegen den Wettbe- Ich bin eigentlich nicht am Ende, aber ich komme
werb von Regionen und schon gar nichts gegen den Wett- zum Ende.
bewerb von Unternehmen, aber wir haben etwas gegen (Heiterkeit)
den Wettbewerb von Unternehmen, wenn er auf dem Rü-
cken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetra- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gen wird. Das werden wir nicht akzeptieren.
Nur das war meine Bitte.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
(B) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ottmar Schreiner (SPD): (D)
GRÜNEN) Die Kollegen, die hier immer betonen, dass sie christ-
Deshalb ist das ein für uns wesentlicher Punkt. liche Politik machen, machen insoweit keine christliche
Politik. Sie machen auf diesem Feld FDP-Politik.
Das bisherige Kernargument, die Beschäftigung sei ge-
fährdet, ist anscheinend fallen gelassen worden. Wenn die- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ses Argument richtig wäre, müssten wir Anhaltspunkte da- Herr Kollege.
für haben, dass es in den acht Branchen, in denen in der
letzten Zeit die Allgemeinverbindlichkeit formuliert wor-
den ist, zu entsprechenden negativen Beschäftigungsef- Ottmar Schreiner (SPD):
fekten gekommen wäre. Davon kann überhaupt keine Hier wären Sie gut beraten, in sich zu gehen und sich
Rede sein. Nehmen Sie die jüngsten amerikanischen Stu- vielleicht einmal etwas gründlicher mit der Lehre der
dien; diese zeigen in die gleiche Richtung. Sie sind im Be- christlichen Kirchen zum Thema Arbeit zu befassen.
reich der wissenschaftlichen Evaluation von Mindestlöh- Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und gute Bes-
nen national und international hoffnungslos isoliert. serung.
(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
LINKE]) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der entscheidende Punkt, den ich Ihnen gar nicht
mehr richtig darlegen kann, weil ich sehe, dass meine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Redezeit gleich abläuft, betrifft die Frage nach den we- Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
sentlichen Antriebsgründen für die Forderung nach Min- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
destlöhnen. Sie sind nicht primär ökonomischer Art. Sie der CDU/CSU)
sind zwar auch ökonomischer Art – Stichwort: Binnen-
nachfrage und dergleichen mehr –, aber sie sind im We-
sentlichen eine Frage des Anstandes und der Fairness auf Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
dem Arbeitsmarkt und eine Frage des Wertes der Arbeit. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Heil, Sie haben heute das gemacht, was
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir auch im Vermittlungsausschuss erlebt haben. Sie ha-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ben sich über das Thema, um das es eigentlich geht – in
GRÜNEN) diesem Fall Ihre Gesetzentwürfe zu gesetzlichen Min-
10082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) destlöhnen –, hinaus geäußert. Deswegen möchte auch Das hat neben der starken mittelständischen Wirtschaft (C)
ich kurz auf ein anderes Thema, auf die Zeitarbeit, ein- – liebe Frau Kollegin Pothmer, ich komme gleich zu Ih-
gehen. Wissen Sie, der Unterschied zwischen Ihnen und nen –
uns ist, dass wir nicht leichtfertig wegwerfen wollen,
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
was Sie einmal für dieses Land erreicht haben.
NEN]: Er sagte: Die Gewerkschaften vernich-
Es gibt Unterschiede zwischen dem Modell der Zeit- ten mehr Arbeitsplätze, als die Deutsche Bank
arbeit, das wir in Deutschland haben, und den Modellen, je abgebaut hat!)
die es im Ausland gibt. In Deutschland ist die Zeitarbeit
und der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft übri-
in den letzten Jahren ein Jobmotor gewesen, übrigens
gens entscheidend zum deutschen Jobwunder beigetra-
gerade für diejenigen, die aus der Arbeitslosigkeit kom-
gen. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir die
men.
niedrigste Arbeitslosenquote aller großen Länder in Eu-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ropa und die niedrigste Jugendarbeitslosenquote über-
NEN]: Im Ausland gibt es sehr viel mehr Zeit- haupt haben. Das wollen wir im Gegensatz zu Ihnen
arbeit! In Frankreich! In den Niederlanden! – nicht wegwerfen.
Weiterer Zuruf)
Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Glück-
– Doch. – Zwei Drittel der Menschen in der Zeitarbeit wunsch zum Geburtstag.
kommen aus der Arbeitslosigkeit, und 40 Prozent derje-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nigen, die in der Zeitarbeit arbeiten, sind ohne Qualifika-
NEN]: Danke sehr!)
tion, haben keinen Berufsabschluss. Für diese ist die
Zeitarbeit der Weg in den Arbeitsmarkt. Alles Gute! Aber gerade weil Ihr Geburtstag eigentlich
ein Tag der Freude für uns alle ist, ebenso wie der Ge-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Immer mehr
burtstag des Kollegen Wadephul, muss ich Ihnen sagen:
sind hochqualifiziert!)
Bei Ihnen habe ich mich gewundert, dass auch Sie heute
Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist, dass wir das dunkle Bild der drohenden Gefahr aus dem Osten
das nicht leichtfertig wegwerfen wollen. durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezeichnet haben.
Dass Sie uns hier vorwerfen, wir wollten den Miss- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
brauch bei der Zeitarbeit nicht verhindern – dies wollen NEN]: Nein! Wir sagen: Der deutsche Arbeits-
wir natürlich machen –, markt muss darauf vorbereitet werden!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Neun Monate!) Sie wissen doch so gut wie ich: Alle Untersuchungen ha-
(B) ben gezeigt, dass die Länder, die ihre Arbeitsmärkte im (D)
finde ich bemerkenswert. Diese Koalition hat doch die
Gegensatz zu Deutschland schon geöffnet hatten, keine
Schlecker-Klausel vorgelegt.
Probleme hatten, dass dort kein Lohndumping entstan-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den ist,
NEN]: Aber die hilft doch nichts!)
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
Es war diese Koalition, die schon letzten Sommer gesagt NIS 90/DIE GRÜNEN – Anton Schaaf [SPD]:
hat: Wir müssen uns für Equal Pay einsetzen, damit Die haben ja auch alle Mindestlöhne!)
Stammarbeitskräfte nicht durch Zeitarbeiter ersetzt wer-
sondern dass ihre Volkswirtschaften – im Gegenteil – so-
den, weil man diesen einen niedrigeren Lohn zahlen
gar gewachsen sind. Das gilt auch für die Länder, die
kann. Das wollen wir. Deshalb schlagen wir eine Rege-
keine gesetzlichen Mindestlöhne haben;
lung zu Equal Pay vor. Allerdings wollen wir dies nach ei-
ner klugen Frist, Herr Heil, weil es unser Ziel ist, den (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Dänemark,
Steg, den die Zeitarbeit laut IAB heute in den Arbeits- Schweden, Norwegen – die haben doch alle ei-
markt bildet, zu einer Brücke auszubauen, damit mehr nen Mindestlohn!)
Menschen darüber gehen können, und ihn nicht abzurei-
denken Sie nur an die Länder in Skandinavien, zum Bei-
ßen, wie Sie es wollen; denn dies würde die Zahl der
spiel an unseren nördlichen Nachbarn Dänemark.
Langzeitarbeitslosen in Deutschland erhöhen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NEN]: Die Länder in Skandinavien haben ei-
der CDU/CSU)
nen quasigesetzlichen Mindestlohn!)
Kommen wir jetzt zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Tarif-
Nun zu den Mindestlöhnen. Sie verweisen immer auf
autonomie in Deutschland ist für uns – das, was uns
Großbritannien. Ich würde es mir nicht so leicht machen,
Liberalen hier unterstellt wurde, ist falsch – ein hohes
zu sagen: In den Ländern, die einen Mindestlohn haben,
Gut. Wir glauben, dass die Lohnfindung bei Arbeitge-
ist alles gut. Wir sehen doch in Europa: Es funktioniert. –
bern und Gewerkschaften in guten Händen ist. Deshalb
Wenn ich mir die Situation in Frankreich und Spanien
wollen wir sie dort belassen. Der Punkt ist: Das ist ein
anschaue, wo es sehr starre gesetzliche Mindestlöhne
Erfolgsmodell.
gibt, dann kann ich nur sagen: Das wünsche ich mir
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht. Eine dreimal bis fünfmal so hohe Jugendarbeitslo-
NEN]: Das hat aber Ihr Vorsitzender lange senquote, wie wir sie in Deutschland haben, wünsche ich
nicht begriffen, Herr Vogel!) mir nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10083
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (C)
NEN]: Das hat aber nichts damit zu tun!) GRÜNEN)
Wir können uns gerne die Situation in Großbritannien – Nein, das lasse ich mir nicht unterstellen. Bitte stellen
anschauen; Ihr Vorbild ist ja die Low Pay Commission. Sie die Zwischenfrage.
Wenn man das tut, muss man sich aber die Situation in
Großbritannien insgesamt anschauen. Der Arbeitsmarkt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ist nämlich ein Gesamtkunstwerk. Wenn er kein Gesamt- Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das mit dem Antidis-
kunstwerk ist, dann besteht die Gefahr, dass es umfas- kriminierungsgesetz vereinbar ist.
sender Pfusch ist. Wir können gern über Großbritannien
reden. Dann reden wir aber bitte auch darüber, dass es (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
dort keinen Mindestlohn für unter 21-Jährige gibt, dann CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott
reden wir auch über den britischen Kündigungsschutz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säuglings-
und über eine Commission, die zum Beispiel unabhän- schutz!)
gig von politischer Einflussnahme Löhne festsetzen – Frau Hendricks, bitte.
kann.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Barbara Hendricks (SPD):
NEN]: Ja! Das soll sie auch!) Herr Kollege Vogel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
Wenn Sie in Deutschland einen Mindestlohn von um- nehmer, die schon früher das Recht auf Freizügigkeit, in
gerechnet 6,97 Euro haben wollen, können wir darüber andere europäische Länder zu ziehen, hatten, zum Bei-
reden. Aber genau das wollen Sie nicht, liebe Frau Kol- spiel aus Polen nach Großbritannien, Irland, Schweden
legin Pothmer. In Großbritannien beträgt der Mindest- oder Norwegen, einem Land, das der Europäischen
lohn, umgerechnet in Euro, aktuell 6,97 Euro. Genau Union gar nicht angehört – ich will sie einmal Wanderar-
diesen Betrag hat die unabhängige wissenschaftliche beiter nennen –, in Länder gewandert sind, in denen es
Kommission festgelegt. Genau dies wollen Sie aber einen Mindestlohn gibt? Ist Ihnen auch bekannt, dass der
nicht. Sie bringen folgendes Kunststück fertig: Sie sagen von Ihnen gerade angesprochene Mindestlohn in Groß-
auf der einen Seite: „Ja, wir wollen eine solche Kommis- britannien von unter 7 Euro nur deswegen zurzeit unter
sion“, sagen aber auf der anderen Seite: „Wir legen poli- 7 Euro liegt, weil das Pfund im Zuge der Wirtschafts-
tisch die Untergrenze fest, eine Grenze, die sie nicht und Finanzkrise im Verhältnis zum Euro deutlich verlo-
unterschreiten darf.“ Was wäre denn, wenn die Wissen- ren hat, dass der Mindestlohn vorher umgerechnet bei
schaftler herausfinden würden, liebe Kolleginnen und knapp 9 Euro lag
(B) Kollegen von den Grünen, dass der angemessene Min- (D)
destlohn 7 Euro beträgt? Dürften sie das dann gar nicht (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)
feststellen? Oder dürften sie das schon wissenschaftlich
und dass wegen einer Pfund-Schwäche die Mieten oder
feststellen, aber die Politik würde dann etwas anderes
das Brot in Großbritannien nicht teurer geworden sind,
machen? Indem Sie hier politischen Einfluss nehmen,
sondern dass es sich nur um eine Währungsrelation han-
tun Sie genau das, was wir im Zusammenhang mit ge-
delt?
setzlichen Mindestlöhnen immer als Horrorszenario be-
zeichnen,
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
(Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD] meldet Liebe Frau Kollegin – erstens –, das ist mir bekannt.
sich zu einer Zwischenfrage)
(Zurufe von der SPD: Aha! – Brigitte Pothmer
nämlich dass die Politik ein Lohndiktat ausspricht und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen
dann in der Politik ein Überbietungswettbewerb einsetzt Sie das auch!)
– ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfrage zu –, der
Arbeitsplätze gefährdet. Zweitens. Sie müssen dann aber auch über die Länder
reden, in denen es keinen Mindestlohn gibt und in die
(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] die Menschen trotzdem eingewandert sind; ich habe
[FDP]) eben schon auf unseren nördlichen Nachbarn Dänemark
verwiesen. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, zu sagen,
Dann sind wir schnell bei einem Mindestlohn von
Wanderung sei nur unschädlich, wenn es gesetzliche
8,50 Euro, den die SPD schon fordert.
Mindestlöhne gebe. Das ist schlicht nicht zutreffend.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Was das Beispiel Großbritannien angeht, so ist mein
Punkt nicht die Lohnhöhe. Darüber können wir gerne re-
Herr Kollege, möchten Sie die Frage von Frau
den, aber – das sagte ich schon – dann müssen wir auch
Hendricks zulassen?
über andere Konstellationen des Arbeitsmarkts reden.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Nein, mein Punkt ist, dass Großbritannien eine unab-
Nein, vielen Dank. hängige Kommission eingesetzt hat. Genau das wollen
Sie nicht. Sie wollen eine unabhängige Kommission,
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aha! Der aber die Untergrenze soll die Politik festsetzen. Dann
Junge hat Angst! – Heiterkeit bei Abgeordne- kommt es zu einem Überbietungswettbewerb. 7,50 Euro
10084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) fordern die Grünen. Die SPD macht sich gar nicht mehr Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
die Mühe, Wissenschaftler in die Kommission einzula- Das ist gut.
den; das ist in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgese-
hen. Großbritannien sehe ich insofern nicht mehr als Ihr Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Vorbild. Sie sind dann schon bei 8,50 Euro. Nach langer Man muss dann aber auch sagen: Wenn wir erreichen
Überlegung sind Sie zu dem Schluss gekommen, wollen, dass ein Alleinverdiener den Lebensunterhalt
8,50 Euro könnte die richtige Untergrenze sein. Überra- seiner vierköpfigen Familie mit seinem Lohn bestreiten
schenderweise ist es genau die Untergrenze, die auch der kann, ohne auf Hartz IV angewiesen zu sein, dann liegen
DGB vorschlägt. Das ist gleichzeitig eine Reaktion auf wir bei einem Äquivalenzlohn von 12 Euro. Das fordert
die Linken, die 10 Euro fordern. Hier setzt also ein noch nicht einmal die Linkspartei.
Überbietungswettbewerb in eine Richtung ein, die wir
nicht wollen können.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Deshalb geben wir dem Staat nicht das Lohndiktat in Herr Kollege, jetzt wäre dann „gleich“.
die Hand, sondern lassen die Lohnfindung dort, wo sie
hingehört, nämlich bei Arbeitnehmern und Gewerk- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
schaften.
Ich komme zum letzten Satz. – Die Wahrheit ist
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da hat es der doch: In Deutschland – das zeigen die Aufstockerzahlen
Junge der Alten aber ganz schön gezeigt!) des IAB – müssen 36 000 Menschen aufgrund der Lohn-
höhe aufstocken und Hartz IV beziehen.
– Vielen Dank, Herr Kollege.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 330 000 Vollzeit-
Auf ein letztes Argument möchte ich noch einmal beschäftigte!)
eingehen. Uns wird Folgendes immer wieder vorgewor-
fen: Indem Sie die Lohnfindung bei Arbeitnehmern und Wir können gerne darüber reden, dass das 36 000 Men-
Gewerkschaften lassen, lassen Sie in Deutschland Dum- schen zu viel sind. Diese Zahl ist aber weit entfernt von
pinglöhne zu, was zur Folge hat, dass Menschen massen- 1,2 Millionen.
haft auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 330 000 Vollzeit-
Sie müssen aufstocken und dann Hartz IV beantragen. beschäftigte! Sie haben nicht einmal die richti-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Was ja auch gen Zahlen!)
stimmt!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(B) – Das ärgert mich, weil es eben nicht stimmt, Frau Kol- Herr Kollege! (D)
legin. Sie behaupten immer wieder, dass 1,2 Millionen
Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken
müssten, weil – die Fachkollegen wissen das; und des- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
wegen ärgert es mich, dass Sie dieses Argument wider Das heißt somit nicht, dass wir dem Staat die Lohn-
besseres Wissen immer wieder bringen – die Lohnhöhe findung in die Hand geben sollten. Vielmehr wollen wir
so niedrig sei. Das ist einfach nicht zutreffend. sie dort belassen, wo sie hingehört, nämlich bei den Ar-
beitgebern und Gewerkschaften.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Doch!)
Vielen Dank.
Drei Viertel der Aufstocker arbeiten Teilzeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Bettina Hagedorn [SPD]: 400 000 sind in Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie kennen nicht
Vollzeit!) einmal die richtigen Zahlen! 330 000 sind es!)
Da ist nicht die Lohnhöhe, sondern die Arbeitszeit das
Problem. Bei dem anderen Viertel ist die Größe der Be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
darfsgemeinschaften entscheidend. In Deutschland er- Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt für die Frak-
fährt man Unterstützung, auch wenn man eine große Fa- tion Die Linke das Wort.
milie hat.
(Beifall bei der LINKEN)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die stocken weni-
ger auf, wenn sie mehr Lohn bekommen! Das Jutta Krellmann (DIE LINKE):
ist Mathematik!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
Das ist auch gut. Das ist eine sozialpolitische Errungen- und Herren! Der gesetzliche Mindestlohn in Deutsch-
schaft, die wir alle verteidigen wollen. land ist eigentlich schon abgemachte Sache,
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bei euch!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wenn man hört, was drei Viertel der Menschen hier in
Herr Kollege! Deutschland sagen, und wenn man sich einig ist, dass ein
Mindestlohn Arbeitsplätze schafft, und wenn man regis-
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): triert, dass mittlerweile sogar Arbeitgeber und ihre Ge-
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. werkschaften für Mindestlöhne sind und dass es in mehr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10085
Jutta Krellmann
(A) als 20 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich Zweites Beispiel. Die Einführung von Branchenmin- (C)
persönlich würde unheimlich gerne über die Höhe eines destlöhnen. Vor der Wahl wurde den Beschäftigten in der
Mindestlohns streiten und mich damit auseinanderset- Weiterbildungsbranche der Mindestlohn versprochen.
zen. Kaum ist das Ministerium unter der Fuchtel der CDU,
Ich habe die Debatten sehr genau verfolgt. Der Ge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unter dem
setzentwurf der Grünen enthält einen Mindestlohn von Fuchtel!)
mindestens 7,50 Euro. Der Gesetzentwurf der SPD ent- ist davon keine Rede mehr. Zwei Jahre nichts!
hält einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Linke fordert
im Grunde 10 Euro. Heute Morgen habe ich Herrn (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Lindner gehört. Er sprach von 11 Euro. Herr Kober Wieso? Wir haben doch Mindestlöhne in Kraft
sprach von 13 Euro. Das nehmen wir gerne in unsere gesetzt!)
Überlegungen auf und diskutieren über die Höhe des – Da ist nichts passiert. Ich sage: Das ist eine Schlampe-
Mindestlohns. Wir diskutieren allerdings nicht über das rei. Die Folgen davon tragen die Beschäftigten, Herr
Ob des Mindestlohns. Weiß.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD) (Beifall bei der LINKEN)
Ich sage es noch einmal: Über diese Frage würde ich un- Herr Weiß, das müssten Sie eigentlich ganz genau
heimlich gerne mit Ihnen streiten – aber nicht darüber, wissen: Wenn ein Betrieb so wie diese Bundesregierung
ob wir das einführen. oder dieses Ministerium arbeiten würde, dann wäre er
schon fast in der Insolvenz, und wenn Beschäftigte sich
Die Oppositionsparteien in diesem Deutschen Bun- so verhalten würden, dann hätten sie schon längst eine
destag stehen auf der Seite der Menschen auf der Straße. Kündigung oder Abmahnung bekommen.
Ich bitte Sie: Beachten Sie, wer in Deutschland die Ein-
führung des flächendeckenden Mindestlohns blockiert (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder
und wer sie nicht blockiert. [CDU/CSU]: Das sagt die Linkspartei! Hör
mir auf!)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich hoffe, dass Ihnen die Menschen spätestens bei den
Gestern haben Die Linke, Grüne und SPD blo- nächsten Landtagswahlen die Quittung für dieses skan-
ckiert! – Widerspruch bei der SPD und dem dalöse Verhalten geben werden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Im Gegensatz zu der CDU versucht die FDP gar nicht
(B) Wenn man eine Volksabstimmung über die Einfüh- erst, den Eindruck zu erwecken, dass sie Arbeitnehmer- (D)
rung eines Mindestlohns durchführen würde, dann interessen irgendwie für wichtig hält. Die Partei der so-
würde – da bin ich mir sicher – sich das Volk für einen genannten Liberalen besteht aus Mindestlohnblockierern
Mindestlohn aussprechen. Bei einer Abstimmung hier erster Klasse. Die Taschen der Bosse werden gefüllt, und
im Deutschen Bundestag würde es allerdings nicht zur es wird dafür gesorgt, dass die Betriebe parallel dazu
Einführung eines Mindestlohns kommen. trotzdem Niedriglöhne für ihre Beschäftigten zahlen
können. Es steckt nichts hinter Ihrer Aussage, Arbeit
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- müsse sich wieder für alle lohnen. Arbeit muss sich loh-
neten der SPD) nen, aber nur für einige Ihrer Freunde.
Die Antwort auf die Frage, wer in diesem Land ei- Drittes Beispiel. Leiharbeitsbranche. Der einzige Be-
gentlich die Einführung flächendeckender Mindestlöhne reich, für den wir keinen Mindestlohn brauchen, ist die
blockiert, ist ganz klar: Das sind FDP und Union. Ich Leiharbeitsbranche. Hier brauchen wir gleiches Geld für
will gerne noch einmal drei Beispiele aufgreifen, die in gleiche Arbeit – und das ab dem ersten Tag.
der Diskussion hier auch schon eine Rolle gespielt ha-
ben. (Beifall bei der LINKEN)
Die einzige Ausnahme: Man muss hinschauen, was in
Erstes Beispiel. Es geht darum, was im Zusammen- der sogenannten verleihfreien Zeit passiert.
hang mit der Mindestlohn-Kommission passiert ist, die
2009 im Zuge der Reform des Mindestarbeitsbedingun- Auch hier können Sie Ihre Interessen nicht wirklich
gengesetz unter der Großen Koalition wiederbelebt verbergen. Ihr Kollege Kolb hat Equal Pay nach drei
wurde. Deren Aufgabe ist es eigentlich, zu prüfen, ob in Monaten gefordert. Jetzt fordern Sie die gleiche Bezah-
Branchen, in denen es kaum Tarifverträge gibt, ein Min- lung nach neun Monaten. Neun Monate vereinbarte Aus-
destlohn erforderlich ist. Das traurige Ergebnis nach ein- beutung: Das ist nichts anderes als ein öffentlicher Knie-
einhalb Jahren ist gerade einmal eine Sitzung mit null fall vor der Leiharbeitsbranche.
Ergebnissen. (Beifall bei der LINKEN)
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Weil keine Ge- Meine Damen und Herren von der FDP und der CDU,
werkschaft etwas beantragt hat!) Sie sind die Parteien der Lobbyisten. Das Beispiel Mö-
venpick lässt im Zusammenhang mit der FDP tief bli-
Die Callcenterbranche wartet schon seit über einem Jahr
cken.
auf eine Reaktion. Die Mindestlohn-Kommission hat
nichts erreicht. Absoluter Stillstand! (Pascal Kober [FDP]: Oh!)
10086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Jutta Krellmann
(A) Jetzt gibt es die historische Chance zur Einführung von und zwar insbesondere aus Sicht der 21 Prozent der Be- (C)
gesetzlichen Mindestlöhnen. Die Zahlen sind bekannt. schäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und des-
Kein Mensch glaubt mehr das Märchen von der Jobver- halb mit Existenzsorgen leben müssen. Für sie kann
nichtung durch Mindestlöhne, da das in 20 Ländern solch eine Aussage nur wie blanker Hohn klingen.
wirklich einwandfrei funktioniert. Legen Sie endlich
Ihre Verbohrtheit ab und retten Sie die soziale Absiche- Ich kann nur hoffen, dass diese Haltung und diese
rung der Beschäftigten in Deutschland. Sicht der Dinge in den Regierungsfraktionen nicht mehr-
heitsfähig sind. Aber Reden reicht nicht; es muss auch
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 endlich gehandelt werden.
ist Grund genug.
Die Beschäftigten, und zwar die in- und ausländi-
(Beifall bei der LINKEN) schen, erwarten von uns verantwortlichen Politikern,
dass wir im Zuge der Freizügigkeit für Gerechtigkeit,
Es kann nicht sein, dass Deutschland in 79 Tagen dazu angemessene Arbeitsbedingungen und faire Löhne sor-
beiträgt, die Löhne in Europa weiter zu drücken. Hier gen.
hilft nur ein gesetzlicher Mindestlohn.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Linke ist klar: Branchenmindestlöhne alleine sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])
reichen nicht aus, um alle Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer abzusichern. Genau das bezwecken wir mit unserem Gesetzentwurf.
Neben dem gesetzlichen Mindestlohn, der nur eine Un-
tergrenze sein kann, fordern wir mehr branchenspezifi-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sche Mindestlöhne.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll endlich für
Jutta Krellmann (DIE LINKE): alle Branchen geöffnet werden. Es ist allseits bekannt,
dass die Tarifbindung durch die Tarifflucht der Betriebe
Deswegen brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne,
immer weiter abnimmt. Dem darf man nicht tatenlos zu-
durch die alle Menschen davor geschützt werden, in den
schauen. Übernehmen die Betriebe nicht mehr die not-
Niedriglohnbereich zu fallen. Nach unserer Auffassung
wendige gesellschaftliche Verantwortung, dann muss die
ist dafür eine Höhe von 10 Euro notwendig.
Bundesregierung Verantwortung übernehmen und zu-
(Beifall bei der LINKEN) mindest auch mit Blick auf die Freizügigkeit branchen-
spezifische Mindestlöhne ermöglichen.
(B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
Frau Krellmann. sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])
Wir wollen auch den Tarifausschuss im Arbeitneh-
Jutta Krellmann (DIE LINKE): mer-Entsendegesetz abschaffen. Hier geht es um Min-
Letzter Satz. – Durch einen Mindestlohn von 10 Euro destlöhne, die von den zuständigen Tarifpartnern zum
wird den arbeitenden Menschen von heute auch eine ar- Teil sehr hart verhandelt und ausgehandelt wurden. Zu-
mutsfeste Rente von morgen gesichert. künftig dürfen diese Mindestlöhne nicht mehr blockiert
werden.
Vielen Dank.
Wir wollen den Entgeltbegriff verändern. Beschäf-
(Beifall bei der LINKEN) tigte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssen
endlich entsprechend der vertraglich festgelegten Ar-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: beitszeit entlohnt und somit mit allen anderen Beschäf-
Beate Müller-Gemmeke spricht jetzt für Bündnis 90/ tigten gleichgestellt werden. Das verhindert auch Wett-
Die Grünen. bewerbsverzerrungen und stärkt die Betriebe, die dieses
Schlupfloch nicht missbrauchen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf
NEN): die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe ich kein Verständnis
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- mehr für die ideologische Blockade von Schwarz-Gelb.
nen und Kollegen! Letztes Jahr hat sich der Wirtschafts- Ihre Blockade von Mindestlöhnen passt angesichts der
weise Wolfgang Franz in der Frankfurter Rundschau hohen Lohnunterschiede zwischen alten und neuen EU-
gegen Mindestlöhne ausgesprochen. Er hat darauf hinge- Staaten nicht mehr in die Zeit.
wiesen, dass all diejenigen von der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit und der Öffnung der Arbeitsmärkte profitieren, Die Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dür-
die preisgünstigere Produkte favorisieren. Verlierer seien fen nicht dazu missbraucht werden, soziale Standards zu
laut Franz die hiesigen Arbeitskräfte, die sich nicht an- verschlechtern. Sie dürfen auch nicht dazu führen, dass
passen könnten oder wollten. Das war meiner Ansicht tariftreue Arbeitgeber vom Markt verdrängt und immer
nach eine unverantwortliche und ignorante Aussage, mehr Beschäftigte in den Niedriglohnbereich getrieben
werden. Öffnen Sie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN endlich für alle Branchen und machen Sie den Weg frei
sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) für einen gesetzlichen Mindestlohn!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10087
Beate Müller-Gemmeke
(A) Vielen Dank. der Zeitarbeit ein Import ausländischer Billigtarifver- (C)
träge nach Deutschland. Das ist richtig, da werden wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufpassen müssen.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) Stundensätze von 3 bis 4 Euro würden die Lohnspi-
rale deutlich nach unten drücken. Gerade die Situation
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: für Geringverdiener würde dadurch erheblich erschwert.
Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU- Deshalb streben wir eine Lohnuntergrenze in der Zeitar-
Fraktion. beit an. Meine Damen und Herren, ich bin zuversicht-
lich, dass bald im Vermittlungsausschuss doch noch ein
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kompromiss für die Zeitarbeit gefunden werden wird.
neten der FDP)
Ich hatte Mitte Dezember von diesem Pult aus an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD appelliert, noch mal
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
mit ihren Ministerpräsidenten darüber zu reden, ob man
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! dem Hartz-IV-Bildungspaket im Interesse der Betroffe-
Liebe Kollegen! Abermals diskutieren wir, diesmal auf nen, der Familien, der Kinder nicht doch zustimmen
Initiative der Grünen und der SPD, über die Einführung könnte. Ich appelliere jetzt abermals von diesem Pult aus
flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne in Deutsch- an Sie. Ich weiß, Frau Kollegin Lösekrug-Möller spricht
land. nach mir; sie ist eine sehr weise Frau aus der Fraktion
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wir kommen der SPD.
auch noch mit einem Antrag!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Anton
– Auch von der Linken erwarte ich einen solchen Antrag Schaaf [SPD]: Stimmt!)
in den nächsten Wochen. Das bringen Sie alle paar Wo-
chen vor. Vielleicht können Sie diesbezüglich im Interesse der Be-
troffenen noch mal ernsthaft nachdenken. Es geht hier
Die Regierungskoalition ist nach wie vor der Auffas- nicht um Machtkämpfe. Das verstehen die Mitbürgerin-
sung – darauf haben wir schon mehrmals hingewiesen –, nen und Mitbürger weder an den Fernsehgeräten noch
dass ein flächendeckender branchenübergreifender Min- hier auf den Tribünen. Es geht darum, eine Lösung für
destlohn die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht verbes- bedürftige, für arme Kinder zu finden, es geht auch da-
sert, sondern eher verschlechtert. Dadurch werden näm- rum, eine Lösung für die Kommunalfinanzen zu finden.
lich keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, meine Damen Auch das ist etwas, bei dem ich gespannt bin,
(B) und Herren der SPD und der Grünen. Es ist ein einfacher (D)
Zusammenhang: Ist der festgesetzte Mindestlohn zu (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es
hoch, dann vernichtet er Arbeitsplätze und Chancen für geht um den Regelsatz! Es geht um das Urteil
arbeitswillige Arbeitslose mit allen negativen Wirkungen des Bundesverfassungsgerichts!)
für die Betroffenen und die Sozialsysteme. Ist er zu nied- ob die Oberbürgermeister, die von der SPD gestellt wer-
rig, dann entfaltet er keine Wirkung. den, ihre Ministerpräsidenten vielleicht noch einmal ins
Von den Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen, Gebet nehmen und die dann sagen: Jawohl, wir bekom-
dass ein Überbietungswettbewerb der einzelnen Parteien men im SGB-XII-Bereich eine merkliche Entlastung in
nicht nur in Wahlkampfzeiten einsetzen wird. Wie Milliardenhöhe, ohne dass dies im Urteil des Bundesver-
schnell das passieren kann, haben wir in dieser Debatte fassungsgerichts explizit erwähnt worden ist. Auch das
gemerkt. Vorhin hat Klaus Ernst von einem Mindestlohn ist klar.
von 9,73 Euro in Luxemburg gesprochen. Herr Ernst,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Sie müssen mal Ihren Redenschreiber ins Gebet nehmen.
der FDP)
Vielleicht sollte er mal genauer nachschauen. Seit
1. Januar liegt der flächendeckende gesetzliche Mindest- Deshalb mein Appell: Denken Sie an die Betroffenen,
lohn in Luxemburg bei 10,17 Euro. Da sehen Sie, wie denken Sie nicht an die nächsten Landtagswahlen, liebe
schnell einem bei der Mindestlohnspirale schwindelig Genossinnen und Genossen von der SPD!
werden kann.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sieht DIE GRÜNEN]: Wir denken an das Verfas-
man, wie gut die Luxemburger sind!) sungsgericht! Es gab keinen verfassungskon-
– Oder wie schlecht die Recherche der Linkspartei ist. formen Vorschlag von der Regierung! Keinen! –
Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einer Zwischenfrage)
Meine Damen und Herren, unser zentrales Ziel muss – Herr Ernst will eine Frage an mich richten. Ich würde
es sein, konsequent gegen unzumutbare Billiglöhne vor- sie erlauben, Frau Präsidentin.
zugehen. Ab dem 1. Mai wird sich der deutsche Arbeits-
markt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus
Mittel- und Osteuropa öffnen. Wie von den Vorrednern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
bereits ausgeführt, droht insbesondere in der Branche Bitte schön. Herrn Ernst wollen wir nicht stoppen.
10088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Die Erlaubnis wurde für 20 000 ausgestellt. Tatsächlich (C)
Den kann man nicht stoppen, glaube ich, so einen en- sind in den Jahren 2001/2002 gerade mal 2 500 bis 3 200
gagierten Gewerkschafter. IT-Spezialisten nach Deutschland gekommen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber wir reden
Klaus Ernst (DIE LINKE): über die Kinder! Für die Kinder geht es doch
Herr Lehrieder, Sie haben gerade dargestellt, dass es auch ohne die SPD!)
nun an der SPD und an den Grünen im Vermittlungsaus-
schuss liegen würde, wenn die drei Branchen nicht ins – Ich erkläre es Ihnen liebend gern noch einmal, Herr
Entsendegesetz aufgenommen würden. Sie haben ge- Ernst. Sie sollten mal in den Ausschuss kommen, Sie
sagt, im Interesse der Kinder müsste man das tun. Wür- sollten sich als Mitglied für den Ausschuss benennen
den Sie mir zustimmen, dass die gegenwärtig regierende lassen. Dann kriegen Sie die Diskussion live mit. Für das
Bundesregierung das auch ohne die SPD beschließen Bildungspaket für die Kinder brauchen wir die Länder.
kann, dass sie, wenn es ihr tatsächlich um die Kinder Ich kann es Ihnen gern noch einmal erklären, ich kann es
ginge, die SPD dafür überhaupt nicht brauchte? Sie Ihnen nachher auch schriftlich geben, falls Sie dies wün-
könnte das als Regierung einfach machen. schen. Aber wir brauchen für das Bedarfspaket für die
Kinder schlicht und ergreifend die Mitwirkung der Bun-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Karl desländer.
Schiewerling [CDU/CSU]: Wir haben es doch
beschlossen!) Daran scheitert es. Das ist auch der Grund, warum wir
im Vermittlungsausschuss in den letzten sechs, sieben
Sie könnte doch, ohne dass sie die SPD jetzt in irgendei-
Wochen zäh verhandelt haben und bedauerlicherweise
ner Form um Zustimmung bitten muss, im Interesse der
noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Die drei
Kinder und der Betroffenen für diese drei Branchen das
Branchen sind Nebenkriegsschauplätze. Das ist ein Ver-
Entsendegesetz zur Anwendung bringen, oder ist das
mittlungsausschuss, und das wissen Sie so gut wie ich.
falsch, Herr Lehrieder?
(Beifall bei der LINKEN) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber dort könnten
Sie es bestimmt beschließen?)
Paul Lehrieder (CDU/CSU): – Wir werden es beobachten und schauen, was dann
Lieber Kollege Ernst, es geht hier nicht um die Auf- kommt. Okay? Sie dürfen sich jetzt setzen, Herr Ernst. –
nahme irgendwelcher Branchen ins Arbeitnehmer-Ent- Noch eines, Herr Ernst: Es tut weh, gerade von einem
sendegesetz. Gewerkschafter immer wieder diese Rufe nach einem
Gesetz für Mindestlohn zu hören. Immer wieder diese
(B) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach so!) Bevormundung. (D)
Das ist Verhandlungsmasse, die die SPD verständlicher-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dummes Argu-
weise in den Vermittlungsausschuss mit hineingepackt
ment! – Weitere Zurufe von der SPD und der
hat. Herr Ernst, Sie wissen, dass wir im Bundesrat
LINKEN)
34 Stimmen haben. Für eine Mehrheit brauchen wir
35 Stimmen. Ganz knapp reicht es nicht. Das heißt, für Sie haben offensichtlich zu wenig Respekt vor Ihrer ei-
ein positives Vermittlungsergebnis wären wir der SPD genen Courage.
für eine geneigte Mitwirkung sehr dankbar.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo waren Sie?)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber das können
Sie doch auch ohne die machen!) – Ich bin jetzt auf Seite 4, aber ich habe noch 14 Seiten.
– Selbstverständlich können wir das selber machen. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, wie
Sie ihn fordern, ist nicht zielführend. In der Dienstagsaus-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum machen gabe des Handelsblattes – hierauf hat die Kollegin
Sie es denn nicht?) Müller-Gemmeke von den Grünen zutreffend hingewie-
Wir werden sehen, inwieweit wir ab 1. Mai im Be- sen – legt der Wirtschaftsweise Professor Wolfgang Franz
reich der Leiharbeit entsprechende Verwerfungen haben dar, warum ein flächendeckender gesetzlicher Mindest-
werden oder nicht, und wir werden schauen, was tatsäch- lohn volkswirtschaftlich betrachtet falsch ist. Er führt aus,
lich an Zuwanderung kommt. Wir haben genau dieselbe dass der Druck auf Löhne und Arbeitsplätze nicht nur ent-
Diskussion wegen der demografischen Entwicklung. steht, wenn beispielsweise ein polnischer Arbeiter zu
Wir werden in manchen Branchen über die Zuwande- niedrigen Arbeitskosten ein preiswertes Produkt auf deut-
rung nach Deutschland froh sein. Wir müssen erst mal schem Boden herstellt, sondern auch, wenn dasselbe Pro-
abwarten – das war ja genau die Diskussion, die die Vor- dukt in Polen produziert wird und dann nach Deutschland
redner schon angesprochen haben –, wie viele Menschen importiert wird. Letzteres gehört zu unserem Alltag.
aus den neuen Ländern zu uns kommen. Man hatte ja vor
Franz argumentiert, dass die Wohlfahrt der Konsu-
zehn Jahren 200 000 Menschen in der IT-Branche erwar-
menten dann am höchsten ist, wenn keine Reglementie-
tet – bleiben Sie bitte stehen, Herr Ernst –, später erwar-
rungen getroffen werden und im Übrigen uneinge-
tete man 70 000.
schränkte Mobilität ermöglicht wird. Selbst wenn Franz
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage war, in der Ablehnung des flächendeckenden Mindestlohnes
ob Sie dies ohne die SPD können!) zuzustimmen ist, so gehört es dennoch zum Grundver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10089
Paul Lehrieder
(A) ständnis unseres Sozialstaats, Benachteiligungen auszu- ren etwaige Verwerfungen hat feststellen lassen. Herr (C)
gleichen. Kollege Weiß hat darauf bereits völlig zutreffend hinge-
wiesen. An dieser Stelle könnten Gewerkschaften, wenn
Es ist notwendig, Ausnahmen zu machen und in ein- sie tatsächlich der Auffassung sind, dass in manchen
zelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allge- Branchen Verwerfungen vorhanden sind, etwas für die
meinverbindlich zu erklären, wie beispielsweise in der betroffenen Arbeitnehmer ins Feld führen. Das haben sie
Pflegebranche, im Bauhauptgewerbe oder im Bereich aber nicht gemacht. Man muss das Mitwirken der Ge-
der Gebäudereinigung. Es ist richtig, was der Kollege werkschaften abwarten; denn sie sind nach meinem Ver-
Schreiner vorhin ausgeführt hat: Wir müssen aufpassen, ständnis von Vertragsfreiheit und Tarifautonomie alle-
welche Branchen nach der Öffnung der Grenzen am mal besser berufen, solche Konditionen – seien es
1. Mai dieses Jahres verstärkt nach Deutschland kom- Arbeitszeiten, Löhne, oder Urlaubsansprüche – auszu-
men werden. Reichen die bisherigen Regelungen aus, handeln als wir Politiker. Hier müssen wir bescheiden
beispielsweise im Bauhauptgewerbe, in der Pflegebran- sein und nicht so tun, als wüssten wir selber alles besser.
che, wo wir bereits branchenspezifische Mindestlöhne
einführen konnten? Müssen wir bei Verwerfungen unter Ziel ist es, allen Menschen in unserem Land die Mög-
Umständen weitere Branchen einbeziehen? Hier sind wir lichkeit zu geben, durch Arbeit – dabei ist die Qualifika-
gesprächsoffen. Wir respektieren – anders als die Lin- tion egal; auch darauf müssen wir aufpassen – genug
ken – die gewerkschaftliche Tarifautonomie und das Geld zu verdienen, um die Grundbedürfnisse zu befrie-
Selbstbestimmungsrecht der Gewerkschaften. Sie sind für digen und am kulturellen und gesellschaftlichen Leben
die Lohnfindung zuständig, nicht der Bundestag, nicht die teilzunehmen. Jedem Menschen in unserem Land wird
Politiker. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter ein Existenzminimum gewährt, den Geringverdienern,
können das allemal besser. Herr Ernst, ich erwarte, dass denen, die Arbeit suchen, und denen, die keiner Arbeit
Sie Ihrer Verantwortung als Gewerkschafter auch in Zu- mehr nachgehen können. Was soll ein Mindestlohn von
kunft gerecht werden. 7,50 Euro oder 8,50 Euro bringen? Zunächst einmal hat
Deutschland schon jetzt eine Grundsicherung für
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Hartz-IV-Empfänger durch einen impliziten Mindest-
Würden Sie die Zwischenfrage von Frau Krellmann lohn. Betrachtet man beispielsweise die Hartz-IV-Sätze
zulassen? für eine vierköpfige Familie – es wurde schon darauf hin-
gewiesen, aber man kann es gar nicht oft genug sagen –, so
käme man auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ja, ich warte darauf, dass Sie mich fragen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(B) Herr Lehrieder, ich hätte noch eine Zwischenfrage der (D)
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Kollegin Alpers anzubieten.
Vielen Dank. – Ich frage Sie als Gewerkschafterin.
Mir ist die Beschlusslage bekannt. Was glauben Sie ei-
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
gentlich, warum der DGB beschlossen hat, dass es einen
Mindestlohn von 8,50 Euro geben soll? Das geschieht Sehr gern, es ist noch früh am Tag.
doch nur deswegen, weil Gewerkschaften hinter einer
Mindestlohnforderung stehen. Das ist nicht nur Thema Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der Grünen, der SPD und der Linken, das ist mittlerweile Bitte schön.
ein Thema aller Gewerkschaften. Haben Sie das regis-
triert? Agnes Alpers (DIE LINKE):
Lieber Herr Kollege Lehrieder, ich muss doch noch
Paul Lehrieder (CDU/CSU): einmal nachfassen.
Frau Krellmann, die Gewerkschaften hinken sogar
den Mindestlohnforderungen der Linkspartei hinterher. Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sie sind schon bei 10 Euro; damit haben Sie die Gewerk- Das dürfen Sie.
schaften um 1,50 Euro überholt.
(Zurufe von den LINKEN) Agnes Alpers (DIE LINKE):
– Das stimmt doch, oder? Stimmt es nicht? 10 Euro ist Sie sprachen von der Tarifautonomie, auf der die Ge-
Ihr aktueller Tarif; Herr Ernst bestätigt es. Die Linke ist werkschaften bestehen würden. Erstens habe ich folgende
bei 10 Euro, die Gewerkschaften sind bei 8,50 Euro, die Nachfrage: Sie sagten, es sei nur der DGB, der einen ge-
SPD ist auch bei 8,50 Euro. Daran sehen Sie, dass die setzlichen Mindestlohn fordere. Der DGB ist – vielleicht
Tariffindung in politischer Hand nur suboptimal ist. Bes- ist das noch nicht zu Ihrer Kenntnis gekommen – der
ser ist es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Aufgabe Dachverband aller Einzelgewerkschaften. Deshalb hätte
übernehmen. ich gerne, dass Sie mir das Wort „nur“ erklären. Zweitens
sprachen wir nicht über die Höhe des Mindestlohns, son-
Frau Krellmann, auch von Vorrednern wurde schon dern wir haben uns prinzipiell für dessen Einführung aus-
darauf hingewiesen, dass außer dem dbb bisher keine gesprochen. Ich möchte wissen: Ist Ihnen bekannt, dass
Gewerkschaft die Lohnfindungskommission angerufen auch die meisten Einzelgewerkschaften dies fordern,
hat und über diese Kommission in den letzten zwei Jah- nicht nur der DGB? Der Gewerkschaftsbund sagt ebenso
10090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Agnes Alpers
(A) wie wir, dass wir zur Mindestabsicherung einen Mindest- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
lohn brauchen. Die Tarifautonomie wird dadurch nicht
beeinträchtigt. Vielmehr können die einzelnen Branchen Ich hatte darauf hingewiesen, dass eine vierköpfige
die jeweiligen Tarife aushandeln. Hartz-IV-Familie auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro
käme. Das ist immer noch deutlich höher als der höchste
europäische flächendeckende Mindestlohn, der in Lu-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): xemburg bei 10,16 Euro – ich wiederhole es gerne –
Liebe Frau Kollegin, vielleicht habe ich mich etwas liegt. Das ist auch höher als der von der SPD und den
missverständlich ausgedrückt, vielleicht haben Sie auch Grünen geforderte Betrag von 8,50 Euro bzw. 7,50 Euro.
die Buchstaben nicht verstanden, die ich gesagt habe. Das Argument, die sogenannten Aufstocker, also die so-
Nur der dbb, der Deutsche Beamtenbund, hat den Antrag zialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zusätzlich
auf Feststellung von Verwerfung gestellt. Dass natürlich Hartz IV erhalten, gäbe es bei einem Mindestlohn nicht,
eine Vielzahl von Gewerkschaften, darunter auch Verdi, ist ebenfalls falsch und wird durch Wiederholung auch
Mindestlöhne fordert, ist mir nicht unbekannt. Das ist nicht wahrer. Von den Aufstockern arbeiten rund 75 Pro-
Punkt eins. zent in Teilzeitarbeit. Ich glaube, es war der Kollege
Punkt zwei: Ihre Forderung nach einem Mindestlohn Vogel oder Pascal Kober, der darauf hingewiesen hat. Je-
von 10 Euro ist nicht gänzlich neu. Sie brauchen sich der weiß, dass man von Teilzeitarbeit alleine nicht leben
nicht zu verstecken und brauchen sich auch nicht dafür kann. Das restliche Viertel hat im Prinzip auskömmliche
zu schämen. Diese Forderung ist bekannt. Wenn Sie sa- Löhne. Wenn die Löhne nicht reichen, so liegt das meist
gen, Sie forderten nur einen Mindestlohn und ließen die daran, dass nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch
Höhe offen – vielleicht tun Sie das in einem Antrag in ei- seine Familie zu ernähren ist. Auch das ist ausgeführt
nem Vierteljahr –, dann entgegne ich Ihnen: In Ihren Pa- worden. Hartz IV als ergänzende Sozialleistung unter-
pieren steht ein Mindestlohn von 10 Euro. Punkt, aus. liegt dem Sozialprinzip. Das heißt, es wird nicht nach
Sie brauchen sich deswegen nicht zu verstecken. der Arbeitsleistung des Erwerbstätigen gefördert, son-
dern der Bedarf der Familie wird gedeckt. Wenn es nicht
(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ich habe nicht reicht, so liegt dies meist daran, dass eine Familie zu er-
gesagt, dass ich das nicht fordere! Das ist nähren ist, und nicht an der Höhe der Stundenlöhne. Nur
schon klar! – Gegenruf des Abg. Patrick Kurth circa 35 000 Personen – Sie, Herr Ernst, haben die Zahl
[Kyffhäuser] [FDP]: Ich verstehe kein Wort in Zweifel gezogen – haben bei Vollzeit einen so gerin-
hier hinten!) gen Lohn, dass sie ausschließlich davon nicht leben kön-
nen. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Löhne für einfache Arbeit oft so weit angehoben wor-
(B) Die Zwischenfrage war gestellt. Sie ist jetzt beant- den, bis diese für viele Unternehmen schlicht zu teuer (D)
wortet. wurden. Oft bleiben dann die niedrigsten Tarifgruppen
unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jah-
ren in diesen Branchen Arbeitsplätze zum Teil gestri-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): chen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung
Ich möchte noch etwas zum dritten Teil der Frage sa- neuer Stellen ganz zu schweigen. Das von meinen Vor-
gen. Wie lautete der dritte Teil der Frage, Frau Kollegin? rednern ebenfalls bereits benannte Alternativangebot der
Schwarzarbeit will ich gar nicht noch einmal bemühen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich gehe davon aus, dass sich jeder in Deutschland rechts-
Ich glaube, dass uns das jetzt nicht viel weiter führt. treu verhält.
Möchten Sie den dritten Teil der Frage wiederholen? – Dasselbe würde für einen gesetzlichen Mindestlohn
Dann dürfen Sie das jetzt tun. auf hohem Niveau gelten: Er würde zwar ausländische
Billigarbeitskräfte fernhalten, aber bei uns auch Be-
Agnes Alpers (DIE LINKE): schäftigungschancen für Niedrigqualifzierte verringern.
Sind wir uns einig, dass alle Gewerkschaften ein-
schließlich des Dachverbandes einen gesetzlichen Min- Den Rest meines Manuskripts will ich Ihnen ersparen.
destlohn fordern? Der Unterschied liegt nur in der Höhe. Ich darf aber die Gelegenheit nutzen, Frau Kollegin
Pothmer, Herr Kollege Wadephul, auch von dieser Stelle
aus zu Ihrem heutigen Geburtstag zu gratulieren. Ich
Paul Lehrieder (CDU/CSU): wünsche ihnen weiterhin eine freudige Debatte und ei-
Danke. Ich weiß Bescheid. – Sie sagen, wenn man nen schönen Tag.
8,50 Euro als Basis nimmt, so ist es einem unbenommen,
darüber hinaus noch einen höheren Lohn auszuhandeln. Danke schön.
Dabei besteht aber das Risiko, dass die Löhne in den bis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
jetzt bestehenden Tarifverträgen, die etwas höher liegen, Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mit der Begründung gesenkt werden, man brauche nicht NEN]: Freudig?)
mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Es ist nicht auto-
matisch so, dass der Mindestlohn eine Verbesserung ist,
sondern er kann auch zu einer Verschlechterung der Be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zahlung führen. Das ist also, mit Verlaub, Frau Kollegin, Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Lösekrug-
kein Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn. Möller das Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10091
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) (Beifall bei der SPD) len hier im Plenarsaal. Wir sind nicht dabei gewesen; wir (C)
sind informiert worden.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sind offen-
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! sichtlich falsch informiert worden! – Pascal
Wir haben gleich einen Film in Überlänge hinter uns. Kober [FDP]: Von Herrn Heil?)
Zurzeit läuft hier die Berlinale. Mein Eindruck ist, dass
Teile des Hauses einen Film aufgeführt haben, der leider Jede Seite sagt, sie habe gute Gründe für ihre Position
nicht nominiert wurde. Das finde ich sehr bedauerlich, gehabt. Das respektiere ich, Herr Kober. Aber was ist
aber ich verstehe es. Vielleicht hätten Sie diese Brillen jetzt das Ergebnis?
gebraucht, die es möglich machen, 3D zu sehen. Das ist (Max Straubinger [CDU/CSU]: Dass die SPD
ja der Renner auf der Berlinale. wegen 6 Euro nicht zustimmen kann!)
(Beifall bei der SPD) Ergebnis ist, dass Sie heute darum bitten, wir sollten Ja
Welcher Effekt ist das? Man sieht auf einmal räumlich sagen zu einem Kompromiss, von dem die SPD sagt, er
und plastisch, was ist. Ich denke, diese Hilfe wäre nötig führe überhaupt nicht in die richtige Richtung. Wir wol-
gewesen. len Bildungspakete und Infrastruktur und keine kleinen
Päckchen, die in die Familien getragen werden.
Wir reden heute über zwei Gesetzentwürfe, von denen
– dessen bin ich mir sicher – die meisten Menschen, die (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir
uns, wo auch immer, zuhören oder zuschauen, sagen: aufgebessert!)
Dafür ist es allerhöchste Zeit. Auch will ich sagen: Wir Wir wollen – Herr Kollege Weiß, das sind wir allen Ar-
haben auch Prominente auf unserer Seite. beitnehmern schuldig – in Sachen Leiharbeit eine Rege-
Mindestlöhne lung, die die Menschen, die in Leiharbeit sind, nicht ver-
albert, sondern mit ihren Anliegen wirklich ernst nimmt.
– sagt da jemand –
(Beifall bei der SPD – Peter Weiß [Emmendin-
sind weder ein Allheilmittel noch eine Katastrophe, gen] [CDU/CSU]: Dann hätten Sie doch ges-
sondern einfach ein Instrument. Ich bin tern zugestimmt! Stimmen Sie morgen zu!)
– sagt diese Person – Wenn man das, was auf dem Tisch liegt, betrachtet,
im Grundsatz der Überzeugung: Eine Person, die dann stellt man fest, dass wir davon Lichtjahre entfernt
Vollzeit arbeitet, muss in der Lage sein, den Le- sind. Deshalb sage ich: Es muss Schluss sein mit dem
(B) bensunterhalt für sich selbst zu bestreiten. Anscheinerwecken von Emsigkeit. Die Menschen haben (D)
es nicht verdient, dass man so tut, als würde man ihnen
(Beifall bei der SPD) helfen, und sie vertröstet und sozusagen mit kleinen
Schritten in eine vermeintlich bessere Zukunft führt. Uns
Jetzt klatschen doch bitte auf alle Fälle die Kollegin-
ist es doch hier im Haus gelungen, die finanziell und
nen und Kollegen von CDU und CSU. Denn es war Ihre
wirtschaftlich schwierige Krise durch einen starken Im-
Ministerin von der Leyen, die dies am 21. Februar 2010,
puls so zu gestalten, dass Unternehmen gut aus der Krise
also vor einem Jahr, in einem Gespräch im Tagesspiegel
herauskamen. Jetzt wird es Zeit, dass wir auch den Ar-
genau so formuliert hat. Recht hat die Ministerin.
beitnehmern und Arbeitnehmerinnen helfen, und helfen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können wir ihnen mit einem gesetzlichen Mindestlohn.
DIE GRÜNEN) Das muss die rote Linie sein, die in Deutschland nicht
überschritten werden darf.
Weil sie nicht da ist, sage ich: Schöne Grüße. Was vor ei-
nem Jahr richtig war, ist auch heute noch zielführend. (Beifall bei der SPD)
Worüber diskutieren wir hier? Wir diskutieren darüber, Wir haben heute mehr als zehn Argumente für die Ein-
wie wir dieses erstrebenswerte Ziel erreichen können. führung des Mindestlohns gehört. Sie zieren sich wegen
Wir haben heute viele Redebeiträge gehört, die eigentlich der unterschiedlichen Höhe von Mindestlöhnen – bei den
eines bewiesen haben: Mit den kleinen Instrumenten, die Grünen ist sie etwas höher als bei uns, den Sozialdemo-
wir derzeit haben, kommen wir der Lösung nicht näher. kraten – und behaupten: Das kann man einer Kommission
Es reicht nicht. Wir haben es erlebt, Branche für Branche. nicht zumuten. Ich habe genau zugehört und stelle fest:
Ich nehme eine kleine Branche, nämlich die der berufli- Das ist Ihr einziges Kriterium, warum Ihrer Meinung
chen Weiterbildung, heraus. An ihr wird deutlich, warum nach die Gesetzentwürfe nicht in Ordnung sind. Dann er-
das scheitert: weil im Prinzip gar nicht gewollt ist, dass es warte ich aber von Ihnen, dass Sie einen Gesetzentwurf
funktioniert. Ich finde, das muss man dann auch so sagen. vorlegen, der die Einrichtung einer Kommission vorsieht,
Es ist offenkundig nicht gewollt. aber nicht vorgibt, wo sie anfängt. Einen solchen Gesetz-
entwurf kenne ich aber nicht.
(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/
CSU]: Das stimmt doch gar nicht Frau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Lösekrug-Möller!) DIE GRÜNEN)
Ich halte mich aus dem Streit über die Ergebnisse des Wenn wir auf die Deutschlandkarte blicken, dann stel-
Vermittlungsausschusses heraus. Mir geht es so wie vie- len wir fest: Deutschland ist ein Niedriglohnland. Wir
10092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Gabriele Lösekrug-Möller
(A) können sagen: Was wir an bestehenden Möglichkeiten großen Sozialethiker und Jesuitenpater Oswald von (C)
haben, funktioniert so nicht. Schauen wir auf Baden- Nell-Breuning erinnern,
Württemberg, dann stellen wir fest: Die können zwar kein
Hochdeutsch, aber dafür können sie Niedriglohn. Dort (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
stockt jede dritte Alleinerziehende auf. [SPD])
der zu vielen Themen, die unsere Arbeitsgebiete betref-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das erzäh-
fen, kluge Dinge gesagt hat, zum Beispiel zum Thema
len Sie einmal Thüringen! – Pascal Kober
Lohnfindung in seinem 1960 erschienenen Buch Kapita-
[FDP]: 14 Prozent weniger Arbeitslosigkeit als
lismus und gerechter Lohn. Dort heißt es, dass die
im Bundesdurchschnitt!)
menschliche Arbeitskraft keine Ware ist. Es sei historisch
– Ja, aber hören Sie mir doch erst einmal zu. Sie können die große himmelschreiende Sünde einiger nationalöko-
die Zahlen aus Baden-Württemberg doch nicht sozusa- nomischer Theoretiker, die Lohnbildung allein den Markt-
gen durch Einrede eliminieren. In Sachsen, Herr Weiß, gesetzen unterwerfen zu wollen.
ist jeder Vierte Geringverdiener.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die haben Ar- einmal der FDP!)
beitslosenzahlen fast so niedrig wie in Bay-
Nun haben das die klugen Stammväter des Liberalis-
ern!)
mus, allen voran Adam Smith, lieber Herr Heil, nie be-
In NRW – damit Sie mir keine parteipolitische Einseitig- hauptet. Der Lohn, so Smith, müsse hinreichend sein, ei-
keit vorwerfen – sind 23 Prozent der Aufstocker Vollzeit nem Menschen Unterhalt zu verschaffen und ihn in die
beschäftigt. Lage zu versetzen, seine Familie zu ernähren. Goldene
Zeiten, in denen die Wirtschaftswissenschaft noch Teil
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und haben der Moralphilosophie war!
Familie!)
Unsere heutige Debatte dreht sich nicht um eine Dif-
Das muss man sich vor Augen führen: Jeder Vierte ra- ferenz im Ziel, sondern um den richtigen Weg dorthin.
ckert sich ab und schuftet, und am Ende des Monats Keiner von uns will die Lohnbildung allein dem Markt
muss er trotzdem Transferleistungen in Anspruch neh- überlassen. Keiner von uns in der Koalition befürwortet
men. Das finden wir nicht in Ordnung. Das hat mit der einen Paläoliberalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn wir
Würde von Arbeit nichts zu tun. etwa im Koalitionsvertrag davon sprechen, das Verbot
(Beifall bei der SPD) sittenwidriger Löhne gesetzlich festschreiben zu wollen,
dann stellen wir gleichsam fest: Es gibt absolute Unter-
(B) Ich bin meinem Kollegen Ottmar Schreiner sehr grenzen. – Auf die Sittenwidrigkeit will ich später zu- (D)
dankbar; denn er hat auf den Punkt gebracht, worum es rückkommen.
den Sozialdemokraten geht. Es geht darum, dass wir die
Würde ernst nehmen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Möchten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Heil zu-
lassen?
Ich will allen Christen sagen: Das ist ein biblisches Maß.
Lesen Sie bei Matthäus nach, ich glaube, es steht in Ka-
pitel 20, 1-16: Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Das kann eine gute Hilfestellung sein, wenn man nicht Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen dür-
mehr weiter weiß, wie man sich politisch orientieren soll. fen, und ich bin mir sicher, dass das Informationsbedürf-
nis des Kollegen Heil auf diese Art und Weise nachhaltig
Ich finde, Sie könnten Größe zeigen und sagen: Es gestillt werden wird.
liegen zwei Gesetzentwürfe vor. Vielleicht finden wir sie
nicht in jedem Punkt richtig, aber die Richtung stimmt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schauen wir
Paul, ich würde mich deshalb freuen, wenn du dich der mal!)
Sache annehmen würdest. Über viele Jahre war die Lohnfindung das Geschäft
Vielen Dank. der Tarifpartner, ohne dass das hinterfragt worden ist.
Das ist problematisch geworden – aus vielerlei Gründen.
(Beifall bei der SPD) Wir haben in den vergangenen Jahren Instrumentarien
entwickelt, damit umzugehen: die branchenbezogenen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Mindestlöhne, das Entsendegesetz, das Mindestarbeits-
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat das Wort für bedingungengesetz und vieles mehr. Das war aus unserer
die CDU/CSU-Fraktion. Sicht richtig, weil es die Hauptverantwortung bei den
Tarifpartnern beließ und erst dann, nämlich subsidiär,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- staatliches Handeln ins Spiel gebracht wurde.
neten der FDP)
Nun sind auch und gerade im christlich-sozialen Be-
reich durchaus weiter gehende Forderungen erhoben
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
worden,
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Frankfurter Abgeordneter darf man bisweilen an den (Mechthild Rawert [SPD]: Genau!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10093
Dr. Matthias Zimmer
(A) die von einer gewissen Ungeduld zeugen. So sprechen gung des Mindestlohns einzurichten, wie es etwa im (C)
sich sowohl die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Entwurf der Grünen formuliert ist. Wie schwierig solche
als auch das Kolpingwerk für gesetzliche Mindestlöhne Diskussionen manchmal sein können, zeigt die Debatte
aus. um die Höhe der Regelsätze. Vor Wahlen wird dann re-
gelmäßig eine Diskussion zu haben sein über die Höhe
(Mechthild Rawert [SPD]: Recht haben sie! – des Mindestlohns, darüber, nach welchen Kriterien er
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!) festgelegt wird, und das hielte ich für problematisch.
Auch das gehört zum Gesamtbild der Lage, die wir heute Auch eine formal unabhängige Kommission könnte sich
diskutieren. lautstark vorgetragenen politischen Begehrlichkeiten
kaum verschließen. Eleganter fände ich dann doch den
Ich glaube aber nicht, dass es nur einen Weg gibt, zu Weg, einen Mindestlohn an die Rentenentwicklung zu
einem gerechten Lohn zu kommen; mehr noch: Ich halte koppeln. Damit wäre zum einen das Abstandsgebot ge-
vieles von dem, was in den vorliegenden Gesetzentwür- wahrt, zum anderen wäre implizit auch die Mahnung der
fen formuliert wird und auch von KAB und Kolping- katholischen Soziallehre berücksichtigt, dass die ge-
werk vorgeschlagen wird, auch und gerade aus christ- rechte Entlohnung natürlich immer mehrere Bestim-
lich-sozialer Sicht für falsch. mungsgründe hat.
Wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn nach-
Es ist richtig: In der Politik entscheidet nicht das
denkt – ich will dieses Hohe Haus durchaus einmal als
Wünschbare, sondern das politisch Mögliche. Aber ein
Ort des Nachdenkens und nicht nur des konfrontativen
wenig mehr Fantasie darf man auch entwickeln. Die
Debattierens nutzen –, dann darf man das Prinzip der
Leitplanken, innerhalb derer sich die Fantasie entwi-
Subsidiarität nicht aus dem Blick verlieren. Es müsste
ckelt, sind durch die Begriffe „Subsidiarität“, „Tarifauto-
am Anfang aller Überlegungen zum gesetzlichen Min-
nomie“ und „gerechter Lohn“ vorgegeben. Die Gesetz-
destlohn stehen.
entwürfe von SPD und Grünen scheinen mir eher davon
Deswegen müsste aus christlich-sozialer Sicht ein ge- geprägt zu sein, dass Subsidiarität und Tarifautonomie
setzlicher Mindestlohn die Möglichkeit einer tariflichen kaum eine Rolle spielen. Ordnungspolitisch halte ich das
Öffnungsklausel enthalten. Tarifautonomie geht vor Ge- für falsch. Aber darüber zu streiten, wie wir einen ge-
setz, aber die Tarifautonomie dürfte nicht alles; denn rechten Lohn verwirklichen, scheint mir richtig zu sein,
eine gesetzliche Mindestlohngrenze erst gäbe der Mög- weil wir uns im Ziel, die Arbeit nicht als Ware zu begrei-
lichkeit Gestalt, eine einheitliche Höhe für die Sitten- fen und die Lohnbildung nicht allein den Märkten zu
widrigkeit der Löhne festzusetzen. Anderenfalls bliebe überlassen, durchaus einig sind. Dass wir damit alle dazu
die Feststellung der Sittenwidrigkeit reines Richterrecht, beitragen, im Sinne von Oswald von Nell-Breuning die
(B) abhängig von der Region, der Branche und vielem ande- kapitalistische Wirtschaftsweise normativ zu veredeln, (D)
ren. Umgekehrt: Wer eine solche Sittenwidrigkeit ein- ist für mich ein versöhnliches Ende einer manchmal
deutig festlegen wollte, bräuchte eine Bezugsgröße, und durch schrille Töne und tagespolitische Zuspitzungen
die lieferte nur ein Mindestlohn; er wäre eine normative getragenen Debatte.
Bezugsgröße für die Sittenwidrigkeit von Löhnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich bin immer wieder überrascht von der Beliebigkeit, neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
mit der über die Höhe eines Mindestlohns diskutiert GRÜNEN)
wird. Ein wenig ins Blaue hinein wird da geschätzt und
gewünscht – genauso wie bei den Hartz-IV-Regelsätzen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Katja Kipping [DIE LINKE]: War das jetzt Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heil das
Selbstkritik?) Wort.
Für mich könnte es aus christlich-sozialer Perspektive
nur eine Erwägung geben, die die Höhe eines Mindest- Hubertus Heil (Peine) (SPD):
lohns definiert, und die wäre: Wer sein ganzes Berufsle-
ben lang rechnerisch nur den Mindestlohn bekommen Sehr geehrter Herr Dr. Zimmer, ich schätze Sie als re-
hat, muss am Ende eine Rentenanwartschaft verdient ha- flektierenden, nachdenklichen Menschen. Allerdings – das
ben, die über der Grundsicherung liegt. muss ich Ihnen bei der ganzen Geschichte sagen –, die
Menschen werden von warmen Worten nicht satt.
Ein solches Abstandsgebot ist durch den Wert der Ar-
beit selbst geboten. Erst aus diesem Abstandsgebot und (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
aus seiner Berechnung heraus ließe sich über die Höhe ei-
nes Mindestlohns reden. Mit anderen Worten: Die Höhe Deshalb möchte ich Ihnen einmal etwas zum Thema Sub-
eines Mindestlohns müsste sich nach der Möglichkeit be- sidiarität und Lohnfindung erzählen. Wir sind für Tarif-
rechnen, eine Rentenanwartschaft über der Grundsiche- löhne. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, sind wir für
rung zu erwerben. Nach allem, was wir bisher wissen: Mit den Vorrang branchenspezifischer Tariflöhne, der auf-
7,50 Euro ist das nicht zu machen. grund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes festgeschrie-
ben werden kann – und nichts anderes. Wir wissen aber
Wenn ich aus christlich-sozialer Sicht über das Thema auch, dass es inzwischen Branchen gibt, wo das so nicht
Mindestlohn nachdenke, würde ich auch keineswegs zu mehr funktioniert, wo also ein gesetzlicher Mindestlohn
dem Vorschlag kommen, eine Kommission zur Festle- notwendig ist.
10094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) Jetzt will ich Ihnen eines sagen: Ich kann es nicht doch einmal fragen: Gab es denn damals eigentlich gute (C)
mehr ertragen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gründe, dies zu tun und ohne Fristen zuzulassen,
jedes Mal, wenn wir über das Thema sprechen, Sie, so
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)
sonor Sie es auch hier vortragen, als netten Menschen
am Schluss reden lässt, und sind diese guten Gründe noch valide?
(Pascal Kober [FDP]: Intelligenten Men- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht mehr!)
schen!) Erst dann, wenn wir darüber gesprochen haben, würde
Sie etwas herumphilosophieren, aber am Ende nichts he- ich eine zweite Frage anschließen, nämlich, was wir da-
rauskommt. Placebo-Mindestlöhne nützen den Men- ran ändern müssen. Deswegen sehe ich mich heute au-
schen nichts. Herr Dr. Zimmer, was die Festlegung im ßerstande, mich auf eine entsprechende Frist festzule-
Koalitionsvertrag, sittenwidrige Löhne gesetzlich als un- gen, weil ich Ihre Argumente zu dieser Frage überhaupt
terste Kante festzuschreiben, bedeutet, will ich Ihnen nicht kenne.
praktisch belegen. Ehe Löhne sittenwidrig werden, kann (Zurufe von der SPD)
man heutzutage nach Richterrecht bis zu einem Drittel
vom niedrigsten Tarif nach unten abweichen. Bezogen Der nächste Punkt: Wir sind hier im Plenarsaal des
auf das Friseurhandwerk in Sachsen hieße das beispiels- Deutschen Bundestages. Ich glaube schon, dass Argu-
weise, dass erst bei 2,04 Euro Stundenlohn der Lohn sit- mente hier eine gewisse Rolle spielen, getreu dem
tenwidrig würde. Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass Hegel’schen Motto: Ist das Reich der Ideen erst revolu-
2,04 Euro die unterste Kante sein soll? Anhand dieser tioniert, hält die Wirklichkeit nicht stand. – Insofern
Frage erkennen Sie, dass Sie nicht um einen gesetzlichen habe ich, auch was meine Position zu Mindestlöhnen an-
Mindestlohn herumkommen. geht, durchaus die Hoffnung, dass sich der zwanglose
Zwang des besseren Arguments langfristig durchsetzen
Auch eine zweite Frage kann ich Ihnen als jemandem möge.
mit einem sozialen Herz, der sich hier auf Oswald von
Nell-Breuning und die katholische Soziallehre, die mir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
auch als evangelischem Christen sehr sympathisch ist, Katja Mast [SPD]: Neun Monate! – Hubertus
bezieht, leider nicht ersparen: Ab welchem Zeitpunkt Heil [Peine] [SPD]: Zu Deutsch: Nichts Ge-
soll nach Ihrer Überzeugung, also Ihrer persönlichen, naues weiß man nicht!)
auch wenn sie im Gegensatz zu der Ihrer Kolleginnen
und Kollegen steht, im Bereich der Zeit- und Leiharbeit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unab- Ich schließe die Aussprache.
(B) weichbar gelten? Die FDP spricht von neun Monaten (D)
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
und hat die CDU/CSU in Geiselhaft genommen. Was ist würfe auf den Drucksachen 17/4665 und 17/4435 an die
Ihre Auffassung als Sozialexperte, ab welchem Zeit- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
punkt der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ schlagen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe.
gelten soll, Herr Zimmer? Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 f
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 f auf:
Herr Dr. Zimmer zur Erwiderung, bitte.
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und
Danke schön, Herr Kollege Heil. Ich bin für die Frage anderer Gesetze
sehr dankbar, obwohl sie in den argumentativen Zusam-
menhang der Punkte, die wir bei Mindestlöhnen disku- – Drucksache 17/4144 –
tieren, nicht so recht hereinzupassen scheint; aber sei es Überweisungsvorschlag:
drum. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Ich glaube, ich würde mich zunächst einmal mit Ihnen Rechtsausschuss
und mit anderen, die damals in der rot-grünen Koalition b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
die Möglichkeit geschaffen haben, von Equal Pay abzu- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
weichen, zusammensetzen. Änderung des BVL-Gesetzes
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Drucksache 17/4381 –
neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Überweisungsvorschlag:
Mit Ihnen zusammen!) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ich würde dann Sie, lieber Herr Heil – da bitte ich als
neuer Kollege um Verständnis; Sie sind ja schon sehr c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
viel länger dabei –, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin viel äl- DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
ter als Sie!) zes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10095
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Digitalisierung vergriffener und verwaister Rechtsausschuss (C)
Werke Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/4661 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Überweisungsvorschlag: Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz,
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Ausschuss für Bildung, Forschung und LINKE
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot privater militärischer Dienstleistungen
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine aus Deutschland
Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/4673 –
Überweisungsvorschlag:
Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit schaf- Auswärtiger Ausschuss (f)
fen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Innenausschuss
Qualifikationen anerkennen Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/4615 – Verteidigungsausschuss
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Ausschuss für Gesundheit NIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung Brennelemente-Zwischenlager am Forschungs-
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia zentrum Jülich ertüchtigen
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei- – Drucksache 17/4690 –
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Überweisungsvorschlag:
NIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Sicherheit hat Vorrang – Atomkraftwerk Gra- Technikfolgenabschätzung
fenrheinfeld sofort abschalten
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
(B) – Drucksache 17/4688 – (D)
Überweisungsvorschlag: Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhin-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit terziehung nutzen und ausbauen
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried – Drucksache 17/4670 –
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, Überweisungsvorschlag:
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Finanzausschuss (f)
NIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rheintalbahn – Modellprojekt für anwohner- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
freundlichen Schienenausbau Haushaltsausschuss

– Drucksache 17/4689 – e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton


Überweisungsvorschlag:
Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae,
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Finanzausschuss NIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Schutz vor Bahnlärm verbessern – Veraltetes
Ausschuss für Tourismus Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen
Haushaltsausschuss
– Drucksache 17/4652 –
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Überweisungsvorschlag:
Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weite- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizie- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
rung der „Internationalen Konvention gegen Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
und die Ausbildung von Söldnern“ der Gene- LINKE
ralversammlung der Vereinten Nationen
Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
– Drucksache 17/4663 – den arabischen Ländern – Beendigung der
Überweisungsvorschlag: deutschen Unterstützung von Diktatoren
Verteidigungsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 17/4671 –
10096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: (C)
Auswärtiger Ausschuss (f) Abgeordnete Antje Tillmann
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Lothar Binding (Heidelberg)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfehlung auf Drucksache 17/4597, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3632
Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein- und 17/3984 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
fachten Verfahren ohne Debatte. Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegen-
schlossen. stimmen der Fraktion Die Linke.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a bis l. Es Dritte Beratung
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die
Zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a: Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Beratung angenommen.
Gesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer- Tagesordnungspunkt 28 c:
Qualifikations-Gesetzes
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
– Drucksache 17/3800 –
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- zur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzes
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und anderer Gesetze
(15. Ausschuss)
– Drucksachen 17/3960, 17/4146 –
– Drucksache 17/4660 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
Berichterstattung: schusses (7. Ausschuss)
(B) Abgeordnete Kirsten Lühmann (D)
– Drucksache 17/4596 –
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Berichterstattung:
Drucksache 17/4660, den Gesetzentwurf der Bundesre- Abgeorndete Patricia Lips
gierung auf Drucksache 17/3800 in der Ausschussfas- Nicolette Kressl
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Dr. Birgit Reinemund
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- empfehlung auf Drucksache 17/4596, den Gesetzent-
tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3960
und 17/4146 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Wir kommen zur Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
dritten Beratung Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Fraktionen der SPD und der Linken.
der dritten Beratung ebenfalls mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen. Wir kommen zur
Tagesordnungspunkt 28 b: dritten Beratung
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
zur bestätigenden Regelung verschiedener steu- Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
erlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 der zweiten Beratung angenommen.
– Drucksachen 17/3632, 17/3984 – Tagesordnungspunkt 28 d:
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
Beratung der dritten Beschlussempfehlung des
schusses (7. Ausschuss)
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
– Drucksache 17/4597 – Geschäftsordnung (1. Ausschuss)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10097
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl Jasper gegangen, wäre den Wählerinnen und Wählern (C)
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Septem- der Titelkauf vorher bekannt gewesen.
ber 2009
Obwohl der Fristablauf eindeutig und nicht von der
– Drucksache 17/4600 – Hand zu weisen ist, habe ich den Eindruck, dass in die-
sem Fall der Ablauf der Einspruchsfrist bewusst oder zu-
Berichterstattung: mindest fahrlässig herbeigeführt wurde.
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Bernhard Kaster
Nach seinen eigenen Aussagen, zitiert in den Westfäli-
Michael Hartmann (Wackernheim)
schen Nachrichten, hat Dieter Jasper schon im Oktober
Christian Lange (Backnang)
2009 gegenüber dem Bundestagspräsidium offengelegt,
Stephan Thomae
dass er den Titel nicht legal hätte führen dürfen. Ich gehe
Dr. Dagmar Enkelmann
davon aus, dass auch die Führung der Unionsfraktion in-
Josef Philip Winkler
formiert gewesen sein muss.
Hier liegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklä-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Unglaub-
rung zur Abstimmung nach § 31 GO der Kollegin
lich, diese CDU! Unglaublich!)
Kathrin Vogler vor.
Wenn die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt über
Kathrin Vogler (DIE LINKE): den Titelbetrug informiert worden wäre, hätte eine Be-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zur Abstimmung schwerde fristgerecht eingereicht werden können.
über die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: In Landau
schusses möchte ich folgende Erklärung abgeben: gab es einen ähnlichen Fall!)
Ich werde der vorliegenden Beschlussempfehlung Dass Bundestagspräsident Dr. Lammert diese Mausche-
nicht zustimmen, obwohl meine Fraktion, wie auch die lei seines Parteifreunds gedeckt hat, hat mich politisch
anderen Fraktionen des Hauses, sie im Grundsatz mit- und menschlich schwer enttäuscht.
trägt. Das finde ich erklärungsbedürftig.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Skandal!)
Die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-
schusses enthält in Anlage 47 den Einspruch eines Wäh- Zumindest aber hätte der betroffene Kollege den An-
lers aus meinem Wahlkreis 129, Steinfurt III, gegen das stand besitzen können, sein auf Lug und Trug basieren-
Ergebnis der Bundestagswahl in diesem Wahlkreis. Der des Mandat freiwillig zurückzugeben.
(B) (D)
Wähler führt dort unter anderem an, dass der Stimmzet- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
tel für die Wahl nicht korrekt gewesen sei, weil der Kan- der SPD)
didat der CDU, Dieter Jasper, dort mit einem Doktortitel
aufgeführt war, den er legal nicht hätte führen dürfen, Insgesamt stellt sich für mich die Frage, ob die abso-
weil dieser bei einer sogenannten Titelmühle in der lute Frist für Wahleinsprüche, die der Rechtssicherheit
Schweiz gekauft und nicht durch wissenschaftliche Tä- dienen soll, letzten Endes nicht ein Klima der Vertu-
tigkeit erworben wurde. schung begünstigt, das für die Demokratie womöglich
schädlicher ist als ein geringes Restrisiko an Rechtsunsi-
(Elke Ferner [SPD]: Was machen die denn cherheit.
da?)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Der Wahlprüfungsausschuss stellt wohl richtig fest,
dass der Einspruch dieses Bürgers wegen Fristablaufs Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind in der Politik un-
nicht mehr zulässig sei. Die Frist zum Einspruch gegen verzichtbar; sie sind in diesem Fall mit Füßen getreten
das Wahlergebnis der Bundestagswahl beträgt zwei Mo- worden.
nate nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses. Im (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
beschriebenen Fall war es aber so, dass der Tatbestand
der Öffentlichkeit bis nach Ablauf der Frist gezielt ver- Vermutlich könnte nur das Bundesverfassungsgericht
heimlicht wurde. Erst im Februar 2010 brachten Me- diese Frage endgültig klären, es sei denn, wir als Gesetz-
dienrecherchen den Skandal ans Licht. geber nehmen den Fall zum Anlass, das Bundeswahlge-
setz zu ändern; dafür würde ich mich stark machen.
Zu diesem Zeitpunkt hätte nur noch der Präsident des Meine Unterstützung gilt in diesem Fall dem Ein-
Deutschen Bundestags die Wahl anfechten können. Ich spruchsführer. Auch deswegen stimme ich gegen diese
habe damals den Präsidenten des Hauses angeschrieben Beschlussempfehlung.
und ihn gebeten, die Wahl im Wahlkreis 129 anzufechten
und Neuwahlen zu veranlassen. Von vielen Wählerinnen (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ihre Fraktion
und Wählern habe ich damals nämlich gehört, dass sie sieht das aber anders!)
Herrn Jasper nicht gewählt hätten, wenn sie vorher von Vielen Dank.
seinem Titelbetrug gewusst hätten. Da sein Vorsprung
gegenüber dem Mitbewerber von der SPD, Dr. Reinhold (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Hemker, nicht einmal 2 Prozent der Stimmen betrug, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
wäre das Direktmandat möglicherweise nicht an Herrn GRÜNEN)
10098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Tagesordnungspunkt 28 i: (C)


Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
die Beschlussempfehlung? – ausschusses (2. Ausschuss)
(Zuruf von der CDU/CSU, an die LINKE ge- Sammelübersicht 214 zu Petitionen
wandt: Ah! Erst klatschen, dann zustimmen!
Das ist ja glaubwürdig!) – Drucksache 17/4538 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
gen? – Die Sammelübersicht 214 ist mit den Stimmen
fehlung ist damit bei einigen Gegenstimmen aus der
der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Bündnis 90/Die
Fraktion Die Linke, der Fraktion der SPD und der Frak-
Grünen und SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Die
tion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri-
Linke angenommen.
gen Mitglieder aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Tagesordnungspunkt 28 e:
Sammelübersicht 215 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– Drucksache 17/4539 –
ausschusses (2. Ausschuss)
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
Sammelübersicht 210 zu Petitionen gen? – Die Sammelübersicht 215 ist mit den Stimmen
– Drucksache 17/4534 – der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- der Fraktion Die Linke angenommen.
gen? – Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen
Tagesordnungspunkt 28 k:
des ganzen Hauses angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 28 f: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 216 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/4540 –
(B) Sammelübersicht 211 zu Petitionen (D)
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
– Drucksache 17/4535 – gen? – Die Sammelübersicht 216 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktionen SPD und
gen? – Auch die Sammelübersicht 211 ist mit den Stim- Die Linke angenommen.
men des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss)
ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 217 zu Petitionen
Sammelübersicht 212 zu Petitionen – Drucksache 17/4541 –
– Drucksache 17/4536 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 217 ist mit den Stimmen
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
gen? – Die Sammelübersicht 212 ist mit den Stimmen tionsfraktionen angenommen.
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Aktuelle Stunde
Tagesordnungspunkt 28 h: auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder –
ausschusses (2. Ausschuss)
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes-
Sammelübersicht 213 zu Petitionen regierung zum Thema Frauenquote

– Drucksache 17/4537 – Ich eröffne die Aussprache.


Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Caren
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
Marks für die SPD-Fraktion.
gen? – Die Sammelübersicht 213 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10099

(A) Caren Marks (SPD): Doch es geht der Ministerin nicht wirklich um die (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Frauen. Die Zeit ist günstig. Es geht ihr – wie so oft –
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! vor allem um eine gute PR.
„Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genom- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
men. Sie bekommen nichts“, so Simone de Beauvoir.
Ganz aktuell hätte sie sich als Arbeitsministerin bei
So wird es kommen mit dieser schwarz-gelben Bun- den Hartz-IV-Verhandlungen für einen gesetzlichen
desregierung; denn diese Regierung unternimmt nichts, Mindestlohn starkmachen können, von dem vor allem
um die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu Frauen profitiert hätten. Hat sie aber nicht, wie wir wis-
verbessern. So sind Frauen in Führungspositionen im- sen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
mer noch mit der Lupe zu suchen. Aber anstatt ent-
schlossen als Bundesregierung zu handeln, streiten sich (Beifall bei der SPD)
erst einmal die Frauen- und die Arbeitsministerin in aller
Weshalb Frauenministerin Schröder nach wie vor un-
Öffentlichkeit. Während die zuständige Frauenministe- beirrt nur auf unverbindliche Selbstverpflichtungen der
rin Schröder stur auf Freiwilligkeit der Unternehmen
Unternehmen setzt, ist definitiv nicht nachzuvollziehen.
setzt, hat Frau von der Leyen ganz plötzlich die Notwen-
Fakt ist, die vor zehn Jahren von der Bundesregierung
digkeit einer gesetzlichen Quote erkannt. mit der Wirtschaft geschlossene Vereinbarung hat keine
(Elke Ferner [SPD]: Die ist noch nicht einmal Erfolge gebracht. Der Frauenanteil in Führungspositio-
zuständig!) nen ist nach wie vor beschämend gering. Doch Frau
Schröder zieht aus dieser Erfahrung keine entsprechen-
Wirtschaftsminister Brüderle mischt sich auch noch in den Schlussfolgerungen. Das rigorose Nein der Kanzle-
den Streit ein und springt Frau Schröder zur Seite. Er hat rin zur Quote ist nicht nur eine Ohrfeige für Frau von der
nicht begriffen, dass die Wirtschaft von mehr Frauen an Leyen, sondern eine Ohrfeige für alle Frauen.
der Spitze profitieren würde. Schade eigentlich, dass die
Streithähne bei der Debatte heute nicht anwesend sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch die Kanzlerin hofft wohl darauf, dass die männer-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dominierten Chefetagen zukünftig lernfähig werden. Ich
GRÜNEN) denke, diese Hoffnung ist alles andere als berechtigt.

Dann kam das Machtwort der Kanzlerin: Mit ihr (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Da be-
werde es keine Quote geben. Frau Merkel lässt die wegt sich nichts!)
(B) Frauen zum wiederholten Male im Stich. Dabei zeigen Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftli- (D)
aktuelle Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der che Debatte über die Notwendigkeit einer Frauenquote
Frauen die Einführung einer Quote für richtig und not- wurde von Norwegen angestoßen. Norwegen hat als ers-
wendig hält. tes Land eine Geschlechterquote von 40 Prozent für
Aufsichtsräte eingeführt. Dies ist übrigens im Jahr 2003
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffen
geschehen. Heute ist eine Quote von 42 Prozent erreicht.
Bockhahn [DIE LINKE]: Weil sie schlau
Vor der Gesetzesverabschiedung lag die Quote bei
sind!)
7 Prozent.
Hier bleibt nur ein Schluss: Machterhalt durch verordne-
Diese Erfahrungen in Norwegen machen doch mehr
ten Koalitionsfrieden steht für die Kanzlerin über erfor-
als deutlich: Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gesetzli-
derlichem Regierungshandeln. Das ist eine Klatsche ins
che Quote; sanktionsbewehrt muss sie zudem sein. Die
Gesicht der Frauen in unserem Land.
Quote ist in Norwegen akzeptiert. Sie funktioniert und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten löst keine Debatten mehr aus. In Spanien ist im Jahr
der LINKEN) 2007 eine Frauenquote eingeführt worden. Ganz aktuell,
im Januar 2011, hat das französische Parlament die Ein-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, dass führung einer Frauenquote für die Wirtschaft beschlos-
Frau von der Leyen wie bei so vielen sozialdemokrati- sen. Ein Frauenanteil von 40 Prozent in Vorstandsetagen
schen Forderungen auch in diesem Fall wieder einmal muss binnen sechs Jahren erreicht werden.
auf die Position der SPD geschwenkt ist. Die SPD-Bun-
destagsfraktion fordert schon seit langem eine gesetzli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke
che Frauenquote von mindestens 40 Prozent in Auf- Ferner [SPD]: Es geht doch!)
sichtsräten und Vorständen großer Unternehmen. Was erleben wir aber gegenwärtig bei uns? Kabinetts-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) mitglieder streiten sich untereinander. Die Kanzlerin
versucht, die Diskussion zu ersticken. Doch es wird ihr
In ihrer Zeit als Familienministerin und Frauenministe- nicht gelingen, diese Diskussion in der Gesellschaft zu
rin haben wir von Frau von der Leyen eine solche Forde- ersticken. Im Kabinett hat sie das vielleicht für einen
rung nicht vernommen. Bereits damals hätte sie sich für Moment geschafft, in der Gesellschaft wird ihr das aber
eine gesetzliche Quote und somit für die Frauen in die- nicht gelingen.
sem Land starkmachen können.
Die Forderungen der Frauen werden zu Recht lauter.
(Elke Ferner [SPD]: Hat sie aber abgelehnt!) Die gesetzliche Quote wird kommen müssen, wenn nicht
10100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Caren Marks
(A) mit dieser Regierung, dann – so sage ich den Frauen im Doch auch hier musste man erkennen: Das allein reicht (C)
Land – spätestens im Jahr 2013 mit einer anderen Regie- nicht. Es gab trotzdem nicht mehr Frauen in Führungs-
rung. positionen; es gab trotzdem eine gläserne Decke. Des-
halb haben sich diese Länder entschlossen, zu strengeren
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Maßnahmen zu greifen. Damit sind sie, wie in Norwe-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen zu beobachten ist, sehr erfolgreich.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-


Das Wort hat nun die Kollegin Nadine Schön für die NEN]: Genau!)
CDU/CSU-Fraktion. Dass das „es sollte“, „es müsste“, „eigentlich“ und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „es wird schon“ nicht funktioniert, diese bittere Erfah-
rung haben nun schon genug andere vor uns machen
müssen. Ausbildung ist wichtig, Coaching ist wichtig,
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Kinderbetreuung ist wichtig, auch der eigene Aufstiegs-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wille ist wichtig, doch das alles führt nicht in die Chef-
Kollegen! Nein, ich mag die Quote nicht – eigentlich. Es etage. Das belegen zahlreiche Studien und die genannten
müsste doch auch ohne gehen – eigentlich. Meine Al- Beispiele. Denn der Vorstand wird vom Aufsichtsrat ge-
tersgenossinnen und ich sind hervorragend ausgebildet, wählt, und wer für den Aufsichtsrat vorgeschlagen wird,
und es gibt doch Möglichkeiten der Vereinbarkeit von das bestimmt der Aufsichtsrat selbst. Interessante Einbli-
Familie und Beruf. Uns stehen doch alle Wege offen. cke, wie das funktioniert, hat uns neulich das manager
Was sollte uns aufhalten? Eigentlich wissen die Firmen, magazin ermöglicht. Man spielt zusammen Fußball, geht
dass gemischte Teams erfolgreicher sind. Sie wissen, zusammen wandern und Ski fahren. Dabei wird dann
dass sie Frauen auf allen Ebenen brauchen. überlegt, wer zu einem passt, wen man aufnehmen
(Dagmar Ziegler [SPD]: Genau!) könnte. Dadurch bleibt man halt unter sich.

Es müsste doch eigentlich auch auf freiwilliger Basis ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hen. – Es sollte, es müsste, eigentlich. Es sollte und sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
müsste sich ohne Druck entwickeln. Das hat man schon der SPD)
2001 gesagt. Dann wurde verkündet, dass man keine
Quote brauche, weil sich von nun an alles gut entwickeln Das ist wahrscheinlich kein böser Wille; aber es ist die
werde. Sogar eine freiwillige Selbstverpflichtung wurde Realität. Es ist eine Realität, die 50 Prozent der Bevölke-
(B) abgeschlossen. So überzeugt war man davon, dass man rung außen vor lässt. Solange keine Frauen in diesen Zir- (D)
den Anteil von Frauen in Führungspositionen alsbald er- keln vorkommen oder nur vereinzelt dort zu finden sind,
höhen werde. Klare Ziele hat man nicht definiert. so lange wird sich daran nichts ändern.

Sehr geehrte Frau Marks, weil Sie sich hier derart (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
echauffieren: neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]:
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das macht sie Und die Schlussfolgerung? Wir brauchen eine
immer!) Quote!)
Die Geschichten von damals, als Sie eine Frauenquote Um diese Strukturen aufzubrechen, braucht man klare
gefordert haben und Bundeskanzler Schröder mit seinen Vorgaben. Ist erst einmal eine qualifizierte Größe, eine
Bossen Sie zurückgepfiffen und die freiwillige Selbst- gewisse Anzahl an Frauen vorhanden, regelt sich der
verpflichtung präsentiert hat, sind legendär. Rest von alleine.
(Caren Marks [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen (Caren Marks [SPD]: Männer werden das
haben wir gelernt!) ohne Qualifikation!)
Deshalb würde ich mich an Ihrer Stelle hier sehr zurück-
Auf dem Weg zu dieser qualifizierten Größe – damit ist
halten.
nicht die Art der Qualifikation gemeint, sondern eine ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wisse Mindestanzahl, liebe Kollegin Marks; dies sage
neten der FDP) ich nur zur Erläuterung –
Fakt ist leider: Die Bilanz nach zehn Jahren ist er- (Caren Marks [SPD]: Schon klar!)
nüchternd. In den Vorständen sind nicht einmal 3 Pro-
zent Frauen; in den Aufsichtsräten sieht es kaum besser ist nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik ge-
aus. Eine gute Ausbildung und eine familienfreundliche fragt. Wir können nicht weiter vor uns hin dümpeln. Wir
Arbeitswelt hielt man auch in Norwegen und Frankreich brauchen konkrete und verbindliche Schritte mit klaren
lange Zeit für ausreichend. Die beiden Länder sind in Zielen.
dieser Hinsicht – das müssen wir zugeben – vorbildlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Caren Marks [SPD]: Ja, durch eine gesetz- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
liche Quote!) CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10101
Nadine Schön (St. Wendel)
(A) Wir müssen dabei nicht alle über einen Kamm sche- Auch ich gehöre zu diesen 73 Prozent der Frauen. Ich (C)
ren. Eine feste Quote kann durchaus zu Schwierigkeiten habe mich dazu durchgerungen, eine Quote zu wollen;
führen. denn ich will nicht, dass meine Altersgenossinnen und
ich die nächste Generation sind, die an der gläsernen De-
(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah!)
cke kleben bleibt.
Jedes Unternehmen kann sich mit der Flexiquote seinen
eigenen Fahrplan zurechtlegen; Vielen Dank.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND-
NEN]: Falsch! – Caren Marks [SPD]: Eine NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
freiwillige Flexiquote! Es fing so gut an!) ten der SPD und der FDP)
denn ein Automobilunternehmen – das werden wohl
auch Sie wissen – ist von Natur aus eher männlich ge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
prägt Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für
die Fraktion Die Linke.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Warum denn?) (Beifall bei der LINKEN – Britta Haßelmann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn
als zum Beispiel eine Bank, die durchaus viele Juristin- die Frauenministerin heute? – Kerstin Andreae
nen und BWLerinnen beschäftigt und eine Quote leich- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die
ter und schneller erfüllen kann. Frauenministerin? Die Arbeitsministerin? Die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Bundeskanzlerin?)
der FDP)
Klar ist aber: Wir müssen politisch und, wie ich Katja Kipping (DIE LINKE):
meine, auch gesetzlich einfordern, dass in großen Kon- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war
zernen in Gremien mit zum Beispiel zehn Mitgliedern eine gute Argumentation, die deutlich gemacht hat, wa-
sehr bald mindestens drei Stühle von Frauen besetzt wer- rum die CDU-Vorsitzende unrecht hat,
den. Das ist, denke ich, das Mindeste, das wir verlangen
(Caren Marks [SPD]: Ja! Allerdings!)
können.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wenn sie sagt, man brauche keine Quote, wie wir soeben
der FDP) von Frau Schön gehört haben. Es ist bedauerlich, dass es
(B) kein einziges der Regierungsmitglieder, die sich immer (D)
Ich will keine weiteren zehn Jahre darauf warten. Wir wieder zu diesem Thema geäußert haben, für notwendig
brauchen einen Stufenplan mit konkreten und verbindli- hält, mit uns, dem Parlament, darüber zu diskutieren.
chen Schritten, um dieses Ziel zu erreichen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
neten der FDP)
Es gab einmal eine Zeit, in der für die Mehrheit un-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen in vorstellbar war, dass Frauen wählen. Heute ist das Frau-
Norwegen und Frankreich haben gezeigt – das konnten enwahlrecht Realität. Aber es lohnt, die Argumente, die
wir auch in Deutschland beobachten –: Ohne diese kon- damals ins Feld geführt wurden, um das Frauenwahl-
kreten, verbindlichen Schritte werden wir nicht voran- recht aufzuhalten, zu studieren. Die Philosophin und Fe-
kommen. Die Liste derjenigen, die schon immer gegen ministin Simone de Beauvoir gab in ihrem Klassiker Das
eine Quote waren, ist lang. Aber immer länger wird die andere Geschlecht einen sehr amüsanten Überblick über
Liste derjenigen, die feststellen: Es geht einfach nicht die Argumente, die damals galten. Es hieß, die Frau
ohne. würde ihren Charme verlieren, wenn sie wähle. Sie be-
(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- herrsche den Mann doch auch ohne Stimmzettel. Oder
NIS 90/DIE GRÜNEN]) – ganz schlimm –: Politische Diskussionen würden zur
Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten führen.
In der Titelgeschichte des Spiegel von vor zwei Wochen Eine andere Aussage lautete: Die Hände von Frauen sind
ist sehr deutlich geworden, dass sich diese Erkenntnis nicht bestimmt zum Falten von Stimmzetteln.
bei vielen durchgesetzt hat: Caren Miosga und Ilse
Aigner – sie wurden bereits genannt –, (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN,
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN – Marco Buschmann [FDP]: Zur
NEN]: Das waren doch nicht nur zwei Leute!) Sache!)
die beiden Redakteurinnen, 73 Prozent der Frauen und
Heute rufen solche Argumente bei uns natürlich nur
60 Prozent der Männer sind mittlerweile für eine Quote
amüsiertes Lachen hervor. Überzeugen können die Ar-
für Führungspositionen.
gumente niemanden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass in
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und naher Zukunft all die Argumente, die heute noch gegen
der FDP – Caren Marks [SPD]: Ja! Und wo eine Quote in Aufsichtsräten angeführt werden, dasselbe
bleibt das Handeln?) Schicksal erfahren: dass wir nur noch amüsiert über sie
10102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Katja Kipping
(A) lachen und sagen, dass sie eher etwas fürs Museum sind, Behördendeutsch und bedeutet, dass Menschen, die län- (C)
unter der Überschrift „Es war einmal …“ ger als ein Jahr zusammenleben, automatisch unterstellt
wird, sie hätten eine eheliche Gemeinschaft, sodass ihre
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Einkommen im Hinblick auf die Höhe von Sozialleistun-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen angerechnet werden.
All den Gegnerinnen und Gegnern der Frauenquote sei
Kürzlich habe ich mich in meiner Funktion als Aus-
gesagt: Sie können den Fortschritt vielleicht verzögern;
schussvorsitzende mit Frauenverbänden ganz unter-
aber Sie können ihn nicht aufhalten. Sie kämpfen gegen
schiedlicher politischer Couleur getroffen. Mir wurden
die Zukunft.
sehr bewegende Fälle geschildert, die deutlich gemacht
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem haben, dass die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marco meinschaft gerade Frauen in unerträgliche Situationen
Buschmann [FDP]: Den Sozialismus in sei- bringen. Zum Beispiel wird es Alleinerziehenden, die
nem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!) Teilzeit arbeiten und deswegen auf Hartz IV angewiesen
sind, faktisch unmöglich gemacht, eine neue Beziehung
Leider sind diese Argumente immer noch Realität. In- einzugehen. Denn wenn sie einen neuen Partner finden
sofern müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Ein und mit diesem zusammenziehen wollen, wird dessen
klassisches Abwehrmuster besteht in der Unterstellung, Einkommen sofort beim Kind angerechnet. Auch das ist
es gebe nicht genügend kompetente Frauen. Das ist sehr nicht im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit.
bezeichnend. Auch als in Norwegen im Jahre 2006 die
40-Prozent-Quote eingeführt wurde, warnte manch einer (Beifall bei der LINKEN)
vor einem Mangel an kompetenten Frauen. Die Praxis
konnte diese Sorge ausräumen. Glauben Sie ernsthaft, Ich rufe all jenen Frauen und Männern, die sich heute
dass all die Männer, die hochbezahlte Posten in Auf- so engagiert für Geschlechtergerechtigkeit auf den obe-
sichtsräten haben, nur aufgrund ihrer Kompetenz dort ren Etagen einsetzen, zu: Sorgen wir dafür, dass
sitzen? Geschlechtergerechtigkeit auf allen Etagen der Einkom-
menshierarchie herrscht! Wir brauchen Geschlechter-
(Mechthild Rawert [SPD]: Nein!) gerechtigkeit in den Chef- und Chefinnenetagen genauso
wie im Erdgeschoss. Stellen wir endlich die Bedarfsge-
Glauben Sie ernsthaft, dass dabei nicht auch Vitamin B,
meinschaft auf den Prüfstand!
also Beziehungen zu – ich sage es einmal so – eher män-
nerlastigen Machtnetzwerken, eine Rolle gespielt hat? (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
(Mechthild Rawert [SPD]: Ja! – Kathrin
(B) NIS 90/DIE GRÜNEN]) (D)
Vogler [DIE LINKE]: Seilschaften!)
Eine weitere Verzögerungstaktik besteht darin, auf die Die Linke meint, es bedarf beides: der Abschaffung
Freiwilligkeit der Wirtschaft zu setzen. Das haben schon der Bedarfsgemeinschaft sowie einer Quote für Auf-
mehrere Regierungen hintereinander versucht. Das Er- sichtsräte. Dafür spricht vieles, unter anderem Folgen-
gebnis ist bekannt: Weniger als 1 Prozent der Vorstände des: Je mehr Chefinnen es gibt, desto mehr wird unsere
in den 100 größten deutschen Unternehmen sind weib- Vorstellung von guter Führung von ihren männlichen
lich. Insgesamt, so sagt man, besetzen Frauen maximal Prototypen losgelöst. Diese Vorbildwirkung auf die Be-
10 Prozent der Posten in Aufsichtsgremien. Die Bundes- rufswünsche von jungen Mädchen ist nicht zu unter-
kanzlerin und Ministerin Schröder wollen trotzdem wei- schätzen.
terhin auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft setzen. Ich (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sage es einmal so: Im Vergleich dazu ist der Glaube an NEN]: Sie sollten einmal für den Fraktions-
den Weihnachtsmann ein geradezu seriöses Projekt. vorsitz kandidieren! Das wäre dann auch eine
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie Frau!)
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Wir wollen schließlich, dass in Zukunft mehr junge
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Mädchen, die nach ihrem Berufswunsch gefragt werden,
Die Linke meint: Wenn wir Geschlechtergerechtigkeit nicht „Balletttänzerin“, sondern auch „Chefin“ antwor-
wollen, dann brauchen wir verbindliche Regelungen. ten.
Wir dürfen uns von der Wirtschaft nicht länger auf der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist reif für
Nase herumtanzen lassen. eine geschlechtergerechte Besetzung der Aufsichtsräte.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Mindestens jeder zweite Aufsichtsposten gehört in Frau-
neten der SPD) enhand.
Die Frauenquote in Aufsichtsräten ist natürlich kein Danke schön.
Allheilmittel zur Überwindung des Patriarchats. Dazu
(Beifall bei der LINKEN)
sind die Benachteiligungen von Frauen zu tief in unserer
Gesellschaft verankert. So manches Gesetz verschärft
sie sogar. Eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sind die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemein- Nächste Rednerin ist die Kollegin Bracht-Bendt für
schaft bei Hartz IV. Das Wort „Bedarfsgemeinschaft“ ist die FDP-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10103
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) (Beifall bei der FDP) del in der Wirtschaft gibt, eine starre Quote in der Ver- (C)
bindung mit Sanktionen einfordert.
Nicole Bracht-Bendt (FDP): (Zurufe von der SPD und der LINKEN)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, und
Wenn es nach der SPD-Fraktion ginge, würde man die dieser stellt für uns Liberale in dieser Legislaturperiode
Gesetzeskeule herausholen, und alle Fragen wären ge- die Grundlage dar. Im Koalitionsvertrag haben wir einen
löst. Stufenplan verabschiedet, und dieser sieht als ersten
Schritt die Berichtspflichten, also die Offenlegung der
(Caren Marks [SPD]: Nein, nicht alle!) Unternehmen über die Besetzung ihrer Führungspositio-
Erst einmal gibt es eine staatlich verordnete Frauen- nen, vor.
quote, und dann werden familienfreundliche Arbeitszei-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten ganz einfach per Gesetz geregelt, wie es die SPD-
NEN]: Die haben wir schon viele Jahre! –
Fraktion erst vor wenigen Tagen in einer Pressemittei-
Caren Marks [SPD]: Das ist so was von ver-
lung gefordert hat.
quast! Das hat die Ministerin selbst nicht ver-
Die Wirtschaft an die Kandare zu nehmen und ihr standen, als sie es vorgestellt hat!)
vorzuschreiben, wen sie einstellen soll und wie Famili-
enfreundlichkeit umzusetzen ist, ist ein Witz. Mit uns Li- 2013 wollen wir evaluieren, und dann werden wir sehen,
beralen ist das nicht zu machen. was zu tun ist.

(Caren Marks [SPD]: Die Frauen stehen auf Wir Liberale setzen auf die Eigenverantwortung der
dem Abstellgleis bei den Liberalen!) Unternehmen.

Es steht außer Frage: Nach wie vor sind gerade einmal (Beifall bei der FDP – Zuruf von der LIN-
3,2 Prozent der Vorstandsposten der 200 größten Unter- KEN: Ah!)
nehmen mit Frauen besetzt. Das ist nicht akzeptabel, und Selbstverpflichtung, wie es die Telekom vormacht, ist
das muss sich ändern. Aber starre, gesetzlich verankerte für die FDP-Fraktion zum jetzigen Zeitpunkt das Instru-
Frauenquoten sind der falsche Weg. ment, das wir von den Unternehmen erwarten. Die Wirt-
(Beifall bei der FDP – Dagmar Ziegler [SPD]: schaft ist also in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, da-
Was ist denn der richtige?) mit Frauen auf dem Weg nach oben nicht länger
ausgebremst werden.
Ich bin froh, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel der
(B) Frauenquote eine Absage erteilt hat. Starre Quoten sind (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
mit dem Grundgesetz ohnehin nicht vereinbar, wie der NEN]: Und wenn sie es nicht macht?)
Verfassungsrechtler Ossenbühl dem Familienministe-
rium gerade bescheinigt hat, Die FDP-Fraktion unterstützt die Kanzlerin in ihrem Ap-
pell, das nicht auf die lange Bank zu schieben.
(Caren Marks [SPD]: Gut, dass die Frauen-
ministerin aufgrund einer Hessen-Quote aus- Für uns ist Diversity das Schlüsselwort. Dabei kann
gewählt wurde!) es aber nicht nur um das Geschlecht gehen, sondern es
muss auch um Herkunft und Lebenserfahrung gehen.
weil sie – ich zitiere – „nicht auf die Herstellung von Die Mischung macht erfolgreich. Jeder feste Prozentsatz
Chancengleichheit, sondern der Ergebnisgleichheit ge- ist für mich eine Form der Diskriminierung, weil er bei
richtet sind“. Dieses Urteil bestätigt die Einschätzung der Personalauswahl unter Umständen Anforderungen
der FDP-Fraktion. an die Stelle überlagert. Außerdem degradiert eine
(Beifall bei der FDP) Quote alle Frauen, die es auch so geschafft hätten.

Für uns ist eine starre Quote nichts anderes als Planwirt- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
schaft. SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
der LINKEN)
(Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Meine Damen und Herren, wenn wir über zu wenige
Frauen auf dem Chefsessel reden, dann haben wir meis-
Personalauswahl im Betrieb ist keine Sache des Staates. tens die Situation in großen Konzernen vor Augen. Wir
Dass die SPD und die Grünen in der Quote das All- sollten uns einmal an mittelständischen Unternehmen
heilmittel sehen, ist nicht neu. orientieren; denn hier sind Frauen in Führungspositionen
längst keine Ausnahme mehr.
(Caren Marks [SPD]: Ein Mittel!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg.
Warum unter rot-grüner Regierung hier nichts passiert Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU])
ist, frage ich mich natürlich.
Der Mittelstand praktiziert längst, worüber wir die ganze
(Miriam Gruß [FDP]: So ist es!)
Zeit reden. Viele Unternehmen sind flexibel bei der Ge-
Ich frage mich aber auch, warum die Arbeitsministerin staltung von Arbeitszeiten; es gibt individuelle Lösun-
ausgerechnet jetzt, wo es endlich Signale für einen Wan- gen. Die Grundhaltung ist dort häufig eine andere als in
10104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Nicole Bracht-Bendt
(A) den Konzernen: Wer in seinem Beruf gut ist und Kinder konzedieren. Es könnte hier also einmal Morgenröte am (C)
hat, ist flexibel, pragmatisch, organisiert und belastbar. Himmel entstehen.
Familie ist längst keine Privatsache mehr. Viele (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Rot sowieso
Frauen verabschieden sich nach der Geburt eines Kindes nicht!)
nicht mehr für einige Jahre aus der Arbeitswelt – und das
ist auch gut so. Jedes Jahr Auszeit aus dem Beruf heißt Trotzdem muss ich sagen, dass die Aufführung zu der
weniger Gehalt und weniger Rente. Vorbei sind auch die Quote mit einer nicht zuständigen Arbeitsministerin, ei-
Zeiten, in denen die Väter kein Problem mit langen ner zuständigen Ministerin und einer Kanzlerin für mich
Bürozeiten hatten. Viele Väter sind nicht länger bereit, doch irgendwie ganz großes Kino war.
ihren Nachwuchs nur am Wochenende zu erleben. Die (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sich NEN]: Die sind alle nicht da!)
nicht nur mit Kindern, sondern auch, wenn pflegebedürf-
tige Angehörige zu versorgen sind. Ich finde es aber schade, dass dieser Film in den Medien
aufpoppen darf, während es keine einzige der Vertrete-
Dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Spit- rinnen für nötig gehalten hat, hier zu erscheinen und mit
zenverbänden der deutschen Wirtschaft jetzt die Charta uns darüber zu diskutieren.
für familienbewusste Arbeitszeiten unterzeichnet hat,
zeigt, dass Politiker und Wirtschaftsvertreter dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Thema ernst nehmen. Langzeitkonten, Telearbeit, Teil- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
zeit oder Gleitzeit sind die Stichworte, mit denen die LINKEN)
Vereinbarkeit erleichtert wird. Familiengerechte Struktu-
ren erfordern Kreativität und schaffen Win-win-Situatio- Ich verstehe die Zwischenrufe der Frauen zu einer
nen. Das ist es, was wir wollen. früheren, anderen Regierungsbeteiligung. Ich will aber
gar nicht nur Aufarbeitung betreiben.
(Beifall bei der FDP)
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Doch! Das wäre
Wir wollen keine einseitigen Lösungen, sondern Ar- schon gut!)
beitsbedingungen, die den Spagat zwischen Familie und
Beruf für Frauen und Männer erleichtern. Ich zitiere einen Satz, der von mir kommen könnte, aber
in dieser Variante nicht von mir kommt. Der Satz heißt:
(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Es ist ein ziemlicher Skandal, dass in den 200 größten
Das steigert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter, deutschen Unternehmen nur 3 bis 4 Prozent der Spitzen-
funktionen mit Frauen besetzt sind. – Er stammt von
(B) sondern auch die Produktivität des Unternehmens. Frau Merkel. (D)
Berichtspflichten als erster Schritt des Stufenplans,
die Selbstverpflichtung der Unternehmen und flexible (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie hat recht!)
Arbeitszeiten – das sind für mich im Moment die wich-
Wer den Mund so spitzt, der muss aber auch pfeifen.
tigsten Herausforderungen, denen wir uns stellen müs-
sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nach
dem, was Sie heute hier ausgeführt haben, erstaunt es Wer die Richtlinienkompetenz hat, der sollte auch einen
mich schon, dass es Ihnen in der letzten Legislaturpe- Vorschlag machen, der hier diskutiert wird. Gutes Zure-
riode nicht gelungen ist, gemeinsam mit der SPD den den hilft hier nicht.
Stufenplan auf den Weg zu bringen. Nach 60 Jahren Verfassung des Grundgesetzes und
(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: War 10 Jahren Selbstverpflichtung müssen wir uns doch fra-
das eine Giftspitze in Richtung Union?) gen: Wo ist eigentlich das Primat der Politik?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und bei der SPD)
Die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen ist nun die nächste Rednerin. Wir müssen heute feststellen, dass die Frauen in diesem
Land das nicht mehr akzeptieren. Unternehmerinnen ha-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ben den Verband FidAR gegründet, eine Initiative für
Dorothee Bär [CDU/CSU]: Die Wahlkämpfe- mehr Frauen in die Aufsichtsräte. Der Deutsche Juristin-
rin!) nenbund setzt sich seit ewig und drei Tagen dafür ein.
Der Verband deutscher Unternehmerinnen ist mittler-
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weile ganz dicht dran. Alle sagen: Wir wollen nicht mehr
Meine Damen! Meine Herren! Als wir im Dezember warten; wir wollen jetzt Taten sehen.
des letzten Jahres über den Antrag der Grünen diskutiert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
haben, eine Mindestquote für Frauen und Männer in den sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aufsichtsräten von 40 Prozent einzuführen, war die De-
batte durchaus kritischer als heute; das will ich durchaus Das spricht insbesondere uns Frauen im Bundestag an.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10105
Renate Künast
(A) Mit Verlaub, ein leichter Spott muss sein: Das Motto Ich will nicht mit einem Zitat von Elisabeth Selbert (C)
„Verpflichtung zur Selbstverpflichtung“, das die Minis- schließen, die die SPD in den Parlamentarischen Rat ent-
terin ausgegeben hat, erinnert mich an eine Übersetzung sandt hat, sondern mit einem Satz von Monika Grütters
des Wortes „Schizophrenie“ ins Deutsche: Spaltungsir- von der CDU, die gesagt hat, es wäre naiv, einfach so
resein. Sie will eine Verpflichtung zur Selbstverpflich- weiterzumachen. Lassen Sie mich von Herzen einen
tung – nach 60 Jahren Grundgesetz und 10 Jahren Wunsch an alle Männer, aber vor allem an alle Frauen
Selbstverpflichtung. Wir haben zudem nach der Wende des Deutschen Bundestags richten. Wer, wenn nicht wir
einen Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz verankert. Frauen, ist jetzt gefragt, zu sagen: „Das Recht nehmen
Denn schon das, was Elisabeth Selbert und andere wir uns auch raus“? Bei Themen wie Patientenverfügung
Frauen seinerzeit im Parlamentarischen Rat erkämpft ha- oder PID nehmen sich oft Frauen, aber auch viele Män-
ben, wurde für zu eng empfunden und in einen aktiven ner mit Hinweis auf die Gewissensfreiheit das Recht he-
Gleichstellungsauftrag umgewandelt. Der Staat muss für raus, eine Initiative aus der Mitte des Hauses vorzuschla-
die Gleichstellung Sorge tragen. Nach alledem reicht uns gen.
die Verpflichtung zur Selbstverpflichtung nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wenn jetzt jemand sagt, eine Quote sei diskriminie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
rend – tatsächlich wäre sie keine Frauenquote, sondern Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
eine Mindestquote beider Geschlechter –, dann sollten
wir zunächst einmal die jetzige Situation betrachten. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. – Nachdem wir den Rechts-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
anspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt und
NEN]: Das ist diskriminierend!)
erkämpft haben, dass die Vergewaltigung in der Ehe ge-
Eine fast hundertprozentige Männerquote in den Vor- nauso strafbar ist wie die Vergewaltigung außerhalb der
ständen und Aufsichtsräten ist die schärfste Diskriminie- Ehe, sage ich deutlich: Meine Fraktion ist bereit, den
rung. Dieser Zustand ist verfassungswidrig. 40-Prozent-Antrag beiseitezuschieben und gemeinsam
mit Ihnen die Initiative zu ergreifen. Darum werbe ich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Alle Frauen dieses Bundestages verfassen gemeinsam
und bei der SPD)
einen neuen Antrag. Lassen Sie uns mit dem Aufsichts-
Der aktive Gleichstellungsauftrag, dass Frauen überall rat anfangen.
vertreten zu sein haben, wird nicht ernst genommen und
(B) (D)
nicht realisiert. In Wahrheit geht es uns nicht darum, Pri- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
vilegien für Frauen zu schaffen, sondern darum, diesen Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit weit über-
verfassungswidrigen Zustand endlich abzuschaffen. schritten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir Frauen müssen das jetzt beginnen.
Die Frauen machen die Hälfte der Menschen des Landes
aus. Nicht wir Frauen müssen begründen, warum wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wohin wollen, sondern die Männer müssen begründen, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
warum immer nur sie die Stühle besetzen. Das ist die der SPD)
Wahrheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Kollegin Dorothee Bär hat nun für die CDU/
der SPD) CSU-Fraktion das Wort.
Wie erklären wir eigentlich den Abiturientinnen, de- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ren Anteil 55 Prozent beträgt, diese Situation? Frau neten der FDP)
Schön hat vorhin gesagt, ihre Generation solle nicht
auch noch warten müssen. Wie erklären wir den Hoch- Dorothee Bär (CDU/CSU):
schulabsolventinnen, deren Anteil 51 Prozent beträgt, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
dass sie warten sollen? Der Anteil der Absolventinnen Kollegen! Wir müssen hier heute nicht debattieren, was
der Wirtschaftswissenschaften beträgt bei besseren Ab- wäre, wenn hier vor zehn Jahren seriöse Politiker regiert
schlüssen als die männlichen Absolventen 55 Prozent. hätten
Wie erklären wir dem deutschen Unternehmerinnenver-
(Zurufe von der SPD: Oh!)
band mit seiner Datenbank für topqualifizierte Frauen, in
der 400 Frauen geführt werden, die sofort in die Auf- und nicht Cohiba, Barolo und Brioni die Politik der Bun-
sichtsräte eintreten könnten, dass wir nicht endlich Maß- desrepublik Deutschland geprägt hätten.
nahmen ergreifen?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sönke Rix [SPD]: Sie können es ja besser ma-
sowie bei Abgeordneten der SPD) chen!)
10106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dorothee Bär
(A) Man muss sich nur einmal alte Zeitungsartikel an- positiv sehen. Ich sehe das positiv, weil es bedeutet, dass (C)
schauen. Familienministerin Bergmann hat schon im das Thema angekommen ist, dass sich in der Zielset-
September 2000 Eckpunkte für ein Gleichstellungsge- zung, dass wir mehr Frauen brauchen, alle einig sind,
setz vorgelegt. Dann gab es, wie zu erwarten, Wider- dass erkannt wurde, dass wir mehr Frauen in Führungs-
spruch von Hundt und Rogowski bei Bundeskanzler positionen brauchen und dass es jetzt um ein Ringen um
Schröder. Daraufhin hat Herr Uwe-Karsten Heye gesagt die beste Lösung geht.
– Zitat in der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2001 –:
(Caren Marks [SPD]: Frau Merkel ringt nicht!)
Es gibt auf beiden Seiten keine große Neigung, ein gro-
ßes regulatives Gesetz zu machen. Man kann machen, was vor zehn Jahren die rot-grüne
Bundesregierung getan hat, sich nämlich mit erhobenem
(Zuruf von der SPD: Und was wollen Sie?)
Zeigefinger hinstellen und den Unternehmen sagen:
Gleiches Zitat von Wirtschaftsminister Werner Müller: „Du, du, du! Wenn ihr jetzt nichts macht, dann passiert
Wir brauchen eine Selbstverpflichtung. Auch bei den wieder nichts.“
Grünen, Frau Margareta Wolf, Parlamentarische Staats- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sekretärin, heißt es: Wir setzen auf Eigeninitiative. Ge- NEN]: Warum gehen Sie eigentlich nicht auf
setzliche Verpflichtungen brauchen wir nicht. mein Angebot ein?)
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Man kann aber auch einmal überlegen, wie es weiter-
Im Juli 2001 war es dann so perfide, dass die arme geht.
Frau Bergmann von Bundeskanzler Schröder gezwun- Meine Kollegin Nadine Schön hat schon ausgeführt,
gen wurde, dass es da etwas ganz Schlimmes gibt. Dieses schlimme
(Christel Humme [SPD]: Keine Krokodilsträ- Wort heißt Quote. Ich bin der festen Überzeugung, dass
nen bitte!) das Schlimmste an der Quote das Wort „Quote“ ist; denn
wir haben das Problem, dass das ein verbranntes Wort
auf Druck das Scheitern auch noch positiv darzulegen. ist.
Sie musste bejubeln, dass es quasi zu keinem Ergebnis
gekommen war, und hat in einem langen Interview mit (Lachen bei der SPD – Zurufe von der SPD
der Welt am 5. Juli 2001 gesagt: Wir haben etwas ganz und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Großartiges geleistet. Das wird die Republik verändern. – Das Problem ist, dass Sie durch Ihr Geschrei überhaupt
(Dagmar Ziegler [SPD]: Schnee von gestern!) nicht kapieren, was ich hier sage; aber das spricht natür-
lich auch eine deutliche Sprache.
(B) Ich darf sie noch einmal aus 2001 zitieren, als sie gesagt (D)
hat: Gute Kräfte werden knapp. Das Thema Chancen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
gleichheit ist in Deutschland zu lange vernachlässigt Es geht immer auch um das Qualitätsargument. Wenn
worden. – Das spannendste Zitat, das man nicht nur Sie sich einmal den Bundestag mit seinen etwa
2001 glauben konnte, sondern das auch für 2011 ange- 600 männlichen und weiblichen Abgeordneten an-
messen wäre: Nach wie vor ist vielen hiesigen Arbeitge- schauen, dann stellen sie fest, dass jeder zweite Abge-
bern, im Vergleich zu den USA, noch nicht klar gewor- ordnete und jede zweite Abgeordnete hier ein Quotenab-
den, über welches Potenzial wir hier mit den gut geordneter und eine Quotenabgeordnete ist.
qualifizierten Frauen verfügen, die wir in der nächsten
Zeit dringend brauchen werden. (Elke Ferner [SPD]: Ich bin keine Quotenab-
geordnete!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jeder Einzelne, der über die Liste gewählt wurde, ist ein
Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, dass damals schon Quotenabgeordneter, weil jeder auf der Landesliste ge-
erkannt wurde, was sich eigentlich bis zum Jahr 2011 landet ist, weil man eine Frau oder ein Mann ist, weil
überhaupt nicht geändert hat. Jetzt gibt es eine Aktuelle man aus einer bestimmten soziologischen Gruppe
Stunde mit dem Thema „Unterschiedliche Auffassungen kommt, weil man aus Proporzgründen einen bestimmten
in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote“. Bereich seines jeweiligen Landes vertritt. Wenn es also
(Mechthild Rawert [SPD]: Wo wir recht ha- immer nur bei Frauen heißt, es gehe um die Qualität,
ben, haben wir recht!) dann ist das mit uns nicht zu machen. Ich persönlich bin
nicht bereit, das, was Rot-Grün vor zehn Jahren ver-
Ich muss einmal sagen: Das Thema „Frauenquote“ bzw. murkst hat, noch einmal zehn Jahre lang mitzumachen.
„Beteiligung von Frauen“ ist in keiner anderen Regie-
rung so angekommen wie in dieser Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wollen die Zustände jetzt ändern und keine leeren
neten der FDP – Lachen bei der SPD, der LIN- Drohungen mehr. Uns geht es nicht mehr um das Ob, es
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – geht nur noch um das Wie. Deswegen bin ich unseren
Caren Marks [SPD]: Da müssen Sie doch sel- Ministerinnen sehr dankbar. Sowohl Frau von der Leyen
ber lachen, Frau Bär!) als auch Frau Schröder haben sich klar dazu bekannt.
Das ist wesentlich mehr, als Sie in zehn Jahren gemacht
Man kann es negativ sehen, so wie Sie, dass es unter- haben. Denjenigen, die behaupten, dass es dramatisch
schiedliche Auffassungen gibt. Man kann das aber auch wäre, dass die Ministerinnen heute nicht anwesend sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10107
Dorothee Bär
(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in die Vorstands- und Führungsetagen von Unternehmen (C)
Die haben doch gar nichts gemacht!) einkehrt.
– hören Sie mal zu, Frau Künast; nicht nur an Wahl- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
kampf denken, sondern auch mal zuhören –, DIE GRÜNEN)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Darum geht es. Warum? Wieso sollten, wenn das nicht
NEN]: Ich höre ja zu!) der Fall ist, die Männer, die da sitzen, bessere Arbeits-
zeiten organisieren? Die Männer haben diese Belastung
kann ich nur sagen: Es macht eine gute Chefin aus, so zwischen Kindern und Beruf oder – noch konkreter –
gut zu sein, dass sie sogar an ihren männlichen Staatsse- zwischen Karriere und Kindern überhaupt nicht. Das
kretär delegieren kann. müssen doch in der Zeit ihre Frauen machen. Oder sie
Vielen Dank. haben keine Kinder. Es geht doch darum, dass die Ar-
beitszeitmodelle verbessert werden, dass wir Arbeit und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Leben wieder besser miteinander verbinden können, und
chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE das partnerschaftlich.
GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das war unterstes Niveau! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Das ist doch das Mindeste, dass sie Weisungen DIE GRÜNEN)
durchsetzen!)
In der Rushhour des Lebens, im Alter zwischen 20
und Ende 40, sollen wir alles machen: Karriere machen,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kinder bekommen und eine gute Partnerschaft führen.
Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die Das wird in Wahrheit nicht funktionieren, wenn nicht
SPD-Fraktion. auch andere Modelle des Zusammenlebens und des Zu-
sammenführens von Arbeiten und Leben möglich sind,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zum Beispiel mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen.
DIE GRÜNEN) Das muss doch auch Ihr Interesse sein. Es geht darum,
hier etwas voranzubringen, und nicht darum, hier einen
Sigmar Gabriel (SPD): Schaumstreit abzuhalten. Ihre Kanzlerin hat jetzt eine
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zualler- Ministerin in den Senkel gestellt und der anderen auch
erst möchte ich den Vorschlag der Kollegin Künast für nicht richtig geholfen. Ich sage bei Flexiquoten und all
die SPD-Fraktion annehmen. Frau Künast, wir haben solchem Quatsch nur eins: Es gibt einen alten Grundsatz:
(B) aber die Bitte, dass die Kerle auch unterschreiben dür- Mit Gänsen können Sie nicht über einen Weihnachtsbra- (D)
fen, von mir aus hinten. ten diskutieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN
DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ernsthaft gesprochen finde ich, dass wir uns bei die- Das geht nicht, auch nicht, wenn es männliche Gänse
sem Thema ein gutes Maß an Souveränität nehmen dür- sind; da schon gar nicht. Das funktioniert nicht. Lassen
fen. Wir dürfen doch sagen – das ist der berechtigte Vor- Sie es also sein.
wurf von CDU/CSU und FDP –, dass wir in unserer
Am Ende möchte ich ein Beispiel nennen, wo wir im
Regierungszeit die Quote nicht hinbekommen haben.
Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt. Wir haben der Alltag etwas nicht tun, was aber den Frauen richtig hel-
fen könnte: Ich bin sehr für die Quote, aber ich will mir
Wirtschaft zu lange geglaubt, übrigens nicht nur da. Ich
nicht mehr diktieren lassen, dass das nur für Redaktions-
war einmal Umweltminister. Fragen Sie doch den jetzi-
leitungen im Spiegel wichtig ist oder für die Vorstände
gen, wie viele Selbstverpflichtungserklärungen die deut-
der 30 DAX-Konzerne. Ich will, dass wir auch für die
sche Wirtschaft im Umweltschutz abgegeben hat: im
Frauen etwas machen, die davon lange Zeit nichts haben
Dutzend billiger. Der Unterschied zwischen uns und Ih-
werden: für die Kassiererinnen im Einzelhandel, für die
nen ist nur: Sie wollen denen immer noch glauben. Wir
Beschäftigten im Handwerk und für andere. Für diese
tun das nicht.
Gruppe müssen wir endlich durchsetzen: Gleicher Lohn
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für gleiche Arbeit. Darum geht es doch in Deutschland.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ich kenne Ausnahmen, die der Wirtschaft nicht glauben DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
wollen. Eine sehe ich vor mir. LINKEN)
Lassen Sie es uns nicht so schwer machen. Wir kön- Da fallen Sie den Frauen in den Rücken, Frau von der
nen zunächst mit dem Stufenplan anfangen. Es geht Leyen vorweg; denn das Prinzip „Gleicher Lohn für
doch um Folgendes: Sie alle, auch die Vorrednerin, wis- gleiche Arbeit“ war Gegenstand der Hartz-IV-Verhand-
sen besser als jeder männliche Kollege, der hier redet, lungen. Dort haben Sie dagegen gestimmt. Die Mehrzahl
dass die Sichtweise von Männern und Frauen auf den der Leiharbeitnehmer sind Frauen. 70 Prozent der
gleichen Alltag oftmals ganz unterschiedlich ist. Die Frauen müssen für miserable Löhne arbeiten. Sie haben
Quote soll dazu dienen, dass die Sichtweise von Frauen es in der Hand, für diese Frauen etwas zu tun: Gleicher
10108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Sigmar Gabriel
(A) Lohn für gleiche Arbeit. Sie aber lassen alles laufen und Jetzt kommen wir zurück zur Aktuellen Stunde, in der (C)
kümmern sich nicht. es eigentlich um zwei Themenbereiche geht. Der eine
betrifft, wenn ich es so nennen darf, den Vorwurf der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielstimmigkeit in der Bundesregierung, der andere be-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf trifft die Frage, warum man nicht mit starren Quoten ar-
der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) beitet. Auf beides möchte ich jetzt eingehen, weil ich das
– Nein, es geht nicht um Veralbern. Es geht schon da- für ein wichtiges Thema halte.
rum, dass du nicht nur abstrakte Debatten für einen Teil (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der Gesellschaft führst, es geht schon darum, dass du NEN]: Tut man doch jetzt schon! 100 Pro-
zeigst, dass du die im Blick hast, die ganz schlecht ver- zent!)
dienen.
Frau Künast, es ist ganz interessant – den Ball nehme
Jedes Jahr werden wir von der Europäischen Kom- ich auf –, dass Sie der Bundesregierung den Vorwurf der
mission gemahnt, dass es in Deutschland, was die glei- Vielstimmigkeit machen. Ich kann erst einmal nicht er-
che Bezahlung von Männern und Frauen betrifft, am kennen, was ein Problem daran sein soll, mit unter-
schlechtesten bestellt ist. Fast 25 Prozent weniger ver- schiedlichen Arbeitshypothesen in eine Diskussion zu
dienen Frauen gegenüber Männern bei vergleichbaren gehen. Zu diskutieren, muss auch einer Bundesregierung
Tätigkeiten. Im selben Betrieb, in derselben Altersstufe, möglich sein. Dass Sie, ausgerechnet die Grünen, der
im selben Beruf liegen die Frauenlöhne 12 Prozent unter Bundesregierung Vielstimmigkeit vorwerfen, ist doch
denen ihrer Kollegen an der Werkbank oder im Einzel- ein Treppenwitz. Ich darf Sie an eines erinnern: Ihre Par-
handel nebenan. Das wird jedes Jahr angemahnt. teivorsitzende Claudia Roth, die das Thema offensicht-
Olaf Scholz hat als Arbeitsminister in der Großen Ko- lich nicht ausreichend interessiert, um hier an der De-
alition dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Wer hat batte teilzunehmen, konnte es gar nicht abwarten, um
den denn gestoppt? Den hat unter anderem Frau von der sich auf Frau von der Leyen zu stürzen, als sie ihr Mo-
Leyen im Kabinett gestoppt. dell vorstellte. Sie hat dann den Vorwurf erhoben – ich
darf die dpa vom 31. Januar zitieren –, das sei eine Mo-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gelpackung, weil sich der Vorschlag nur auf die börsen-
notierten Unternehmen beziehe, also die großen Unter-
CDU und CSU waren nicht bereit, diesen Gesetzent- nehmen.
wurf, der ein Schritt auf dem Weg zu gleichem Lohn für
gleiche Arbeit war, ins Kabinett einzubringen, ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schweige denn in den Deutschen Bundestag. Reden Sie NEN]: Plus mitbestimmungspflichtige!)
(B) also nicht ständig über etwas, was Sie im Alltag in (D)
Das sei das Schlechte an dem Vorschlag. Das Interes-
Wahrheit nicht wollen, sondern setzen Sie sich als Parla- sante ist, dass die grünen Fachleute, wenn sie hier An-
mentarier und Parlamentarierinnen so durch, wie die träge stellen, genau das fordern. Zuletzt haben sie das in
Kollegin Künast es gesagt hat! Unsere Unterstützung ha- der Drucksache 17/3296 gefordert. Da heißt es wörtlich:
ben Sie. Aber machen Sie das nicht nur für die DAX-
Vorstände, sondern auch für die, die es verdammt schwer Der Mindestquote unterfallen börsennotierte und
haben, für gute Arbeit endlich gutes Geld zu bekommen! der Mitbestimmung unterliegende Gesellschaften.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es sind also nur große Unternehmen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Beide! Sie können nicht rechnen! Das
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ist ein Unterschied von 3 DAX-Unternehmen
Nächster Redner ist der Kollege Marco Buschmann oder 5 000 Unternehmen!)
für die FDP-Fraktion. Es ist doch ein Treppenwitz, dass Sie Frau von der
(Beifall bei der FDP) Leyen ausgerechnet in dem Punkt einen Vorwurf ma-
chen, bei dem Gemeinsamkeiten mit den Grünen beste-
hen. Das zeigt: Frau Roth ging es überhaupt nicht um die
Marco Buschmann (FDP): Sache – sie hat sich damit überhaupt nicht vertraut ge-
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und macht –, sondern ihr ging es nur um Verhetzung eines
Kollegen! Nichts hat das Desinteresse von Herrn Gabriel Mitglieds der Bundesregierung.
am Thema so belegt wie diese Rede. Sie haben nicht zur
Sache gesprochen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Elke Ferner [SPD]: Was?)
Sie hatte dabei so viel Schaum vorm Mund, dass sie gar
sondern Sie haben die Aktuelle Stunde missbräuchlich nicht mehr erkennen konnte, was die eigenen Fachleute
zum Forum für eine Wahlkampfrede gemacht, die zum vortragen. Das ist eben auch eine Form von Misstrauen.
Thema dieser Aktuellen Stunde nichts beigetragen hat.
Nichts dokumentiert das Desinteresse mehr als dieser Nun komme ich zur Frage der Quote und der Frage,
Beitrag. warum wir uns in der Koalition und auch in der Regie-
rung dagegen entschieden haben. Einmal ist aus gesell-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schaftsrechtlicher Sicht – ich stehe ja als Rechtspolitiker
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10109
Marco Buschmann
(A) hier – darauf hinzuweisen, dass es Kollateralschäden Bär beipflichten. Seit 2010 – nach der Regierungsüber- (C)
auch in Norwegen gibt. Sie alle kennen die Beispiele: nahme –
Rechtsformwechsel, Delistings, also die Rückgabe der
Börsennotierung. Sie alle wissen auch, dass die Quote (Caren Marks [SPD]: Wurden wir Frauen per-
eben nicht über Nacht dazu geführt hat, dass mehr manent verschaukelt!)
Frauen in Verantwortung kommen. Vielmehr konzen- haben wir einen geänderten Corporate-Governance-Ko-
triert schlichtweg die gleiche Anzahl an Frauen mehr dex, der jetzt auf mehr Diversity inklusive stärkerer Be-
Mandate auf sich. Das hat in Norwegen zu dem ganz un- teiligungen der Frauen setzt.
angenehmen Effekt geführt, dass mittlerweile eine neue
Diskriminierung umgeht. Es geht der Begriff der „Gold- (Zurufe von der SPD und der LINKEN: Oh!)
röcke“ um. Man schaut eben nicht mehr auf die Leistun- Und siehe da: Wir haben eine zuständige und anwesende
gen der Frauen, sondern macht ihnen neue Vorwürfe. Ministerin, die die Wirtschaft in die Pflicht nimmt. Seit-
Das ist kein Vorteil für die Frauen. dem sehen wir doch, dass etwas passiert. Wir sehen es
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bei Eon und bei der Telekom. Daimler bringt Kandida-
tinnen ins Spiel, Karstadt bringt Kandidatinnen ins Spiel.
Sie verweigern sich auch einer fundierten Analyse.
Frau Künast knüpft immer an die Berufsabschlüsse an (Zurufe von der SPD: Massenhaft!)
und zieht dann den Rückschluss auf die berufliche Kar- Die extrem prominenten Personalmaklerinnen Christine
riere. Das Entscheidende ist doch, was dazwischen pas- Stimpel und Yvonne Beiertz sagen doch, sie kommen bei
siert. Wenn wir in die Erwerbsbiografien schauen, stel- der Vermittlung weiblicher Führungskräfte der Nach-
len wir fest, dass der entscheidende Dreh für den Sprung frage gar nicht mehr hinterher.
in diese Führungspositionen irgendwo zwischen 35 und
40 Jahren gesetzt wird. Da kommt der große Swing. Das mag noch zu langsam sein. Vielleicht können wir
es uns schneller vorstellen. Aber man kann Strukturen,
(Lachen bei der SPD – Caren Marks [SPD]: die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte falsch einge-
Der Mann hat wirklich Angst vor guten pendelt haben, nicht mit Gewalt über Nacht ändern.
Frauen! Sie sind den Kinderschuhen nicht ent-
wachsen!) Wir gehen einen Weg, der zielgerichtet ist, und wir
werden Erfolg haben. Im Ergebnis muss man Ihnen,
Es ist auch hochinteressant, zu sehen, dass viele top aus- Herr Gabriel und Frau Künast, sagen: Der Anlass dieser
gebildete, kluge und auch erfolgreiche Frauen genau in Aktuellen Stunde war nicht die Sache. Sie wollten hier
diese Zeit die Kinderphase legen. Wahlkampf machen und mehr nicht. Das hat das Thema
(B) nicht verdient. Dafür ist es zu wichtig. (D)
(Caren Marks [SPD]: Wann haben denn die
Männer ihre Kinderphase? Sie sind immer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
noch in der Kinderphase! – Weitere Zurufe
von der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das heißt doch, dass das Thema der Vereinbarkeit von Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun
Familie und Beruf und nicht die Quote das Entschei- Monika Lazar das Wort.
dende ist.
(Beifall bei der FDP) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich sage Ihnen an einem Beispiel, wie das Frauen, die Herr Buschmann, Sie waren leider wieder der Tiefpunkt
beruflich sehr erfolgreich sind, sehen. Ich möchte der Debatte.
Daniela Weber-Ray, eine fantastische Frau, zitieren. Sie
ist Partnerin einer internationalen Sozietät, und sie (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
schrieb im Handelsblatt vor zwei Tagen: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks
[SPD]: Der Tiefflieger!)
Wir brauchen Unterstützung des Staates nicht hin-
sichtlich einer gesetzlichen Quote, sondern um den Ich weiß ja nicht, wo die Männer die gebärfähige
Wandel der KKK-Kultur weg von Kinder, Küche, Phase setzen. Aber wenn Sie eins und eins zusammen-
Kirche hin zu Kinder, Krippe, Karriere zu vollzie- zählen können, kommt vielleicht auch bei Ihnen an, dass
hen. die 30- bis 40-jährigen Frauen dort hineinfallen. Viel-
leicht sind Sie irgendwann lernfähig.
Das ist es, worum wir uns kümmern müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann haben Sie denn Wir diskutieren hier ein Thema, und ich habe das Ge-
Ihre Kinderphase?) fühl, wir kommen nur sehr mühsam voran. Es ist wirk-
lich absurd, dass eine allgemein als wichtig anerkannte
Zuletzt möchte ich Sie noch an etwas erinnern. Sie Maßnahme nicht umgesetzt wird. Sogar die FDP disku-
tun immer so, als würde in Deutschland nichts passieren. tiert wieder über eine parteiinterne Quote. Holen Sie
Es ist eine ganze Menge passiert, seit diese Regierung sich eventuell bei der Kollegin Bär von der CSU Anre-
im Amt ist. Insofern möchte ich der Kollegin Dorothee gungen. Die haben das vor kurzem geschafft.
10110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Monika Lazar
(A) Das Schauspiel, das die Koalition und die Bundesre- tigkeit von Frauen völlig normal und auch die (C)
gierung zu diesem Thema aktuell liefern, befindet sich Übernahme von Führungspositionen viel anerkannter,
leider auf Boulevardniveau. Deutschlands Männer und als es teilweise noch heute im Westen der Fall ist. Ich
Frauen schauen fassungslos auf das peinliche Stück. Da- finde, das ist ein Beispiel, bei dem der Westen einmal et-
bei wäre es längst Zeit für Nägel mit Köpfen. was vom Osten lernen kann.
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Noch nie wurde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
so viel über die Quote geschrieben!) bei der SPD und der LINKEN)
Stattdessen haben wir das Machtwort der Kanzlerin, die Ein weiteres Argument ist der gerade vorgestellte
der Frauenquote wieder einmal eine Absage erteilt. Sie Gleichstellungsbericht des Familienministeriums. Auch
trifft sich lieber gemeinsam mit Ministerin Schröder mit dort heißt es: Die Quote ist erforderlich. – Ich frage mich
Vertretern der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Im- wirklich: Welche Argumente brauchen Sie noch? Auch
merhin glauben Letztere nicht mehr, dass der Frauenan- Frau Kollegin Grütters wurde heute schon zitiert. Sie
teil in Deutschlands Wirtschaft von alleine steigt. Arbeit- sagt, es wäre naiv, weiter auf eine Selbstverpflichtung zu
geberpräsident Hundt erklärt aber, dass mehr als 95 Pro- setzen. Es ist schön, dass die Justizministerin anwesend
zent aller Unternehmen bereits Modelle zur Arbeitszeit- ist. Sie hat gestern eine Pressemitteilung herausgegeben.
flexibilisierung anbieten. Ich frage mich: Warum braucht Ich zitiere kurz daraus:
es die x-te Charta dazu? Bezeichnend ist, dass die Charta Dringender Handlungsbedarf besteht bei … Frauen
wieder einmal von vier Männern unterzeichnet wurde. in Führungspositionen. Mehr Frauen in Spitzen-
Erfrischend war auch, in den letzten Tagen zu hören, was positionen sind nicht nur im Interesse der Gesell-
Herr Ackermann dazu gesagt hat: Frauen in Führungs- schaft, sondern gerade auch im Interesse der Wirt-
positionen machen das Leben „farbiger“ und „schöner“. schaft.
Da ätzten selbst das Handelsblatt und Ministerin Aigner,
das sei doch ein typischer Ackermann, nach dem Motto Das sehe ich genauso. Es ist ökonomisch völlig unsin-
„Unser Vorstand soll schöner werden.“ nig, gut qualifizierte Frauen am Aufstieg zu hindern.
Kanzlerin Merkel hat zumindest erkannt: Es ist ein (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
„ziemlicher Skandal“, dass wir kaum Frauen in Füh- NEN]: Sie macht doch gar nichts!)
rungspositionen haben. Aber skandalöse Zustände än- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
dert man doch nicht mit einer Charta oder einer Verein-
macht endlich etwas und gebt nicht nur gute Pressemit-
barung. Wir haben in den letzten zehn Jahren gemerkt, teilungen heraus!
dass die Wirtschaft nichts von alleine macht. Die freiwil-
(B) lige Vereinbarung von 2001 wurde von Frau Bär schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
breit zitiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der sowie bei Abgeordneten der SPD)
Union, wir sind alle etwas weitergekommen, und es hat
Über unseren Gesetzentwurf hat Renate Künast schon
sich herausgestellt, dass einfach nichts passiert. Von da-
etwas gesagt. Im Mai wird es eine Anhörung im Rechts-
her: Bitte keine weiteren freiwilligen Vereinbarungen
ausschuss geben. Herr Buschmann, ich hoffe, dass auch
und Chartas.
Sie dann endlich schlauer werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ministerin Schröder spricht immer von der staatlichen Begrüßenswert ist weiterhin, dass Nordrhein-Westfalen
Einheitsquote. Schauen Sie bitte über den Tellerrand –
jetzt eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat.
die Beispiele sind heute schon genannt worden – nach
Frankreich, Spanien oder Norwegen. Überall hat man Zum Schluss meine Bitte: Lassen Sie uns endlich ge-
gemerkt: Ohne Quote geht es nicht. Wenn Ihnen das meinsam in unserem Lande handeln, damit wir von der
Wort Quote nicht gefällt, dann nehmen Sie bitte ein an- Position eines gleichstellungspolitischen Entwicklungs-
deres Wort. Es ist uns völlig egal. Sie können „Frauen- landes herunterkommen.
qualität“ sagen oder was auch immer. Es kommt nicht
Vielen Dank.
auf das Wort an, sondern es kommt darauf an, dass sich
in unserem Land etwas bewegt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
In Deutschland gibt es beispielsweise Unterschiede Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion.
zwischen Ost und West. Die wenigen Frauen in den Füh-
rungspositionen finden sich häufiger im Osten unseres (Beifall bei der CDU/CSU)
Landes. Das zeigt eine aktuelle Studie des IAB. Eine Ur-
sache ist zum Beispiel die kürzere Unterbrechung der Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Erwerbstätigkeit. Das liegt unter anderem an der besse- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und
ren Kinderbetreuung im Osten. Eine weitere Kompo- Kolleginnen! Wir diskutieren hier über die Äußerungen
nente kommt hinzu: Im Osten war die Vollzeiterwerbstä- der Ministerinnen und der Kanzlerin. Ich stelle zunächst
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10111
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) einmal fest: Diese Äußerungen haben dem Thema end- lich selbstverständlich. Wer das noch nicht mitbekom- (C)
lich die Bedeutung und die Aufmerksamkeit verschafft, men hat, der kann sich gern einmal die Studien von
die es braucht. McKinsey und von Catalyst ansehen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Nun müssen wir den Blick sicherlich auch auf die Un-
der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE terschiede richten. Die Familienministerin hat einen Stu-
GRÜNEN]: Ein PR-Gag!) fenplan vorgelegt, der positive Elemente enthält.
Machen wir uns nichts vor: Wir diskutieren seit Mo- (Caren Marks [SPD]: Was?)
naten über einen konkreten Gesetzesvorschlag der Grü-
nen. Auch die Frauen in der Unionsfraktion haben Be- Er umfasst auch die Vorstände.
schlüsse zum Thema gefasst und der Presse vorgestellt. (Elke Ferner [SPD]: Freiwillig, Frau Kollegin!
Es gab auch den einen oder anderen Artikel im Handels- Freiwillig!)
blatt und im Spiegel. Aber erst dieser Hintergrund, die
Diskussion im Kabinett, gibt dem Thema jetzt die Auf- Zum ersten Mal wird auch das operative Geschäft in den
merksamkeit, die es verdient. Blick genommen. Er hat ein flexibles Element; darüber
lässt sich sicherlich diskutieren. Er verlangt transparente
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Angaben und Vergleichsmöglichkeiten. Ich bin davon
NEN]: Überzeugen Sie bitte auch Ihre Männer
überzeugt, dass schon allein das Wirkung zeigen wird.
in der Fraktion!)
Wir haben ganzseitige Anzeigen im Handelsblatt, in Ich kann mir hier eine Bemerkung nicht verkneifen:
denen dazu aufgerufen wird: Macht es endlich freiwillig! Wenn damals die Vereinbarung zwischen dem Boss der
Sonst kommt die Quote. – Der Vorstandsvorsitzende der Bosse und der Wirtschaft
Deutschen Bank – gerade schon genannt – meldet sich (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
zu Wort. Da hätten Sie gar nicht zugestimmt!)
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- so konkret gewesen wäre wie die jetzige Vereinbarung,
NEN]: Aber peinlich!) dann wären wir heute an einem anderen Punkt.
So manche Wortmeldung zeigt, dass diese Diskussion (Caren Marks [SPD]: Was hindert Sie daran,
sehr nötig ist. jetzt etwas zu tun?)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ich kann mir auch nicht verkneifen, zu sagen, dass
Helga Daub [FDP]) unsere Partei diejenige ist, die die höchste Führungsposi-
(B) (D)
Sie betonen vor allem die Unterschiede, die Unein- tion, die dieses Land zu vergeben hat, mit einer Frau be-
heitlichkeit in den Äußerungen der Ministerinnen und setzt hat; wir stellen die Kanzlerin.
der Kanzlerin. Ich möchte zunächst einmal auf die Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU)
meinsamkeiten eingehen. Sie stimmen überein in dem
Befund, dass der Status quo völlig unakzeptabel ist, dass Auch das ist sicherlich etwas, was für die Frauen in
es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und dass die Situa- Deutschland Symbolwirkung hat.
tion den Unternehmen schadet. Sie ist ungerecht für die
Frauen, die den gleichen Zugang einfach nicht erhalten, Aber ich will auch nicht darum herumreden: Es gibt
obwohl sie die gleiche Qualifikation mitbringen. Über- wesentliche Unterschiede zwischen den Konzepten, was
einstimmung besteht auch darüber, dass wir über einen die Verbindlichkeit angeht. Ich rede hier nicht zum ers-
Mindestanteil in der Größenordnung von plus/minus ten Mal zum Thema Quote. Ich sage ganz klar: Es ist aus
30 Prozent reden. meiner Sicht nicht ausreichend, wenn als schlimmste
Sanktion, als Worst Case, die Pflicht zur Selbstverpflich-
Ich möchte die Gelegenheit dieser Diskussion nutzen, tung kommt, ohne Zeitplan, ohne feste Zielvorgaben,
um noch einmal zu betonen: Die Quote oder eine grö- ohne konkrete Sanktionen. Das kommt mir ein bisschen
ßere Frauenbeteiligung nützt vor allem den Unterneh- so vor, als würde man den Aufsichtsräten sagen: Ihr
men, nicht deshalb, weil Frauen durchweg besser sind müsst jetzt hundertmal „Frauen in den Führungspositio-
– es gibt auch gute Männer in diesen Gremien –, son- nen in meinem Unternehmen sind wichtig und gut“
dern deshalb, weil die Mischung unterschiedlicher Er- schreiben, und dann gehen wir wieder zur Tagesordnung
fahrungen und Denkweisen zu besseren Ergebnissen über.
führt.
(Caren Marks [SPD]: Ackermann muss es
(Beifall bei der CDU/CSU) 500-mal schreiben!)
Wenn zehn Leute in einem Gremium den gleichen Hin- Man muss auch sehen: Die nächsten Wahlen zu den
tergrund haben, dann ist das schlichtweg zu schmalspu- Aufsichtsräten sind im Jahr 2013 und dann erst wieder
rig. Jeder, der mit einer anderen Erfahrung dazukommt, 2018. Nun muss es eine Zeitschiene geben; das ist ganz
ist eine Bereicherung. Das ist der Ansatz der Diversity. klar. Aus meiner Sicht muss spätestens für 2018 wirklich
Dafür kämen auch andere Kriterien infrage, aber „Ge- verbindlich gesetzlich geregelt sein, was passiert.
schlecht“ ist sicherlich das Kriterium, das sich als Erstes
aufdrängt und das naheliegt. Das ist für diejenigen, die (Elke Ferner [SPD]: Mein Gott, was für eine
sich mit dem Thema beschäftigen, mittlerweile wirk- Perspektive, Frau Kollegin!)
10112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) Dafür brauchen wir diese gesetzliche Regelung schon zu einem Zeitpunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo (C)
jetzt. Das macht dann bereits für 2013 einen Unter- sie eigentlich ganz andere Sorgen umtreiben müssten.
schied. Wenn man weiß: „2018 gibt es keinen Weg mehr
daran vorbei“, dann wird man schon 2013 mit einer an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
deren Einstellung darangehen. Erinnern wir uns noch einmal kurz: Nach Monaten des
Nichthandelns bzw. Nichtverhandelns nach dem Urteil
(Elke Ferner [SPD]: Oh, wie ärmlich!)
des Bundesverfassungsgericht zum SGB II rettete sich
Wenn wir aber sagen: „Macht mal bis 2013, dann Frau von der Leyen mit einer ziemlich sinnfreien Chip-
schauen wir, ob wir etwas anderes brauchen“, dann ist kartendiskussion öffentlichkeitswirksam über das Som-
die Dynamik aus der Sache heraus, und wir werden nicht merloch, um uns danach vorzuwerfen, wir würden mit
entsprechend weiterkommen. ihr nicht über die Umsetzung des Verfassungsgerichtsur-
teils reden wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Nun entdeckt sie ihre ganz persönliche Betroffenheit
Ohne verbindliche Regelungen am Horizont werden und Sorge um die vielen Frauen in unserem Lande, die
sich die Closed Shops nicht öffnen. Sie schließen quali- gut ausgebildet sind, aber nicht in führenden Positionen
fizierte Frauen aus; sie schließen aber auch gute Männer der Wirtschaft zu finden sind, und das wieder sehr öf-
aus, die nicht ins Schema passen. fentlichkeitswirksam. Da stört sie auch nicht ihre gegen-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sätzliche Haltung zur Familienministerin, auch nicht ihre
der SPD) gegensätzliche Haltung zur Bundeskanzlerin. Nein, sie
kocht ihr ganz persönliches Süppchen, um sich zu profi-
Wie fest da die Strukturen gefügt sind, das hat uns das lieren und wieder einmal von der Verhandlungsschwä-
manager magazin gerade noch einmal beschrieben. che der Koalition im Vermittlungsausschuss abzulenken.
Wenn man das liest, dann stellt man fest, dass das nichts
mit Bestenauslese zu tun hat, sondern dass es dabei um (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rita
Dinge wie Männerfreundschaften, Bergtouren, Jagder- Pawelski [CDU/CSU]: Dass Sie sich dazu her-
lebnisse und dergleichen geht. Von VW wissen wir ja, geben, ist wirklich schlimm! – Dorothee Bär
was noch so infrage kommt, um die Gruppendynamik zu [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen das aufgeschrie-
stärken. ben?)

Ich habe nichts gegen Männerfreundschaften und Die Bundeskanzlerin hat sie ja nun wieder ins Glied
Freizeit ohne Frauen, aber das kann nicht das Kriterium zurückgeschickt. Was kommt nun für die Frauen in unse-
rem Land dabei heraus? Nichts, wieder einmal gar
(B) sein, wenn es um Führungspositionen in der deutschen nichts. (D)
Wirtschaft geht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Peinlich, pein-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- lich!)
SES 90/DIE GRÜNEN) Vorhin haben Sie mit vielen schrägen Argumenten einen
Deshalb lautet mein Petitum: Wir brauchen einen Stu- Antrag zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns
fenplan. Wir müssen darüber im Gespräch bleiben, bei abgelehnt, wohl wissend, dass 70 Prozent der Beschäf-
allen, die es brauchen. tigten in der Niedriglohnbranche Frauen sind. Es wurde
auch schon dreimal festgestellt, dass weder eine Arbeits-
Vielen Dank. ministerin noch eine Familienministerin noch eine Bun-
deskanzlerin dafür Interesse zeigt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frauen haben es
Nun hat das Wort die Kollegin Dagmar Ziegler für die einfach nicht verdient. Es ist wirklich eine Frechheit, dass
SPD-Fraktion. ihre Interessen für Machtspielchen von drei Doktorin-
nen, die es in Führungspositionen geschafft haben – Frau
(Beifall bei der SPD)
Schröder im Übrigen auch durch die Hessen-Quote –,
missbraucht werden.
Dagmar Ziegler (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie, liebe Koalitionäre, haben jetzt wirklich die ver-
Wie so oft in dieser Wahlperiode haben wir miterleben dammte Pflicht – ich bin für viele Ihrer Redebeiträge
müssen, wie sich diese Koalition in Widersprüchen und sehr dankbar –, diesem Eindruck entgegenzutreten. Un-
gegensätzlichen Haltungen überbietet. Ob bei den Haus- terstützen Sie die Einführung einer gesetzlichen Quote
haltsdiskussionen, in der Steuerpolitik, bei Hartz IV oder nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im öffentlichen
in der Außenpolitik, immer gab es etwas anderes, aber Dienst, auch in den Hochschulen und in der Wissen-
leider nie etwas Besseres aus dem Regierungslager. schaft! Unterstützen Sie gesetzliche Regelungen zur Ent-
geltgleichheit! Machen Sie auch wirklich deutlich, dass
Nun hat Frau Ministerin von der Leyen die Quote für es Ihnen tatsächlich ernst ist mit Gleichstellung in unse-
Frauen in Führungspositionen für sich entdeckt, und das rem Lande! Diesen Beweis sind Sie uns noch schuldig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10113
Dagmar Ziegler
(A) Vielen Dank. gleich, unterstützt durch das unschöne wie auch unsin- (C)
nige Wort der Quotenfrau, das reflexartig die Debatte be-
(Beifall bei der SPD) gleitet.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:


Nehmen Sie doch ein anderes Wort!)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ewa Klamt für die
CDU/CSU-Fraktion. Dem halte ich entgegen: Quote und Qualifikation schlie-
ßen sich nicht gegenseitig aus.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der LINKEN)
Ewa Klamt (CDU/CSU): Im Gegenteil: Die Quote kann ein Instrument sein, der
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen Qualifikation zur vollen Entwicklung zu verhelfen;
und Kollegen! Man kann die Zahlen nicht oft genug nen-
nen: Frauen stellen 55,7 Prozent der Abiturienten in (Zuruf von der SPD: Genau!)
Deutschland, 51 Prozent der Hochschulabsolventen, rund denn leider – das sage ich mit absoluter Ernüchterung –
44 Prozent promovieren im Anschluss. Diese Zahlen sind wir mit der freiwilligen Verpflichtung in den letzten
zeigen das Potenzial junger, gut ausgebildeter Frauen in zehn Jahren keinen Schritt weitergekommen.
unserem Land auf.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und des
(Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie bei
Abgeordneten der LINKEN und der FDP)
Wie es in den Aufsichtsräten aussieht, wissen wir: ge-
rade einmal 10 Prozent Frauen. Nur 3,2 Prozent Frauen An den nackten Zahlen hat sich seither wenig geändert.
bekleiden Vorstandsposten. In den 30 DAX-Unterneh- Liegt es also daran, dass, wie uns die Wirtschaft immer
men sind von 182 Vorstandsposten gerade einmal 4 mit wieder gern erklärt, die Top-Positionen nur von den Bes-
Frauen besetzt; das sind 2,2 Prozent. Wir müssen also ten eingenommen wurden? Ist es die männliche Exzel-
feststellen: Irgendwo nach Abitur, Studium und Sprung lenz, die gesiegt hat?
in die Arbeitswelt verlieren wir viel Frauenpotenzial.
Wir verlieren damit Arbeitskraft, Kreativität, Innova- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tionsfähigkeit und Wissen. Wir verschenken viel unseres NEN]: Eher nicht!)
Potenzials, obwohl doch feststeht, dass wir im weltwei- Da sage ich etwas populistisch: Eine Weltwirtschafts-
ten Wettbewerb um die klügsten Köpfe stehen. krise hätte es dann wohl ebenso wenig wie eine Banken-
(B) krise geben dürfen. (D)
Über das Problem besteht meines Erachtens Einig-
keit; die Lösung ist jedoch strittig. Ich sage, dass man in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
dieser Frage durchaus unterschiedlicher Meinung sein der SPD)
kann. Dass wir innerhalb unserer Fraktion debattieren,
ist für mich kein Problem. Das ist vielmehr eine gute in- Meine Damen und Herren, ich bin ernüchtert. Auch
haltliche Auseinandersetzung, und die hat noch nie ge- ich habe einmal zu jenen Frauen gehört, die glaubten,
schadet. dass wir Frauen die Zukunft gleichberechtigt mit den
Männern gestalten.
(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Lazar
(Dagmar Ziegler [SPD]: Ich auch!)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss
aber auch zu Ergebnissen kommen!) Als ich 18 war, sprach kein Mensch über eine Quote. Im
Gegenteil, mein Vater sagte mir mit großer Begeiste-
Das ist mir auf jeden Fall lieber als ein Bundeskanzler
rung: Du gehörst der Generation Frauen an, denen auf-
Schröder, der vor gut einem Jahrzehnt bei Wein und
grund von Bildung und guter Ausbildung alle Türen of-
Zigarren der Wirtschaft versprochen hat, keine Maßnah-
fenstehen. – Wenn mir damals jemand vorausgesagt
men zur Steigerung des Frauenanteils in Spitzenpositio-
hätte, dass ich fast 40 Jahre später im Deutschen Bun-
nen zu ergreifen.
destag konstatieren muss, dass in Deutschland die Teil-
(Elke Ferner [SPD]: Das will ja Frau Merkel habe von Frauen in den höchsten Positionen der Wirt-
fortsetzen!) schaft auf einer Stufe mit Indien steht und damit
weltweit den letzten Platz einnimmt, hätte ich schallend
Dass die Frage „Frauenquote in Unternehmen“ äu- gelacht.
ßerst unterschiedlich gesehen wird, zeigt auch die Dis-
kussion innerhalb der verschiedenen Generationen von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Frauen. Ich kann den Frust und den Ärger einer jeden der SPD)
jungen Frau verstehen, wenn sie – berechtigterweise – Heute sage ich: Wenn wir einer der leistungsstärksten
nach langer Ausbildung nach ihren Fähigkeiten und Wirtschaftsräume der Welt bleiben wollen, können wir
nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden möchte. es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf das vorhandene
Diese gut ausgebildeten Frauen sind jung, ungebunden, Potenzial von Frauen zu verzichten.
flexibel und meist noch ohne Kinder. Sie befinden sich
am Beginn ihrer Karrieren, an einem Punkt, an dem in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
der Regel noch keine gläserne Decke zu spüren ist. Eine bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Frauenquote kommt aus ihrer Sicht einer Beleidigung GRÜNEN und der FDP)
10114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Ewa Klamt
(A) Kluge Unternehmer haben das selbst erkannt: Hoch- (Beifall bei der SPD – Rita Pawelski [CDU/ (C)
qualifizierte, kreative und motivierte Frauen sind nach- CSU]: Christel, du warst doch selber dabei, als
weislich gut für den wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb er- Schröder euch gezeckt hat!)
warte ich, dass die Unternehmen bei der Neubesetzung
der Aufsichtsräte im Jahr 2013 beweisen, dass sie – Ja, keine Angst, Rita, ich komme gleich noch darauf.
Frauen in Führungspositionen wollen. Wenn nicht, müs- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Kanzlerin hat
sen andere Mittel greifen. ein Machtwort gegen die Frauen gesprochen – das haben
wir gehört –: Sie lehnt die gesetzliche Quote ab und setzt
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben so gut angefan-
auf Freiwilligkeit. Dabei ist der Handlungsdruck – das
gen, Frau Kollegin!)
wissen wir alle ganz genau – sehr groß.
Die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding gibt Frau Bracht-Bendt, Sie unterhalten sich gerade so
der Wirtschaft nur noch eine begrenzte Schonfrist. Wenn nett. Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Bracht-
die Konzerne nicht selbst aktiv werden, will Brüssel Bendt von der FDP, gesagt haben, eine Frauenquote dis-
rechtliche Vorgaben für eine Frauenquote in Aufsichtsrä- qualifiziere die Frauen. Dann frage ich Sie allen Ernstes:
ten machen. Das kann ich dann nur unterstützen. Warum hat der Bundesvorstand der FDP kürzlich – er
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. kommt auf die Spur – eine 30-Prozent-Frauenquote für
Helga Daub [FDP]) die Parteigremien beschlossen? Warum hat der Frauen-
verband der FDP gesagt: „Das reicht uns nicht, wir brau-
chen eine 40-Prozent-Quote“?
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
DIE GRÜNEN)
Christel Humme für die SPD-Fraktion.
Inwiefern ist das eine Disqualifizierung der Frauen?
(Beifall bei der SPD)
(Zuruf der Abg. Nicole Bracht-Bendt [FDP])
Christel Humme (SPD): – Wir werden Ihren Bundesparteitag sehr gut beobach-
Frau Klamt, Sie haben gut angefangen. Ich hatte ge- ten.
hofft, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden;
Der Handlungsdruck ist natürlich immens. Wir stehen
aber Sie haben an dieser Stelle wieder einmal Ihre
im europäischen Vergleich nicht besonders gut da. Wir
Chance verpasst.
(B) sind keineswegs ein Exportland, wenn es um Gleichstel- (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dorothee lung geht. Im Gegenteil: Wir sind hier ein Entwicklungs-
Bär [CDU/CSU]: Ihr habt nicht einmal ange- land; bei uns ist die auch heute viel zitierte gläserne De-
fangen!) cke immer noch aus Panzerglas.

Ich bin die letzte Rednerin und habe die Chance, alles Wir wissen auch, warum das so ist. Ja, wir haben
auf den Punkt zu bringen, was vorhin gesagt worden ist 2001 eine freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaft
und was in den letzten drei Wochen passiert ist. Ich muss geschlossen. Wir waren dabei: Frau Ferner, ich und an-
schon feststellen, dass die Bundesregierung so etwas wie dere. Wir wissen noch ganz genau, dass wir gesagt ha-
Realsatire gezeigt hat. Denn was haben wir erlebt? Was ben: Wenn die freiwillige Vereinbarung kein Ergebnis
ist passiert? Die Frauen in der Bundesregierung streiten zeitigt, dann kommt ein Gesetz zur Verpflichtung der
über die gesetzliche Frauenquote; die Männer in der Privatwirtschaft. Das war die Ausgangssituation.
Wirtschaft reiben sich die Hände und behalten dank Frau (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Merkel erst einmal ihre Macht. Klassisch, oder?
Wir hatten aber Pech: Es kam zu einer Großen Koali-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der tion, und wir mussten Koalitionsverhandlungen mit Frau
Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) von der Leyen führen.
Wir alle haben noch die Ratschläge der Kanzlerin und (Caren Marks [SPD]: Die war dagegen!)
der Frauenministerin im Ohr. Sie haben den Frauen gera-
ten: „Seid mutiger und tougher gegenüber euren Chefs, Das Thema einer gesetzlichen Frauenquote war in den
dann klappt es mit der Karriere und mit der Bezahlung.“ Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht zu setzen; das
Dazu muss ich sagen: Die Frauen in der Bundesregie- muss man an dieser Stelle feststellen.
rung waren wirklich ein sehr schlechtes Vorbild. Nach (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
welchem Vorbild sollen sich die Frauen richten? Die
Frauen in der Bundesregierung haben nämlich gezeigt, Insofern verstehe ich Sie, Frau Bär und Frau Schön,
dass sie ohnmächtig sind; sie haben ihre Ohnmacht do- überhaupt nicht. Kritisieren Sie doch nicht dauernd die
kumentiert und erneut deutlich gemacht, wer in der Bun- Freiwilligkeit! Was wollten wir damals erreichen? Wir
desrepublik eigentlich das Sagen hat. Auch hier zeigt wollten mehr Chancengleichheit für Frauen im Berufsle-
sich wieder das Markenzeichen von Schwarz-Gelb, ben. Wir wollten mehr familienfreundliche Betriebe. Wir
nämlich Klientel- und Lobbypolitik statt Politik für die wissen, die Bilanz ist ernüchternd. Aber was haben Sie
Frauen. daraus gelernt, Frau Bär?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10115
Christel Humme
(A) (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was war denn Es hat eine Umverteilung der Arbeit unter Frauen statt- (C)
2002 bis 2005?) gefunden. Die Frauen haben einen sehr hohen Preis da-
für bezahlt.
– Sie können nur schreien! Hören Sie bitte zu!
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Frau Nahles hat
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen
Angst, von ihrer eigenen Fraktion weggelobt
zugehört!)
zu werden! Das ist die Realität! Warum hat sie
Was haben Sie vor zwei Tagen gemacht? Sie haben die denn Angst vor ihrer eigenen Fraktion? Das ist
Wirtschaft eine Charta für familienfreundliche Arbeits- ja ganz schlimm, was da vor sich geht! Frauen-
zeiten unterschreiben lassen. mobbing! Pfui!)
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das hat doch Ein Großteil der Frauen ist trotz eigener Erwerbstätigkeit
überhaupt nichts mit dem Thema zu tun!) von einer eigenständigen Erwerbssicherung weit ent-
fernt. Ich habe erwartet, dass die Frauenministerin und
Was haben Sie genau getan? Sie haben einen Teil aus der die Arbeitsministerin Schritte in Richtung eines gesetzli-
freiwilligen Vereinbarung von 2001 herausgepickt und chen Mindestlohns einleiten; denn der hätte den Frauen,
„Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten“ genannt. die häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, gehol-
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ein zusätzlicher fen.
Baustein! Was war denn mit Renate Schmidt (Beifall bei der SPD)
und Frau Bergmann?)
Aber auch hier stelle ich fest: Nichts tun und Klientel-
Sie haben den Leuten suggeriert, dass Sie etwas Neues
politik, das sind Ihre Markenzeichen.
machen,
(Caren Marks [SPD]: Alter Wein in neuen Schönen Dank.
Schläuchen!) (Beifall bei der SPD)
aber in Wirklichkeit führen Sie sie an der Nase herum,
weil Sie nämlich gar nichts tun für familienfreundlichere Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Arbeitszeiten. Das ist das Schizophrene an der Situation.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

(B) Alle zehn Jahre neue Unterschriften sind kein Fortschritt Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (D)
für uns. Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Das wäre richts des Ausschusses für Kultur und Medien
unserer Meinung nach ein Fortschritt. (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting),
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was war denn Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeord-
2002 bis 2005?) neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars
– Frau Bär, lassen Sie das doch einmal sein. Das Herum- Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Ab-
schreien bringt doch nichts. geordneter und der Fraktion der FDP
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sagen Sie das
60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertrie-
einmal Ihrer Fraktion!)
benen – Aussöhnung vollenden
Wir wollen – das ist ganz klar – eine Quote von
40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlich – Drucksachen 17/4193, 17/4651 –
regeln. Dabei geht es uns nicht nur um die Topmanage- Berichterstattung:
rin – das wurde vorhin zwar schon gesagt, aber das Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn)
möchte ich trotzdem noch einmal deutlich machen –, Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Um was geht Patrick Kurth (Kyffhäuser)
es denn?) Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth (Augsburg)
sondern es geht uns um die gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen am Arbeitsmarkt insgesamt. Das ist das Ent- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
scheidende. Bündnis 90/Die Grünen vor.
Leider müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass zwar Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
die Frauenerwerbsquote gestiegen, aber das Arbeitsvolu- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe, damit
men gesunken ist. sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer wird jetzt Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte
Kanzlerkandidatin der SPD? – Gegenruf der beiwohnen wollen, ihre Plätze einnehmen würden, wäre
Abg. Elke Ferner [SPD]: Die Kanzlerin tut ich dankbar; denn dann können wir uns auf die Redner
doch nichts!) konzentrieren.
10116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das ich eingehen muss. Als Sie den verdienstvollen Verzicht (C)
Wort der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSU- der Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung er-
Fraktion. wähnten, relativierten Sie diesen mit dem Hinweis, als
Angehörige der Kriegsverursachernation Deutschland
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) habe den Vertriebenen gar keine Rache zugestanden, und
man könne es schlecht als Leistung betrachten, auf etwas
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): zu verzichten, das man gar nicht beanspruchen dürfe.
Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen heute über den In der Ausschussberatung haben Sie sich verstiegen,
Antrag der Koalitionsfraktionen „60 Jahre Charta der zu sagen – nachzulesen auf Seite 5 der Beschlussemp-
deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollen- fehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und
den“ abschließend beraten und entscheiden. Medien –, dies sei ein „moralisch skandalöser Satz“.

Das Ziel unseres Antrags ist klar: Wir wollen an die in (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
Stuttgart am 5. August 1950 erfolgte Proklamation der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Charta der Heimatvertriebenen erinnern und anlässlich Ich möchte Ihnen mit folgendem Zitat entgegnen:
dieses Jubiläums erneut die Leistung der Heimatvertrie-
benen unterstreichen. Wir wollen erreichen, dass der Die Charta der Heimatvertriebenen hat dabei
Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahn- – „an einem menschlichen und toleranten Deutschland“ –
mal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird.
eine wichtige Rolle gespielt. Zwei Punkte möchte
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich daraus hervorheben, die auch in Zukunft nicht
Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und auf den vergessen werden dürfen: Da ist zunächst der Ver-
Beitrag von Vizepräsident Wolfgang Thierse eingehen, zicht auf Rache und Vergeltung.
den der Kollege Thierse als Gegner unseres Antrags bei So Sigmar Gabriel, weiland Ministerpräsident des Lan-
der ersten Lesung am 16. Dezember 2010 hier zu Proto- des Niedersachsen und jetzt Vorsitzender der Sozialde-
koll gegeben hat, auf den ich daher erst heute hier im mokratischen Partei Deutschlands.
Plenum Bezug nehmen kann.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Verehrter Herr Kollege Thierse, Sie haben sich in Ih- Brigitte Zypries [SPD]: Deshalb brauchen wir
rer Rede erkennbar bemüht, den Erwartungen Ihrer doch keinen Gedenktag!)
Partei zu entsprechen, denen zufolge wie in einem
Pawlow’schen Reflex alles abzulehnen ist, was irgend- Ist das ein moralisches Skandalon, Herr Kollege
(B) wie mit dem Bund der Vertriebenen zu tun hat. Thierse? (D)
(Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Da- Der Kollege Thierse kritisiert auch das Ziel unseres
von kann nicht die Rede sein! Antrags, dem Thema Vertreibung mehr wissenschaftli-
che Aufmerksamkeit zu schenken. Herr Thierse, Sie hal-
Sie haben sich dieser wenig schmückenden Aufgabe ten die für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
achtbar entledigt, obwohl es Ihnen stellenweise schwer- nung“ veranschlagten Forschungsgelder für zu hoch und
gefallen sein dürfte, dem in Wahrheit durchweg legiti- wollen den postulierten Nachholbedarf in der Forschung
men Ansinnen unseres Antrags zu widersprechen. nicht erkennen. So Ihre Ausführungen am 16. Dezember
So sprachen Sie etwa gleich einleitend von einer an- 2010 ausweislich Ihrer Protokollerklärung im Deutschen
geblich viel zu späten Vorlage des Antrags – Monate Bundestag.
nach dem 5. August –, bewerteten aber den Antrag im Gerade gegenwärtig mehren sich indessen die Stim-
nächsten Atemzug als Schnellschuss. Was soll es denn men von wissenschaftlicher Seite, dass die Aufarbeitung
jetzt sein? Zu langsam oder zu schnell? Beides zusam- des Leids der deutschen Heimatvertriebenen zu den be-
men geht nicht. sonders drängenden Desideraten der Forschung gehört.
Zum 5. August 1950 möchte ich Ihnen Folgendes sa- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
gen. Am 5. August 1950 ist mit der Charta der Heimat- Genau! Richtig!)
vertriebenen ein einzigartiges Dokument verabschiedet
worden. Das Hamburger Magazin Der Spiegel, das nicht gerade
im Verdacht steht, das Hausblatt des Bundes der Vertrie-
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das benen zu sein, hat in diesen Tagen in seiner renommier-
kann man wohl sagen!) ten Historienreihe eine aktuelle Sonderausgabe zum
Wir unterstützen mit unserem Koalitionsantrag die heute Thema Vertreibung herausgebracht mit dem Titel: „Die
in Stuttgart von dem baden-württembergischen Minister- Deutschen im Osten – Auf den Spuren einer verlorenen
präsidenten Stefan Mappus klar erhobene Forderung: Zeit“. Selbst Spiegel Online widmet sich dem Thema mit
Dieser Tag hätte es verdient, zu einem nationalen Ge- einem Beitrag mit dem Titel: „Damals in Ostpreußen“.
denktag in Deutschland zu werden. Ich zitiere von Seite 15 dieser Schrift, dass die Deut-
schen und ihr verlorener Osten ein noch immer nicht er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ledigtes Kapitel der deutschen Historiografie seien.
Herr Kollege Thierse, inhaltlich gravierend waren ei- Tatsächlich bietet die Vertreibung der Deutschen viel
nige Ausführungen von Ihnen an anderer Stelle, auf die Stoff, der es verdient, bewahrt, aufgearbeitet und weiter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10117
Thomas Strobl (Heilbronn)
(A) gegeben zu werden, gerade auch an die jüngere Genera- Herzlichen Dank fürs Zuhören. (C)
tion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jede Ge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
schichte von Flucht und Vertreibung ist es wert, dass Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse für
man sie hört. die Fraktion der SPD.
(Zuruf von der FDP: Richtig!) (Beifall bei der SPD)
Das sagt im Übrigen der bekannte polnische Regisseur
Jan Klata, dem das Thema sehr am Herzen liegt. Vertrei- Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
bung, so Klata in der besagten Spiegel-Ausgabe, sei eine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
Geschichte von einem Menschheitstrauma, das sich täg- nicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruch-
lich wiederholt: in Darfur, im Kosovo, in Bosnien. Ich nahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher ent-
finde, er hat recht. setzt.
In der Tat kann man viel erfahren, wenn man sich dem (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Thema Vertreibung als Bestandteil der eigenen National- Aber sachlich ist es richtig! – Thomas Strobl
identität stellt und mehr über das in Erfahrung bringt, [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das können Sie al-
was die Ostgebiete für Deutschland einst bedeutet haben. les nachlesen!)
Ich war zum Beispiel überrascht, im Heft des Spiegels Kollege Strobl, darum geht es auch gar nicht.
von der deutschen Gemeinde Budakeszi zu erfahren. Bu-
dakeszi liegt bei Budapest und ist mir als ungarischer (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Partner der Stadt Neckarsulm bekannt, der größten Doch!)
Landkreisgemeinde in meinem Wahlkreis. Dass Buda-
keszi von Deutschen gegründet wurde, von Donau- Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht und
schwaben, und noch heute viele Deutsche dort leben, da- Vertreibung geschrieben werden muss und wir uns im-
runter auch die Verwandten des hier im Hause nicht ganz mer wieder neu mit ihr zu beschäftigen haben. Das ist
unbekannten Grünenpolitikers Joschka Fischer, war mir unbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man das
neu. So lernt man immer dazu. Es gibt viele solche In- tut.
formationen, die in Vergessenheit geraten sind, aber wie- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
derbelebt werden sollten, weil sie zur Geschichte unse- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) res Volkes gehören. (D)
Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weshalb Sie sich ausgerechnet auf die Charta der deut-
Das Gute ist: Man kann dieses Wissen unschwer er- schen Heimatvertriebenen berufen, wenn Sie doch – so
werben, wenn man die Forschung hinreichend unter- steht es in Ihrem Antrag – Aussöhnung wollen. Die
stützt und das Thema Vertreibung ohne ideologische Charta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein
Scheuklappen angeht. Dies tut übrigens seit Jahren der zeitgenössisches Dokument, eine Stimme aus dem Jahr
Literaturnobelpreisträger Günter Grass, zu dessen nach 1950. Vertriebene hatten viel Leid erfahren, große Not
meiner Auffassung nicht geringsten Verdiensten gerech- erduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrer
net werden darf, dass er die jahrzehntelange Verdrän- neuen, kalten Heimat angekommen sein.
gung des Themas Vertreibung als „bodenloses Versäum- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
nis“ erkannt hat. Er machte diese Verdrängung mithilfe Das sieht Ihr Bundesvorsitzender anders! Als
eines Romans rückgängig und führte so das Thema Ministerpräsident hat er das anders gesehen!)
Flucht und Vertreibung einer breiteren Öffentlichkeit zu.
Grass dabei zu unterstützen, das von ihm erkannte und So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, die
so benannte Versäumnis wiedergutzumachen, ist ein ihn trägt. Die Charta mag zur Integration von Vertriebe-
Zweck – und nicht der geringste – unseres Antrags. nen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rache-
Nicht mehr und nicht weniger. gefühle und Vergeltungsverlangen.
Damit komme ich zum Schluss und plädiere in die- Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehr-
sem Sinne erneut und eindringlich für die Zustimmung fach darauf hingewiesen – ich finde: sehr treffend –, dass
zu diesem Antrag. Wenn Sie von der Opposition diese man nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf man
Zustimmung nicht uns zuliebe gewähren wollen, so tun einen Anspruch hat.
Sie es zumindest aus Respekt vor Günter Grass, der ja,
wenn ich richtig informiert bin, seit Jahrzehnten ein en- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
gagiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutschlands ist.
Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonne-
(Zurufe von der LINKEN) nen Krieg und den von ihnen begangenen Verbrechen
keinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf Rache.
Tun Sie es Ihrem Genossen zuliebe und dokumentieren
Sie damit auch, dass Sie nicht zu systematischen Ver- (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch unbe-
drängern und bodenlos Säumigen gehören wollen. stritten!)
10118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Darin sind wir uns doch hoffentlich einig. Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitik (C)
zu nehmen, geben Sie sich europäisch. Sie wollen sich,
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ja! so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintes
Hoffentlich! – Thomas Strobl [Heilbronn] Europa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhalt-
[CDU/CSU]: Fragen Sie mal Ihren Bundes- bare Aussagen wie diese – ich zitiere wieder aus Ihrem
vorsitzenden!) Antrag –:
Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, die Die Deutschen nehmen Vertreibungen … mit be-
heute, denke ich, als falsch erkannt sind und die niemand sonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer
mehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.
– ich zitiere –:
Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Ge-
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung schehen.
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
finden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngeren
GRÜNEN]: Unglaublich!) Geschichte massiv andere Völker vertrieben und unend-
liches Leid über sie gebracht haben und danach auch
Welch fatale moralische Anmaßung – als hätte es den selbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte ist
Holocaust und zig Millionen Tote des Krieges nicht ge- immer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung für
geben. jeden Fall zu benennen und korrekt einzuordnen, kann es
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem auch kein Verständnis für die Umstände und Folgen ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lars Lindemann ben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine Versöh-
[FDP]: Das hat niemand gesagt!) nung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist das
Grundproblem Ihres Antrags.
Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und dem
Abstand von 60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
lem Ernst auf diese Charta zu berufen, sie gewisserma- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
ßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch einzuordnen GRÜNEN)
und sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutra- Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorie-
gen, wie Sie es tun, ren, versäumen Sie es, das schon Erreichte zu würdigen.
(B) (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das macht doch Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zu- (D)
gar keiner, Herr Thierse!) nächst die enormen Integrationsleistungen der Bundesre-
publik Deutschland – sie gehören zu ihrer Erfolgsge-
das ist weder moralisch noch politisch legitim. schichte – und die großen Anstrengungen der Vertrie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ benen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufin-
DIE GRÜNEN) den. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ih-
rer Herkunft bestand weiter.
Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt
einen ehrlichen Dialog mit denjenigen voraus, mit denen Unvergessen ist – ich nenne nur ein Beispiel –: Als
man sich versöhnen will. 1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, unter-
stützten viele, auch Vertriebene, aktiv die Gewerkschaft
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja!) Solidarnosc.
Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbe- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Im Gegensatz zur
sondere unseren östlichen Nachbarn, nichts weniger als SPD! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genau!
zutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nicht Die haben das damals nicht gemacht!)
verschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die das
bedeutete. Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ich
aus eigener Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertrie-
Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor benen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trau-
70 Jahren wurden Polen – nur als ein Beispiel – als ras- ernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in der
sisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavt Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zu
und entrechtet werden. Die Polen hatten einen längeren schweigen. Umso größer ist heute meine Freude über die
Weg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint es Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, die
wie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heute uns die Einigung Europas eröffnet hat.
noch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Flucht
und Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutsch- Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Ein-
land sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehr zelnen und der vielen Initiativen ehemals Vertriebener,
die heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenen- die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öf-
politiker durch zwiespältige Äußerungen. fentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte in
die Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es ge-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem geben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wie
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) viele Partnerschaften und Freundschaften sind entstan-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10119
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) den? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurie- Kirche in Deutschland und der im gleichen Jahr er- (C)
rungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmä- schienene polnische Bischofsbrief an ihre deut-
lern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zur schen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: „Wir
Verständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass für gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“
ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.
Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitisch
Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Be- das völlig falsche Signal.
gegnung, die in den letzten Jahrzehnten eine großartige
Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseiteschie-
Entwicklung genommen haben, erweist sich Ihr Antrag
schlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der For- ben. Professor Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er ist
derungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wieder- ein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen An-
strengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibung
hole mich. So muss die Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, voran- und die Leiden und Opfer dieses Unrechts.
gebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptio- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
nelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stif- Die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland war
tung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt. und bleibt es, den demokratischen Staat, unseren demo-
Von einem Nachholbedarf bei der Forschung – Sie ha- kratischen Staat, seine politische Praxis und seine politi-
ben davon gesprochen – kann ebenfalls nicht die Rede sche Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheit
sein. Die Bundesregierung hat ein akademisches Förder- zu begreifen. Das ist unser gemeinsames politisches
programm zur Erhaltung und Auswertung deutscher Fundament, unser gemeinsames moralisches Funda-
Kultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt. ment. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tag
Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 Millionen des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ge-
Euro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenen wählt.
Programm nicht erst einmal eine Chance geben? Trauen Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kolle-
Sie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung die- gen, heißt: Unsere, der Deutschen Sensibilität für die
ses Programms nicht zu? Leiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert
Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kolle- nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst
gen, nicht als bundesweiter Gedenktag für die Opfer von Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche an-
Vertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe, dere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser dop-
selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. So- pelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhafte
wohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestags- moralische Verpflichtung. Genau diesen, den entschei-
(B) präsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Ge- denden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falsch (D)
denktag ausgesprochen. Die beiden haben recht. und überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Ko- Nächster Redner ist der Kollege Lars Lindemann für
alition, aus Polen ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitaten die FDP-Fraktion.
aus einem gestern erschienenen Kommentar von Profes-
sor Dr. Krzysztof Ruchniewicz – er ist Mitglied des Wis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
senschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung „Flucht, der CDU/CSU)
Vertreibung, Versöhnung“ – belegen:
Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und An- Lars Lindemann (FDP):
gehörige anderer Nationen, die von den Deutschen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
im Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und er- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bespre-
mordet wurden, stellt das Dokument chen heute ein für viele sehr emotionales Thema. Kaum
war der Antrag eingeführt – ich erinnere mich an unsere
– die Charta – Ausschussdebatte –, gab es nicht nur entrüstete Gesich-
keine Grundlage für eine Versöhnung dar. ter, sondern schwand vor allem auf den Oppositionsbän-
ken die Fähigkeit, zuzuhören. Ich nehme sehr wohl
Weiter: wahr, dass das heute anders ist. Ich denke, wir haben ge-
Es überrascht, dass Abgeordnete des Deutschen nügend Grund, die Sache mit etwas mehr Bedacht zu
Bundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrer diskutieren und uns gegenseitig zuzugestehen, dass wir
Verkündung so einseitig und reflexionslos betrach- alle lautere Motive haben, wenn wir das hier besprechen.
ten können. Im Antrag der Koalition wird der Brief der polnischen
Weiter: Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965
zitiert; Herr Thierse hat das eben auch getan. Darin heißt
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen … ist es: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Um Ver-
kein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die gebung kann man für sich aber nur bitten, wenn man
1965 erschienene Ostdenkschrift der Evangelischen selbst bereit war und es auch bleibt, über die eigene
10120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Lars Lindemann
(A) Schuld offen zu sprechen, nicht zu leugnen und aufrich- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (C)
tig und glaubhaft auf denjenigen zuzugehen, an dem Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
man sich vergangen hat.
Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblen-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE dung von historischen Tatsachen und so viel Ver-
GRÜNEN]: Das haben die katholischen Bi- drehung wie in diesem Antrag zur Charta der Hei-
schöfe ja getan!) matvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten
zusammen.
Dies hat Deutschland getan. Wir alle als deutsche Parla-
mentarier stehen dafür ein, dass es Teil der Staatsräson (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
ist und bleibt, dass wir zu der Schuld stehen, die im Na- Und das von Ihnen! – Patrick Kurth [Kyffhäu-
men unseres Volkes durch die Nationalsozialisten auf ser] [FDP]: Sagt die Linke!)
uns geladen wurde. Das habe ich am 16. Dezember vorigen Jahres hier an
dieser Stelle gesagt. Dem habe ich heute nichts hinzuzu-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fügen
der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Deutschland hat aufrichtig um Vergebung gebeten. Ich
erinnere hier an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Wir außer dem Bedauern, dass es der gesamten Opposition
alle kennen das Bild, das hier gemeint ist. seitdem nicht gelungen ist, die Koalitionsfraktionen da-
von zu überzeugen, diesen Antrag zurückzunehmen.
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das war Keine Analyse, kein Appell, keine Kritik von Fachleuten
aber nicht der Bund der Vertriebenen!) hat irgendetwas genutzt. Das ist sehr zu bedauern.
Wir setzen uns mit diesem Thema sehr bewusst aus- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
einander, und Deutschland ist so heute ein für seine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth
Aufrichtigkeit und Leistungen geachtetes Mitglied der [Kyffhäuser] [FDP]: Eine ordentliche Diskus-
internationalen Staatengemeinschaft. Durch diese unsere sion kann doch geführt werden!)
Einstellung – das will ich hier für meine Fraktion ganz So entsteht mit der heutigen Abstimmung über den
ausdrücklich und ganz deutlich sagen – nehmen wir die Antrag, den Sie mit Ihrer Mehrheit kalt durchsetzen wer-
eigene, bis in die meinige Generation hineinwirkende den, großer Schaden für unser Parlament und seine Wir-
Vertreibungserfahrung von uns Deutschen als zentrales kung nach innen wie nach außen. Ja, Sie schädigen mit
Element mit in die weiteren Bemühungen um die Ver- diesem Antrag das Ansehen dieses Hohen Hauses. Da-
(B) söhnung auf und geben wir dieser Erfahrung einen ent- von bin ich fest überzeugt. (D)
sprechenden Platz, wie es im Antrag der Koalition ge-
schehen ist. (Beifall bei der LINKEN)

Die Vertreibungen beispielsweise aus Polen und Allein mit Ihrem Ansinnen – das vertreten Sie in Ih-
Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg dürfen von den rem Antrag –, dass sich anlässlich des 60. Jahrestages
Betroffenen als Unrecht empfunden werden. All diejeni- der Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenen
gen, die den Verlust an Heimat zu beklagen haben, was der Deutsche Bundestag zu eigen machen soll, diese
an sich schon schlimm genug ist, oder die Gewalt gegen Charta als Gründungsdokument der Bundesrepublik zu
sich oder Angehörige ihrer Familie ertragen mussten, betrachten, schädigen Sie das Ansehen des Parlaments.
habe eine ganz persönliche Erfahrung, die in den Fokus Die Fraktion Die Linke wird nie und nimmer in diesem
der Überlegungen der Regierungskoalition gerückt Dokument ein Gründungsdokument der Bundesrepublik
wurde. sehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Durch einen solchen Ansatz wird nicht relativiert,
sondern versucht, die Erfahrungen der Betroffenen und Sie schädigen das Ansehen des Parlaments auch mit
eben nicht die Emotionen, die einige hier mit einbringen, Ihrem Ansinnen, den 5. August zum bundesweiten Ge-
aufzunehmen und verantwortungsvoll in die Überlegun- denktag zu erheben, den Tag also, an dem die Charta vor
gen zu der weiteren Arbeit der Stiftung „Flucht, Ver- 60 Jahren veröffentlicht wurde. Mitverfasser und Unter-
treibung, Versöhnung“ nach innen und nach außen ein- zeichner dieses Dokuments waren Rudolf Wagner, SS-
zubeziehen. Darum werbe ich um Ihre Zustimmung zu Obersturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheits-
unserem Antrag. polizei in Paris, Belgrad und der besetzten Sowjetunion,
SS-Sturmbannführer von Witzleben, Franz Hamm,
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Fraktionsführer des Blocks der deutschen NS-Reichs-
tagsmitglieder Ungarns, Angehöriger der deutschen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Volksgruppenführung, die im Sommer 1944 die Vernich-
tungsaktion an über 400 000 ungarischen Juden unter-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: stützte und deren Eigentum mit verteilte, Alfred Gille,
Das Wort hat nun Luc Jochimsen für die Fraktion Die SA-Scharführer, Gebietskommissar in der Ukraine, SS-
Linke. Hauptsturmführer Waldemar Kraft, Rudolf Lodgman
von Auen, Mitbegründer der radikal antisemitischen
(Beifall bei der LINKEN) Deutschen Nationalpartei in der CSR, der 1960 einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10121
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) flammenden Protest gegen den Menschenraub an Adolf sie ihr ganzes Hab und Gut. Meine Mutter und wir Kin- (C)
Eichmann auf argentinischem Boden und den Prozess in der erlitten schwere Phosphorverbrennungen. Den Rest
Israel veröffentlichte, des Krieges erlebten wir in einer Notwohnung in Frank-
furt: frierend, hungernd, in Todesangst. Nie wäre meinen
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Un-
Eltern in den Sinn gekommen, sie hätten ein Recht auf
glaublich! – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]:
Rache und Vergeltung, auf das sie großmütig verzichten
Tolle Vorbilder!)
könnten – 1945 nicht, 1950 nicht, zu keiner Zeit.
Axel de Fries, Umsiedlerfunktionär in Westpolen, Kreis-
Wenn Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von den Ko-
landwirt und Sonderführer bei der Partisanenbekämp-
alitionsfraktionen, an Aussöhnung wirklich gelegen ist,
fung in Weißrussland.
an Aussöhnung der Deutschen mit den Deutschen, an
Wissen Sie das nicht, oder lässt Sie das tatsächlich Aussöhnung mit all den Nachbarvölkern, dann ziehen
völlig gleichgültig, dass das die Mitverfasser und Unter- Sie diesen Antrag zurück. Es ist noch nicht zu spät.
zeichner dieses Dokuments sind, zu dem Sie von uns im
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Jahr 2011 die Zustimmung dieses demokratischen Parla-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ments verlangen? Lässt Sie das völlig gleichgültig, oder
sind Sie einfach unwissend?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieses Parlament Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bünd-
der Charta und ihren Verfassern Zustimmung im Namen nis 90/Die Grünen.
der Aussöhnung ausspricht. Das nenne ich einen Skan-
dal.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE in dieser Debatte geht nicht um die Frage, ob wir das
GRÜNEN) Schicksal der Heimatvertriebenen anerkennen. Dieser
Streit geht auch nicht um die Frage, ob wir die Ge-
„Es kann keine Aussöhnung geben, die auf einem ‚Ver-
schichte der Vertreibung in ihrem historischen Kontext
zicht auf Rache‘ beruht. Das ist völlig undenkbar.“ Dies
aufarbeiten wollen. Dieser Streit geht im Kern um die
schrieb gestern Professor Krzysztof Ruchniewicz von
Frage, ob wir als Deutscher Bundestag uns auf das Do-
der Universität Wroclaw – Vizepräsident Thierse hat ihn
kument der Charta der Heimatvertriebenen positiv bezie-
vorhin schon zitiert – in einem Gastbeitrag in der Frank-
hen und das Ganze auch noch dadurch unterstreichen,
furter Rundschau.
dass wir den Tag ihrer Unterzeichnung zum Gedenktag
(B) Am Ende der Charta heißt es: der Bundesrepublik Deutschland machen. Dazu sage ich (D)
Nein.
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp- bei der SPD und der LINKEN)
finden.
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Auch das ist schon zitiert worden. Hier wird die ganze hat es das noch nicht gegeben, dass ein Antrag, in dem
Verkehrung der Geschichte und der Beginn einer gigan- die Einführung eines Gedenktages verlangt wird, im
tischen deutschen Opferzählung nach 1945 deutlich: Deutschen Bundestag mit knapper Koalitionsmehrheit
Nicht mehr die 25 Millionen toten Sowjetbürger, nicht durchgeprügelt wird. Der vorliegende Antrag enthält erst
die 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, nein, einmal nur einen Prüfauftrag.
die Heimatvertriebenen sind die vom „Leid dieser Zeit
(Zuruf von der FDP: Eben!)
am schwersten Betroffenen“.
Leider ist das Außenministerium auf der Regierungs-
(Patrick Döring [FDP]: Verzerrte Darstellung!)
bank nicht mehr vertreten; ansonsten hätte ich Frau
Eine solche Form der Verkehrung von historischer Pieper gebeten, mit der FDP dafür zu sorgen, dass die
Dimension, der Relativierung deutscher Schuld und der Partei von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher
Verkehrung von Ursachen und Folgen war und ist ty- verhindert, dass wir unsere osteuropäischen Nachbarn,
pisch für die Geschichte der Vertriebenenverbände. Dass die ehemaligen Kriegsgegner, die uns die Hand zur Ver-
Union und FDP eine solche Geschichtssicht noch heute söhnung gereicht haben, einem solchen Affront ausset-
als verbindlich vom Bundestag preisen lassen wollen, ist zen.
ungeheuerlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei der SPD und der LINKEN)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Frau Steinbach, Krzysztof Ruchniewicz, Mitglied des
GRÜNEN)
Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung „Flucht,
Meine Eltern, 1900 und 1901 geboren, haben Hitler Vertreibung, Versöhnung“ – der BdV hat sie durch eine
nicht gewählt, waren nie Parteimitglieder, waren nicht Gesetzesänderung von der Bundesrepublik Deutschland
dabei, als die deutschen Massenverbrechen an Juden, praktisch gekapert –, schreibt Ihnen meines Erachtens
Polen, Tschechen, Slowaken und Russen verübt wurden. sehr sensibel ins Stammbuch, wie man die Charta in ih-
Aber in einer Bombennacht 1943 in Düsseldorf verloren rer Genese und in ihrem Sinngehalt verstehen kann. Er
10122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Volker Beck (Köln)


(A) nennt sie das „Produkt einer traumatisierten Gruppe“. Er Wenn Sie sich von der Koalition mit so großer Verve (C)
schreibt: gegen Vertreibung und Verfolgung, die zu Flucht führt,
engagieren, dann ist es für uns umso unverständlicher,
Relativierend kann man sagen, dass die Charta ein dass Sie noch immer die Aufnahme von weiteren irani-
Kind ihrer Zeit war, das Produkt einer traumatisier- schen Flüchtlingen aus der Türkei blockieren, dass Sie
ten Gruppe, die sich bemühte, die eigene Lebens- weiterhin Roma aus dem Kosovo abschieben lassen und
welt neu aufzubauen, wobei sie sich in den Mythos dass Sie sogar traumatisierten Flüchtlingen einen jahre-
des unschuldigen Opfers flüchtete. Aus diesem langen schwierigen Prozess um die Anerkennung als
Grund wurde in den in diesen Kreisen geschriebe- Verfolgte aufbürden.
nen Büchern und Materialien über die alte Heimat
die Zeit des Nationalsozialismus fast völlig ausge- Wenn es Ihnen mit dem ernst ist, was Sie hier so groß-
blendet. Man kann das historisch und psycholo- spurig behaupten, nämlich dass wir angesichts unserer
gisch nachvollziehen, muss es aber nicht gutheißen. Geschichte besonders sensibilisiert sind, dann sind diese
Fragen der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit Ihrer
Gegenüber der historisch verständlichen Genese müs- Aussage. Diese Ernsthaftigkeit kann ich leider nicht er-
sen wir nicht verurteilend auftreten. Wir können verste- kennen. Vielleicht führen aber die Überlegungen, wie
hen, woher diese Menschen kamen, dass sie sich neu zu- wir dieses Thema historisch angemessen bearbeiten und
rechtfinden wollten und dass sie sich auch mit ihrer wie wir dieses Themas angemessen gedenken, dazu,
eigenen Genese ein bisschen selbst betrogen haben. dass sich in unserer Gesellschaft etwas produktiv verän-
Aber wir als Deutscher Bundestag können uns das nicht dert.
zu eigen machen – heute, über 60 Jahre danach, nach al-
lem, was wir darüber wissen, was von deutscher Hand in Ich bin durchaus für eine Ausstellung zum Thema
den besetzen Gebieten, in den überfallenen Ländern und Vertreibung. Allerdings bin ich dafür, sie auf andere
in unserem eigenen Land gegenüber vielen Opfern des Füße zu stellen. Zum einen sollte das ganze Haus mit
Nationalsozialismus verbrochen wurde. Das darf nicht seinen Gremien daran beteiligt werden. Zum anderen
sein. sollte der Einfluss des BdV zurückgefahren und dafür
gesorgt werden, dass historische Wahrhaftigkeit und die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Einordnung der Schicksale in den historischen Kontext
bei der SPD und der LINKEN) auch dort Platz greifen kann.
Wir haben deshalb einen Änderungsantrag gestellt. Ich möchte Ihnen als Kind einer Vertriebenenfamilie
Darin ist der ganze Feststellungsteil mit seiner ganzen etwas erzählen. Das, was der polnische Wissenschaftler,
historischen Wirrnis und Klitterung gestrichen. Wir be- der dem Wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung
(B) ziehen uns auf die entsprechenden Forderungen zur his- „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehört, gesagt hat, (D)
torischen Aufarbeitung und zum Gedenken – ich meine, ist wahr; das kenne ich aus der Geschichte meiner eige-
da müssen wir wirklich Klartext reden –, wenn wir fest- nen Familie. Meine Großeltern sind nach dem Ersten
stellen: Über einen Gedenktag kann man mit uns reden; Weltkrieg aus Slowenien ins Sudetenland vertrieben
aber der 5. August kommt nicht infrage, weil das eine worden. Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie – ich
Akklamation der Aussagen der Charta der Vertriebenen stamme aus einer österreichischen Offiziersfamilie – aus
bedeuten würde. Es würde anerkannt, dass die Vertriebe- dem Sudetenland vertrieben. In unserer Familienge-
nen diejenigen waren, die am meisten in dieser Zeit ge- schichte gab es die Sage, dass es mit den Tschechen vor
litten haben, dass man großzügig auf das Recht verzich- dem Krieg irgendwie ganz schwierig war. Gleichzeitig
tet, Vergeltung zu üben. Das sind Aussagen, die sich der hatte mein Großvater dem tschechischen Staat gegen-
Deutsche Bundestag nicht zu eigen machen darf, auch über das Angebot ausgeschlagen, als General in der
wenn er über ein solches Gedenken konstruktiv nach- tschechischen Armee zu dienen. So schlimm kann es mit
denkt. Nehmen Sie diese Geste der Anerkenntnis als Er- der Diskriminierung der Deutschen im Vielvölkerstaat
mahnung entgegen, hier nicht mit dem Kopf durch die der Tschechoslowakei nicht gewesen sein.
Wand zu gehen.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]:
Warum nehmen wir als Gedenktag nicht den 20. Juni, Na, na, na!)
den Weltflüchtlingstag? Die UN-Vollversammlung hat
den 60. Jahrestag der Schaffung des Amtes des UNHCR Angeblich war auch niemand Nazi, niemand in der
zum Anlass genommen, diesen Tag zum Weltflücht- Sudetendeutschen Partei. Als ich kürzlich beim Umzug
lingstag zu proklamieren. meiner Mutter Unterlagen aufgeräumt habe, habe ich he-
rausgefunden, dass ein Teil der Narration der Geschichte
Der UNHCR ist für Vertriebene und Flüchtlinge glei- unvollständig war: Natürlich war mein Vater in der Su-
chermaßen zuständig. Damit würden wir ein Zeichen detendeutschen Partei. Als er 1939 ins Reich gegangen
setzen, dass wir die Versöhnung mit den ehemaligen ist, war er auch Mitglied im Nationalsozialistischen
Kriegsgegnern wollen, dass wir denjenigen vergeben, Kraftfahrerbund. Er war zwar kein engagierter Nazi,
die auch Deutschen gegenüber Unrecht verübt haben, kein SS-Offizier wie die Unterzeichner der Charta der
und dass wir aus der Geschichte die Lehre ziehen, dass Heimatvertriebenen; trotzdem hat man sich in die Tasche
wir als Deutsche eine besondere Verantwortung für Ver- gelogen, wie man sich vor der Vertreibung gegenüber
triebene und Flüchtlinge haben, die es auf dieser Welt den ehemaligen tschechischen und slowakischen Nach-
immer noch gibt, zum Beispiel in Darfur, im Kosovo barn gebärdet hat, wie man sich politisch positioniert hat
und in anderen Gegenden dieser Erde. und dass man als österreichische Minderheit im tsche-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10123
Volker Beck (Köln)
(A) choslowakischen Staat nicht bereit war, sich zu integrie- heute den größten und verheerendsten Konflikt in der (C)
ren und an diesem gemeinsamen Staat mitzuwirken, weil Menschheit dar. Tatsache ist – das findet sich im vorlie-
man in der Minderheit war. genden Antrag wieder –, dass die deutsche Kriegsschuld
außer Frage steht – Punkt. Diesem Satz darf kein Aber
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: folgen; sonst wäre er tatsächlich, lieber Kollege Thierse,
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit. ein Alibisatz. Neben dem jährlichen Holocaustgedenk-
tag, der in diesem Hohen Haus stets begangen wird, gibt
es laut einer Dokumentation der Bundeszentrale für poli-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tische Bildung bundesweit über 2 000 NS-Gedenkstät-
Diese Geschichten – nicht nur das schwere Schicksal ten, die täglich von Hunderten Schulklassen und Zigtau-
der Vertreibung, das nach diesem Kapitel folgte – müs- senden Besuchern besichtigt werden. Dieses Faktum
sen in einer solchen Ausstellung, wenn sie Wahrhaftig- widerlegt als konkretes Beispiel den diffusen Vorwurf,
keit und Aufarbeitung befördern soll, ebenfalls erzählt es gebe hierzulande Tendenzen, sich jetzt als Opfervolk
werden. zu stilisieren. Es gibt keine solche Geschichtspolitik, und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Christdemokraten wie Liberale weisen dies mit aller
und bei der SPD) Entschiedenheit zurück.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Klaus Brähmig für die CDU/CSU- Kein Land weltweit hat sich mit seiner jüngsten Vergan-
Fraktion. genheit und Geschichte so intensiv auseinandergesetzt,
wie wir es getan haben und wie wir es auch zukünftig
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tun werden.
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Wer außerdem allen Ernstes eine neue Kollektiv-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und schulddebatte vom Zaun bricht, zeugt nicht gerade von
Kollegen! Wer in diesen Tagen nach wahrer Versöhnung Klugheit und Weitsicht.
sucht, sollte nicht in ein Fernsehstudio nach Hamburg
fahren, sondern das Edith-Stein-Haus in Breslau besu- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
chen. Wer in der schlesischen Geburtsstadt von Teresia Richtig!)
Benedicta vom Kreuz die Geschichte der heiliggespro- Sollte sich dahinter schieres Misstrauen verbergen, hätte
(B) chenen Ordensschwester studiert, erfährt, dass die Patro- man tatsächlich nichts aus dem Kalten Krieg gelernt. (D)
nin Europas eine Frau war, die vorbildlich im Hinblick
auf Versöhnung war. Das Geheimnis der Versöhnung Wohl aber gilt es, den Eindruck zu vermeiden, von den
heißt nämlich nicht Abrechnung, sondern Erinnerung. massenhaften Gräueln des Zweiten Weltkriegs seien le-
diglich zwei Gruppen, Juden und Deutsche, betroffen ge-
Das Thema „Flucht und Vertreibung“ muss im wesen. Deshalb haben wir in unserem Antrag ausdrück-
21. Jahrhundert in einen größeren, mitteleuropäischen lich festgehalten, dass mit Gedenkvorhaben des Bundes
Zusammenhang gestellt werden. Die deutschen Heimat- in Berlin auch die Aufgabe verbunden sein muss, an die
vertriebenen leisten an der Basis echte Versöhnungsar- Vertreibung von über 1 Million Polen aus den damaligen
beit. Ich verweise nur auf zwei bemerkenswerte Bei- polnischen Ostgebieten und Hunderttausender Ukrainer
spiele. Zum einen fand im letzten Jahr das erste deutsch- im Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen Westver-
polnische Heimattreffen in Kolberg statt. Zum anderen schiebung Polens zu erinnern.
bedauerte der rumänische Innenminister auf dem Hei-
mattag der Siebenbürger Sachsen 2010 die Aussiedlung Bei allem Respekt vor berechtigter Kritik – ich habe
der deutschen Minderheit und kündigte neue Beziehun- alle Reden der ersten Lesung und die Wortbeiträge des
gen an. Hinter der Brückenfunktion steht eben keine Kulturausschusses gründlich analysiert –: Dabei ist die
leere Formel, sondern die Chance zu wahrer Aussöh- Opposition deutlich über das Ziel hinausgeschossen.
nung. Nur aus der positiven Bewältigung der Kriegs-
und Nachkriegsgeschichte erwächst gegenseitiges Ver- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
ständnis, aus dem sich vielleicht sogar ein Mehr an euro- Richtig!)
päischer Solidarität ergibt. Ich habe den Eindruck, Sie haben das Kernanliegen un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) seres Antrags nicht einmal ansatzweise erfasst. Ja, die
Stuttgarter Charta ist ein Zeitdokument, dessen Sprache
Angesichts der aktuellen Entwicklung in Minsk und uns heute fremd erscheint und dessen Entstehung man
Kiew könnte ein neuer Zusammenhalt in Mitteleuropa aus den damaligen Umständen erklären muss.
eines Tages von zentraler Bedeutung sein.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Das Thema des Antrags ist deshalb für Deutschland der FDP)
wie für Europa von großem Gewicht. Um die teils hyste-
rische Debatte wieder auf den Boden der Tatsachen zu Dies ist nach wie vor eine Forschungslücke. Aber Sie
bringen, sind ein paar grundsätzliche reflektierende Äu- verbeißen sich in der Textkritik, anstatt die historische
ßerungen angebracht. Der Zweite Weltkrieg stellt bis Bedeutung des Dokuments zu erkennen, die gerade in
10124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Klaus Brähmig
(A) der Absage an radikale Kräfte und in der Eigenverpflich- Klaus Brähmig (CDU/CSU): (C)
tung zur Integration liegt. Nein. – Dies ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe
ersten Ranges, die wir ruhig, aber beharrlich angehen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und auch meistern werden.
NEN]: Was ist denn mit den SS-Leuten?)
An dieser Stelle danke ich meinen Kollegen Patrick
Natürlich erwähnt niemand von Ihnen das im Antrag Kurth und Wolfgang Börnsen besonders herzlich für die
wiedergegebene Zitat des ehemaligen Bundesinnenminis- vertrauensvolle und ausgezeichnete Zusammenarbeit.
ters Schily. Er räumte auf dem Tag der Heimat 1999 in Wir haben nicht nur in dieser Legislaturperiode gemein-
Berlin offen ein, dass die politische Linke zeitweise über sam noch viel vor. Meine Bitte ist: Stimmen Sie diesem
die Vertreibungsverbrechen und das Leid der Vertriebe- Antrag zu.
nen hinweggesehen habe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]:
Hört! Hört!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Oder ist Otto Schily nicht mehr Mitglied der SPD? Volker Beck das Wort.
Anstatt einen konstruktiven Beitrag zu leisten, hängen
Sie sich lieber mit blindem Eifer an Personalien auf, die Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
in dem Antrag überhaupt nicht zur Disposition stehen. Herr Kollege Brähmig, Sie haben mich gerade mit ei-
ner Aussage in Ihrer Rede etwas stutzen lassen. Sie ha-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben gesagt, das Kapitel des Zweiten Weltkrieges sei
NEN]: Nicht ein Mal kritisch reflektiert!) nicht abgeschlossen.

Weder haben Sie sich die Mühe gemacht, einen eigenen (Brigitte Zypries [SPD]: Genau!)
Antrag zu entwerfen, noch ist es Ihnen eingefallen, eine Meinten Sie die Aufarbeitung, oder wollten Sie damit
ausgewogene wissenschaftliche Befassung mit der Charta offene Rechtsfragen ansprechen, die sozusagen noch der
anzuregen. Klärung bedürfen? Ich finde es wichtig, dass wir in die-
ser Debatte wissen, auf welcher Grundlage wir reden.
Meine Damen und Herren, es ist schon im persönli- Oder sehen Sie es wie Frau Steinbach, dass wir im Osten
chen Bereich oft schwer genug, sich auszusöhnen. Wie eine Grenze haben, die eigentlich nicht unsere Zustim-
soll da Versöhnung zwischen Völkern möglich sein, mung finden sollte?
(B) wenn es um millionenfaches Leid auf beiden Seiten (D)
geht? Muss es uns nicht wie ein Wunder anmuten, dass
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wir Deutsche gerade in den Ländern, in denen der
Zweite Weltkrieg am Schlimmsten gewütet hat, heutzu- Kollege Brähmig, Sie haben Gelegenheit zur Ant-
wort. – Keine Reaktion.
tage wieder freundlich aufgenommen werden? Das letzte
Kapitel dieses Krieges ist jedoch noch nicht abgeschlos- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sen, und dessen Aufarbeitung darf von unserer Nation NEN]: Er möchte die Frage offenlassen! –
nicht unterschätzt werden. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Keine Antwort, das spricht für sich!)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Meinen Sie die Aufarbeitung, oder Dann erteile ich dem Kollegen Patrick Kurth für die
meinen Sie das Kapitel selbst?) FDP-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
So wie der damalige Umzug der Regierung nach Ber-
der CDU/CSU)
lin dazu diente, die innere Einheit Deutschlands zu voll-
enden, zielt unser Antrag zum Thema „Flucht und Ver-
treibung“ in erster Linie auf die Versöhnung der Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Deutschen mit sich selbst. Die nationale Katastrophe am Herr Präsident! Ich bin dankbar dafür, dass Sie, Herr
Ende des Zweiten Weltkrieges muss endlich von der ge- Thierse, heute hier reden konnten, obwohl Sie Dienst ha-
samten Gesellschaft als Teil der deutschen Geschichte ben. Ich habe es bedauert, dass Sie beim letzten Mal
begriffen werden. Daher ist ein Zeichen der Verbunden- nicht reden konnten.
heit, ein nationaler Gedenktag mit den Vertriebenen und (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
deren Nachkommen, notwendig, um die Versöhnung zu GRÜNEN]: Wie tief ist die FDP gesunken,
vollenden. diesen Antrag mitzutragen! Was würden
Genscher und Scheel dazu sagen? Das ist un-
(Beifall bei der CDU/CSU) glaublich! Das ist peinlich!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Jochimsen, die Vertriebenen haben sich nach dem
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Krieg Gott sei Dank nicht so benommen wie die SED
Kollegen Beck? nach der Wende. Sie verklären und relativieren die Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10125
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) schichte, Sie drehen die Historie um. Das haben die Ver- Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): (C)
triebenen nicht getan. Sie können über das Thema reden, aber ob Sie dabei
die moralische Keule schwingen können, ist eine andere
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Frage. Angesichts der Tatsache, dass ein ehemaliger
GRÜNEN]: Hat denn keiner in den Antrag ge-
Vorsitzender Ihrer Partei bei Milosevic Hof gehalten hat,
sehen?)
müssen Sie sich schon fragen, ob das in Ordnung war
Keine Organisation in der Geschichte der Bundesrepu- und ob Sie hier so reden können.
blik hat derart die Geschichte verklärt, Verbrechen ver-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Un-
tuscht, Gewalt verharmlost oder sich eines unanständi-
glaublich!)
gen Revanchismus und Relativismus bedient, wie Sie es
getan haben. Sie haben kein Recht, so zu reden, Außerdem: Ihre Vorsitzende hat eine Debatte losgetreten
– in dieser Woche hat sie übrigens nachgelegt –, indem
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Doch,
sie sinngemäß sagte, dass der Kommunismus von Stalin,
das habe ich sehr wohl! – Weiterer Zuruf von
Mao und Pol Pot nichts, aber auch gar nichts mit dem
der LINKEN: Das ist die FDP! Sie verwehrt
Kommunismus in der Theorie zu tun hat.
uns das Recht zu reden!)
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das
erst recht nicht, da in der jüngeren Geschichte
hat mit dem Thema heute nichts zu tun!)
Dr. Gregor Gysi von Ihrer Partei beim letzten Vertrei-
bungsdiktator, Herrn Milosevic, in Serbien war und ihm Wenn Stalin nun nicht mehr als Kommunist durchgeht,
den Hof gemacht hat. dann rate ich Ihnen, sich mit den Stalinisten in Ihrer Par-
tei zu unterhalten, was die davon halten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
fug!)
Sie können darüber reden – wir haben Sie auch ungestört
Herr Beck, ich möchte kurz darauf hinweisen: Die reden lassen –, aber ich spreche Ihnen ab, die moralische
Namen, die Sie nennen, sind verabscheuungswürdig. Keule zu schwingen.
Das ist so. Aber mehr als zwei Drittel der Vertriebenen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
waren Frauen und Kinder. Auch das muss man zur
GRÜNEN]: Das ist ein erbärmliches Niveau,
Kenntnis nehmen. Das müssen Sie, wenn es um Fragen
Herr Kollege!)
von Schuld und Ähnlichem geht, mit berücksichtigen.
Ich hatte schon beim letzten Mal das Gefühl und habe es Der Zeitgeist bei der jüngeren Generation – darauf
möchte ich verweisen – ist ein anderer als der, den Sie (D)
(B) dieses Mal wieder, dass Sie hier einen persönlichen Igel
bürsten wollen und dazu die Plenardebatte des Deut- hier unterstellen. Es gibt ein neues und frisches Interesse
schen Bundestages nutzen. an Geschichte.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch un- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
anständig!) NEN]: Das ist Geschichtsklitterung! –
Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Unglaublich!)
Das können Sie zwar auf persönlichem Wege machen,
aber nicht im Deutschen Bundestag angesichts eines sol- Es gibt ein neues und frisches Interesse auch an den Ge-
chen Themas. bieten. Es gibt einen intensiven Austausch mit Polen und
Tschechien, der sehr gefragt ist, und es gibt entspre-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chende Literatur, zahlreiche Romane; Günter Grass
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage wurde erwähnt. Das hat nichts mit irgendwelchen Trach-
der Kollegin Jochimsen? tenzeiten oder Funktionärsinteressen zu tun. Es gibt bei
den jungen Leuten ein unbefangenes Verhältnis, auf das
man aufbauen möchte.
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Ja, bitte. Im Gegensatz dazu betreten Sie ausgetretene Pfade.
Auch in der Diskussion werden die alten Fronten sicht-
bar. Sie machen den entscheidenden Fehler, die Charta
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
als rückwärtsgewandtes Dokument zu sehen, das nur um
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
der Aufarbeitung des Krieges willen geschrieben worden
Sie mir absprechen, hier im Parlament das Wort ergrei-
ist. Aus meiner Sicht ist es das nicht. Vor allen Dingen
fen zu können? Ich möchte in diesem Zusammenhang
im Jahr 2011 kann man das so nicht sehen.
– obwohl es eigentlich überflüssig ist – darauf hinwei-
sen, dass ich nie Bürgerin der DDR war. Ich gehöre auch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nicht zur Familie des früheren Präsidenten Milosevic.
Die Charta war und ist wegweisend und der Zukunft
Ich sage das, weil Sie beides erwähnt haben. Aufgrund
zugewandt. Sie spricht von einem geeinten Europa. Sie
welcher Tatsachen wollen Sie mir das Recht absprechen,
spricht von der Ächtung der Vertreibung weltweit. Dass
hier im Bundestag zu reden?
Vertreibung nach wie vor aktuelle und traurige Realität
(Zuruf von der CDU/CSU: Auch wenn Sie ist, das mag doch niemand bestreiten. Es wäre wün-
nicht in der DDR gelebt haben, Deutsche sind schenswert, dass sich die Vertriebenen, die es weltweit
wir alle!) gibt, so verhalten würden wie die deutschen Vertriebe-
10126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Patrick Kurth (Kyffhäuser)


(A) nen. Das wäre ein gutes Zeichen. Das ist die Strahlkraft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
der Charta. sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Beck, ich weise mit aller Entschiedenheit zu-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des rück, dass ich – oder jemand anders aus der Regierungs-
Kollegen Beck? koalition – der Opposition oder irgendjemandem in die-
sem Hause abspreche, sich hier äußern zu dürfen, oder
dass ich jemandem unterstelle – Ihre Worte –, gänzlich
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): blöd zu sein;
Bitte schön.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben Sie
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorhin gerade getan! Das war der Einstieg Ih-
rer Rede!)
Offensichtlich halten Sie alle Oppositionsredner in
dieser Debatte für unehrlich. im Gegenteil. Ich weise aber darauf hin, dass einige hier
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie die moralische
Sebastian Blumenthal [FDP]: Wann ist das Keule schwingen.
denn gesagt worden?) Ich sage Ihnen, dass das Dokument, die Charta, im
– Das hat er mir gegenüber zum Ausdruck gebracht und Zeitzusammenhang gesehen werden muss. Damals war
auch gegenüber der Kollegin Jochimsen. Aber vielleicht es so, dass alle Parteien erklärten – ich will eigentlich
kann er das klarstellen. gar keine Namen nennen; Otto Grotewohl sprach von
der Amputation des deutschen Reichsgebietes; denken
(Zuruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] Sie auch an Kurt Schumacher! –, dass man sich so mit
[CDU/CSU]) dieser Abtrennung nicht abfinden werde. Inhaltlich
stütze ich das überhaupt nicht; es ist überhaupt nicht
– Herr Strobl, ich habe jetzt das Wort.
mehr Komment. Es ist völlig klar, dass das heute nie-
Ich möchte eine Frage stellen. mand mehr in irgendeiner Weise unterstützen würde.
(Sebastian Blumenthal [FDP]: Es geht nicht (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wa-
immer um Sie!) rum feiert man die Charta dann?)
– Herr Präsident, ich rede, sobald ich das Ohr des Hau- Die Charta ist in einer Zeit entstanden, in der man
(B) ses habe. überall hörte, auch von alliierter Seite: Da ist das letzte (D)
Wort noch nicht gesprochen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Kollege Beck, einfach durchhalten! GRÜNEN]: Die polnische Reaktion! – Zuruf
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das müs-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen Sie den Polen erklären!)
Ich bin da ganz gelassen.
Die Charta ist wegweisend und sagt: Wir als Betroffene
(Lachen bei Abgeordneten der FDP) mischen uns dort nicht ein.
Wir haben vorhin aus einem Artikel der Frankfurter (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Rundschau zitiert. Es ging um einen Beitrag eines Mit- Richtig!)
glieds des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Dieser stellt Wir verzichten darauf. Wir überlassen diese politische
eindeutig klar, wie die Charta und die Bezugnahme des Auseinandersetzung denen, die Politik machen. Nach
Bundestages auf diese Charta in Polen verstanden wird. dieser Charta werden wir das so nicht mitmachen.
Mir ist auch schon zu Ohren gekommen, dass es in der (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
polnischen Regierung bereits Irritationen darüber gibt, GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn! „Nationaler
was heute hier beschlossen werden soll. Gedenktag“, deutlicher kann man sich nicht
Halten Sie ein solches Signal an Polen, an Tsche- festlegen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/
chien, an die Slowakei wirklich für außenpolitisch ange- DIE GRÜNEN]: Ich habe nach der Reaktion
messen? Sie von der FDP stellen den Außenminister. aus Polen gefragt!)
Sind Sie ernsthaft der Ansicht, dass die alle – wie wir in Wenn wir an andere Gebiete heute denken, erkennen
der Opposition – zu blöd sind, die Charta historisch rich- wir: Es wäre wirklich wichtig, dass Opfer sich in dieser
tig einzuordnen? Sie sollten einmal darüber nachdenken, Weise äußern. Es geht dabei nicht darum, Schuld auf
welche eindeutige Botschaft die Charta für unsere Nach- sich zu nehmen, sondern um die Notwendigkeit, zu einer
barn hat: die Relativierung der deutschen Verbrechen Einigung zu kommen. Zu den Reaktionen in Polen kann
und das Dramatisieren und Singularisieren des Leidens ich Ihnen sagen: Hier ist alle Vorsicht geboten.
der deutschen Heimatvertriebenen. Das muss doch auch
Ihnen als Liberale zu denken geben. Das vermute ich zu- (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
mindest, wenn ich an die FDP von früher denke. Das ist jämmerlich für eine liberale Partei!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10127
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) Irgendjemand hatte gefragt, warum der Charta-Antrag Wir wollen die internationale Aufgabe. Wir wollen (C)
so spät kam. Wir haben auf alle möglichen internationa- nichts verklären. Es geht darum, dass wir friedlich mit
len Notwendigkeiten Rücksicht genommen. Wir haben unseren Nachbarn zusammenleben und über alles das re-
sehr intensiv und lange daran gearbeitet. den, was in der Vergangenheit über uns gekommen ist –
positiv, negativ.
(Iris Gleicke [SPD]: Sie wissen, dass das Murks
ist, und tragen das trotzdem hier vor!) Ich bedanke mich recht herzlich.
Ich kann Ihnen auch sagen, dass es nicht nur die Regie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rungsfraktionen waren, die daran mitgearbeitet haben.
Ich versichere Ihnen, dass es hier ausschließlich darum Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
geht, die Charta in ihrer internationalen Verhältnismä- Das Wort hat nun Stephan Mayer für die Fraktion der
ßigkeit zu sehen. CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sebastian Blumenthal [FDP])
Ich könnte das folgende Thema natürlich mit in die Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Beantwortung der Frage nehmen, aber ich will darauf Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-
verzichten. nen! Sehr geehrte Kollegen! Lassen Sie mich mit drei
Zitaten beginnen. Das erste Zitat:
(Brigitte Zypries [SPD]: Ist nicht die Redezeit
um?) 12 Millionen Vertriebene gründen keine militanten
Freikorps, die sich an den Gefühlen der Gekränkten
Thema Gedenktag. Das ist ein Punkt, über den man und Zukurzgekommenen mästen. Sie gründen auch
sich im Moment streitet. Damit das hier ganz klar ist: keine Untergrundarmee. Sie wurden nicht zum so-
Ein Gedenktag für Vertreibungen gilt nach unserer Vor- zialen Sprengstoff – wie Stalin es wollte –, sondern
stellung für alle Vertreibungen. Die Fokussierung auf die sie verzichteten früh auf Rache und wurden damit
Vertreibung der Deutschen wäre wieder ein Rückgriff zu etwas wie sozialem Sauerteig.
auf die Vergangenheit. Wir schauen nach vorn, und wir
haben auch die Vertreibungen im Blick, die seit jener Sie beginnen sich Stück für Stück aus den Minder-
Zeit geschehen sind. Für uns gilt: Es geht um Vertreibun- wertigkeitsgefühlen gegenüber den glücklicheren
gen, unabhängig von Ort, Zeit oder Umständen. Einheimischen zu befreien, ringen denen einen Las-
tenausgleich ab, schlucken den Groll über die All-
(B) Ähnlich ist es beim Thema Gedenkstätte. Es werden tagsdemütigungen herunter, vertrauen auf ihre ei- (D)
zum Teil Ängste geschürt, dass hier eine Gedenkstätte gene Kraft und werden damit zum eigentlichen
nur für die deutschen Opfer entstehen soll. Ich sage deut- Motor einer gewaltigen sozialen, wirtschaftlichen
lich: Das ist falsch. Es soll über eine Gedenkmöglichkeit und kulturellen Modernisierung ihrer ganzen Um-
in der Dokumentationsstätte nachgedacht werden, die gebung.
aber nicht nur für die deutschen Opfer da ist; nein, es
geht – da wiederhole ich mich gern und so oft, wie Sie Das zweite Zitat:
möchten – um Vertreibungen weltweit. Umso beeindruckender liest sich auch aus heutiger
Thema Rache. Ähnlich ist das mit der Begrifflichkeit Perspektive die Charta, welche die deutschen Hei-
des Wortes „Rache“. Niemand hat das Recht auf Rache. matvertriebenen gleichsam als ihr „Grundgesetz“
Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg und für alle Sei- verfassten. Unter Punkt eins heißt es da: „Wir Hei-
ten. Das ist ein Leitgedanke, der bei den aktuellen Kon- matvertriebenen verzichten auf Rache und Vergel-
flikten heute viel zu selten eine Rolle spielt. Ich sage tung.“ Und zweitens: „Wir werden jedes Beginnen
dazu auch deutlich: Verbrechen der Deutschen rechtferti- mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaf-
gen nicht Verbrechen an Deutschen, aber Verbrechen der fung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem
Deutschen werden eben auch nicht kleiner durch die die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“
Verbrechen an Deutschen. Schuld und Leid, das ist im- Ich denke, diesem Ziel sind wir heute – jedenfalls
mer individuell. auf dem größeren Teil unseres Kontinents – näher
als jemals in der Vergangenheit.
Ich möchte zusammenfassen: Wir sorgen mit dem
Antrag dafür, dass die junge Generation diesem Thema Und nun das dritte Zitat:
gegenüber weiterhin aufgeschlossen bleibt, ohne ideolo- Alle, die in unserem Land leben – die Jungen und
gische Verblendungen, und dass über dieses Thema of- die Älteren, Frauen und Männer, Arbeitnehmer und
fen gesprochen wird – nach allen Seiten. Das ist notwen- Arbeitgeber, Deutsche und Ausländer, Vertreterin-
dig. Wir tun das nicht nur, damit sich die Leute erinnern nen und Vertreter aus Bildung, Kirche, Kultur,
können, sondern auch – das ist das Entscheidende –, da- Medien, Politik, Sport, Verbänden, Vereinen und
mit sie urteilsfähig bleiben. Wissenschaft – haben daran mitgewirkt. An einem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutschland mit Chancen für alle. An einem
menschlichen und toleranten Deutschland. Die
Man muss urteilsfähig bleiben, egal ob es das eigene Charta der Heimatvertriebenen hat dabei eine wich-
Land oder eine andere Region betrifft. tige Rolle gespielt.
10128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Stephan Mayer (Altötting)


(A) Diese Zitate stammen nicht von Vertretern des Bun- ten doch nur noch zustimmen! Das ist doch (C)
des der Vertriebenen, sie stammen auch nicht von Vertre- Geschichtsklitterung!)
tern der CDU, der CSU oder der FDP, diese drei Zitate
stammen in der Folge von Frau Dr. Antje Vollmer, die Damals, 1950, lebten 49,5 Prozent der Heimatvertriebe-
damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war, nen in Westdeutschland noch in Lagern,
vom Altbundeskanzler Gerhard Schröder aus dem Sep- (Jan Korte [DIE LINKE]: SS-Offiziere als
tember 2000 und vom derzeitigen Parteivorsitzenden der Opfer, oder was?)
SPD, Sigmar Gabriel, damals in seiner Funktion als
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. 34 Prozent der Heimatvertriebenen lebten in Notunter-
künften. Ich bitte Sie wirklich eindringlich, dieses histo-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- risch herausragende Dokument, ein Gründungsdoku-
ruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) ment der Bundesrepublik Deutschland, als das es der
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mich Bundestagspräsident bezeichnet hat, wirklich im histori-
beschwert und traurig macht, ist nicht, wie Professor schen Kontext zu betrachten.
Ruchniewicz gestern in der Frankfurter Rundschau ge- (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
schrieben hat, dass unser Antrag ein „Rückfall in Zeiten Meinen Sie das Grundgesetz?)
des Kalten Kriegs“ sei, was mich wirklich traurig
stimmt, ist, dass die Beiträge der Opposition einen Rück- Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, ich glaube wirk-
fall in Zeiten darstellen, von denen ich eigentlich lich, dass wir einen Fehler machen würden, wenn wir be-
glaubte, dass sie schon überwunden seien. haupten, man hätte den einen oder anderen Satz in der
Charta anders formulieren können. Die Heimatvertriebe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen konnten doch gar nicht auf Rache und Vergeltung
Ich möchte deshalb dringend an Sie appellieren: Besin- verzichten, weil sie rechtlich gar keinen Anspruch da-
nen Sie sich wieder der Auffassung und der Positionen, rauf hatten. Die Charta der Heimatvertriebenen war kein
rechtliches Gutachten. Sie war auch keine historische
(Iris Gleicke [SPD]: Besinnen wäre ange- Abhandlung. Deswegen ist der Vorwurf verfehlt, zu sa-
bracht! Besonders bei Ihnen!) gen, die Heimatvertriebenen hätten in der Charta histo-
die führende Vertreter Ihrer Parteien schon einmal vor risch plausibel zu wenig auf die Ursachen der Vertrei-
mehreren Jahren vertreten haben. bung Rücksicht genommen und seien zu wenig darauf
eingegangen. Nein, meine sehr verehrten Kolleginnen
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE und Kollegen, alle Deutschen – egal ob sie Vertriebene
GRÜNEN]: Lesen Sie doch einmal unseren sind oder nicht, egal ob sie einen Vertriebenenhinter-
(B) Änderungsantrag! Was reden Sie an der Sache grund haben oder nicht – können auf diese Charta stolz (D)
vorbei!) sein,
Man muss doch gar kein Anhänger und vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
auch gar kein Freund des Bundes der Vertriebenen sein, LINKEN: Nein!)
um anzuerkennen, dass die Charta der Heimatvertriebe-
nen vom 5. August 1950 ein historisch herausragendes und zwar ohne Schaum vor dem Mund und ohne Ideolo-
Dokument ist, ein singuläres Dokument, ein Akt der gie. Sie ist ein Zeichen der Kraft, der Zuversicht und der
Selbstüberwindung, wie es die Präsidentin des BdV, die Aufbruchsstimmung.
Kollegin Erika Steinbach, genannt hat.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
GRÜNEN]: Besonders wenn man sich die Au- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
toren anschaut! – Weitere Zurufe des Abg. Kollegen Korte von der Fraktion Die Linke?
Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN] und von der LINKEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Ich möchte auch in aller Deutlichkeit betonen, dass Sehr gerne.
wir uns davor hüten sollten, uns zu überheben – ich spre-
che da auch ganz bewusst den Herrn Kollegen Thierse Jan Korte (DIE LINKE):
an –, indem wir die Charta der Heimatvertriebenen jetzt, Sehr geehrter Kollege Mayer, ich möchte auf die
60 Jahre später, hier im wohltemperierten Plenarsaal des Frage zurückkommen – Sie haben sie gerade angespro-
Bundestages losgelöst von ihrem historischen Kontext chen –, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist. Möchten
bewerten. Sie wirklich behaupten, dass die von der Kollegin
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jochimsen vorhin detailliert genannten ehemaligen Mit-
glieder der SS – das waren zum Teil ranghohe SS-Offi-
Die Charta der Heimatvertriebenen wurde verab- ziere – Opfer gewesen sind? Ist das ernsthaft Ihre Posi-
schiedet von leidenden, gedemütigten, traumatisierten tion?
Menschen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
GRÜNEN]: Sie wurde unterzeichnet von einer Herr Kollege Korte, ich möchte eines in aller Deut-
Phalanx von SS-Offizieren! Die anderen konn- lichkeit festhalten: Die Tatsache, ob jemand vertrieben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10129
Stephan Mayer (Altötting)
(A) wurde oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ihm persönli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
che Schuld nachgesagt werden kann oder nicht. neten der FDP)
(Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP]) In diesem Sinne möchte ich abschließend dringend an
Sie alle appellieren.
Es sind Menschen vertrieben worden, die in das natio-
nalsozialistische Unrechtsregime mit eingebunden wa-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ren. Es sind aber weitaus mehr – millionenfach – Men-
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
schen vertrieben worden, die vollkommen unschuldig
waren. Herr Kollege Korte, der Umstand, ob man ver-
trieben wurde oder nicht, war nur darauf zurückzufüh- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
ren, wo man lebte. Das war also ein zufälliger Aspekt. Insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Opposition darf ich die Haltung des früheren
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Bundesinnenministers Otto Schily, seines Zeichens SPD-
60 Prozent Frauen und Kinder!) Mitglied, in Erinnerung rufen, der 1999 selbstkritisch
eingeräumt hat, dass es insbesondere aufseiten der Lin-
Viele Menschen in Westdeutschland, die vielleicht selbst
ken in Deutschland über Jahrzehnte hinweg eine Ver-
große Schuld an den grausamen Verbrechen des Natio-
harmlosung und eine Verniedlichung des Schicksals der
nalsozialismus gehabt haben, sind nicht vertrieben wor-
Heimatvertriebenen gegeben hat.
den. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem
Zweiten Weltkrieg sind aber weitaus mehr Menschen Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
vertrieben worden, die vollkommen unschuldig waren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir reden gerade über die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Charta!) Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Erika
Deren Schicksal zu gedenken, dafür sind wir nach wie Steinbach.
vor in vollem Umfang verantwortlich. (Iris Gleicke [SPD]: Uns bleibt aber auch
nichts erspart!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Charta war und ist ein herausragendes Dokument, Erika Steinbach (CDU/CSU):
das für die weitere Erfolgsgeschichte der Bundesrepu- Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!
(B) blik Deutschland wegweisend war. Manches an den Beiträgen von der linken Seite war (D)
schon erschütternd; das muss ich wirklich sagen.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Von der SS
unterzeichnete Papiere! Das ist nachgewie- (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]:
sen!) Vielleicht für Sie!)
Wie schon erwähnt: Darauf können wir alle sehr stolz Ein Teil der Deutschen hat aufgrund des Wohnortes eine
sein. Kollektivstrafe über sich ergehen lassen müssen, obwohl
sie an den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht
Die Integrationsleistung von 12 Millionen Heimatver- mehr und nicht weniger schuld gewesen sind als ein
triebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist aus meiner Hamburger, ein Berliner oder ein Münchner. Obwohl
Sicht eine der größten gesellschaftspolitischen Leistun- – so sagt man – die „Hauptstadt der Bewegung“ Mün-
gen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. chen gewesen ist, sind die Münchner nicht vertrieben
worden. Die Deutschen, die in Ost- und Mitteleuropa ge-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
lebt haben, sind kollektiv einer Strafe unterzogen wor-
Genau richtig!)
den, die sie nicht mehr und nicht weniger als alle ande-
Wir Deutsche haben den Auftrag, den wir nach dem ren verdient haben, nämlich gar nicht. Vertreibung ist ein
Zweiten Weltkrieg bekommen haben, meines Erachtens Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
sehr stringent und auch sehr behände angenommen und (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
auf politischer Seite dann 1952 mit dem Lastenaus- GRÜNEN]: Keiner hat die Vertreibung ge-
gleichsgesetz und 1953 mit dem Bundesvertriebenenge- lobt!)
setz entsprechend begleitet. Ich finde, diesem histori-
schen Dokument sind wir nach wie vor verantwortlich. Jetzt muss man eines hinzufügen. Es wird immer ge-
Deswegen ist es richtig, dass der 5. August endlich zum sagt, dass in der Charta der deutschen Heimatvertriebe-
nationalen Gedenktag erhoben wird, um dem schreckli- nen steht:
chen Schicksal von 12 Millionen Heimatvertriebenen
Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und
und 3 Millionen Menschen, die bei der Flucht ums Le-
Vergeltung.
ben gekommen sind, weiterhin dauerhaft zu gedenken
und um in die Zukunft gerichtet als Mahnung zu dienen. Es gibt kein Recht auf Rache und Vergeltung; aber in
Damit wollen wir erreichen, dass sich Derartiges in ganz vielen Menschen gibt es ein Gefühl, das auf Rache
Deutschland, aber auch auf dem ganzen Globus nie mehr und Vergeltung beruht. Ich hätte mir gewünscht, dass je-
wiederholt. mand wie der frühere Außenminister Fischer – er hat in
10130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Erika Steinbach
(A) seinen Straßenkämpferzeiten Arafat, einen gewalttätigen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: (C)
Menschen, der Rache für das Schicksal der Palästinenser
geübt hat, besucht – das Thema einmal anders betrachtet Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
hätte. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
In der Charta kommt eine innere Überzeugung zum der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar
Ausdruck: Wir wollen das Gefühl der Rache nicht zulas- Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter
sen; wir wollen unseren Schicksalsgefährten mit auf den und der Fraktion DIE LINKE
Weg geben, dass dieses Gefühl in uns nicht wachsen
darf; wir wollen den Weg des Friedens, der Versöhnung Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch
und des Miteinanders gehen; wir wollen Europa in Frie- und barrierefrei gestalten
den mit aufbauen, damit die Völker versöhnt miteinan- – Drucksachen 17/3433, 17/4659 –
der leben können.
Berichterstattung:
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wo Abgeordneter Sebastian Körber
bleiben eigentlich die Opfer? – Memet Kilic
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
sie tun, indem sie sich auf das Grundgesetz be- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
ziehen! Da ist es geregelt!) nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Mit der Art und Weise, wie Sie heute überheblich auf Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
all das schauen, was sich damals in den Menschen abge- Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
spielt hat, blenden Sie aus, dass die Verabschiedung ei-
nes solchen Dokuments in der damaligen Situation eine Gero Storjohann (CDU/CSU):
übermenschliche Handlung war: acht- und zehnjährige Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Jungen hatten erlebt, wie ihre Mütter vergewaltigt wur- Herren! Nach der Ausschussberatung befassen wir uns
den; Frauen hatten gesehen, wie ihre Kinder erschlagen heute abschließend mit dem Antrag der Linken „Grund-
wurden; recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wo stalten“.
bleiben eigentlich die Bombenopfer in den (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Guter
Großstädten?) Antrag!)
viele haben noch 1955 hier in Berlin, im Gasometer, zu – Ja. – Dieser Antrag, den wir schon im Ausschuss bera- (D)
(B) sechst auf 6 Quadratmetern gelebt, ohne Fenster, ohne
ten haben, macht deutlich, dass die Linken in Deutsch-
alles. Das heute auszublenden, zeugt von wenig Mitge- land bezüglich der Wohnungspolitik kein kompetenter
fühl für diejenigen, die ein Sonderschicksal erlitten ha- Gesprächspartner sind.
ben.
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wie kann man
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn so einen Quatsch sagen?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Der Antrag zeigt, dass die Linke die tatsächliche Ent-
wicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt vollkom-
Ich schließe die Aussprache.
men ignoriert.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Frak- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 2 Pro-
tionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „60 Jahre zent barrierefrei! Spitzenmäßig!)
Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung Wir Abgeordnete können den Wohnungsmarkt bei
vollenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- uns sehr wohl mit dem Wohnungsmarkt in anderen euro-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4651, den Antrag päischen Ländern vergleichen. Ich finde, der Wohnungs-
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck- markt in Deutschland ist vorbildlich. Dieser Antrag ist
sache 17/4193 anzunehmen. realitätsfremd und unsachlich. Ich möchte nur einen
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- Punkt herausgreifen. In dem Antrag steht:
nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Grünen auf existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohn-
Drucksache 17/4693? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- raum.
tungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stimmen Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Lieber nicht!)
Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung auf Diese Aussage ist durchweg falsch.
Drucksache 17/4651? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Mir ist es wichtig, dass wir ein realistisches Bild von
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Wohnungsmarktsituation in Deutschland zeichnen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen. und die falschen Behauptungen der Linken korrigieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10131
Gero Storjohann
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Anreizsysteme, aufgrund von Überzeugungen klappen (C)
neten der FDP) würde.
Das Wichtigste vorweg: Die Wohnraumversorgung in Grundsätzlich muss gewährleistet sein, dass alle Men-
Deutschland ist gut. schen in unserem Land, auch die sozial Schwächeren,
angemessen und menschenwürdig wohnen können. In
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Über Woh- diesem Zusammenhang möchte ich das Wohngeld als
nen hätten wir gestern in der Aktuellen Stunde gut funktionierendes Instrument herausstellen. Mithilfe
sprechen können!) des Wohngeldes können auch einkommensschwache
2006 gab es in Deutschland 39,6 Millionen Wohnungen. Haushalte in einer angemessenen und familiengerechten
Ich freue mich schon auf die Wohnraumerfassung; denn Wohnung leben. Das Wohngeld wirkt dabei sehr zielge-
dann werden wir aktuellere Daten haben. Von diesen richtet. Seine Höhe bemisst sich sowohl nach den regio-
39,6 Millionen Wohnungen waren knapp 24 Millionen nalen Gegebenheiten am jeweiligen Wohnungsmarkt als
Wohnungen Mietwohnungen. Das geht aus dem Bericht auch nach den individuellen Bedürfnissen des Wohn-
über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft des Bun- geldempfängers. Es ist das flexible und treffsichere In-
desbauministeriums hervor. Von diesen 39,6 Millionen strument der Wohnungspolitik.
Wohnungen standen 2006 3,1 Millionen Wohnungen (Sören Bartol [SPD]: Deswegen hättet ihr es
leer. Das sind 8 Prozent des kompletten Wohnungsbe- aber nicht kürzen müssen!)
standes. Selbstverständlich existieren regionale Unter-
schiede bei der Wohnraumversorgung. Dennoch haben Das sind nur einige der Maßnahmen, mit denen wir
wir keinen Wohnraummangel. Der Wohnungsmarkt ent- einen zunehmend barrierefreien, umweltfreundlichen
wickelt sich stabil. und sozial ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutsch-
land anregen. Vieles, was die Linke in ihrem Antrag for-
Das gilt auch für die Mietpreise. Die Nettomieten sind dert, ist bereits heute gängige Praxis.
zwischen 1997 und 2007 jährlich um durchschnittlich
1,1 Prozent gestiegen. Die durchschnittliche Preissteige- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was
rungsrate in diesen Jahren lag mit 1,5 Prozent deutlich denn zum Beispiel?)
höher. Die von den Linken beschworene dramatische Nun zur Forderung der Linken, ein Grundrecht auf
Preissteigerung bei den Mieten hat es nicht gegeben. Wohnen gesetzlich zu verankern. Das Sozialstaatsprin-
zip unseres Grundgesetzes verpflichtet den Staat bereits
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wo leben jetzt, die Versorgung der Bevölkerung mit angemesse-
Sie denn?) nem Wohnraum sicherzustellen. Der Staat hat die Auf-
(B) – Und wo leben Sie? Ich spreche von den Nettomieten. gabe, Obdachlosigkeit, Wohnungsmangel und men- (D)
Zwischen brutto und netto sollten Sie unterscheiden kön- schenunwürdiges Wohnen zu bekämpfen. Die Zahlen
nen. Das zu vertauschen, haben früher schon andere ver- beweisen, dass diese Bundesregierung und frühere Bun-
sucht. desregierungen diese Aufgabe stets gut erfüllt haben.

Auch die Linke sollte Statistiken zur Kenntnis neh- Ein von den Linken gefordertes in der Verfassung
men. Richtig ist, dass der Wohnungsmarkt sich selbst- verankertes Grundrecht auf Wohnen würde an der Le-
verständlich geänderten Rahmenbedingungen anpassen benswirklichkeit überhaupt nichts ändern. Wir als christ-
muss. In einer sozialen Marktwirtschaft wird er das auch lich-liberale Koalition sehen es stattdessen als unsere
tun. Aufgabe an, unseren ausgewogenen Wohnungsmarkt
weiter zu optimieren. Dies wird insbesondere durch
In Deutschland ist ein Trend eindeutig feststellbar: wohldosierte Neuregelungen im Mietrecht gelingen.
Mehr und mehr Menschen zieht es in die Städte und in
die Ballungsräume. Die Kehrseite dieser Entwicklung Unser Mietrecht ist seit jeher Garant sozial ausgewo-
ist, dass die Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum genen Wohnens in Deutschland. Das deutsche Mietrecht
weiter abnimmt. Insbesondere in den neuen Bundeslän- hatte stets beides im Blick, die Interessen der Vermieter,
dern ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Es ist unsere die natürlich ein Interesse an der Wirtschaftlichkeit ihrer
Aufgabe, darauf zu reagieren. Investition haben, und den Schutz der Mieter. Mietern
und Vermietern sollte also über das Mietrecht die Mög-
In einer älter werdenden Gesellschaft müssen außer- lichkeit gegeben werden, einen angemessenen Vertrag
dem mehr Wohnungen barrierefrei ausgestaltet werden. zu schließen, sodass beide wissen, woran sie sind, damit
Deshalb hat das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadt- sie eine gute Investitionsentscheidung oder die Entschei-
entwicklung das KfW-Programm „Altersgerecht Um- dung treffen können, in diesem Haus zur Miete zu leben.
bauen“ aufgelegt. Hierdurch schaffen wir von der Politik
CDU/CSU und FDP werden die Ausgewogenheit des
Anreize zum barrierefreien Ausbau bestehender Woh-
deutschen Mietrechts weiter erhöhen. Insbesondere im
nungen. Gleichzeitig müssen wir die CO2-Einsparpoten-
Bereich der energetischen Sanierung sind Anpassungen
ziale des Wohnungsbereichs möglichst optimal aus-
dringend notwendig. Im Sinne des Klimaschutzes wol-
nutzen. Durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist
len wir verstärkt Anreize zur energetischen Sanierung
es gelungen, in den Jahren 2006 bis 2008 rund
schaffen.
800 000 Wohnungen energetisch zu sanieren. Auch hier
sind wir auf einem richtigen und guten Weg. Politisch Gleichzeitig haben die Mieter ein berechtigtes Inte-
wird das begleitet. Es wäre schön, wenn das auch ohne resse daran, dass ihre Wohnsituation nicht über Gebühr
10132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Gero Storjohann
(A) durch Sanierungsmaßnahmen belastet wird. Auch hier- tigen. Ich finde es übrigens toll, dass sich die zuständi- (C)
bei streben wir eine sachgerechte Lösung an. Einen gen Abgeordneten aus allen Fraktionen daran beteiligen.
Rechtsanspruch auf die Durchführung energetischer Sa- Wir werden uns morgen mit Experten treffen und da-
nierungen, wie ihn die Linke fordert, lehnen wir strikt rüber beraten, welche Maßnahmen auf Bundesebene
ab. CDU und CSU sind Mietern und Vermietern glei- vielleicht sinnvoll sein könnten.
chermaßen verbunden. Wir suchen nach dem wunderba-
ren Mittelweg. Wohnungslosigkeit konnten wir bisher zum Beispiel
über Mietrecht und Wohngeld ganz gut begegnen. Die
Meine Damen und Herren, meine Kollegen werden quantitative Entwicklung der Wohnungslosigkeit in den
weitere Aspekte dieses Antrags in die Debatte einführen. letzten 20 Jahren ist sehr positiv. Für Wohnraumpolitik
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Ausschuss sind seit der Föderalismusreform hauptsächlich die Län-
noch über das Mietnomadentum debattieren werden. der zuständig. In einigen Landesverfassungen ist ein
(Sören Bartol [SPD]: Die gibt es nicht! – Grundrecht auf Wohnen verankert. Deshalb stellt sich
Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Frage, ob uns eine besondere bundesgesetzliche Re-
NEN]: 400 Mietnomaden! – Zuruf der Abg. gelung, wie sie die Linksfraktion fordert, an dieser Stelle
Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) wirklich weiterbringen würde.

– Sie haben das wunderbar gelesen. Sie haben auch gele- Die Länder bekommen für die soziale Wohnraumför-
sen, dass das keine statistische Grundgesamtheit war, derung Geld aus dem Bundeshaushalt. Hier haben wir
sondern dass das Fälle waren, anhand derer das Miet- einen Hebel, um den Wohnungsmarkt positiv zu beein-
nomadentum in Deutschland untersucht wurde. flussen. Ich fordere die Regierung auf, sicherzustellen,
dass die Länder die Mittel sinnvoll einsetzen.
Ich halte es für wichtig, dass wir uns dieser Problema-
tik widmen und dass wir Vermieter vor solchen Fällen (Patrick Döring [FDP]: Fangen wir damit mal
schützen. Das werden wir noch intensiv tun. in Berlin an!)
(Sören Bartol [SPD]: Finger weg vom Über 500 Millionen Euro pro Jahr sind kein Pappenstiel.
Mietrecht!) Bei derartigen Beträgen ist eine strenge Erfolgskon-
trolle, lieber Kollege Döring, sehr wichtig.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass wir einen ausge-
wogenen Wohnungsmarkt in Deutschland haben. Dass Zweitens. Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag
das so ist, dafür ist allen Bundesregierungen der Vergan- eine deutliche Ausweitung des Wohngelds. Niemand,
genheit zu danken. Wir bitten, der Beschlussempfehlung der unterdurchschnittlich verdient, solle mehr als 30 Pro-
des Ausschusses zuzustimmen. zent seines Einkommens für seine Wohnung, für Miete,
(B) Heizung, Wasser und Nebenkosten, ausgeben müssen. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Rest soll vom Staat übernommen werden. Nun hat
Schwarz-Gelb das Wohngeld gerade erst gekürzt. Die
Vizepräsidentin Petra Pau: Heizkostenkomponente, lieber Kollege Storjohann, ist
Der Kollege Bartol hat für die SPD-Fraktion das gerade abgeschafft worden. Sie war 2009 auf Betreiben
Wort. der SPD eingeführt worden. Lieber Herr Kollege, als Sie
von der Sinnhaftigkeit des Wohngeldes gesprochen ha-
Sören Bartol (SPD): ben, hätten Sie vielleicht kurz erwähnen sollen, dass es
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ein großer Fehler war, die Heizkostenkomponente abzu-
Im Großen und Ganzen haben wir in Deutschland einen schaffen.
ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Das ist gut so; denn (Beifall bei der SPD)
angemessener Wohnraum in einem lebenswerten Um-
feld ist ein Grundbedürfnis, für dessen Befriedigung wir Das Wohngeld kräftig aufzustocken, steht also leider
uns immer eingesetzt haben. Das ist eine zentrale Moti- im Moment nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr müs-
vation sozialdemokratischer Bau-, Wohnungs- und sen wir gemeinsam versuchen, mühsam Erreichtes zu
Stadtentwicklungspolitik. verteidigen und Abgeschafftes wieder einzufordern. Ihr
Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Links-
Der Wohnungsmarkt stellt sich regional aber sehr un- partei, ist – wie so oft in sozialpolitischen Angelegenhei-
terschiedlich dar. Darauf weisen Sie zu Recht hin, liebe ten – leider völlig unrealistisch und in keiner Weise
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Leerstände durchsetzbar.
in bestimmten Gebieten stehen steigenden Mieten zum
Beispiel in Ballungszentren gegenüber. Es gibt also Die Kosten für Haushaltsenergie werden mittelfristig
durchaus Herausforderungen, die es anzupacken gilt. immer weiter steigen. Daran kann niemand ernsthaft
zweifeln. So ist zum Beispiel Heizöl in den knapp zwei
Doch leider wird der vorliegende Antrag der Links-
Jahren seit der Einführung der Heizkostenkomponente
fraktion uns bei diesen Aufgaben überhaupt nicht voran-
um über 20 Prozent teurer geworden. Die Regierung
bringen. Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlich
lässt Einkommensschwache, für die steigende Heizkos-
machen.
ten besonders schwer zu verkraften sind, völlig alleine.
Erstens. Wohnungslosigkeit war Ende vergangenen So werden die Menschen in Arbeitslosengeld-II-Bezug
Jahres Thema hier im Plenum. Wir sind gerade dabei, und in die Grundsicherung gedrängt. Das ist zurzeit die
uns auf Berichterstatterebene intensiv damit zu beschäf- Entwicklung. Eine solche Politik wird dafür sorgen, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10133
Sören Bartol
(A) sich Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Unter dem Strich kann man sagen: Die Linksfraktion (C)
Wohngeld ist mehr als eine soziale Transferleistung, es macht mit diesem Antrag eine ganze Reihe von Fässern
trägt auch zu ausgewogenen Bevölkerungsstrukturen in auf, beschränkt die Begründung aber leider immer auf
den Stadtteilen und damit zur Lebendigkeit und Attrakti- ein paar Sätze. So ist ihr Antrag keine Grundlage für
vität der Städte bei. eine zielführende Debatte. Das ist schade; denn ange-
sichts der unökologischen und unsozialen Wohnungs-
(Beifall des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD]) politik dieser Bundesregierung wären es einige Aspekte
sicher wert gewesen, sich ernsthafter mit ihnen zu befas-
Schwarz-Gelb betreibt nicht nur unsoziale Rotstift-
sen.
politik zulasten von Einkommensschwachen, Rentnern
und Alleinerziehenden, sondern verschärft auch die so- Wir brauchen eine gut ausgestattete Städtebauförde-
ziale Spaltung in den Städten. Wir fordern von der Re- rung, die sich nicht auf die Finanzierung von Beton be-
gierung, das Wohngeld als zielgerichtetes Instrument für schränkt. Wir brauchen mehr energetisch sanierte Woh-
eine angemessene Wohnraumversorgung wieder zu stär- nungen, um sinnvolle Klimaschutzziele zu erreichen.
ken. Die Einbeziehung der Heizkosten, liebe Kollegin- Dabei muss unter anderem die Politik dafür sorgen, dass
nen und Kollegen von der Koalition, ist dabei ein ganz das Wohnen in den Innenstädten auch für Menschen mit
wichtiger Aspekt. kleinem Einkommen bezahlbar bleibt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schwarz-Gelb macht bei all dem das Gegenteil. Die
DIE GRÜNEN) Regierung kürzt die Mittel und beschränkt so die Städte-
bauförderung, sie streicht die Mittel für die CO2-Gebäu-
Drittes und letztes Beispiel: die Städtebauförderung. desanierung zusammen, sie stellt Wohngeldempfänger
Ich freue mich, dass wir von der Opposition uns darin schlechter, und – das haben wir gerade vom Kollegen
einig sind, dass die Kürzungen der Mittel für die Städte- Storjohann gehört – sie plant eine Mietrechtsnovelle, die
bauförderung und insbesondere der Mittel für das Pro- die Rechte der Mieterinnen und Mieter noch weiter ein-
gramm „Soziale Stadt“ nicht hinnehmbar sind. Gemein- schränken soll.
sam mit dem gerade gegründeten „Bündnis für eine
(Christian Ahrendt [FDP]: Woher wissen Sie
Soziale Stadt“ werden wir dafür eintreten, dass diese
das denn?)
Kürzungen im Haushalt 2012 zurückgenommen werden.
Dort, wo die Länder das Ausfallen der Bundesmittel für Gegen diese Entwicklung stellt sich die SPD-Bundes-
Gebiete der „Sozialen Stadt“ nicht kompensieren – Ber- tagsfraktion. Ich würde mich freuen, wenn sich auch die
lin und Nordrhein-Westfalen tun dies –, sind viele Stadt- Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion auf ver-
teilprojekte ohne Zukunftsperspektiven. Wir fordern die nünftige Art und Weise daran beteiligen würden.
(B) Bundesregierung auf, ihrer Verantwortung für eine so- (D)
(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE
zial ausgewogene Entwicklung der Städte und Gemein-
LINKE]: Wir sind immer vernünftig!)
den wieder gerecht zu werden.
(Beifall bei der SPD – Uwe Beckmeyer [SPD]: Vizepräsidentin Petra Pau:
Ja, Herr Staatssekretär!) Die Kollegin Müller hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
Die Forderung der Linken nach einer Zusammenle-
gung der Städtebauförderungsmittel in einem Topf halte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ich für nicht hilfreich. der CDU/CSU)
(Patrick Döring [FDP]: Das könnte fast von
mir sein!) Petra Müller (Aachen) (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Steuerungsmöglichkeiten des Bundes bei programmati- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäfti-
schen Schwerpunktsetzungen und einen expliziten Pro- gen uns heute mit dem Thema „Wohnen in Deutsch-
blembezug der einzelnen Programme möchte ich nicht land“. Ich muss ganz ehrlich sagen: Etwas Zielführendes
aufgeben. Die bisherige differenzierte Programmstruktur konnte ich, als ich den Antrag das erste Mal gelesen
hat sich bewährt und sollte aufgrund der programmbe- habe, nicht unbedingt erkennen, liebe Kolleginnen und
gleitenden Evaluation im Dialog mit den Ländern, den Kollegen der Fraktion der Linken. Ich glaube, wir sollten
Kommunen und den an der Programmumsetzung Betei- uns mit diesem Thema beschäftigen, weil dem Hohen
ligten fortentwickelt werden. Haus und uns allen bewusst ist, welch große Bedeutung
das Thema „Wohnen in Deutschland“ hat. Wir in der
Im Oktober letzten Jahres fand die erste Lesung die- christlich-liberalen Koalition tun das mit unserer Politik
ses Antrags statt. Ich kann mich nur an sehr wenige An- der Städtebauförderung,
träge erinnern, die so kurzfristig vor der entsprechenden
Plenarsitzung verteilt wurden. Anscheinend haben Sie (Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit sozialem Aus-
ihn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspar- gleich, oder wie ist das? Das haben Sie verges-
tei, erst im letzten Moment fertiggestellt. Ich muss es lei- sen!)
der sagen: Er wirkt an vielen Stellen wie mit der heißen des Wohngeldes, der CO2-Gebäudesanierung und der so-
Nadel gestrickt. zialen Wohnraumförderung.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Alles geplant!) (Sören Bartol [SPD]: Der Hotels!)
10134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Petra Müller (Aachen)


(A) – Ich wusste noch gar nicht, dass Sie im Hotel wohnen, Die Immobilienbranche, zu der vorwiegend kleine und (C)
Herr Bartol. mittlere Unternehmen sowie Einzeleigentümer gehören,
ist also Ihrer Meinung nach daran schuld. Richtig ist na-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) türlich, dass es regionale Unterschiede gibt. In einigen
Haben Sie denn wenigstens auch etwas davon, dass die Regionen gibt es ein Überangebot, und in den megaurba-
Mehrwertsteuer für die Hotellerie gesenkt wurde? nen Ballungsräumen ist die Angebotslage ausbaufähig.
Der Markt reguliert das von ganz alleine,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, ja!)
NEN]: Nein! Eben nicht! Weil die Preise gar durch Angebot und Nachfrage.
nicht runtergegangen sind! Der Lobbyismus
bleibt an einem kleben, und das zu Recht! – (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, genau!)
Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie aber fordern ein Diktat aus Berlin. Sie fordern indi-
NEN]: Die Gewinne haben sich erhöht, die rekt sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften.
Zimmerpreise sind aber gleich geblieben!)
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist Markt-
Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegen ideologie, was Sie da erzählen!)
der Linken, zu Ihrem Antrag. Darin beschreiben Sie,
dass die Bundesregierung, alle wichtigen Fachverbände Was Menschen zu tun oder zu lassen haben, was Men-
und der Fachausschuss unseres Hauses – ich zitiere – schen denken oder nicht denken und bauen oder nicht
„ein weitgehend zutreffendes Bild der Situation des bauen, das ist ihre eigene freie Entscheidung.
deutschen Wohnungsmarktes“ zeichnen. Diese Bundes-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jan
regierung und die Fachverbände, so schreiben Sie wei-
Korte [DIE LINKE]: Wie kann man nur so
ter, gehen davon aus, dass die Wohnungsversorgung in
ideologisch sein? Ich verstehe so etwas nicht!
Deutschland gut ist. So weit, so gut.
Das ist unfassbar! – Gegenruf des Abg.
Nur einen Absatz weiter kommen Sie in Ihrem Antrag Christian Ahrendt [FDP]: Herr Korte, lassen
aber zu der absurden Behauptung – Zitat –: Sie sich das mal von Frau Müller erklären!)
Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland – Ich kann auch schreien.
existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohn- Wir leben in einer freiheitlich-sozialen Marktwirt-
raum. schaft. Eigentum ist in diesem Land ein geschütztes Gut.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Das (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und es
(B) meinen wir ernst!) (D)
verpflichtet!)
Ich muss ehrlich sagen: Damit verblüffen Sie mich. Jeder hat das Recht, seine Lebensziele zu bestimmen,
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Mich ver- seine Chancen zu suchen und zu nutzen.
blüfft, was Sie dazu sagen!) (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Die Betonung
Einerseits sagen Sie: Alle Beteiligten zeichnen ein zu- liegt auf „jeder“!)
treffendes Bild. Andererseits sagen Sie: Nirgendwo gibt – Ja, jeder.
es ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. Ich
muss Sie wirklich fragen: Was wollen Sie eigentlich? (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja! Nicht nur FDP-
Wähler! Das ist der Unterschied! – Gegenruf
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Bedarfs- von der CDU/CSU: So ein Blödsinn!)
gerechten Wohnraum!)
Die Immobilienwirtschaft, die hier ein wenig an den
Ich muss Sie noch etwas fragen: Ist das Ihre scharf- Pranger gestellt wird, ist von großer Bedeutung für die
sinnige Analyse des deutschen Wohnungsmarktes, auf Volkswirtschaft. Rund eine halbe Million Erwerbstätige
der Sie Ihre politischen Forderungen aufbauen? Dann arbeitet in der Immobilienwirtschaft. Deshalb müssen
kann ich nur eines sagen: Das ist eine sehr ideologisch wir kleine und mittlere Unternehmen, die privaten
durchsetzte und untermauerte Analyse. Eigentümer, die kommunalen und die gewerblichen
(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Damit kennt Wohnungsbaugesellschaften unterstützen. Die unterneh-
ihr euch aus!) merische Freiheit durch ein ideologisches Korsett einzu-
engen, kann nicht unser Anliegen sein.
Die Versorgung mit Wohnraum in der Bundesrepublik
Deutschland ist seit Jahren grundsätzlich sichergestellt. (Jan Korte [DIE LINKE]: Wie bei den Finanz-
märkten!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutschland ist ein Mieterland.
Für die natürlichen regionalen Unterschiede auf dem
(Jan Korte [DIE LINKE]: Super Analyse!)
Wohnungsmarkt machen Sie die Immobilienbranche
verantwortlich. Sechs von zehn Deutschen leben in einer Mietwohnung.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das sind ja Ihre (Sören Bartol [SPD]: Umso wichtiger, dass
Kumpel!) man nicht am Mietrecht rumfummelt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10135
Petra Müller (Aachen)
(A) Ziel muss es daher sein – und das war immer unser An- trags fest, dass die Wohnungsversorgung gut ist. Der (C)
liegen –, die Wohneigentumsquote zu erhöhen. Meinung sind wir auch, weil wir das leisten, und zwar
durch ein soziales Mietrecht, durch Wohngeld, durch
(Zurufe von der LINKEN) Wohnraumförderung der Länder.
Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam die Bedeu- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das zeigt, wie sach-
tung des Wohneigentums betont; denn es stärkt die re- lich wir argumentieren!)
gionale Verbundenheit und ist traditionelle Altersvor-
sorge. Das nenne ich bürgerliche Politik. Was Sie fordern, ist ein Diktat aus Berlin.
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist keine (Zurufe von der LINKEN: Nö!)
Tradition! Das haben Sie gerade selber ge- Deshalb sagen wir Nein zu Ihrem Antrag.
sagt!)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, was Sie vorschlagen, ist ein ganzer Katalog an (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jan
Forderungen – mal sind es Forderungen, die in die Län- Korte [DIE LINKE]: Es sprach die villenpoli-
derhoheit fallen, mal sind es Forderungen, die in der tische Sprecherin! Einfach unfassbar!)
kommunalen Verantwortung liegen, und mal ist die Bun-
desebene zuständig. Ehrlich gesagt, so etwas ist Schau- Vizepräsidentin Petra Pau:
fensterpolitik. Das Wort hat die Kollegin Bluhm für die Fraktion Die
(Jan Korte [DIE LINKE]: Die FDP ist nur für Linke.
die Villen zuständig!) (Beifall bei der LINKEN – Jan Korte [DIE
LINKE]: Jetzt kommt mal Substanz!)
Ich gehe auf die Punkte ein. Fakt ist – und da sind wir
uns wahrscheinlich alle einig –: Die Gesellschaft wird
älter. Wir erleben den demografischen Wandel. Wir Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
möchten, dass ältere Menschen lange und selbstbe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
stimmt in ihren eigenen vier Wänden, in ihren eigenen nen und Kollegen vor allem der Koalitionsfraktionen!
Wohnungen und in ihrem Quartier leben können. Was wir von Ihnen immer wieder hören, ist Folgendes:
Hartz IV ist gut. Die Wirtschaft ist gut. Auch der Woh-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nicht lange, nungsmarkt ist gut. Alles ist gut. – Sie haben die Mög-
sondern bis zuletzt!) lichkeit, hier immer wieder zu verkünden: Alles, was Sie
machen, ist gut. – Es gibt Gott sei Dank die Opposition, (D)
(B) Das ist es, was wir unterstützen. Wir unterstützen das
mit dem KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“. die Ihnen zeigt, dass es auch eine Kehrseite Ihrer Politik
gibt, und das will ich hier heute versuchen.
Wir unterstützen auch die Verbesserung der Energie-
effizienz; diese steht bei uns ganz oben auf der Agenda. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Mit dem Energieeffizienzgesetz ist es uns das erste Mal neten der SPD)
gelungen, die Finanzierung der Förderung alternativer Eines der Kernanliegen der Linken ist es, die sozialen
Energien sicherzustellen, und wir reagieren mit dem Bedürfnisse der Menschen zu sozialen Rechten zu ma-
CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Beide Maßnahmen chen.
setzen Investitionsanreize. Das ist ganz wichtig für die
deutsche Wirtschaft, für die Eigentümer, für die Nutzer. (Beifall bei der LINKEN)
Beide Programme sind überaus erfolgreich. Die Realität sieht aber anders aus: Wohnungen werden
Vielleicht noch ein Punkt – es wurde gerade ange- immer mehr zur gewöhnlichen Handelsware – mittler-
sprochen –: die Ausgleichszahlungen an die Länder. weile auch auf dem internationalen Parkett.
Diese belaufen sich auf 518 Millionen Euro; das ist rich- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)
tig. 518 Millionen Euro werden für soziale Wohnraum-
förderung eingesetzt. Gefördert wird die Barriereredu- Immobilien machen heute – und auch das sagt der
zierung im Bestand. Gefördert wird Modernisierung. Wohnungsbericht – mit rund 86 Prozent den herausra-
Gefördert werden Alten- und Pflegeheime und selbstver- genden Anteil am deutschen Anlagevermögen, also nicht
ständlich auch der Neubau. am Sozialvermögen des Staates, sondern am Anlagever-
mögen der Bürgerinnen und Bürger, aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städtebau ist viel-
schichtig. Er muss differenziert betrachtet werden: nach Die Regierungen der letzten 20 Jahre haben diesen
Region und Eigentümerstruktur, nach ökonomischen Trend mit ihrer Politik stets befördert: mit Sonderab-
und ökologischen Erfordernissen und natürlich nach so- schreibungen für Anleger, mit der Förderung privaten
zialen Belangen. Genau das tun wir, und zwar zielfüh- Wohnungsbaus, durch die der soziale Wohnungsbau ver-
rend und erfolgreich über die Städtebauförderung und drängt wurde, oder gar mit der Riester-Rente, mit der
KfW-Programme. suggeriert wird, dass man sich damit vor Altersarmut
schützen kann. Damit zieht sich der Staat immer weiter
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen der aus der sozialen Verantwortung zurück: zum Beispiel
Linken, Sie fordern eine bedarfsgerechte Versorgung der durch weitere Privatisierungen und den Verkauf an insti-
Menschen mit Wohnraum. Sie stellen eingangs Ihres An- tutionelle Anleger, zum Beispiel durch die Kürzung von
10136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Heidrun Bluhm
(A) Wohngeld im Haushaltsplan 2011, zum Beispiel durch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herr (C)
die Abschaffung der Gemeinnützigkeit von Wohnungs- Vaatz ist so ruhig geworden!)
gesellschaften. Kurzum: Jeder soll sich selber kümmern,
Auch in München, Köln, Düsseldorf und andernorts
der Markt soll das regeln.
könnten Sie Ähnliches beobachten, wenn Sie einmal
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, genau! Nicht dorthin gingen, wo der größte Teil der Menschen lebt
die Abteilung Wohnraumlenkung!) oder wenigstens versucht, zu leben. Die Kehrseite ist:
gähnender Leerstand in schrumpfenden Regionen und
Die Linke sieht das Wohnen als elementares mensch- abgehängte Quartiere mit verfallender Infrastruktur und
liches Bedürfnis an. Das Recht, unter menschenwürdi- zerstörten sozialen Beziehungen.
gen Bedingungen zu wohnen, gehört nach unserer Über-
zeugung zu den existenziellen sozialen Rechten eines (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
jeden Menschen unseres Landes. sind die Fakten!)
(Beifall bei der LINKEN) Einige Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause
trösten sich mit dem Durchschnitt und sagen immer wie-
Wohnen darf unter gar keinen Umständen zum Luxusgut der tapfer: Die Wohnungsversorgung in Deutschland ist
oder zum Armutsrisiko unserer Bürgerinnen und Bürger gut. Klar, Sie hätten recht, wenn diese Wohnungsuchen-
werden. den in Hamburg, München, Köln oder Düsseldorf nach
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Vier Jahre Schwerin, Eisenhüttenstadt, Bitterfeld oder Stendal zie-
Arbeitszeit!) hen könnten oder wollten.
Genau auf diesem schlechten Weg ist die Bundesregie- Die Linke will eine Wohnungs- und Städtebaupolitik,
rung mit ihrer Politik aber. mit der die tiefgreifenden ökologischen, demografischen
und wirtschaftlichen Veränderungen, vor denen diese
Das gilt zum Beispiel für Hamburg. Hier herrscht Gesellschaft steht, konzeptionell und allumfassend be-
massive Wohnungsnot. Derzeit fehlen über 40 000 Woh- trachtet werden und auf die sich die Menschen in dieser
nungen. Die Mieten sind in den letzten Jahren deswegen und in den kommenden Generationen, die Länder und
regelrecht explodiert und im Durchschnitt um 28 Prozent Kommunen, die Hauseigentümer, die Bauwirtschaft und
gestiegen. Damit meine ich nicht die Wohnungen in den die Mieterinnen und Mieter verlassen können,
Luxusvillenvierteln.
(Beifall bei der LINKEN)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)
weil sie eben nicht der jeweiligen Kassenlage, den kurz-
Tausende Menschen versuchen verzweifelt, irgendwo fristigen Renditeerwartungen und irgendwelchen Klien-
(B) noch eine bezahlbare Wohnung zu finden. (D)
telinteressen, sondern nur dem Grundgesetz und damit
(Sebastian Körber [FDP]: Vor allem in Berlin!) allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ver-
pflichtet ist.
Man fragt schon gar nicht mehr nach dem Zustand dieser
Wohnung, sondern man ist froh, wenn man überhaupt (Oliver Luksic [FDP]: Ein Grundgesetz der
eine bekommt. Linkspartei? Was für ein Grundgesetz ist das
denn?)
Viele Haushalte mit niedrigem Einkommen müssen
schon jetzt mehr als die Hälfte ihres Monatsbudgets fürs Wir wollen eine neue Objektförderung, die die Lasten
Wohnen aufbringen – und das zum Teil für unsanierten gerecht auf alle Schultern verteilt, die die Mieterinnen
Wohnraum. Der krasseste Fall, der uns bekannt ist, ist und Mieter, aber auch die Wohnungseigentümer nicht
eine Steigerung der Miete nach energetischer Sanierung überfordert, die langfristige Investitionsanreize für die
um 244 Prozent. Bauwirtschaft gibt und die die Länder und Kommunen
entsprechend ihrer regionalen Erfordernisse mitbestim-
(Sebastian Körber [FDP]: Das kann doch gar men lässt.
nicht sein!)
Wir wollen eine neue Subjektförderung, die es allen
Dadurch zeigt sich doch, dass der Markt hier, wo es um Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, moderne, fami-
Grundbedürfnisse eines jeden Menschen geht, absolut liengerechte, altersgerechte und dem Bedarf entspre-
versagt, wenn man es ihm alleine überlässt. chende barrierefreie Wohnungen zu bezahlbaren Mieten
zu finden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) (Oliver Luksic [FDP]: Wolkenkuckucksheim!)
In Hamburg sind 150 000 Haushalte auf staatliche Wir werden diese ehrgeizigen Ziele nicht erreichen,
Zuschüsse angewiesen, um die Miete noch irgendwie wenn wir allein der jährlichen Kassenlage und den Haus-
zahlen zu können. Weil diese Leute dank der verfehlten haltsvorgaben folgen und die Fördermittel zusammenstrei-
Regierungspolitik trotz Arbeit immer ärmer werden, hat chen, bis sie ins Haushaltskonzept passen, und wenn wir
inzwischen jede zweite Familie in Hamburg einen An- die Bauwirtschaft sich ständig neu auf unberechenbare
spruch auf eine Sozialwohnung und einen Wohnberech- Marktbedingungen einstellen lassen, sodass sie zum Bei-
tigungsschein. Dieser nützt ihnen aber nichts; denn sie spiel heute mit Konjunkturprogrammen rechnen kann,
finden mit diesem Wohnberechtigungsschein keine um sich schon morgen mit der Kürzung der Fördermittel
Wohnung mehr in Hamburg. auseinandersetzen zu müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10137
Heidrun Bluhm
(A) Wohnen ist Daseinsvorsorge und damit vorrangig serer Sicht vor allem eine massive Stärkung der Städte- (C)
Aufgabe des Staates, der Länder und der Kommunen. bauförderung.
Deshalb gehört das Wohnen ins Grundgesetz.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Leider gehen Sie in Ihrem Antrag in keiner Weise auf
die Möglichkeiten der Objektförderung im Rahmen der
Vizepräsidentin Petra Pau:
staatlichen Programme zur CO2-Gebäudesanierung und
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Daniela
zum altersgerechten Umbau ein, obwohl gerade diese
Wagner das Wort.
Programme erhebliche Potenziale der Objektförderung
enthalten, wenn die Mittel dafür erhöht werden, statt sie
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zu kürzen, wie es zuletzt in den Etatberatungen der Fall
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsiden- war.
tin! Ein Merkmal der Wohnungspolitik ist, dass sie zwi-
schen einer enormen Vielfalt an gesellschaftspolitischen Unter dem Punkt „Subjektförderung“ schlagen Sie in
und wirtschaftlichen Interessen, Herausforderungen und Ihrem Antrag vor, das Recht auf eine menschenwürdige
Anforderungen vermitteln und abwägen muss. Das Wohnung und auf die Versorgung mit Wasser und Ener-
Spektrum der Akteure umfasst international agierende gie gesetzlich zu garantieren. Wenn Sie das in die Ver-
Investmentfonds oder Aktiengesellschaften, private oder fassung aufnehmen möchten, dann müssen Sie das auch
kommunale Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaf- deutlich formulieren. An der Stelle würde mir mehr
ten oder Kleinstbesitzer, Amateurvermieter, Kleinstver- Klarheit gefallen. Anzumerken ist auch, dass ein sol-
mieter und letztlich auch die Mieter. chermaßen formuliertes Grundrecht maßlos Illusionen
erzeugen und falsche Hoffnungen wecken kann.
Dem Antrag der Fraktion Die Linke liegt eine weitge-
hend richtige und zutreffende Analyse der aktuellen (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es!)
Wohnungsmarktsituation in Deutschland zugrunde: ge-
nug Wohnungen, aber leider falsch verteilt. Die zwei Das würde ich gerade für diejenigen, die am Wohnungs-
zentralen Herausforderungen der Wohnungspolitik sind markt Schwierigkeiten haben, äußerst schade finden.
derzeit die energetische Gebäudesanierung und der al- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tersgerechte Umbau: Allein 40 Prozent der deutschland- der CDU/CSU und der SPD)
weit verbrauchten Endenergie wird im Gebäudebereich
verbraucht. Bis 2013 brauchen wir nach Angaben der Denn der garantierte Wohnraum muss auch zur Verfü-
Expertenkommission „Wohnen im Alter“ 2,5 Millionen gung stehen, und zwar dort, wo er gebraucht wird.
(B) altersgerechte Wohnungen zusätzlich. (D)
Ihre Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnen
Diese Herausforderungen müssen so gemeistert wer- bleibt unserer Meinung nach ohne konkrete Hinterle-
den, dass sie für Mieterinnen und Mieter sozialverträg- gung materiell wirksamer Maßnahmen folgenlos. Sie
lich, aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer dient auch nicht der Auseinandersetzung mit den beste-
wirtschaftlich tragbar sind. henden Interessenkonflikten und ist ein Luftschloss nach
dem Motto „Wir schreiben alles, was wünschenswert ist,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
in die Verfassung, und dann wird es gut“. So einfach ist
sowie des Abg. Sören Bartol [SPD])
es leider nicht.
Wir brauchen neben dem ordnungs- und mietrechtlichen
Rahmen auch entsprechende Anreize für die Kleineigen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tümer sowie für die Wohnungs- und Immobilienwirt- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
schaft. der SPD)

Ihre Ansätze zur Objektförderung sind nicht rundweg Ich glaube, dass das auch keine Antwort auf Gentrifi-
abzulehnen. So halte ich zum Beispiel Ihren Vorschlag, zierungsprozesse und Segregation ist; es sind vielmehr
die Förderung des Mietwohnungsbaus von der grünen Anreize für die Immobilienwirtschaft notwendig und
Wiese verstärkt auf Innenstädte zu lenken und dort zu möglich. Denn gerade diese muss bei angespannten
konzentrieren, durchaus für richtig. In einer schrumpfen- Wohnungsmärkten zunehmend in den Neubau und sozial
den Gesellschaft muss man nicht ständig weitere Flä- verträgliche Mietwohnungen investieren. Zusätzlich
chen im Außenbereich bzw. an den Stadträndern versie- muss die Wohnungsbauförderung – aber das ist ja künf-
geln. tig vor allen Dingen Angelegenheit der Länder – so aus-
gestaltet werden, dass sie von der Wohnungswirtschaft
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch abgerufen wird. Derzeit passiert das nämlich kaum.
sowie des Abg. Sören Bartol [SPD]) So sieht unserer Meinung nach auch aktiver Mieter-
Die im Antrag vorgeschlagene Zusammenlegung der schutz vor überhöhten Mietpreisen aus.
Städtebauförderungsprogramme klingt in Kombination Sie fordern außerdem, dass die Räumung von Wohn-
mit integrierten Stadtentwicklungskonzepten zwar inte- raum unzulässig sei, wenn kein zumutbarer Ersatzwohn-
ressant, birgt aber auch hohe Risiken wegen fehlender raum zur Verfügung steht. Eine solche Regelung ist aus
politischer Steuerungsmöglichkeiten. Zudem bedarf sie meiner Sicht nicht vertretbar;
einer eingehenden rechtlichen Überprüfung, meine Da-
men und Herren von der Linken. Wichtiger wäre aus un- (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
10138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Daniela Wagner
(A) denn sie würde die Hauseigentümer zu sehr in ihren Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir sind (C)
Rechten einschränken. der Auffassung, man kann sich bei dem Antrag der Lin-
ken auf jeden Fall enthalten.
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Man muss sich von Mietparteien auch trennen können,
und bei der CDU/CSU – Dirk Fischer [Ham-
wenn sie wirtschaftlich schädigen. Anders geht es nicht.
burg] [CDU/CSU]: Nach der Rede aber nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mehr!)
Wer kein Geld verdient, wird nicht investieren, wird
nicht mal instand halten. Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Ludwig das
Unser Mieterschutz ist im internationalen Vergleich Wort.
durchaus hervorragend aufgestellt. Wir haben mithin die
besten Mieterschutzrechte im europäischen Raum. Das
werden Sie auch feststellen, wenn Sie sich mal im euro- Daniela Ludwig (CDU/CSU):
päischen Ausland umschauen. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Wagner, Sie haben mir in ganz
Zum Schutz vor Obdachlosigkeit besteht übrigens vielen Punkten sehr aus der Seele gesprochen. Das
schon jetzt das Wiedereinweisungsrecht durch die Kom- möchte ich an der Stelle sagen. Wenn Sie jetzt Ihre Rede
munen. damit abgeschlossen hätten, dass Sie gesagt hätten, wir
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es! Ge- können dem Antrag nicht zustimmen, wäre ich wesent-
nau!) lich zufriedener gewesen. Denn ich glaube, das hätte ih-
rem Inhalt deutlich mehr entsprochen.
Sie können bei drohender Obdachlosigkeit wieder in die
Wohnung einweisen und müssen für die Kosten aufkom- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das spricht aber für
men. den Antrag!)
(Peter Götz [CDU/CSU]: So ist es!) – Nein, das spricht nicht für den Antrag. Da würde ich
mir mal keine falschen Hoffnungen machen.
Deswegen sage ich, es würde schon ausreichen, wenn an
der Stelle die Kommunen die präventiven Instrumente (Heiterkeit der Abg. Daniela Wagner [BÜND-
wie zum Beispiel die Wohnungssicherungsstellen aus- NIS 90/DIE GRÜNEN])
bauen könnten.
Ich glaube, es gibt ein paar wichtige Punkte, in denen
(B) Ihre Forderung zur Neuausgestaltung des Wohngeldes wir uns durchaus einig sind und die wir auch gern auf- (D)
ist meiner Meinung nach vor allen Dingen eine Vermie- greifen möchten. Wir haben zum einen über die energeti-
tersubvention. Die hätten keinerlei Veranlassung mehr, sche Gebäudesanierung im Bestand gesprochen. Da ist
preiswerten Wohnraum zu bauen, preisbewusst zu ver- wirklich noch richtig Musik drin, wenn ich das an dieser
mieten bzw. preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu Stelle mal sagen darf. Ich bin ganz der Auffassung vieler
stellen, Kollegen, die hier schon gesprochen haben: Wir müssen
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!) hier von staatlicher Seite, auch wenn wir sonst nicht die
ganz großen Fans von Subventionspolitik sind, Anreize
weil der Staat ja letztlich für jedwede Miethöhe einsteht. für die Eigentümer schaffen, denn wir bekennen uns an
Wir Grünen wollen eine passgenaue und zielgerichtete dieser Stelle zunächst ganz klar zu einem privat domi-
Subjektförderung, wir wollen einen dynamischen An- nierten Wohnungsmarkt. Ich finde es ausgesprochen
passungsmechanismus im Wohngeldrecht, und wir wol- wichtig, dass wir private Eigentümer haben, die vermie-
len vor allen Dingen auch die Einkommensgrenzen in ten. Ich kann hier überhaupt keinen Nachteil erkennen;
den Blick nehmen. Schließlich wollen wir auch die denn auch ein privater Vermieter muss sich am Markt
Heizkostenkomponente, die Sie jetzt leider wieder abge- behaupten, muss sehen, was er anbieten und vermieten
schafft haben, kann. Hier müssen wir eine Sensibilisierung herbeifüh-
ren, und zwar auf der Vermieterseite und auf der Mieter-
(Zuruf von der FDP: Weil sie nicht mehr nötig
seite. Der Vermieter muss sehen, dass es sich lohnt, ener-
war!)
getisch zu sanieren. Der Mieter muss merken – Frau
zu einem Klimawohngeld weiterentwickeln, damit künf- Kollegin, Sie haben es völlig richtig ausgeführt –, dass
tig das Bewohnen, das Anmieten einer energetisch her- es sich lohnt, eine Niedrigenergiewohnung – so nenne
vorragend sanierten Wohnung aus Steuermitteln mit be- ich es mal – anzumieten, weil er dadurch letztlich Miete
zahlt oder zumindest subventioniert und unterstützt wird spart. Hier tritt neben den wirtschaftlichen Aspekt der
und nicht das Heizen zum Fenster hinaus. ökologische, weil die Umwelt geschützt wird. Das ist ein
staatliches Steuerungsargument, über das wir noch viel
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
intensiver nachdenken müssen; denn es lohnt sich. Wir
und bei der CDU/CSU)
tun etwas für die Wirtschaft, wir tun etwas für die klei-
Das fände ich wichtiger, und das würde auch weiter den nen und mittelständischen Bauunternehmen, die davon
Anreiz erhöhen, energetisch zu sanieren und die Häuser profitieren. Wir tun etwas für die Umwelt und für die
in einen erstklassigen Zustand zu bringen, was mehr als Mieter. Eine bessere Kombination gibt es an dieser
überfällig ist. Stelle fast nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10139
Daniela Ludwig
(A) Weiterhin ist mir etwas anderes sehr wichtig. Angebot ben. Seien Sie versichert, dass wir nicht vorhaben, daran (C)
und Nachfrage spielen auf dem Wohnungsmarkt natür- etwas zu ändern. Wir haben aber vor, Missstände zu be-
lich eine ganz große Rolle. Ich kann die Menschen nicht seitigen. Einer der Missstände ist das Mietnomadentum.
zwingen, in verödende Gebiete zu ziehen, bloß weil dort Man kann sich über die Quantität nunmehr trefflich
die Wohnungen leer stehen, sondern ich muss mich nach streiten, aber die Qualität ist doch unbestritten. Wenn
den Bevölkerungsströmen richten, ob es mir passt oder Wohnungen bewusst unter dem betrügerischen Vorsatz
nicht. Außerdem muss ich mich nach den gesellschaftli- angemietet werden, den Mietzins nicht zu entrichten, die
chen Entwicklungen richten. Heute haben wir schon viel Wohnungen entweder zu vermüllen oder komplett zu
über das Programm „Altersgerecht Umbauen“ gehört. zerstören und sie dann zu verlassen, dann kann man na-
Ich möchte nicht nur vom altersgerechten Umbauen, türlich sagen, das seien bedauernswerte Einzelfälle.
sondern auch vom behindertengerechten Umbauen spre- Aber was sagen Sie dem Vermieter, dessen Altersvor-
chen. sorge vermüllt wurde? Ist das dann auch nur ein bedau-
ernswerter Einzelfall? Ist es nicht vielmehr so, dass wir
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Deshalb reden im Mietrecht da, wo wir die Möglichkeit haben, ohne
wir von Barrierefreiheit!) überzuregulieren vernünftige Lösungen genau für diesen
Wir alle führen zunehmend die Diskussion über Integra- betroffenen Personenkreis schaffen müssen?
tion und Inklusion behinderter Menschen in der Schule, (Sören Bartol [SPD]: Muss das im Mietrecht
im Kindergarten oder am Arbeitsplatz. Diese Diskussion sein?)
umfasst auch die Inklusion behinderter Menschen am
Mietmarkt. Wenn wir wollen, dass diese Menschen mög- Das trifft dann sicherlich nicht die Falschen. Deswegen
lichst zügig in die Mitte unserer Gesellschaft rücken und gilt: Der Schutz des Mieters ist selbstverständlich. Da-
daran so weit wie möglich teilnehmen, müssen wir ihnen rüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Diese Frage
auch ermöglichen, entsprechende Wohnungen zu be- steht für uns nicht zur Debatte. Ebenso wichtig ist ein
wohnen und sich dort so selbstständig wie möglich zu ausreichender Schutz des Vermieters. Beides gehört
bewegen. zwingend zusammen. Sonst bringe ich die Menschen
nicht mehr dazu, in Wohnungen oder Häuser zu investie-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie können un- ren und diese zu vermieten. Stattdessen zwinge ich sie
serem Antrag zustimmen!) dazu, zu sagen: Ich baue nur noch für den Eigenbedarf,
– Es ist doch okay, beruhigen Sie sich. – Deswegen müs- und der Rest ist mir völlig egal. Das wollen wir alle
sen wir nicht nur altersgerecht, sondern auch behinder- nicht.
tengerecht umbauen. Eine kleine Anmerkung am Rande: Der Großteil der Vermieter – entgegen der unter-
(B) Wenn ein Rollstuhl durch die geöffnete Tür passt, ist das schwelligen Darstellung im Antrag der Linken – ist an- (D)
schön. Wenn ein Kinderwagen hindurchpasst, ist das ständig und hat anderes im Sinn, als nur die Mieter abzu-
auch sehr schön. Das heißt: Auch familiengerechte Woh- zocken oder zu vertreiben. Die Vermieter wollen schlicht
nungen sind für die Zukunft wichtig. und ergreifend die ihnen zustehende Miete erhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU) Dann sind sie auch bereit, zu investieren und freuen sich
über zuverlässige Mieter. Das ist der Normalfall in die-
Wir sind auf einem ausgesprochen guten Weg. Völlig ser Republik. Wir brauchen uns über gar nichts anderes
richtig ist, dass der Bund nicht der Alleinhandelnde ist, zu unterhalten.
ebenso wenig wie der Vermieter der Alleinhandelnde
Abschließend möchte ich sagen: Lieber Kollege
sein soll. Klar ist auch, dass wir sehr viel Verantwortung
Bartol, ich freue mich sehr auf unser morgiges Fachge-
an die Länder abgegeben haben. Ebenso klar ist, dass die
spräch. Ich finde das ausgesprochen gut. Wir haben uns
Kommunen darauf werden reagieren müssen.
bisher gerne an den Gesprächen beteiligt und werden uns
Trotz Sparzwangs möchte ich das neue Städtebauför- auch morgen gerne an dem Gespräch beteiligen; denn
derprogramm des Bundesverkehrsministeriums „Klei- das Thema Wohnungslosigkeit ist immer mit menschli-
nere Städte und Gemeinden – überörtliche Zusammenar- cher Tragik verbunden. Oft gibt es nicht nur finanzielle,
beit und Netzwerke“ erwähnen. Das halte ich für sondern auch tiefergehende soziale Hintergründe. Denen
ausgesprochen wichtig. Warum? Viele kleine Kommu- wollen wir uns annähern. Ich denke, das ist ein wichtiges
nen sind solitär, für sich genommen, nicht in der Lage, Ansinnen. Deswegen sind wir morgen gern dabei. Ich
eine Vielzahl an infrastrukturellen Herausforderungen bin gespannt, zu welchem Ergebnis wir kommen wer-
allein zu stemmen. Sie müssen in die Lage versetzt wer- den.
den, solche Herausforderungen gemeinsam mit Dörfern
Vielen herzlichen Dank.
und kleinen Gemeinden in der unmittelbaren Nachbar-
schaft zu bewältigen und entsprechende Angebote ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
meinsam zu unterbreiten. Das schafft Synergieeffekte in
vielerlei Hinsicht. Wenn das Städtebauförderprogramm, Vizepräsidentin Petra Pau:
das Minister Ramsauer neu auflegt, in dieser Legislatur- Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Groß das Wort.
periode genau diese Synergieeffekte zeitigt, können wir
ausgesprochen zufrieden sein.
Michael Groß (SPD):
Zum Mietrecht: Es ist schon gesagt worden, dass wir Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
sicherlich eines der sozialsten Mietrechte der Welt ha- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
10140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Michael Groß
(A) Ludwig, ich bin froh, dass Sie doch einige Kritikpunkte Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage vom Januar (C)
gefunden haben. Sie haben angesprochen, dass wir noch 2011 wollen zwei Drittel der über 70-Jährigen im eige-
viel im Bereich Klimaschutz und Gebäudesanierung zu nen Wohnraum verbleiben. Dazu müssen wir die Voraus-
tun haben. Sie haben von Inklusion, von barrierefreiem setzungen schaffen. Barrierefreiheit war das Stichwort.
Zugang zu Wohnungen und altersgerechtem Wohnen ge- Wir müssen dafür sorgen, dass sie Netzwerke haben und
sprochen. Bei der Rede Ihres Kollegen Storjohann habe sich darauf verlassen können, in ihren eigenen vier Wän-
ich gedacht, wir lebten in einer Welt der Idylle. Er sprach den verbleiben zu können. Nach Schätzungen werden
davon, dass der Wohnungsmarkt vorbildlich ist, wir uns bis 2025 über 2 Millionen senioren- und altersgerechte
keine Sorgen mehr zu machen brauchen und uns zurück- Wohnungen gebraucht. Der jetzige Bestand liegt nach
lehnen können. Schätzungen bei 400 000 bis 500 000 Wohnungen. Nach
Angaben der Befragten können Umbaumaßnahmen und
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das eine Serviceleistungen durchschnittlich nur – ich betone: nur –
schließt das andere nicht aus!) im Umfang von monatlich 280 Euro mitgetragen wer-
den. Ich halte das schon für sehr viel. Also, es gibt viel
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke – das zu tun, um die Menschen zu begleiten und diesen Pro-
hat Herr Bartol schon deutlich gemacht – stellt die richti- zess sozialverträglich zu gestalten.
gen Fragen. Auch die Analyse ist zum großen Teil rich-
tig. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass zum Teil die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
falschen Schlüsse gezogen und die falschen Antworten Entsprechende KfW-Programme wie „Altersgerecht
gegeben werden. In dem Antrag wurde auch darauf hin- Umbauen“ müssen also unbedingt finanziell ausgebaut
gewiesen, dass eine bloße Zusammenlegung der Förder- und fortgeführt werden.
programme nicht weiterführend ist. Ein Teil der Pro-
gramme ist sehr effektiv gewesen. Allerdings müssen Wir müssen beim Thema Klima und Energie handeln.
wir dafür sorgen, dass die Programme evaluiert und Zügiges und planvolles Handeln ist angezeigt, um die
letztendlich mit den Ländern und Gemeinden weiterent- Klimaschutzziele zu erreichen und insbesondere die Ver-
wickelt werden, damit sie zielgenau die Wirkungen ent- braucher vor zu hohen Energiepreisen zu schützen.
falten, die wir beabsichtigen. Beim Gebäudebestand besteht ein hohes Einspar-
potenzial. Die Sanierungsrate und die Modernisierungs-
Lassen Sie mich ergänzend auf vier Punkte und damit quote sind mit circa 1 Prozent pro Jahr viel zu niedrig.
auch kurz auf meine Vorredner eingehen. Besonders in Nach Schätzungen von Experten benötigen wir 5 Mil-
den Ballungsgebieten steigen die Mieten – das ist nicht liarden Euro pro Jahr, um die Zielsetzung zu erreichen.
abzustreiten – und die Preise für Wohneigentum. Im Eigentümer und Vermieter müssen also insoweit moti-
(B) Durchschnitt bleiben die Ausgaben für das Wohnen der (D)
viert werden, und wir müssen die hohen Sanierungskos-
größte Einzelposten der Konsumausgaben, insbeson- ten sozial abfedern. Haushaltskürzungen, wie von der
dere auch durch die wachsenden Nebenkosten für Strom, Bundesregierung im Bereich der energetischen Gebäu-
Heizung und Warmwasser. Prognostisch werden diese desanierung und des Städtebauförderprogramms vorge-
Kosten weiter steigen. Zum Vergleich: 1991 betrugen nommen, sind kontraproduktiv und nicht zielführend.
die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Familienein-
kommens. Ende des letzten Jahrzehnts waren es schon Der Antrag der Linken sieht vor, die Kommunen
weit über 25 Prozent. Wir haben viel über die Wohn- finanziell zu beteiligen. Ich befürchte, dass sie mit ihrer
geldreform gehört, wir haben aber auch heute schon ge- Forderung den Kommunen einen Bärendienst erweisen
hört, dass die Heizkostenpauschale von der jetzigen werden. Den Kommunen fehlt heute schon viel Geld,
Bundesregierung zum 1. Januar 2011 wieder einkassiert und tatsächlich brauchen sie mehr Geld, um den Anfor-
wurde. Das geht natürlich zulasten der niedrigsten Ein- derungen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu
kommen. Das wird sicherlich dazu führen, dass die Men- werden. Wir brauchen Lebensqualität in den Städten. Ich
schen wiederum mehr auf ihren Geldbeutel achten müs- glaube nicht, dass dies durch eine weitere finanzielle Be-
sen. lastung der Kommunen, die letztlich nicht durch den
Bund abgefedert wird, zu erreichen ist. Für uns Sozial-
War die Reform des Wohngeldes 2009 auch eine gute demokraten ist eine Abstimmung in und mit den Kom-
Nachricht, so ist damit doch verbunden, dass immer munen und Ländern und mit den Menschen vor Ort
mehr Menschen dieses Wohngeld in Anspruch nehmen Dreh- und Angelpunkt des Erfolgs.
mussten, weil ihre Realeinkommen abgenommen haben, (Beifall bei der SPD)
und zwar in den letzten zehn Jahren um 4 Prozent. Man
spricht davon, dass es ein verlorenes Jahrzehnt für Ar- Wir müssen Beteiligungsmodelle entwickeln und so-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer war. In Deutschland wohl die Hauseigentümer als auch die Bewohnerinnen
arbeiten zudem zu viele Menschen für wenig Geld. und Bewohner, die Gewerbetreibenden vor Ort und die
2 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn Initiativen und Vereine mitnehmen. Städtebauliche In-
von unter 6 Euro. Darauf gibt es eine richtige Antwort: vestitionen können durch die Einbeziehung aller Akteure
Wir müssen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn die gelebte Demokratie voranbringen. Eine bloße Forde-
einführen. rung nach mehr Rekommunalisierung reicht nicht aus.
Die Kommunen brauchen mehr Geld, um die Entwick-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem lung ihrer Städte, die Lebensqualität und gleichwertige
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lebensverhältnisse zu sichern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10141
Michael Groß
(A) Vielen Dank und Glück auf! recht, dass nach der Klage von CDU, Bündnis 90/Die (C)
Grünen und FDP gegen den rot-roten Landeshaushalt in
(Beifall bei der SPD)
der Wahlperiode 2002 eine große Wohnungsbaugesell-
schaft verkauft werden musste.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Götz das (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist
Wort. doch keine Frage! Es muss eine Frage gestellt
werden!)
Peter Götz (CDU/CSU): Das ist eine Entscheidung, die wir aus heutiger Sicht
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! falsch finden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem An-
trag, den wir heute diskutieren, wollen sich die Linken Aber ich will noch etwas zur gegenwärtigen Politik
im Deutschen Bundestag das Mäntelchen der Beschützer sagen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
der Mieter umhängen. es genau zwei Parteien gibt, die sich dafür einsetzen,
dass der gesamte kommunale Wohnungsbestand in öf-
(Zurufe von der LINKEN: Nein, nein!) fentlicher Hand verbleibt, und dass es genau drei Par-
Es ist schon eine Frechheit. Der rot-rote Berliner Senat teien gibt, die genau diese Position infrage stellen, näm-
versuchte, locker über 38 000 kommunale Wohnungen, lich CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Ist Ihnen
davon allein 20 000 in der Stadt Berlin, an einen arabi- das bekannt, und sind Sie bereit, dies in Ihre Argumenta-
schen Fonds zu verkaufen, und hier fordert die Linke, tion mit einfließen zu lassen?
die Veräußerung kommunaler Wohnungsbestände zu (Beifall bei der LINKEN – Dirk Fischer
verbieten. [Hamburg] [CDU/CSU]: Das war ein Debat-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tenbeitrag und keine Frage!)

Auch wenn der Milliardendeal in Berlin vorgestern ge-


Peter Götz (CDU/CSU):
scheitert ist, macht dies die Widersprüchlichkeit zwi-
schen dem Reden hier und dem Handeln dort, wo Ver- Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem da-
antwortung besteht, sehr deutlich. mit, darüber zu diskutieren, dass kommunale Wohnungs-
bestände verkauft werden. Das ist nicht mein Problem.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wie immer!) Mein Problem ist – hier verhalten Sie sich widersprüch-
Im Bundestag sozialistische Lehre in Reinkultur einzu- lich –, dass Sie in Berlin, wo Sie im Senat Regierungs-
verantwortung tragen, die Wohnungsbestände verkau- (D)
(B) fordern und vor Ort mit dem Kapital zu verhandeln, das
ist mehr als scheinheilig. fen, aber hier den Eindruck erwecken wollen, als seien
Sie die Retter der Mieter. Sie fordern die Aufnahme des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rechts auf Wohnung ins Grundgesetz, und gleichzeitig
Man kann ja darüber diskutieren, ob eine Stadt wie fordern Sie ein Verbot des Verkaufs von kommunalen
Berlin so große Wohnungsbestände im Eigentum vorhal- Wohnungsbeständen. Auf diese Widersprüchlichkeit
ten muss. Diese Frage ist durchaus berechtigt, und diese wollte ich aufmerksam machen.
will ich auch nicht kritisieren. Aber dann darf man hier (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
nicht solche Anträge stellen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Lassen Sie uns ein- Wir haben in Deutschland durch die Garantie der
mal über die Bankenkrise in Berlin reden, Herr Menschenwürde in Art. 1 unseres Grundgesetzes und
Götz! Wer hat denn die Bankenkrise in Berlin durch das in Art. 20 verankerte Sozialstaatsprinzip die
ausgelöst? Das war doch Ihre Partei!) Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen
Wir sehen für die Einführung eines speziellen Grund- für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu
rechts auf Wohnen auf der Bundesebene weder einen schaffen. Dazu gehört auch eine Unterkunft. Deshalb
Bedarf noch halten wir ein solches Recht für geeignet, gibt es seit Jahrzehnten den sozialen Wohnungsbau, die
die Lebenssituation der von Obdach- bzw. Wohnungslo- Absicherung der Mietkosten durch Wohngeld und die
sigkeit betroffenen Menschen zu verbessern. soziale Wohnraumförderung der Länder. In der heutigen
Debatte haben wir einiges darüber gehört. Das sind In-
strumente, die sich bewährt haben. Hinzu kommt auch
Vizepräsidentin Petra Pau:
die Unterbringung Obdachloser aufgrund der polizei-
Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des und ordnungsrechtlichen Vorschriften auf kommunaler
Kollegen Liebich? Ebene.

Peter Götz (CDU/CSU): In Deutschland gibt es für jeden Wohnungssuchenden


Ja, warum nicht? Bitte sehr. eine Bleibe. Einen anderen Eindruck zu erwecken, ist
populistisch und unredlich. Vielleicht findet nicht jeder
seine Traumwohnung, das mag wohl sein, aber niemand
Stefan Liebich (DIE LINKE): in Deutschland muss auf der Straße übernachten.
Sehr geehrter Herr Kollege Götz, Sie haben auf die
Politik hier im Land Berlin Bezug genommen. Sie haben (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das stimmt!)
10142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Peter Götz
(A) Nach meiner festen Überzeugung sind Maßnahmen, die Bei der Städtebauförderung ist es in einer großen (C)
unmittelbar auf die Lebenssituation der von Obdach- Kraftanstrengung gelungen, die Haushaltsansätze, die
bzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Personen Einfluss erheblich heruntergefahren waren, wieder zu erhöhen.
nehmen, wesentlich sinnvoller als symbolische Verfas- Wir sollten jedoch nicht, wie im vorliegenden Antrag ge-
sungsänderungen. Insofern sind wir auf die Empfehlun- wollt, Einzelprogramme der Städtebauförderung ab-
gen der Altkommunisten mit dem Erfahrungshorizont schaffen, sondern wir sollten die inhaltliche programma-
der DDR nicht zwingend angewiesen. tische Schwerpunktsetzung neu definieren und die
Programme optimieren und effizienter gestalten.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Potz Blitz! Für alle in Ihrem Antrag aufgeworfenen Themen sind
Das war ein Angriff!) in Deutschland in vielen Jahren gute Instrumente – ob
nun Förderprogramme oder gesetzliche Regelungen –
Insgesamt hat die Wohnungsversorgung in Deutsch- entwickelt worden, die sich dem Grunde nach bewährt
land seit Mitte der 90er-Jahre einen Stand erreicht, bei haben. Diese können und sollten wir gemäß den verän-
dem breite Schichten der Bevölkerung gut bis sehr gut derten Rahmenbedingungen – die Themen „Klimaschutz“,
mit Wohnraum versorgt sind. Dies gilt insbesondere für „Barrierefreiheit“, „behindertengerechtes Wohnumfeld“
einkommensschwache Haushalte. Deshalb haben wir, und viele andere mehr sind angesprochen worden – ge-
wie ich finde, zu Recht, im Jahr 2006 im Rahmen der meinsam maßvoll weiterentwickeln.
Föderalismusreform die Zuständigkeit für die soziale
Wohnraumförderung auf die Länder übertragen. Dafür Der kommunistische Rundumschlag, den Sie hier
geben wir ihnen jährlich zweckgebunden mehr als vorhaben,
500 Millionen Euro, sodass regional differenziert, ge- (Zurufe von der LINKEN: Buh!)
zielt und bedarfsgerecht gefördert werden kann. Das ist
besser als Zentralismus aus Berlin. Die geforderte Be- würde viel Gutes zerstören. Wir lehnen in Verantwor-
schränkung dieser Wohnungsbauförderung auf den öf- tung für die Bürgerinnen und Bürger diesen Antrag ab.
fentlichen Mietwohnungsbau ist eine klassische Ideolo-
gienummer der Linken. Für uns sind auch die privaten Vielen Dank.
Vermieter zur Sicherung des Wohnens von großer Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
deutung.
Besonders wichtig sind uns aber auch diejenigen, die Vizepräsidentin Petra Pau:
sich den Wunsch nach den eigenen vier Wänden erfüllen Ich schließe die Aussprache.
(B) wollen. Deshalb ist Wohneigentum eine der besten Mög- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (D)
lichkeiten der Altersvorsorge. Wohneigentum schützt
wesentlich vor Altersarmut. Die Stärkung des Wohn- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
eigentums sollte daher unser gemeinsames Ziel sein. Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Grund-
recht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei ge-
Wir haben in unserem Land ein sehr ausgeprägtes und stalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
differenziertes System der sozialen Sicherung, gerade in empfehlung auf Drucksache 17/4659, den Antrag der
der Wohnraumversorgung. So zählt nach dem Sozialge- Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3433 abzulehnen.
setzbuch II die Übernahme der gesamten Kosten – ich Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
betone: der gesamten – für Unterkunft und Heizung zu stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
den Leistungen für Hartz-IV-Empfänger. Das wird bei empfehlung ist angenommen.
der aktuellen Debatte über die Höhe der Regelsätze für
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b sowie den
diesen Personenkreis, die wir in diesen Tagen führen, Zusatzpunkt 5 auf:
gerne übersehen. Auch Erstausstattungen für die Woh-
nung, einschließlich Haushaltsgeräte, Wohnbeschaf- 7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
fungs- und Umzugskosten oder Mietkautionen, gehören CSU und FDP
zu dem Leistungskatalog für Hartz-IV-Empfänger. Zur
Erinnerung: Der Bund beteiligte sich im vergangenen Belarus – Repressionen beenden, Menschen-
Jahr mit 3,4 Milliarden Euro an den Kosten der Unter- rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
kunft. Die Kommunen sind mit mehr als 10 Milliarden schaft stärken
Euro dabei. Dieses Geld bringen die Menschen auf, die – Drucksache 17/4685 –
täglich zur Arbeit gehen und ihre Steuern zahlen.
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Natürlich gibt es bei der Wohnungspolitik noch Hand-
lungsbedarf. Das ist unstrittig. Das Bessere war schon Belarus – Repressionen beenden, Menschen-
immer der Feind des Guten. So ist vor dem Hintergrund rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell-
der demografischen Entwicklung und einer zunehmend schaft stärken
älter werdenden Gesellschaft dem Aspekt der Barriere- – Drucksache 17/4667 –
freiheit ein größerer Stellenwert einzuräumen. Auch die
energetische Sanierung der Wohngebäude, von der vor- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
hin gesprochen wurde, ist eine Herausforderung, die uns Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
noch viele Jahre begleiten wird. Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10143
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die völlige Missachtung europäischer Werte und Re- (C)
NEN geln, die völlige Missachtung elementarer Menschen-
rechte durch die Regierung Lukaschenko können und
Belarus – Repressionen beenden, Menschen- werden wir nicht hinnehmen. Deshalb haben wir eine
rechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesell- ganze Reihe konkreter Maßnahmen entwickelt, mit de-
schaft stärken nen wir die Bundesregierung unterstützen wollen, die
– Drucksache 17/4686 – sich bisher schon vorbildlich eingesetzt hat. Dabei ste-
hen die Freilassung politischer Gefangener und die Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die für die Opfer von Repression und Gewalt im Vorder-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da- grund.
mit einverstanden? – Dann ist so beschlossen.
Wir brauchen weitere Programme zur Unterstützung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege von Studierenden und Jugendlichen, deren Wertesystem
Dr. Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. sich nicht am Diktator orientiert, sondern an Demokra-
(Beifall bei der FDP) tie, an Freiheit und an Europa. Das müssen wir verstärkt
fördern.
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am der CDU/CSU)
19. Dezember 2010, also am Abend der Präsident-
Wir begrüßen das Engagement des Europarates zur
schaftswahl in Belarus, hat das Regime von Alexander
Stärkung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und
Lukaschenko sein wahres Gesicht gezeigt. Obwohl die-
Demokratisierung. Das muss weiter so vorbildlich fort-
ser im Vorfeld die Legitimität der Wahl als wichtig be-
geführt werden. Wir begrüßen auch die Entscheidung
zeichnet hatte, sah die Realität am Wahlabend ganz an-
des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, Reisebe-
ders aus. Politische Reformen – das wissen wir heute –
schränkungen und Sanktionen zu veranlassen für Präsi-
waren dort nie geplant. Lukaschenko brauchte die EU
dent Lukaschenko und diejenigen, die für Gewaltaktio-
und brauchte Russland, um die größtmöglichen Vorteile
nen, für politische Repressionen und für die Fälschung
für sein marodes Wirtschaftssystem zu erreichen.
der Wahlergebnisse verantwortlich sind.
Wir hatten aufgrund der langsamen Annäherung von
Belarus an die EU die berechtigte Hoffnung auf eine Die EU muss weiter den Menschen in Belarus den
Öffnung des Landes, die berechtigte Hoffnung auf eine Rücken stärken. Dazu gehört natürlich, weiterhin eine
Demokratisierung. Doch die Realität hat mit erschre- europäische Perspektive für Belarus offenzuhalten. Dazu
(B)
ckender Härte gezeigt: Ein demokratisches Belarus wird gehört aber zunächst auch, dass die EU an den Sanktio- (D)
es nur ohne Alexander Lukaschenko geben können. nen gegen die Führung des Regimes festhält, und zwar
so lange, bis diese den Weg für einen demokratischen
Noch am Wahlabend setzte er auf die Sprache der Ge- Wandel freigibt. Dazu gehört jetzt auch, dass die EU an
walt. Über 600 Personen wurden seitdem inhaftiert. Russland herantritt, um es zu gemeinsamen Handlungen
Menschenrechtsorganisationen und Medien müssen gegenüber dem Regime in Belarus zu bewegen. Russ-
Angst haben vor der Gewalt des Staates. Elementare land erhebt den Anspruch, mit der EU dieselben Ideen
Menschenrechte werden vom Staat und von Sicherheits- und Wertvorstellungen über Europas Identität und Zu-
organen mit Füßen getreten. kunft zu teilen. Es sollte jetzt nicht wieder seine schüt-
zende Hand über den belarussischen Präsidenten halten.
Doch auf Lukaschenkos Tricks lassen wir uns nicht
mehr ein; in diesem Punkt sind sich alle Demokraten in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
diesem Hause einig. Wir erkennen im Deutschen Bun-
destag die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nicht Als Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung
an. der OSZE ist mir wichtig, auch dort das Thema weiter zu
begleiten. Das OSZE-Büro in Minsk und der Medienbe-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auftragte müssen ebenso ungehindert wieder arbeiten
der CDU/CSU) können wie das Büro für Demokratische Institutionen
und Menschenrechte. Die OSZE sollte eine unabhängige
Sie waren nicht frei. Sie waren nicht fair. Sie waren ma-
internationale Kommission einsetzen, um die Vorgänge
nipuliert und hatten mit demokratischen Wahlen nichts
vom 19. und 20. Dezember 2010 untersuchen zu lassen.
zu tun.
Dabei ist es auch wichtig, ein genaues Bild über die Si-
Wir fordern daher die Regierung Lukaschenko auf, tuation der Menschenrechte zu bekommen.
sofort alle politischen Gefangenen freizulassen. Wir for-
dern die Regierung in Belarus auf, sofort alle Repressio- Am Abend des 19. Dezember wurde in Belarus eines
nen gegen die Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungs- klar: Die Autorität Lukaschenkos bröckelt. Er wird sie
organisationen und gegen unabhängige Medien zu auch nicht durch Schlagstöcke und durch Repressionen
beenden. wiedererlangen können. Wir sagen deutlich: Wir stehen
auf der Seite der Demokratie. Wir stehen auf der Seite
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Zivilbevölkerung, die den demokratischen Wandel
der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des will. Und: Wir müssen hart bleiben, bis dieser Weg ein-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geschlagen wird.
10144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Bijan Djir-Sarai


(A) Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre chen können. Sie müsste auch Gefangene besuchen und (C)
Aufmerksamkeit. Prozesse beobachten können.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
GRÜNEN) CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Deshalb bin ich dafür, dass wir uns überlegen, ob wir
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht in einem Schnellverfahren in der nächsten Sitzung
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD- des Auswärtigen Ausschusses die Punkte 3 und 10 über-
Fraktion. arbeiten, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kom-
men; denn sonst wäre das Resultat Stückwerk. Dann
müsste nämlich jeder seinem eigenen Antrag zustimmen
Uta Zapf (SPD): oder sich enthalten. In einem Nachklapp müssten wir
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der dann versuchen, einen Antrag zu diesem Moskau-Me-
eine oder andere, der gut aufgepasst hat, denkt vielleicht, chanismus zustande zu bekommen. Aber auch das würde
wir alle sind ein bisschen meschugge, da wir drei fast sehr kurzfristig sein. Ich stelle anheim, ob wir im Laufe
gleichlautende Anträge vorgelegt haben. Ich sage aber: dieser Debatte vielleicht eine gemeinsame Linie finden
Das bedeutet, dass wir uns fast einig sind. Vielleicht können, entweder durch Überweisung oder mit einem
schaffen wir es auch noch, uns ganz zu einigen. Ansons- Abstimmungsverfahren, das vielleicht merkwürdig aus-
ten müssen wir vielleicht einen anderen Weg beschrei- sieht.
ten.
Wir alle wollen prinzipiell das Gleiche. Wir wollen,
Der Antrag der Grünen unterscheidet sich von den dass die Situation in Belarus, wie sie jetzt besteht, auf-
beiden anderen Anträgen, von dem der SPD und von hört. Ich finde ganz erstaunlich, was ich heute in
dem der Koalition, durch einen Vorschlag, der in Bezug BelaPAN gefunden habe, nämlich dass Herr Lawrow,
auf die Erteilung von Schengen-Visa in näherer Zukunft der Außenminister Russlands, gegenüber der belarussi-
etwas vorprescht. schen Regierung zum Ausdruck gebracht hat, dass das,
was geschehen sei, absolut unnötig und unakzeptabel
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
sei. Alle inhaftierten Journalisten, die Kandidaten und
DIE GRÜNEN]: Das ist unsere Aufgabe, Frau
die Human Rights Defenders sollten entlassen und die
Kollegin!)
Anklagen sollten fallen gelassen werden. Er hat das mit
– Ja, ich habe das ja auch begriffen. – Ich glaube nur, wir großem Nachdruck gesagt.
(B) müssen jetzt handeln, und zwar, ehe der ganze Prozess (D)
Ich muss bezüglich einer Diskussion vom letzten Mal
bezüglich Rückführungsabkommen etc. zum Abschluss Abbitte tun. Hier geht es um den Punkt, wie weit man
gebracht worden ist. Wir wissen nämlich noch nicht ein- Moskau einbezieht. Herr Mißfelder hat das damals mit gro-
mal, ob Herr Lukaschenko dabei mitmachen würde. In- ßem Nachdruck gesagt. Ich habe allerdings ein bisschen
sofern sollte man loben, was die Bundesrepublik davor gewarnt, weil mein Eindruck war, dass Moskau
Deutschland am Dienstag gemacht hat, indem eine Visa- nicht unbedingt wild darauf ist, Lukaschenko zu einem
Regelung eingeführt wurde, die wir in diesem Hohen demokratischen Europäer zu erziehen. Aber vielleicht
Hause im Übrigen schon einmal beschlossen hatten. kann man das, was Lawrow jetzt in dieser Stellungnahme
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ gesagt hat, tatsächlich als einen Ansatzpunkt nehmen, um
DIE GRÜNEN]: Eben! Ein Schritt weiter als mit Russland zusammen etwas zu bewirken.
das, was wir schon gemacht haben!) Wir wollen auch eine Unterstützung für die zivile Ge-
Diese erleichtert in der Tat einer ganzen Reihe von Men- sellschaft und für die Opposition. Gerade hat es eine Ge-
schen das Leben, indem der Zugang zu Visa vereinfacht berkonferenz gegeben, auf der viele eine ganze Menge
wird und dafür nicht mehr so viel oder sogar gar nichts Geld zur Verfügung gestellt haben. Ich denke, es ist ganz
bezahlt werden muss. Ich denke, hier sind wir uns einig. wichtig, dass wir Wege finden, um sowohl die Opposi-
tion, die zwar leider zersplittert, aber dennoch demokra-
Es gibt einen zweiten Punkt, von dem wir erst heute tisch orientiert ist, als auch Menschenrechtler und Rechts-
beim Treffen der OSZE-Parlamentariergruppe Kenntnis anwälte zu unterstützen, die im Moment sogar davon
erlangt haben. Es geht um Punkt 10, der ja auch auf eine abgehalten werden, die Präsidentschaftsprätendenten,
Diskussion, die wir hier schon geführt haben, zurück- also die Herausforderer von Lukaschenko, zu verteidigen.
geht. Mein Vorschlag, den Moskauer Mechanismus an- Darüber hinaus müssen wir aber auch Gewerkschafter,
zuwenden, ist von unserem Auswärtigen Amt aufge- Journalisten und Studenten unterstützen.
nommen worden; es hat uns aber zugleich darauf Mittlerweile sind 42 Menschen dafür angeklagt, dass
aufmerksam gemacht, dass wir ein bisschen zu kurz sie Aufstände angefacht hätten. Ihnen droht bis zu
springen. Denn wir haben ja nicht gesagt, dass die 15 Jahre Gefängnis. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir
Gruppe, die aufgrund dieses Mechanismus eingesetzt auch für sie sehr stark eintreten.
wird, eigentlich mehr tun soll, als nur die Geschehnisse
am 19. und 20. Dezember aufzuklären. Darüber hinaus Soweit meine Kenntnisse reichen, sind zwei der Kan-
sollte sie sich nämlich auch ein Bild von der Lage der didaten, nämlich Statkevich und Lebedko, wobei ich
Menschenrechte und der Grundfreiheiten in Belarus ma- beim Letztgenannten nicht so ganz sicher bin, noch im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10145
Uta Zapf
(A) Hungerstreik. Das muss man sich einmal vorstellen. Das Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): (C)
wird langsam dramatisch, liebe Kolleginnen und Kolle- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rat
gen. Zwar sind zwei der Angeklagten in den Hausarrest der Außenminister hat Ende Januar harte Sanktionen ge-
entlassen worden. Aber wenn man sich einmal anguckt, gen Belarus beschlossen. Wir werden heute einen Antrag
was für eine Art von Hausarrest das ist, dann kann einem beschließen, in dem diese Sanktionen begrüßt und weiter
das Grausen kommen. Da sitzen zwei Geheimdienstler, gehende Forderungen gegenüber Minsk erhoben wer-
KGB-Leute, mit in der Wohnung. Das sind nicht so den.
große Wohnungen, wie man sie bei uns hat, sondern das
sind nur zwei Zimmer. Uns wird immer die Frage gestellt: Warum engagie-
ren wir uns bei Belarus mehr als bei anderen Staaten, in
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE denen die Situation der Menschenrechte unbefriedigend
GRÜNEN]: Das ist psychische Folter!) ist? Die Antwort ist leicht: Belarus gehört zu Europa,
ebenso übrigens Russland. Wolfgang Ischinger hat ge-
Sie dürfen nicht telefonieren, nicht zum Fenster hinaus- rade gesagt: Belarus ist ein europäisches Land mit einer
gucken, kein Internet benutzen und nur mit der eigenen europäischen Mission und einer europäischen Sprache. –
Frau reden, wenn es hochkommt. Das sind Irina Chalip, Recht hat er.
die Ehefrau von Sannikow, und Nekljajew.
Im allergrößten Teil Europas sind die universellen
Wir haben unsere Forderungen formuliert. Die Bun- Werte – Menschenrechte, Demokratie – umgesetzt. Inso-
desregierung hat zur Unterstützung von solchen Maß- fern können wir es nicht akzeptieren, dass die Regierung
nahmen bereits Geld zur Verfügung gestellt. Dafür be- eines europäischen Landes diese Werte sich selbst und
danke ich mich ausdrücklich; ich finde das sehr gut. Wir der Bevölkerung verweigert. Das behindert die Entwick-
haben schon in der Vergangenheit immer solche Grup- lung und den Wohlstand in dem Land; es enthält den
pen bilateral unterstützt. Damals wurden die entspre- Menschen, die dort leben, eine gute Entwicklung vor.
chenden Gelder vor allen Dingen vom BMZ vergeben. Die Menschenrechtslage in Weißrussland bleibt weit
Damit haben wir die Projekte des IBB unterstützt, die hinter dem europäischen Standard zurück, übrigens auch
alle auf die zivile Gesellschaft gemünzt waren. Ich bin weit hinter dem, was Lukaschenko selbst erst im Dezem-
froh, dass die Bundesrepublik sowohl in Bezug auf die ber in Astana unterschrieben hat.
Visa als auch bei der Bereitstellung von Geldern gehan-
delt hat. Nicht nur die Menschenrechtslage, sondern auch die
ökonomische Lage ist angespannt; Lukaschenko braucht
Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen: die Situa- Geld und Kredite. Er glaubt bisher, er könne mit einer
tion der Studenten in Belarus. Bei der letzten Wahl im Politik des Lavierens zwischen Ost und West weiterkom-
(B) Jahr 2006 gab es ja auch widerspenstige Studenten; das men. Wenn ich mir die russische Wirtschaft und Industrie (D)
hat uns sehr erfreut. Damals sind 600 Studenten ihrer ansehe – das Fehlen von innovativen Industrien, Korrup-
Unis verwiesen worden. Im Moment scheint es eine klei- tion, Rückgang der Auslandsinvestitionen –, dann
nere Zahl zu sein. Der Rektor einer Uni hat gesagt: Nein, komme ich zu dem Schluss: Es ist nicht Russland, das
nein, keiner wird relegiert. – Tatsächlich sind aber schon eine blühende Entwicklung der belarussischen Wirtschaft
8 Studenten relegiert worden, 60 weiteren wurde ange- versprechen kann. Ganz objektiv betrachtet, ist also eine
droht, dass ihnen dasselbe blüht. Deshalb noch einmal stärkere Öffnung gegenüber der EU die einzige Chance
die Bitte, insbesondere bei dieser Gruppe das zu tun, was für Belarus.
andere Länder auch tun, nämlich ihnen Stipendien und
Studienplätze zu verschaffen. Wir haben damals nur eine Ich danke ganz besonders dem Ost-Ausschuss der
sehr kleine Zahl von Studienplätzen vergeben. Ich Deutschen Wirtschaft. Er hat sehr klare Worte dafür ge-
glaube, das ist eine lohnende Aufgabe. funden, dass die gegenwärtige Menschenrechtssituation
in Belarus weitere Fortschritte im ökonomischen Be-
Es gab einen Artikel mit dem Titel: „Weißrusslands reich verhindert. Im 21. Jahrhundert und in einer globali-
Wutstudenten“. Alle Welt beruft sich im Moment auf die sierten Welt kann man ein Land nicht wie eine Kolchose
Wut. Ich glaube, das sind keine „Wutstudenten“, sondern führen. Das führt politisch und ökonomisch ins Nirwana,
ganz wache, bewusste Bürger, die ein besseres, demo- und wo das hinführt, kann man gerade auf den Straßen
kratisches Land haben wollen und große Solidarität mit Tunesiens und Ägyptens studieren.
ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zeigen. Sie verdie-
Meine Damen und Herren, wir wollen den Dialog mit
nen unsere Solidarität.
Minsk nicht abwürgen. Aber es ist jetzt ausschließlich
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Sache der dortigen Regierung, die Voraussetzungen für
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- ein erneutes Gespräch, eine erneute Kooperation zu
geordneten der FDP und der LINKEN) schaffen. Ohne eine Verbesserung der Menschenrechts-
lage wird hier nichts gehen, ohne eine sofortige Freilas-
sung der politischen Gefangenen sowieso nicht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von Die Reaktion dieses Regimes – darauf sollten wir im-
der CDU/CSU-Fraktion. mer wieder hinweisen – ist in erster Linie ein Zeichen
der Schwäche. Wir wissen, dass die politische Opposi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tion in Minsk nicht besonders gut und stark aufgestellt
neten der FDP) war und es keine revolutionäre Stimmung im Land gab.
10146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Karl-Georg Wellmann
(A) Wer auf eine so schwache Organisation einprügelt, wie len, Herr Kollege! – Stefan Liebich [DIE (C)
Lukaschenko das getan hat, zeigt nur Schwäche. „Angst- LINKE]: Mit der Begründung sperren Sie Tau-
beißen“ nennt man es, wenn ein Tier aus Angst aggressiv sende aus!)
wird.
– Herr Liebich, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten,
Brasilien hat kürzlich 14 Tage lang gefeiert und
Samba getanzt, als Frau Rousseff mit 56 Prozent zur (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Habe ich!)
Präsidentin gewählt wurde. Lukaschenko ist angeblich hätten Sie festgestellt, dass wir, übrigens in Übereinstim-
mit 80 Prozent gewählt worden. Die Reaktion in Belarus mung mit den Sozialdemokraten, insbesondere für Schü-
ist: Friedhofsruhe. Das ist der Unterschied zwischen ei- ler und Studenten mehr Liberalisierung haben wollen.
ner Demokratie und einer Diktatur. – Jetzt könnt ihr ru-
hig einmal klatschen. Das wäre gut für das Protokoll. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Die Sozialde-
mokraten gehen da einen Schritt weiter als
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Sie!)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Jetzt haben wir zwei praktisch gleichlautende An-
Und Samba tanzen!) träge. Liebe Frau Zapf, ich habe mir das noch einmal ge-
nau angeschaut. Ihr Antrag enthält drei Worte mehr als
– Samba geht auch, Herr Kollege, gerne. unserer. Ich schlage vor, dass Sie auf diese drei Worte
Wir müssen die Zivilgesellschaft nicht nur unterstüt- unter Ziffer 3 verzichten
zen, sondern wir müssen den Menschen auch mehr Gele- (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch
genheiten geben, zu uns zu kommen. Ich sage hier: Das kein Vorschlag! – Halina Wawzyniak [DIE
Visa-Regime darf die Spaltung Europas nicht vertiefen. LINKE]: Dann übernehmen Sie doch die drei
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Worte!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marieluise Beck und wir dem Antrag dann gemeinsam zustimmen. Wir
[Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr brauchen ein starkes Signal. Eine breite Mehrheit wäre
davon! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tut ein solches Signal. Ende des Monats tagt die Parlamen-
es!) tarische Versammlung der OSZE. Wir wollen einen Be-
Wir können nichts Besseres tun, als möglichst viele schluss nach Wien mitnehmen. Es wäre schön, wenn
junge Leute, Schüler und Studenten, hierherzuholen und sich der Deutsche Bundestag mit möglichst breiter
ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Way of Life Mehrheit entscheiden könnte.
kennenzulernen. Das ist das Beste, was wir tun können. Meiner Fraktion und mir ist nicht nur wichtig, dass (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem wir Visa-Erleichterungen vornehmen, womit die Bun-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stefan Liebich desregierung schon angefangen hat, sondern auch, dass
[DIE LINKE]: Visa-Freiheit! Es geht noch wir dies mit zusätzlichen Maßnahmen flankieren. Die
besser!) Bundesregierung hat ihre Hilfe für die Zivilgesellschaft
in Belarus um 6,6 Millionen Euro aufgestockt. Die Ge-
Herr Staatsminister Hoyer, ich freue mich sehr, dass berkonferenz in Warschau hat die Mittel für Belarus ge-
die Bundesregierung bereits viel getan hat. Schon jetzt rade vervierfacht. Herr Hoyer, es ist wichtig, dass die
werden Visa insbesondere an Schüler und Studenten, die Gelder jetzt schnell in konkrete Programme fließen, da-
länger als sechs Monate bleiben, kostenfrei erteilt. Ich mit die Betroffenen schnell davon profitieren, also Schü-
habe beeindruckende Zahlen vorliegen: über 23 000 ge- ler und Studenten. Herr Hoyer, koordinieren Sie bitte die
bührenfreie Schengen-Visa. Machen Sie weiter so! Das Arbeit der Verantwortlichen in Ihrer Behörde, in der EU
ist der richtige Weg. und in den Bundesländern. Die Haushälter, die Bil-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dungspolitiker und die Hochschulen müssen sich auf den
der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] Weg machen, damit wir möglichst bald eine große
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Auftrag Gruppe belarussischer Studenten bei uns begrüßen kön-
haben wir als Parlament erteilt!) nen.

Jetzt kommen wir einmal zu den Anträgen. Die Grü- Vielen Dank.
nen haben unter Ziffer 3 beantragt, die Visumpflicht auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zuheben.
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie sich damit ein- Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der
handeln. Dann hätten Herr Lukaschenko und seine Fraktion Die Linke.
Freunde Gelegenheit, nach Europa einzureisen. Wenn (Beifall bei der LINKEN)
kein Visum erforderlich ist, kann er einreisen. Ich weiß
nicht, ob Sie das bedacht haben.
Stefan Liebich (DIE LINKE):
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit
DIE GRÜNEN]: Wir haben nicht gesagt, dass unserer letzten Debatte hier zum Thema Belarus hat sich
die Pässe nicht mehr kontrolliert werden sol- die Lage vor Ort wenig verbessert. Präsident Lukaschenko
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10147
Stefan Liebich
(A) hat seit seinen Repressionen gegen seine Gegenkandida- (Beifall bei der LINKEN) (C)
ten und seit seinem Agieren gegenüber Demonstranten
wenig Milde gezeigt. Er hat kein Einlenken erkennen las- Ich darf den Sacharow-Preisträger und Präsident-
sen. Auch die Freilassung einiger Inhaftierter – darunter schaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch zitieren.
waren der Kandidat Wladimir Nekljajew und die Journa- Dieser hat nicht Wirtschaftssanktionen gefordert. Viel-
listin Irina Chalip – ist kürzlich nur aufgrund des massi- mehr hat er gesagt, dass wir unsere Tore für die Weißrus-
ven internationalen Drucks erfolgt. sen öffnen sollen. Die Bundesregierung überhört diesen
Wunsch, und beide Regierungsfraktionen überhören die-
Aber immer noch laufen Verfahren weiter. Immer sen Wunsch. Die Tore bleiben geschlossen. Das ist ge-
noch gibt es eine Beobachtung durch den Geheimdienst. nau das falsche Signal, das Sie aussenden.
Und immer noch gibt es politische Gefangene. Das wer-
(Beifall bei der LINKEN)
den wir nicht unwidersprochen hinnehmen.
Wenn es die Möglichkeit gibt, den Antrag von Ihnen
Präsident Lukaschenko darf nicht darauf hoffen, dass und die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die
wir wegen der dramatischen Entwicklung im Norden Grünen an den Auswärtigen Ausschuss zurückzuüber-
Afrikas unsere europäischen Nachbarn vergessen. Wir weisen, dann sollten wir das tun.
stehen auch in Belarus weiter an der Seite derjenigen, die
für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eintreten. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Stimmt ihr unserem Antrag
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- zu?)
neten der SPD und des Abg. Dr. Anton
Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ich komme noch zu unserem Abstimmungsverhalten.

Gerade eben – die Vorredner haben darauf hingewie- Wir sollten in Ruhe über einen gemeinsamen Antrag
sen – haben wir die nächste Beratung der Parlamentari- reden. Sie haben hier aber zum Ausdruck gebracht, dass
schen Versammlung der OSZE in Wien vorbereitet. Sie Sie das nicht wollen. Sie wollen an dieser Differenz fest-
dürfen sicher sein, dass die Delegation des Deutschen halten. Die Tore sollen geschlossen bleiben. Dem kann
Bundestages parteiübergreifend und gemeinsam die Kri- man definitiv nicht zustimmen.
tik, die wir hier formulieren, auch bei der OSZE-Parla- Jetzt zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
mentarierversammlung vortragen wird. nen.
Der Vorschlag, der uns heute vom Auswärtigen Amt (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
unterbreitet wurde, eine weitere Konkretisierung zum DIE GRÜNEN]: Nein, nein! Wir haben unse-
(B) Thema Moskau-Mechanismus vorzunehmen, ist sehr gut. ren eigenen Antrag!) (D)
Ich finde, wir sollten nach einem vernünftigen Weg su-
chen, diesen sehr guten Vorschlag möglichst in einen ge- – Ja. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und zum
meinsamen Antrag einfließen zu lassen. Herr Kollege Antrag von der SPD-Fraktion.
Wellmann, das funktioniert natürlich nicht so, wie Sie es
Sie beziehen sich in Ihren beiden Anträgen auf die
gerade vorgeschlagen haben.
Beschlussfassung des Europäischen Parlaments und hei-
(Beifall bei der LINKEN) ßen sie gut. In dieser Beschlussfassung des Europäi-
schen Parlaments wird leider auch zu nicht näher spezifi-
Klar ist – das ist bisher von allen Rednern gesagt wor- zierten Wirtschaftssanktionen und zum Einfrieren aller
den –, dass wir bei 90 Prozent der Fragen, die hier disku- makrofinanziellen Hilfen und IWF-Darlehen aufgerufen.
tiert werden, einen Konsens haben. Wenn alle Seiten gu-
ten Willen zeigen würden, dann bekäme man auch einen Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Das habe
Antrag aller Fraktionen hin. ich hier im Plenum bereits beim letzten Mal gesagt.
Wenn wir diesen Passus beiseitelassen könnten und die
Allerdings gibt es schon eine ernste Differenz. Diese Punkte nehmen würden, auf die wir uns einigen könnten,
dürfen Sie auch nicht wegreden, Herr Wellmann, oder dann würden wir auch einen gemeinsamen Antrag hin-
den Kollegen von der Sozialdemokratie vorschlagen, bekommen. Dieser Formulierung des Europäischen Par-
dass diese Differenz dadurch gelöst wird, dass Ihre Posi- laments können wir allerdings nicht zustimmen.
tion übernommen wird. Es gibt doch eine Differenz in-
Aber die Forderungen an die Regierung Lukaschenko,
nerhalb der CDU/CSU-Fraktion: Sie haben selbst beim
umgehend alle inhaftierten politischen Gefangenen frei-
letzten Mal zum Ausdruck gebracht, dass Sie für eine
zulassen, die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft,
viel stärkere Visa-Freiheit sind als Ihre Kolleginnen und
gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unab-
Kollegen Innenpolitiker. Das ist die Differenz.
hängige Medien zu beenden, das ist doch eine Position,
Deshalb unterscheiden sich auch die Anträge so sehr. die alle Fraktionen dieses Hauses vertreten. Ich verstehe
Zwischen der rechten Seite und der linken Seite dieses nicht, warum wir es nicht schaffen, diese Position hier zur
Hauses besteht die Differenz darin, wie viel Freiheit man Abstimmung zu stellen und so zu einer gemeinsamen Be-
den Menschen in Belarus tatsächlich gewähren möchte. schlussfassung des ganzen Hauses zu kommen.
Darum können Sie hier nicht herumreden. Ich muss Ih- Ich danke Ihnen recht herzlich.
nen sagen: Ihre Freiheitsreden würden dann besser klin-
gen, wenn Sie den Leuten dort wirklich helfen würden. (Beifall bei der LINKEN)
10148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir müssen sehr deutlich machen, dass Russland für (C)
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von die Menschen, die in KGB-Haft sind, Verantwortung
Bündnis 90/Die Grünen. hat. Auch Präsidentschaftskandidaten, die von russischer
Seite aufgebaut worden sind, sind unter den Gefangenen.
Wir müssen bei ihnen Angst um Leib und Leben haben.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sannikow hatte seit dem 27. Januar keinen Außenkon-
NEN): takt. Hier ist Russland ganz deutlich gefragt. Das sage
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ich auch in Richtung des Auswärtigen Amtes.
bin ein bisschen in Sorge, seitdem sich die öffentliche
Aufmerksamkeit von Belarus nach Ägypten orientiert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hat. Ich hoffe, dass wir Alexander Lukaschenko nicht die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Gelegenheit geben, die Gunst der Stunde zu nutzen und der FDP)
die Opposition noch weiter zu zerschlagen, als er es bis-
Wir sind uns in sehr vielen Fragen einig, dass sich
her schon getan hat.
Lukaschenko selbst isoliert hat, dass es keine anti-bela-
Wir brauchen – da sind wir uns einig – eine sehr ent- russische Sanktionspolitik geben kann, aber eine deutli-
schiedene und sehr standhafte Politik gegenüber dem che Isolation des Regimes Lukaschenko. Damit sind wir
Regime Lukaschenko. Ich will nicht darüber hinwegre- bei dem Juckepunkt unserer Debatte, bei der Frage, wie
den, dass es im Umgang mit solchen autokratischen Re- wir es mit den Visa halten. Es ist manchen nicht ganz klar,
gimen immer eine schwierige Abwägung zwischen Dia- dass wir mit der Einbeziehung von Polen und dem Balti-
log und Isolierung gibt, wobei wir uns, glaube ich, nach kum in den Schengen-Raum von unserer Seite die Mauer
wie vor einig sind, dass die Dialogpolitik mit Weißruss- in Europa wieder errichtet haben. Die jungen Menschen
land zwar durchaus positive Seiten entfacht hat, zum aus Weißrussland konnten im kleinen Grenzverkehr voll-
Beispiel das Aufblühen der Zivilgesellschaft, dass sich kommen unproblematisch für 5 Euro pro Visum nach Po-
Lukaschenko aber nach dieser dramatischen Verletzung len und in das Baltikum reisen. Das heißt, sie waren quasi
der Geschäftsgrundlage selbst in die Isolierung getrieben Teil unseres europäischen Hauses. Mit der Verlagerung
hat. des Schengen-Raums an die polnische Außengrenze ha-
ben wir den jungen weißrussischen Menschen den Weg
Mir ist sehr wichtig, dass wir den Blick noch einmal versperrt.
auf Russland richten; Kollegin Zapf hat das eben ange-
sprochen. Tatsächlich hat sich Außenminister Lawrow Herr Kollege Wellmann, erzählen Sie keinen Unsinn,
sehr deutlich geäußert, nachdem der Rat zur Entwick- um Ihr schlechtes Gewissen zu verdecken. Es ist Unfug,
lung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte am 1. Fe- zu sagen, dass wir, wenn es Visumsfreiheit gebe, keine
(B) bruar dieses Jahres über Präsident Medwedew sehr stark Einreisen mehr verhindern könnten, zum Beispiel ge- (D)
Druck gemacht und gefordert hat, dass sich Russland genüber Lukaschenko. Auch er müsste seinen Pass vor-
deutlich für die Einhaltung der Menschenrechte aus- weisen; auch ihn könnte man an der Grenze abweisen.
spricht. Wir müssen der russischen Seite sagen, dass sie, Dass wir uns jetzt in diesem Punkt, der die größte Hilfe
die sie in einer politischen Union mit Weißrussland ist – – für die weißrussische Zivilgesellschaft bedeuten würde,
durch die Schengen-Politik die Hände binden lassen, ist
(Unruhe) nicht richtig.
Herr Präsident, es ist ein bisschen schwierig, hier zu Deswegen lautet unser klar formulierter Vorschlag,
sprechen. Können Sie die Kollegen bitten, ihre Verhand- im Rahmen der Schengen-Politik in der EU dafür zu sor-
lungen außerhalb des Saales zu führen? gen, dass unsere notwendige außenpolitische Hand-
lungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Wir müssen in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Lage sein, das zu tun, was unter den Gesichtspunkten
der Demokratie und der Menschenrechte außenpolitisch
Es geht um das anschließende Abstimmungsverfah-
notwendig ist. Es geht um nicht mehr und nicht weniger.
ren. – Können wir die Debatte fortführen, Frau Zapf?
Deswegen sollten Sie hier keine Camouflage machen.
Dann müssen wir die Sitzung vor der Abstimmung kurz
unterbrechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stefan Liebich [DIE LINKE])
NEN): Ich war mit dem Kollegen Vaatz vergangene Woche
Die Uhr ist übrigens weitergelaufen; das finde ich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herr Milinkewitsch
nicht in Ordnung. und die jungen Leute dort – gestern habe ich mit Lawon
Wolski, der Popikone der belarussischen Jugend, gespro-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen – sagen: Es ist schwierig, zu entscheiden, was man
Ich lasse die Uhr gleich ein bisschen länger laufen. jetzt machen soll. Aber eines wissen wir: Ein wirksames
Instrument wäre die Reisefreiheit. – Deswegen müssen
wir uns hier die Freiheit nehmen, das auszusprechen,
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was notwendig ist; darauf sollten wir dann auch hinar-
NEN): beiten. Wir dürfen den Innenpolitikern nicht die Außen-
In Ordnung. politik überlassen. Das führt in die Irre.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10149
Marieluise Beck (Bremen)
(A) Ich danke Ihnen. Kollegin Beck – muss dieser Weg wirksam sein, er muss (C)
sofort umsetzbar sein, und er muss effektiv sein. Es ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ein sehr wichtiges politisches Signal, an die Behörden zu
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
appellieren: Bitte erhebt nach Möglichkeit keine Gebüh-
SPD, der FDP und der LINKEN)
ren und geht so unbürokratisch wie möglich vor, aber na-
türlich im Rahmen der bestehenden Gesetze. – Dann gibt
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: es, wie ich glaube, keine Unsicherheiten, und wir kön-
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nen effektiv arbeiten.
nun das Wort der Kollege Michael Frieser von der CDU/
CSU-Fraktion.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU) Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Beck?
Michael Frieser (CDU/CSU):
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Michael Frieser (CDU/CSU):
Damen und Herren! Parlamentarismus hat tatsächlich et- Selbstverständlich, wenn ich diesen Satz noch been-
was sehr Lebendiges. Es geht um die Frage, ob man in den darf.
einer vorgegebenen Redezeit in der Lage ist, ein gemein-
sames Abstimmungsverfahren herbeizuführen. Ich bin
sehr dankbar, dass wir heute eines deutlich machen kön- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen: Die Kritik am Regime Lukaschenko und der Protest Bitte schön, ja.
gegen das, was er Weißrussland antut, einen dieses Haus,
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ach ja? Wo Michael Frieser (CDU/CSU):
denn?) Frau Kollegin Beck, man muss fast folgenden Ein-
druck haben: Man muss sich am Rande Europas und der
von einigen Ausfällen abgesehen. EU nur so aufführen wie Herr Lukaschenko, man muss
Wir haben mit einer gewissen Hoffnung auf dieses also nur so tun, als lebe man tatsächlich in einer Demo-
Land geblickt. Es gab Anhaltspunkte, insbesondere wirt- kratie, obwohl man eigentlich eine Form der Diktatur er-
schaftliche Blüten, die diese Hoffnung in den letzten richtet, und schon sind wir bereit, die Visumsfreiheit
Jahren genährt haben. Am Wahltag, am 19. Dezember auszudehnen. Diesen Fehler dürfen wir nicht begehen.
2010, wurden wir aber in unserer Gewissheit bestärkt:
(Beifall des Abg. Karl-Georg Wellmann
(B) Wir erleben ein Regime, das wir Europäer mit allen Mit- [CDU/CSU]) (D)
teln, die uns zur Verfügung stehen, bekämpfen müssen.
Voller Schamlosigkeit wurde deutlich gemacht, dass in- Jetzt zu Ihrer Zwischenfrage. – Bitte schön.
ternationaler Protest das Regime nicht irritiert. Ich bin
dem Kollegen Klimke, der als Wahlbeobachter dort war,
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dankbar; ich glaube, auch Frau Kollegin Beck war mit
NEN):
von der Partie. Wer dort war, konnte beobachten, dass es
in Belarus eine Art Schaufenster gab. Man hat so getan, Herr Kollege Frieser, ich danke Ihnen für dieses
als seien es tatsächlich demokratische Wahlen gewesen. Stichwort.
Das Gegenteil war der Fall. Zum Ersten möchte ich Sie fragen, ob Sie die Haltung
Heute geht es darum, dass wir uns möglichst effektiv der EU-Kommission teilen, die die Absenkung der Vi-
und möglichst schnell in die richtige Richtung bewe- sumsgebühren, wie sie im Fall der Ukraine und anderer
gen. – Wie Sie sehen, laufen manche Kollegen immer Länder gewährt wurde, gegenüber Weißrussland abge-
noch eifrig hin und her. Sie unternehmen den Versuch, lehnt hat mit der Begründung: Solange Weißrussland ei-
einen gemeinsamen Antrag zu erreichen. nen Diktator hat, kann man die Visumsgebühren nicht
absenken. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir
Worum geht es? Es geht um effektive, schnelle und dem Diktator dabei helfen, das Reisen für die Menschen
konkrete Hilfe. Wir wollen deutlich machen, dass wir möglichst schwer und teuer zu machen.
den mutigen Menschen in Belarus helfen wollen: den
mutigen Journalisten, den Politikern, den Vertretern der Zum Zweiten möchte ich Sie fragen, ob Ihnen be-
Zivilgesellschaft und den mutigen Anwälten, die sich für wusst ist, dass wir in diesem Hause vor etwa drei Jahren
die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Wir wol- schon einmal in genau derselben Weise über die Not-
len dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, auch außer- wendigkeit einer Visumsliberalisierung im Hinblick auf
halb von Belarus für ihre Anliegen und die Menschen zu Weißrussland gesprochen haben, dass damals Anträge
kämpfen. vorgelegen haben, über die abgestimmt worden ist, ver-
bunden mit der Aufforderung an das Auswärtige Amt, in
Im Hinblick auf unsere weitreichenden Forderungen der Visumsfrage liberal zu sein, und dass Sie mit Ihrem
an die Bundesregierung müssen wir versuchen, in der heutigen Antrag keinen Schritt weiter gehen, als wir es
zentralen Frage: „Wie können wir den Menschen in vor drei Jahren getan haben.
Weißrussland möglichst schnell den Weg nach Europa
ebnen?“ den effektivsten Weg zu gehen. Unserer Auffas- (Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Das
sung nach – dafür werden Sie Verständnis haben, Frau stimmt doch nicht!)
10150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Michael Frieser (CDU/CSU): diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält (C)
Frau Kollegin Beck, ich glaube, das hieße, die Ge- sich? – Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen
schichte aus dem Auge zu verlieren. Die Debatte von da- der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
mals ist mir sehr wohl bewusst. Das Thema hat aber Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der
durch den Wahltag, den 19. Dezember 2010, so an Grünen.
Schärfe gewonnen, dass wir die Situationen nicht mit-
einander vergleichen können. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4667. Wer stimmt
Ich will Sie aber trotzdem auf den Widerspruch in für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
dieser Darstellung hinweisen. Natürlich hat es Signal- sich? – Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der
wirkung, dass von den Staaten der ehemaligen Sowjet- SPD-Fraktion und Enthaltungen der Fraktion Die Linke
union bisher nur Estland, Lettland und Litauen tatsäch- und der Grünen.
lich eine Visumsfreiheit erlangt haben. Wenn wir jetzt im
Fall Weißrussland die Visumspflicht fallen ließen, sähe Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
dies wie ein Gnadenakt aus, würde aber nicht aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4686.
Überzeugung eines sich öffnenden Europas heraus erfol- Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
gen. Ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie sich haltungen? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
dafür einsetzen; denn Sie handeln aus dem Impetus he- der Grünen, Enthaltung der SPD und der Linken und
raus, zu helfen. Aber im Ergebnis liefe es meines Erach- Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen.
tens tatsächlich in die falsche Richtung. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Die Frage, warum sich auch andere dieses Themas Beratung des Antrags der Abgeordneten
annehmen, hat auch etwas mit der Diskussion über die Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz,
Gebührenhöhe der Visa zu tun. Deshalb ist es unserer Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Meinung nach notwendig, dass wir alles unternehmen, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
was auf diplomatischem Weg möglich ist, damit die Visa
so unbürokratisch wie irgend möglich erteilt werden. Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Krite-
rien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wah-
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir dieses Signal ren
aussenden, und zwar in einer möglichst einheitlichen Art
und Weise. Aus dem eifrigen Umherlaufen hier im Ple- – Drucksache 17/3687 –
narsaal schließe ich, dass wir uns vielleicht auf einen ge- Überweisungsvorschlag:
meinsamen Antrag zubewegen. Insofern bedanke ich Innenausschuss (f)
(B) mich herzlich bei den Kollegen der SPD. Wenn wir diese Rechtsausschuss (D)
Frage inhaltlich so beantworten können, dass wir uns Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
nicht gegenseitig niederstimmen müssen, dann ist dies Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
mit Sicherheit ein Beleg dafür, dass die große Mehrheit derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
dieses Hauses ein starkes Signal nach Belarus sendet. schlossen.
Wir müssen Herrn Lukaschenko deutlich machen, dass
wir es weder akzeptieren noch tolerieren, dass er Men- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
schen in seinem Land verfolgt und nach wie vor so tut, ner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/
als errichte er eine Demokratie, obwohl er eine Diktatur Die Grünen das Wort.
befehligt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ist diese Koalition bisher eigentlich unschlagbar: im An-
Ich schließe die Aussprache. kündigen von Überprüfungen und Evaluierungen.

Ich darf Ihnen mitteilen, dass mir von einigen Kolle- (Gisela Piltz [FDP]: Danke für die Erkenntnis!
ginnen und Kollegen persönliche Erklärungen zu Wunderbar!)
Tagesordnungspunkt 7 vorliegen. Diese nehmen wir zu Das fängt mit der Koalitionsvereinbarung an. Im Bereich
Protokoll.1) der Innenpolitik, Frau Kollegin Piltz, sollen zum Bei-
Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich die Ge- spiel die Telefonüberwachung, der Datenschutz, das
schäftsführer zu mir bitten. Waffenrecht und die Internetsperren überprüft werden.
Bisher kannte man den schönen Satz: Wenn ich nicht
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über drei Anträge mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Bei Ih-
mit dem gleichlautenden Titel „Belarus – Repressionen nen kommt hinzu: Wenn ich gar nicht einig bin, Evaluie-
beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, rung ist immer noch drin. – Danach handeln Sie.
Zivilgesellschaft stärken“, und zwar zunächst zur Ab-
stimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
CSU und FDP auf Drucksache 17/4685. Wer stimmt für Reinhard Grindel [CDU/CSU]: An dem Zwei-
zeiler haben Sie aber lange gearbeitet!)
1) Anlage 2 Darin sind Sie ja Spezialist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10151
Wolfgang Wieland
(A) Schwarz-Gelb haben wir netto seit einem Jahr – brutto Wir müssen in die Lage versetzt werden, durch eine Eva- (C)
noch länger –, und noch kein einziges dieser Evaluie- luierung der Wirkung unserer Gesetze selber zu einer
rungsergebnisse liegt vor. Im Gegenteil: Sie streiten sich Korrektur zu kommen. Um dieses Stück Autonomie des
jetzt sogar darüber, ob vorliegende Ergebnisse präsentiert Gesetzgebers geht es hier.
werden sollen – siehe Terrorismusbekämpfungsergän-
zungsgesetz. Erst haben Sie also Angst vor dem gemein- Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist
samen Handeln, weswegen eine Evaluierung durchge- schwierig; das wissen wir. Aber eine Evaluierung kann
führt wird, und dann haben Sie Angst davor, das Ergebnis dabei helfen. Wir schlagen eine Evaluierung auf hohem
dieser Evaluierung vorzulegen. Sie machen aus einem an Niveau vor, und wir erwarten, dass Sie sich ernsthaft da-
sich guten Instrument ein Verzögerungsinstrument. Sie mit auseinandersetzen.
machen aus einer guten Idee ein innerkoalitionäres Ver-
Vielen Dank.
zögerungsmittel bzw. – ich sage es anders – eine schlechte
Ausrede in Ihrer Koalition. Das ist einfach nicht akzepta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bel. Deswegen leisten wir heute Hilfestellung, indem wir sowie des Abg. Frank Hofmann [Volkach]
diesen Antrag vorlegen. [SPD])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich gebe zu: Das ist unsere Idealvorstellung. Man Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kann hier anderer Meinung sein und sagen: Ein solches Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Franz Josef Jung
Gremium wollen wir nicht. Darüber wollen wir ja reden. von der CDU/CSU-Fraktion.
Deswegen machen wir diesen Vorschlag. Was man aber
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nicht machen kann, ist, zu sagen: Es soll alles so bleiben.
der FDP)
Den schlechten Zustand, den wir jetzt haben und der
weitestgehend eine Selbstevaluierung der Exekutive be-
deutet, verändern wir nicht. – Das geht auf gar keinen Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU):
Fall. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
sowie des Abg. Frank Hofmann [Volkach] Kollege Wieland, ich denke, Ihr Antrag, den wir heute
[SPD]) beraten, geht völlig an der Sache vorbei. Er ist aus mei-
ner Sicht einer Behandlung im Rahmen einer Plenarde-
Eine Evaluierung ist bisher völlig unsystematisch batte unwürdig und überflüssig wie ein Kropf.
vorgesehen: einmal hier, einmal da und dann wieder gar
(B) nicht. Deswegen sagen wir erstens: Alle Gesetze, die in (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
die Grundrechte eingreifen und die dem Zitiergebot un- NEN]: Darüber werden Sie jetzt zwölf Minu-
terliegen, müssen eine Evaluierungsklausel und eine ten reden! Da sind wir gespannt! – Josef Philip
Evaluierungsfrist enthalten. Zweitens kann es doch nicht Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein
sein, dass sich die Exekutive selber evaluiert, wie bei sehr kollegialer Einstieg!)
dem sogenannten Terrorismusbekämpfungsgesetz. Da
hat sich die Innenverwaltung selber aufgeschrieben, wie In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
toll sie ist. Das hat sie dann auch noch VS-Vertraulich hat keine Bundesregierung so viel für die Evaluierung
gestempelt und geschlussfolgert: Selbst Befugnisse, die von Sicherheitsgesetzen getan wie die Bundesregierung
nie angewendet wurden, behalten wir bei. Man weiß ja unter christlich-liberaler Verantwortung. Deshalb ist Ihr
nie, was kommt. – Das ist so sinnvoll, als würde man die Antrag abzulehnen, Herr Wieland.
Evaluierung staatlicher Schauspielbühnen an die Inten- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
danten übertragen. Jeder weiß, welches Ergebnis dann chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
herauskommen würde. Niemand würde diesen Irrsinn
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
machen; aber im Bereich der inneren Sicherheit war er
NEN]: Dann hören Sie doch auf mit Ihrer
bisher Methode. Das muss aufhören.
Rede! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – DIE GRÜNEN]: Sollen wir gehen, oder gehen
Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bei Peymann Sie?)
weiß man nie, was dabei herauskommt)
Es stimmt: Freiheit ist ohne Sicherheit nicht möglich.
– Herr Grindel, wir werden sehen, was dabei heraus- Aber Sicherheitsgesetze müssen den Grundrechten und
kommt, wenn man es richtig macht. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Wir als Gesetzgeber müssen bei der Evaluierung den Deshalb ist es, denke ich, auch richtig, dass die Sicher-
Hut aufhaben. Wir müssen das in die Hand nehmen; es heitsgesetze evaluiert bzw., auf Deutsch, überprüft und
sind unsere Gesetze. Dieses Pingpongspiel mit Karls- entsprechend bewertet werden und dass auch die Behör-
ruhe, dass hier Gesetze gemacht werden und uns dann denstrukturen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie ha-
eine permanente verfassungsgerichtliche Nachhilfe er- ben es angesprochen: Beim Terrorismusbekämpfungsge-
teilt wird, wie es Jutta Limbach einmal gesagt hat, muss setz und bei der Antiterrordatei ist die Evaluierung
aufhören. bereits gesetzlich vorgesehen.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die brauchen (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir nicht!) NEN]: Wo ist das Ergebnis?)
10152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Franz Josef Jung


(A) Sie sollten übrigens hinzufügen, dass im Terrorismusbe- Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt – darauf (C)
kämpfungsergänzungsgesetz, das im Oktober 2006 in den haben Sie hingewiesen –, dass die Sicherheitsdaten und
Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, eine Eva- die gemeinsamen Zentren, die Telekommunikations-
luierungsklausel mit Parlamentsbeteiligung vorgesehen überwachung und das Gesetz zur Verfolgung der Vorbe-
ist. Das war in rot-grüner Regierungszeit gerade nicht der reitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten zu
Fall. Ich halte es für richtig, dass der Gesetzgeber, der die überprüfen sind. Die Arbeiten daran sind ebenfalls in
Verantwortung für die Gesetze trägt, an einem solchen Gang. Hinzu kommt – das haben Sie nicht erwähnt –,
Prozess beteiligt ist. Damit hat die christlich-liberale Ko- dass selbstverständlich auch die Schnittstellen der zivi-
alition den richtigen Schritt unternommen. len Sicherheitsbehörden, nämlich Bundeskriminalamt,
Bundespolizei und Zollverwaltung, entsprechend über-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- prüft werden. Dazu hat die Werthebach-Kommission
neten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kann noch ein (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bisschen weiter gehen! – Josef Philip Winkler NEN]: Das ist doch so ein Zirkel, den Sie nicht
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2006 gab es mögen!)
doch keine christlich-liberale Koalition!)
jetzt ihre Arbeiten vorgelegt. Das Ministerium wertet ge-
Die Antiterrordatei soll bis Ende dieses Jahres evalu- rade die Ergebnisse aus. Wir haben das bereits im Innen-
iert werden. Es soll eine umfassende Analyse und Bewer- ausschuss diskutiert.
tung des Instruments der Antiterrordatei im Hinblick auf
seine gesetzlich definierte Zielsetzung erfolgen. Ob die (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Antiterrordatei die Zusammenarbeit der Teilnehmer ef- NEN]: „Gutachteritis“ kann ich nur sagen!)
fektiv unterstützt und damit einen erfolgreichen Beitrag Ich finde die Ziele richtig, zu mehr Effektivität zu kom-
zur Terrorismusbekämpfung leistet, ist ein weiterer ent- men, Überschneidungen zu vermeiden, Aufgabenbünde-
scheidender Punkt, der im Rahmen der Evaluierung zu lungen vorzunehmen und Synergieeffekte zu erzielen.
prüfen ist. Eines ist aber klar: Es darf keine Funktion, die zur Ein-
gliederung von Institutionen führt, in Betracht kommen.
Hinzuzufügen ist auch – das haben Sie ebenfalls nicht
erwähnt, Kollege Wieland –, Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
in Ihrem Antrag die Hinzuziehung von Sachverständigen
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
im Zusammenhang mit der Evaluierung angesprochen.
NEN]: Ich habe nur ein Drittel Ihrer Redezeit,
Hier, denke ich, sind die Kriterien klar. Die Unabhängig-
Herr Kollege Jung! – Josef Philip Winkler
(B) keit muss gewahrt werden. Der derzeitigen Auswahl hat (D)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll er
der Deutsche Bundestag zugestimmt. Das haben Sie hier
denn in vier Minuten alles erzählen?)
ebenfalls nicht erwähnt, Kollege Wieland.
dass die Evaluierungsregelungen im Gemeinsame-Da-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
teien-Gesetz die Einbeziehung eines Sachverständigen
NEN]: Ich sage es noch einmal: Ich hatte ein
erfordern, und zwar im Einvernehmen mit dem Deut-
Drittel Ihrer Redezeit! Geben Sie mir das
schen Bundestag und unter Wahrung von Objektivität
nächste Mal etwas ab! – Josef Philip Winkler
und Neutralität des Sachverständigen. Eines muss aber
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann hier
immer klar sein: Bei der gesamten Überprüfung und Be-
nicht die ganze Bibel vortragen!)
wertung durch eine derartige Evaluierung von Sicher-
heitsgesetzen liegt letztlich die Verantwortung bei der Ebenfalls zu ergänzen ist, dass das Terrorismusbekämp-
Bundesregierung fungsergänzungsgesetz vorsieht, dass ein Staatsrechtler
beauftragt wird, der, lieber Kollege Wieland, auch auf
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
grundrechtliche Fragestellungen den Fokus legt.
NEN]: Nein! Beim Bundestag!)
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Ich bin und
respektive beim Deutschen Bundestag. Sie darf nicht in bleibe der Auffassung, dass die Verantwortlichkeit beim
irgendwelche Experimentierzirkel abgeschoben werden Verfassungsorgan bleiben muss und nicht an ein Exper-
und zu „Gutachteritis“ führen; hier ist vielmehr die Ver- tengremium abgegeben werden kann.
antwortung des Verfassungsorgans gegeben.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Das sehen wir auch so! – Frank
GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Herrn de Hofmann [Volkach] [SPD]: Jawohl!)
Maizière!)
Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt im Zu-
Deshalb muss die Verantwortung beim Verfassungsor- sammenhang mit derartigen Überprüfungen.
gan bleiben.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Das steht in unserem Antrag drin!)
neten der FDP – Josef Philip Winkler [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: In diesem Licht wer- Es liegt in der Verantwortung des Deutschen Bundesta-
den wir jetzt die Werthebach-Kommission ges, die Sicherheitsgesetze einer verantwortlichen Eva-
betrachten!) luierung zuzuführen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10153
Dr. Franz Josef Jung
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wenn ich mir jetzt anschaue, was aus dem Ministe- (C)
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rium kommt, dann habe ich den Eindruck, es sieht dies
NEN]: Das steht in unserem Antrag genau so als eine lästige Pflichtübung, nicht als Evaluierung.
drin!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Der Forderung nach einer, wie Sie es in Ihrem Antrag NEN]: Genau!)
formuliert haben, umfassenden, transparenten und ernst-
Ich sehe keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu
haften Evaluierung wird von der Bundesregierung be-
vorangegangenen sogenannten Evaluierungen. Die Hin-
reits Rechnung getragen.
zuziehung einer externen Beratungsfirma ist eine Farce,
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE wenn sie keinen rechtsstaatlichen Mehrwert darstellt –
GRÜNEN]: Transparent? – Na ja!) und sie stellt in diesem Zusammenhang keinen rechts-
staatlichen Mehrwert dar.
Ich habe gerade gesagt: Noch keine Regierung hat dies
in einem derartigen Ausmaß durchgeführt. Die Forde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rung nach einem institutionalisierten Expertengremium sowie der Abg. Kirsten Lühmann [SPD] und
halte ich für falsch, weil ich der Auffassung bin, dass Jan Korte [DIE LINKE])
hier die Verantwortung des Verfassungsorgans gegeben Schauen Sie sich es einmal genau an: Das Innenmi-
sein muss. Aus all diesen Gründen ist Ihr Antrag abzu- nisterium will autonom die Forschungsfragen der Evalu-
lehnen. ierung festlegen und die Auswertung und Bewertung al-
Besten Dank. leine durchführen; es braucht den Sachverständigen
lediglich als Methodenberater. Das ist mir entschieden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu wenig. Damit kann das BMI den gesamten Prozess
und auch das Ergebnis steuern. Ungewollte und kritische
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Anmerkungen von Sachverständigen können so wir-
kungsvoll verhindert werden. Ich nenne das „Scheineva-
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann von der
luierung“.
SPD-Fraktion.
Die Regierungskoalitionen haben sich im Koalitions-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) vertrag die Evaluierung des Sicherheitsgesetzes auf die
Fahne geschrieben. Aber in der Verwaltung, in der
Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Spitze der Ministerien, gelten weiterhin die alten Ver-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe waltungsgrundsätze: „Das haben wir schon immer so ge-
(B)
Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Evaluierung macht“, „Das haben wir noch nie so gemacht“ und „Da (D)
von Sicherheitsgesetzen“ liegt mir seit langem am Her- könnte ja jeder kommen“. Ich erwarte eine unabhängige,
zen und ist für den Rechtsstaat von herausragender Be- ergebnisoffene Begutachtung und Bewertung von Geset-
deutung. Insofern rennen die Grünen bei mir und bei uns zen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Herr Jung,
offene Türen ein. das ist bei Ihnen auch deutlich geworden. Für Sie liegt
das Schwergewicht auf Praxistauglichkeit und auf Effek-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tivität. Das sind nur zwei wichtige Aspekte. Für Sie sind
es jedoch die einzigen Punkte. Das ist falsch.
Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen ist eine
Großbaustelle, bei der noch viel zu tun ist. Die Materie Ich denke zurück an die Evaluierung im Zusammen-
ist wissenschaftlich noch nicht völlig durchdrungen. hang mit der Bundespolizeireform. Dieser Evaluierungs-
Gute Ansätze sehe ich zum Beispiel bei Marion Albers, bericht ist kräftig in die Hose gegangen. Das Innenmi-
die zur grundrechtsbezogenen Evaluierung gearbeitet nisterium hat sich ein passendes Ergebnis gebastelt, und
hat, und bei Gusy aus Bielefeld, der zur Telefonüberwa- die Realität sah ganz anders aus. Deshalb ist auch eine
chung evaluiert hat. Aber auch das Max-Planck-Institut Anhörung durch den Innenausschuss durchgeführt wor-
hat schon beachtliche Ergebnisse geliefert. Fest steht für den. Die Kritik der Sachverständigen und der Betroffe-
mich und für uns: Die Politik muss sich an der Entwick- nen war vernichtend. Evaluierungen sind eben keine
lung und Gestaltung von Evaluierungskonzepten beteili- Schönwetterberichte.
gen und muss diese vorantreiben.
Eine rechtsstaatsorientierte Evaluierung von Sicher-
Das Innenministerium hat in 2010 Vorschläge zur heitsgesetzen darf nicht allein die Effektivität der Ver-
Evaluierung des Terrorismusbekämpfungsergänzungs- waltungstätigkeit zum zentralen Maßstab haben. Die
gesetzes und des Gemeinsame-Dateien-Gesetzes vorge- entscheidenden Fragen müssen lauten: Welche Grund-
legt. Wir alle haben die Entwürfe gesehen. Darin sehe rechte sind berührt? Wie tief und wie häufig sind die
ich misslungene Versuche. Eingriffe? Sind die Rechtsstaatsprinzipien gewahrt?
Herr Jung, Sie haben gesagt, keine Bundesregierung Nun zum Vorschlag der Grünen. Sie schlagen ein in-
habe für die Evaluierung mehr getan, und die Parla- stitutionalisiertes Expertengremium vor. Damit würde
mentsbeteiligung hervorgehoben. Ich kann Ihnen nur sa- ich vorsichtig umgehen. Institutionen mit festen Organi-
gen: Herr Benneter und ich waren es, die dies bei diesen sationsstrukturen entwickeln immer ein Eigenleben. Wir
Gesetzen durchgesetzt haben, und zwar gegen großen brauchen die Unabhängigkeit der Sachverständigen, die
Widerstand aus Ihrer Fraktion. selbstständig eine Bewertung vornehmen und die sich
10154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Frank Hofmann (Volkach)


(A) auch dem wissenschaftlichen Wettbewerb stellen. Über Sie schreiben da: (C)
diese Punkte müssen wir noch reden.
Deshalb hat die rot-grüne Koalition … das Instru-
Einheitlich festgelegte Kriterien sind nicht sinnvoll. ment einer gesetzlich vorgesehenen Evaluierungs-
Es gibt in diesem Bereich nicht so etwas wie ein Jackett pflicht eingeführt.
von der Stange, das für alle Gesetze gleichermaßen (Zuruf von der FDP: Das Wort habe ich vorhin
passt. Jedes Gesetz benötigt seinen eigenen Maßanzug. schon mal gehört!)
Deshalb bin ich skeptisch. Wir müssen auch noch über
den Zeitpunkt reden. Wenn der wissenschaftliche Sach- Evaluierung wurde dabei als unabhängige Überprü-
verständige erst im späteren Stadium hinzukommt, dann fung der Grundrechtsverträglichkeit und Verhältnis-
fehlen schon alle Voraussetzungen, um richtige Statisti- mäßigkeit verstanden.
ken führen zu können. Ich halte es für wichtig, dass er Jetzt kommt mein Lieblingssatz:
bereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Prozess
eingebunden wird. Dies wurde allerdings nicht so vom Gesetzgeber
ausformuliert.
Es gibt noch eine Menge zu tun. Die SPD-Fraktion
will hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten. Wir wer- Da muss ich doch einmal fragen: Wer war denn da-
den morgen eine renommierte Expertin auf dem Gebiet mals Gesetzgeber? Warum haben Sie das denn nicht ge-
der Gesetzesevaluierung in unserer Arbeitsgruppe hören. schafft, wenn Sie das alles so toll finden? Warum steht
Sie wird uns mit ihrem Know-how unterstützen. Die das nicht direkt im Gesetz?
Bundesregierung sollte diesem Beispiel folgen und bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Evaluierungsfragen auch unabhängigen externen Sach- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
verstand mit ins Boot holen. GRÜNEN]: Weil Herr Wieland noch nicht im
Deshalb wünsche ich mir, dass das BMI selbstständig Parlament war!)
ohne gesetzlichen Zwang die Sicherheitsgesetze auch Weil Sie es damals nicht für nötig gehalten haben oder
wissenschaftlich evaluieren lässt. Damit wäre es auf der sich nicht durchsetzen konnten? Waren Sie – ich könnte
Höhe der Zeit. Nur so kann der Gesetzgeber seiner per- auch direkt fragen – nicht eigentlich selbst der Gesetzge-
manenten Verfassungsbindung genügen und gegebenen- ber, der es verbockt hat?
falls Nachbesserungen am Gesetz vornehmen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Herzlichen Dank. GRÜNEN]: Nein, war er nicht!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist nämlich genau das Problem. Sie haben es damals
(B) (D)
DIE GRÜNEN) nicht richtig gemacht und wollen uns das jetzt anhängen.
Das ist nicht redlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von den Grünen.
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Fraktion. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir wollen es jetzt verbessern!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dazu kann ich eines sagen: Inhaltlich sind wir gar
Gisela Piltz (FDP): nicht so weit auseinander. Wir sind der Auffassung, dass
Evaluierung richtig ist. Sie muss zwingend die Verhält-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nismäßigkeit in den Blick nehmen. Sie darf sich vor al-
Liebe Kollegen von den Grünen, bei der Lektüre Ihres
len Dingen nicht auf die Praktikabilität der ausführenden
Antrages war ich mir nicht sicher, ob ich nun erfreut
Behörde beschränken,
oder erstaunt sein sollte.
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sehr gut!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Beides!) und sie soll auch nicht nur von den Betroffenen durchge-
führt werden. Der Satz, dass die Frösche nicht ihren ei-
Erfreut, weil ich zur Kenntnis nehmen konnte, dass es in genen Teich trockenlegen würden, ist hier schon oft zi-
Ihrer Fraktion zu früheren Zeiten einen Lernprozess ge- tiert worden. Er trifft auch hierauf zu.
geben hat,
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Frösche sind
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- grün!)
NEN]: Das kann Ihnen nicht passieren!)
Wenn hier gesagt wird, wir täten gar nichts, was Eva-
oder erstaunt über die Dreistigkeit, uns diesen Antrag luierung angeht, dann muss ich fragen, wo Sie eigentlich
vorzulegen. waren, als es im Innenausschuss um das Informations-
freiheitsgesetz ging. Wir sind gesetzlich nicht verpflich-
Da schreiben Sie doch tatsächlich, dass Sie in Ihrer –
tet, dieses zu evaluieren, wir tun es aber.
da war es nämlich – rot-grünen Regierungszeit etwas
Tolles, nämlich eine unabhängige Evaluierung einge- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
führt hätten. Im nächsten Satz beklagen Sie sich dann, NEN]: Doch! Die Frist fehlt! Im Gesetz steht
dass der Gesetzgeber dies aber nicht umgesetzt habe. die Evaluierungspflicht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10155
Gisela Piltz
(A) – Wir sind in dieser Legislaturperiode nicht verpflichtet, (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das ist kein (C)
das zu machen. – Wir beauftragen einen Externen, das Sicherheitsgesetz! Hier geht es um Sicher-
Informationsfreiheitsgesetz zu evaluieren. Das ist mehr, heitsgesetze!)
als Sie geschafft haben. Daher ist Ihr Verhalten nicht
richtig. – Die Aussage war, dass wir überhaupt keine Evaluie-
rung vornehmen. Das habe ich eben widerlegt.
(Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
NEN]: Dass Sie kein Ergebnis bisher haben!)
frage)
Zweitens haben wir uns im Zusammenhang mit den
– Wenn er möchte. Dann habe ich Spaß.
anderen Gesetzen auf ein Verfahren verständigt, dass ex-
terner Sachverstand hinzugezogen wird, der sich natür-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lich auch der Frage der Verhältnismäßigkeit widmen
Ich höre, dass Sie eine Zwischenfrage des Kollegen soll. Die Koalitionsfraktionen werden das sehr genau
Wieland zulassen. verfolgen und natürlich mit evaluieren. Insofern gebe ich
meinem Kollegen Jung – das wird Sie jetzt erstaunen
Gisela Piltz (FDP): und ihn vielleicht erfreuen – völlig recht. Wir sind uns
völlig einig, dass Ihr Antrag abzulehnen ist, weil in ihm
Ja.
etwas gefordert wird, was wir ohnehin schon tun.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Schön. – Bitte, Herr Wieland. Wir tun das, und wir werden mehr tun, als Sie getan ha-
ben; denn Sie waren nicht in der Lage, das in das Gesetz
Gisela Piltz (FDP): zu schreiben. Wir setzen jetzt um, was Sie nicht ins Ge-
Mir würde sonst etwas fehlen. setz geschrieben haben. Das ist der Unterschied zwi-
schen Ihnen und uns.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Evaluierungsklauseln – das möchte ich auch sa-
Liebe Frau Kollegin Piltz, sind Sie bereit, zur Kennt- gen – kann sich Politik auch nicht reinwaschen. Man
nis zu nehmen, dass wir durchaus gelernt haben, dass die kann nicht sagen: Wir greifen jetzt einmal in die Grund-
Pflicht zur Evaluierung in das Terrorismusbekämpfungs- rechte ein, aber wir haben am Ende eine Evaluierung
gesetz geschrieben wurde, im Übrigen auch in das Infor- und schauen, wie schlimm es ist. – Auch das ist unred-
(B) mationsfreiheitsgesetz? Sie liegen mit Ihrer Meinung lich. So gesehen muss ich auch noch einmal daran erin- (D)
falsch. Es wurde nur versäumt, eine Frist festzusetzen. nern, dass sich die Kollegen der SPD durchaus damit ge-
Die Evaluierungspflicht aber steht im Informationsfrei- schmückt haben, eine Evaluierung vorzunehmen. Dies
heitsgesetz. ist aber kein Trostpflaster dafür, dass Sie die Grund-
rechte mit dem BKA-Gesetz eingeschränkt haben.
Aufgrund des Lernprozesses, dass dabei eine Selbst-
evaluierung der Exekutive herauskam, haben wir gesagt: Wir werden das anders machen. Das Bundesinnen-
So geht es nicht weiter. – Den ersten Schritt, den der ministerium und das Bundesjustizministerium sind sich
Kollege Hofmann genau geschildert hat, nämlich dass in beim TBEG und bei der Antiterrordatei einig, welches
einem Gesetz steht, dass ein Externer hinzugezogen wer- Verfahren angewendet wird. Wir legen damit die Grund-
den muss, finden wir unzureichend, weil es sich um eine lage für eine echte Evaluierung.
Gesellschaft handelt, die nur methodische Vorschläge (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das ist das
unterbreitet, ansonsten aber Managementberatung oder Verfahren, das schon vorliegt? Das ist keine
dieses und jenes macht. Alles dies hat dazu geführt, sich Evaluierung! Das ist eine Farce!)
abstrakt in Form eines Antrags zu überlegen, wie eine
bessere Evaluierung aussehen kann. Wäre es nicht bes- – Wissen Sie, was ich eine Farce finde, Herr Kollege?
ser, statt immer nur Vergangenheitsbewältigung zu be- (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie werden
treiben, uns zu sagen, ob Sie wie der Kollege Jung es mir sagen!)
schroff sagen: „Abgelehnt!“, ob Herr Jung auch in Ihrem
Namen die Ablehnung ausgesprochen hat oder wie Sie Dass Sie nicht in der Lage waren, mit Grün, mit anderen
sich hierzu verhalten wollen? Koalitionspartnern eine ordentliche Evaluierung ins Ge-
setz zu schreiben. Wenn wir es jetzt besser machen als
Gisela Piltz (FDP):
Sie, dann ist es ein Erfolg. Eine Farce ist Ihre Gesetzge-
bung und nicht unsere Evaluierung. Das muss ich hier
Eigentlich kann ich den Rest meiner Rede auf Ihre deutlich sagen. Man muss auch einmal in die Geschichte
Kosten halten und noch ganz lange weiter reden; denn schauen.
das alles hätte ich noch gesagt. Herr Kollege Wieland,
erstens waren wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
pflichtet, die Evaluierung des Informationsfreiheitsge- Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie wissen
setzes vorzunehmen. Wir tun es aber trotzdem. Das wi- genau, dass sich die Evaluierung in der Wis-
derspricht dem, was Sie und Ihre Kollegen hier gesagt senschaft erst langsam durchsetzt und dass es
haben, nämlich dass wir so etwas nicht tun würden. sie vor zehn Jahren noch nicht gab!)
10156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Gisela Piltz
(A) – Jetzt ist es auch einmal gut. Wenn Sie eine Frage ha- Der Kollege Wieland hat das Beispiel schon genannt. (C)
ben, dann stellen Sie sie ordentlich, so wie der Kollege Es ist ein relativ lustiger Vorgang, dass, ich sage einmal,
Wieland. Stellen Sie sich meiner Antwort, und quaken die härtesten Innenpolitiker ihre härtesten innenpoliti-
Sie hier nicht andauernd dazwischen! schen Gesetze evaluieren, überprüfen und – potz Blitz! –
zu der Erkenntnis kommen, dass die Ergebnisse spitze
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ich mache sind und man sogar noch viele neue braucht. Das ist in
das, wie ich es für richtig halte!) etwa so, als sollte sich die CDU/CSU-Fraktion in der Öf-
– Jetzt ist es aber auch gut. fentlichkeit selbst im Hinblick darauf evaluieren, wie
ihre Politik ist. Sie ist natürlich nachweislich schlecht,
Eines muss man auch sagen: Wenn Sie den Koali- aber Sie werden logischerweise sagen, dass sie gut ist.
tionsvertrag einmal anschauen, dann werden Sie sehen, So kann man nicht seriös evaluieren. Das muss unabhän-
dass wir keine Verschärfung von Sicherheitsgesetzen gig geschehen.
planen. Ganz gleich, was Sie uns vorwerfen, wir planen
das nicht. Das muss man hier auch deutlich sagen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ein Teil NEN])
plant das!)
Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel dafür nen-
Das heißt auch, dass wir bei allen Gesetzesvorhaben die nen, dass man schon von hier aus evaluieren kann. Wir
Verhältnismäßigkeit lieber direkt prüfen und dies nicht erinnern uns an die harten Debatten, die wir zur Befug-
auf nachfolgende, möglicherweise andere Mehrheiten nis der Onlinedurchsuchung im BKA-Gesetz geführt ha-
verschieben. Wir stellen uns bei den Grundrechten der ben. Das ist nun recht interessant. Wir wollten konkret
Verantwortung und lassen nicht hinterher jemand ande- evaluieren und haben eine Kleine Anfrage an die Bun-
ren prüfen. desregierung gestellt. Nachdem die Onlinedurchsuchung
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) in das BKA-Gesetz aufgenommen worden ist, wollten
wir wissen: Wie oft hat das BKA eigentlich eine Online-
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich durchsuchung durchgeführt? Von der Bundesregierung ha-
mich schon darauf freue, mit Ihnen darüber zu diskutie- ben wir die Antwort bekommen – das ist wirklich toll –:In
ren, ob Maßnahmen, die Sie den Sicherheitsbehörden der Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 21. Mai 2010, also
überhaupt erst ins Gesetz geschrieben haben, verlängert rund ein Jahr, wurde keine einzige Onlinedurchsuchung
werden sollten oder nicht. Ich meine eine Diskussion auf durchgeführt. – Keine einzige! Wenn man eine seriöse
der Grundlage der von der schwarz-gelben Koalition in Evaluierung durchführen würde, käme man zu folgen-
Auftrag gegebenen Evaluation mit Blick auf Zweckmä- dem Schluss: Das müssen wir streichen. Weg mit der
(B) (D)
ßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Ich freue mich auf eine Onlinedurchsuchung. Man braucht sie gar nicht. Sie ge-
ernsthafte Diskussion mit der Opposition, und ich hoffe, fährdet die Bürgerrechte. – Das wäre die richtige
sie gerät nicht zur Farce. Schlussfolgerung. Davor drücken Sie sich aber. Das ist
der Grund, weswegen Sie diesen Antrag nicht wollen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Weshalb wollen Sie diesen Antrag nicht? Diese Frage
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist in der Tat sehr interessant. Wir brauchen eine Evalu-
erteile ich dem Kollegen Jan Korte von der Fraktion Die ierung der beiden Pole Freiheit und Sicherheit. Sind sie
Linke das Wort. noch im Lot? Eine solche Evaluierung muss vor allem
unabhängig sein. Wir brauchen keine harten Sheriffs aus
Jan Korte (DIE LINKE): Ihren Reihen, die die Gesetze überprüfen, sondern Bür-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gerrechtler, unabhängige Rechtsanwälte, Journalisten
ist schon interessant, was heute aus den Reihen der Ko- und viele andere. Die Bürger- und Persönlichkeitsrechte
alition so alles geboten wird. Ich muss sagen, der ge- müssen ebenfalls evaluiert werden, um herauszufinden,
stellte Antrag ist in der Tat sehr sinnvoll. Ich glaube, das inwieweit sie in Mitleidenschaft gezogen worden sind
kann man erst dann richtig würdigen, wenn man sich an-
(Zuruf von der CDU/CSU: Kein einziges Mal!
schaut, welche Eingriffe in die Bürgerrechte in den letz-
Das haben Sie doch eben gesagt!)
ten Jahren stattgefunden haben. Die Gesamtsumme der
Eingriffe zeigt in der Tat, dass wir dringend eine Evalu- bzw. nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind;
ierung brauchen, weil Evaluierung immer auch ein Stück auch das ist möglich.
weit Selbstkorrektur – man könnte auch sagen, Selbst-
kritik; wie auch immer – bedeutet. Wir brauchen näm- Ganz sicher ist das – das haben wir jetzt mehrfach ge-
lich eine Abrüstung nach innen und außen. Das ist ange- hört; das richtet sich auch an diejenigen, die im Innen-
messen. ausschuss sitzen –: Wir müssen evaluieren, wie die Si-
cherheitslage in der Innenpolitik aussieht; denn darauf
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. fußt eine seriöse Gesetzgebung. Wir bekommen ständig
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Terrorwarnungen. Zum Glück ist dies seltener gewor-
NEN]) den. Es war dennoch erst kürzlich der Fall. Das Problem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10157
Jan Korte
(A) ist, dass man nicht überprüfen kann, wie groß die Gefahr Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (C)
wirklich ist. Wie will man da sachlich über solche Geset-
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
zesvorhaben reden? Deswegen sind Sie in der Pflicht,
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
endlich offenzulegen, wie die Sicherheitslage ist. Erst
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
dann kann man solche Gesetzesvorhaben seriös behan-
Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
deln.
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
(Beifall bei der LINKEN) und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Republik Serbien andererseits
Natürlich werden wir diesen Antrag unterstützen. Ei-
nes will ich den Grünen aber noch mit auf den Weg ge- – Drucksache 17/3963 –
ben. Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen Ausschusses (3. Ausschuss)
NEN]: Da würde auch was fehlen!) – Drucksache 17/4500 –
Noch besser, Kollege Wieland, als Evaluierungsdebatten Berichterstattung:
zu führen, wäre es für die Grünen, solch schlechten Ge- Abgeordnete Peter Beyer
setzesvorhaben erst gar nicht zuzustimmen. Dann brau- Günter Gloser
chen wir sie nämlich nicht zu evaluieren. Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Marieluise Beck (Bremen)
NEN]: Dann bräuchten Sie auch keine Eva-
luierung!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
Die Linke stimmt so etwas niemals zu. derspruch? – Das ist nicht der Fall.
Danke. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU)
Ich schließe die Aussprache.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
(B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Amt: (D)
Drucksache 17/3687 an die in der Tagesordnung aufge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der Debatte am 8. Oktober 2010 hat sich der Deutsche
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Bundestag fraktionsübergreifend für eine Weiterleitung
so beschlossen. des serbischen EU-Beitrittsantrags an die Europäische
Kommission ausgesprochen. Damit wurde das bekräf-
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
tigt, was unserer europäischen Überzeugung entspricht:
nung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Wir wollen die Überwindung der Teilung Europas voll-
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
enden. Dazu gehört die EU-Perspektive für die Länder
schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
des westlichen Balkan.
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen. Das gilt natürlich auch für Serbien. Es steht außer Frage,
dass ein rechtsstaatliches und demokratisches Serbien
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf: seinen Platz in der europäischen Familie hat.
Beratung einer Beschlussempfehlung des Aus- Heute steht im Bundestag die Entscheidung über ei-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und nen weiteren wesentlichen Zwischenschritt auf diesem
Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Weg nach Europa an. Es geht um die Ratifizierung des
Genehmigung zur Durchführung eines Straf- Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Dieses
verfahrens Abkommen ist ein wesentlicher Bestandteil des Stabili-
sierungs- und Assoziierungsprozesses. Das ist ein Pro-
– Drucksache 17/4680 – zess, den die Europäische Union nach den Kriegen im
ehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen hat. Dieser
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
Prozess bildet nach wie vor den Kompass für Stabilität
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
und nachhaltige Reformen in der Region, gerade weil er
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
eine nachhaltige Perspektive beinhaltet.
sache 17/4680, die Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Serbien bekennt sich in dem Stabilisierungs- und As-
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- soziierungsabkommen zu den europäischen Werten:
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- Menschenwürde, Demokratie, Schutz von Minderheiten,
nommen. Rückkehrrecht der Flüchtlinge, uneingeschränkte Zu-
10158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Staatsminister Dr. Werner Hoyer


(A) sammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof eine europäische Perspektive. Diese müssen wir eben- (C)
für das ehemalige Jugoslawien und Entwicklung gut- falls voranbringen, soll das Land kein Hort der Instabili-
nachbarlicher Beziehungen. Das sind große, das sind ge- tät in Europa werden. Ich sage klar: Wir erwarten von
wichtige Worte, wenn man an die Geschichte dieser ge- Serbien, dass es diese Perspektive, so schwierig sie sein
schundenen Region Europas denkt. Das alles in die mag, nicht blockiert.
Realität umzusetzen, wird kein Selbstläufer sein; das ist
noch ein langer Weg. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Abkommen bietet die Grundlage für eine schritt-
weise Angleichung des serbischen Rechts an den EU- Offene bilaterale Fragen dürfen nicht erneut in die Euro-
Acquis. Es eröffnet in vielen Bereichen eine intensive päische Union importiert werden, will die Europäische
und umfassende Zusammenarbeit zwischen Serbien und Union ihre Handlungsfähigkeit bewahren. Auch hier ha-
der EU, auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Nach erfolg- ben wir aus den Erfahrungen gelernt.
reicher Umsetzung des Abkommens wird Serbien einen Serbien hat den richtigen Weg eingeschlagen. Nicht
erheblichen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes zuletzt in New York im letzten Herbst ist es mit großem
der Europäischen Union übernommen haben. Das ist persönlichen Engagement auch von europäischen Au-
eine notwendige, wenngleich noch längst nicht hinrei- ßenministern wie William Hague, Guido Westerwelle
chende Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäi- und Cathy Ashton gelungen, eine gemeinsame Resolu-
schen Union. tion auf den Weg zu bringen, die nicht neue Gräben auf-
Die europäische Perspektive bleibt der wirksamste reißt.
Hebel für unumkehrbare Reformen in Serbien und der Auch die jüngsten Gesten zwischen dem serbischen
gesamten Region. Die Europäische Union steht zu ihren und dem kroatischen Staatspräsidenten stimmen hoff-
eingegangenen Verpflichtungen und erwartet umgekehrt, nungsfroh. Der Besuch von Präsident Tadic in Vukovar,
dass Serbien vor einem Beitritt zur Europäischen Union die Resolution des serbischen Parlaments zu Srebrenica
alle Kriterien für eine Mitgliedschaft uneingeschränkt und das serbische Bekenntnis zur territorialen Integrität
erfüllt. Meine Damen und Herren, da dürfen wir uns Bosniens zeigen, dass der Weg zur Versöhnung begangen
nichts vormachen: Das ist noch ein längerer Weg. Wir werden kann. Serbien – allen voran Präsident Tadic – hat
müssen aus der Geschichte der europäischen Erweite- den Mut bewiesen, diese Schritte zu gehen. Dass das in-
rungspolitik lernen und auf der Einhaltung der klar for- nenpolitisch nicht leicht war, ist uns allen bewusst. Nun
mulierten Erwartungen an einen Beitrittskandidaten be- müssen weitere mutige Schritte folgen.
stehen.
Herzlichen Dank.
(B) Serbien muss unter Beweis stellen, dass es nicht nur (D)
anspruchsvolle Reformagenden abhandeln kann, son- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
dern auch die Werte der Europäischen Union in vollem und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Umfang teilt und dafür eintritt, übrigens nicht nur zum
Zeitpunkt des Beitritts, sondern auch danach, wenn man
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
in das europäische Haus eingezogen ist.
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Fraktion.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hierzu gehören auch – das ist ganz zentral – das Eintre- Uta Zapf (SPD):
ten für Versöhnung, regionale Zusammenarbeit und gut- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
nachbarliche Beziehungen. Hierauf werden wir und wird der Ratifizierung des vorliegenden Abkommens, die wir
die Kommission ein waches Auge richten müssen. gleich vornehmen, kommt Serbien einen Schritt näher an
Um im Prozess der Versöhnung auch in Bezug auf die EU heran. Ich denke, das ist für Serbien gerade in der
Kosovo weiterzukommen, erwarten wir, dass der Dialog augenblicklichen Situation ein ganz wichtiges Zeichen
zwischen Belgrad und Pristina über praktische Fragen so der Ermutigung. Die Situation in Serbien ist ja nun weiß
bald wie möglich beginnt und konstruktiv geführt wird. Gott nicht goldig. Serbien wurde sehr stark von der Wirt-
schaftskrise getroffen. Die Arbeitslosigkeit beträgt
Auch bei den Beziehungen zu einem anderen Nach- 26,7 Prozent, die Löhne sinken, und der IMF verlangt
barstaat, nämlich Bosnien und Herzegowina, muss sogar noch weitere schmerzliche Reformen, auch und
Serbien deutlich zeigen, dass es die konstruktiven und besonders in Form von Einsparungen im öffentlichen
kompromissorientierten Kräfte unterstützt und sich un- Dienst, was wiederum sinkende Löhne mit sich bringt.
zweideutig für die europäische Zukunft eines ungeteilten Die Ärzte und das Klinikpersonal streiken, sie gehen auf
Bosnien und Herzegowina einsetzt. die Straße und drohen mit weiterem Ausstand, weil ihr
Verdienst nicht ausreicht, um einen anständigen Lebens-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
unterhalt zu sichern. Es ist ja verständlich, dass man
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sich, wenn sich die Zukunftsperspektiven verschlech-
Die Grenzen auf dem Balkan sind endgültig gezogen. tern, große Sorgen macht. Darum ist es wichtig, jetzt zu
Der Internationale Gerichtshof hat im letzten Jahr bestä- schauen, wie eine positive Stimmung entstehen kann.
tigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Dass es dazu kommt, ist, wie ich glaube, dringend not-
nicht gegen Völkerrecht verstoßen hat. Auch Kosovo hat wendig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10159
Uta Zapf
(A) Gerade in den letzten Tagen sind, wie wir aus einigen freiem Fuß. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn (C)
Informationsquellen entnehmen konnten, 70 000 Natio- man endgültig über Beitrittsverhandlungen entscheidet.
nalisten unter Führung von Tomislav Nikolic auf die Aber das wissen die Serben selbst, und es bleibt die
Straße gegangen und haben Neuwahlen verlangt. Sie Hoffnung.
fordern: „Change!“, und werfen der Regierung Unfähig-
keit und Korruption vor. Nun wissen wir, dass Korrup- Die Hoffnung, dass die Probleme überwunden wer-
tion in Serbien in der Tat ein Problem ist. Wir hatten den, bleibt auch in einem anderen schwierigen Punkt,
heute ein Gespräch mit dem serbischen Botschafter, der nämlich in der Frage des Kosovo, der Gerichtsentschei-
gesagt hat: Korruption ist eines unserer größten Pro- dung und der Akzeptanz der Resolution, die nach etwas
bleme, aber Präsident Tadic nimmt es sehr ernst. Es gibt schwierigem Ringen gelungen ist. Das, was vereinbart
eine Antikorruptionsbehörde, die aber zu wenig Befug- wurde, kommt jetzt auf den Weg. Ich hoffe, dass die Ge-
nisse und zu wenig Instrumente hat. Der Präsident selbst spräche mit dem Kosovo bald beginnen werden. Es gab
hat allerdings den Arzt seiner Kinder, nachdem er ge- jedenfalls Meldungen, dass sich die Gruppe jetzt for-
merkt hat, dass dieser korrupt ist und Bestechungsgeld miert hat.
nimmt – weil er zu wenig verdient, aber auch leben Herr Füle hat mit Recht Folgendes gesagt, als die EU-
möchte –, vor Gericht gebracht. – Man ist also davon Kommission den Bericht angenommen hat:
überzeugt, dass es nötig ist, diese Korruption zu be-
kämpfen, und bemüht sich glaubhaft darum. Serbien hat seinen Platz in der EU. Die Tür ist of-
fen, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. …
Ich denke, es ist in diesem Fall nicht angebracht, im- Wir messen Serbien eine zentrale Rolle für den
merfort nur auf Tunesien und Ägypten zu verweisen, wie Aussöhnungsprozess und eine positive regionale
es Herr Nikolic gemacht hat. Er bedient sich bei seiner Zusammenarbeit im Westlichen Balkan bei.
Forderung nach Neuwahlen des Vorwurfs, dass trotz
proeuropäischer Einstellung der Regierung die Anbin- Aber sie werden das nicht ganz alleine schaffen kön-
dung an die EU nur schleppend vorangehe. Auch unter nen. Ich finde, wir müssen auch einen Blick auf die Eu-
diesem Gesichtspunkt wäre es jetzt an der Zeit, die pro- ropäische Union werfen, die verschlungen ist in Diskus-
europäischen Maßnahmen durch einen entsprechenden sionen über den Euro, über die Finanzkrise und über ihre
Schritt zu honorieren. Orientierung und die vergessen hat, dass die Europäi-
sche Union insgesamt ein Projekt des Friedens, ein Pro-
Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission jekt der Stabilität und ein Projekt der Reformen zur De-
werden die Fortschritte Serbiens auf dem Weg zur EU mokratisierung, zur Kooperation, zur Aussöhnung ist.
hervorgehoben. Laut der Schlussfolgerungen des Rates Wir haben das den Westbalkanländern 2003 in Thessalo-
(B) vom 25. Oktober 2010 hat die Kommission mit den Vor- niki angeboten und haben es immer wieder bestätigt. (D)
bereitungen einer Stellungnahme zum Beitrittsantrag Aber es ist doch kontraproduktiv, wenn dann die CDU in
Serbiens begonnen, die 2011 veröffentlicht werden soll. ihr Programm schreibt: Kroatien wird selbstverständlich
Der Botschafter hat heute sehr deutlich signalisiert, dass noch aufgenommen, aber dann ist Schluss. – Das kann
man nicht nur hofft, dass die Stellungnahme positiv aus- nicht sein. Damit ermutigen wir niemanden. Damit er-
fällt, sondern auch, dass ein Termin für die Aufnahme mutigen wir Serbien nicht. Damit ermutigen wir aber
von Beitrittsverhandlungen genannt wird. Ich denke, auch andere Länder nicht, die im Moment in ihrem Inne-
dies wäre eine sehr große Ermutigung in einer doch ren jede Menge Schwierigkeiten haben, diese Perspek-
schwierigen Lage, die sich wohl nicht so schnell bessert. tive als Anreiz für die Entwicklung weiterer Reformen
Trotz der Bescheinigung, dass Serbien Fortschritte und zum weiteren Fortschreiten in Demokratisierungs-
bei der Erfüllung der politischen Kriterien gemacht hat, prozessen zu nehmen.
bleibt in wichtigen Feldern natürlich noch viel zu tun. Wir haben schwere Probleme in Mazedonien, nicht
Ich habe die Bekämpfung von Korruption schon er- nur weil die Griechen im Namensstreit stur sind, sondern
wähnt. Weiterhin ist eine Justizreform umzusetzen; eine weil auch die Mazedonier stur sind und eher auf nationa-
Reform der öffentlichen Verwaltung ist auf den Weg zu listische Töne ausweichen, als sich im Reformprozess
bringen; es muss die organisierte Kriminalität bekämpft tatsächlich einmal weiterzubewegen.
werden usw. Die serbische Regierung hat aber schon ei-
nen entsprechenden Aktionsplan beschlossen und diesen Auch Montenegro, das von der Europäischen Kom-
auch in Brüssel vorgelegt. Dieser ist sehr umfangreich mission eine gute Beurteilung bekommen hat, ist meiner
und geht auf alle Erfordernisse ein. So kann man in der Ansicht nach schwer reformbedürftig, was zum Beispiel
Tat sagen: Es gibt ein ernsthaftes, aufrichtiges Bestreben die Behandlung der Presse, die Frage der Korruption und
dieser Regierung. Nikolic dagegen, der bei Wahlen im- die Frage der organisierten Kriminalität, die bis in die
mer noch gute Ergebnisse erzielt, allerdings keine Koali- obersten Etagen der politischen Elite reicht, betrifft.
tionspartner findet, versucht, diese schwierige Situation
als Hebel zu benutzen, um die Regierung zu stürzen. Für Wir haben sehr viel zu tun. Aber wenn wir diesen
die Serben kann der Weg nicht sein, in eine wirklich un- Entmutigungsprozess gerade in den eigenen Reihen, in
übersichtliche Situation zu kommen. der Europäischen Union nicht aufhalten, dann haben wir
vergessen, wozu die Europäische Union eigentlich ge-
Was noch aussteht, ist die sichtbare Zusammenarbeit gründet worden ist und welche positiven Effekte es für
mit dem Strafgerichtshof; das wurde schon erwähnt. uns und auch für andere gegeben hat und dass es Zeit ist,
Noch immer sind Ratko Mladic und Goran Hadzic auf dass sich die Europäische Union wieder auf ihre Glaub-
10160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Uta Zapf
(A) würdigkeit besinnt, um das Friedensprojekt wirklich sta- An allem, was man beobachten kann, erkennt man, (C)
bil weiterzuführen. dass die serbische Regierung mit Hochdruck an der Um-
setzung des EU-Fahrplans für ihr Land arbeitet. Erst vor
Vielen Dank.
wenigen Tagen – auch meine Vorredner wiesen darauf
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem hin – hat das Land die Antworten auf die Fragen des um-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fangreichen Fragebogens zur Beitrittsbereitschaft des
Landes an die Europäische Kommission übersandt. So
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden Vertreter der Kommission, ebenso Parlamenta-
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Beyer von der rier aus unseren Reihen in den nächsten Wochen nach
CDU/CSU-Fraktion. Serbien reisen und sich vor Ort informieren. Die Stel-
lungnahme der Kommission wird für den Herbst dieses
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahres erwartet.
Dabei ist schon jetzt klar: Der Weg Serbiens in die EU
Peter Beyer (CDU/CSU):
ist noch lang. Der Fortschrittsbericht der Europäischen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kommission hat die Palette der Problemfelder klar be-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor sieben nannt: Korruption, organisierte Kriminalität, mangelnde
Wochen haben wir in erster Lesung unsere Reden zu
Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen,
Protokoll gegeben. Ich halte es für eine gute Sache – es
ausstehende Klärung von Eigentumsrechten, ungeklärter
ist an der Zeit –, dass wir heute über den Tagesordnungs-
Status von Flüchtlingen, unzureichende Bekämpfung des
punkt debattieren.
Schwarzmarktes. Das ist nur eine Auswahl. Ich benenne
Die Beziehungen zu Serbien, einem Schlüsselstaat ausdrücklich zwei weitere Punkte.
des Balkans, sind von herausgehobener Bedeutung. Die
gemeinsame deutsch-serbische Vergangenheit war nicht Erstens. Die uneingeschränkte Kooperation Serbiens
immer einfach. Insbesondere im kulturellen Bereich aber mit dem Internationalen Strafgerichtshof ist einzufor-
sind die Beziehungen mit einer langen Tradition verse- dern. Serbien arbeitet wahrnehmbar an der historischen
hen. Beispielsweise haben im vergangenen Herbst in Aufarbeitung der Rolle, die das Land beim Auseinander-
Belgrad die Deutschen Tage stattgefunden. Im Rahmen fallen des jugoslawischen Staates gespielt hat. Präsident
der Deutschen Tage wurden rund 90 Veranstaltungen aus Boris Tadic hat Ende letzten Jahres nicht nur Zagreb be-
den Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft und Jugend an- sucht, sondern auch Vukovar, zusammen mit seinem
geboten. Im nächsten Monat, im März, ist Serbien sogar kroatischen Amtskollegen Ivo Josipovic. Das ist ein star-
Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse. Mehr und kes Signal der Versöhnung an dem Ort, der so sehr für
(B) mehr Literatur und Buchtitel werden aus dem Serbischen die Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländern (D)
übersetzt; das sorgt hierzulande für einen steigenden Be- steht. Auch in Srebrenica hat Tadic Verantwortung über-
kanntheitsgrad. Es tut sich also etwas. nommen. All das wird auch auf internationalem Parkett
sehr wohl registriert. Dennoch müssen wir auch mit
Meine Damen und Herren, es muss sich auch etwas Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof endlich
tun; denn die Situation in Serbien ist, wie Frau Kollegin konkrete Schritte einfordern, die sodann folgen müssen.
Zapf so treffend formuliert hat, „weiß Gott nicht goldig“.
Die Finanznot ist groß; die Regierung muss tagtäglich Zweitens. Ich nenne die Regelung der Beziehungen
einen Balanceakt am Rande eines Staatsbankrotts hinbe- zum Kosovo. Der ungelöste Konflikt ist auch für Serbien
kommen. Viele Menschen in Serbien leben an der eine Belastung. Schwierige bilaterale Fragen sind zu lö-
Grenze zum Existenzminimum. Circa 1 Million Men- sen: die Frage des Wirtschaftsverkehrs, aber auch die
schen hat keine Arbeit bzw. kann von der Arbeit, die sie Frage der Klöster. Diese Fragen, so schwierig sie auch
ausüben, nicht in Würde leben. immer sein mögen, müssen gelöst werden. Sie können
Es war mithin nur eine Frage der Zeit, bis auch der aber nur dann gelöst werden, wenn das gegenseitige Ver-
geduldige Bürger auf die Straße gegangen ist. So ge- trauen zwischen Serbien und Kosovo erheblich wächst.
schah es am vergangenen Samstag: Zehntausende De- Meines Wissens sind direkte Gespräche zwischen Bel-
monstranten sind durch Belgrads Innenstadt gezogen. Es grad und Pristina in der konkreten Planung. Jedenfalls
war die größte Oppositionskundgebung seit vielen Jah- hat die serbische Regierung mit Borislaw Stefanovic erst
ren, ein lautstarker Protest gegen Arbeitslosigkeit und kürzlich ihren Delegationsleiter benannt. All dies lässt
soziale Missstände im Lande. Die Demonstranten zogen hoffen. Aber auch Serbien muss wissen, dass es eine Lö-
sodann vor das Parlamentsgebäude, übten dort heftige
sung ohne Zugeständnisse, ja, auch ohne schmerzhafte
Kritik an der eigentlich proeuropäischen Regierung und
Zugeständnisse nicht geben kann. Serbien wartet auf
verlangten Neuwahlen.
eine konkrete zeitliche Perspektive für den EU-Beitritts-
Es ist bemerkenswert, dass bei alldem keine Kritik am prozess. Das ist legitim. So weit ist Serbien im Moment
Kurs der Annäherung Serbiens an die EU zu vernehmen aber noch nicht. Die skizzierten Probleme, die ich an-
war. Das belegen auch die Umfragen in Serbien: Über sprach, müssen vor einem Beitritt geklärt und gelöst
50 Prozent der Bevölkerung unterstützen den angepeil- werden. Das ist schon allein deshalb nötig, um die für
ten Beitrittsprozess. Dabei ist es insbesondere erfreulich, eine neuerliche EU-Erweiterung wichtige Akzeptanz der
dass gerade die junge Generation im Prozess der Annä- Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Euro-
herung an die EU eine Chance für die Zukunft sieht. päischen Union zu sichern.
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Peter Beyer
(A) Die Vorgeschichte und der Beitrittszeitpunkt Bulga- schaftlich aktiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor. (C)
riens und Rumäniens können bei all dem jedenfalls nicht So wurde zum Beispiel eine sogenannte gelbe Gewerk-
als Vorbild dienen. Am Ende des Tages gelten für Ser- schaft installiert, um den gewerkschaftlichen Kampf der
bien wie übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiran- Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen zu behin-
ten die gleichen Kriterien. Kein Beitrittsland darf zeit- dern. In einem Schreiben wandte sich der zweitgrößte
lich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei Gewerkschaftsdachverband Serbiens – SLOGA – an die
strikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien. deutschen Kollegen von IG Metall und BMW. Sie for-
Das ist Voraussetzung. Es muss das Motto gelten: Wer derten Solidarität gegen – ich zitiere – „Willkür, Über-
beitritt, muss beitragen. heblichkeit, Arroganz und Verstoß gegen Gesetze“ ein.
Ich frage mich: Warum unternimmt die Bundesregierung
Vielen Dank.
nichts dagegen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn deutsche
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der Unternehmen die Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Fraktion Die Linke. Arbeitnehmern und gewerkschaftliche Rechte mit Füßen
treten, auch nicht, wenn das in Serbien der Fall ist. Des-
(Beifall bei der LINKEN) halb steht die Linke auch an der Seite der Beschäftigten
in Serbien.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
(Beifall bei der LINKEN – Peter Beyer [CDU/
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten
CSU]: Zum Thema!)
Damen und Herren! In der ersten Beratung am
16. Dezember 2010 haben alle Fraktionen bis auf die Derzeit wird Druck von IWF, EU und Deutschland
Linke das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen gemacht für ein Gesetz zur Privatisierung kommunaler
mit Serbien als wichtigen Schritt und große Chance für Betriebe in Serbien. Dieser Druck soll jetzt noch weiter
Serbien bezeichnet. erhöht werden. Meine Damen und Herren, das ist eine
(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP] – falsche Politik.
Zuruf von der LINKEN, an den Abg. Bereits bis zum 31. März 2011 soll die serbische Tele-
Dr. Rainer Stinner [FDP] gewandt: Klatschen kom an einen ausländischen Investor verkauft werden.
Sie nicht zu früh!) Die Deutsche Telekom AG nimmt an diesem Privatisie-
rungsverfahren teil und wird als möglicher Käufer ge-
(B) Ein wichtiger Schritt wohin, Herr Stinner, und eine handelt. (D)
große Chance für wen?
Die Linke sagt Ihnen, was für ein Schritt das Stabili- (Peter Beyer [CDU/CSU]: Das ist eine gute
sierungs- und Assoziationsabkommen ist. Es bedeutet Sache! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU:
schlicht eine Unterstützung von Liberalisierung, Dere- Bravo!)
gulierung und auch Privatisierung. Das Abkommen ist – Sie sagen „bravo“. Das zeigt, was Sie für einen volks-
Ausdruck einer Politik, die die Europäische Union und wirtschaftlichen Sachverstand haben.
zahlreiche ihrer Mitgliedstaaten in eine schwere Krise
geführt hat. Die Lage für die serbische Bevölkerung ist (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
bereits jetzt desaströs. Infolge eines noch schärferen Li- ruf von der FDP: Fahren Sie mal hin!)
beralisierungskurses werden sich die Massenarmut und Die serbische Telekom ist das erfolgreichste Unter-
die Massenarbeitslosigkeit in Serbien aber noch weiter nehmen in Serbien und erwirtschaftet jedes Jahr Ge-
vergrößern. winne. 2009 waren es 197 Millionen Euro. Für wen ist
(Beifall bei der LINKEN) das also eine Chance? Das ist mit Sicherheit keine
Chance für diejenigen, die infolge dieser Privatisierun-
Die Linke fordert deshalb eine Abkehr von diesem gen ihren Job verlieren werden und schlechtere Arbeits-
Crashkurs. Was sich in der EU als falsch erwiesen hat, bedingungen hinnehmen sollen.
können wir nicht ernsthaft exportieren wollen.
Deshalb denken wir, dass das, was schon bisher ge-
(Beifall bei der LINKEN) schehen ist, eine falsche Politik ist. Dieses Abkommen,
Das Abkommen sei eine Chance für Serbien, heißt es das mehr Privatisierung, mehr Deregulierung und mehr
bei Ihnen. Eine Chance für wen? Die Arbeitnehmerinnen Liberalisierung beinhaltet, ist eine Fortsetzung dieser
und Arbeitnehmer in Serbien können damit jedenfalls falschen Politik. Deshalb fordern wir eine Umkehr.
nicht gemeint sein. Ihre Lage ist schon jetzt katastrophal. (Beifall bei der LINKEN)
Das gilt insbesondere für diejenigen, die in deutschen
Unternehmen beschäftigt sind, zum Beispiel für die Mit- In diesem Zusammenhang ist es völlig inakzeptabel,
arbeiter des deutschen Unternehmens Dräxlmaier in der dass Druck auf Serbien hinsichtlich der Statusfrage des
Vojvodina. Sie beklagen in dem Betrieb, der Kabel unter Kosovo ausgeübt werden soll. Das zeigt, wes Geistes
anderem für Audi, Mercedes-Benz, BMW und VW her- Kind die Bundesregierung ist. Sie hat sich zum Führer
stellt, schlimmste Arbeitsbedingungen. Die Unterneh- der sogenannten Kosovo-Regierung, Hashim Thaci, bis-
mensleitung geht mit üblen Methoden gegen die gewerk- her nicht klar geäußert. Thaci wird in einem Bericht des
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Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Europarats schwerster Kriegsverbrechen und krimineller (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
Machenschaften beschuldigt. Warum ignoriert die Bun- bei der CDU/CSU und der FDP – Sevim
desregierung diesen Bericht, der von einem Schweizer Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind an der Seite
Liberalen, von Dick Marty, stammt, der auch schon den von Kriegsverbrechern! Was sagen Sie zu
Bericht zu den CIA-Folterflügen angefertigt hat? Wir Herrn Thaci?)
können den Grund nur vermuten.
Wir Grünen unterstützen die Ratifizierung des Stabili-
(Peter Beyer [CDU/CSU]: Sitzt in Ihrer Rede sierungs- und Assoziationsabkommens für Serbien.
nur Deutschland auf der Anklagebank?)
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Nichts!
Man steht in Nibelungentreue zu diesem Mann, der ei- Schweigen im Walde!)
nem auch während des NATO-Angriffskrieges gegen
Jugoslawien gute Dienste geleistet hat. Allerdings sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass
Serbien in der Tat noch einen sehr langen Weg vor sich
Frau Beck, auch von Ihnen höre ich nichts. In Ihrer hat und sich zudem in einer sehr schwierigen innenpoli-
Haltung zu Thaci zeigt sich, dass sowohl die schwarz- tischen Lage befindet.
gelbe Koalition als auch Rot-Grün weiter nicht bereit
sind, über die Leichen im Keller der deutschen Außen- Die serbische Regierung tut sehr viel zu Respektie-
politik zu sprechen. rendes. Sie bekennt sich zur EU-Perspektive. Sie be-
(Beifall bei der LINKEN) kennt sich zu einer konstruktiven Rolle in der Region.
Da ich sowohl 2005 als auch 2010, als Präsident Tadic in
Die Linke ist der Meinung, dass das inakzeptabel ist. Potocari an der Gedenkstätte am 11. Juli aufgetreten ist,
Es ist Zeit für eine demokratische, friedliche und auch dabei war, kann ich sagen, dass das ein sehr bewegender
soziale Außenpolitik. Das ist möglich, meine Damen Moment war und dass das für die Menschen und die Op-
und Herren, auch wenn es der Umkehr sowohl der Bun- fer von Srebrenica überaus wichtig war.
desregierung als auch der SPD und insbesondere der
Grünen bedarf. Es gibt aber eine Spaltung in der serbischen Gesell-
schaft. Insofern ist Präsident Tadic immer auch geneigt,
Konzessionen zu machen, die hochproblematisch sind.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dazu gehört die schwer nachvollziehbare Entscheidung,
Kommen Sie bitte zum Schluss. mit Präsident Dodik gemeinsam Wahlkampf zu machen
und sich gemeinsam mit Biljana Plavsic abbilden zu las-
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): sen, die die rechte Hand von Radovan Karadzic gewesen
(B) Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich ab- ist. (D)
schließend meine Freude über die Meldung ausdrücken,
Auch in der Kosovo-Frage ist die serbische Politik
dass der Rücktritt von Mubarak heute anstehen wird. Ich
nicht eindeutig. Offensichtlich ist der Amputations-
hoffe, das wird so geschehen. Meine Damen und Herren,
schmerz immer noch sehr groß. Viele serbische Men-
Mubarak ist ein Mann, den Sie jahrzehntelang unter-
schen sagen, dass es immer noch um die Auseinander-
stützt haben. Ich denke, eine andere Außenpolitik ist
setzung mit der eigenen Geschichte geht und um das
mehr als nötig.
Verständnis, dass nicht Serbien das Kosovo verspielt hat,
(Beifall bei der LINKEN) sondern dass es Milosevic war, der aggressiv gegen den
kosovo-albanischen Teil der Bevölkerung aufgetreten ist
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und ihnen die Autonomie genommen hat. Dramatische
Menschenrechtsverletzungen und eine Apartheidspoli-
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von tik – all das hat dazu geführt, dass sich das Kosovo letzt-
Bündnis 90/Die Grünen. lich nicht mehr unter das Dach eines gemeinsamen Staa-
tes drängen lassen wollte.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
möchte für die Bürgerinnen und Bürger in Serbien kurz ten der FDP)
festhalten: Die Linke ist der Meinung, dass sie es besser Die ökonomische Situation in Serbien ist unter ande-
weiß als weite Teile der serbischen Bevölkerung; die ser- rem deswegen so schwer, weil das Milosevic-Erbe auch
bische Bevölkerung sei im Irrtum, wenn sie in die Euro- in ökonomischer Hinsicht noch nicht überwunden ist. Es
päische Union möchte. gibt nach wie vor seine Tycoons, die in der serbischen
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das haben Wirtschaft deutlich mitmischen. Sie sind es übrigens, die
wir nicht gesagt, Frau Beck! Wir arbeiten nur die Wettbewerber aus dem Ausland abwehren, verehrte
nicht wie Sie mit Kriegsverbrechern zusam- Frau Kollegin. Diese Tycoons spielen nach wie vor eine
men!) zu große Rolle.
Sie sorgen dafür, dass sie draußen bleiben. Dass Sie sich (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie
damit immer an der Seite von nationalistischen Kräften lieber einmal etwas zu Herrn Thaci! Da
befinden, ist allerdings ein Problem Ihrer Politik. schweigen Sie!)
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Marieluise Beck (Bremen)
(A) Dass die Korruption in Serbien – wie in vielen anderen wohnt. Ich denke, das zeigt, mit welch hohem Interesse (C)
Ländern des Balkans leider auch – geradezu endemisch die Republik Serbien die heutige Debatte bei uns im
ist, hat Präsident Tadic vor kurzem im Europarat selber Bundestag verfolgt.
sehr deutlich betont. Dass der Populist Nikolic das nun
für sich zu nutzen weiß, muss uns sehr sorgenvoll ma- (Beifall im ganzen Hause)
chen. Denn er ist, auch wenn er das jetzt behauptet, nicht Zweitens möchte ich auf den jugoslawischen Litera-
proeuropäisch. Dass er so deutlich sagt, die Telekom turnobelpreisträger Ivo Andric verweisen. Er hat vor
dürfe nicht verkauft werden, weil dann die Österreicher über 50 Jahren geschrieben:
kommen würden, legt den antieuropäischen Geist offen.
Er ist und bleibt ein Nationalist. Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt
es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Weil er gegen
Privatisierungen ist? Gegen Ihre Neoliberali- Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess ist
sierung?) eine solche Brücke. Nach dem, was vor 20 Jahren auf
dem Balkan passiert ist, reichen wir damit der Republik
Wie gesagt, er findet sich logischerweise auf der Seite Serbien die Hand. Das ist ein wunderbares Zeichen der
Ihrer Argumentation wieder. beginnenden Aussöhnung.
Noch ein Punkt, was die Frage der Konditionierung Wir helfen, diese Brücke zu bauen, aber wir sagen:
der Beitrittsperspektive anlangt. Wir sollten nicht darauf Wer beitritt, muss auch beitragen. Wir fordern deshalb
hoffen, dass es eine biologische Lösung für General die Erfüllung aller Beitrittskriterien: Rechtsstaatlichkeit,
Mladic und für Hadzic gibt. Kriminalitätsbekämpfung, funktionierendes Justizwe-
(Beifall der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ sen und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen
DIE GRÜNEN]) Strafgerichtshof. Aufgrund der Erfahrungen früherer
Beitrittsverhandlungen sagen wir, dass das vor dem Bei-
Wir haben sehr deutlich gesagt, dass Serbien hier eine tritt geschehen muss. Wir machen das vor Ort deutlich.
Bringschuld hat. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass Erst vor kurzem war eine Delegation der Arbeitsgruppe
diese beiden Verbrecher in diesem vergleichsweise klei- Europa dort; Michael Stübgen hat das angesprochen.
nen Land angeblich nicht zu finden sind. Dass wir im-
mer wieder Angst vor unseren eigenen Konditionen Heute entscheiden wir darüber, ob Deutschland dieser
bekommen und, wenn es ernst wird, unter ihnen wegtau- vertraglichen Bindung zwischen Serbien und der EU
chen, halte ich für heikel. zustimmt. Ganz nebenbei: In unserem Land leben
700 000 Menschen aus Serbien; über die Hälfte davon
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie hat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft.
(B) (D)
doch einmal etwas zu Herrn Kriegsverbrecher
Thaci!) Die Umfragen, die der Kollege Beyer vorhin ange-
sprochen hat, beinhalten einen weiteren Aspekt: Über
Darüber müssen wir wirklich noch einmal sprechen. Es 70 Prozent der jungen Generation in Serbien wünschen
geht auch um einen aufrechten Gang für unsere Werte. den EU-Beitritt. Ich glaube, auch das ist ein wichtiges
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Aufrecht mit Zeichen. Lassen Sie uns doch die Demonstrationen, die
Kriegsverbrechern!) letzte Woche Samstag in Belgrad stattfanden, auch als
Zeichen des Reformwillens und der erstarkenden Demo-
Entweder man setzt Konditionen oder keine; aber dieses kratiebewegung sehen. Es sind notwendige Reformen.
verschwiemelte Wegtauchen ist kein guter Ausweis für Ich glaube, seit der Debatte am 8. Oktober letzten Jahres
unsere EU-Politik. haben auch wir etliche Fortschritte zu verzeichnen. Ich
Schönen Dank. möchte einige nennen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erstens gibt es den Aktionsplan, mit dessen Umset-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der zung die Republik Serbien im Dezember letzten Jahres
SPD und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE begonnen hat.
LINKE]: Warum sagen Sie nichts zu Herrn
Zweitens liegt der Bericht der staatlichen Antikorrup-
Thaci?)
tionsbehörde vom letzten Monat vor. Diese Behörde, die
unabhängig ist, prangert systematische Korruption in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Serbien an. Die Regierung hat zum Beispiel die Gehälter
Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tages- der Richter erhöht, damit sie unabhängig werden, und
ordnungspunkt der Kollege Roderich Kiesewetter von festgestellt, dass Bildung, Gesundheitswesen, Polizei
der CDU/CSU-Fraktion. und auch das Gerichtswesen intensiver Arbeit und Nach-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sorge bedürfen; das hat auch Präsident Tadic erkannt. Es
ist gut, dass das offen angesprochen werden kann.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Ein dritter Punkt ist – auch als Folge der Stellung-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nahme von Herrn Brammertz –, dass Präsident Tadic im
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte Januar dieses Jahres vor dem Europarat noch einmal die
ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass der Bot- Zusage gegeben hat, mit dem Internationalen Strafge-
schafter der Republik Serbien heute der Debatte bei- richtshof intensiver zusammenzuarbeiten. Ich glaube,
10164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Roderich Kiesewetter
(A) das ist das klare politische Signal, das der UN-Chef- Wir kommen zur (C)
ankläger gefordert hat.
zweiten Beratung
Noch ein weiterer Punkt lässt hoffen: Die Republik und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
Serbien hat der Europäischen Kommission innerhalb rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Stabilisie-
kürzester Zeit, nämlich von November letzten Jahres bis rungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008
Ende Januar dieses Jahres, 2 480 Fragen beantwortet. zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren
Die ersten Signale aus Brüssel sind erfreulich. Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien ande-
rerseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner
Ich möchte auf zwei weitere Aspekte eingehen, die in
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4500, den Ge-
dieser Debatte bisher nicht erwähnt worden sind. Die setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3963
Mittel, die die Republik Serbien als Instrument für die anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
Heranführungshilfe von der EU erhält, umfassen etwa wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstim-
200 Millionen Euro. Von 2007 bis zum Jahr 2012 sind men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Ge-
das rund 1,2 Milliarden Euro, mit denen die EU diesen genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
Prozess unterstützt. In diesem Jahr sind es 190 Millionen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Euro.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
Als potenzieller Kandidat, also jetzt, kann Serbien
diese Mittel nur für den Aufbau der Verwaltung und für a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
die grenzüberschreitende Zusammenarbeit einsetzen; Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Petra Crone, weite-
dass sie wichtig ist, wurde bereits vorhin eindrucksvoll rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
dargelegt. Aber entscheidend ist: Wenn Serbien einen der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck
Kandidatenstatus hat, dann sind die Mittel umfassender (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
einsetzbar. Es gibt zwar nicht mehr Mittel, aber sie kön- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nen wesentlich flexibler eingesetzt werden: für regionale Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, son-
Entwicklung, für Umweltschutz und, wie auch die De- dern fördern – Bestätigungserklärung im Bun-
monstrationen gezeigt haben, für sozialen Zusammen- desprogramm „TOLERANZ FÖRDERN –
halt. Dann können die Gelder auch gezielt in Gesell- KOMPETENZ STÄRKEN“ streichen
schaft und Wirtschaft eingesetzt werden.
– Drucksache 17/4551 –
Natürlich brauchen wir eine konstruktive Nachbar- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
schaftspolitik; Staatsminister Hoyer hat es angespro- Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abge- (D)
(B)
chen. Ich finde es schade, Frau Dağdelen, dass Sie sich ordneter und der Fraktion DIE LINKE
die Erklärung des Staatsministers nicht angehört haben,
sondern erst zu Ihrer Rede gekommen sind. Arbeit für Demokratie und Menschenrechte
braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen
Für uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat – Drucksache 17/4664 –
Sorgfalt bei der Umsetzung der Reformen und bei der Überweisungsvorschlag:
Erfüllung der EU-Kriterien oberste Priorität. Unsere Ab- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
sicht ist, dass wir weiter auf die Umsetzung der Refor- Innenausschuss
men drängen, insbesondere bei Rechtsstaatlichkeit, Kor- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ruptionsbekämpfung und Investitionssicherheit. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall.
Ich möchte an dieser Stelle auch einen Appell an die
EU-Staaten, die das Abkommen noch nicht ratifiziert ha- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ben, richten – es gibt noch 15 Länder, die es nicht ratifi- ner dem Kollegen Dr. Wolfgang Thierse von der SPD-
ziert haben, wenn wir heute zustimmen –: Stimmen Sie Fraktion das Wort.
zu! Erleichtern Sie Serbien den Weg in die Europäische
(Beifall bei der SPD)
Union! Wir in Deutschland jedenfalls werden den Pro-
zess mit Augenmerk und Aufmerksamkeit begleiten und
für die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziie- Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
rungsabkommen stimmen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2002
fördert die Bundesregierung eine mittlerweile vielfältige,
Herzlichen Dank. bunte und lebendige Landschaft zivilgesellschaftlicher
Initiativen und Projektträger, die sich in ihren Städten und
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Gemeinden für eine Stärkung der demokratischen Kultur
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- einsetzen.
SES 90/DIE GRÜNEN)
Diese Bundesförderung war von Anfang an vor allem
von einem Grundgedanken getragen: dem Gedanken des
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vertrauens. Der Bund stellte Fördermittel für zivilgesell-
Ich schließe die Aussprache. schaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10165
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) sie selbst am besten wissen, welche lokalen Handlungs- Zweitens. Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zur (C)
strategien den demokratischen Gemeinsinn am ehesten Gesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu ver-
aktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebieten pflichten.
können.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Unsere Demokratie bedarf gerade in der Auseinan- GRÜNEN]: Hört! Hört!)
dersetzung mit dem Extremismus des alltäglichen Enga-
Auch im Zuwendungsrecht sei der Staat an die objektive
gements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es gera-
Werteordnung des Grundgesetzes gebunden.
dezu absurd, dass das Bundesfamilienministerium den
Leitgedanken der bisherigen Programme – ich wieder- (Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!)
hole: Vertrauen in das demokratische Engagement der
Bürger – nun ins Gegenteil verkehrt. So der Befund.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Familienministerium verlangt von den Antrag- Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht
stellern, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen darum, über die Gefahren des Linksextremismus naiv
Grundordnung bekennen und blauäugig hinwegzusehen. Die Kritik richtet sich
auch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstüt-
(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das ist zung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das ist
doch selbstverständlich! Das ist doch wohl legitim und geboten. Doch ein so deutliches und prinzi-
klar!) pielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriums
gegenüber potenziell allen Bürgern können und wollen
und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auch sich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen.
für eventuelle Kooperationspartner gilt. Sie sollen also
für die Gesinnung Dritter haften. Wer die entsprechende (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Erklärung nicht unterschreibe, erhalte keine Förderung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des
Dieses Vorgehen ist, so finde ich, demokratiepolitisch Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])
fatal. Es ist kontraproduktiv.
Welche bizarren Blüten, Kollege Geis, das Vorgehen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem des Ministeriums treibt, zeigt ein Fall aus Sachsen. Hier
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurde selbst der Stadt Riesa im Gegenzug für Förder-
mittel ein Demokratiebekenntnis abverlangt.
Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung.
(B) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D)
Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht DIE GRÜNEN)
hier nicht um das routinierte, gewissermaßen banale Ver-
waltungshandeln einer Behörde, um das Kleingedruckte Der Bürgermeister der Stadt unterschrieb mit großen
in Bescheiden, um Detailbestimmungen in Auflagen. Bauchschmerzen, erklärte aber zugleich, er könne und
Diese Extremismusklausel berührt elementare Fragen wolle mit seiner Unterschrift keinesfalls für die beiden
der Demokratie. NPD-Abgeordneten in seinem Stadtrat bürgen.
(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das ist das (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bekenntnis zum Grundgesetz! Nichts ande- NEN]: Das ist doch absurd!)
res!) So können Sie es in der Sächsischen Zeitung vom
Was darf der Staat von seinen Bürgern eigentlich verlan- 12. Januar dieses Jahres nachlesen. Man fragt sich bei
gen? Darf er ihnen ein Bekenntnis – und sei es ein Be- dieser Sachlage, warum die liberale Justizministerin und
kenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung – ihr Staatssekretär, warum Bürgerrechtsliberale, wenn es
abringen? Oder muss er dies nicht vielmehr aus Respekt sie denn noch gibt, dies alles stillschweigend ertragen,
vor dem Bürger voraussetzen? ja, mittragen.

(Sönke Rix [SPD]: Genau!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfung
unterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ih- Die Reaktionen sind – nicht nur bei den Betroffenen –
rer Mitbürger zu überprüfen? sehr eindeutig. Die Kritik kommt von allen Seiten. Nur
ein Beispiel: Der Generalsekretär des Zentralrats der Ju-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den, Stephan Kramer, erklärte gestern in der Bundes-
NEN]: Nein!) pressekonferenz – ich zitiere –:
Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes Die Extremismusklausel der Bundesregierung ist
des Deutschen Bundestages findet auf diese Fragen fol- ein Symbol für den Überprüfungswahn, die Büro-
gende Antworten – ich referiere den Befund –: kratisierung und schließlich das Misstrauen dieser
Regierung und damit von Teilen der konservativ-
Erstens. Der Staat missachte die verfassungsrechtlich liberalen Politik in die eigenen Bürger.
garantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits bei
der bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Be- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
kenntnis zwinge. GRÜNEN]: Kramer hat recht!)
10166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Frau Schröder verlangt ein Bekenntnis zum Grund- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
gesetz und verliert dabei das Wesentliche aus dem Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Blick. Dr. Hermann Kues.
(Florian Bernschneider [FDP]: So ein
Quatsch!) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
Die Tatsache, dass so viele Menschen in unserem gend:
Lande aufstehen und sich gegen Nazis und Rechts- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
extremisten engagieren, ist das deutlichste und Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die aktu-
emotionalste Bekenntnis zum Grundgesetz und zur elle Diskussion, weil dadurch Gelegenheit gegeben wird,
freiheitlich-demokratischen Grundordnung, was es einiges klarzustellen. Ich will ausdrücklich sagen: Es
überhaupt nur geben kann. geht nicht um Ächtung, es geht um Förderung. Diejeni-
gen, die sich teilweise seit Jahren in Beratungsnetzwer-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
ken gegen Extremismus jeglicher Art, von rechts, aber
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
auch von links, engagieren und die da, wo es nicht er-
Kramer sagte weiter: wartet wird, Zivilcourage zeigen, haben – auch das sage
ich ausdrücklich – Dank und Anerkennung verdient. Das
Wer das nicht sieht, wem das nicht Bekenntnis ge- ist auch die Meinung des Ministeriums.
nug ist, der hat wirklich nicht verstanden, was Bür-
gergesellschaft und Demokratie ausmacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein toller Satz! – Steffen Bockhahn [DIE
DIE GRÜNEN) LINKE]: Warum merkt man nichts davon?
Herr Kramer hat vollständig recht. Misstrauen ist kein Dank! – Sven-Christian
Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was
Das ist nur ein Beispiel von vielen für die Kritik an denken Sie eigentlich von Schwarz-Gelb?)
dem, was Sie hier vorhaben. Ich sage das im Hinblick
– Warten Sie einmal ab.
auf viele, die sich mit ihrem oft ehrenamtlichen Engage-
ment für die Demokratie als mögliche Verfassungsfeinde Es ist auch völlig klar, dass der Staat, wenn er Pro-
verdächtigt sehen. gramme gegen Extremismus auflegt, darauf achtet, dass
nicht gerade diejenigen gefördert werden, die selbst in
Demokratie muss sich verteidigen. Wer würde diese extremistischen Kategorien denken und danach handeln.
(B) Lehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen? (D)
(Sönke Rix [SPD]: Was hat Frau von der
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Richtig!) Leyen eigentlich falsch gemacht? – Steffen
Zunächst einmal beruht Demokratie aber auf Vertrauen. Bockhahn [DIE LINKE]: Das haben Sie bisher
Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokrati- doch auch gemacht!)
sche Kultur, also für die Grundlagen des demokratischen Das ist der entscheidende Punkt.
Staates, eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgern
nicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Wer den Ini- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
tiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für die Deswegen ist das auch kein ungewöhnliches und unseriö-
demokratische Gesinnung ihrer Mitglieder übertragen ses Anliegen.
will, der sät eine Kultur des Misstrauens und der erzeugt
ein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nicht (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wo sind
gestärkt, sondern gebremst werden. denn die Beispiele?)

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das steht aber Ich meine: Wenn der demokratische Staat so etwas
nicht in diesem Programm!) macht, dann ist das eine Selbstverständlichkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wer Demokratie stärken will, der sollte gerade junge
Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist ab-
Menschen einladen, sich in ihr und für sie zu engagieren,
surd, was Sie da erzählen!)
und sie nicht unter den Generalverdacht der Verfas-
sungsfeindlichkeit stellen. Wir sorgen dafür, dass jemand aktiv bestätigen muss,
dass er und seine Projektpartner auf dem Boden des
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Grundgesetzes stehen, und zwar nicht nur bei Projekten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis gegen Rechtsextremismus, sondern auch bei Projekten
[CDU/CSU]: Das tut doch keiner!) gegen Linksextremismus.
Es geht um eine Kultur der Anerkennung von Enga- Jetzt sage ich etwas zur Entstehungsgeschichte der
gement, um Vertrauen statt Misstrauen und um Ermunte- Demokratieerklärung.
rung statt Kontrolle. Verzichten Sie auf diese Erklärung,
bevor das Verfassungsgericht Sie dazu zwingen muss.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des Kollegen Bockhahn?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10167

(A) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der rem festgestellt, wann die Betriebserlaubnis zu versagen (C)
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- ist.
gend:
Im Moment nicht. Er kann sie gleich oder später stel- Das hatte in Mecklenburg-Vorpommern den Hinter-
len. – Im Jahr 2004 ist vom damals sozialdemokratisch grund – darauf will ich ausdrücklich hinweisen, Herr
geführten Bundesinnenministerium – der Minister hieß Thierse –, dass dort NPD-Kreise versucht haben, sich
Otto Schily – diese Initiative ausgegangen. Es wurde ge- unter interessanten Namen in die Trägerschaft von Kin-
sagt, dass niemand materielle oder immaterielle Leistun- dertageseinrichtungen einzuschleichen. Genau das wol-
gen erhalten könne, der sich nicht zur freiheitlich-demo- len wir mit unserem Programm gegen Extremismus ver-
kratischen Grundordnung bekenne, und dass jeder hindern.
Anschein einer Tolerierung extremistischer Auffassun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gen, zum Beispiel durch offizielle Einbindung extremis- Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist ein
tischer Positionen oder Institutionen in Veranstaltungen, ganz anderer Zusammenhang! Machen Sie sich
vermieden werden müsse. So weit das von Otto Schily erst kundig, bevor Sie so etwas erzählen! –
geführte Ministerium. Sönke Rix [SPD]: Das ist ein anderer Zusam-
(Sönke Rix [SPD]: Und was hat er gemacht?) menhang!)

Seit 2005 ist das in den Bescheiden enthalten. Daran – Sie kennen den Zusammenhang genau.
knüpft die Demokratieerklärung an. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Genau!
Es gibt einen einzigen Unterschied, nämlich dass die Deswegen!)
Erklärung jetzt ausdrücklich unterzeichnet werden muss, Sie wissen, dass es in den vergangenen Jahren – ich weiß
statt sie nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn man den Zu- nicht, wie lange Sie schon dabei sind – mehrfach Anfra-
wendungsbescheid empfängt. Ich wiederhole: Man muss gen auch aus dem parlamentarischen Raum gegeben hat
sie ausdrücklich unterzeichnen. und dass viele Träger geklagt haben, dass extremistische
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gruppen versuchen, ihre Organisation zu unterwandern.
NEN]: Es ging doch vorher auch ohne! Welche
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Extremistengruppen sind bisher gefördert wor-
Dann nennen Sie uns die mal, bitte! – Sven-
den, dass das sinnvoll sein soll? – Steffen
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bockhahn [DIE LINKE]: Aber warum denn?)
NEN]: Wer sind die, bitte? Nennen Sie Bei-
Es gibt verschiedene Untersuchungen. Herr Thierse spiele!)
(B) hat eben eine Expertise erläutert. Sie wissen, wer sie er- (D)
Der Innenminister von Sachsen-Anhalt hat gestern in
stellt hat. Wenn Sie sie genau lesen, dann wird deutlich,
einer Pressekonferenz zugegeben – das haben Sie nicht
dass eine Demokratieerklärung eine Möglichkeit neben
berichtet –, dass etwa die NPD immer wieder versucht,
anderen ist. Sie ist nicht zwingend vorgeschrieben. Mei-
Vereine zu unterwandern. So viel zur Bekämpfung des
netwegen kann man darüber streiten.
Extremismus. Was Extremismus betrifft, geht es um den
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Dann machen Kampf gegen rechts, aber auch gegen links. Links ist
Sie doch was anderes, was Vernünftiges!) ebenso wie rechts eine legitime Kategorie. Problema-
tisch wird es dann, wenn es extrem wird.
Ich will Ihnen etwas berichten, damit Sie ein Gefühl
für das Maß bekommen. In Mecklenburg-Vorpommern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gibt es seit dem 20. Juli 2010, also seit gut einem halben
Jahr, im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kinderta- Vizepräsidentin Petra Pau:
geseinrichtungen einen Erlass des Ministeriums für So-
ziales und Gesundheit – die Ministerin ist uns allen be- Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Wortmeldung
kannt –, nach dem nur diejenigen eine Betriebserlaubnis zu einer Zwischenfrage, und zwar von dem Kollegen
erhalten, die eine gesonderte Selbsterklärung unter- Rix.
schreiben.
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
(Florian Bernschneider [FDP]: Hört! Hört!) desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Jeder Träger muss dort ausdrücklich versichern, dass er in Bitte sehr.
keiner Weise Bestrebungen unterstützt, deren Ziele gegen
die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder gegen Sönke Rix (SPD):
eines ihrer grundlegenden Prinzipien gerichtet sind.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Bei der „Extre-
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das ist etwas an- mismusklausel“, wenn Sie es so nennen wollen, in
deres! – Lachen bei der CDU/CSU) Mecklenburg-Vorpommern geht es um Kindergärten.
Hier geht es um die Förderung von Demokratie und To-
Wenn ein Träger diese Unterschrift verweigert, dann leranz.
besteht laut Erlass „begründet Zweifel, ob der Träger die
Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderli- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist der Un-
che Arbeit bietet“, wie es in dem Erlass weiter heißt. terschied? – Weiterer Zuruf von der CDU/
Deutlicher geht es nicht. In dem Erlass wird unter ande- CSU: Extremismus ist Extremismus!)
10168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Sönke Rix
(A) Das ist ein grundlegender Unterschied. Sind Sie bereit, Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
das anzuerkennen? Herr Staatssekretär, ich habe weitere zwei Meldungen
zu Zwischenfragen. Ich frage, ob Sie der Kollegin Wolff
Ein weiterer Unterschied zu Mecklenburg-Vorpom- und dem Kollegen Bockhahn noch die Gelegenheit ge-
mern ist, dass in dieser Extremismuserklärung mit unter- ben wollen oder nicht.
schrieben werden soll, dass alle weiteren Partner der
Projekte ebenfalls auf dem Boden des Grundgesetzes
stehen. Das wird von den Trägern in erster Linie kriti- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
siert, weil Sie damit einen Keil in die Zivilgesellschaft desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
treiben. Von mir aus sollen sie gerne fragen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem


Vizepräsidentin Petra Pau:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Kollegin Wolff ist zunächst an der Reihe.

Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der


Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend: Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, anzuerkennen,
dass es in Sachsen-Anhalt – das ist mein Bundesland –,
Der Erlass in Mecklenburg-Vorpommern ist sehr de- dessen Innenminister Sie eben angesprochen haben, eine
tailliert formuliert. Man wundert sich vielleicht sogar große zivilgesellschaftliche Gruppierung gibt, die sich
manchmal darüber. Es muss ausdrücklich auch darauf gegen Rechtsextremismus wendet? Sind Sie auch bereit,
hingewiesen werden, dass man bei seinen Partnern da- hier Ihre Aussage gegenüber Herrn Hövelmann zurück-
rauf hinwirkt, dass sie sich an demokratische Prinzipien zunehmen? In Bezug auf diese Extremismusklausel hat
zu halten haben. sich dieser Innenminister nämlich sehr kritisch geäußert.
(Sönke Rix [SPD]: Man soll nicht dafür einste- (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das
hen! Das ist etwas anderes!) ist ja gar nicht angesprochen worden!)
Sie müssen insofern auch dafür einstehen, als man davon
die Förderung abhängig machen kann. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
(Sönke Rix [SPD]: Es ist nicht dafür einzuste- gend:
hen!) Ihr Innenminister hat sich zur Extremismusklausel
(B) Aber ein Partner, der das nicht ausdrücklich tut – so geäußert. Dazu hat sich manch einer in den letzten Tagen (D)
heißt es in Mecklenburg-Vorpommern –, der kann keine geäußert.
Betriebserlaubnis bekommen, weil dann Zweifel daran (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
begründet sind, dass er die Gewähr für eine den Zielen NEN]: Alle kritisch!)
des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet. Ich finde,
wir sollten uns abgewöhnen, auf einem Auge blind zu Ich glaube, dass er sich mit dem Sachverhalt aber nicht
sein. immer intensiv beschäftigt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD –
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann gucken Sie doch mal in die GRÜNEN]: Hat sich der Zentralrat der Juden
Mitte der Gesellschaft!) nicht richtig mit der Sache beschäftigt, oder
wie?)
Das gilt für das rechte Auge genauso wie für das linke
Auge. Es ist jedenfalls so, dass Herr Hövelmann in der Bundes-
pressekonferenz zugeben musste – das hatte er zuvor
Wir haben hier an einem der letzten Freitage eine sehr nämlich nicht erwähnt –, dass es darum ging, die NPD
heftige Debatte über die Aussagen von Frau Lötzsch zu verhindern. Das war der entscheidende Punkt. Darum
über den Kommunismus geführt. Da waren wir uns geht es hauptsächlich auch in Mecklenburg-Vorpom-
größtenteils einig. Wir haben gesagt: Diese Staatsform mern.
wollen wir unter gar keinen Umständen. Da ist sehr en-
gagiert diskutiert worden. Auf der ganz linken Seite war Man muss natürlich kritisch bleiben und sich gegen
da sehr viel Ruhe; da wurde keine Position bezogen. Rechtsextremismus engagieren.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Ich finde, wenn man sich für Demokratie einsetzt,
GRÜNEN]: Gehen Sie mal auf das Gutachten
dann muss man sich gegen Rechtsextreme genauso wie
des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundes-
gegen Linksextreme und gegen Islamisten wehren. Das
tages bezüglich der Klausel ein!)
ist einfach die Wahrheit.
Aber es kann nicht sein, dass Rechtsextreme Linksextre-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mismus bekämpfen und umgekehrt. Das ist das, was wir
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE ausdrücklich nicht wollen. Da sind wir uns völlig einig.
GRÜNEN]: Was ist mit dem Extremismus der
Mitte? Den gibt es auch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10169

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: kann meinetwegen rechtlich und politisch darüber strei- (C)
Können wir jetzt noch zur Frage des Kollegen ten, ob das notwendig ist. In dem Gutachten, das Herr
Bockhahn kommen? Thierse zitiert hat, wird sogar festgestellt, das könnte
durchaus ein Weg sein. Der Grundansatz ist der gleiche:
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Wir wollen verhindern, dass sich Extremisten einschlei-
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- chen. Das gilt für die Kindertagesbetreuung ebenso wie
gend: für die politische Bildungsarbeit.
Ja, okay. (Sönke Rix [SPD]: Und auch beim Bund der
Vertriebenen?)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das halte ich für richtig. Wir hatten dazu in den vergan-
Weitere Zwischenfragen zu diesem Beitrag lasse ich
genen Jahren – Sie wissen es doch ganz genau – immer
dann aber nicht zu.
wieder Anfragen aus dem parlamentarischen Raum.
Steffen Bockhahn (DIE LINKE): (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Herr Dr. Kues, bezugnehmend auf Mecklenburg-Vor- GRÜNEN]: Was haben Sie denn da geantwor-
pommern: Ich denke schon, dass es einen Unterschied tet?)
gibt zwischen der Aufforderung, seine Projektpartner auf Darin hieß es: Diese oder jene Initiative wird gefördert.
die Notwendigkeit der Verfassungstreue hinzuweisen, Wir erwarten die Mithilfe derjenigen, die gefördert wer-
und der jetzt durch Ihr Haus angeforderten Erklärung, den. Ihnen ist der Kinder- und Jugendplan gut bekannt.
verpflichtend zu garantieren, dass bei Partnern eine Ver- Wenn Sie in diesem Bereich einen Zuwendungsbescheid
fassungstreue besteht, soweit man selbst in der Lage ist, erhalten, müssen Sie unterschreiben, dass sich die Ver-
dies nachzuweisen. Das Problem sind natürlich die Aus- wendung der Zuwendung im Rahmen der freiheitlich-
führungsbestimmungen, die so schwammig sind, dass demokratischen Grundordnung bewegt. An dieser Stelle
kein Träger ernsthaft garantieren kann, ob er das ge- haben wir uns entschieden, ein kleines Informationsblatt
macht hat, was Ihnen recht ist oder auch nicht. Das ist zur Kenntnisnahme hinzuzufügen, sodass man nicht sa-
der eine Punkt. gen kann: Ich habe es übersehen.
Zweitens. Eingangs Ihrer Rede haben Sie darauf hin- Im Übrigen – das sei zur Beruhigung gesagt – haben
gewiesen, dass es schon seit Jahren den Hinweis an die wir jede Menge Verfügungen erlassen, darunter auch
Projektpartner gibt, dass sie ihre Verfassungstreue garan- viele Zuwendungsbescheide. In keinem Fall hat ein Trä-
tieren sollen. Aber bisher war es ein Hinweis. Das Ganze ger die Unterschrift verweigert.
wurde nicht zur Verpflichtung, zur Bedingung, zur unbe-
(B) dingten Notwendigkeit für den Erhalt einer Förderung (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
gemacht. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass es einen NEN]: Das ist Erpressung, was Sie machen! –
qualitativen Unterschied zwischen einem Hinweis, Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Weil er sonst kein
etwas zu tun, und dem Zwang gibt, etwas zu garantieren, Geld kriegt!)
wofür man im Zweifel nicht einstehen kann? Können Sie
sich vorstellen, dass es bei Projektträgern durchaus – Sie können sagen: Sonst bekommt man kein Geld. Ich
Misstrauen geben kann? sage Ihnen – das wurde auch von Herrn Thierse ange-
sprochen –: Das Anne-Frank-Zentrum in Berlin, die
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Jüdische Gemeinde, die Zentralwohlfahrtsstelle der Ju-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der den haben ebenfalls Zuwendungsbescheide bekommen
CDU/CSU: Das soll auch qualitativ unter- und haben die Zuwendungsvoraussetzungen wie selbst-
schiedlich sein! – Zuruf von der FDP: Er hat es verständlich unterschrieben.
erkannt! Genau deshalb machen wir das!)
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, sie würden sonst kein Geld bekom-
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
men!)
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend: Diese Einrichtungen haben damit keine Probleme. Pro-
Ich glaube nicht, dass in der Breite Misstrauen bleme bekommen sie nur dann, wenn sie falsch infor-
herrscht. Der infrage kommende Bereich ist relativ über- miert werden.
schaubar. Es ist auch gesagt worden, es gebe eine große
Kampagne. Wir haben 750 E-Mails bekommen. Wenn es Das Land Berlin beispielsweise hat gesagt, man habe
eine Massenbewegung über das Internet gibt, dann erhält dagegen geklagt.
man ganz schnell zehntausend E-Mails; das will ich aus- (Beifall bei der LINKEN)
drücklich sagen.
– Sie hören gleich auf, zu klatschen. – Länder und kom-
(Sönke Rix [SPD]: Wie viele Trägerorganisati- munale Körperschaften müssen diese Erklärung gar
onen sind das denn? – Weiterer Zuruf) nicht unterschreiben, weil wir davon ausgehen – das ist
– Lassen Sie es bitte sein. Die müssen wir dann alle be- auch meine Gedankenwelt –, dass sie selbstverständlich
arbeiten. Das muss nicht unbedingt sein. keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgen.
Im Kern ist es kein Unterschied. Ich gebe zu: Dieses (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
ausdrückliche Unterschreiben ist eine Präzisierung. Man GRÜNEN]: Aber die machen es teilweise!)
10170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues


(A) Das setzen wir auch für das Land Berlin voraus. und Verunsicherung sät und dass dadurch der Kampf ge- (C)
gen die Rechtsextremisten sabotiert wird. Man muss
(Sönke Rix [SPD]: Aber bei der Aktion Sühnezei- wirklich sagen: Die Einzigen, die sich zurzeit darüber
chen geht man nicht davon aus!) freuen, sind die Neonazis selbst.
Wir führen hier eine politische Debatte. Das ist legi-
(Beifall bei der LINKEN)
tim. Sie sollten aber nicht so tun, als gehe es hier um
komplizierte rechtliche Fragen und um den hohen mora- Ihnen, liebe Kollegen von der Union und der FDP,
lischen Anspruch, wie Sie ihn formuliert haben, Herr wird sicherlich nicht entgangen sein, dass auch der Zen-
Thierse. In der Demokratie geht es auch um Vertrauen. tralrat der Juden und der Zentralrat der Muslime die
Extremismusklausel ablehnen – wir haben es schon ge-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
hört –, weil dadurch couragierte und engagierte Men-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schen unter Generalverdacht gestellt werden. Ich möchte
In der Demokratie geht es darüber hinaus um Regeln, an in diesem Zusammenhang die 1 500 Persönlichkeiten
die sich alle zu halten haben. Wer diese Regeln bewusst und Organisationen erwähnen, die eine entsprechende
verletzt, indem er beispielsweise gewalttätige Auseinan- Protesterklärung unterzeichnet haben.
dersetzungen bei Veranstaltungen fördert, muss sich sa-
gen lassen, dass er nicht zugleich öffentliche Mittel für (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Bekämpfung des Extremismus in Anspruch nehmen NEN]: Von wegen „kleine Gruppe“!)
kann. Diese Klausel erhebt den Verfassungsschutz zur un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – fehlbaren Messlatte.
Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber wann (Zuruf von der FDP: Ich kann mir vorstellen,
hat es denn das gegeben? Beispiele! Nur eins!) dass Sie das stört!)
Ich nenne drei Beispiele für das Handeln des Verfas-
Vizepräsidentin Petra Pau:
sungsschutzes.
Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion
Die Linke. Erstes Beispiel. Erst letzte Woche hat das Verwal-
tungsgericht Köln bestätigt, dass der Rechtsanwalt und
(Beifall bei der LINKEN)
Menschenrechtler Rolf Gössner 40 Jahre zu Unrecht
vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder, Zweites Beispiel. Der bayerische Verfassungsschutz
(B) der in diesem Land gegen Neofaschismus, Rassismus hat die Antifaschistische Informations-, Dokumenta- (D)
und Antisemitismus kämpft, verdient unsere größte An- tions- und Archivstelle München, a.i.d.a., ebenfalls zu
erkennung. Das muss man zu der gesamten Debatte erst Unrecht als extremistisch diffamiert, wie ein Gericht
einmal sagen. klarstellte.
(Beifall bei der LINKEN) Drittes Beispiel. Ich will daran erinnern, dass der Ver-
fassungsschutz nicht gerade sehr hilfreich bei dem Ver-
Die Extremismusklausel, die den aktiven Projekten botsverfahren gegen die NPD war. Auch hier haben wir
gegen rechts nun abgepresst werden soll, droht jedoch gesehen, dass das Ganze überhaupt nichts gebracht hat.
kaputtzumachen, was in jahrelanger Arbeit aufgebaut
wurde. Mit der Extremismusklausel sollen missliebige linke
Organisationen an den Pranger gestellt werden, etwa die
Die Regierung will – so hat sie auf eine Anfrage der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die Rassis-
Linken geantwortet – die Projekte gegen rechts zu – Zi- mus und Demokratiefeindlichkeit auch in der Mitte die-
tat – „Verantwortung und Sensibilität“ gegen Extremis- ser Gesellschaft, in den etablierten Parteien und in den
mus erziehen. Wenn jemand sensibilisiert ist, dann sind Medien immer wieder kritisiert. Doch das passt nicht in
es diese Projekte gegen rechts, die seit Jahren durchge- das schlichte und falsche Extremismusbild der Union
führt werden und die garantiert keinen Nachhilfeunter- und der FDP. Deswegen wollen Sie aus den Projekten
richt von Ihnen brauchen. gegen rechts extreme Vorfeldorganisationen des Verfas-
(Beifall bei der LINKEN) sungsschutzes machen. Dabei werden sowohl die Orga-
nisationen als auch wir nicht mitmachen.
Die Bundesregierung tut so, als seien diese Projekte
gegen Rechtsextremismus scharf darauf, mit ausge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
machten Verfassungsfeinden zu kungeln. Die Regierung neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verlangt den Trägern ab, Berichte des Verfassungsschut- Ich möchte Sie zum Schluss auffordern: Ziehen Sie
zes aus Bund und Ländern zu lesen, dazu Referenzen diese schädliche Extremismusklausel zurück. Sie dient
über mögliche Bündnispartner einzuholen sowie Medi- nicht der Demokratie, und sie dient vor allen Dingen
enberichte und Literatur zu diesem Bereich zu studieren. nicht dem Vertrauen.
Den Projekten wird ein Wust von Schnüffeldiensten ab-
verlangt. Wir sind froh, dass es Landesregierungen wie (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt gibt, die ganz Sönke Rix [SPD] und Sven-Christian Kindler
klar kritisieren, dass diese Vorgehensweise Misstrauen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10171
Ulla Jelpke
(A) Ich möchte Sie alle auffordern, am übernächsten Sams- grammen durch Organisationen mit rechts-, links- und (C)
tag in Dresden zur Demonstration zu kommen und zu ausländerextremistischem einschließlich islamistischem
verhindern, dass Nazis wieder durch Dresden marschie- Hintergrund auf jeden Fall zu verhindern sei. Mich über-
ren. Blockieren Sie zusammen mit uns und den vielen rascht schon der breite Ansatz im Kampf gegen den Ex-
Tausend antifaschistischen Organisationen und Men- tremismus, den es heute leider nicht mehr in der SPD
schen. Da können Sie wirklich etwas Sinnvolles tun. gibt. Herr Diwell bietet sogar an, dass bei der Überprüfung
der Maßnahmen gerne das Bundesamt für Verfassungs-
Danke. schutz tätig wird. So viel zum Thema Schnüffelstaat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Daraufhin prüfte das Familienministerium, wie man
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit dem Diwell-Erlass umgehen sollte. Es schrieb – zur
rot-grünen Regierungszeit – an alle Träger von Maßnah-
Vizepräsidentin Petra Pau: men gegen Extremismus Folgendes:
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort. Für die Bundesregierung ist klar: Personen oder Or-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ganisationen, die nicht die Gewähr für eine den Zie-
der CDU/CSU) len des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten,
dürfen weder direkt noch indirekt durch Bundesbe-
hörden gefördert werden.
Florian Bernschneider (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei FDP und CDU/CSU – Zuruf von
Herren! Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer von der FDP: Hört! Hört!)
der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen und der an-
Am Ende dieses Briefes hieß es:
dere von der Linken. Lassen Sie mich kurz einen Satz
zum Antrag der Linksfraktion sagen. Wer die sogenannte Der Träger der geförderten Maßnahme hat im Rah-
Extremismusklausel mit dem Radikalenerlass der men seiner Möglichkeiten (Literatur, Kontakte zu
1970er-Jahre vergleicht, hat meiner Meinung nach in anderen Trägern …) die Unbedenklichkeit der als
dieser Debatte jedweden Anspruch verloren, ernst ge- Partner ausgewählten Organisationen, Referenten
nommen zu werden. etc. … zu prüfen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dieser Satz kommt Ihnen bekannt vor, weil es genau
der CDU/CSU) der gleiche Satz ist, der jetzt in der angeblich so neuen
Extremismusklausel von Frau Schröder steht.
Aber auch die Vergleiche von SPD und Grünen sind
an dieser Stelle nicht wesentlich erträglicher. Ich möchte (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Sie daran erinnern, worum es hier geht. (D)
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Um Misstrauen geht es!) Kollege Bernschneider, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Kolbe?
Es geht darum, dass sich Träger von Maßnahmen gegen
Extremismus, die vom Bund gefördert werden, zur frei- Florian Bernschneider (FDP):
heitlich-demokratischen Grundordnung bekennen müs- Nein. – In der aktuellen hektischen Debatte wird auch
sen. über Gutachten gesprochen. Wir können gern fachpoli-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tisch darüber diskutieren, ob wir diesen Satz nachschlei-
NEN]: Aber warum denn?) fen sollen, damit er für die Träger vor Ort deutlicher
wird.
Ich nenne das eine Selbstverständlichkeit.
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das haben
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Sie doch abgelehnt!)
CDU/CSU)
Darum geht es Ihnen heute aber nicht. Sie wollen sofort
Frau Roth spricht vom kruden Weltbild dieser Koalition. abstimmen. Sie wollen in den Ausschüssen nicht auf
fachlicher Ebene darüber sprechen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Das stimmt ja auch!) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir diskutieren seit Monaten!)
Dass sich Perspektiven ändern, wenn man von der
Regierungsbank auf die Oppositionsbank wechselt, kann Das zeigt, worum es geht: Es geht Ihnen bei diesem
man sich vorstellen; aber dass sich gleich ganze Weltan- Thema, das Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht anders ge-
schauungen ändern, finde ich schon merkwürdig. Dass sehen haben, um Wahlkampf. Damit gewinnt man alles,
Sie so tun, als ob diese Extremismusklausel eine Erfin- aber keine Wahlkämpfe und erst recht nicht unsere Zu-
dung von Frau Schröder oder Schwarz-Gelb wäre, ist stimmung.
abenteuerlich. Herr Kues hat es bereits gesagt; aber ich
Vielen Dank.
möchte es wiederholen, damit es bei Ihnen wirklich an-
kommt. Lutz Diwell, SPD-Staatssekretär im Innenminis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
terium, schrieb in einem Brief an alle Ministerien am Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
4. März 2004 – Sie können es gerne nachlesen –, dass GRÜNEN]: Nur Misstrauen gegen unsere Zi-
die missbräuchliche Inanspruchnahme von Förderpro- vilgesellschaft!)
10172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: kratischen Grundordnung zu bekennen. Das bezweifelt (C)
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kolbe das nicht ein Gutachter.
Wort.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Sönke Rix [SPD]: Das bezweifeln wir auch
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): nicht! Unterstellen Sie doch nicht, dass wir das
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte jetzt gar bezweifeln – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]:
nichts mehr zu dem schon hinlänglich bekannten Skan- Niemand bezweifelt das!)
dal sagen, dass die Bundesregierung den Initiativen, die
sich mit all ihrer Macht für Demokratie und gegen Men- Nicht ein Gutachten bezweifelt, dass man das unter-
schenfeindlichkeit einsetzen, das Misstrauen ausspricht. schreiben kann.
Ich möchte vielmehr bei der rechtlichen Positionierung Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau die-
nachhaken. ser Satz, der in einigen Gutachten kritisch gesehen wird,
Wir sind uns ja im Ziel einig – zumindest unterstelle nicht von uns stammt, sondern von einem Ihrer Staatsse-
ich das –, dass Verfassungsfeinden kein staatliches Geld kretäre während Ihrer Regierungszeit.
zufließt. Unsere Position ist, dass schon jetzt ausrei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
chend Möglichkeiten bestehen, etwaige Geldflüsse zu Sönke Rix [SPD]: Wo musste das denn bei uns
unterbinden. Da dies bisher nicht der Fall war, sprechen unterschrieben werden? – Steffen Bockhahn
Sie den Initiativen ohne Anlass Ihr Misstrauen aus. [DIE LINKE]: Wo bleibt Ihre Antwort?)
Herr Bernschneider, Sie und Ihre Partei halten die
Bürgerrechte und sicherlich auch das Grundgesetz hoch. Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
legin Lazar das Wort.
NEN]: Das war einmal! – Steffen-Claudio
Lemme [SPD]: Das ist lange vorbei!)
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass in mehreren Gutachten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bedenken geäußert werden, ob diese Klausel wirklich Die Debatte um die sogenannte Extremismusklausel hat
verfassungsrechtlich legitim ist und ein legitimes Mittel in den letzten Tagen und Wochen richtig Fahrt aufge-
darstellt, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen Sie des Wei- nommen. Allerdings, Kollege Bernschneider, diskutie-
teren zur Kenntnis, dass selbst die schwarz-gelbe Lan- ren wir über diese Klausel schon seit mehreren Monaten,
desregierung im Land Sachsen die bislang geplante unter anderem im Ausschuss. Es gibt sehr wohl viel Kri- (D)
(B) Demokratieerklärung oder Extremismusklausel abge-
tik.
schwächt hat. Aus meiner Sicht ist sie damit zwar immer
noch nicht ganz verfassungskonform. Aber selbst die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schwarz-gelbe Landesregierung hat gesagt, die Extre- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
mismusklausel, wie Sie sie hier fordern, sei in dieser KEN)
Weise nicht legitim.
Da Sie den heute von uns vorgelegten Anträgen nicht
(Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Minuten! zustimmen, werde ich jetzt etwas ausholen und Ihnen er-
Jetzt ist es genug!) klären, welche Argumente es noch von anderen gibt:
Das von Professor Battis angefertigte Gutachten besagt,
Mich interessiert, was die FDP dazu sagt. dass weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen wird.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!)
GRÜNEN)
Die Fragen, welche Mittel der Überprüfung angewandt
Vizepräsidentin Petra Pau:
werden sollen, welcher Verdachtsgrund die Ablehnung
einer Gruppe oder Person als Partner rechtfertigt und
Bitte sehr, Herr Kollege. welche Rechtsfolgen drohen, werden nicht beantwortet.
Sie werden auch in den nachgereichten Hinweisen zur
Florian Bernschneider (FDP): „Erklärung für Demokratie“, die den Trägern zur Verfü-
Frau Kollegin, ich habe gerade versucht, Ihnen zu er- gung gestellt wurden, nicht beantwortet. Der Tipp der
klären, dass es Gutachten gibt, die besagen, dass die Ministerin, die potenziellen Partner einfach zu googlen
Sätze 2 und 3 durchaus kritisch gesehen werden können. – das hat sie im Ausschuss gesagt –, empfinde ich als
Es gibt auch zahlreiche Gutachten, die besagen, es gebe Hohn. Es ist peinlich und höhnisch.
überhaupt kein Problem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei der SPD und der LINKEN – Sven-
NEN]: Welche sind denn das? Das wäre inte- Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ressant!) NEN]: Wirklich peinlich!)
Um auch das einmal klarzustellen: Kein Gutachten Ich hatte heute früh mit einer Amerikanerin zu tun, die
bezweifelt, dass es richtig ist, sich zur freiheitlich-demo- zu mir gesagt hat, all das erinnere sie an die McCarthy-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10173
Monika Lazar
(A) Ära. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern von sein. Stattdessen hat Innenminister Ulbig die Klausel (C)
einer Amerikanerin, die hier in Deutschland lebt. weiter verschärft. Jetzt müssen auch die Kooperations-
partner noch unterschreiben.
Inzwischen liegt auch das Gutachten des Wissen-
schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vor; Die verschiedenen Bundesländer, die Protest einge-
Kollege Thierse hat dazu schon einige Ausführungen ge- legt haben, wurden schon genannt: Berlin, Sachsen-An-
macht. Das eigene Bekenntnis zur freiheitlich-demokra- halt, Brandenburg und Thüringen. Die gemeinsame
tischen Grundordnung ist nicht das Problem; das haben Pressekonferenz vom Zentralrat der Juden und Zentralrat
wir heute bereits festgestellt. Das Problem ist die Gesin- der Muslime, die gestern stattgefunden hat, sollte Ihnen
nungsschnüffelei bei potenziellen Partnern. Die Träger auch zu denken geben. Auch sie haben sich explizit und
fühlen sich in ihrer Existenz bedroht; denn im Falle der mit sehr scharfen Worten dagegen gewandt.
falschen Partnerwahl kann es zur Rückforderung von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Fördermitteln kommen.
bei der SPD und der LINKEN – Sven-
(Patrick Döring [FDP]: Ja! Ist doch gut!) Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Genau! Das sollte Ihnen zu denken ge-
So bleibt die ohnehin vorhandene Unsicherheit selbst ben!)
nach einem positiven Fördermittelbescheid erhalten.
Zum Schluss möchte ich noch ein Wort an die FDP
(Patrick Döring [FDP]: Ja! Dann muss man richten: Der Kollege Ruppert hat sich ebenfalls kritisch
sich kümmern!) geäußert. Er wird nachher noch reden. Ich hoffe, Sie
Der Parlamentarische Staatssekretär Bergner sprach können auf Ihre Koalition dahin gehend einwirken, dass
von einer „heilsamen Wirkung“ der Erklärung, da die Zu- sie die Erklärung vielleicht doch noch zurücknimmt
wendungsempfänger zum Nachdenken angeregt würden. bzw. sie zumindest so gestaltet, dass sie der Verfassung
Er bemühte sogar den Vergleich mit der Anti-Doping- entspricht.
Erklärung, um die Extremismusklausel als im Zuwen- Ganz zum Schluss mein Wunsch: Demokratinnen und
dungsrecht etwas völlig Normales darzustellen. Ich Demokraten sollten vertrauensvoll zusammenarbeiten
finde, das war eine sehr fantasievolle Begründung. und sich nicht gegenseitig des Extremismus verdächti-
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE gen.
GRÜNEN]: Es wird immer lächerlicher!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Die zivilgesellschaftlichen Initiativen wehren sich zu bei der SPD und der LINKEN)
Recht gegen ein Klima des Misstrauens. Im Rahmen des Uns liegen heute die entsprechenden Anträge vor. Wir (D)
(B) Aktionstages „Extreme Zeiten“ am 1. Februar 2011 gab
haben in den letzten Wochen sehr viel diskutiert. Des-
es sehr viele Protestschreiben, die das Ministerium er- halb meine Bitte: Stimmen Sie diesen Anträgen zu und
reicht haben. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nehmen Sie diese unsägliche Extremismusklausel heute
– das wurde heute schon gesagt – ist nicht ein Problem endgültig zurück!
vermeintlich extremer Ränder, sondern ein Problem der
Mitte. Damit hat diese Erklärung leider gar nichts zu tun. Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) bei der SPD und der LINKEN)
Es gibt weitere prominente Leute, die sich kritisch ge-
Vizepräsidentin Petra Pau:
äußert haben – ich weiß nicht, wer sich positiv geäußert
hat; Herr Kues, vielleicht können Sie uns diese Informa- Der Kollege Geis hat für die Unionsfraktion das Wort.
tion noch zur Verfügung stellen –: Anetta Kahane, Leite- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
rin der Amadeu-Antonio-Stiftung, DGB-Chef Michael der FDP)
Sommer sowie Gesine Schwan, die im Rahmen der Ver-
leihung des Sächsischen Demokratiepreises in Dresden Norbert Geis (CDU/CSU):
sehr kritische Worte gefunden hat. Sogar die Bundesar-
Verehrte Frau Lazar, es geht nicht darum, dass wir uns
beitsgemeinschaft „Kirche für Demokratie – gegen
gegenseitig des Extremismus verdächtigen, sondern es
Rechtsextremismus“ – liebe Kolleginnen und Kollegen
geht darum, dass wir den Staat vor Extremisten schüt-
von der Union, hören Sie jetzt zu – wendet sich gegen
zen. Darum geht es auch in der Bestätigung, die zu un-
das Druckmittel der eingeforderten Unterschriftserklä-
terschreiben ist. Ich weiß nicht, was daran so fatal ist.
rung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auch in den Ländern ist einiges in Bewegung geraten.
Die Sächsische Staatsregierung erklärte auf Nachfrage Verehrter Herr Thierse, ich stimme mit Ihnen darin
meines Landtagskollegen Miro Jennerjahn, dass es unter überein, dass der Staat wehrhaft sein muss. Das Prinzip
den zwischen 2005 und 2010 im Landesprogramm der Wehrhaftigkeit der Demokratie steht neben dem
„Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ ge- Prinzip der Sozialstaatlichkeit, neben dem Prinzip der
förderten Projekten keine gibt, die unter Extremismus- Demokratiestaatlichkeit und neben dem Prinzip, dass
verdacht stehen. Damit müsste die Anti-Extremismus- unsere Grundrechte justiziabel sind. Die wehrhafte De-
Erklärung für das Land Sachsen doch eigentlich hinfällig mokratie ist eines der Grundprinzipien unserer Verfas-
10174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Norbert Geis
(A) sung. Wir haben immer darin übereingestimmt. Sie ha- gen den Linksextremismus und den islamistischen (C)
ben das vorhin auch selber erklärt. Die Wehrhaftigkeit Extremismus, kommt das Ministerium für Familie, Se-
steht dabei neben der Rechtsstaatlichkeit, der föderati- nioren, Frauen und Jugend dieser Verpflichtung zur
ven Grundordnung und der sozialen Ordnung. Diese Be- wehrhaften Demokratie nach. Diese Programme sehen
griffe markieren jeweils eine besondere Ausgestaltung nicht direkt staatliches Handeln vor, sondern richten sich
unserer Verfassung. an Bürgerinitiativen und an Organisationen, die aus der
Gesellschaft kommen, also bürgerschaftliche Organisa-
Das Prinzip der wehrhaften Demokratie ist ein Ver-
tionen sind. Nicht Beamte sind dort tätig,
fassungsprinzip, das eigenständige Bedeutung gewon-
nen hat. Die Idee der wehrhaften Demokratie kam in un- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
sere Verfassung, weil die Mütter und Väter des GRÜNEN]: Das wissen wir, Herr Geis! Wir
Grundgesetzes in der Weimarer Zeit schlechte Erfahrun- reden auch mit Organisationen!)
gen gemacht haben. In der Weimarer Zeit galt das Prin-
zip der Toleranz, was an sich ein gutes Prinzip ist. Aber sondern Bürger aus der Gesellschaft können die Initia-
damals war es Toleranz im Sinne von Werterelativismus. tive ergreifen. Ich halte das für richtig und für gut.
Was wir an dieser Verfassung heute als Mangel sehen, (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja, wir
war damals eine Tugend, nämlich dass man alle mögli- auch!)
chen politischen Ideen, Gestaltungen und Überlegungen
zugelassen hat, ohne sie bekämpfen zu können. Deshalb Das hat vielleicht sogar noch eine größere Wirkung,
war die Demokratie der Weimarer Republik in sich brü- (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja! – Sven-
chig. Sie ist deswegen zugrunde gegangen. Sie war nicht Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
in der Lage, sich gegen innere und äußere Feinde zu NEN]: Hat es auch, aber die Klausel verhin-
wehren. Deswegen haben wir heute das Prinzip der dert Engagement!)
wehrhaften Demokratie.
als wenn wir es über Beamte, also auf staatlichem Wege,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – machen würden.
Zurufe der Abg. Sönke Rix [SPD] und Sven-
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf: Nun zur Erklärung!)
NEN])
Wenn das so ist, dann kann es doch nicht falsch sein
– Ich komme zum Thema. Mit dieser Vorbemerkung – im Übrigen sagt auch Battis nicht, dass das falsch ist –,
wollte ich das aufnehmen, was Ihr Kollege Thierse vor- dass wir das von denen verlangen, die sich darum bemü-
hin gesagt hat, nämlich dass wir eine wehrhafte Demo- hen, dass die Demokratie in unserem Volk verwurzelt
(B) kratie brauchen. bleibt, dass die demokratischen Grundsätze bei uns ins (D)
Bewusstsein übergehen, und zwar jeden Tag. Mit Recht
Unser Verfassungsgericht hat das Prinzip der wehr-
sagt Herr Thierse, dass die Demokratie von Zustimmung
haften Demokratie in seinen Entscheidungen ausgestal-
lebt.
tet.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Bitte mal zur Sache!) GRÜNEN]: Wir sollten dankbar sein und nicht
misstrauen!)
Denken wir an die berühmte Entscheidung zum Verbot
der KPD, denken wir aber auch daran, dass die Bemü- Wir brauchen die Gemeinsamkeit der Demokraten.
hungen um das Verbot der NPD bislang nicht zum Erfolg Diese Institutionen und Organisationen können dabei
geführt haben, was ich bedauere. mithelfen.

(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber wa- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
rum? – Sven-Christian Kindler [BÜND- Ja, eben! Das machen die seit Jahren!)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen Verfassungs- Aber es kann doch nicht verkehrt sein, dass wir von die-
schutz und V-Leuten!) sen Organisationen eine Bestätigung verlangen, dass sie
– Fragen Sie bitte das Verfassungsgericht! sich tatsächlich für die demokratische Grundordnung
einsetzen.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das waren die V-Leute! – Sven- (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Doch! Sie
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- misstrauen ihnen!)
NEN]: Verfassungsschutz und V-Leute waren Warum soll denn das unmöglich sein?
das Problem!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
– Das ist nicht mein Problem. Vielleicht waren die da- neten der FDP – Steffen Bockhahn [DIE
mals eingereichten Klagen auch nicht so beschaffen, LINKE]: Sie misstrauen ihnen!)
dass man darauf ein Verbot wirklich hätte stützen kön-
nen. – Das ist doch kein Misstrauen. Wir verlangen nur diese
Bestätigung.
Mit den beiden Programmen, dem Programm „Tole-
ranz fördern – Kompetenz stärken“ gegen den Rechts- (Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE
extremismus und der Initiative „Demokratie stärken“ ge- LINKE])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10175
Norbert Geis
(A) – Sie können noch so laut schreien. Es ist nichts anderes mäßig verwurzelt sind. Wir wollen durch diese Bestäti- (C)
als ein klares Bekenntnis zur demokratischen Grundord- gung eben erreichen,
nung.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Was war denn in GRÜNEN]: Es gibt diese Programme schon
den letzten Jahren schiefgelaufen?) jahrelang! Es gab nie Probleme!)
Sie gehen davon aus, dass demokratisches Grundver- dass sie unsere Demokratie anerkennen und sich auf ihre
ständnis überall vorhanden ist. Wenn das der Fall wäre, Grundsätze verpflichten. Im Übrigen sagt Battis, den Sie
brauchten wir solche Organisationen nicht, dann brauch- als Gutachter ausgewählt haben
ten wir solche Initiativen nicht.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das waren die Initiativen, Herr
Vizepräsidentin Petra Pau: Geis!)
Herr Kollege Geis, möchten Sie noch eine Frage be-
antworten kurz vor Ablauf Ihrer Redezeit? und den ich im Übrigen auch schätze, in dem von ihm
erstellten Gutachten genau das Gleiche. Er sagt, es ist
möglich, dass von diesen Organisationen diese Bestäti-
Norbert Geis (CDU/CSU):
gung verlangt wird.
Ich beantworte nachher die Frage, aber ich möchte
erst meinen Gedanken zu Ende führen. Jetzt kommt der zweite Punkt: Diese Organisationen
müssen eine entsprechende Bestätigung natürlich auch
Vizepräsidentin Petra Pau: von denen verlangen, die sie als Mithelfer, als Unterstüt-
Sie haben leider nur noch 34 Sekunden. zer ihrer Bemühungen heranziehen.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Norbert Geis (CDU/CSU): NEN]: Redezeit! – Sönke Rix [SPD]: Schnee-
Na gut, dann werde ich die Frage jetzt zulassen. ballsystem!)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn sie selbst diese Bestätigung abgeben müssen, dann
ist es doch logisch und richtig, dass auch die Partner, die
ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mithelfen, eben-
Vizepräsidentin Petra Pau:
falls diese Bestätigung abgeben.
Herr Rix.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
(B) Sönke Rix (SPD): GRÜNEN]: Das sagt Battis aber nicht! Battis (D)
Herr Geis, ich will mal nicht so sein und Ihnen noch sagt, das sei verfassungswidrig!)
ein bis zwei Minuten zusätzliche Redezeit geben. – Da unterscheide ich mich von Battis. – Ich bin der
Können Sie mir erklären, was sich in den Jahren, seit- Meinung, dass dieses nicht mehr als recht und billig ist.
dem die Programme aufgelegt wurden, bis zu dem Zeit- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
punkt, wo die Extremismusklausel eingeführt wurde, GRÜNEN]: Diese Rede ist billig!)
verändert hat? Können Sie mir also erklären, was Frau
von der Leyen falsch gemacht und Frau Schröder jetzt Es kann doch nicht sein, dass sich unter Umständen
wohl richtig macht? links- oder rechtsextremistische Kreise engagieren las-
sen, um angeblich für die demokratische Grundordnung
Bitte erklären Sie mir auch noch ein Zweites: Warum einzutreten, und dafür Geld bekommen,
müssen Organisationen, die sich für Demokratie und To-
leranz einsetzen, diese Erklärung unterschreiben, wäh- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
rend andere Organisationen, die staatliche Mittel aus GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! – Monika
dem Jugendetat des Ministeriums oder anderswoher er- Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völli-
halten, solche Klauseln nicht zu unterschreiben brau- ger Unsinn, Herr Geis! – Weiterer Zuruf des
chen? Wo liegt da der Unterschied? Diese beiden Fragen Abg. Sönke Rix [SPD])
hätte ich gerne noch beantwortet. obwohl sie diesen Staat im Grunde genommen ablehnen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und zugrunde richten wollen.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
GRÜNEN) NEN]: Reden Sie einmal mit denen! Gehen
Sie einmal vor Ort!)
Norbert Geis (CDU/CSU):
Wir können doch nicht Steuergeld zur Verfügung stellen,
Wenn Organisationen dazu da sind, die verfassungs- um diese Leute auch noch zu unterstützen. Da denke ich
rechtliche Grundordnung ins Volk hereinzutragen, dann wirklich an Lenin: „Nur die dümmsten Kälber wählen
haben sie nach dem, was jetzt vorliegt und zur Debatte ihre Metzger selber.“ Das kann es doch nicht sein, meine
steht, genau das Gleiche zu unterschreiben wie jene Or- sehr verehrten Damen und Herren.
ganisationen, die ich eben genannt habe. Wir können
nicht von vornherein davon ausgehen, dass in all diesen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Organisationen demokratische Grundsätze völlig gleich- der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜND-
10176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Norbert Geis
(A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Lenin hat auch ge- teriums, dass durch Projektmittel auch unerwünschte (C)
sagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!) Organisatoren gefördert werden, ist damit nicht von der
Hand zu weisen. – Insofern ist es sicherlich richtig und
Der Staat macht zwar viele Fehler, aber er darf einen
sinnvoll, dass wir hier sagen: Dieses Ob muss außerhalb
Fehler bestimmt nicht machen: Er darf nicht zulassen,
jeder Diskussion stehen.
dass er lächerlich gemacht wird. Der größte Fehler wäre
jedoch, wenn er sich selbst lächerlich macht. Dass man (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke
von Menschen bzw. bürgerschaftlichen Gruppierungen, Rix [SPD]: Und warum nicht alle?)
die sich im Rahmen von Initiativen, die vom Ministe-
rium ausgehen, darum bemühen sollen, in der Bevölke- Leider kommen wir wegen dieser Debatten niemals
rung des Landes ein demokratisches Bewusstsein zu dazu, sauber zu klären, welchen Extremismusbegriff wir
verwurzeln, entsprechende Verpflichtungserklärungen in Deutschland eigentlich zugrunde legen. Meiner Mei-
verlangt, kann doch nicht dazu führen, dass bei Ihnen so nung nach haben wir auf der linken Seite dieses Hauses
ein starker Widerspruch entsteht, wie das jetzt der Fall immer das Problem, dass es von Ihnen eine Art konze-
ist. Ich bedauere das sehr. Im Grunde genommen handelt dierten vermeintlichen moralischen Rabatt für den
es sich um eine sehr vernünftige Sache. Linksextremismus gibt, während Sie engagiert und mit
großem Einsatz – das will ich gar nicht verkennen – ge-
Danke schön. gen den Rechtsextremismus vorgehen. Es ist an der Zeit,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – diese Unausgewogenheit endlich einmal abzulegen.
Sönke Rix [SPD]: Was hat Frau Schröder jetzt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
richtig gemacht und Frau von der Leyen Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: So ein Un-
falsch?) sinn! Sie haben keine Kenntnis von diesem
Bereich!)
Vizepräsidentin Petra Pau: – Das mögen Sie behaupten. Ich habe als wissenschaftli-
Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das cher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht das
Wort. NPD-Verbotsverfahren betreut. Ich kann also sicherlich
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten über einige Jahre der Auseinandersetzung mit Extremis-
der CDU/CSU) mus in Deutschland reden. Man könnte viel darüber sa-
gen, was dabei schiefgelaufen ist.
Dr. Stefan Ruppert (FDP): (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sagen Sie
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und es mal!)
(B) Herren! Wer wie ich häufiger zu Fragen des Extremis- (D)
mus und seiner Bekämpfung spricht, der erlebt leider Aber eines ist aus meiner Sicht unerträglich – das sage
immer wieder die gleiche Dramaturgie. Ich erinnere an ich als jemand, dessen Wahlkreisbüro schon Ziel autono-
den Koalitionsvertrag. Darin haben wir die Bekämpfung mer Gewalt geworden ist, weil ich für den Ausbau des
des Linksextremismus und den Islamismus aufgenom- Frankfurter Flughafens bin oder weil ich dem Energie-
men. Damals haben Sie uns vorgeworfen, wir würden konsens zugestimmt habe –, nämlich dass Sie mit dem
von nun an den Rechtsextremismus nicht mehr bekämp- linken Auge nicht hinschauen.
fen wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dann haben Sie gesagt, wir würden im Haushalt si- Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
cherlich die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremis- NEN]: Wie viele Menschen sind von den Neo-
mus streichen wollen, weil wir unsere Aufmerksamkeit nazis ermordet worden?)
einseitig dem Linksextremismus zuwenden würden. Jetzt habe ich relativ viel Zeit meiner Rede damit zu-
Auch das war nicht richtig. Jetzt sagen Sie: Es ist unzu- gebracht, mich mit der aus meiner Sicht leider wieder
mutbar – das haben Sie in der Vergangenheit selbst ge- verpassten Chance von Ihrer Seite zu befassen. Ich will
macht –, von Trägern, die solche Aufgaben wahrneh- am Ende nicht verhehlen, dass der positivistische Verfas-
men, ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen sungsjurist in mir mit Satz 2 durchaus nicht glücklich ist,
Grundordnung zu verlangen. was die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit angeht.
Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle einmal über (Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD])
das Ob und das Wie unterhalten. Ich finde es sehr bedau-
erlich, dass Sie anfangen, über die Frage des Ob, also Ich halte das zwar nicht für verfassungswidrig, wie von
über die Frage, ob es für einen Träger zumutbar ist, zu Ihnen unterstellt. Aber ich finde, dass die vom betreffen-
erklären, dass er selbst auf dem Boden der freiheitlich- den sächsischen Ministerium gewählte Formulierung
demokratischen Grundordnung steht, zu diskutieren. – wie wir alle wissen, ist Sachsen ein sehr gut regiertes
Bundesland –
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
SPD)
Natürlich ist das jedem zumutbar. Sie sagen, darum gehe
es nicht. Aber sogar das von Herrn Thierse zitierte Gut- eindeutig praktikabler und sachlicher ist. Aber um die
achten aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundes- Frage, ob es so oder so besser ist, ging es Ihnen heute gar
tages besagt: Die Befürchtungen des zuständigen Minis- nicht. Ihnen ging es heute leider wiederholt nur um die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10177
Dr. Stefan Ruppert
(A) Feststellung, dass wir nicht bereit sind, den Extremismus sehr erfolgreich im Exportgeschäft und ein konjunktur- (C)
auf rechter Seite zu bekämpfen. Das ist schlicht Unsinn. stabiler Faktor, was in Zeiten von Finanzmarktkrisen
Insofern können wir Ihre Anträge nur ablehnen. und Wirtschaftsrezession hoch einzuschätzen war und
ist.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Gesetz zur Auflösung und Abwicklung der beiden
Fonds ist deshalb notwendig, weil sowohl der Absatz-
fonds als auch der Holzabsatzfonds durch Gesetz als
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rechtsfähige Anstalt des Öffentlichen Rechts errichtet
Ich schließe die Aussprache. wurden. Von den Entscheidungen des Bundesverfas-
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der sungsgerichts sind bestimmte Vorschriften des Absatz-
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen fondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes unbe-
auf Drucksache 17/4551 mit dem Titel „Demokratieinitia- rührt geblieben. Sie sind auch aufzuheben. Das Nähere
tiven nicht verdächtigen, sondern fördern – Bestätigungs- über die Erhebung der Beiträge ist jeweils in der Verord-
erklärung im Bundesprogramm ‚Toleranz fördern – Kom- nung über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz und
petenz stärken‘ streichen“. Wer stimmt für diesen der Holzabsatzfondsverordnung geregelt, die ebenfalls
Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – aufzuheben sind.
Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Opposi-
Für den Fall, dass beim Absatzfonds oder beim Holz-
tionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktio-
absatzfonds zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Arbeit
nen.
Vermögensüberschüsse verbleiben, bedarf es außerdem
Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Über- einer Regelung über deren Verwendung. Vielen Wirt-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/4664 an die in schaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein deutlich gewor-
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- den, wie wichtig eine zentrale Absatzförderung ist und
gen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann welche gute Arbeit CMA und ZMP geleistet haben; über
ist die Überweisung so beschlossen. Einzelheiten kann man streiten. Zwischenzeitlich sind
auf Initiative der Wirtschaft sowohl in der Ernährungs-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
branche als auch im Holzbereich Nachfolgeorganisatio-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nen gegründet worden.
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflö-
sung und Abwicklung der Anstalt Absatzför- Fakt ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht
derungsfonds der deutschen Land- und nicht nur die Vorschriften zur Beitragserhebung für
Ernährungswirtschaft und der Anstalt Ab- nichtig erklärt hat, sondern auch die Vorschriften zur
(B)
satzförderungsfonds der deutschen Forst- und Aufgabenstellung der Fonds. Nach Anhörung der Ver- (D)
Holzwirtschaft bände leitete das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten daraus ab, dass eine Ver-
– Drucksache 17/4558 – wendung etwaiger Überschüsse zugunsten der ur-
Überweisungsvorschlag: sprünglichen Beitragszahler rechtlich nicht geboten ist.
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Dennoch werden wir uns als Unionsfraktion im Deut-
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
schen Bundestag im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
dafür einsetzen, die rechtlichen Möglichkeiten auszunut-
In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass zen, um die Verwendung der Restmittel im Sinne der ur-
die Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit sprünglichen Beitragszahler zu ermöglichen. Auch der
einverstanden? – Das ist der Fall. Bundesrat hat sich im Dezember letzten Jahres dafür
ausgesprochen, etwaige Überschüsse, die nach Abwick-
Marlene Mortler (CDU/CSU): lung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verblei-
Ein erfolgreiches Instrument für die deutsche Agrar- ben, zugunsten der Land- und Forstwirtschaft zu ver-
und Ernährungswirtschaft neigt sich dem Ende zu. Der wenden. In ihrer Stellungnahme zu dem vorliegenden
Absatzfonds wird abgewickelt. Das Bundesverfassungs- Gesetzentwurf sprach sich die Länderkammer damit ge-
gericht hat am 3. Februar 2009 das Urteil dazu gespro- gen die Absicht der Bundesregierung aus, die Mittel
chen. Die Kläger haben recht bekommen. Mit Beschluss ohne Zweckbindung dem Bundeshaushalt zuzuführen.
vom 12. Mai 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Die Sonderabgabe sei von den Betrieben der Land- und
gesetzliche Aufgabenstellung des Holzabsatzfonds sowie Ernährungswirtschaft sowie der Holz- und Forstwirt-
dessen Finanzierung über die Sonderabgabe ebenfalls schaft erbracht worden. Daher müssten die Restmittel
für verfassungswidrig und nichtig erklärt. auch diesen Betrieben wieder zugutekommen.
Ich persönlich bedaure diese Entwicklung sehr, ist Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur
doch gerade unser Bundesland Bayern auf überregio- Nichtigkeit der Sonderabgabe lasse sich nicht ableiten,
nale Märkte und den heimischen Absatz angewiesen. dass diese in den allgemeinen Bundeshaushalt eingehen
Wenn ich den Selbstversorgungsgrad bei Milch von müssten. Stattdessen müsse es ermöglicht werden, dass
mehr als 170 Prozent und bei Rindfleisch von mehr als Restmittel in der Land- und Ernährungswirtschaft bei-
200 Prozent sehe, dann hat diese Förderung immer wie- spielsweise für Messebeteiligungen, Präsentationen,
der für Absatz im Ausland gesorgt. Das heißt, wir waren Marktstudien sowie Markterschließungsmaßnahmen ein-
dank des Absatzfondsgesetzes und der Arbeit der CMA gesetzt werden. Von den übrig bleibenden Holzabsatz-
10178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Marlene Mortler
(A) fondsmitteln müssten wieder Forstbetriebe, Waldbesit- Die Restmittel müssen so verwendet werden, dass dieje- (C)
zer und Unternehmen der Holzwirtschaft profitieren. nigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon profitie-
ren. Daher halte ich das jetzt vorgesehene Verfahren der
Diese Meinung teile ich ausdrücklich. Das heißt, soll- schwarz-gelben Koalition in der Sache für nicht tragbar.
ten nach vollständiger Abwicklung Restmittel zur Verfü- Die Absatzfondsmittel sind vorrangig von den land- und
gung stehen, können diese in den Haushalt zurückflie- forstwirtschaftlichen Betrieben aufgebracht worden.
ßen. Wir Abgeordnete haben es dann als Haushalts- Folgerichtig müssen die vorhandenen Restmittel zweck-
gesetzgeber in der Hand, das verfügbare Geld im Sinne gebunden ausgegeben werden. Klar ist, dass wir nicht
der Beitragszahler einzusetzen. Den entscheidenden die Restmittel im Umfang von ein paar Euro und dann
Zeitpunkt werden wir im Auge behalten. noch auf den Cent gerundet den Abgabenzahlern zu-
rückzahlen können. Der bürokratische Aufwand wäre
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): viel zu groß. Die SPD lehnt es aber ab, dass der Vermö-
Heute debattieren wir über die Restmittel zweier gensüberschuss nach Abwicklung in den Bundeshaus-
Fonds, die seitens der Wirtschaft seit 1969 mit Abgaben halt überführt wird. Dieser muss den früheren Abgaben-
gefüllt wurden. Diese gesetzlich auferlegten Abgaben zahlern zugutekommen.
waren nie besonders beliebt. Jahrelang wurde in
Deutschland über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von Meine Vorschläge dazu: Legen Sie ein einmaliges und
Zwangsabgaben für das land- und forstwirtschaftliche auf zwei Jahre befristetes Fortbildungsprogramm für
Gemeinschaftsmarketing gestritten. Und tatsächlich: Landwirte auf. Aus einem breitgefächerten Angebot mit
Ihre ursprüngliche Zielsetzung haben die Abgaben dem Schwerpunkt Unternehmensmanagement könnten
schon seit langem verloren. Im Jahr 2009 rügte der Bun- sich die Betriebsleiter dann kostenfrei die Module aus-
desrechnungshof äußerst deutlich, dass die Marketing- suchen, die sie für die Weiterentwicklung ihrer Höfe be-
gesellschaft für Agrarwirtschaft, CMA, Beiträge ver- nötigen. Die Vermögensüberschüsse aus dem Absatzför-
schwende und ihre Aufgabe verfehle. Nach dem internen derungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft
Bericht des Bundesrechnungshofes habe die Absatzor- sollten dazu genutzt werden, die Nachfrage nach hoch-
ganisation viele Marketingmaßnahmen bezahlt, die „ge- wertigem und nachhaltig zertifiziertem Holz mit den La-
gen interne Vorgaben verstießen, unwirtschaftlich oder bels FSC, Naturland oder PEFC zu steigern.
weitgehend wirkungslos waren“. Der Bundesrechnungs- Die SPD lehnt den Gesetzentwurf der Regierungsko-
hof untermauerte damit die Kritik vieler Land- und alition mit der jetzigen Zweckbestimmung ab.
Forstwirte. Schlussendlich hat das Bundesverfassungs-
gericht Anfang 2009 ein klares Urteil gesprochen, Az.:
2 BvL 54/06 vom 3. Februar 2009. Die millionen- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
(B) schwere Zwangsabgabe ist seit 2002 als rechtswidrig Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat (D)
anzusehen. Damit konnten die deutschen Land- und im Sommer 2009 entschieden, dass die verpflichtende
Forstwirte die Zahlungen für die zentrale Vermarktung Erhebung einer Sonderabgabe zur Finanzierung einer
ihrer Produkte einstellen. Zuletzt waren im Schnitt in die zentralen Einrichtung der Wirtschaft und deren Aufga-
Fonds jährlich fast 88 Millionen Euro geflossen. Mit ben verfassungswidrig ist. Bereits die im Jahr 2007 im
durchschnittlich 0,4 Prozent wurde der jeweilige Waren- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
wert belastet. cherschutz durchgeführte Anhörung zum Absatzfonds
hatte gezeigt, dass die damit verbundene Zwangsabgabe
Werner Hilse, der Präsident des niedersächsischen
nicht verfassungskonform ist. Das Gerichtsurteil war
Landvolkverbandes, hat ja kurz nach Bekanntgabe des
somit vorhersehbar. Solche Zwangssysteme müssen sich
Urteils diese hochrichterliche Entscheidung als „Kon-
in einem Rechtsstaat rechtfertigen und zeigen, dass sie
junkturbremse und nicht passend in die derzeitige Wirt-
nicht durch freiwillige Lösungen ersetzt werden können.
schaftslage“ bezeichnet. Nach anfänglicher Schwarz-
Bereits im Jahr 2002 hatte der Europäische Gerichtshof
malerei sind der Berufsstand und die Agrar- und
festgestellt, dass eine Werbung allein für deutsche land-
Ernährungswirtschaft dann doch sehr schnell aktiv ge-
wirtschaftliche Produkte europäischem Recht wider-
worden. Zusammen mit der Politik hat die Wirtschaft
spricht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt musste über die
neue Konzepte und Finanzierungsmodelle für die Ab-
vorhandenen Strukturen nachgedacht werden. Warum
satzförderung entwickelt. Und, liebe Kolleginnen und
sollte ein deutscher Obstbauer mit seiner Abgabe den
Kollegen, siehe da: Es funktioniert, auch ganz ohne
Absatz von Obst ganz allgemein fördern? Im Übrigen
Zwangsabgabe.
war nie einzusehen, dass die Landwirtschaft für die Ex-
Wir müssen aber auch feststellen, dass wir die auf portförderung eigene Mittel aufbringt, während in den
EU-Ebene bereitgestellten Mittel für das Absatzmarke- übrigen Wirtschaftsbereichen die Exportförderung Auf-
ting nicht in dem Umfang abrufen, wie das wünschens- gabe des Wirtschaftsministeriums ist. Die nun unter
wert wäre. Hier müssen die einzelnen Branchenorgani- christlich-liberaler Regierung betriebene Exportförde-
sationen mehr über ihren Tellerrand schauen. Wir rung für landwirtschaftliche Produkte hat dazu beige-
brauchen eine gemeinsame Strategie, um unsere heimi- tragen, die Land- und Ernährungswirtschaft zu stärken,
sche Agrar- und Ernährungswirtschaft voranzubringen. und ist daher ein wesentlicher Beitrag für die Struktur-
förderung des ländlichen Raumes.
Heute geht es um die Verwendung der vorhandenen
Restmittel aus den Absatzfonds. Und dabei muss nach Jetzt legt die Bundesregierung den Gesetzentwurf vor,
meiner Überzeugung ganz klar der Grundsatz gelten: mit dem die Auflösung und Abwicklung der Anstalt „Ab-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10179
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) satzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernäh- ten Lebensmittelwerbeagentur Deutschlands hatte auch (C)
rungswirtschaft“ und der Anstalt „Absatzförderungs- die Linke seit langem kritisiert. Ich erinnere in diesem
fonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft“ geregelt Zusammenhang an die unrühmlichen Werbespots wie
werden soll. Schon im Vorfeld hat die FDP wie nun auch „Kleine Schweinerei gefällig?“ oder „Und ewig lockt
der Bundesrat gefordert, das Restvermögen beider An- das Fleisch“. Auch an der Verfassungsmäßigkeit dieses
stalten gruppenspezifisch zu verwenden. Der Zentral- Geschäftsmodells hatten nicht nur wir Zweifel.
ausschuss der Deutschen Landwirtschaft wie auch die
Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Waldbesitzer- Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das
verbände – um nur die beiden größten Verbände zu nen- Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar
nen – haben ebenfalls diese Forderung erhoben. Die 2009 war nur folgerichtig und wurde durch uns begrüßt,
Sonderabgabe ist von Unternehmen der Land- und Er- auch wenn damit gleichzeitig sehr sinnvolle Einrichtun-
nährungswirtschaft wie auch der Forst- und Holzwirt- gen wie die ZMP zur Disposition gestellt wurden. Ihre
schaft geleistet worden. Die Verwendung dieser Mittel Markt- und Preisberichterstattung war sehr bedeutsam,
sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht ha- und die Linke hatte gefordert, dies auch nach Abwick-
ben, erfolgen. Das von der Bundesregierung mit dem lung des Absatzfonds als öffentliche Aufgabe fortzufüh-
Gesetzentwurf verfolgte Ziel, die Restmittel ohne Zweck- ren. Stattdessen wurde diese Aufgabe privatisiert und
bindung dem allgemeinen Haushalt zuzuführen, wird die Agrarmarkt Informations-GmbH, AMI, als Nachfol-
von der FDP abgelehnt. Es mag, wie in der Begründung gerin der ZMP gegründet. Sie verkauft nun die Informa-
ausgeführt, rechtlich nicht geboten sein, die Mittel grup- tionen. Sie erstellt natürlich vor allem Daten, die sich
pennützig zu verwenden. Im Sinne des Vertrauensschut- gut verkaufen lassen. Öffentlich finanzierte Daten hätten
zes ist dies jedoch politisch geboten. dagegen auch öffentlich und unentgeltlich zugänglich
gemacht werden können. Damit wären Daten vorhan-
Um die Beitragszahler und die Steuerzahler nicht zu den, die vielleicht nicht wirtschaftlich verwertbar, aber
belasten, sind die Kosten der Abwicklung selbst zu- dafür für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Diese
nächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Be- Chance wurde bewusst vertan.
kanntgabe des Gerichtsbeschlusses gab es zahlreiche
Klagen gegen die monatlichen Beitragsbescheide. Nach Das ist eine der Kehrseiten der Absatzfondshistorie.
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wur- Als weitere Kehrseite erweist sich die von der Bun-
den diese für erledigt erklärt, die zu Unrecht eingezoge- desregierung vorgeschlagene Verwendung der Restmit-
nen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt. tel, die nach Bezahlung aller noch offenen Rechnungen
Es muss über die Forderung der Länder entschieden des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben.
werden, dass die Prozesskosten der anhängigen Klagen Diese Reste nicht verfassungsgemäß eingetriebener
(B) vom Bund getragen werden. Gelder sollen aber nicht den Zahlenden, sondern dem (D)
Es gibt bereits verschiedene Ideen, in welcher Weise Bundeshaushalt zugutekommen. Das ist widersinnig.
das Restvermögen der beiden Anstalten verwendet wer- Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
den kann, zum Beispiel Einbringen in eine Stiftung oder 17. Dezember 2010 betont, dass die überschüssigen
die Unterstützung bestehender Vermarktungsstrukturen, Gelder einer „gruppennützigen Verwendung“ zugeführt
die sich in der Nachfolge der beiden Anstalten gegrün- werden sollten. „Gruppennützig“ kann für die Linke nur
det haben. In jedem Fall muss sichergestellt sein, dass eines bedeuten: Landwirtinnen und Landwirte bzw. die
diejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon ei- Forstwirtschaft müssen von den Restgeldern profitieren,
nen Nutzen haben. Unser Grundgesetz fordert von uns, statt dass damit politisch geschaffene Löcher im Bun-
die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamten deshaushalt gestopft werden. Dabei geht es nicht um die
Bundesgebiet zu gewährleisten. Die Diskussion um berühmten Peanuts. Der hessische Landesverband des
Glasfasernetze zeigt, dass der ländliche Raum mit dem Bundes Deutscher Forstleute, BDF, geht davon aus,
Problem der Errichtung einer gleichwertigen Infra- dass allein beim Holzabsatzfonds nach Abzug aller offe-
struktur zu kämpfen hat. Vor diesem Hintergrund ist es nen Rechnungen und Gerichtskosten noch 2,8 Millionen
politisch kaum vertretbar, von Betrieben des ländlichen Euro übrig bleiben. Der Vorschlag des BDF, diese Gel-
Raumes aufgewandte Mittel in den allgemeinen Haus- der an die „Zukunft Holz GmbH“ zu übergeben, könnte
halt fließen zu lassen, statt sie dort zu verwenden, woher die Gelder im Interesse der in der Branche Beschäftig-
sie kommen und wo sie auch gebraucht werden, nämlich ten sichern. Im Bundeshaushalt ist das höchst unsicher,
im ländlichen Raum. erst recht nach den Erfahrungen der vergangenen Wo-
chen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke thematisiert schon sehr lange, dass gerade
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht aus Sicht in der regionalen Absatzförderung große Potenziale für
vieler Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber Wertschöpfung und Arbeitsplätze ungenutzt sind. Des-
auch vieler Beschäftigter der Absatzfonds ein unrühmli- halb könnten wir uns gut vorstellen, dass die Restgelder
ches Kapitel politischen Versagens zu Ende. nach der Abwicklung der beiden Fonds gerade dafür
verwendet werden. Die Nutzung der Gelder zur Stärkung
Viele Jahre haben sich vor allem Teile der Agrarwirt- von Agrarfördergesellschaften würde auch in meinem
schaft gegen die Zwangsbeiträge zur Finanzierung von Heimatbundesland Brandenburg den Verband „pro
Absatzförderung über Werbemaßnahmen der CMA ge- agro“ unterstützen. Leider ist die Bundesregierung auf
wehrt. Die teilweise sexistischen Kampagnen der obers- solche Vorschläge bisher nicht eingegangen. Auch die

Zu Protokoll gegebene Reden


10180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Kirsten Tackmann


(A) Kritik des Bundesrates wurde beiseite gewischt, weil das Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert, (C)
Bundesverfassungsgericht nicht nur die Zwangsgelder, ihren Gesetzentwurf zu ändern und die Gelder gruppen-
sondern auch die gesetzliche Aufgabenstellung der nützig zu verwenden. Die Bundesregierung hat dies zu-
Fonds für verfassungswidrig erklärt hätte. Die Linke rückgewiesen. Sie zeigt keinerlei Bereitschaft, die Gel-
fordert, ernsthaft nach einer verfassungskonformen Lö- der im Sinne derer zu verwenden, die sie bezahlt haben.
sung zu suchen, damit Land- und Forstwirtschaft zumin-
dest noch indirekt von den verfassungswidrig eingezoge- Wir begrüßen die Forderung des Bundesrates nach
nen Geldern profitieren können. Noch fairer wäre sicher einem gruppennützigen Einsatz der verbleibenden Ab-
die direkte Rückzahlung an die Beitragszahlerinnen und satzfonds- und Holzabsatzfondsgelder. Gruppennützig
Beitragszahler, aber dies wird organisatorisch kaum zu kann für uns aber nur heißen: Verwendung im Sinne des
leisten sein. landwirtschaftlichen Gemeinwohls. Die Mittel müssen
der Landwirtschaft insgesamt zugutekommen und dem
Entsetzt bin ich nach wie vor darüber, dass sich die dauerhaften Wohl der Landwirtschaft und des Waldes
Bundesregierung und die damalige schwarz-rote Koali- dienen. Wir schlagen daher zur Verwendung der verblei-
tion vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts überra- benden Mittel aus dem Absatzfonds und dem Holzab-
schen lassen haben. Seriöse, vorausschauende Politik satzfonds die Einrichtung einer Stiftung Bäuerliche
sieht anders aus. Dabei hatte sich in der Anhörung im Landwirtschaft vor. Ziel der Stiftung sollte es sein, not-
Agrarausschuss des Bundestages am 7. März 2007 der wendige gemeinnützige Leistungen für die Land- und
Verdacht der Verfassungswidrigkeit sogar noch erhärtet. Forstwirtschaft zu fördern, die heute weder von der Pri-
Das habe ich der Bundesregierung auch klar gesagt. vatwirtschaft noch vom Staat in ausreichendem Maße
Aber sie hat bedingungslos am Zwangswerbebeglü- geleistet werden.
ckungsinstrument festgehalten, statt rechtzeitig einen Die vom Bundesrat geforderte Gruppennützigkeit be-
Plan B zu erarbeiten. Insbesondere gegenüber den Mit- steht im höchsten Maße da, wo es um die Erbringung
arbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtungen war landwirtschaftlicher Gemeingüter geht und wo dem
das grob fahrlässig. Die Fürsorgepflicht hätte verlangt, langfristigen landwirtschaftlichen Gemeinwohl gedient
sich rechtzeitig gemeinsam über Alternativen Gedanken wird. Die Land- und Forstwirtschaft lebt wie kein ande-
zu machen. rer Wirtschaftsbereich von den Vorleistungen vergange-
ner Generationen: Ohne die jahrhundertelange Züch-
Heute stehen wir vor einem weiteren Scherbenhaufen
tungsarbeit stünden die heutigen Kulturpflanzen und
einer eitlen und ignoranten Regierungspolitik. Denn das
Nutztierrassen nicht zur Verfügung. Ohne den Aufbau
Werbekonzept des Absatzfonds wurde nicht nur ver-
der Bodenfruchtbarkeit über Generationen wären die
fassungswidrig finanziert, sondern es war unnütz. Der
(B) von der Linken benannte Sachverständige Professor heutigen Erträge in der Landwirtschaft nicht möglich. (D)
Nicht ohne Grund stammt der Begriff der Nachhaltigkeit
Dr. Tilman Becker vom Institut für Agrarpolitik und
aus der Forstwirtschaft, denn wie nirgendwo sonst ar-
Landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohen-
beitet im Forst eine Generation für die nächste, ernten
heim brachte es bei der Anhörung auf den Punkt. Die
wir heute, was unsere Vorgänger uns hinterlassen ha-
Arbeit der CMA sei herausgeworfenes Geld, unnütz und ben.
gehöre abgeschafft.
Der enorme ökonomische Druck in der Land- und
Die beiden Fonds sind nun – fast – Geschichte. Das Forstwirtschaft führt heute dazu, dass diese elementaren
ist im Grunde auch gut so. Leidtragende sind die Mitar- Gemeinleistungen immer weniger erbracht werden und
beiterinnen und Mitarbeiter von CMA, ZMP und Holz- dass die Nachhaltigkeit allzu oft dem kurzfristigen Profit
absatzfonds. Ich hoffe sehr, dass sie ihr Fachwissen und untergeordnet wird. Am Beispiel der Eiweißpflanzen er-
ihre Fähigkeiten nun sinnvoll an anderer Stelle zum leben wir heute, was passiert, wenn landwirtschaftliche
Wohle unserer Land- und Forstwirtschaft werden einset- Gemeingüter wie die langfristige Züchtungsarbeit nicht
zen können. mehr erbracht werden. Züchtung findet heute nur noch
da statt, wo ein großer Markt besteht. Kleinere, nur re-
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gional angebaute Sorten sind für Züchtungsunterneh-
men wirtschaftlich uninteressant. Das führt dazu, dass
Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsge- die Züchtungs- und Vermehrungsarbeit an vielen wichti-
richt die Zwangsabgabe der Land- und Forstbetriebe gen Kulturpflanzen, etwa bei den Leguminosen, ver-
zum Absatzfonds endlich für verfassungswidrig erklärt. nachlässigt wird. Ein wesentlicher Grund für den dra-
Jahrelang wurden Bäuerinnen und Bauern zu Unrecht matischen Rückgang des Eiweißpflanzenanbaus ist die
gezwungen, die unsinnigen und allzu oft geschmacklo- brachliegende Züchtung.
sen und frauenfeindlichen Werbemaßnahmen der CMA
sowie deren üppig ausgestatteten Apparat samt Funktio- Die Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft soll Pionier-
nären zu finanzieren. Nach der Abwicklung werden aus arbeit von Bäuerinnen und Bauern, Waldbäuerinnen
dem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 Millionen und Waldbauern fördern, die dem langfristigen Wohl der
Euro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro Land- und Waldwirtschaft dient. Nicht die Industrie,
verbleiben – Geld, das von den Bauern zu Unrecht ein- sondern die Pioniere, die insbesondere in der nachhalti-
gezogen wurde. Um das Unrecht komplett zu machen, gen Züchtungs- und Erhaltungsforschung, beim Aufbau
will die Bundesregierung dieses restliche Geld im Bun- der Bodenfruchtbarkeit und in der nachhaltigen Wald-
deshaushalt verschwinden lassen. bewirtschaftung wertvolle gemeinnützige Entwicklungs-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10181
Friedrich Ostendorff
(A) arbeit leisten, sollten durch eine solche Stiftung unter- Sie haben dafür gestimmt, mehr Atommüll zu produzie- (C)
stützt werden. Den Einsatz der Restgelder zur ren. Sie haben still und heimlich die Weichen dafür ge-
Exportförderung lehnen wir ab. Die Exportförderung stellt, dass Sachverständige aus alten Zeiten mittlerweile
dient allein kurzfristigen Einzelinteressen der Ernäh- wieder Sicherheitsanalysen in Gorleben durchführen.
rungsindustrie und ist nicht im Interesse der Landwirt- Das geht so nicht. Wenn Sie es mit dem Dialog ernst
schaft insgesamt. meinen, dann sollten Sie – dazu rufen wir Sie heute auf –
unserem Antrag zustimmen.
Wir fordern die Koalition auf, sich mit uns gemein-
sam für die Nutzung der Absatzfondsgelder im Sinne des (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
landwirtschaftlichen Gemeinwohls einzusetzen und zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
verhindern, dass die Gelder der Bäuerinnen und Bauern
im Bundeshaushalt verschwinden. Nachdem über die Worum geht es? Wir machen Ihnen, um in der Sozial-
Jahre Hunderte von Millionen Euro mit Unterstützung arbeitersprache zu reden, ein niedrigschwelliges Ange-
der Politik zu Unrecht eingezogen und in unsinnigen bot.
Kampagnen verschwendet wurden, müssen wenigstens (Heiterkeit bei der SPD)
die Restmittel im Sinne der nachhaltigen Land- und
Forstwirtschaft verwendet werden. Das ist das Min- Wir könnten viel mehr fordern, aber wir verlangen ei-
deste, was wir den Bäuerinnen und Bauern schuldig gentlich nur zwei kleine Signale. Ich denke, wenn man
sind. es ernst meinen würde, dann könnte man den beiden
Punkten zustimmen. Worum geht es?
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Erstens. Nehmen Sie das sogenannte Enteignungsge-
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- setz zurück. Sie setzen das schärfste Schwert des Grund-
wurfs auf Drucksache 17/4558 an die in der Tagesord- gesetzes ein und wollen dann einen Dialog führen. Das
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit passt nicht zusammen.
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia
Überweisungen so beschlossen.
Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf: Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hätten Sie
auch gemacht! Fragen Sie mal Ihren ehemali-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
gen Staatssekretär Machnig, was der in der
Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weite-
Pipeline hatte!)
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung Zweitens. Sie sind Parlamentarier. Herr Grindel, neh-
(B) men Sie Ihr Parlamentsrecht ernst und stimmen Sie (D)
– Drucksache 17/4678 – heute mit uns dafür, zumindest die Ergebnisse des Unter-
suchungsausschusses abzuwarten und bis dahin ein Mo-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ratorium für die Erkundung in Gorleben zu beschließen.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion das Diese Signale würden auch in Gorleben ankommen.
Wort.
Der Bundesumweltminister hat gegenüber der Han-
(Beifall bei der SPD) noverschen Presse erklärt, die Gegner seien feige und er
mutig. Ich frage: Was ist das für ein Mut, wenn man
Dr. Matthias Miersch (SPD): nach dem Motto „Mit dem Kopf durch die Wand“ han-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! delt? Was ist das für ein Mut, wenn man sagt: „Wir ge-
Am 14. Februar wird der Bundesumweltminister eine hen da rein. Es gibt keine Alternativen. Es ist egal, was
weitere Offensive in Gorleben starten; er ruft zu einem wir im Untersuchungsausschuss festgestellt haben und
sogenannten Dialog auf. Wahrscheinlich bereitet er sei- wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind“? Inwie-
nen Dialog gerade vor, sodass er der heutigen Debatte zu fern beweist der Bundesumweltminister Mut, wenn er
diesem Tagesordnungspunkt leider nicht beiwohnen nach Gorleben geht, um die Entscheidung zu vertreten?
kann. Die Folgen dieser Entscheidung müssen letztlich andere
ausbaden. Wenn sich herausstellt, dass Gorleben alles
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU andere als geeignet ist, ist der Bundesumweltminister
und der FDP, Sie haben heute die Chance, ein Zeichen garantiert nicht mehr in dieser Verantwortung, sondern
zu setzen, damit am 14. Februar keine Alibiveranstal- bestenfalls Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen.
tung stattfindet. Sie haben heute Abend die Gelegenheit,
hier zu beweisen, dass es nicht um eine Art Pseudodia- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
log geht, auch nicht um ein Handeln nach dem Motto der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Was Sie
„Diktat statt Dialog“ geht, wie Sie es in den letzten Mo- alles wissen!)
naten vorgemacht haben.
Ich glaube, es ist an der Zeit, zu erkennen, dass man
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben Sie hier mit diesem Thema sehr sorgfältig umgehen und Alterna-
all die Monate gemacht? Sie haben Fakten geschaffen. tiven in Betracht ziehen muss. Der Umweltminister sagt,
10182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Matthias Miersch


(A) Gorleben bzw. die Endlagersuche sei eine nationale He- Dass die Erkundung auf Grundlage des Bergrechts so- (C)
rausforderung. Ich frage Sie: Warum wird diese natio- wohl rechtens als auch angemessen ist, ist bereits zwei-
nale Herausforderung nur in Gorleben gesucht? Das mal, 1990 und 1995, höchstrichterlich bestätigt worden.
kann doch nicht die wahre Antwort sein. Uns liegen in-
(Ulrich Kelber [SPD]: Nicht mehr gültiges
zwischen Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchun-
Bergrecht! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]:
gen vor – Stichwort: Gasvorkommen –, durch die – und
Da muss man Jurist sein und nicht Sozialarbei-
die Asse beweist das – massive Zweifel an der Eignung
ter, um das zu verstehen, Herr Miersch! – Ge-
von Salzformationen geweckt werden.
genruf des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD]:
Ich glaube, die überparteiliche Initiative, deren ganz- Im Gegensatz zu Ihnen bin ich das sogar!)
seitige Anzeige wir heute in der Elbe-Jeetzel-Zeitung le-
Ich zitiere aus dem Urteil. Dort steht ausdrücklich, dass
sen können, hat recht. Es geht darum, dass man Verant-
die untertägige Erkundung eines Standorts noch nicht
wortung ernst nimmt, dass man die Risiken ernst nimmt.
der Beginn der Errichtung einer entsprechenden Anlage
Wir müssen für nachfolgende Generationen eine gute
sei und deshalb auch die Planfeststellung nach Atom-
Lösung finden. Wir dürfen nicht in zehn Jahren plötzlich
recht nicht notwendig und auch nicht sinnvoll sei, weil
vor dem Dilemma einer fehlenden Alternative stehen,
noch offen gelassen werden müsse, ob denn an diesem
weil wir diese Frage nicht beantwortet haben. Die An-
Standort eine solche Anlage tatsächlich errichtet werden
zeige schließt mit den Worten:
könne oder nicht.
Reden Sie nicht von Verantwortung – handeln Sie
Es gehört einfach zur politischen Kultur in einer De-
verantwortlich!
mokratie und einem Rechtsstaat,
Dass Sie verantwortlich handeln wollen, können Sie (Ulrich Kelber [SPD]: Aktuelles Recht zu ver-
heute beweisen. Das wäre ein erstes Zeichen, liebe Kol- wenden!)
leginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP. Wir
sind gespannt, wie Sie sich verhalten. dass man höchstrichterliche Urteile auch dann akzep-
tiert, wenn sie einem nicht passen. Der Minister hat
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. mehrfach zugesagt: Die Erkundungsarbeiten sollen er-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gebnisoffen sein. Sie sollen unter Beteiligung der Öf-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fentlichkeit, der kommunalen Mandatsträger und der
Bürgerinitiativen vorgenommen werden.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Ulrich Kelber [SPD]: Warum macht man das
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria dann ohne Bürgerbeteiligung?)
(B) (D)
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
Zusätzlich soll es im Rahmen eines Peer-Review-Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fahrens eine Überprüfung durch internationale Experten
geben. Erst danach findet gegebenenfalls eine Planfest-
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): stellung nach Atomrecht statt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Heute Abend geht es mal wieder um Gorleben. Nach- NEN]: Erklären Sie doch einmal, warum man
dem man sich in den 60er- und 70er-Jahren des letzten das alte Bergrecht nimmt!)
Jahrhunderts im Konsens aller damals agierenden Par-
teien für die friedliche Nutzung der Kernenergie ent- Jetzt geht es zunächst um die Zusammenfassung und
schieden hat, lagert inzwischen der gesamte Müll in Bewertung der bislang erhobenen Daten aus der Erkun-
oberirdischen Zwischenlagern, verteilt über die ganze dung im Rahmen einer vorläufigen Langzeitsicherheits-
Republik. Das entspricht tatsächlich keinen guten Si- analyse. Ich kann nachfühlen, dass die Seriosität der Si-
cherheitsstandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Bun- cherheitsanalyse von Gorleben-Kritikern in Zweifel
desminister Röttgen den Erkundungsstopp, der vor zehn gezogen werden kann und dass sie sagen: Es sind mögli-
Jahren von Rot-Grün beschlossen wurde, aufgehoben cherweise nicht die richtigen Experten, nicht die richti-
hat und der Salzstock in Gorleben seit Oktober 2010 gen Fragen, die letztendlich auf den Tisch kommen.
wieder ergebnisoffen erkundet wird. Herr Röttgen bietet ganz konkret die Einbeziehung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Kritiker an, um tatsächlich alle stritten Fragen zu be-
trachten und um kritische Experten mit einzubeziehen.
In Ihrem heute zu diskutierenden Antrag, liebe Kolle- Das wird der Minister sicherlich bei seinem Besuch in
gen von der SPD, wiederholen Sie schon oft vorgetra- Lüchow-Dannenberg am 14. Februar konkretisieren.
gene Argumente, die durch Wiederholung nicht besser
werden. Meine Damen und Herren, ich kann Menschen verste-
hen,
(Ulrich Kelber [SPD]: Müssen sie auch nicht!
Sie waren schon vorher gut!) (Ulrich Kelber [SPD]: Die auf aktuellem
Recht bestehen!)
Die Weitererkundung sei schon deshalb abzulehnen,
die die friedliche Nutzung von Kernenergie zur Stromer-
weil nach Bergrecht vorgegangen werde.
zeugung für nicht verantwortbar halten. Ich akzeptiere
(Ulrich Kelber [SPD]: Veraltetes Bergrecht!) aber nicht, dass versucht wird, mit der Verzögerung der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10183
Dr. Maria Flachsbarth
(A) Endlagersuche die Nutzung von Kernenergie zu diskre- Johanna Voß (DIE LINKE): (C)
ditieren. Frau Flachsbarth, wir waren heute im gleichen Unter-
suchungsausschuss. Es ist zum wiederholten Male er-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- klärt worden, dass das Wort „eignungshöffig“ nicht ge-
NEN]: Sie verzögern!) eignet ist, um im Zusammenhang mit der Eignung von
Deshalb ist die Forderung der SPD, einen Erkundungs- Gorleben als Endlager für radioaktiven Müll benutzt zu
stopp zu veranlassen, um das Ergebnis des Untersu- werden.
chungsausschusses abzuwarten, nichts anderes als ein Die Eignungshöffigkeit ist ein Begriff aus dem Berg-
weiterer untauglicher Versuch, zu verzögern. bau. Ich sage es Ihnen gerne noch einmal. Diesen Begriff
können wir verwenden, wenn ein Bergwerk aufgefahren
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wird und erkundet werden soll, ob es dafür taugt, dass
Wenn die rot-grüne Bundesregierung im Juni 2000 in Bodenschätze gefördert werden. Wenn erwartet werden
der sogenannten Ausstiegsvereinbarung schriftlich die kann, dass genügend Bodenschätze zutage treten, spricht
Eignungshöffigkeit des Standortes bescheinigt – ich zi- man von Eignungshöffigkeit. Wenn Atommüll, der
tiere: „Somit stehen die bisher gewonnenen geologi- nichts mehr wert ist und bei dem es sich nicht um einen
schen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstocks Wertstoff handelt, eingelagert werden soll – darüber sagt
Gorleben … nicht entgegen.“ –, dann verstehe ich ein- das Bergrecht überhaupt nichts aus –, sagt das Wort „eig-
fach nicht, nungshöffig“ gar nichts, aber auch gar nichts aus.

(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist keine Bescheini- Ebenso wenig kann nach dem veralteten Bergrecht
gung! Das wissen Sie auch!) darüber geurteilt werden, ob Gorleben ein geeigneter
Standort für ein unterirdisches Atommülllager sein kann.
warum jetzt nicht weiter untersucht werden kann, ob Ich möchte wissen, ob das bei Ihnen nicht angekom-
sich diese Eignungshöffigkeit tatsächlich verifizieren men ist, ob Sie das nicht wissen wollen und warum Sie
lässt. Ich frage mich auch, warum gerade in dieser Wo- so hartnäckig dieses Wort, das nicht zutreffend ist, ver-
che eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie wenden.
veröffentlicht wird, die angeblich die Untauglichkeit des
Salzstocks zur Endlagerung wegen des Vorkommens
von Kondensaten, Öl und Gas nachweist. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):
Liebe Frau Kollegin Voß, ich schlage vor, dass Sie zu-
Ich stelle dazu fest: Erstens. Die Erkundungsbefunde, nächst einmal die rot-grünen Kollegen fragen, wie das
die dieser Studie zugrunde liegen, sind mindestens zehn Wort „eignungshöffig“ in diese Ausstiegsvereinbarung
(B) Jahre alt. Zweitens. Die Weiteruntersuchung dieser Fra- geraten ist. (D)
gestellung wurde durch das Moratorium verhindert.
(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wenn es sich um eine völlig unzutreffende Vokabel


handeln sollte, dann verstehe ich nicht, warum Politiker-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
generationen vor uns diese Vokabel benutzt haben. Wir
Kollegin Voß?
nutzen Sie vielleicht noch zum historischen Andenken.

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):


(Ulrich Kelber [SPD]: In der Ausstiegsverein-
barung hat es keine Bedeutung!)
Aber sehr gern, aber erst dann, wenn ich diese Pas-
sage beendet habe. Außerdem kommt das Bergrecht lediglich hinsicht-
lich der Untersuchung dieses Salzstocks zur Anwen-
Drittens. Die Daten sind öffentlich zugänglich; denn dung, um festzustellen, ob sich ein atomrechtliches Plan-
sonst hätte Greenpeace sie letztendlich nicht bewerten feststellungsverfahren lohnt. Genau das hat uns das
lassen können. Viertens. Warum wurde denn dann diese Bundesverwaltungsgericht in den Jahren 1990 und 1995
Studie nicht schon viel früher vorgelegt? bestätigt. Es hat gesagt, dass es überhaupt nicht zulässig
ist, bei der Untersuchung eines Salzstocks das Atom-
(Ulrich Kelber [SPD]: Das Öl wird nicht versi-
recht zugrunde zu legen, weil die erforderlichen Daten
ckert sein!)
noch gar nicht vorhanden sind.
Sie hatten eigens dazu eine zehnjährige Denkpause ein- (Ulrich Kelber [SPD]: Aber wenigstens das
geschoben. Ich denke, es war keine Pause vom Denken, aktuelle Bergrecht!)
sondern eine Pause zum Denken.
Diese müssen erst im Rahmen eines bergrechtlichen Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – fahrens erarbeitet werden. Danach findet selbstverständ-
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren statt.
NEN]: Das müssen Sie aber Greenpeace fra-
gen!) Man kann in einer Demokratie nicht mehr machen,
als politische Entscheidungen und Verwaltungsentschei-
dungen höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Wenn sie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: überprüft sind, dann muss man diese Urteile akzeptieren.
Frau Kollegin Voß, bitte. Denn sonst lässt sich Rechtsfrieden, der für eine zu-
10184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Maria Flachsbarth


(A) kunftsfähige Politik dringend notwendig ist, nicht erzie- dem diese Rechte verbrieft sind und nicht vom Minister (C)
len. je nach Gusto eingezogen und erteilt werden können?
Glauben Sie nicht, dass die Bürger Sie ernster nehmen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
würden, wenn sie das Recht hätten, das seit zwei Jahr-
neten der FDP)
zehnten jeder andere Bürger in dieser Republik hat,
Ich frage mich: Warum versucht man mit allen Mit- wenn etwas nach Bergrecht geplant wird? Warum trauen
teln, die Weitererkundung in Gorleben zu verhindern, Sie sich da nicht? Sie können nicht daran vorbeireden.
die unter Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung, der
(Michael Kauch [FDP]: Lassen Sie sich auf
kommunalen Mandatsträger, der Kirchen, der Bürgerini-
die Rednerliste setzen! Dann müssen wir nicht
tiativen, kritischer Wissenschaftler und unabhängiger
länger machen!)
ausländischer Wissenschaftler in einem transparenten
Verfahren erfolgt?
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):
(Patrick Döring [FDP]: Weil man weiß, dass es
Weil wir, ehrlich gesagt, Herr Kelber, mitten im Ver-
geeignet ist!)
fahren sind, eigentlich auf den letzten Metern eines
Ich frage mich: Warum hat die Opposition eigentlich sol- 100-Meter-Laufes, die wir jetzt hinter uns bringen wol-
che Angst vor der Wahrheit in Gorleben? len,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind derartig dreist NEN]: Jetzt wird es aber abenteuerlich!)
frech!)
um so zügig wie möglich endlich herauszufinden, ob
Deutschland hat in einem demokratisch legitimierten dieser Salzstock in Gorleben geeignet sein könnte oder
Entscheidungsprozess und im großen gesellschaftlichen nicht.
Konsens vor circa 50 Jahren mit der Nutzung der Kern-
energie zur Stromerzeugung begonnen. Wir sind jetzt (Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen sollen die
aufgefordert – dies ergibt sich aus der Verantwortung Bürger nicht stören?)
von Demokraten für das Gemeinwesen, die auch für Minister Röttgen hat ausdrücklich angeboten, dass es
Konsequenzen aus dem Handeln und Entscheiden in der Beteiligung geben wird, sowohl in Bezug auf die Benen-
Vergangenheit einstehen müssen –, uns ernsthaft und nung der Expertinnen und Experten im Rahmen der
zielorientiert der Aufgabe der Entsorgung zu stellen. Langzeitsicherheitsanalyse als auch in Bezug auf das
Stellen eigener Fragen zu kritischen Punkten bezüglich
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: des Salzstocks Gorleben. Ich nenne die Gorlebener (D)
Frau Kollegin, auch Herr Kelber hat den Wunsch Rinne und Kondensatvorkommen. Hier ist es ohne
nach einer Zwischenfrage. Zweifel so, dass Experten von außen mithelfen sollen,
diese Punkte zu verifizieren oder zu falsifizieren. Auf je-
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): den Fall wollen wir jetzt zügig Klarheit darüber bekom-
Das ist fantastisch. Dann habe ich noch mehr Rede- men, ob dieser Salzstock als Endlager geeignet ist oder
zeit; das ist klasse. nicht, ob dort ein atomrechtliches Planfeststellungsver-
fahren eröffnet werden sollte oder nicht. Herr Kelber, ich
kann die Behauptung, dass dieses Verfahren die Interes-
Ulrich Kelber (SPD): sen der Menschen vor Ort nicht vollumfänglich mit be-
Wenn die längere Redezeit hilft, die Sachlage aufzu- rücksichtigt, nicht nachvollziehen.
klären, ist das in Ordnung.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das war nicht meine
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Frage!)
Genau, Herr Kelber. Ich kann nicht erkennen, Herr Kelber, dass das Insis-
tieren auf den Wortlaut aktualisierter Gesetze die Situation
Ulrich Kelber (SPD): wirklich verbessert. Hier verweise ich auf Stuttgart 21, wo
Sie versuchen in jeder Rede, immer und immer wie- tatsächlich alles an öffentlicher Beteiligung, so wie die
der mit den gleichen Worten die Behauptung aufzustel- Gesetze es vorschreiben, und an parlamentarischen Ent-
len, die Opposition hätte Angst vor dem klaren transpa- scheidungsprozessen, so wie die Gesetze es vorschreiben,
renten Verfahren, das Schwarz-Gelb gewählt hat. erfolgt ist, aber dennoch keine öffentliche Akzeptanz er-
zielt worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass die
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Weitere Menschen vor Ort, die Bürgerinitiativen, die Kirchen, die
Zurufe von der CDU/CSU) Gewerkschaften, die kommunalen Vertreter, jeder, der ein
– Ja, gröhl, gröhl, gröhl, das geht wunderbar. – Warum berechtigtes Interesse hat, in diesen Prozess einbezogen
verwenden Sie zwar das Bergrecht – darauf bestehen werden.
Sie; gerade haben Sie sich zum Atomrecht geäußert –, (Ulrich Kelber [SPD]: Danke, das war erhel-
nehmen aber das veraltete Bergrecht, das weder den Ex- lend! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel
pertinnen und Experten noch den Bürgerinnen und Bür- [CDU/CSU]: Bitte schön! Dann ist ja gut!)
gern die Beteiligung rechtlich zusichert, und nicht etwa
das vor einigen Jahrzehnten novellierte Bergrecht, in – Wenn das so ist, freue ich mich ganz besonders.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10185
Dr. Maria Flachsbarth
(A) (Ulrich Kelber [SPD]: Das war erhellend in Ich möchte zwei Stellen aus diesem offenen Brief zi- (C)
Bezug auf Ihre Motivation!) tieren.
Wir bieten Ihnen an, an diesem Dialogprozess mitzu- Sie aber
wirken. Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Dialog-
prozess unterstützen würden, sodass wir unserer gesell- – so dieser offene Brief –
schaftlichen Verantwortung für diesen Standort, aber bieten uns lediglich einen „Dialog“ an, der „die Ar-
auch für die Entsorgung von hochradioaktiven Abfällen beiten im Salzstock Gorleben begleiten“ soll. Wäh-
gemeinsam nachkommen können. rend dort die Baumaschinen bereits Fakten schaf-
Vielen Dank. fen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es wird deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger betrach-
ten das als eine Alibiveranstaltung und haben das Ge-
fühl, es werden Tatsachen geschaffen, wie seit 30 Jahren
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Tatsachen geschaffen werden, ohne dass sie wirklich ge-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner hört und ihre Ängste und Bedenken wahrgenommen
für die Fraktion Die Linke. werden.
(Beifall bei der LINKEN) Weiter heißt es:
Herr Bundesumweltminister, wir wollen eine offene
Dorothee Menzner (DIE LINKE): und transparente Debatte über das Atommüllprob-
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! lem. In ganz Deutschland. Keinen regionalen
Wenn es der Bundesregierung um einen Dialog mit den Scheindialog.
Bürgerinnen und Bürgern des Wendlands gegangen
wäre, dann hätte sie nicht ein Dreivierteljahr verstrei- Recht haben die Bürgerinnen und Bürger; das wird Wo-
chen lassen, nachdem die Bürgerinitiativen, die örtlichen che für Woche auch im Untersuchungsausschuss deut-
Initiativen und der Kreistag um ein Gespräch gebeten lich. Es wird in diesem Land nicht über die Frage disku-
haben. Darum wurde letztes Jahr im Frühjahr oder Früh- tiert: Wohin mit dem Müll, den wir seit 50 Jahren
sommer gebeten. Aber nein, erst jetzt hat der Minister produzieren? Es wird weiter in Gorleben erkundet, ob-
Zeit: erst jetzt, nachdem das Atomrecht verändert wurde, wohl seit 30 Jahren klar ist, dass es zumindest sehr große
erst jetzt, nachdem die Laufzeiten der Atomkraftwerke Zweifel an der Eignung dieses Salzstockes gibt.
verlängert wurden. Es wird weiter erkundet, weil dieser Salzstock der
(B) (Patrick Döring [FDP]: Sagen Sie doch mal, Entsorgungsnachweis für die in Betrieb befindlichen (D)
wie oft andere Umweltminister da waren! Gar Atomkraftwerke ist. In dem Moment, in dem klar wäre,
nicht!) dass Gorleben ungeeignet ist, müssten die Betriebsge-
nehmigungen zurückgenommen werden. Dass das im
Was bedeutet die Laufzeitverlängerung? Die Lauf- Moment politisch nicht passt, ist vollkommen klar. Aber
zeitverlängerung bedeutet circa 500 weitere Castoren daran wird deutlich, dass im Moment, genau wie in den
mit hochradioaktivem Müll. letzten 30 Jahren, nicht die Sicherheit der Bürgerinnen
(Patrick Döring [FDP]: Das debattieren wir und Bürger, nicht der Stand von Wissenschaft und Tech-
jetzt aber nicht!) nik und nicht die Sorge um zukünftige Generationen im
Fokus Ihrer Betrachtungen stehen, sondern nur der Wei-
Die Änderung des Atomgesetzes – sie wurde angespro- terbetrieb und die Möglichkeit, den Konzernen weiterhin
chen – bedeutet unter anderem, dass Enteignungsmög- Geld zuzuschustern. Das hören wir Woche für Woche
lichkeiten geschaffen wurden, um Gorleben – so nennt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
man es – weiter zu erkunden.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus der heuti-
Dass jetzt ein Gespräch stattfinden soll, das müssen gen Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der ein
die Bürgerinnen und Bürger, das muss der Kreistag als mit der Erkundung befasster Ingenieur sagte:
Alibiveranstaltung verstehen. Sehr deutlich formuliert er
dies in einem offenen Brief, der von allen möglichen ge- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt ja
sellschaftlichen Gruppen und fast allen Fraktionen im gar nicht!)
Kreistag unterschrieben ist, übrigens auch von der FDP- Selbst mit den besten technischen Bauwerken – die man
Fraktion. bei Brücken oder Tunneln vielleicht verantworten kann,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ute Vogt die man bei Zeiträumen von 1 Million Jahre aber nicht
[SPD]: Hört! Hört! – Patrick Döring [FDP]: verantworten kann, weil man die Havarie unter Umstän-
Wir sind hier aber im Bundestag und nicht im den nicht mehr feststellen wird – und unterirdischen
Kreistag! – Gegenruf des Abg. Frank Schwabe Maßnahmen wird man aus einem maroden Kübelwagen
[SPD]: Aber Sie benehmen sich, als wären Sie keinen Mercedes machen. – Genau darum geht es. Es ist
in einem Kreistag!) längst widerlegt, dass die Grundvoraussetzungen, die Sie
am Anfang immer eingefordert haben, zum Beispiel ein
Wie ich höre, ist auch die CDU-Fraktion nicht besonders intaktes Deckgebirge, erfüllt sind. Sie versuchen weiter-
glücklich über das Vorgehen. hin, Möglichkeiten zu finden, um diesen Salzstock zu
10186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dorothee Menzner
(A) rechtfertigen, obwohl längst deutlich ist: Die Eignung ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
nicht gegeben.
Meine Damen und Herren, wir finden in Ihrem An-
Ich danke. trag das große Wehgeschrei darüber, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Die
(Beifall bei der LINKEN und der SPD – Patrick Arbeiten im Rahmen der Erkundung betreffen die Natur;
Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!) es sind bergmännische Tätigkeiten. Es geht um Fragen
der Geologie und Hydrologie. Diese Aspekte finden na-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: türlich im Bergrecht ihren Niederschlag.
Angelika Brunkhorst ist nun die nächste Rednerin für
die FDP-Fraktion. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Warum dann altes Bergrecht?)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Das Atomrecht kümmert sich um Strahlenschutz. Im
Moment gibt es im oder um den Berg herum allerdings
noch keine strahlenden Abfälle. Deswegen ist das Atom-
Angelika Brunkhorst (FDP): recht im Moment nicht relevant.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD nimmt das Angebot des Bundesumweltminis- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
ters zum offenen Dialog mit den Bürgern vor Ort heute GRÜNEN]: Natürlich, am Berg! Zwischenla-
zum Anlass, um erneut die Unterbrechung der Erkun- ger!)
dungsarbeiten für die Dauer des Untersuchungsaus-
– Die Zwischenlager sind auf Initiative des damaligen
schusses zu fordern. Das haben Sie schon mehrfach ver-
Umweltministers Trittin eingerichtet worden, Frau
sucht. Sie wissen ganz genau, dass das unsinnig ist;
Kotting-Uhl. Bitte erinnern Sie sich doch einmal.
(Ute Vogt [SPD]: Weil Sie sich nicht trauen!)
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
denn im Untersuchungsausschuss zu Gorleben wird das NEN]: Aber reden Sie nicht so einen Mist, da
Regierungshandeln der Vergangenheit untersucht, nicht sei kein hochgradig strahlender Müll in der
aber die Eignung bzw. Nichteignung Nähe!)
(Ute Vogt [SPD]: Das wirkt doch bis heute Im Untersuchungsausschuss ist auch klar geworden,
nach!) dass es bereits in der Vergangenheit Öffentlichkeitsbetei-
ligung, Aufklärung und Informationen gab.
des Salzstockes Gorleben festgestellt.
(B) (Ute Vogt [SPD]: Ja, bei der sozial-liberalen (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Koalition, als Sie noch liberal waren!)
Das sollten wir hier doch noch einmal festhalten. Es sind viele Fachvorträge gehalten worden. Es sind
Ihre Forderung ist entlarvend; das hat meine Vorred- Bohrergebnisse veröffentlicht worden, und es ist natür-
nerin, Frau Flachsbarth, auch schon gesagt. Es geht Ih- lich auch die Gorleben-Kommission zur Information der
nen nicht um Aufklärung, um zu wissen, was mit dem Kommunalpolitiker und Verbände eingerichtet worden.
Salzstock ist, sondern es geht Ihnen darum, die Entschei- Letztendlich hat es auch das Informationszentrum gege-
dung über die Endlagerfrage weiter zu verzögen. Ich ben. Insofern können wir uns überhaupt nicht darum he-
kann Ihnen sagen: Das machen wir so nicht mit. Denn rumdrücken.
dem Bund obliegt die Aufgabe, die Endlagersuche vo-
Die Erkundungen werden fortgeführt.
ranzutreiben. Die christlich-liberale Koalition stellt sich
dieser Verantwortung, und wir werden diesen Standort (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auch weiterhin ergebnisoffen erkunden lassen. Das NEN]: Sie werden scheitern!)
heißt, wenn er nicht geeignet ist, dann wird dort auch
kein Endlager gebaut. – Warten Sie es doch ab.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Darüber hinaus wollen Sie, dass wir die Möglichkeit
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Enteignung zurücknehmen. Es gibt zwei Gründe,
NEN]: Jahre verloren!) weswegen wir das nicht machen werden.

Ich muss an dieser Stelle noch einmal sagen: In den Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf. Da
rund zehn Jahren, in denen die SPD mit an der Regierung muss ich Ihnen sagen: Über Gesetzesänderungen ent-
war – ich betone dies natürlich immer wieder gerne –, scheiden immer noch wir im Parlament, also der Deut-
sind wir keinen Schritt weitergekommen. Damals wurde sche Bundestag. Insofern ist die Bundesregierung der
der Ausstiegskonsens mit dem Hinweis bestätigt, dass falsche Adressat.
die geologischen Befunde nicht gegen eine Eignungs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
höffigkeit des Standorts Gorleben sprechen. Darüber
kann man sich ja streiten, aber ich frage Sie: Warum ha- Zweitens. Die Möglichkeit der Enteignung ist das al-
ben Sie diese zehn Jahre verdammt noch mal nicht ge- lerletzte Mittel zur Sicherstellung der Endlagerung. Das
nutzt? – Sie hätten vieles auf den Weg bringen können. Grundgesetz und auch viele Fachgesetze sehen die Ent-
Es ist aber nichts passiert. eignung als Ultima Ratio für Großprojekte ausdrücklich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10187
Angelika Brunkhorst
(A) vor. Sie wird natürlich nur dann zur Anwendung kom- Die Aufhebung von den Enteignungsvorschriften (C)
men, wenn es absolut unumgänglich ist. … kann nur so verstanden werden, dass ein Endla-
ger nicht ernsthaft verwirklicht werden soll.
Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dass
die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags des Bundes, Wollen Sie sich anheften lassen, dass Sie gar kein Endla-
eine Endlagereinrichtung zu erkunden und einzurichten, ger wollen? Sie waren ja auch dafür, das Moratorium bis
durch die Weigerung eines einzigen Eigentümers ge- in alle Ewigkeiten fortzuführen. Man muss Ihnen wirk-
stoppt werden kann. Die Rechte und Möglichkeiten des lich unterstellen, dass Sie am Endlager nicht wirklich in-
Eigentümers, das Land zu nutzen, um weiterhin Land- teressiert sind.
und Forstwirtschaft zu betreiben, werden noch nicht ein-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mal beeinträchtigt. Vielmehr geht es darum, im tiefen
Untergrund Schächte auffahren zu können, um Erkun- Ich sehe die 12. Atomgesetz-Novelle als richtige Vo-
dungen vorzunehmen. raussetzung an. Sie wird uns handlungsfähig machen. Je-
der Eigentümer kann die Rechtmäßigkeit der Enteignung
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
natürlich auch gerichtlich überprüfen lassen.
NEN]: Das ist ja wohl nicht wahr, was Sie uns
jetzt erzählen!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
– Doch, das ist wahr. Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Bereits
von 1998 bis 2002 war die Enteignungsmöglichkeit Be- Angelika Brunkhorst (FDP):
standteil des Atomgesetzes. Wenn Sie von der SPD oder Ja. – Ich möchte gerne noch Frau Menzner ganz kurz
vielleicht auch andere hier im Raum daran glauben, ansprechen. Sie haben gesagt. Wenn Gorleben als mögli-
cher Standort entfällt, dann ist die Laufzeitverlängerung
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Ihre eigene
nicht mehr legitimiert. – Ich muss Ihnen sagen: Auch un-
Kreistagsfraktion doch auch!)
ter Rot-Grün sind die Kernkraftwerke gelaufen. Auch
dass man solche Großprojekte konsensual durchsetzen damals hatte man Zwischenlager. Wir haben diese Zwi-
kann, dann bewundere ich Sie für Ihre Träume. schenlager weiterhin. Die Zwischenlager waren und sind
Legitimation dafür, dass die Laufzeiten auch verlängert
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Vertrauen Sie werden können.
den Bürgern nicht? – Ute Vogt [SPD]: Schauen
Sie in die Schweiz!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(B) Dr. Matthias Miersch [SPD]: Dann können Sie (D)
– Auch dort wird es Proteste geben, wenn es letztlich zur das jetzt ja erst einmal stoppen!)
Umsetzung kommt.
Ich möchte hier an dieser Stelle noch einmal zwei Zi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tate bringen: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Es hat 2001 ja eine Anhörung zum Atomkonsens ge-
geben. Das BfS hat dort damals gesagt – ich zitiere –:
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Enteignungsvorschriften werden zwar zurzeit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nicht benötigt, müssen aber zum gegebenen Zeit- Was hat die Koalition in Bezug auf Gorleben als Erstes
punkt im Atomgesetz vorhanden sein. getan? Sie hat die Wiederaufnahme der Arbeiten an Gor-
leben beschlossen, anstatt das Instrumentarium, das nach
In das gleiche Horn hat damals die Industriegewerk-
der Zeit von Rot-Grün endlich vorlag, zu nutzen, um
schaft Bergbau, Chemie, Energie gestoßen:
eine transparente, ergebnisoffene Endlagersuche vorzu-
Die jetzige Aufhebung dieser Bestimmungen wird nehmen.
alles andere als hilfreich sein, wenn die zügige Er- Warum sie das getan hat, ergibt sich logischerweise
richtung von Anlagen zur Endlagerung notwendig aus der geplanten und dann auch beschlossenen Lauf-
ist. zeitverlängerung. Es ging wieder einmal um den Entsor-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gungsvorsorgenachweis, den man dringend brauchte,
NEN]: Dass die FDP die IG BCE zitiert, habe und man konnte sich wieder einmal keine Verzögerung
ich auch noch nicht erlebt!) leisten. Das kennen wir ja spätestens aus dem Untersu-
chungsausschuss zu Gorleben. Es geht immer darum,
Derzeit gibt es weder im Bergrecht noch im Atom- dass die Zeit drängt und dass man vorankommen will,
recht Möglichkeiten der Enteignung zum Zwecke der weil man ein Atomprogramm im Kopf hat. So fügt sich
Erkundung. Deswegen haben wir das in den § 9 d ff. des eines zum anderen.
Atomgesetzes wieder eingeführt.
Als Nächstes haben Sie dann den § 9 d ins Atomge-
Ein weiterer Sachverständiger, Herr Professor Georg setz eingefügt. Sie wollen nach Atomrecht enteignen,
Hermes – er ist Professor für Öffentliches Recht –, hat in um dann nach Bergrecht weiterzubauen, und zwar nach
dieser Anhörung damals gesagt – ich zitiere –: einem uralten Rahmenbetriebsplan von 1983, der in kei-
10188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Sylvia Kotting-Uhl
(A) ner Weise etwas mit dem zu tun hat, was dort seitdem (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein! Dann (C)
gebaut wurde. dürfen meine Kollegen das noch länger anhö-
ren!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Dann gehe ich gerne darauf ein. Aber auf Ihre dummen
Zwischenrufe, die ich schon aus dem PUA kenne, re-
Die Schächte stimmen nicht, die Erkundungsbereiche agiere ich nicht.
stimmen nicht, und die Richtstrecken gehen nach Nor-
den statt nach Süden. Nichts stimmt mit diesem alten (Michael Kauch [FDP]: Sie haben doch schon
Rahmenbetriebsplan überein. reagiert!)
Warum nehmen Sie den? Auch das liegt völlig auf der Ich mache weiter und zitiere noch einmal aus der
Hand: Sie wollen keine Öffentlichkeitsbeteiligung, es schönen Anzeige:
geht ausschließlich nach altem Bergrecht. Das ist der
Sicherheit steht für uns kompromisslos an allerers-
einzige Grund dafür, dass Sie das machen.
ter Stelle.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Warum ignorieren Sie dann das nicht intakte Deckge-
und bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Auf
birge, die Nähe zum Anhydrit und die Gasvorkommen?
den letzten Metern des 100-Meter-Laufs dür-
Warum werden warnende Wissenschaftler diskreditiert?
fen die Bürger nicht mehr stören!)
Warum das alles, wenn Sicherheit kompromisslos an ers-
Jetzt bieten Sie großzügig den Dialog an. Ich habe ter Stelle steht? Das glauben Ihnen die Menschen vor Ort
diese schöne große Anzeige, mit der hier geworben wird, nicht mehr, und zwar zu Recht.
einmal mitgenommen und möchte einfach einmal ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
paar Stellen daraus zitieren. Sie werben:
bei der SPD und der LINKEN)
Sollte sich der Salzstock als ungeeignet erweisen,
Anschließend soll ein Peer Review das Ganze heilen.
müssen wir neue Wege finden.
Wer aber hat denn weltweit Erfahrungen mit Salz? Kein
Worauf warten Sie denn? Sie sind offensichtlich da- Land außer Deutschland versucht Endlagerung im Salz.
von überzeugt – das stelle ich Ihnen anheim; Sie haben Wir haben die Erfahrungen in Asse und Morsleben. Das
ja manchmal eigenartige Vorstellungen –, dass dieser sind die Erfahrungen mit Salz, die es gibt.
Salzstock trotz allem, was gerade Sie, liebe Kolleginnen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und Kollegen, im Untersuchungsausschuss hören, geolo-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(B) gisch geeignet ist. In Ihren Augen ist das so. Er ist aber KEN) (D)
gesellschaftspolitisch nicht geeignet. Wie wollen Sie
denn heilen, dass dort kein sozialer Prozess stattgefun- Ich zitiere weiter:
den hat?
Zur Unterstützung des Dialogs werden finanzielle
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Mittel zur Verfügung gestellt – zum Beispiel für
bei der SPD und der LINKEN – Reinhard die Hinzuziehung von Experten, für Weiterbil-
Grindel [CDU/CSU]: Das ist etwas anderes! dungsmaßnahmen oder auch für geeignete Räum-
Dann sagen Sie mir einen gesellschaftlich ak- lichkeiten für Veranstaltungen. Wir stellen uns vor,
zeptierten Standort! Was ist denn das für eine in regelmäßigen Diskussionsveranstaltungen ge-
Argumentation? Wo ist denn der gesellschaft- meinsam über die Ergebnisse zu beraten. Außerdem
lich akzeptierte Standort? In Baden-Württem- muss es umfangreiche Möglichkeiten für Besuche-
berg?) rinnen und Besucher geben, sich selbst ein Bild
vom Erkundungsbergwerk Gorleben zu machen.
– Mit Ihnen rede ich im Moment gar nicht.
Das sagt ein Minister, der bis zum Beschluss der AtG-
Ich zitiere eine Zeugin aus dem Untersuchungsaus- Novelle den Salzstock Gorleben noch nie von innen ge-
schuss. Sie sagte: „Ich habe mein Vertrauen in Politiker sehen hatte.
verloren.“ Marianne Fritzen, eine konservative alte
Dame, ist die Begründerin der BI Lüchow-Dannenberg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Sie hat uns im Untersuchungsausschuss berichtet, dass bei der SPD und der LINKEN)
sie sich beobachtet, bedroht und mit ihren Fragen nicht
ernst genommen gefühlt hat und dass sie sich den Zu- Sie haben eine Menge Fehler gemacht. Sie haben
gang zur Gorleben-Kommission erschleichen musste, ohne Not die Laufzeitverlängerung und die Vermehrung
wenn sie an dem damaligen Dialogangebot teilnehmen des Atommülls beschlossen. Sie halten trotz aller Zwei-
wollte. fel an Gorleben fest und machen da weiter, wo Merkel
und Kohl 1998 gestoppt wurden. Als letzte vertrauens-
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt bildende Maßnahme schreiben Sie die Enteignung im
doch gar nicht! Die glatte Unwahrheit! Wenn Atomgesetz fest.
sie teilnehmen wollte, konnte sie teilnehmen!)
Jetzt kommen Sie mit einem vergifteten Dialogange-
– Das ist die Wahrheit, Herr Grindel. Sie dürfen gerne bot. Wundern Sie sich nicht, dass die Menschen vor Ort
eine Zwischenfrage stellen. das nicht annehmen. Es ist höchste Zeit, mit Menschen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10189
Sylvia Kotting-Uhl
(A) die ernst genommen werden müssen, anders umzugehen. begrenzt. Dieses Moratorium ist jetzt ausgelaufen, und (C)
Lernen Sie das! die logische Konsequenz ist ja dann, dass die von Ihnen
festgelegten zehn Jahre vorbei sind, sodass ergebnis-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
offen weiter erkundet wird.
bei der SPD und der LINKEN)
(Zuruf von der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es muss nun endlich Schluss sein! Zehn Jahre lang
Nun hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU- haben Sie diese Region und ihre Menschen in Geiselhaft
Fraktion das Wort. genommen, zehn Jahre lang haben Sie die Suche nach
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einem Endlager nicht vorangetrieben, auch anderswo
neten der FDP) nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Eckhard Pols (CDU/CSU):
Auch bis heute ist nicht klar, wie die SPD mit der Pro-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
blematik hochradioaktiver Abfälle umgehen will. Brin-
Herren! Ergebnisoffen und transparent soll der Salzstock
gen Sie doch erst einmal vernünftige, konkrete Kon-
Gorleben zu Ende erkundet werden. Dies war nicht nur
zepte!
ein Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf 2009,
sondern es wird von Minister Norbert Röttgen mit der Sie stellen sich überall auf die Marktplätze und tönen
Vorstellung des Dialoges auch eingelöst. herum, der Salzstock Gorleben sei ungeeignet und da-
rüber hinaus sowieso ein Schwarzbau. Aber während
Das Dialogkonzept wird, wie bereits gesagt wurde,
Ihrer Regierungszeit haben Sie es auch nicht fertig-
am kommenden Montag im Kreistag von Lüchow-Dan-
gebracht, das Projekt Gorleben einfach zu beerdigen.
nenberg in Hitzacker präsentiert. Ich finde es sehr inte-
ressant, Herr Dr. Miersch, dass Sie das Konzept schon (Zuruf von der LINKEN: Dann mach es doch
im Vorfeld als Pseudodialog und Makulatur verurteilen. besser!)
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Wenn Sie heute Den sogenannten Schwarzbau haben Trittin und Gabriel
nicht mitmachen! Dann ja!) jahrelang munter geduldet. Warum hat Rot-Grün denn
nicht den Deckel auf das Erkundungsbergwerk gelegt?
– Sie kennen es doch gar nicht. Nun warten Sie erst ein-
Erstens, weil Sie dann die Frage nach einem anderen
mal ab, was kommt. Die christlich-liberale Koalition
möglichen Standort hätten beantworten müssen. – Frau
wird die Menschen umfassend über jeden einzelnen
Vogt, in Baden-Württemberg.
Schritt der Sicherheitsanalyse, der Erkundungsmaßnah- (D)
(B)
men und auch des Peer Reviews umfassend informieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zweitens, weil die Herren Trittin und Schröder am
NEN]: Es gibt doch schon Anzeigen! Da steht 14. Juni – wir haben es schon gehört – die Äußerung un-
doch schon alles drin! – Ulrich Kelber [SPD]: terschrieben haben, dass die bisher gewonnenen geologi-
Informieren ist keine Bürgerbeteiligung!) schen Befunde einer Eignungshöffigkeit, Frau Voß, des
Salzstocks Gorleben – dieser Ausdruck kommt ja auch
– Hören Sie zu! – Zudem werden die Menschen in der
aus den Reihen von Rot-Grün – nicht entgegenstehen.
Region die Möglichkeit haben, sich bei der Gestaltung
Das haben sie unterschrieben.
des Dialoges einzubringen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie kommen Ihrer Auf- Ferner bemängeln Sie erneut, dass die Erkundung
nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Wir
gabe als Wahlkreisabgeordneter nicht nach!
Geben Sie Ihr Mandat zurück!) haben das schon gehört. Bloß, die Erkundung kann ja
nur nach Bergrecht erfolgen, weil es sich um ein Erkun-
Wir haben doch selbst ein großes Interesse daran, dass dungsbergwerk und nicht um eine nukleare Anlage han-
alle Argumente, egal ob für oder wider die Eignung Gor- delt.
lebens, auf den Tisch kommen. Ich kann Sie daher nur
alle einladen, meine Damen und Herren von der Opposi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tion, die ausgestreckte Hand des Ministers zu ergreifen Herr Kollege Pols, gestatten Sie eine Zwischenfrage
und sich an dem Dialog zu beteiligen. des Herrn Kollegen Kelber?
Als direkt gewählter Abgeordneter dieses Wahlkrei-
ses habe ich auch laufend mit dem Thema Gorleben zu Eckhard Pols (CDU/CSU):
tun. Die Menschen in der Region Gorleben und in der Herr Kelber.
Samtgemeinde Gartow sehnen sich nach einer Antwort,
ob der Salzstock Gorleben geeignet ist oder nicht. (Patrick Döring [FDP]: Der soll sich von seiner
Fraktion auf die Rednerliste setzen lassen!)
(Johanna Voß [DIE LINKE]: Sie fragen nicht
in Gorleben!)
Ulrich Kelber (SPD):
Sie argumentieren, wir hätten die Entscheidung zur Je häufiger Sie Nein schreien, desto mehr Spaß macht
Erkundung getroffen, ohne die Bürger zu beteiligen. es mir ja. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir kein
Rot-Grün hat das Moratorium auf maximal zehn Jahre Verfahren begonnen hätten, um auch mögliche andere
10190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Ulrich Kelber
(A) Standorte zu finden. Sie sind ja seit 2009 Mitglied des (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
Deutschen Bundestags. Haben Ihre Kolleginnen und
die wir im Bundesbaugesetzbuch finden.
Kollegen, die schon länger Mitglied sind, Sie nicht da-
rüber informiert, dass die Fraktion der CDU/CSU im Die Allgemeinheit muss also die Möglichkeit haben,
Jahr 2006 einen Entwurf für ein Endlagersuchgesetz in sich bei national bedeutsamen Maßnahmen auch über
der Großen Koalition abgelehnt hat? den Weg der Enteignung und der damit verbundenen
Entschädigung die entsprechenden Flächen – in diesem
(Beifall bei der SPD) Falle die Salzrechte in Gorleben – zu sichern.
Rot-Grün hat mit dem Moratorium die Region in eine
Eckhard Pols (CDU/CSU):
über zehnjährige Ungewissheit gestürzt. Ich finde es
Ja, darüber haben sie mich informiert, aber die Kolle- schon sehr anmaßend, dass ausgerechnet Sie glauben, zu
gen haben gleichzeitig gesagt, dass wir Gorleben zu wissen, wie die Bürgerinnen und Bürger das Dialogkon-
Ende erkunden wollen. Wir wollen die Erkundung von zept bewerten, zumal es ja noch gar nicht bekannt ist,
Gorleben nicht abbrechen; denn wir wollen wissen, was wie ich am Anfang auch schon ausführte.
in Gorleben möglich ist. Ist Gorleben geeignet oder
nicht? Das ist die ganz einfache Frage, die wir beantwor- Ich frage Sie: Wo war die Bürgerbeteiligung unter
ten wollen, und nichts anderes, Herr Kelber. Trittin, und wo war sie unter Gabriel? Die gab es gar
nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf
der Abg. Dorothee Menzner [DIE LINKE]) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Bürger beschweren sich jetzt! –
Frau Menzner, auch die Behauptung, das Angebot des Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dialogs komme zu spät, ist ein sehr schwaches Argu- NEN)
ment. Denn bereits im Mai 2010, also ein gutes halbes
Jahr nach der Bundestagswahl, hat sich Minister Röttgen Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, au-
gemeinsam mit gewählten Vertretern der Standortkom- ßer Ihrem Dagegensein präsentieren Sie leider wieder
munen – und das auch unter Beteiligung der örtlichen einmal gar nichts. Nehmen Sie doch lieber die Chance
SPD – darüber unterhalten, wie ein Dialog aussehen zum Dialog wahr, die wir Ihnen anbieten. Beteiligen Sie
könnte. sich mit naturwissenschaftlich fundierter Kritik an die-
sem Dialog zum Erkundungsprozess, und präsentieren
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja, sehen Sie uns Vorschläge, wie wir mit dem Problem dieser
Sie mal!) hochradioaktiven Abfälle verfahren sollen.
(B) Also ist dieses Argument auch nur ein Scheinargument. (Zuruf von der SPD: Ich dachte, Sie wüssten, (D)
dass es ein Endlager ist!)
Wir haben auch gegenüber den nachfolgenden Gene-
rationen die Pflicht, dieses Entsorgungsproblem zu lö- Dann nehmen wir Ihre Anträge wieder ernst. Ihr An-
sen. Denn unsere Generation hat die Kernenergie ge- trag ist viel zu dünn. Sie haben es gerade einmal auf eine
nutzt, wir haben davon profitiert. Zudem brauchen wir ja DIN-A4-Seite gebracht. Das ist angesichts dieses hoch-
auch eine Lösung für die Zeit – das ist ja das, was Sie brisanten Themas von nationalem Interesse sehr schwach.
auch wollen –, wenn die Kernkraftwerke zurückgebaut Vielen Dank.
werden. Dann müssen die kontaminierten Bauteile ja
auch irgendwo gelagert werden. Auch darüber muss man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
sich dann mal Gedanken machen. rufe von der SPD)
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
GRÜNEN]: Aber nicht im Salzstock von Gor-
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute
leben! Sie haben ja keine Ahnung! – Ulrich
Vogt für die SPD-Fraktion.
Kelber [SPD]: Sie haben überhaupt keine Ah-
nung!) (Beifall bei der SPD)
Dann noch mal zur Forderung, die Möglichkeit zur
Enteignung zurückzunehmen. In der Diskussion wird Ute Vogt (SPD):
immer wieder der Eindruck erweckt, wir würden dem Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin,
Grafen Bernstorff seinen Wald wegnehmen. Das ist na- mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Umweltminister zi-
türlich völliger Quatsch. Wir wollen auch keine Bürger tieren. Er sagt:
aus ihren Häusern vertreiben. Es geht hier tatsächlich um Da geht es nicht nur um Information und Transpa-
Salzrechte in Tausenden von Metern Tiefe, die wir gege- renz. Das ist das Angebot einer aktiven Teilhabe,
benenfalls mal erkunden wollen. das es so noch nicht gegeben hat.
(Zurufe von der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der SPD)
Die Möglichkeit zur Enteignung ist im Übrigen bei In- Nachdem im Deutschen Bundestag im Herbst letzten
frastrukturmaßnahmen natürlich eine ganz normale Jahres ein Gesetz verabschiedet worden ist, das die
rechtliche Regelung – Frau Brunkhorst hat das schon an- Müllmenge beim atomar strahlenden Müll um mehrere
gesprochen –, Tausend Tonnen zusätzlich erhöht, das für Gorleben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10191
Ute Vogt
(A) mehrere hundert Castoren zusätzlich bedeutet, nachdem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
Sie im Herbst 2010 beschlossen haben, dass in Gorleben DIE GRÜNEN)
Enteignungen stattfinden sollen und es zur Neuerkun-
dung des Bergwerks kommt, stellt sich der Minister hin Das ist ein falsches Rechtsverständnis, das Sie hier an
und erzählt etwas von einem Dialog. Das ist kein Dialog. den Tag legen.
So, wie der Minister es vorbringt, ist es ein Pseudodia- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
log, der die Menschen im Wendland verhöhnt. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es war interessant, dass Sie vorhin selbst gesagt ha-
DIE GRÜNEN) ben – das fand ich bemerkenswert, liebe Frau
Flachsbarth –, es gehe bei Gorleben um die letzten Me-
Ein Dialog hat dann einen Sinn, wenn mitgeredet wer- ter.
den kann und noch die Möglichkeit zu einer Entschei-
dung besteht. Ein Dialog, der nur noch dazu dient, die ei- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Natür-
genen Entscheidungen zu rechtfertigen, hat nichts mehr lich!)
mit einem Gespräch zu tun. Es ist vielmehr der Versuch,
zu beschönigen und Publizität zu erlangen. Das ge- Da habe ich in der Tat aufgemerkt. Nach der Maßgabe
schieht in einer Atmosphäre, in der man die Menschen des Ministers geht es doch eigentlich gar nicht um die
vor vollendete Tatsachen stellt. letzten Meter. Der Minister erzählt uns immer, er wolle
alles ergebnisoffen gestalten. Sie haben die Wahrheit ge-
(Zuruf der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ sagt: Es sind die letzten Schritte, weil Sie Gorleben brau-
CSU]) chen. Gorleben ist für Sie notwendig, um die Atomkraft
überhaupt noch rechtfertigen zu können. Ohne dieses
– Frau Flachsbarth, wenn Sie sagen, in dem Gorleben- Lager könnten die Laufzeiten nicht verlängert werden,
Untersuchungsausschuss gehe es nur um Regierungs- und die Atomkraftwerke müssten schon längst geschlos-
handeln in der Vergangenheit, sen sein.
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir es
so! Das ist der Auftrag!) in unserem Moratorium geschafft, ein Verfahren für eine
alternative Standortsuche zu entwickeln, bei der die Bür-
dann haben Sie insofern recht, als das der Untersu- gerinnen und Bürger einbezogen werden. Wenn Sie wis-
chungsgegenstand ist. sen möchten, wie das funktioniert, dann empfehle ich Ih-
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Absolut!) nen einen Blick in die Schweiz. Dort werden sogar
(B) Bürgermeister Ihrer Partei, die in Südbaden leben, in die (D)
Ich bitte aber die Kolleginnen und Kollegen aus dem Verfahren einbezogen. Man redet von Anfang an mit den
Untersuchungsausschuss, deutlich wahrzunehmen, dass Menschen, und Alternativen werden geprüft, um die
das Regierungshandeln aus der Vergangenheit für die beste Lösung zu finden.
Menschen im Wendland heute handfeste und spürbare
Folgen nach sich zieht. Das ist das Verfahren, das Rot-Grün entwickelt hat.
Sie haben 2006 verhindert, dass dieses Verfahren in
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Natür- Deutschland zur Anwendung kommt.
lich!)
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Machen
Ihr Verhalten können wir nicht akzeptieren. Wir kom- Sie sich doch nicht lächerlich!)
men mehr und mehr zu dem Ergebnis, dass es damals
Das hätte Akzeptanz geschaffen,
nicht mit rechten Dingen zuging, dass wissenschaftliche
Erkenntnisse nicht zum Tragen gekommen sind, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch
gar nicht! Das ist die glatte Unwahrheit!) aber nicht Ihre Beschlüsse und die Politik der vollende-
ten Tatsachen, die Sie hinterher mit einem Pseudodialog
dass man noch nicht einmal die Empfehlungen zu alter- rechtfertigen wollen. Sie haben nur noch die folgende
nativen Standortuntersuchungen wahrgenommen hat, Möglichkeit: Nehmen Sie unser niederschwelliges An-
dass der Stand von Wissenschaft und Technik nicht be- gebot an. Stimmen Sie dem Antrag zu. Dann können Sie
rücksichtigt worden ist. Das haben wir heute Morgen wenigstens ein bisschen von der Dialogbereitschaft ret-
erst gehört. In einer solchen Situation sagen Sie: Wir ma- ten und zeigen, dass es Ihnen ernst damit ist, die Men-
chen weiter wie bisher, das, was in der Vergangenheit schen mitzunehmen.
war, interessiert uns nicht.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick
DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ Döring [FDP]: Ihre Rede war auch kein Bei-
CSU]: Das ist die Unwahrheit!) trag zur Dialogbereitschaft!)
Was in der Vergangenheit rechtswidrig war, kann doch
nicht heute plötzlich rechtmäßig sein, nur weil es 20 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
oder 30 Jahre her ist. Ich schließe die Aussprache.
10192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag Auswärtiger Ausschuss (C)
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4678 mit dem Innenausschuss
Rechtsausschuss
Titel „Gorleben – Echter Dialog statt Enteignung“. Wer Verteidigungsausschuss
stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Koalitionsfraktionen. Sie einverstanden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke das
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wort.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehn-
ten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel- (Beifall bei der LINKEN)
gesetzes
Jan van Aken (DIE LINKE):
– Drucksache 17/4231 –
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Abend geht es um Maschinenpistolen und um Sturmge-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- wehre, es geht um einen deutschen Waffenhersteller, der
cherschutz (10. Ausschuss) möglicherweise solche Waffen illegal exportiert hat, und
es geht darum, dass die Bundesregierung darauf bis
– Drucksache 17/4720 –
heute überhaupt nicht angemessen reagiert hat. Wir von
Berichterstattung: den Linken finden es grundsätzlich falsch, dass Deutsch-
Abgeordnete Dieter Stier land überhaupt Geld damit verdient, Waffen in alle Welt
Dr. Wilhelm Priesmeier zu exportieren. Das ist schmutziges Geld,
Dr. Christel Happach-Kasan
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Kirsten Tackmann
Undine Kurth (Quedlinburg) weil alle diese Waffen irgendwann irgendwo im Krieg
landen. Das gilt vor allem für Kleinwaffen. Kleinwaf-
Interfraktionell wurde vereinbart, dass die Reden zu
fen – das hört sich immer so niedlich an, aber Kleinwaf-
Protokoll gegeben werden, sodass wir gleich zur Ab-
fen sind Maschinenpistolen, Sturmgewehre und Kalasch-
stimmung kommen.1) Der Ausschuss für Ernährung,
nikows und wie sie alle heißen. In den Kriegen dieser
Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in sei-
Welt sterben mehr Menschen durch Kleinwaffen als durch
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4720, den
(B) Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache alle anderen Waffensysteme zusammengenommen. (D)
17/4231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Es gibt eine Zahl von UNICEF, die wirklich beeindru-
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- ckend ist. Jeden Tag werden über 1 300 Menschen mit
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist Kleinwaffen erschossen, in jeder einzelnen Minute gibt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit es einen Toten durch Kleinwaffen. Einer der größten Ex-
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- porteure für Kleinwaffen ist der deutsche Hersteller
fraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Heckler & Koch aus Baden-Württemberg. Es gibt Schät-
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion zungen, dass Heckler & Koch mittlerweile 7 Millionen
Bündnis 90/Die Grünen angenommen. bis 10 Millionen Waffen weltweit im Umlauf hat. Es gibt
keinen einzigen Konflikt auf der Welt, in dem nicht auch
Wir kommen zur eine Waffe von Heckler & Koch dabei ist. Ob das ein
dritten Beratung Volksaufstand in Thailand ist, ob das in Ägypten ist oder
in Saudi Arabien – überall finden Sie diese Waffen. Das
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zeigt vor allem eines: dass die deutsche Rüstungsexport-
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – kontrolle praktisch nicht existiert. Sie ist löcherig wie
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ein Schweizer Käse; denn es gibt fast keine Waffe, die
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der nicht in fast alle Länder dieser Welt exportiert werden
zweiten Beratung angenommen. darf. Es wird fast alles erlaubt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13: Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Eine dieser Ausnah-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van men betraf Heckler & Koch. Damit sind wir bei dem
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei- Fall, um den es geht. Heckler & Koch hatte die Geneh-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE migung, Sturmgewehre nach Mexiko zu liefern. Die
Bundesregierung hat aber die Auflage erteilt, dass
Alle Waffenexporte des Oberndorfer Klein- Heckler & Koch in vier Provinzen von Mexiko nicht lie-
waffenherstellers verbieten fern darf, weil es dort blutige Unruhen gibt. Seit Jahren
– Drucksache 17/4677 – kämpfen dort Drogenbarone gegen die Polizei. Das sind
Überweisungsvorschlag:
Unruheprovinzen. Die Bundesregierung hat gesagt: dort-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) hin nicht.
Es gab eine Strafanzeige, es gibt Ermittlungen der
1) Anlage 3 Staatsanwaltschaft, weil der dringende Tatverdacht be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10193
Jan van Aken
(A) steht, dass Heckler & Koch trotzdem auch in diese vier und das Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. Im (C)
Provinzen Sturmgewehre geliefert hat. Das Verfahren Raum steht die bewusste Missachtung von Auflagen und
läuft noch. Aber was macht die Bundesregierung? Sie die Täuschung der Bundesregierung.
hat eine Entscheidung getroffen, die absolut unlogisch
und unverständlich ist. Das muss man sich einmal vor- Im Sommer 2006 wurde die Ausfuhr von G-36-Ge-
stellen. Sie sagt: Okay, es gibt ein staatsanwaltschaftli- wehren nach Mexiko mit Einschränkungen genehmigt.
ches Verfahren, deswegen werden die Genehmigungen Vier Unruheprovinzen sollten wegen der dort herrschen-
für Heckler-&-Koch-Exporte nach Mexiko ausgesetzt. den Menschenrechtslage explizit nicht beliefert werden.
Im Norden Mexikos herrscht seit fünf Jahren ein erbit-
Das müssen Sie mir einmal erklären. Entweder ist terter Krieg zwischen Polizei, Militär und Drogenkartel-
diese Firma zuverlässig. Dann darf sie überall hin expor- len, dem bereits mehr als 30 000 Menschen zum Opfer
tieren. Oder man sagt: Nein, es besteht ein dringender gefallen sind. Menschenrechtsverletzungen sind an der
Tatverdacht, es wird eine kriminelle Machenschaft ver- Tagesordnung, und regelmäßig werden neue Massengrä-
mutet. Dann ist die Firma insgesamt unzuverlässig, und ber entdeckt.
dann darf sie nicht nur nicht nach Mexiko, sondern in die
ganze Welt nicht exportieren. Die Bundesregierung ließ sich die Einhaltung der
Auflagen per Endverbleibserklärung versichern. Den-
(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Gibt es jetzt ein staatsan- noch tauchten kurze Zeit später die Gewehre genau in
waltschaftliches Verfahren, oder nicht?) den verbotenen Provinzen auf.
Wir fordern heute als Einziges, dass Heckler & Koch 2007 beantragte Heckler & Koch sogar die Genehmi-
bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersu- gung für die Ausfuhr von Ersatzteilen in ebenjene Re-
chung überhaupt nichts mehr exportieren darf. Ich finde gionen, in denen die Gewehre eigentlich gar nicht hätten
das nur logisch. Mir muss bitte irgendjemand von der in Umlauf sein dürfen. Dokumente und Aussagen ehe-
FDP, von der CDU oder von der CSU erklären, wieso maliger Mitarbeiter legen den Verdacht nahe, dass das
Sie dieser Firma, bei der im letzten Dezember eine Unternehmen eine weitaus aktivere Rolle eingenommen
Hausdurchsuchung stattgefunden hat, immer noch erlau- hat, als stets behauptet wird. Reiseunterlagen und Dan-
ben wollen, dass sie ihre Kleinwaffen in die ganze Welt kesschreiben mexikanischer Stellen deuten auf Ausbil-
außer nach Mexiko liefern darf. Das ist einfach nur unlo- dungsmaßnahmen hin, die Heckler & Koch in den Unru-
gisch. heprovinzen durchgeführt haben soll. Von Bestechung
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und Täuschung ist die Rede.
NIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/
CSU) Ich teile daher die Einschätzung der Bundesregierung,
(B) dass die erforderliche Zuverlässigkeit für die Genehmi- (D)
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland gung von Waffenexporten durch diese Firma nicht mehr
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte, und ich vorausgesetzt werden kann.
finde, es ist eine richtig gute Idee, bei den tödlichsten al-
ler Waffen, bei den Kleinwaffen, damit anzufangen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Ich danke Ihnen.
Daher war es konsequent, die laufenden Ausfuhran-
(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Da sagt man ein- träge auszusetzen. Nicht konsequent war es aber, die
mal: „Verdacht“, und dann wird man verhaftet! Ausfuhranträge nur in Bezug auf Mexiko auszusetzen.
Das ist Kommunismus! – Gegenruf des Abg. Denn das Kriterium der Unzuverlässigkeit bezieht sich
Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist alles auf den Absender und nicht auf das Empfängerland.
Kommunismus?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und bei der LINKEN)
Die Kollegen Fritz, Hempelmann und Breil haben Sollten sich die Vorwürfe im Rahmen der Ermittlun-
ihre Reden zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzte gen bestätigen, wären aufgrund der erwiesenen Unzu-
Rednerin in dieser Debatte die Kollegin Katja Keul für verlässigkeit keine Waffenexporte mehr zu genehmigen,
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort hat. nicht nach Mexiko und nicht sonst wohin in der Welt.

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Fall macht deutlich, wie sehr das deutsche Rüs-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tungskontrollsystem derzeit allein auf die Verlässlichkeit
Kollegen! Das letzte Wort für heute wollte ich nun doch und das Vertrauen in die Rüstungsexportunternehmen
nicht der Linksfraktion überlassen. angewiesen ist. Genehmigt wird der Export nur bei Vor-
lage einer Endverbleibserklärung. Der tatsächliche End-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verbleib wird aber durch die staatlichen Behörden man-
Die im Raum stehenden Vorwürfe gegen Heckler & gels Kontrollmechanismus nicht überprüft. Gerade wenn
Koch wiegen schwer. Dem Rüstungsunternehmen wer- es um die Ausfuhr todbringender Waffen geht, müssen
den Verstöße gegen das Waffen-, das Außenwirtschafts- wir aber für die Verlässlichkeit der Lieferanten unbe-
dingt einstehen.
1) Anlage 4 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
10194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Katja Keul
(A) Jahr für Jahr werden weltweit 370 000 Menschen Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C)
durch Kleinwaffen getötet. Wir bräuchten daher drin- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gend bessere Mechanismen, um den Verbleib deutscher
Waffen und ganz besonders auch deutscher Kleinwaffen Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät-
zen für multinationale Unternehmen stärken
tatsächlich überprüfen zu können.
– Drucksachen 17/4196, 17/4613 –
Als drittgrößter Waffenexporteur der Welt tragen wir
eine große Verantwortung für den Verbleib dieser Waf- Berichterstattung:
fen. Unser Rüstungskontrollsystem hat zwar einen gro- Abgeordnete Jürgen Klimke
ßen Anspruch, funktioniert aber nur, wenn die Exportun- Ullrich Meßmer
ternehmen verlässlich handeln. Solange irgendwelche Serkan Tören
Zweifel an der Verlässlichkeit der Unternehmen beste- Stefan Liebich
hen, dürfen keine weiteren Ausfuhren genehmigt wer- Volker Beck (Köln)
den. Deshalb halten auch wir es für sachgerecht, bis zum b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Ende der laufenden Ermittlungen die Genehmigung von Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
Waffenexporten durch Heckler & Koch auszusetzen, rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
egal für welches Land sie bestimmt sind.
Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den OECD-Leitsätzen für multinationale Un-
und bei der LINKEN) ternehmen
Nun zu Ihnen: Warum allerdings in diesem Zusam- – Drucksache 17/4669 –
menhang die Forderung nach einer Änderung des Überweisungsvorschlag:
Grundgesetzes erhoben wird, erschließt sich mir nicht. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Neben Rüstungsexporten gibt es noch eine ganze Menge Rechtsausschuss
anderer Dinge, die ich nicht ausstehen kann. Sollen wir Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
die alle ins Grundgesetz schreiben? Das Grundgesetz ist Entwicklung
kein Verbotsgesetz und kein Strafgesetzbuch. Ins Grund-
gesetz gehören die Grundrechte und das Staatsorganisa- ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
tionsrecht. Das soll auch so bleiben. Die Revision der OECD-Leitsätze für multina-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tionale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen
(B) (D)
Ein eigener Grundgesetzartikel wäre deutlich zu viel – Drucksache 17/4668 –
der Ehre für Heckler & Koch.
Überweisungsvorschlag:
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Arbeit und Soziales
und bei der SPD) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)


Ich schließe die Aussprache. Zunächst zu Tagesordnungspunkt 14 a. Der Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe emp-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
Drucksache 17/4677 an die in der Tagesordnung aufge-
sache 17/4613, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Grünen auf Drucksache 17/4196 abzulehnen. Wer
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
so beschlossen. gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung und Bera- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
tung einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, bei Stimmen der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
denen die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
damit einverstanden, dass ich auf die Verlesung der Red- men.
nernamen verzichte? – Das ist der Fall. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 14 b sowie
Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird hier die Überwei-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b so- sung der Vorlagen auf Drucksachen 17/4669 und 17/
wie Zusatzpunkt 7 auf: 4668 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
14 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie, wie ich sehe,
richts des Ausschusses für Menschenrechte und einverstanden. Dann sind die Überweisungen so be-
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag schlossen.
der Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon- 1) Anlage 5
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10195
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erich G. Fritz (CDU/CSU): (C)
Wir haben die Debatte zum Freihandelsabkommen,
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- FTA, der EU mit Indien im Deutschen Bundestag bereits
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- am 30. September 2010 ausführlich geführt. An der Hal-
rung des Artikel-115-Gesetzes tung der Unionsfraktion und an den aufgezeigten Argu-
– Drucksache 17/4666 – menten, die für die Ablehnung des Antrages der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/2420 sprechen, hat
Überweisungsvorschlag: sich seitdem nichts geändert. Den Kolleginnen und Kol-
Haushaltsausschuss (f) legen der Linksfraktion rate ich deshalb an, noch einmal
Rechtsausschuss
Finanzausschuss im Plenarprotokoll, Drucksache 17/62, S. 6564, nachzu-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lesen. Entgegen der Behauptung der Linken ist der poli-
tische Dialog seit April 2007 – der Europäische Rat hat
Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.1) der Kommission während der deutschen Ratspräsident-
schaft das Mandat zu Verhandlungen über ein Freihan-
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- delsabkommen, FTA, mit Indien erteilt – dicht und kon-
wurfs auf Drucksache 17/4666 an die in der Tagesord- kret. Mehrere Verhandlungsrunden haben zu Beginn des
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit neuen Jahres stattgefunden, zuletzt ein Treffen der Chef-
sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Über- unterhändler vom 24. bis 28. Januar 2011 und eine Un-
weisung so beschlossen. terrichtung im handelspolitischen Ausschuss am 4. Fe-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: bruar, in dem die Mitglieder fortlaufend über den Stand
der Verhandlungen unterrichtet wurden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen
Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer Union liegt ausdrücklich in Indiens Interesse, auch
Abgeordneter und der Fraktion der SPD wenn die Fraktion Die Linke es gerne so darstellt, als
Fairen Rohstoffhandel sichern – Handel mit würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU zustande
Seltenen Erden offenhalten kommen. Der auf indischer Seite verantwortliche Han-
dels- und Industrieminister Anand Sharma hat in der na-
– Drucksache 17/4553 – tionalen und internationalen Presse mehrfach klarge-
stellt, dass das Abkommen mit der EU, die der größte
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Handelspartner des Schwellenlandes ist, für Indien von
Auswärtiger Ausschuss großer Bedeutung ist. Ein Fünftel seiner Exporte gehen
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nach Europa. Schätzungen zufolge könnte durch das ge-
(B) (D)
Entwicklung plante FTA das Handelsvolumen zwischen Europa und
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Indien bis 2015 um 100 Milliarden auf 170 Milliarden
Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.2) Euro anwachsen. Davon würden beide Akteure profitie-
ren. Besonders der Handel mit Dienstleistungen ist mit
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen einem Volumen von 16 Milliarden Euro von wachsender
auf Drucksache 17/4553 an die in der Tagesordnung auf- Bedeutung für Indien und Europa.
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind Treu dem Motto „Täglich grüßt das Murmeltier“ ver-
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei- sucht die Fraktion Die Linke, der EU und unserer Bun-
sung so beschlossen. desregierung stets einen Vorwurf daraus zu machen, den
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: eigenen wirtschaftlichen Vorteil im Blick zu haben. Das
ärgert mich. Selbstverständlich muss die EU auch da-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- rauf achten, dass ihre Interessen ausreichend vertreten
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- sind. Es kommt allen 27 Staaten, die der Europäischen
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Union angehören, zugute, dass die EU Zutritt zum gro-
ordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van ßen Marktpotenzial Indiens erhält und sich unter ande-
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion rem für den Abbau tarifärer und nichttarifärer Handels-
DIE LINKE hemnisse und für eine ansehnliche Marktöffnung im
Industriesektor, bei Banken, Versicherungen, Post und
EU-Freihandelsabkommen mit Indien stop- Telekommunikation einsetzt.
pen – Verhandlungsmandat in demokrati-
Die Bundesrepublik Deutschland plädiert seit langem
schem Prozess neu festlegen
als Indiens wichtigster Handelspartner in der EU für
– Drucksachen 17/2420, 17/4616 – den Abbau von Handelshindernissen. Nur so konnte der
deutsch-indische Handel nach Angaben des Bundesver-
Berichterstattung: bandes der Deutschen Industrie, BDI, im Jahr 2009
Abgeordneter Erich G. Fritz 13 Milliarden Euro erreichen. Ziel sowohl Deutschlands
als auch Indiens ist es, bis 2012 den gemeinsamen Han-
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. del auf 20 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit dieses
ehrgeizige Ziel auch erreicht werden kann, unterstützt
1) Anlage 6 die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung
2) Anlage 7 in ihren Bemühungen um weitere Liberalisierung im
10196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Erich G. Fritz
(A) Zollbereich und einer Öffnung des indischen Marktes für tet sich zugleich für die Bundesrepublik Deutschland die (C)
öffentliche Beschaffungen. Vor allem für unsere deut- Perspektive einer Intensivierung der Strategischen Part-
schen Unternehmen, die im Jahr 2009 Waren- und nerschaft, nicht nur, wie aufgezeigt, bei der Verstetigung
Dienstleistungen im Wert von 8 Milliarden Euro expor- unserer guten Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch in
tierten, wäre ein umfassender Zollabbau für Industrie- den Bereichen Ausbildung und Forschung.
güter von Vorteil. Dieser Wert könnte höher sein, wenn
Vor diesen aussichtsreichen Federn der künftigen Zu-
Hemmnisse beim Marktzugang abgebaut würden. Un-
sammenarbeit schließen wir in der Union nicht die Au-
sere Exporte werden durch hohe Zölle, Zusatzabgaben
gen. Wir unterstützen das nach dem jüngst beschlosse-
und Normen behindert. Einfuhrzölle bis zu 60 Prozent
nen Abkommen mit Südkorea zweite große erfolgreiche
im Automobilsektor und zusätzliche Einfuhrabgaben er-
Handelsprojekt der Europäischen Union und entspre-
höhen die Gesamtbelastung teilweise auf mehr als
100 Prozent. Möglichkeiten für Kooperationen zwischen chen der Beschlussempfehlung des federführenden Aus-
deutschen und indischen Unternehmen sind aber nicht schusses für Wirtschaft und Technologie, Drucksache
nur in der Automobilindustrie erkennbar. Auch in der 17/4616. Der Antrag ist abzulehnen.
Lebensmittelindustrie, bei der Verbesserung der indi-
schen Infrastruktur, aber auch in Branchen wie der Rolf Hempelmann (SPD):
Pharmaindustrie und der Bio- und Nanotechnologie bie- Der Auf- und Ausbau eines fairen multilateralen Frei-
ten sich Felder der Zusammenarbeit an. handels ist Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Entwicklung aller Länder und trägt gleichzeitig
Selbst Manmohan Singh erkennt das Potenzial dazu bei, den Wohlstand in Europa und Deutschland zu
Deutschlands als Wirtschaftsmotor der Welt und äußerte wahren und zu mehren. Zusätzlich zu den multilateralen
sich, anlässlich des 11. EU-Indien-Gipfels „neue Hori- Bemühungen können Freihandelsabkommen sinnvolle
zonte der Ausweitung des Handels zu ermöglichen“. Ergänzungen sein, jedoch müssen multilaterale Verträge
Diese Position des indischen Premiers nährt die Hoff- Priorität vor bilateralen Freihandelsabkommen haben.
nung des baldigen Abschlusses der FTA-Verhandlungen Ich denke, darin stimmen wir mehrheitlich überein.
mit der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens. Bisher sind Nach wie vor muss oberstes Ziel sein, ein funktionieren-
eine Reihe von Kapiteln fast abgeschlossen, die Ver- des multilaterales Wetthandelssystem unter dem Dach
handlungen zu Wettbewerb, Zollverfahren und Han- der WTO auf- und auszubauen. Dabei ist das Gebot der
delserleichterungen sind auf gutem Wege. Allerdings er- Stunde, die seit 10 Jahren laufende Doha-Runde zum
fordert das ehrgeizige Ziel, ein Abkommen im Verlauf Abschluss zu bringen. Ich denke, wir sind uns einig, dass
dieses Jahres zu paraphieren, einen Durchbruch in den der derzeit zu verfolgende Trend zu bilateralen Abkom-
politischen Verhandlungen im sensiblen Bereich des men als Indikator für das Versagen wichtiger Akteure im
(B) Zollabbaus. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet multilateralen Verhandlungsprozess zu bewerten ist. (D)
die Bundesregierung ausdrücklich darum, sich nach al- Alle Bemühungen, den Doha-Prozess wieder anzukur-
len Kräften dafür einzusetzen, dass hier Fortschritte ge- beln und zum Laufen zu bringen, dürfen nicht durch bi-
lingen können. laterale Freihandelsabkommen zunichte gemacht wer-
Unsere Bundeskanzlerin sagte anlässlich des 41. Welt- den. Bilaterale Abkommen dürfen keine Motivation aus
wirtschaftsforums im schweizerischen Davos, eine ent- den multilateralen Verhandlungen des Doha-Prozesses
scheidende Antwort zur Bewältigung der Wirtschaftskrise herausnehmen.
sei der freie Welthandel. Damit gehen wir in der Union Nun zum aktuellen Freihandelsabkommen der Euro-
d’accord! Trotz Erholung der Weltkonjunktur – auch In- päischen Union mit lndien. Aus Sicht der SPD-Bundes-
dien wurde eine Rückkehr zu seiner Wirtschaftsaktivität tagsfraktion müssen bei allen Verhandlungen über
von verschiedenen Seiten bescheinigt – ist es weiterhin Freihandelsabkommen ökonomische und politische Fak-
wichtig, dass Industrie- und Schwellenländer im Zusam- toren, aber auch die sozialen und menschenrechtlichen
menschluss globalen Handelsungleichgewichten vor- Aspekte berücksichtigt werden. Dies gilt natürlich auch
beugen. Deshalb sind wir froh, zu hören, dass nun neue bei dem EU-Freihandelsabkommen mit Indien. Jedoch
Dynamik in die zähen WTO-Verhandlungen zum Ab- halten wir dieses Thema für zu wichtig, um, wie im hier
schluss der Doha-Runde gekommen sind. Das Volumen diskutierten Antrag der Linksfraktion, die Frage der
des zusätzlichen Handels, den das Abkommen ermögli- Ausgestaltung von Freihandelsabkommen mit einer un-
chen würde, ist in einer Studie, die anlässlich des G-20- differenzierten Systemkritik an der europäischen Markt-
Gipfels in Seoul von Deutschland, Frankreich und Groß- wirtschaft zu verbinden. Diese Kritik gehört nicht hier-
britannien in Auftrag gegeben wurde, auf 360 Milliar- her. Aus diesem und weiteren Gründen wird die SPD-
den Dollar pro Jahr beziffert. Dies ist Anreiz genug, um Bundestagsfraktion dem Antrag in dieser Form nicht zu-
die nur noch verbleibenden 20 Prozent des Abkommens stimmen.
auszuhandeln. Einigkeit muss bei den Subventionen für
Baumwolle und bei den Dienstleistungen erzielt werden. Ziel des Freihandelsabkommens der Europäischen
Noch nie war die Gelegenheit so groß, das Abkommen Union mit Indien sollte sein, dass die EU ihren Handel
noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss und ihre Investitionen mit Indien intensivieren kann,
zu bringen. Indien sollte dabei in den Verhandlungen mit ohne dass die in Indien vorhandenen ökonomischen und
einbeziehen, wie schnell die Entwicklung im eigenen sozialen Infrastrukturen beeinträchtigt werden. Die
Land voranschreitet und wie sehr Indien selbst bereits künftigen Möglichkeiten einer Ausweitung des Handels
auf offene Märkte angewiesen ist. Mit einem Freihan- und der Investitionstätigkeit im Verhältnis EU-Indien
delsabkommen der Europäischen Union und Indien bie- müssen insgesamt beiden Seiten dienen. Jedoch ist bei

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10197
Rolf Hempelmann
(A) der Bewertung und Verhandlung der vorhandenen sek- Ich habe aufgezeigt, dass sich die Fachpolitiker aller (C)
torspezifischen Schwierigkeiten darüber nachzudenken, Fraktionen bereits seit längerem mit den Forderungen
eine asymmetrische Marktöffnung vorzunehmen, um ein des heute diskutierten Antrags befassen und wichtige
wirtschaftliches Ungleichgewicht zu verhindern. Hier Aktivitäten entwickelt haben. Wir werden weiter den
gilt es, einer Überforderung Indiens vorzubeugen. Verlauf der Verhandlungen von Freihandelsabkommen
Denkbar sind eine konsequente Marktöffnung der EU im beobachten, damit auch zukünftig diese Abkommen kei-
Agrar- und Textilbereich und die Ermöglichung sektor- ner neoliberalen Ideologie nachlaufen, sondern den
spezifisch unterschiedlicher Marktöffnungsschritte In- Menschen auf beiden Seiten nutzen.
diens.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Wir müssen weiter auf den konkreten Verlauf der Ver-
handlungen schauen. Diesbezüglich haben die Mitglie- Das Freihandelsabkommen der EU mit Indien hat das
der des Bundestages schon verschiedene Aktivitäten un- Potenzial, neuen Schwung in den Welthandel zu bringen.
ternommen. Im Frühjahr 2010 haben sich sowohl der Beide Seiten sind sich einig, dass ein Handels- und In-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- vestitionsabkommen mit einer breiten Basis im gemein-
wicklung als auch der Unterausschuss „Gesundheit in samen Interesse liegt. Indien schickt sich an, eine Füh-
Entwicklungsländern“ des Deutschen Bundestages mit rungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischen
den Folgen eines Freihandelsabkommens für die indi- dem boomenden Fernen Osten und dem an Energiequel-
len reichen Nahen Osten und Zentralasien zu überneh-
sche Generikaproduktion und den Zugang zu Medika-
men. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichen
menten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommens
und politischen Potenziale von Indien für uns zu nutzen.
befasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren fraktions-
Wir dürfen den Markt nicht dem schon starken wirt-
übergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordneten
schaftlichen Einfluss Amerikas oder Chinas überlassen.
klare Forderungen zur Ausgestaltung des europäisch-
indischen Freihandelsabkommens formulierten. Diese Gerade in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanz-
Forderungen ähneln denen des hier behandelten An- krise gilt es, protektionistische Tendenzen abzuwehren
trags. Nachdem diese Forderungen im Frühsommer und den fairen und freien Welthandel zu gewährleisten.
2010 an die Kanzlerin, die mit dem Thema befassten Nachdem sich der Wert des Warenverkehrs der EU 27
Bundesminister, den Präsidenten der Europäischen mit Indien zwischen 2000 und 2008 mehr als verdoppelt
Kommission, José Manuel Barroso, sowie den europäi- hat, fiel er im Jahr 2009. In den ersten neun Monaten
schen Generaldirektor für Handel, Ignacio Garcia Ber- des Jahres 2010 zeigte sich ein erneutes Wachstum des
cero, versandt wurden, teilten erfreulicherweise der EU-27-Warenhandels mit Indien. Dies muss unbedingt
(B) Kommissionspräsident Barroso und Handelsdirektor durch eine vernünftige, nach vorne gerichtete Wirt- (D)
Bercero in einem Schreiben vom August 2010 mit, dass schaftspolitik wie die unserer schwarz-gelben Regie-
sich die Europäische Union die genannten Forderungen rungskoalition fortgesetzt werden. Die Wirtschaftsbezie-
der Ausschüsse des Bundestages zu eigen macht. Beide hungen zu Indien haben in den letzten Jahren deutlich
betonten, dass eine Verlängerung der Patentlaufzeit an Intensität und Dynamik gewonnen. Heute sind schon
durch ergänzende Schutzzertifikate in den Verhandlun- etwa 1 500 deutsche Unternehmen in Indien vertreten.
gen mit Indien nicht mehr diskutiert werden. Dies ist ein Die Forderungen der Fraktion Die Linke zeigen nur ein-
wichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für viele Patien- mal mehr die protektionistischen, antiquierten Wirt-
ten in Entwicklungs- und Schwellenländern lebenswich- schaftsvorstellungen wie zu Zeiten des Ostblocks. Wir
tigen Generikaproduktion. Zudem wird von europäi- wollen keine ideologischen Mauern errichten. Gerade
scher Seite unmissverständlich betont, dass die für das durch unsere guten und intensiven Wirtschaftsbeziehun-
Abkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des geis- gen werden neue Märkte erschlossen und bringen im
tigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPS-Stan- Zuge der Marktöffnung auch eine Öffnung des Landes
dard hinaus verstärkt werden. mit sich. Wir stehen als bürgerlich-liberale Koalition für
diesen goldenen, demokratischen Weg nach vorne. Die
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht es, wie fraktions- Stärkung der Kontakte zwischen den Menschen in Indien
übergreifend schon beschlossen, als unverzichtbar an, und in der Europäischen Union ist nur einer der positi-
dass die Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhan- ven Effekte neben wirtschaftlichen Belangen.
delten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziel-
Die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik unter der Fe-
len Medikamenten nicht einschränken. Außerdem sollen
derführung des Bundeswirtschaftsministers Rainer
die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im Frei-
Brüderle sichert Wachstum und Arbeitsplätze und trägt
handelsabkommen dem Standard von TRIPS entspre-
so zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Mit neuen
chen. Es muss zudem natürlich darauf geachtet werden, Handelsstrategien werden Märkte geöffnet, und Europa
dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen nicht über hält Anschluss an die wichtigsten Wachstumszentren der
den TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden. Welt. Wir wollen dafür sorgen, dass faire Bedingungen
Das alles haben wir schon formuliert. Daran fühlen wir für die europäische Wirtschaft herrschen, sodass alle
uns gebunden. Die Europäische Kommission hat sich Bürger, sowohl in Deutschland als auch in Indien, vom
dies, wie gesagt, zu eigen gemacht, und es ist nicht ab- Handel profitieren können.
sehbar, dass sie davon abkehrt. Die deutsche Bundesre-
gierung ist gut beraten, sich ein Beispiel zu nehmen und Unsere Außenpolitik ist freiheitlich, orientiert an
unseren Forderungen zu folgen. Marktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur Selbsthilfe.

Zu Protokoll gegebene Reden


10198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Martin Lindner (Berlin)


(A) Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und auf den Mul- mit Indien ist Teil der verfehlten neoliberalen Außen- (C)
tilateralismus – anstelle nationaler Alleingänge, wie von handelsstrategie der EU. Die Fraktion Die Linke lehnt
den Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märkte dieses Abkommen ab und hat mit ihrem Antrag Alterna-
muss konsequent fortgeführt werden. Denn durch die tiven für eine solidarische Außenhandelspolitik der EU
weiteren wirtschaftlichen Fortschritte in Indien, die das mit Indien vorgelegt.
Abkommen mit sich bringen wird, wird auch der politi-
sche Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nach Das EU-Freihandelsabkommen mit Indien nimmt in
außen ist eine Öffnung der Märkte für eine höhere Wett- der Prioritätenliste der EU-Kommission eine Schlüssel-
bewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU muss andere stellung ein. Die indische Wirtschaft ist in den letzten
Staaten wie Indien von den Vorteilen freier Märkte über- Jahren zwischen 8 und 10 Prozent jährlich gewachsen.
zeugen. Daran kann auch der Appell der Fraktion Die Trotzdem lebt in Indien weltweit der größte Anteil armer
Linke, Importzölle auf indische Landwirtschaftspro- Menschen. Etwa 92 Prozent der 457 Millionen erwerbs-
dukte zu erheben und weiterhin auf Exportzöllen in an- tätigen Inder sind im informellen Sektor beschäftigt. Sie
deren Bereichen zu bestehen, nichts ändern. Die protek- leben meist von Subsistenzwirtschaft und einem minima-
tionistischen Forderungen nach der Einführung von Ex- len Einkommen. Häufig sind sie als Tagelöhner oder für
portzöllen und Verhinderung von transparenten Struktu- zeitlich befristete Tätigkeiten beschäftigt. Darüber hi-
ren zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen in naus müssen aufgrund der Altersstruktur in Indien bis
Indien zeigten nur die Antiquiertheit der linken An- 2020 etwa 200 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen,
schauungen. Dies zeigt sich auch bei der Forderung damit das Land nicht in eine beschäftigungspolitische
nach einem Verzicht auf einen effektiven Patentschutz Katastrophe rennt.
nach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die euro- Gerade in der Weltwirtschaftskrise zeigte sich über-
päischen Grenzen hinaus wirksamer Patentschutz garan- deutlich, dass stärker regulierte Volkswirtschaften in
tiert, dass die mit einem Patent einhergehende Offenle- den Schwellenländern wesentlich weniger krisenanfällig
gung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. Das waren als die stärker liberalisierten und exportabhängi-
Zurückweisen der längeren Patentlaufzeiten der Frak- gen Volkswirtschaften. Länder wie zum Beispiel Indien
tion Die Linke und der Verzicht auf Datenexklusivität profitierten gerade in der Krise von den vorhandenen
würde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzu- Steuerungsmöglichkeiten des Staates und der Kommu-
weisen. nen. Deshalb sind die massiven Liberalisierungsforde-
Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung der rungen der Europäischen Kommission vor diesem Hin-
Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und tergrund völlig unverantwortlich.
ärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mit Durch das Freihandelsabkommen soll der indische
(B) Schwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grund- Markt noch mehr als bisher für die Produkte und Dienst- (D)
lage gestellt werden muss. Statt klassischer Entwick- leistungen aus der EU geöffnet werden. Die EU-Kom-
lungszusammenarbeit mit den Schwellenländern müssen mission nimmt dabei bewusst in Kauf, dass Millionen
wir eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaats- von Arbeitsplätzen in der indischen Landwirtschaft und
und Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik, dem informellen Bereich massiv bedroht werden. Durch
Wissenschaft und Forschung eingehen und sie für die die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission für ein
Entwicklung noch immer bedürftiger Länder gewinnen. Freihandelsabkommen wird die Ernährungssicherheit
In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernet- und damit auch die Existenzgrundlage für Hunderte von
zung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nach Millionen Menschen in der indischen Landwirtschaft
Aufrechterhalten von Exportzöllen utopisch. Nationale und Industrie massiv gefährdet.
Alleingänge gegen gemeinsame europäische Interessen
Die Linke tritt deshalb dafür ein, dass allen Forde-
wird es mit der FDP und der CDU/CSU-Fraktion nicht
rungen der EU-Kommission, den indischen Finanzmarkt
geben. Die Kritik der Fraktion Die Linke an dem Frei-
weiter zu liberalisieren, eine klare Absage erteilt wird.
handelsabkommen EU-Indien zeichnet sich durch das
Es war gerade der noch immer stark regulierte indische
Schüren von Ängsten und den Wunsch nach Abschottung
Finanzmarkt, der sich in der Weltfinanzkrise relativ sta-
vom Weltmarkt aus. Sie lässt die, nicht nur wirtschaft-
bil gezeigt hat. Deshalb warnen auch viele Vertreterin-
lich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherung
nen und Vertreter sowohl aus Indien als auch aus der
der EU und Indiens außer Acht. Deshalb ist dieser An-
Europäischen Union vor einer Liberalisierung des Fi-
trag der Linken abzulehnen.
nanzmarktes. Die derzeitigen Verhandlungen zeigen,
dass die Europäische Kommission nichts aus der Wirt-
Annette Groth (DIE LINKE): schaftskrise gelernt hat und mit ihrer unverantwortli-
Das geplante EU-Freihandelsabkommen zwischen chen Wirtschafts- und Finanzpolitik dabei ist, die Ge-
der Europäischen Union und Indien ist Teil der neuen fahr, dass auch andere Regionen in den Strudel der
Außenhandelsstrategie „Global Europe: Competing in a unkontrollierten Finanzmärkte gezogen werden, weiter
Globalized World“. Ziel dieser ökonomischen Strategie zu verschärfen. Wir treten in unserem Antrag dafür ein,
ist die Durchsetzung neuer und umfassender Freihan- dass alle Forderungen an Indien, die Handelshemm-
delsabkommen, mit denen die Staaten der Europäischen nisse bei Finanzdienstleistungen abzubauen, sofort zu-
Union einen vereinfachten Zugang zu Rohstoffen und die rückgenommen werden müssen. Vielmehr müssen Regu-
Öffnung der Märkte in diesen Ländern für europäische lierungsmaßnahmen zum Schutz der Stabilität des
Waren verfolgen. Das geplante Freihandelsabkommen Finanzsystems, wie sie Indien im Kontext der Weltfi-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10199
Annette Groth
(A) nanzkrise ergriffen hat, ausdrücklich erhalten und aus- teilungssysteme für Getreide angewiesen, um die Ernäh- (C)
gebaut werden. rungssicherheit in den Haushalten zu gewährleisten.
Genau hier setzt das Freihandelsabkommen der EU mit
Eine Liberalisierung des Marktes für landwirtschaft- Indien an und will den Unternehmen in der EU den
liche Produkte hätte katastrophale Folgen für die über- freien Zugang zu den öffentlichen Beschaffungssystemen
wiegende Anzahl der Bäuerinnen und Bauern in Indien, in Indien eröffnen. Dies würde die bisherige Absiche-
da etwa 90 Prozent von ihnen marginalisierte Kleinpro- rung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für die armen
duzenten sind. Sie leben ausschließlich von der Land- Teile in der indischen Bevölkerung noch weiter erschwe-
wirtschaft. Die Liberalisierung dieses Marktes durch ein ren.
Freihandelsabkommen würde ihre Lebensgrundlage
massiv bedrohen. Die Folgen für die Betroffenen wurden Durch die geforderte Öffnung der Rohstoffmärkte und
besonders sichtbar, als im Jahr 2002 Indien die Zölle für durch einen freien Zugang zu Explorationsmöglichkei-
Milchprodukte abschaffte. Dadurch drängten die zum ten von indischen Rohstoffen durch europäische Kon-
Teil exportsubventionierten Milchprodukte aus der EU zerne würden darüber hinaus die Lebensbedingungen
massiv auf den indischen Markt und drückten den der indigenen Einwohner Indiens infrage gestellt. Viele
Milchpreis in Indien derart nach unten, dass Millionen von ihnen leben in Wäldern, in denen teilweise Eisenerz,
von landwirtschaftlichen Betrieben nicht mehr konkur- Granit, Halbedelsteine und vieles mehr zu finden ist.
renzfähig waren und viele in den Bankrott stürzten. Um Durch einen massiven Abbau dieser Vorkommen besteht
eine soziale und ernährungspolitische Katastrophe zu die Gefahr, dass viele von ihnen vertrieben werden und
verhindern, führte Indien wieder Zölle in Höhe von zur- sich das Heer der Armen in den Megastädten weiter ver-
zeit 30 Prozent ein. Eine erneute Marktöffnung im größert.
Milchbereich hätte für die soziale Situation der indi- Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, die
schen Subsistenzbauern fatale Auswirkungen. Verhandlungen über ein EU-Freihandelsabkommen mit
Die EU versucht, das Freihandelsabkommen mit In- Indien sofort zu stoppen. Wir wollen, dass Verhand-
dien gegen den Widerstand der indischen Bauernver- lungsmandate der EU in Zukunft durch demokratisch le-
bände und vieler NGOs durchzusetzen, da sie Indiens gitimierte Prozesse festgelegt werden und alle Abkom-
größter Handelspartner ist und Indien an neunter Stelle men, die Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung in
im EU-Außenhandel steht. 20 Prozent des indischen Gü- den betroffenen Ländern und Regionen fördern, nicht
terhandels werden mit der EU abgewickelt; das Han- mehr verfolgt werden dürfen.
delsbilanzdefizit zur EU beträgt drei Milliarden Euro.
Die EU wickelt etwa 2,1 Prozent ihres Handels mit In- Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) dien ab. In Indien leben über 40 Prozent der Bevölkerung un- (D)
terhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag,
Die treibenden Kräfte des geplanten Freihandelsab-
und knapp 80 Prozent leben mit weniger als 2 US-Dollar
kommens sind mächtige deutsche und europäische Lob-
pro Tag. Auch das Pro-Kopf-Einkommen in Indien liegt
bygruppen wie der Bundesverband der Deutschen In-
weit unter dem europäischen Niveau. Die Europäische
dustrie, BDI, das European Services Forum, ESF, und
Union und Indien sind keine Partner auf gleicher Au-
die European Federation of Pharmaceutical Industries
genhöhe.
and Associations, EFPIA. Erst vor wenigen Tagen for-
derte der Europäische Automobilherstellerverband Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäi-
ACEA die EU-Kommission auf, bei den Verhandlungen schen Union und Indien steht kurz vor dem Abschluss; es
mit Indien noch mehr Druck zu machen. Der Verband soll noch in diesem Frühjahr unterzeichnet werden. Seit
beklagte, dass für die Autobranche die bisherigen Ver- mehr als vier Jahren verhandeln die beiden ungleichen
handlungsergebnisse noch nicht zufriedenstellend seien. Partner über ein solches Abkommen. Handel ist nur fair,
Die Industrielobbyisten nehmen mit ihren Forderungen wenn wir die ökologischen und sozialen Erfordernisse
dabei bewusst in Kauf, dass sich die Ernährungssitua- respektieren und wenn wir Entwicklungspotenziale för-
tion der Menschen in Indien massiv verschlechtern wird dern und nicht ersticken. Handelsliberalisierung unter
und die Gefahren von Instabilitäten in Indien zunehmen. gleich starken Partnern kann Wohlstand und Entwick-
Kurzfristige Profitinteressen der europäischen Groß- lung fördern, aber nur dann, wenn sie nachhaltig und
konzerne werden hier über die mittelfristigen Entwick- fair gestaltet ist. Gegenseitige Marktöffnung zwischen
lungsmöglichkeiten der indischen Volkswirtschaft ge- ungleichen Partnern wie zwischen der EU und Indien
stellt. dagegen kann jedoch gravierende Folgen für den wirt-
schaftlich und sozial schwächeren Partner haben.
Die Direktorin der indischen Nichtregierungsorgani-
sation ANTHRA, Dr. Sagari R. Ramdas, weist darauf Ich kritisiere die von der Bundesregierung unter-
hin, dass bei einer Liberalisierung von Investitionen für stützte fragwürdige Handelspolitik der EU. Diese Han-
landwirtschaftliche Flächen, Land Grabbing noch delspolitik steht im Widerspruch zum Lissabon-Vertrag,
schneller vorangetrieben wird. Weiter führt sie aus, dass der die Entwicklung und die Beseitigung der Armut als
alle Bäuerinnen und Bauern, wie auch große Teile der Ziel seiner Außenbeziehungen definiert. Meine beson-
indigenen Einwohner Indiens, Produzentinnen und Pro- dere Sorge gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrech-
duzenten und gleichzeitig Konsumentinnen und Konsu- ten. Indien ist weltweit einer der größten Generikaher-
menten zugleich sind. Fast alle sind für die eigene steller, gilt als die Apotheke der Armen und produziert
Versorgung auf die öffentlichen Beschaffungs- und Ver- unter anderem weltweit 80 Prozent der Medikamente zur

Zu Protokoll gegebene Reden


10200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Uwe Kekeritz
(A) Behandlung von HIV/Aids. Die europäischen Forderun- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (C)
gen zu den geistigen Eigentumsrechten bedrohen massiv Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
den Zugang zu kostengünstigen, lebensrettenden Medi- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
kamenten für die Armen der Welt. Insbesondere die vor- Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-
gesehene Datenexklusivität wäre ein Schlag gegen die rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Generikaproduktion und damit auch gegen das Men-
schenrecht auf Gesundheit. Dies käme für unzählige Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerech-
Kranke weltweit einem Todesurteil gleich. Diese Sorge tes europäisches Asylsystem
teilt mit mir auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zu- – Drucksache 17/4679 –
sammenarbeit und Entwicklung. Auf Initiative des Un-
Überweisungsvorschlag:
terausschusses „Gesundheit in Entwicklungsländern“ Innenausschuss (f)
hat der Ausschuss in einem interfraktionellen Beschluss Rechtsausschuss
die Bundesregierung und die Europäische Kommission Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass es im Freihan- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
delsabkommen zwischen der EU und Indien keine Rege- Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
lungen gibt, die über den Standard von TRIPS hinausge-
hen.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Dem Antrag der Fraktion Die Linke stimmen wir Die Grünen und die Linke tun etwas, das man nicht
nicht zu. Teilweise sind die Forderungen veraltet. Teil- tun sollte, sofern man den europäischen Gedanken nicht
weise liegen die Forderungen nicht im Kompetenzbe- beschädigen will. Sie wollen über den Umweg der euro-
reich der nationalen Parlamente. Für die Ratifizierung päischen Ebene versuchen, asylpolitische Vorstellungen
von Handelsabkommen in nationalen Parlamenten bei- zu verwirklichen, für die es weder im Deutschen Bundes-
spielsweise gilt es zunächst juristisch zu klären, ob es tag noch in unserer Bevölkerung eine Mehrheit gibt. Sie
sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt; wollen über den Umweg Brüssel demokratische Mehr-
denn nur dann gäbe es einen nationalen parlamentari- heitsentscheidungen ausspielen. Das ist nicht nur unde-
schen Auftrag. Auch andere Forderungen können wir mokratisch, sondern sie verstärken das Gefühl, das lei-
nicht uneingeschränkt mittragen. Allerdings teile ich die der in unserer Bevölkerung verbreitet ist, dass die EU
Ansicht, dass wir ein entwicklungsförderliches Verhand- weit weg ist von der Stimmung der Menschen vor Ort.
lungsmandat für ein Abkommen mit Indien brauchen. Insofern beschädigen sie mit ihren Anträgen den euro-
Das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Ver- päischen Gedanken.
sorgung oder das Menschenrecht auf Nahrung dürfen
(B) nicht durch wirtschaftliche Interessen in Gefahr ge- Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass sie (D)
bracht werden. Menschenrechte sind nicht verhandelbar sogar die berechtigte Hoffnung haben könnten, dass sie
und müssen zu jedem Zeitpunkt gewahrt werden. Ich for- in der Sache in Brüssel auf ein offenes Ohr stoßen. Ich
dere daher die Bundesregierung auf, sich für ein Frei- will diese Debatte ausdrücklich dafür nutzen, zu bekla-
handelsabkommen einzusetzen, das die Hunderte Millio- gen, dass Grünbücher und Richtlinienentwürfe der Ge-
nen von Menschen nicht aus den Augen verliert und die neraldirektionen Innen und Justiz der EU-Kommission
Menschenrechte zur obersten Priorität macht. oftmals davon geprägt sind, dass sie von der Rechtslage
in Deutschland und gerade auch von der Stimmungslage
der Menschen in unserem Land erheblich abweichen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die ursprüngliche Fassung des Richtlinienentwurfs zum
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- Asylrecht hätte zur Folge gehabt, dass der Asylkompro-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- miss von 1993, der zu einer erheblichen Reduzierung
sache 17/4616, den Antrag der Fraktion Die Linke auf des Asylmissbrauchs geführt und die aufgeregte Stim-
Drucksache 17/2420 abzulehnen. Wer stimmt für diese mung der damaligen Zeit beträchtlich beruhigt hat, so
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- nicht mehr haltbar sein würde. Unsere Fraktion ist dem
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Bundesinnenministerium deshalb sehr dankbar, dass es
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge- sich auf EU-Ebene erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der diese Richtlinienentwürfe so nicht kommen werden.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ein schlichter Skandal ist der Antrag der Linken.
Tagesordnungspunkt 18 a und b: Man muss ganz klar deutlich machen, was dieser Antrag
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von zur Folge hätte. Sie lassen jede Art von Kontrolle von
Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Zuwanderern in unser Land fallen. Sie wollen FRON-
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der TEX abschaffen. Sie wollen, dass wir anderen EU-Län-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern viele Asylbewerber abnehmen, damit diese EU-
Länder keinen Grund mehr haben, für eine ordnungsge-
Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantie- mäße Sicherung ihrer Grenzen zu sorgen. Ihr Antrag
ren hätte zur Folge, dass im Grunde jeder Mensch aus aller
– Drucksache 17/4439 – Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben.
Überweisungsvorschlag:
Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hundert-
Innenausschuss (f) tausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde
Ausschuss für Arbeit und Soziales jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10201
Reinhard Grindel
(A) Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit zugang es keine großen praktischen Unterschiede in der (C)
schüren. Sie würden damit die Kommunen vor erhebli- Behandlung der Ausländerbehörden von GFK-Flücht-
che Unterbringungsprobleme stellen. Es würden wieder lingen und subsidiär Schutzberechtigten gibt. Gerade
Sporthallen umgewandelt werden müssen zu großen was die Frage des Arbeitsmarktzugangs anbelangt,
Sammelunterkünften, von den vielen Milliarden, die das macht das ja auch großen Sinn, dass die Schutzbedürfti-
kosten würde, einmal ganz abgesehen. Das ist alles eine gen in unserem Land etwa Kompetenzen erwerben, die
völlig unverantwortliche Politik, mit der sich die Linke sie später in ihrem Heimatland nutzen können. Und es
endgültig aus dem Kreis derjenigen verabschiedet, die macht auch großen Sinn, dass sie, anstatt Sozialleistun-
in der Integrations- und Asyldebatte den Anspruch erhe- gen zu erhalten, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.
ben können, ernst genommen zu werden. Mit dem absur- Das gilt in gleicher Weise für jüngere Schutzbedürftige,
den Vorschlag, die EU-Rückführungsrichtlinie wieder wenn man an die Förderung für einen Ausbildungsplatz
abzuschaffen, sorgt die Linke dafür, dass wir weder denkt. Außerdem will ich hervorheben, dass es auch bei
Menschen, die jahrelang nur Sozialleistungen kassiert der medizinischen Versorgung selbstverständlich in der
haben, noch verurteilte Straftäter in ihre Heimat zurück- Praxis keine unterschiedliche Behandlung gibt. Insofern
führen können. Das ist ein Beitrag, der den sozialen muss man den Grünen vorhalten, dass sie mit ihrem An-
Frieden gefährdet und ein wichtiges präventives Ele- trag einen Popanz aufbauen und sich daran abarbeiten,
ment im Kampf gegen Ausländerkriminalität zunichte obwohl die ausländerrechtliche Praxis völlig anders
macht, weil für viele ausländische Kriminelle die Angst aussieht.
vor der Abschiebung in ihr Heimatland größer ist als die
Angst vor einer Gefängnisstrafe. Man kann die Anträge von Linken und Grünen also
insoweit zusammenfassen: Der Antrag der Linken ist in-
Aber auch die Grünen zeichnen in ihrem Antrag ein tegrationsfeindlich, kommunal unfreundlich und würde
Zerrbild der Lage der subsidiär Schutzberechtigten im unser Land in einen Zustand versetzen, wie wir ihn An-
Verhältnis zu denjenigen, die als politisch Verfolgte oder
fang der 90er-Jahre hatten. Das kann niemand politisch
Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention an-
ernsthaft wollen. Die Grünen zeichnen ein Zerrbild der
erkannt sind. Die Grünen verschweigen einen ganz we-
praktischen Lebenssituation von subsidiär Schutzbe-
sentlichen Grundsatz, nämlich dass von unseren Behör-
dürftigen. Insofern sind beide Anträge abzulehnen.
den die subsidiär Schutzberechtigten nicht einheitlich
behandelt werden, sondern es sich dabei um eine sehr
heterogene Personengruppe handelt, die sich durch Rüdiger Veit (SPD):
ganz unterschiedliche Schutzbedürfnisse auszeichnet. Im „Stockholmer Programm“, das direkt an das
Es ist gängige Praxis der Ausländerbehörden, dass bei „Haager Programm“ – 2005 bis 2009 – anschließt, wer- (D)
(B) drohender Folter oder drohender Todesstrafe im Her-
den für den Zeitraum von 2010 bis 2014 die Prioritäten
kunftsland, ähnlich wie bei GFK-Flüchtlingen, ein län- der europäischen Innenpolitik definiert. Mit der Absicht,
gerfristiges Schutzbedürfnis anerkannt wird. Dement-
„ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum
sprechend erhalten sie nicht nur ein mehrere Jahre
Schutz der Bürger“ zu schaffen, bekräftigt das neue
geltendes Aufenthaltsrecht, sondern auch Zugang etwa
Fünf-Jahres-Programm im Bereich der Migrationspoli-
zu Integrationsangeboten. Es gilt der Grundsatz, den die
tik das Ziel einer vorausschauenden und umfassenden
Grünen völlig verschweigen, dass bei denjenigen subsi-
europäischen Politik, die auf Solidarität und Verant-
diär Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie
für lange Zeit und möglicherweise sogar auf Dauer in wortlichkeit beruht. Im „Stockholmer Programm“ ist
unserem Land leben werden, im Grunde genommen die ein einheitlicher Status für Personen, denen internatio-
gleichen Bedingungen herrschen wie bei GFK-Flücht- naler Schutz gewährt wird, vorgesehen.
lingen. Andererseits macht es aber auch Sinn, solchen Die Begründung für die Einführung des subsidiären
Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie nur Schutzstatus war gewesen, dass es diesen Schutz nur vo-
über einen begrenzten Zeitraum Schutzes bedürfen und rübergehend geben würde und die Menschen, denen er
auch relativ plötzlich wieder in ihr Heimatland zurück-
gewährt wurde, nicht längere Zeit bleiben würden. In
geführt werden können, in dieser Weise keine Integra-
der Praxis hat sich diese Annahme jedoch als falsch er-
tionsangebote zu machen. Das gilt etwa bei Kriegs- oder
wiesen. Die Hürden, um einen subsidiären Schutzstatus
Bürgerkriegsflüchtlingen, bei denen das Schutzbedürf-
zuerkannt zu bekommen, sind gravierende Menschen-
nis typischerweise eher vorübergehender Natur ist. Die-
rechtsverletzungen wie drohende Todesstrafe, Folter
ser Heterogenität der Gruppe der subsidiär Schutzbe-
rechtigten können die Mitgliedstaaten nur Rechnung und Krieg. In diesem Sinne ist es nicht „leichter“, einen
tragen, wenn ihnen Regelungsspielräume verbleiben subsidiären Schutzstatus zu erhalten, als als Verfolgter
und keine schematische Gleichstellung der subsidiär im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu
Geschützten mit GFK-Flüchtlingen erfolgt. werden. Zudem sind die dargestellten Umstände keines-
falls solche, die sich schnell ändern. Wenn aber davon
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass die Inte- ausgegangen werden muss und die Erfahrungen gezeigt
grationsbeauftragte der Bundesregierung, die ja eine haben, dass Menschen mit einem subsidiären Schutzsta-
breite Kenntnis der Praxis in unseren Ausländerbehör- tus dieses Schutzes nicht nur vorübergehend bedürfen,
den hat, in der Vergangenheit immer wieder darauf hin- dann ist ihre Ungleichbehandlung gegenüber der Be-
gewiesen hat, dass es bei Fragen der Ausbildungsför- handlung von anerkannten Flüchtlingen nicht gerecht-
derung oder Sozialleistungen sowie beim Arbeitsmarkt- fertigt und muss aufgehoben werden.

Zu Protokoll gegebene Reden


10202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Rüdiger Veit
(A) Wie in der Neufassung der Flüchtlingsanerkennungs- den sein muss. Ebenso begrüßen wir die nunmehr er- (C)
richtlinie vorgesehen, sollten subsidiär Geschützte so- folgte Klarstellung, dass nur staatliche Akteure solche
fortigen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt sein können, die Schutz gewähren, und dass nicht wie
haben, sie müssen Leistungen entsprechend denen von noch in den Entwürfen zuvor – leider auch auf Drängen
anerkannten Flüchtlingen erhalten und vor allem müs- der Bundesregierung hin – vorgesehen auch eine nicht-
sen sie Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Wenn staatliche Einheit schutzgewährende Organisation sein
sie auf Dauer bei uns leben, dann macht es allein und kann, wie zum Beispiel eine Stammesgruppe. In der Ab-
ausschließlich Sinn – nicht nur, aber auch aus finanziel- stimmung im LIBE-Ausschuss wurden zudem auch meh-
len Erwägungen, weil wir ja alle mittlerweile längst wis- rere Einwände gegen die Angleichung der beiden
sen, dass eine nachholende Integration schwerer und im Schutzstatute abgelehnt. In der neuesten Fassung ist die
Ergebnis teurer ist –, sie so frühzeitig wie möglich zu in- Forderung nach deren Angleichung mithin weiterhin
tegrieren. Schließlich müssen sie auch den gleichen Zu- enthalten. Das begrüßen und unterstützen wir.
gang zu medizinischer Versorgung haben.
Was den Antrag der Fraktion Die Linke anbelangt, so
Auch wir möchten die Bundesregierung auffordern, enthält er neben Forderungen zu der Anerkennungs-
ihre Vorbehalte gegen Art. 24 der Anerkennungsrichtli- richtlinie auch noch Forderungen nach einer Neufas-
nie aufzugeben, nach dem einer Person nach Zuerken- sung des Dublin-II-Systems und eines Systems zur ge-
nung des Schutzstatus ein verlängerbarer Aufenthaltsti- rechten Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas.
tel mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens drei Diese Forderungen sind im Kern richtig und berechtigt,
Jahren ausgestellt werden muss. Wichtig für die Anglei- und auch wir suchen nach Möglichkeiten, die bestehen-
chung der Rechte von Flüchtlingen mit einem subsidiä- den Systeme vor allem im Interesse der Flüchtlinge zu
ren Schutzstatus und der Anerkennung als Flüchtling ist verbessern. Wie konkret allerdings solche Systeme aus-
auch Art. 26 der Richtlinie, der den unmittelbaren Zu- gestaltet sein sollen, dazu sagt der Antrag der Linken
gang zu einer Erwerbstätigkeit und die Teilnahme an be- nichts. Wir sind jedoch bereits jetzt schon dabei, kon-
schäftigungsbezogenen Bildungsanboten für Erwach- krete Vorstellungen zu diesen Themen zu entwickeln.
sene und berufsbildende Maßnahmen ermöglicht. Von Darüber würden wir uns in Zukunft gerne noch einmal
ebenso großer Bedeutung ist schließlich Art. 29 der unterhalten.
Richtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten Personen mit
Anspruch auf internationalen Schutz die notwendige So- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
zialhilfe im selben Umfang gewähren wie Staatsangehö- Der Antrag der Linken enthält die übliche Forderung
rigen des betreffenden Mitgliedstaates. Schließlich be- der Linken: Reisefreiheit für illegale Migranten. Es mag
grüßen auch wir Art. 34 des Neufassungsvorschlages, ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungs-
(B) nach dem der schutzgewährende Mitgliedstaat die Inte- bedarf auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem (D)
grationsmaßnahmen zu gewährleisten hat, die den be- geben. Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie
sonderen Bedürfnissen von Personen mit Anspruch auf ist jedoch ebensowenig ein ernstzunehmender Vorschlag
internationalen Schutz Rechnung tragen. In dem Punkt wie die Auflösung von FRONTEX.
der Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einem
subsidiären Schutzstatus an den von Flüchtlingen stim- Die Abschiebehaft ist – bei aller Notwendigkeit, sich
men wir mithin mit den Positionen in den Anträgen von die Bedingungen hierzu nochmals genau anzusehen – le-
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke gitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu ge-
überein. währleisten und damit ein leider notwendiges Instru-
ment im Rahmen des Vollzugs des demokratisch
Diesem Ansinnen kann auch nicht entgegengehalten zustande gekommenen Aufenthaltsrechts.
werden, dass die Angleichung der Rechte der beiden
Schutzarten der sonstigen Systematik der Rechtsetzung Die Abschaffung der EU-Rückführungs-RL ist kon-
auf EU-Ebene widersprechen würde. Denn wie es im traproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststandards
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen steht, haben sich für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden sind.
das Europäische Parlament und der Rat im Dezember Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforderung
letzten Jahres auf eine Neufassung der „Daueraufent- nicht mehr, sondern sogar weniger Rechte für die Be-
haltsrichtlinie“ (Richtlinie 2003/109/EG) dahin gehend troffenen. Der Linke-Populismus schadet den Schwächs-
geeinigt, dass nunmehr auch Personen mit internationa- ten in der Migrationspolitik.
lem Schutzstatus mit einem fünfjährigen rechtmäßigen
dauerhaften Aufenthalt in den Anwendungsbereich der Nicht zuletzt der Verhältnisse in Griechenland, des
Richtlinie aufgenommen werden sollen. Urteils des EGMR und der Beschlüsse des BVerfG zu
Dublin wegen muss man über das System nachdenken.
Auch wenn es in keinem der beiden vorliegenden An- Aber man muss betonen, dass die Bundesregierung sehr
träge erwähnt wird, möchte ich an dieser Stelle sagen, verantwortungsvoll mit dem Mechanismus umgeht: Für
dass wir das Abstimmungsergebnis im LIBE-Ausschuss ein Jahr sind nun Rückführungen ausgesetzt; bereits im
des Europäischen Parlamentes über die Anerkennungs- letzten Jahr sind nur 50 Personen nach Griechenland
richtlinie am 1. Februar 2011 begrüßen, nachdem nun- zurückgeschoben worden, beim Rest wurde vom Selbst-
mehr in der neuesten Fassung der Richtlinie die Defini- eintrittsrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig können
tion der Familie nicht mehr beinhaltet, dass die auch Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden,
Verbindung zu dem einen internationalen Schutzstatus wenn sie die Standards nicht einhalten: Der Druck muss
erhalten habenden Flüchtling im Herkunftsland entstan- aufrechterhalten bleiben. Konkrete Hilfe hat die

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10203
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) Bundesregierung für die griechischen Behörden auch aus dem er oder sie gekommen ist. Um diese Asylbewer- (C)
angeboten; hinsichtlich der menschenwürdigen und ber auch wirklich schnell wieder loszuwerden, hat sich
schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rah- eine Große Koalition aus Union, SPD und FDP damals
menbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie zur stärke- noch einen weiteren Kniff einfallen lassen. Die aufschie-
ren Grenzsicherheit vonnöten. bende Wirkung einer Klage gegen die Abschiebung
wurde abgeschafft. Es ist der einzige Fall, in dem im
Die Grenzschutzagentur FRONTEX aufzulösen, ist deutschen Verfahrensrecht kein wirksamer Rechtsschutz
auch so eine typische Forderung von offenkundig unter- gegen eine Behördenentscheidung möglich ist. Mit dem
beschäftigten Abgeordneten der Oppositionsfraktion auf Dublin-System wurde daraus EU-Recht. Dieses System
der Suche nach dem verlorenen Kommunismus. Die Ab- ermöglicht die organisierte Flucht aus der Verantwor-
schaffung von FRONTEX ist nicht sinnvoll, sondern ge- tung für Schutzsuchende und Flüchtlinge. Ein Kommen-
radezu rückwärtsgewandt: Es ist richtig, dass ange- tar in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. Januar 2011
sichts des gemeinsamen Binnenraums über FRONTEX unter der Überschrift „Enthüllendes Urteil“ hat dies auf
die Einsätze koordiniert werden. Vorfälle auf dem Mit- den Punkt gebracht. Ich zitiere: „Das gegenwärtige Sys-
telmeer etwa müssen rückhaltlos aufgeklärt werden; tem dient vor allem einem Zweck: einigen großen Staa-
rechtsstaatliche und völkerrechtliche Unsicherheiten ten wie Deutschland möglichst alle Asylbewerber vom
werden angegangen werden. Auch hat es in den letzten Hals zu halten – auf Kosten der Flüchtlinge und der am
Jahren viele Verbesserungen bei FRONTEX gegeben. Rand der EU liegenden Staaten, die sich kaum noch zu
Jedenfalls hat aber Europa und der Welt eine „Europäi- helfen wissen.“
sche Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen und
rechtsstaatlichen Aufnahme von Flüchtlingen“ gerade Es sind diese Staaten wie Griechenland, die sich
noch gefehlt. überlastet sehen und schon allein deshalb die Standards
des Flüchtlingsrechts nicht einhalten. Eine weitere
Die FDP ist der Meinung: Illegale Migration darf Runde in der Harmonisierung des Asylrechts in der EU
nicht verharmlost werden. Sie stellt ein Problem dar. Die muss daher zwingend mit einer grundlegenden Reform
Linken wollen am liebsten Tür und Tor für alle öffnen. einhergehen. Das Verhalten der Bundesregierung in die-
Das ist sicherlich kein gangbarer Weg. Der Antrag der sem Zusammenhang ist jedoch beschämend. Sie blo-
Grünen kommt da schon seriöser daher. Deutschkurse ckiert jede Initiative, die das Aufweichen der starren
etwa auf subsidiär Schutzbedürftige auszuweiten, ist in Dublin-Regelungen vorsieht. Sie torpediert Richtli-
der Sache durchaus eine begründbare Idee, allerdings nienentwürfe, die den Status und die Rechte von Schutz-
müssen wir auch sehen, was finanzierbar ist – nicht nur suchenden und Flüchtlingen verbessern könnten. Sie
im Blick auf die Quantität, sondern auch die Legitimität wirkt stattdessen an der Abschottung der Festung
(B) der eingesetzten Mittel. Die Integrationskurse müssen Europa mit, die jährlich ungezählte Todesopfer fordert. (D)
vor allem den Menschen offenstehen, die tatsächlich Ein frappierendes Beispiel aus der jüngsten Vergangen-
dauerhaft oder zumindest längerfristig in Deutschland heit ist die Teilnahme am Einsatz der Grenzschutzagen-
bleiben. tur FRONTEX an der türkisch-griechischen Land-
grenze. Ihre Aufgabe dort ist unter anderem, die
Die FDP wird die Asylpolitik weiterhin verantwor-
Flüchtlinge an der Grenze abzufangen und in die grie-
tungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Pla-
chischen Aufnahmelager und Abschiebeknäste zu brin-
nungen konstruktiv begleiten.
gen. Genau diese Einrichtungen sind es, auf die das Ur-
teil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zielt.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Unterbringung der Flüchtlinge dort ist unmensch-
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat lich und erniedrigend.
am 21. Januar ein Urteil gegen Belgien gefällt, das auch
Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierung
Deutschland und die ganze EU betrifft. Dem Gericht zu-
auf, sich endlich für einen effektiven Flüchtlingsschutz
folge hätte Belgien einen Asylsuchenden nicht nach
auf EU-Ebene einzusetzen, der den Bedürfnissen der
Griechenland zurückschicken dürfen, weil ihm dort un-
Flüchtlinge wie den Aufnahmekapazitäten der EU-Staa-
menschliche und erniedrigende Behandlung drohten.
ten gerecht wird. Die Abschottungsagentur FRONTEX
Auch den fehlenden Rechtsschutz gegen die Abschie-
muss endlich aufgelöst werden. Sie ist Sinnbild einer
bung hat der Gerichtshof als Verstoß gegen die Europäi-
Politik, die Flüchtlinge zu illegalen Migrantinnen und
sche Menschenrechtskonvention verurteilt. Dieses Ur-
Migranten erklärt und mit polizeilichen und militäri-
teil ist ein Urteil über die gesamte Asylpolitik der EU
schen Mitteln bekämpft. Wir feiern in diesem Jahr das
und die Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland da-
60-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention.
bei spielt. Grundlage des Vorgehens der belgischen Be-
Dies muss sich endlich auch in der deutschen und der
hörden ist das sogenannte Dublin-System. Demnach
europäischen Flüchtlingspolitik niederschlagen.
müssen Asylsuchende ihr Asylverfahren in dem Staat be-
treiben, in dem sie ihren Fuß zuerst auf EU-Territorium
gesetzt haben. Kern dieses Systems ist die Drittstaaten- Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE
regelung, wie sie 1993 im sogenannten Asylkompromiss GRÜNEN):
in Deutschland festgelegt wurde. Wer über einen siche- Im Dezember hat Bundesinnenminister de Maizière
ren Drittstaat nach Deutschland einreist, dessen Antrag nun endlich die Katze aus dem Sack gelassen: Gemein-
gilt als unbeachtlich. Der oder die Betroffene wird in je- sam mit anderen konservativen Innenministern und der
nen vermeintlich sicheren Drittstaat zurückgeschoben, EVP-Fraktion hat er das Positionspapier „Perspektiven

Zu Protokoll gegebene Reden


10204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Viola von Cramon-Taubadel


(A) des EU-Asylsystems“ vorgestellt. Anstatt Perspektiven Zu Ihrer Erinnerung: Derzeit leben knapp 26 000 (C)
für ein längst überfälliges, qualitativ besseres Asylsys- subsidiär geschützten Personen in Deutschland. Bei die-
tem in der EU zu entwerfen, haben wir es hier mit einem sen Menschen haben das Bundesamt für Migration und
echten Rollback zu tun. Es geht nämlich in dem Papier Flüchtlinge oder Verwaltungsgerichte festgestellt, dass
nahezu ausschließlich darum, wie eine weitere Harmo- ihnen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter,
nisierung des Flüchtlingsschutzes verhindert werden Todesstrafe oder andere gravierende Menschenrechts-
kann. Mittlerweile wird Flüchtlingsschutz nur noch von verletzungen drohen. Dies wird sich so schnell nicht än-
der Haushaltslage der europäischen Nationalstaaten dern. Daher ist davon auszugehen, dass diese Menschen
abhängig gemacht; die Einhaltung universaler Men- dauerhaft in Deutschland leben werden. Es ist integra-
schenrechte ist zweitrangig. Nicht anders ist zu erklären, tionspolitisch völlig unbegreiflich, dass sie bisher mit ei-
dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundes- ner Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Aufenthalts-
innenministerium, Ole Schröder, das Positionspapier gesetz in Deutschland – anders als anerkannte
auf einer parteilichen Pressekonferenz der EVP mit der Flüchtlinge – weder einen Anspruch auf einen Integra-
zentralen Aussage vorstellte, dass man sich Verbesse- tionskurs noch einen Anspruch auf Erlaubnis einer Er-
rungen im Flüchtlingsschutz derzeit einfach nicht leisten werbstätigkeit haben. Subsidiär geschützte Personen
könne. erhalten Kinder- und Erziehungsgeld erst nach drei Jah-
ren bzw. BAföG-Leistungen sogar erst nach mindestens
Im Einzelnen begrüßt die Bundesregierung den Ab- vier Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in Deutsch-
bruch der Neuverhandlungen der Asylverfahrensricht- land.
linie und der Richtlinie über Aufnahmebedingungen für
Warum wehrt sich die deutsche Bundesregierung in
Asylbewerber. Beides hat sie durch ihre Blockade im Rat
Brüssel mit Händen und Füßen dagegen, subsidiär ge-
mitzuverantworten. Damit macht sie deutlich, dass ihr
schützte Personen künftig ebenso wie anerkannte
an Fortschritten beim EU-Flüchtlingsschutzes nicht ge- Flüchtlinge zu behandeln? Wir fordern Sie, Herr Bun-
legen ist. Im Gegenteil: Sie versucht, mit ihren konserva- desinnenminister, mit dem vorliegenden Antrag auf:
tiven europäischen Kollegen den politischen Kampfbe- Kehren Sie zur gemeinsamen Beschlusslage der EU zu-
griff des Asylmissbrauchs wieder salonfähig zu machen. rück. Diese Menschen müssen endlich einen Anspruch
Das ist angesichts der Menschenrechtslage in den auf einen Integrationskurs, uneingeschränkte Sozial-
Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge mehr als zy- hilfe, medizinische Betreuung und gleichberechtigten
nisch. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem li- Zugang zu Wohnraum, beschäftigungsbezogenen Bil-
beralen Koalitionspartner, der – wenn er es mit libera- dungsangeboten sowie berufsbildenden Maßnahmen er-
len Grundsätzen im Bereich der Flüchtlingspolitik ernst halten. Mit Ihrer Politik verschließen Sie nicht nur vor
(B) meint – unmittelbar einschreiten müsste. Es gibt an die- der Ungleichbehandlung von bleibeberechtigten Flücht- (D)
ser Stelle zwei Vermutungen. Erstens. Die FDP ist über lingen in Deutschland die Augen. Auch europapolitisch
die neue Marschroute von de Maizière gar nicht unter- ist Ihr Vorgehen fatal. Für einen europäischen Asyl- und
richtet worden. Zweitens. Die Koalitionsdisziplin hat ge- Flüchtlingsschutz, der diesen Namen auch verdient hat,
griffen, und die FDP ist verstummt. Beides wäre fatal. muss die Bundesregierung zwei Maßgaben beachten, die
Denn interessanterweise gab es auf europäischer Ebene sie beide im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi-
durchaus liberale Stimmen, die das Vorgehen der Kon- schen Union, AEUV, findet. Sie muss dem Grundsatz der
servativen kritisiert haben. Nadja Hirsch, die integra- Solidarität gemäß Art. 80 AEUV endlich zustimmen und
tionspolitische Sprecherin der Liberalen im Europäi- so eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen unter
schen Parlament, bezeichnete den „Versuch der den EU-Mitgliedstaaten gewähren. Das wäre für die
Konservativen, ein gemeinsames EU-Asylsystem auszu- EU-Randstaaten wie Griechenland oder Italien drin-
hebeln“ als „unverantwortlich und verlogen“. Bedauer- gend notwendig.
lich, dass sie mit dieser Stimme nicht weiter in die Na-
tionalstaaten vorgedrungen ist. Zu einer verantwortungsvollen Politik gehören ein-
heitliche Schutzstandards und Verfahrensrechte auf ho-
Vollkommen unverständlich ist weiterhin, wie die hem Niveau in ganz Europa. Deshalb fordern wir die
Bundesregierung ihre eigene Beschlusslage konterka- Bundesregierung in unserem Antrag auf, ihre Vorbehalte
riert: Bereits beschlossene Reformanliegen, denen sie gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene
noch vor etwa einem Jahr zusammen mit allen anderen Schutzangleichung aufzugeben. Nur damit kann sie sich
EU-Mitgliedstaaten zugestimmt hat, werden damit wie- an die Vorgaben des Stockholmer Programms halten, in
der ausgehebelt. Im Stockholmer Programm erinnerte denen es heißt, bis spätestens 2012 gemäß Art. 78 AEUV
der Europäische Rat an die Notwendigkeit, die Rechte „ein gemeinsames Asylverfahren und einen einheit-
von subsidiär geschützten Personen an die von Flücht- lichen Status für Personen, denen Asyl oder subsidiärer
lingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anzu- Schutz gewährt wird, zu schaffen“. Wir fordern die Bun-
gleichen. Dies wurde nicht erst dort, sondern seit dem desregierung dazu auf, diesen Grundsatz bei anstehen-
Haager Programm 2004 in unterschiedlichen Beschlüs- den Gesetzgebungsverfahren auf nationaler Ebene zu
sen des Europäischen Rats immer wieder betont. Mitt- berücksichtigen und umzusetzen.
lerweile erscheint das Ziel, die Reform bis 2012 umge-
setzt zu haben, allerdings in weite Ferne gerückt zu sein, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
da neben Tschechien Deutschland als einziger Mitglied- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
staat eine Schutzangleichung im Rat komplett blockiert. den Drucksachen 17/4439 und 17/4679 an die in der Ta-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10205
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – René Röspel (SPD): (C)
Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überwei- Die Geschichte des Einsatzes für die Einführung ei-
sungen so beschlossen. ner Neuheitsschonfrist liest sich ein wenig wie der be-
Tagesordnungspunkt 19: kannte Kampf gegen Windmühlen. Die Bundesregierung
vermittelt zwar den Eindruck, sie stehe einer solchen
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Einführung positiv gegenüber; gleichzeitig sehen Parla-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu ment und Öffentlichkeit jedoch keinerlei Bewegung in
dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, dieser Sache. Uns allen ist klar: Wir brauchen ein inno-
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter vations- und forschungsfreundliches Patent- und Urhe-
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion berrecht. Patente sind ein zentraler Bestandteil des Wis-
der SPD sens- und Technologietransfers, auch wenn sich die
Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im Reform von Teilen des Patentrechts möglicherweise
Patentrecht starten nicht so öffentlichkeitswirksam und attraktiv in der Öf-
fentlichkeit darstellen lässt wie andere Projekte.
– Drucksachen 17/1052, 17/4725 –
Der Deutsche Bundestag hat sich dennoch wiederholt
Berichterstattung: mit dem Plan zur Einführung einer Neuheitsschonfrist
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth im Patentrecht auseinandergesetzt. Worum geht es hier-
Marianne Schieder (Schwandorf) bei? Wissenschaft und Forschung in Deutschland stehen
Stephan Thomae durch das Nichtvorhandensein einer Neuheitsschonfrist
Jens Petermann vor einem grundlegenden Dilemma. Auf der einen Seite
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. müssen sie Erkenntnisse zügig publizieren, um im inter-
nationalen Forschungswettbewerb zu bestehen und um
ihre Exzellenz nachzuweisen. Auf der anderen Seite steht
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): häufig jedoch auch der Wunsch nach einer ökonomi-
Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion der SPD schen Verwertung der eigenen Erfindung, der aber zur-
wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auf euro- zeit mit der Notwendigkeit der Geheimhaltung einher-
päischer Ebene für die Einführung einer Neuheitsschon- geht. Im Zuge einer solchen Patentanmeldung sind
frist im Patentrecht einzusetzen. Hierdurch soll dem Be- Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen, und nicht selten
dürfnis Rechnung getragen werden, dass die Wissen- ergibt sich das konkrete Verwertungspotenzial erst nach
schaft ihre gewonnenen Erkenntnisse frühzeitig veröf- Austausch im Kollegenkreis. Die Bearbeitungszeit für
fentlichen kann, um im internationalen Forschungswett- einen Patentantrag verzögert den wissenschaftlichen
(B) bewerb bestehen zu können, ohne eine mögliche spätere Austausch, und die Angst vor einem Verlust des Rechts (D)
Patentierbarkeit zu gefährden. Diese Forderung ist zur Patentanmeldung behindert den offenen Austausch
nicht neu. Die Diskussion darüber, ob auch in das deut- mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftler-
sche und europäische Patentrecht die Neuheitsschon- gemeinde sowie mit Unternehmen und Investoren.
frist aufgenommen werden sollte, begegnet uns seit den
1980er-Jahren in regelmäßigen Abständen. Der Deut- Eine Neuheitsschonfrist würde sicherstellen, dass
sche Bundestag hat sich bereits mehrfach auf Initiative dem Erfinder eine gewisse Zeit – wir als SPD fordern
von fast allen im Bundestag vertretenen Fraktionen mit eine Frist von einem Jahr unter Verweis auf internatio-
dieser Frage auseinandergesetzt. nale Erfahrungen – zur Verfügung steht, in der der Er-
finder seine Erfindung bereits publik machen kann, ohne
Bei der Einführung einer Neuheitsschonfrist handelt
dass dies einer späteren Patentanmeldung entgegen ste-
es sich um eine facettenreiche Thematik, bei der die Vor-
hen würde. Was jeder Beobachterin und jedem Beobach-
und Nachteile einer besonders sorgfältigen Abwägung
ter auf den ersten Blick als schlüssiges Konzept er-
bedürfen und deren Beurteilung entscheidend von ihrer
scheint, findet bis heute in unserem Patentrecht keine
näheren Ausgestaltung abhängt. Der von der SPD vor-
Berücksichtigung. Während andere Länder bereits seit
gelegte Antrag geht jedoch auf zahlreiche Fragen, de-
Jahren erfolgreich auf das Instrument Neuheitsschon-
nen im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung entschei-
frist setzen, hat sich in Deutschland unter Federführung
dende Bedeutung zukommt, nicht ein. Dies gilt zum
von Bundesforschungsministerin Schavan im Bereich
Beispiel für die genaue Ausgestaltung einer Neuheits-
Patentrecht für Wissenschaft und Forschung jedoch
schonfrist. Der Antrag der SPD-Fraktion lässt auch den
nichts getan. Dabei hat sich der Deutsche Bundestag be-
Personenkreis offen, der in den Genuss der Neuheits-
reits im Mai 2006 klar für die Einführung einer Neu-
schonfrist kommen soll. Dies betrifft namentlich etwa
heitsschonfrist ausgesprochen. Auf Initiative der SPD
die Frage von Vorveröffentlichungen, die nur mittelbar
hatten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit der
auf den Erfinder zurückgehen. Darüber hinaus berück-
Drucksache 16/1546 die Bundesregierung aufgefordert,
sichtigt der vorgelegte Antrag nicht hinreichend, dass
die Bemühungen zur Einführung einer Neuheitsschon-
eine Neuheitsschonfrist – wenn man sie einführen wollte –
frist zu intensivieren. Auch die FDP hatte in Opposi-
sinnvollerweise nicht nur auf europäischer, sondern
tionszeiten auf Drucksache 14/9567 vom Juni 2002 die
auch auf internationaler Ebene einheitlich ausgestaltet
Einführung einer Neuheitsschonfrist gefordert. Zu Re-
werden sollte.
gierungszeiten haben beide Fraktionen offenkundig ihre
Der vorliegende Antrag ist daher schon aus diesen Forderungen von damals vergessen. Wenn die Regie-
Gründen nicht zustimmungsfähig. rungsfraktionen nun – absehbar – unseren Antrag
10206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

René Röspel
(A) ablehnen werden, so ist dies kein guter Tag für ein inno- einsetzte. Die Fraktionsparteien der großen Koalition (C)
vationsfreundliches und Forschung förderndes Patent- hatten im Jahr 2006 einen Antrag eingereicht, der die
recht. Bundesregierung aufforderte, die Bemühungen um die
Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht auf
Nun mag man den Regierungsfraktionen zugute hal- internationaler Ebene zu intensivieren. Diese Anträge
ten, dass sie unseren Antrag ablehnen, da wir uns in der blieben bislang ohne erkennbaren Erfolg. Selbst der An-
Opposition befinden. Dabei ist unser Antrag bewusst so trag der Regierungsfraktionen aus dem Jahr 2006
angelegt, dass wir nicht die – unrealistische – Forde- konnte die damalige Regierung nicht dazu bewegen, die
rung nach einer sofortigen Festschreibung der Neu- Neuheitsschonfrist im deutschen Patentrecht wieder ein-
heitsschonfrist aufstellen – so wünschenswert dies auch zuführen.
wäre –, sondern ja eher zurückhaltend formulieren. Wir
fordern die Bundesregierung lediglich auf, in dieser Sa- Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach
che endlich sichtbar aktiv zu werden. Außerdem soll die dem Für und Wider einer Neuheitsschonfrist. Die Befür-
die Bundesregierung dem Bundestag Vorschläge unter- worter der Neuheitsschonfrist, und so auch der Antrag
breiten, wie man das nationale und internationale der SPD, erhoffen sich in erster Linie, dass die Neuheits-
Patentwesen zur Stärkung von Wissenschaft und For- schonfrist den Forscherinnen und Forschern mehr Zeit
schung verbessern – sprich: reformieren – könnte. Auch einräumt. Diese soll es den Wissenschaftlern und Wis-
die verbesserte Ausstattung des Deutschen Patent- und senschaftlerinnen ermöglichen, sich mit Kolleginnen
Markenamtes sowie des Europäischen Patentamtes und Kollegen auszutauschen, um so zu noch besseren
sollte eigentlich unstrittig sein. Ohne unseren Antrag Ergebnissen zu kommen.
wäre dieses Thema jedoch seit Beginn der schwarz-gel- Gleichzeitig könnten nach Vorstellung der SPD in der
ben Koalition vollkommen unter den Tisch gefallen. Wir gewonnenen Zeit auch Gespräche mit Unternehmen und
fordern Sie auf: Beenden sie die Sonntagsreden von ab- Investoren geführt werden, die eine möglichst erfolgrei-
strakten Hightech-Strategie-Plänen und die Märchenge- che Verwertung der Erfindung zum Ziel haben.
schichten über eine angeblich irgendwann einmal anste-
hende steuerliche Förderung von Forschung und So die Theorie hinter dem Antrag der SPD. Aber
Entwicklung. Sehen sie sich stattdessen konkret an, wo- brauchen wir das in der Praxis? Mögliche Geschäfts-
ran es der deutschen Wissenschaft und Forschung fehlt. partner und Investoren kann man zur Verschwiegenheit
verpflichten. Dadurch wäre die für eine Patentanmel-
Unsere Defizite liegen nicht in der geringen Zahl von dung erforderliche Voraussetzung, dass die Erfindung
bunten Broschüren über Wettbewerbe, Strategien und noch nicht veröffentlicht ist, gewährleistet. Darüber hi-
Rahmenprogramme; wir haben vielmehr sehr konkrete naus sind die meisten Wissenschaftler bereits heute gut
(B) Herausforderungen etwa im Patentrecht oder auch im über das Patentrecht informiert. Oftmals verfügen Uni- (D)
Urheberrecht, über das wir hier bald diskutieren wer- versitäten und Forschungseinrichtungen über eigene
den. Schauen Sie noch einmal in das Gutachten zu For- oder mit Partnerinstitutionen betriebene Patentverwer-
schung, Innovation und technologischer Leistungsfähig- tungsabteilungen. Die betroffenen Forscher wissen also,
keit 2009 der Expertenkommission „Forschung und wie wichtig es ist, ihr Patent anzumelden, bevor sie es
Innovation“. Hier finden Sie die Probleme, die die Re- veröffentlichen.
gierung zügig angehen sollte, und die Neuheitsschon-
frist ist hier eines, es jedoch ein besonders wichtiges Neben den unbestrittenen Vorteilen bringt eine Neu-
Beispiel. heitsschonfrist auch erhebliche Nachteile mit sich. Sie
erhöht die Rechtsunsicherheit, da für die Beteiligten
Auch wenn Sie heute – absehbar – allein aus koali- nicht von vornherein klar ist, ob eine Veröffentlichung
tionspolitischen Gründen unseren Antrag ablehnen wer- bereits als „Stand der Technik“ von allen genutzt wer-
den: Drängen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen den kann oder später rückwirkend für eine Patentanmel-
von CDU/CSU und FDP, ihre Ministerinnen und Minis- dung in Anspruch genommen wird. Die Rechtsunsicher-
ter zu einer Umsetzung unserer Forderungen. Wir geben heit hat weitere Folgen: Die Verfahren zur Anmeldung
das Copyright für unsere Pläne gerne an Sie ab, wenn von Patenten werden komplexer, da noch umfassender
Sie endlich aktiv werden, um die Wettbewerbsfähigkeit geprüft werden muss, was noch als „nicht veröffent-
unseres Landes in Wissenschaft und Forschung im Be- licht“ angesehen werden kann oder was gegebenenfalls
reich Patentrecht zu verbessern. der Neuheitsschonfrist unterfällt. Besonders kompliziert
kann dies bei Folgepublikationen werden, die erst durch
Stephan Thomae (FDP): vorherige Veröffentlichungen ausgelöst wurden. Diese
Rechtsunsicherheit macht das Patent nicht nur streitan-
Heute diskutieren wir den Antrag der SPD, mit dem fälliger, sie mindert auch die Bereitschaft, in patent-
sie eine „Initiative für eine Neuheitsschonfrist im Pa- trächtige Forschungsbereiche zu investieren und aktiv
tentrecht“ starten will. Die Mitglieder dieses Hohen zu werden. Dies schadet letztlich nicht nur der For-
Hauses haben über die Frage, ob im deutschen Patent- schung, sondern auch der Allgemeinheit. Aus diesem
recht wieder eine Neuheitsschonfrist eingeführt werden Grund wird eine Neuheitsschonfrist von großen Teilen
soll, in der Vergangenheit mehrfach debattiert. Die Ini- der deutschen Industrie mit guten Gründen abgelehnt.
tiativen dazu kamen aus unterschiedlichen Fraktionen.
In der 14. Wahlperiode war es die FDP, die sich „für ein Wir wollen die Tür hier aber nicht ganz zumachen.
effizientes, kostengünstiges und konkurrenzfähiges euro- Die Einführung einer Neuheitsschonfrist in das europäi-
päisches Gemeinschaftsrecht mit Neuheitsschonfrist“ sche Patentrecht wäre im Rahmen einer internationalen

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10207
Stephan Thomae
(A) Patentrechtsharmonisierung denkbar. Dies würde je- chen Interessen an Forschungsergebnissen aus dem Weg (C)
doch voraussetzen, dass mit anderen großen Patentna- zu räumen. Anders als die SPD hier proklamiert, kann es
tionen, insbesondere den USA, in zentralen Fragen Kon- aber nicht vor allem darum gehen, die Zahl der Patente
sens erzielt werden kann. Hierzu zählen vor allem die endlos auszuweiten. Dies widerspräche dem Ziel, hoch-
Einführung des Erstanmelderprinzips und die Offenle- qualitative und sinnvolle Patente zu fördern. Aus unse-
gung aller Patente nach 18 Monaten. Gegenwärtig ist rer Sicht muss Ziel der vorgeschlagenen Regelung viel-
eine Annäherung der USA an Europa in diesen Punkten mehr sein, Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit
aber nicht zu erkennen; entsprechende Verhandlungen nicht vorzuenthalten. Forscherinnen und Forscher müs-
liegen auf Eis. Solange aber eine internationale Lösung, sen publizieren können, ohne Rücksicht auf eventuelle
die auch von den USA mitgetragen wird, nicht absehbar Patentierungsmöglichkeiten zu nehmen. Häufig ergeben
ist, überwiegen die Nachteile, die eine Neuheitsschon- sich mögliche Verwertungskanäle auch erst nach einer
frist im Patentrecht auf europäischer Ebene mit sich Veröffentlichung von Forschungsergebnissen.
bringen würde. Der Antrag ist daher abzulehnen.
Patente und ihre Durchsetzung haben jedoch inzwi-
schen auch Dimensionen erreicht, in denen sie innova-
Jens Petermann (DIE LINKE): tionsfeindlich wirken oder an ethische Grenzen stoßen –
Die SPD fordert die Bundesregierung auf, eine Initia- etwa im Bereich der Computersoftware, der Biomedizin
tive für eine Neuheitsschonfrist von bis zu einem Jahr im oder der Medikamentenherstellung. Die Linke setzt sich
europäischen Patentrecht zu starten. Ziel ist es, Wissen- dafür ein, dass im Zuge der im Antrag geforderten Neu-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Veröffentli- gestaltung des Patentsystems auch diese Grenzen der
chung neuer Forschungsergebnisse eine Frist einzuräu- Ansammlung von geistigem Eigentum mitbedacht wer-
men, innerhalb derer diese Ergebnisse patentiert werden den. Wir brauchen klare Regelungen, was alles nicht zu
können. Bisher stehen sie hierzulande vor der Entschei- patentieren ist. Wir wollen eine klare Durchsetzung des
dung, entweder zu publizieren oder zu patentieren. Die Verbotes von Patenten auf Leben – etwa Pflanzenarten,
Erfahrungen aus den USA zeigen, dass eine solche Gene oder Saatgut. Keine Firma darf sich unsere Le-
Schonfrist dazu beiträgt, einerseits die Zahl der Publi- bensgrundlagen aneignen. Wir wollen eine faire und ge-
kationen zu erhöhen und andererseits die Qualität der rechte Patentierung von medizinischer Forschung, da-
Patente durch entsprechende Transparenz zu verbes- mit mit öffentlichen Geldern finanzierte Neuheiten auch
sern. Im Moment ist es so, dass jede Erfindungsidee, die denjenigen in armen Ländern zugute kommen, die keine
vor ihrer Anmeldung beim Patentamt schon öffentlich Kaufkraft, dafür aber umso mehr Gesundheitsprobleme
gemacht wurde, nicht mehr patentiert werden kann. Öf- haben. Wir brauchen keine weltweite Patentpolizei, wie
fentlich gemacht ist eine Erfindung dann, wenn sie au- sie im Rahmen des ACTA-Abkommens installiert wird,
(B) ßerhalb des Betriebes in einem Probelauf auf ihre Ent- sondern eine Kultur der Open Innovation. Der Kampf (D)
wicklungsreife hin getestet wurde oder wenn über sie ein gegen den Klimawandel ist nutzlos, wenn Umwelttech-
wissenschaftlicher Austausch stattgefunden hat. Die nologien aus Deutschland außerhalb der G-8-Staaten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gezwun- nirgendwo erschwinglich sind. Wissen sollte stärker ein
gen abzuwägen: Einerseits müssen sie ihre Forschungs- Gemeingut werden. Vorschläge dazu lässt die SPD ver-
ergebnisse zeitnah publizieren, um im internationalen missen.
Forschungswettlauf mitzuhalten und Reputation zu er-
werben. Auf der anderen Seite wird dadurch eine ökono- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mische Verwertung der eigenen Erfindung ausgeschlos- NEN):
sen, da vor einer Patentanmeldung die Geheimhaltung Bei der Behandlung des Themas Neuheitsschonfrist
der Erfindung verlangt wird. Mit diesem Konflikt hatten fällt sofort auf: Die Forderung nach der Einführung ei-
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im deut- ner Neuheitsschonfrist wird heute zum wiederholten
schen Patentrecht nicht immer zu kämpfen. Denn bis Male in diesem Hause behandelt. In der Wissenschaft
zum Ende der 70er-Jahre gab es in Deutschland eine werden entsprechende Forderungen seit den 80er-Jah-
sechsmonatige Neuheitsschonfrist. Diese wurde jedoch ren erhoben. Forderungen nach der Einführung sind von
im Zuge des Straßburger und des Europäischen Patent- einem auffälligen parteiübergreifenden Konsens ge-
übereinkommens 1978/1979 abgeschafft. Eine Wieder- prägt. Zuletzt hat etwa die schwarz-rote Koalition 2006
einführung der Neuheitsschonfrist allein in Deutschland dieselbe Forderung erhoben. Das gibt zu denken. Nicht,
würde aber eine deutsche Patentanmeldung im Ver- dass Konsens etwas Schlechtes wäre! Offenbar handelt
gleich zu Anmeldungen aus konkurrierenden Staaten es sich um eine mit einfachen Argumenten kaum von der
schwächen. Deshalb ist es geboten, die Neuheitsschon- Hand zu weisende Forderung. Zu denken aber gibt, dass
frist im europäischen Patentrecht zu verankern. sich bis heute keine Bundesregierung offiziell den Schuh
hat anziehen wollen, die entsprechende Neuheitsschon-
Meine Fraktion kann dem Anliegen der Sozialdemo- frist durchzusetzen. Das müssen wir näher diskutieren.
kraten zustimmen, jedoch nicht ohne einige kritische An-
merkungen zum Beschlusstext gemacht zu haben. Es ist Zunächst aber lassen Sie mich kurz zusammenfassen,
richtig, dass die derzeitige Regelung, welche eine Ge- weshalb sich die Wiedereinführung der Neuheitsschon-
heimhaltung von Forschungsergebnissen bis zu einer frist aufzudrängen scheint. In der Sache geht es um eine
möglichen Patentierung verlangt, niemandem hilft. Eine Effektivierung der Ziele des Patentrechts. Es dient dem
Öffnung ist hier geboten, um praktische Hindernisse zur Fortschritt der Technik durch Förderung technischer
Vereinbarung von wirtschaftlichen und wissenschaftli- Erfindungen. Es verleiht Monopole auf Zeit für den Auf-

Zu Protokoll gegebene Reden


10208 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Dr. Konstantin von Notz


(A) weis und geschickten Nachvollzug in der Natur anzutref- setzes kennen, wird der Erfinder von den patentrechtlich (C)
fender technischer Regeln, die zur Konstruktion innova- negativen Folgen von (Vor-)Veröffentlichungen für ei-
tiver Technologien beitragen können. Die staatliche nen gewissen Zeitraum, zumeist nicht länger als ein
Gewährung dieser Rechte soll damit einen Ansporn für Jahr, verschont. Er kann deshalb sowohl Forschungser-
oft kostenträchtige Investitionen in Forschung liefern gebnisse rasch veröffentlichen und damit symbolisches
und ist damit ein Teil der Forschungs- und Technologie- Kapital einstreichen, als auch zugleich an der wirt-
politik, die auf laufende verwertbare Innovationen als schaftlichen Verwertung weiterarbeiten. Doch auch die
Motor der Wirtschaft abzielt. Die Neuheitsschonfrist Anzahl angemeldeter Patente vermag es, ein entspre-
kann mittelbar auch Anreize für den notwendigen Aus- chendes Ansehen zu erzeugen.
bau des Wissenstransfers zwischen öffentlichen For-
schungseinrichtungen und Industrie schaffen. Das Die häufig zitierte Studie des Bundesministeriums für
vorübergehende Ausschließlichkeitsrecht an der Ver- Bildung und Forschung zur Neuheitsschonfrist aus dem
wertung der Erfindung verspricht einen Return on In- Jahre 2002 setzt sich mit der Praxis dieses Instrumentes
vestment insbesondere hinsichtlich der getätigten Inves- in den USA auseinander und befragt deutsche Einrich-
titionen und zählt damit zu einem Kranz möglicher tungen nach ihren Patentierungsaktivitäten. Sie belegt
Marktanreize. Übrigens unterscheidet es sich in seinem eine erhebliche Notwendigkeit für eine angemessene
Ausgangspunkt des Nachvollzuges der technischen Re- Schutzfrist, die sich ergibt, weil sich die Patentierungs-
gel deutlich vom Urheberrecht, bei dem – gut kontinen- reife der Erfindung zeitlich oft erst zu einem späteren
taleuropäisch – der „kreative schöpferische Geistes- Zeitpunkt als dem der möglichen Erstveröffentlichung
blitz“ zur Schutzanknüpfung konstruiert wird. ergibt. Auch – vermeidbare – Gründe wie zu hohe Kos-
ten oder der Arbeitsaufwand werden angeführt, die eine
Forschung erfolgt auch und gerade im Hochschulbe- Schonfrist rechtfertigen könnten.
reich, nicht nur in den Forschungsabteilungen von Un-
ternehmen. Will man auch hier die Patentanmeldungen Zu denken gibt die Studie damit allerdings noch in
steigern, kommt es zu einem Zielkonflikt. Denn öffentli- ganz anderer Hinsicht. Wenn patentinaktive Wissen-
che Hochschuleinrichtungen ticken anders als die In- schaftler darüber klagen, dass ihnen Informationen zu
dustrie. Die Finanzierung dort wird nicht unmittelbar ihren Patentierungsmöglichkeiten fehlen, und selbst die
selbst erwirtschaftet, sondern stammt aus öffentlichen patentaktiven Forscher über Nichtanmeldungen auf-
Mitteln sowie etwa aus Drittmitteln. Der Erfolg von For- grund des Arbeitsaufwandes oder der Kosten klagen, so
schungseinrichtungen bemisst sich nach wie vor nicht bewegt man sich im hochschulpolitischen Feld der Wirk-
danach, ob man selbst die Ergebnisse der Forschung ei- samkeit der Transferstellen, die bei der Patentierung be-
ner wirtschaftlichen Verwertbarkeit zuführt, sondern hilflich sein sollen. Wer also patentpolitisch steuert,
muss sich über die Grenzen des Erreichbaren Rechen-
(B) nach anderen Faktoren wie etwa dem ausgewählten (D)
Forschungsfeld, der Qualität und vielen mehr. Der Zeit- schaft ablegen. Man muss sehen, dass es mit einer wis-
faktor spielt sowohl in der Industrie als auch in der öf- senschafts- und forschungsfreundlichen Patentrechtsre-
fentlich finanzierten Forschung eine ganz entscheidende form nicht getan ist, sondern dass auf unterschiedlichen
Rolle. Für öffentliche Forschungseinrichtungen verbin- Ebenen das Umfeld der Hochschule mitbetrachtet wer-
det sich mit dem Erfolg, als erster durch das Ziel zu ge- den muss, wenn mehr Patentanmeldungen das Ziel sind.
hen, der Ertrag symbolischen Kapitals. Wer zuerst Bei alledem ist für uns Grüne selbstverständlich, dass
kommt, oft in einem internationalen Wettbewerb, gilt als sich der Erfolg wissenschaftlicher Arbeit nicht allein
exzellent, erhält die größten Zuwendungen und zieht die nach der wirtschaftlichen Verwertbarkeit bemessen
besten Köpfe an. Als Nachweis des Zieldurchlaufes dient kann.
in erster Linie die Veröffentlichung der Ergebnisse, die Diskussionswürdig und aus unserer Sicht noch weite-
Sicherung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ist nach rer Begründung bedürftig ist die Dauer der Schonfrist.
wie vor zumeist nachrangig. Die Bemessung muss im Hinblick auf die Ungewissheit
Nach geltendem Patentrecht hat das erhebliche Kon- der Verwertbarkeit abgewogen werden. Denn wird sie
sequenzen. Wer veröffentlicht, verliert damit zumeist die ohne weitere Anpassung im Patentrecht eingeführt, führt
Möglichkeit des Erwerbs von Patentrechten. Denn die sie unter dem Strich zu einer Verlängerung der Gesamt-
Erfindung gilt damit nicht mehr als „neu“ im Sinne des dauer, für die Unklarheit darüber besteht, ob Veröffent-
Gesetzes. Sie übertrifft nicht mehr den Stand der Tech- lichungen wirtschaftlich genutzt werden können. Vieles
nik, denn sie ist bereits in der Welt und definiert diesen spricht deshalb dafür, gegebenenfalls kompensatorisch
Stand bereits selbst mit. Damit führt das gegenwärtige Anpassungen vorzunehmen, mit denen sichergestellt
Patentrecht insbesondere im Hochschulbereich zu einer wird, dass durch die Neuheitsschonfrist die derzeitige
misslichen Weichenstellung des Entweder-Oder: Veröf- 18-monatige Offenlegungsfrist für Patenanmeldungen
fentlichung oder Geheimhaltung. Nur wer die Ergeb- in der Summe keine Verlängerung erfährt. Der vorlie-
nisse bis zur Patentierungsreife und Patentanmeldung gende Antrag der SPD regt ferner eine Neuheitsschon-
geheimhält, erhält sich die Chance zur Erlangung des frist von einem Jahr im europäischen Patentüberein-
vorübergehenden Monopols der wirtschaftlichen Ver- kommen an. Wir kennen eine Regelung der
wertung. Offenbar entscheidet sich die Praxis nach wie Neuheitsschonfrist im Gebrauchsmusterrecht, die zu-
vor und überwiegend für die Veröffentlichung. nächst mit einer Frist von sechs Monaten begann und
nach ersten Erfahrungen auf insgesamt ein Jahr verlän-
Mit einer Neuheitsschonfrist, wie wir sie im deut- gert wurde. Entsprechend wäre zu überlegen, ob ein
schen Recht nur aus § 3 Abs. 1 des Gebrauchsmusterge- ähnlich vorsichtiges, schrittweises Vorgehen auch bei ei-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10209
Dr. Konstantin von Notz
(A) ner Einführung im Patentrecht ratsam wäre. Weitere Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): (C)
kompensatorische Anpassungen im Patentrecht werden Die European Training Mission für Somalia – kurz
für den Fall einer Einführung diskutiert und sollten EUTM SOM – hat ein ganz klares Mandat. Sie soll durch
sorgfältig geprüft werden. die Ausbildung von Sicherheitskräften für die soma-
Klar ist, dass angesichts internationaler Patentie- lische Übergangsregierung – kurz TFG – die Lage in
rungsstrategien eine rein nationale Lösung wenig ziel- Somalia langfristig stabilisieren und darüber hinaus die
führend erscheint. Deshalb geht der Antrag in die rich- Sicherheit der Bevölkerung Mogadischus sicherstellen.
tige Richtung. Nach meinen Informationen verfügt Deutschland beteiligt sich an dieser europäischen Mis-
neben den USA auch Japan über eine patentrechtliche sion und nimmt die übertragene Verantwortung mit un-
Neuheitsschonfrist. Das zentrale Argument der Gegner seren europäischen Partnern wahr, damit endlich wie-
der Neuheitsschonfrist, wonach diese eine Steigerung der Frieden in ein Land einkehrt, das viel zu lange schon
der Rechtsunsicherheit bewirke und Verzerrungen im unter der Last des Bürgerkrieges aufgerieben wird. Die
Standortwettbewerb nach sich ziehe, verliert angesichts Übergangsregierung ist der einzige verlässliche Akteur,
fortschreitender Harmonisierung an Überzeugungs- der bestrebt ist, ein Mindestmaß an Ordnung wiederher-
kraft. Zudem zeigt sich Rechtssicherheit auch und insbe- zustellen in einem Staat, der de facto über keine funk-
sondere im Patentrecht als ein relatives Konzept ange- tionsfähigen Organe verfügt. Dabei ist das Vorgehen der
sichts der ohnehin bestehenden zahlreichen Kautelen Europäischen Union kein Alleingang. Multilateral, in
bei der notwendigen Ermittlung des jeweiligen Standes Abstimmung mit den Vereinten Nationen und der Afrika-
der Technik. nischen Union, wird hier ein Versuch unternommen, den
fortwährenden Kriegszustand endlich zu beenden.
Lassen Sie mich noch zur Frage zurückkommen, wie
wir damit umgehen, dass wir es mit einer nunmehr be- In Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und
reits seit 30 Jahren im Raume stehenden Forderung zu Herren von der Fraktion Die Linke, unterstellen Sie,
tun haben. Es hat zahlreiche Vorstöße zur Einführung dass unser Engagement im Rahmen der EUTM SOM die
gegeben, die bislang allesamt offenbar an der Unter- Konflikte in der Region schüren würde und sogar eine
schiedlichkeit der jeweiligen Systeme, sowohl zwischen Ausweitung auf die Nachbarstaaten Äthiopien, Kenia
den Mitgliedstaaten des Europäischen Patentüberein- und Uganda droht. Woher nehmen Sie diesen Irrglau-
kommens als auch zwischen den EPÜ-Staaten im Ver- ben? Im Kampf gegen die islamistischen Milizen, denen
hältnis zu den USA und Japan, gescheitert sind. Die überhaupt nicht an einem Friedensprozess gelegen ist,
Tatsache, dass sich entsprechende Vorstöße auf interna- brauchen die Menschen in Somalia ausgebildete Sicher-
tionaler Ebene schwierig gestalten, sollte uns nicht da- heitskräfte, die das oberste ihrer Grundrechte wahren:
(B) von abhalten, das Richtige zu tun, um ein innovations- das Recht auf Leben. Eine Beendigung des Einsatzes in (D)
freundliches Patentrecht voranzubringen. Somalia wäre unverantwortlich. Schon heute treibt die
prekäre Situation vor Ort junge Menschen in die Hand
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der islamistischen Milizen, die die Einrichtung einer
Gesetzgebung auf Grundlage der Scharia fordern, oder
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
in die Hände von Piraten. Fast täglich erreichen uns Be-
empfehlung auf Drucksache 17/4725, den Antrag der
richte von Piratenangriffen vor Somalias Küste. Dürfen
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1052 abzulehnen.
wir dem nachgeben und uns aus der Verantwortung steh-
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussemp- len? Nein, meine Damen und Herren von der Fraktion
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Die Linke, hier kommt wieder einmal Ihre vollkommen
nen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen ange- desillusionierte, ideologische Verblendung ans Licht,
nommen. zumal Sie in Ihrem Antrag ja noch nicht einmal im Ge-
ringsten ausführen, wie Ihre politische Lösung aussehen
Tagesordnungspunkt 20: könnte. Und um das noch einmal anzuführen: Militä-
risch, wie Sie sagen, ist der Ansatz der EUTM SOM
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim nicht. Es geht hier um die Ausbildung von Sicherheits-
Dağdelen, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, kräften, mitnichten um die Entsendung bewaffneter
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE deutscher Soldaten.
LINKE
Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Antrag kritisie-
EUTM Somalia beenden – Für eine politische ren, ist die Zusammensetzung der Streitkräfte der soma-
Lösung in Somalia lischen Übergangsregierung. Ich bin überzeugt davon,
– Drucksache 17/4248 – dass die unterschiedlichen Volksgruppen, die gemein-
sam ausgebildet werden, eine große Stärke des Aus-
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
bildungsprogrammes sind. Gerade die gemeinsame Aus-
Verteidigungsausschuss bildung wird dabei helfen, die unterschiedlichen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Gruppierungen zusammenzubringen und so den Frie-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und densdialog zu forcieren. Die Besoldungszusagen der
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
amerikanischen Regierung für die Rekruten in Höhe von
100 US-Dollar werden ein Desertieren der Soldaten ver-
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. hindern und sie langfristig an die Regierung binden.
10210 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Hartwig Fischer (Göttingen)


(A) Auch Ihr Vorwurf, die Bundesregierung würde in So- lassen. Hilfsorganisationen warnen aktuell davor, dass (C)
malia parteiisch in Bürgerkriege eingreifen, entbehrt je- bis zu einer halben Million Menschenleben durch aus-
der Grundlage. Wie Sie bei einer Auseinandersetzung bleibende Regenfälle und eine der schlimmsten Dürre-
mit der Sachlage festgestellt hätten, ist die EUTM SOM perioden der vergangenen Jahre bedroht sind.
weder ein direkter Eingriff in einen Bürgerkrieg, noch
geschieht er parteiisch. Die Afrikanische Union, die Ver- Derzeit ist wohl kein Akteur alleine in der Lage, die
einten Nationen mit ihren Institutionen und die Europäi- physische Sicherheit der somalischen Bevölkerung zu
sche Union stehen hinter der Entsendung von derzeit garantieren oder gar rechtsstaatliche Mechanismen zu
sechs – ich wiederhole mich: sechs – Ausbildern von gewährleisten. Gerade Sicherheit ist jedoch eine der
maximal 20 möglichen Entsendungen. Eine einseitige Schlüsselvoraussetzung für Frieden und eine nachhal-
militärische Intervention sieht anders aus. Ihre Unter- tige Entwicklung. Mit der EU-Trainingsmission in So-
stellung verhöhnt die Arbeit unserer deutschen Soldaten. malia, EUTM, leistet die Europäische Union einen wich-
Aber Sie schrecken ja auch nicht von der Instrumentali- tigen Beitrag, um ein Mindestmaß an Sicherheit in und
sierung von Kindersoldaten zurück. Ihre angeblichen für Somalia zu erreichen. Die EU und ihre beteiligten
Hinweise, die TFG würde sich bei ihrer Rekrutierung Mitgliedstaaten greifen dabei gerade nicht parteiisch in
minderjähriger Soldaten bedienen, lässt sich nicht be- einen Bürgerkrieg ein, wie es die Linke in ihrem Antrag
stätigen. Auch die eingesetzten deutschen Ausbilder vor in unverantwortlicher Weise behauptet. Sie agieren in
Ort sind über keine Einbeziehung von Kindersoldaten Abstimmung mit der internationalen Staatengemein-
informiert. Im Gegenteil: Die TFG engagiert sich gegen schaft. In seiner Resolution 1872 hat der VN-Sicher-
Rekrutierung Minderjähriger, im Gegensatz zu den radi- heitsrat regionale und internationale Organisationen
kalislamischen Milizen, die offen die Schutzwürdigkeit explizit aufgefordert, Unterstützung bei der Ausbildung
von Kindern verletzten. der somalischen Sicherheitskräfte zu leisten. Diese Re-
solution ist die Grundlage für EUTM. Die Mission dient
In Ihren Forderungen genauso wie in der Begrün- nicht nur dazu, Soldaten in militärisch-technischen Fra-
dung Ihres Antrags befinden Sie sich meilenweit entfernt gen auszubilden. Zum Programm zählt auch die Ausbil-
von der Realität. Diese außenpolitisch andauernde Rea- dung in Fragen von Menschenrechten mit einem
litätsverweigerung ist bar jeder Vernunft. Stellen Sie Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderschutz. Deshalb
sich in dieser wichtigen Frage endlich den Tatsachen, gehören sowohl weibliche Ausbilder wie auch ein Gen-
und helfen Sie mit konkreten politischen Vorschlägen, der Advisor zum Team von EUTM.
die Lage in Somalia zu verbessern. Das Leid der Men-
Bei aller Bedeutung, die wir der Mission beimessen,
schen in Somalia darf nicht für Ihre politisch-ideolo-
dürfen wir natürlich auch die Probleme nicht außer Acht
gisch motivierten Machenschaften missbraucht werden.
lassen. Es ist richtig: Es lässt sich nicht ausschließen,
(B) (D)
dass einige der gut ausgebildeten Soldaten bei ihrer
Edelgard Bulmahn (SPD): Rückkehr nach Somalia die Seiten wechseln. Sie werden
Die Situation in Somalia ist – man kann es nicht an- dies vor allem dann tun, wenn sie sich schlecht behan-
ders beschreiben – verfahren. Seit fast zwanzig Jahren delt oder benachteiligt fühlen. Eine gute und regelmä-
gibt es keinen funktionierenden Staat am Horn von ßige Bezahlung ist dabei nur ein, aber ein wichtiger As-
Afrika. De facto ist das Land dreigeteilt: in Somaliland pekt. Die Mission und damit die Hoffnung auf Sicherheit
als gewissermaßen gefestigten Staat, Puntland als in Somalia gänzlich aufzugeben, ist aus meiner Sicht der
schwachen Staat und Süd-Somalia als gescheiterte, falsche Weg. Deshalb muss die internationale Staaten-
quasi staatenlose Region. Sie wird von den zunehmend gemeinschaft alles daran setzen, nicht nur die Ausbil-
radikalisierten Al-Schabaab-Milizen kontrolliert, die dung der Soldaten, sondern auch die Rahmenbedingun-
nicht nur Terror gegenüber der somalischen Bevölke- gen für deren Einsatz zu verbessern.
rung ausüben, sondern durch Anschläge auch die Bevöl-
kerung in den Nachbarstaaten bedrohen. Die von den Die Linke spricht sich in ihrem Antrag dafür aus, die
Vereinten Nationen anerkannte somalische Übergangs- deutsche Beteiligung an EUTM sofort zu beenden.
regierung unter Scheich Scharif ist nicht in der Lage, Gleichzeitig fordert sie aber auch eine politische Lösung
mehr als wenige Straßenzüge in Mogadischu zu kontrol- in Somalia. Letzteres kann ich nur unterstützen; doch
lieren, und auch das gelingt ihr nur, weil die Mission der leider sagt der Antrag nichts dazu, wie eine politische
Afrikanischen Union, AMISOM, den Schutz der Über- Lösung erreicht werden kann. Hier zeigt die Linke
gangsregierung sicherstellt und den Zugang zum Hafen schlichtweg Orientierungslosigkeit. Wirkliche Fort-
und zum Flughafen kontrolliert. Das Interesse der Mehr- schritte werden wir in Somalia nur erreichen, wenn der
heit der Bevölkerung an einem Ende der Kämpfe, an ei- Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen ein-
nem Wiederaufbau und einem menschenwürdigen Leben schließlich der Sicherheitsstrukturen einhergeht mit der
wird von den bewaffneten Gruppen schlicht missachtet. Bekämpfung der Armut und der Sicherung von Men-
schenrechten. Dabei kann militärisches Engagement
Von den insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern Soma- kein Ersatz für Staatlichkeit und für eine friedliche Ent-
lias ist knapp die Hälfte auf Nahrungsmittelhilfe von au- wicklung Somalias sein. Das hat gerade meine Fraktion
ßen angewiesen, und jedes vierte Kind ist akut unterer- immer wieder betont, zuletzt bei der Verlängerung des
nährt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten des Kon- Atalanta-Mandates. Deshalb müssen wir uns weiterhin
fliktes wurden fast 1,5 Millionen Menschen vertrieben. am Programm der internationalen Gemeinschaft zum
In den vergangenen Monaten haben mehr als 20 000 Wiederaufbau staatlicher Strukturen und an der Finan-
Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Wasser ver- zierung von AMISOM beteiligen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10211
Edelgard Bulmahn
(A) Die Afrikanische Union selbst hat eine immer wichti- und bis zu 1 400 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Seit (C)
gere Rolle bei der Friedenssicherung und Konfliktlö- April letzten Jahres unterstützt die EU mit der Ausbil-
sung übernommen. Die vorhandenen Kapazitäten gilt es dungsmission EUTM Somalia die provisorische somali-
auszubauen und zu stärken. Deutschland sollte daher sche Übergangsregierung auch bei der Ausbildung von
die AU in ihrem Bestreben, positive Entwicklungen für bis zu 2 000 Rekruten in Uganda. Deutschland ist an
den afrikanischen Kontinent herbeizuführen, nach allen dieser Mission mit bis zu 13 Angehörigen der Bundes-
Kräften unterstützen. Bei der Lösung der vielfältigen wehr beteiligt. Während Uganda die Grundausbildung
Konflikte in Afrika muss die AU einer der wichtigsten der Rekruten übernimmt, kümmert sich die EU vor allem
Partner der internationalen Staatengemeinschaft sein. um die Spezialisierung der Soldaten. Hierzu gehört aus-
Mit Blick auf die Situation in Somalia hat die AU bei ih- drücklich auch die Ausbildung in Menschenrechtsfragen
rem Gipfel in der vergangenen Woche deutlich gemacht, mit einem Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderschutz.
dass sie bereit und in der Lage ist, hier Verantwortung
zu übernehmen. Die Bemühungen allein im militärischen Bereich kön-
nen den Konflikt natürlich nicht grundlegend lösen.
Entsprechend den internationalen Vereinbarungen AMISOM, Atalanta und EUTM Somalia können die ak-
läuft das Mandat der somalischen Übergangsregierung tuellen Symptome lindern und die Voraussetzungen für
am 20. August 2011 ab. Und man ist sich in der Staaten- eine politische Lösung verbessern helfen, indem sie für
gemeinschaft einig, dass es hier keinen Aufschub geben ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen. Dabei müssen
darf. Aufgabe ist es, bis dahin eine neue Verfassung zu diese Bemühungen eingebettet sein in ein politisches
entwickeln, freie und faire Wahlen zu organisieren und Gesamtkonzept. Dieses Konzept muss von allen relevan-
dabei in einem demokratischen Prozess die verschiede- ten politischen Gruppen in Somalia selbst getragen
nen somalischen Akteure einzubinden. Wenn das nicht werden und auch – und gerade – die Anrainerstaaten
gelingt, dann wird die nächste somalische Administra- umfassen, denn der Konflikt hat schon lange eine über-
tion nicht mehr sein als die 16. Übergangsregierung seit regionale Dimension.
1991.
Die Nachbarstaaten haben dabei unterschiedliche
Interessen. Es ist kein Geheimnis, dass Äthiopien die so-
Marina Schuster (FDP): malische Übergangsregierung unterstützt, Eritrea hin-
Somalia ist seit dem Ende der gescheiterten UN-Frie- gegen die UIC. Damit stärken diese Länder somalische
densmission im Jahr 1995 zum Synonym und Paradebei- Kontrahenten und weiten ihre eigenen Konflikte auf
spiel für Staatsversagen geworden. Die internationale Stellvertreter im Somalia aus. Doch die regionale Ver-
Gemeinschaft hat das am Golf von Aden gelegene Land flechtungen gehen weiter: Ägypten, Dschibuti, Kenia,
(B) seit Mitte der 90er-Jahre sträflich vernachlässigt. Soma- Jemen und Sudan – auch diese Länder verfolgen ver- (D)
lia von der internationalen Agenda zu nehmen war da- schiedene Ansätze und Eigeninteressen, auch das muss
mals eine fatale Fehlentscheidung, die sich heute rächt. bei den politischen Ansätzen beachtet werden.
Das äußert sich für alle am leichtesten nachvollziehbar
in den Meldungen über die florierende Piraterie vor der Eines dürfen wir nicht vergessen: Alle internationa-
somalischen Küste. Der weltweite volkswirtschaftliche len Versuche, eine friedliche Entwicklung Somalias zu
Schaden dieses Phänomens wurde bereits 2007 von der befördern, können nur eine unterstützende Rolle einneh-
Internationalen Handelskammer auf etwa 13 Milliarden men. Ein tragfähiger Friedensprozess kann nur von In-
Euro geschätzt. Der Konflikt hat darüber hinaus aber nen kommen. Daher ist es an den Somalis selbst, eine
verheerende Folgen für die gesamte Region, die in den politische Einigung über eine friedliche Entwicklungs-
Medien weit weniger präsent sind. Der Konfliktherd So- perspektive für ihr Land zu erzielen.
malia strahlt nicht nur auf die afrikanischen Nachbar- Ich begrüße es, dass die internationale Gemeinschaft
staaten aus, sondern auch auf den Jemen auf der arabi- und mit ihr die Europäische Union ihre diplomatischen
schen Halbinsel. Bemühungen in dieser Richtung intensivieren. Hierzu
Die Hoffnung, dass sich die somalische Übergangsre- wurde im Oktober 2010 der „Strategy and Action Plan
gierung, Transitional Federal Government, TFG, nach for Inland Somalia“ vorgelegt, welcher sich an drei
der Wahl von Scheich Scharif Sheik Ahmed zum Über- Leitlinien orientiert: dem innersomalischen Dialog, dem
gangspräsidenten im Januar 2009 als effektive Staats- Wiederaufbau von somalischen Schlüsselinstitutionen
macht durchsetzten würde, hat sich bislang leider nicht sowie dem Dialog mit internationalen Gemeinschaften
erfüllt. Die TFG kontrolliert mithilfe der Friedenstruppe und Partnern. Der Plan betont dabei die Notwendigkeit
AMISOM der Afrikanischen Union nach wie vor nur ei- der weiteren, intensivierten Unterstützung Somalias
nen Teil der Hauptstadt Mogadischu; AMISOM hat durch die internationale Gemeinschaft und empfiehlt die
seine Sollstärke von 8 000 Soldaten bis heute nicht er- Unterstützung des „Kampala Framework for Dialogue
reicht. among Somalis“, in dessen Rahmen Vertreter der einzel-
nen Regionen zu Gesprächen zusammengeführt werden.
Erst spät, als sich das Problem aufgrund der aus- Des Weiteren wird eine weitere Stärkung von AMISOM
ufernden Piraterie in den somalischen Küstengewässern und der provisorischen Übergangsregierung gefordert
nicht mehr ausblenden ließ, hat die Europäische Union und eine verbesserte Koordination der internationalen
reagiert. Mit der Mission Atalanta leistet die EU seit Unterstützungsbemühungen postuliert. Die EU-Außen-
2008 einen wichtigen Beitrag, um das Piraterieproblem beauftragte Catherine Ashton hat eine konkrete Ausar-
einzudämmen. Deutschland ist hieran mit einer Fregatte beitung hierzu begrüßt.

Zu Protokoll gegebene Reden


10212 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Marina Schuster
(A) Im Rahmen dieses politischen Gesamtansatzes, den partei im somalischen Bürgerkrieg. So wurde der ugan- (C)
es weiter zu entwickeln und auszubauen gilt, bilden die dische Truppenübungsplatz mit EU-Geldern massiv aus-
genannten Missionen einen wichtigen Baustein. Sie al- gebaut. Parallel hierzu bilden im selben Feldlager auch
leine können den Frieden nicht bringen, aber ohne sie die ugandischen Streitkräfte somalische Rekruten aus,
wird es keinen Frieden geben. Zur Unterstützung einer die anschließend ebenfalls im Rahmen von EUTM fort-
politischen Lösung, die alle relevanten somalischen und gebildet werden sollen.
regionalen Akteure mit einbeziehen muss, sind
AMISOM, EUTM Somalia und Atalanta kurz- und mit- Die Bundeswehr ist mit bis zu 20 Soldaten vor Ort an
telfristig ein unverzichtbarer Beitrag. der Ausbildung beteiligt, die unter anderem den Kampf
in bebautem Gelände umfasst. Auf Videos ist zu sehen,
wie somalische Rekruten unter Anleitung europäischer
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Soldaten Häuser stürmen und das Schießen erlernen.
In Somalia herrscht Bürgerkrieg. Die international Bis heute konnte die Bundesregierung letztlich nicht
anerkannte Übergangsregierung, Transitional Federal ausschließen, dass dabei auch Minderjährige zu Solda-
Government, TFG, wurde nach der US-gestützten Inva- ten gemacht werden. Erst vor zwei Wochen hat Staatsmi-
sion durch Äthiopien im benachbarten Djibouti aus ver- nister Hoyer hier eingeräumt, dass bezüglich des Alters
schiedenen Warlords zusammengesetzt. In Wirklichkeit „immer eine gewisse Restunsicherheit“ bliebe und
existiert diese Regierung gar nicht. Es handelt sich bei „man Fragen dieser Art [bisweilen] nach Augenschein
der TFG um einen Haufen zwielichtiger Persönlichkei- entscheiden“ müsse. Die Verantwortung für die Auswahl
ten, die internationale Hilfsgelder einstreichen, aber der Rekruten wird von der Bundesregierung auf die USA
primär damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu be- abgeschoben, welche die jungen Somalier nach Uganda
kämpfen – und zwar nicht so, wie das auch die deutsche fliegen, und auf die AMISOM und die Übergangsregie-
Bundesregierung tut, sondern mit Maschinengewehren rung, welche für die Auswahl zuständig ist. Das sind die
und Mörsergranaten. Selbst Kindersoldaten werden ein- Fakten der EUTM Somalia.
gesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese korrupte
Herrscherclique bedingungslos, weil diese es ihr er- Diese Vorgänge sind so bodenlos, so empörend, dass
laubt, in ihren Küstengewässern auf Piratenjagd zu sie kaum in Worte zu fassen sind. Die Bundeswehr steckt
gehen und deutsche Wirtschaftsinteressen abzusichern, mitten im schmutzigen Bürgerkrieg in Somalia. Man
ganz im Sinne des ehemaligen Bundespräsidenten müsse die „Realitäten on the ground“ zur Kenntnis neh-
Köhler und des Verteidigungsministers zu Guttenberg. men, wurde dem Bundestag hier vor zwei Wochen von
Staatsminister Hoyer vorgehalten, und gemeint war da-
In Somalia selbst hat diese Übergangsregierung kei- mit, sich diesen anzupassen. Er hatte dies gesagt, nach-
nerlei Legitimität. Sie übt nur formal Kontrolle über den dem er eingestehen musste, dass die Bundesregierung
(B) (D)
Hafen und den unmittelbar daneben gelegenen Flugha- auch in Äthiopien die Ausbildung Minderjähriger zu
fen in Mogadischu aus, und das mithilfe von über 7 000 Soldaten finanziert hat und dass diese nun irgendwo im
Soldaten der AMISOM-Mission der Afrikanischen somalisch-äthiopischen Grenzgebiet ohne Sold, aber mit
Union, die diesen Hafen halten und um die Kontrolle des Waffen unterwegs sind. Damit entpuppt sich wieder ein-
benachbarten Regierungsviertels kämpfen. Bezahlt wird mal all das Gerede von Werten, Demokratie und Men-
dieser Einsatz überwiegend von den USA und der EU. schenrechten in der Außenpolitik als leeres Geschwätz
Letztere entnimmt die Mittel hierfür aus dem Europäi- – wie auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo
schen Entwicklungsfonds. Das heißt, dass deutsche Ent- man hinsichtlich Ägyptens deutlich machte, dass Stabili-
wicklungshilfegelder so in einen Kampfeinsatz fließen, tät vor Demokratie geht. Doch die 2 000 Soldaten, die in
bei dem regelmäßig Kriegsverbrechen begangen wer- Bihanga ausgebildet werden sollen, werden nicht einmal
den. Bei den 5 000 bis 10 000 Soldaten, über die die einen Beitrag zur Stabilität leisten. Sie werden einfach
TFG verfügen soll, handelt es sich um Milizen – darun- eine weitere marodierende Miliz werden oder zu den
ter wie gesagt viele Kindersoldaten –, die sich spora- Aufständischen überlaufen – finanziert und ausgebildet
disch gegenseitig bekämpfen. Die Angehörigen erhalten mithilfe der deutschen Bundesregierung. Bis zu 60 000
keinen Sold, sie leben oft von Plünderungen und Erpres- Soldaten soll Äthiopien in Somalia stationiert gehabt
sungen. Auch die Soldaten der AMISOM erhalten oft haben, und alles, was sie erreicht haben, war eine wei-
verspätet und manchmal gar keinen Sold. Sie sind unmo- tere Destabilisierung des Landes. Das ganze Piraterie-
tiviert, haben sich im Hafen verschanzt und reagieren problem, das jetzt ebenfalls militärisch bekämpft wird,
auf Angriffe mit dem willkürlichen Beschuss von Wohn- ist erst mit dieser Invasion entstanden.
gebieten mit Mörsergranaten. Nahezu wöchentlich wird
so der wichtigste Markt der Hauptstadt beschossen, je- Wir sehen hier auch die Konsequenzen einer Armee
weils mit Dutzenden Toten. im Einsatz. Es gibt keine sauberen und demokratischen
Kriege und keine Menschenrechtskrieger. Wir sehen in
Das ist der Hintergrund, vor dem Bundesregierung Afghanistan, wie der Krieg die Menschen verroht, wie
und EU vor einem Jahr, am 15. Februar 2010, beschlos- Bundeswehrsoldaten mit Totenköpfen spielen, mit der
sen haben, 2 000 Soldaten für die somalische Über- Waffe posieren und sich gegenseitig bedrohen. Wir se-
gangsregierung auszubilden – mit einer eigens hierfür hen in Somalia und Uganda, wie Kriegsverbrecher un-
aufgestellten militärischen Mission der Gemeinsamen terstützt, Rekruten gequält und Kindersoldaten rekru-
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, EU-Trai- tiert werden. Prinzipien wie Innere Führung und die
ning-Mission for Somalia, EUTM. Die Ausbildung findet demokratische Kontrolle der Streitkräfte verkommen bei
in Uganda statt. Und Uganda ist wohlweislich Konflikt- einer Armee im Einsatz zur Makulatur.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10213
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Obwohl die Bundeswehrsoldaten bei diesem Ausbil- dessen wird diese Rückkehr Woche um Woche verzögert, (C)
dungseinsatz bewaffnet sind, wurden sie ohne eine Be- weil in Mogadischu überhaupt keine Infrastruktur exis-
fassung und Abstimmung des Bundestages nach Uganda tiert, um die Soldaten aufzunehmen, unterzubringen
geschickt. Wir sehen hier, wie die demokratische Kon- oder gar zu bezahlen. Die US-Regierung hat den ausge-
trolle der Bundeswehr über den Umweg der EU aus dem bildeten Sicherheitskräften eine Bezahlung von 100 US-
Weg geräumt wurde. Ich halte es für keinen Zufall, dass Dollar im Monat zugesagt, allerdings nur unter der Vo-
gerade bei diesem Einsatz, der ohne Beteiligung des raussetzung, dass sie nach Mogadischu zurückkehren
Bundestages zustande kam, alles schiefläuft. Dieser An- und dort für die Übergangsregierung tätig werden. Die
trag ermöglicht uns, die Notbremse zu ziehen, die Bun- Auszahlung des Soldes erfolgt dabei durch Mitarbeiter
deswehr aus Uganda abzuziehen und jede weitere finan- des Unternehmens PricewaterhouseCoopers, das be-
zielle Beteiligung an der Mission zu verweigern. Der reits 2009 von der somalischen Übergangsregierung ge-
Zeitpunkt ist günstig; denn die Ausbildung der ersten beten worden war, sich um die Buchhaltung des Landes
1 000 Soldaten ist gerade abgeschlossen. Sie wurde nun zu kümmern. Das ist übrigens das gleiche Unternehmen,
verlängert, weil es sich als schwierig erweist, weitere das die Marktanalyse für die Exportmöglichkeiten des
1 000 Soldaten zu rekrutieren, und weil völlig unklar ist, A400M erstellt hat.
was mit den 1 000 bereits ausgebildeten passieren soll.
Wir müssen endlich Schluss machen mit der Ausbil- Wo allerdings keine staatliche Autorität existiert, ist
dungs- und Ausstattungshilfe für Kriegsverbrecher und es unverantwortlich Kämpfer auszubilden. Eine legitime
diktatorische Regime wie in Afghanistan, Ägypten und Staatsmacht ist eine Voraussetzung für den Aufbau einer
Somalia. Und wir müssen uns Gedanken machen, was Armee und nicht umgekehrt. Dass es in zehn Monaten
wir mit den 1 000 Somaliern machen, die mit Verspre- nicht gelungen ist, die notwendige Infrastruktur in Mo-
chen vom großen Geld aus ihren Familien gerissen, gadischu zu schaffen, um die Ausbildungsabsolventen
nach Uganda geflogen und dort in ein Militärcamp ge- aufzunehmen, sollte der EU als Warnung ausreichen.
sperrt wurden, um sie zu Soldaten zu machen. Das Min- Die Ausbildung militärischer Kämpfer in einem politi-
deste, was die deutsche Bundesregierung tun muss, ist, schen Machtvakuum kann und wird nicht funktionieren.
sich bei diesen Somaliern zu entschuldigen. Die deut- Zu Recht besteht im Falle Somalia ein Waffenembargo.
sche Außenpolitik muss sich an Rechtstaatlichkeit, Sozi- Wir sollten aber nicht nur davon Abstand nehmen, Waf-
alstaatlichkeit und Völkerrecht orientieren. Deshalb fen in diesen blutigen Konflikt zu liefern, sondern auch
muss die EUTM Somalia unverzüglich beendet werden. davon, die Menschen dort in der Benutzung dieser Waf-
fen zu unterrichten und zu schulen. Das macht die Posi-
tion der Europäischen Union an dieser Stelle inkonsis-
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tent. Solange es in diesem Failed State kein staatliches
(B) Seit Mai letzten Jahres beteiligen sich sechs deutsche Gewaltmonopol gibt, wird die Trainingsmission nichts (D)
Ausbilder an der European Training Mission in Uganda, zur Stabilisierung Somalias beitragen können. Das Ge-
um dort Soldaten für die somalische Übergangsregie- genteil ist zu befürchten.
rung auszubilden. Diese EU-Mission im Rahmen der eu-
ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde Ich halte die Fortsetzung der Training-Mission in die-
am 31. März 2010 im Rat beschlossen. Der Deutsche sem Stadium für unverantwortbar. Der zweite Durch-
Bundestag war bei dieser Ausbildungsmission nicht be- gang sollte gar nicht erst beginnen. Die zweite Forde-
teiligt, da nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz reine rung des Antrages zielt darauf, unverzüglich die
Ausbildungsmissionen keine zustimmungspflichtigen Beiträge der Bundesregierung über den Athena-Mecha-
Auslandseinsätze sind. Danach liegt ein Einsatz bewaff- nismus einzufrieren. Über diesen Mechanismus werden
neter Streitkräfte nur vor, wenn Soldatinnen und Solda- allerdings nicht nur die Trainingsmission in Uganda,
ten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmen einbe- sondern auch der Atalanta-Einsatz und die humanitäre
zogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Hilfe für Somalia finanziert. Möglich, dass Sie hier nur
Unternehmung zu erwarten ist. Unabhängig von der gemeint haben, die spezifischen Mittel für die Trainings-
Frage, ob die enge Definition eines mandatspflichtigen mission einzufrieren. Dann hätte es allerdings nahegele-
Einsatzes möglicherweise überprüft werden sollte, hätte gen, das auch zu präzisieren. Deutschland hat für 2011
die Bundesregierung gut daran getan, von sich aus das 7,5 Millionen Euro zur Finanzierung über Athena in den
Parlament zu einzubeziehen. Einzelplan 14 eingestellt. Da Deutschland mit 20 Pro-
zent beteiligt ist, gehe ich davon aus, dass die Mittel sich
Die Ausbildung der Sicherheitskräfte findet zwar insgesamt auf 35 bis 40 Millionen Euro belaufen. Für
nicht direkt in einem bewaffneten Konflikt statt, aber un- die EUTM ist ein Budget von gerade einmal 4,8 Millio-
mittelbar im Zusammenhang mit einem solchen. Die Zu- nen vorgesehen. Damit wird deutlich, dass die EU auf
stände in Somalia dürfen sicherlich als nicht internatio- diesem Wege überwiegend andere, aus unserer Sicht
naler bewaffneter Konflikt, also als Bürgerkrieg, sinnvolle Maßnahmen finanziert. Außerdem stellt sich
bezeichnet werden. Die Sicherheitskräfte werden ihre die Frage, ob das Einfrieren von Mitteln der richtige
neu erlernten kämpferischen Fähigkeiten daher auch Weg ist, die europäischen Partner davon zu überzeugen,
nach ihrer Rückkehr nach Somalia einsetzen können. Es eine selbst im Rat mit beschlossene Operation abzubre-
fragt sich nur für wen und zu welchem Zweck? chen.
Der erste von den beiden Lehrgängen mit 1 000 Sol- Die Bundesregierung sollte sich im sicherheitspoliti-
daten sollte nach Abschluss der sechsmonatigen Ausbil- schen Komitee auf EU-Ebene dafür einsetzen, die Mis-
dung längst nach Mogadischu zurückgekehrt sein. Statt- sion zu beenden. Das dürfte eher zum angestrebten Er-

Zu Protokoll gegebene Reden


10214 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Katja Keul
(A) folg führen als der einseitige, unverzügliche Abzug der Vor diesem Hintergrund habe ich mit einiger Verwun- (C)
sechs Bundeswehroffiziere. derung Ihren Antrag zur Mitteilung der Kommission zur
Kenntnis genommen. Wer ihn genau verfasst hat, weiß
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ich natürlich nicht. Es muss aber jemand sein, der nicht
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf im Innenausschuss war bzw. nicht weiß, dass wir auf
Drucksache 17/4248 an die in der Tagesordnung aufge- meine Anregung hin – uns sehr intensiv mit dieser Mit-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- teilung auseinandergesetzt haben. Die Bundesregierung
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. hat zusätzliches Material bereitgestellt. Auch hier gilt,
dass Lesen bildet; und hilfsweise das Zuhören im Innen-
Tagesordnungspunkt 21: ausschuss. Das, was Sie fordern, ist sowohl realitätsfern
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank als auch zeitlich überholt.
Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Einige Punkte will ich noch einmal herausgreifen. Sie
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu
schreiben: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-
der Mitteilung der Kommission an das Europäi-
desregierung auf, sich im Rat aktiv für eine zivile und
sche Parlament und den Rat
von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi- Katastrophenabwehr einzusetzen und für den Ausbau
schen Katastrophenabwehr: die Rolle von entsprechender Kapazitäten, die vom Militär unabhän-
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe gig sind, einzutreten.“ Diese Forderungen ignorieren
die Praxis und die Erfahrungen aus der Vergangenheit;
KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10
denn eine Katastrophenabwehr bei Großschadenslagen
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- ohne militärische Hilfe ist heutzutage undenkbar bzw.
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des kaum leistbar. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest,
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über dass die Naturereignisse immer größer werden.
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten Ich nehme dabei Bezug auf Ihre Formulierung im An-
der Europäischen Union trag – ich zitiere –: „Der Bundestag wolle beschließen
… Der Deutsche Bundestag stellt fest … Der Bundestag
– Drucksache 17/4672 – verweist auf den in der Mitteilung der Kommission dar-
Überweisungsvorschlag: gestellten Anstieg von schlimmen Naturkatastrophen mit
Innenausschuss (f) hohen Verlusten an Menschenleben …“ Meine Damen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
und Herren von den Linken, welches Mitgliedsland kann
(B)
Entwicklung es sich heutzutage finanziell erlauben, eine leistungsfä- (D)
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union hige Armee und – parallel dazu – eine Katastrophenein-
satztruppe für Großschadenslagen bereitzuhalten? Wir
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
können in Deutschland stolz sein auf unser bestehendes
ben.
Schutz- und Hilfesystem. Denn nur beim gemeinsamen
Einsatz von unterschiedlichen Hilfsorganisationen auf
Beatrix Philipp (CDU/CSU): kommunaler Ebene und den Behörden auf Bundesebene
Auf dem Tisch liegt heute ein Antrag der Fraktion Die sind wir gut aufgestellt.
Linke. Dieser basiert auf einer Mitteilung der Europäi-
schen Kommission an das Europäische Parlament und An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den
den Europäischen Rat mit dem Arbeitstitel: „Auf dem zahlreichen Freiwilligen und Ehrenamtlichen von Her-
Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenab- zen für ihre unverzichtbare Arbeit zu danken. Mit ihrem
wehr: die Rolle von Katastrophenschutz und Humanitä- Engagement, mit ihrem Verzicht auf viel Freizeit und ih-
rer Hilfe“. Bevor ich zum Antrag komme, erlauben Sie rer ständigen Einsatzbereitschaft geben sie ein besonde-
mir, dass ich zunächst auf die Mitteilung selbst eingehe. res Beispiel für bürgerliches Engagement. Das ist mehr,
Die Europäische Union ist bemüht, seit der Tsunami-Ka- als der von Ihnen gewünschte hauptamtliche Einsatz; sie
tastrophe am 26. Dezember 2004, an der Seite anderer prägen den Charakter unserer Gesellschaft und entspre-
Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen, chen dem Subsidiaritätsprinzip in besonderem Maße.
ihre Reaktionsfähigkeit in Krisenfällen zu verbessern. In Nicht zuletzt machen sie es möglich, dass Deutschland
diesem Kontext ist auch die Mitteilung der EU-Kommis- in Europa ein beispielgebendes Mitgliedsland ist.
sion zu sehen. Die Kapazität der Europäischen Union in
diesem Bereich soll – sowohl im Hinblick auf den Kata- Die Bundesregierung unterstützt die EU beim Ausbau
strophenschutz als auch in Bezug auf die humanitäre jeglicher Form der Zusammenarbeit zwischen Katastro-
Hilfe – gestärkt werden. Damit wird – wie der Mitteilung phenschutz, der humanitären Hilfe, dem Militär, um
zu entnehmen ist – eine doppelte Zielsetzung verfolgt. durch Nutzung auch militärischer Ressourcen die Ver-
Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitä- besserung der entsprechenden Strukturen und Verfahren
ten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausge- der Zusammenarbeit zu erreichen, sowohl die der
baut werden, und zweitens sollen ein europäisches EU-Institutionen untereinander als auch zwischen EU
Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Infor- und NATO. Allerdings drängt die Bundesregierung da-
mationsaustausch und eine verstärkte Koordinierung rauf, dass der Konsens zur humanitären Hilfe und die
auf EU-Ebene im Katastrophenfall eingerichtet werden. Oslo-Guidelines dabei beachtet werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10215
Beatrix Philipp
(A) In einem weiteren Punkt Ihres Antrages soll der Deut- Zusammengefasst und wie bereits oben dargestellt, ist (C)
sche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die in der Antrag der Linken überholt und realitätsfern. Wir
der Mitteilung der Kommission angekündigten Rechts- lehnen ihn daher ab.
akte zur Weiterentwicklung der europäischen Katastro-
phenabwehr abzulehnen. Ja, was ist das denn? Meinen Gerold Reichenbach (SPD):
Sie das wirklich ernst? Eine Seite zuvor schreiben Sie Dem vorliegenden Antrag der Linken gebührt zumin-
noch vom Anstieg schlimmer Naturkatastrophen, und dest das Verdienst, die Frage der Weiterentwicklung des
nun soll eine Weiterentwicklung der europäischen Kata- Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe auf eu-
strophenabwehr abgelehnt werden. ropäischer Ebene zum Gegenstand der Debatte in die-
sem Hause gemacht zu haben. Dieses Verdienst wird lei-
Die Ereignisse der vergangenen Wochen, wie zum
der dadurch geschmälert, dass die Linke der Versuchung
Beispiel, Überschwemmungen in Australien, Zyklone
nicht widerstehen konnte, die durchaus notwendige kri-
und Blizzards in den Vereinigten Staaten, zeigen, dass tische Auseinandersetzung mit dem Kommissionsvor-
die Naturgewalten ein immer größeres Ausmaß anneh- schlag und der diesen begleitenden Diskussion auf euro-
men. Selbst die zu diesen Ereignissen im Verhältnis ste- päischer Ebene – dazu gehören auch der Beschluss des
henden kleinen Katastrophenlagen in Deutschland – ich Europäischen Parlamentes zur Stärkung des Katastro-
sage nur am Rhein, an der Elbe und an der Oder – ma- phenschutzes und der Beschluss des Europäischen Par-
chen deutlich, dass eine in Gemeindegrenzen, eine in lamentes zur Zusammenarbeit zwischen zivilen und mili-
Ländergrenzen oder eine in Staatengrenzen bestehende tärischen Akteuren – allein aus ihrer ideologischen Sicht
Denkweise hier absolut verfehlt ist. Naturkatastrophen einer überall drohenden Militarisierung der europäi-
kennen keine Begrenzungen und keine Grenzen; das schen Außenpolitik und der Katastrophenhilfe als Gan-
sollten auch Sie wissen. zes zu sehen.
Eine Stagnation in der Weiterentwicklung der Kata- Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir Sozial-
strophenabwehr können und wollen wir uns nicht leis- demokraten treten angesichts der wachsenden Gefahren
ten. Es ist also notwendig, dass Notfallpläne für den und Herausforderungen durch den Klimawandel, ange-
Einsatz erstellt werden. Dafür ist es wichtig, über die sichts der steigenden Verwundbarkeit und Verletzlichkeit
Ressourcen der einzelnen Mitgliedstaaten Bescheid zu komplexer moderner Gesellschaften und der zunehmen-
wissen. Eine Weiterentwicklung der Katastrophenab- den globalen Vernetzung und Verkettung von Risiken
wehr bedarf der nun geplanten Rechtsakte; das liegt in und Gefahren für eine Stärkung der Fähigkeiten und Ka-
der Natur der Sache bzw. in dem Charakter des Europa- pazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitären
(B) rechts. Eine Ablehnung ist völlig undenkbar. Aber auch Hilfe ein, und dies sowohl auf nationaler als auch auf in- (D)
ternationaler Ebene.
hier steckt der Teufel im Detail. Es ist halt wie im
schlichten Leben. Meine Damen und Herren von den Ich erinnere nur an einige aus einer Reihe von vielfäl-
Linken, wenn Sie schon etwas aufgreifen wollen, dann tigen Initiativen, etwa die unter rot-grün vorgenommene
übersehen Sie einen viel wichtigeren Punkt, bei dem wir Einrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz
gefordert sind. Gemäß der Mitteilung ist der Aufbau ei- und Katastrophenhilfe oder auch die von der großen Ko-
ner von den Mitgliedstaaten unabhängigen, eigenständi- alition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungs-
gen Katastrophenabwehr auf EU-Ebene geplant. Dies schutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durch
lehnen wir ab, und wir waren uns im Innenausschuss da- das Zivilschutzergänzungsgesetz. Es gab durchaus auch
rin auch immer einig. Eine vorgesehene Aufstellung EU- fraktionsübergreifende Initiativen wie das aus dem Par-
eigener Kapazitäten unter eigener operativer Befugnis lament initiierte und von Vertretern aller Parteien getra-
und Verfügungsgewalt läuft Art. 196 des Vertrages über gene „Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit“.
die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, entge- Da wir wissen, dass Katastrophen und Krisen nicht
gen, ist auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst und vor Ländergrenzen halt machen, und wir Sozialdemo-
würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widerspre- kraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationa-
chen, auf das ich eben schon hingewiesen habe. Bei all ler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der
der Hilfe innerhalb und außerhalb der EU muss den Mit- internationalen Instrumente ein, auch auf europäischer
gliedsländern ein sogenanntes Letztentscheidungsrecht Ebene. Dabei haben wir immer betont – das wurde auch
verbleiben. Das heißt, die Verantwortung für den Kata- in der Vergangenheit von allen Koalitionen dieses Hau-
strophenschutz verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Dies ses im Innenausschuss so gesehen –, dass sich das Sub-
ergibt sich aus der Kompetenzzuweisung des Vertrages sidiaritätsprinzip im Bereich des Katastrophenschutzes
von Lissabon und entspricht eben dem Subsidiaritäts- bewährt hat und auch für die europäische Ebene gelten
prinzip. muss. Darum haben wir, übrigens bislang auch einmütig
in diesem Hause, alle Versuche auf europäischer Ebene,
Dem steht nicht entgegen, dass eine Kooperation und eigene Katastrophenschutzkapazitäten aufzubauen und
eine Koordination durch die Kommission nicht nur mög- zusätzlich aufzustellen, zurückgewiesen. Gerade vor
lich, sondern sogar wünschenswert sind. Wir sind der dem Hintergrund der zunehmenden Gefahren und
Ansicht, dass die Kommission zu Recht mehrfach die Herausforderungen muss es im Interesse aller europäi-
grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten selbst schen Länder sein, zuvörderst die örtlichen und natio-
betont hat. nalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stär-

Zu Protokoll gegebene Reden


10216 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Gerold Reichenbach
(A) ken und auszubauen. Nur so können die Grundlagen der europäischen Katastrophenhilfe und humanitären (C)
einer tragfähigen gesamteuropäischen Stärkung der Ka- Hilfe sich im internationalen Kontext unter das Primat
tastrophenabwehr und der humanitären Hilfe gelegt der Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationen
werden. stellt, so wie sich die Bundesrepublik Deutschland auch
auf bilateraler Ebene nicht nur in die Koordinierungsin-
Subsidiarität bedeutet aber auch, dass dort, wo ei- strumente der Vereinten Nationen einfügt, sondern diese
gene Mittel nicht mehr ausreichen, der überregionale auch aktiv und tatkräftig unterstützt.
Ausgleich und die überregionale Unterstützung gesucht
und vorangetrieben werden. Dies gilt sowohl für Kata- Wir Sozialdemokraten stehen klar zur zivilen Aus-
strophenlagen und humanitäre Krisensituationen inner- richtung des Katastrophenschutzes und der humanitären
halb der Europäischen Union als auch außerhalb der Hilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler
europäischen Union. Darum unterstützen wir den Vor- Ebene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne,
schlag, die Koordinierungsinstrumente auf Europäi- die es in der Union zu einer stärkeren Militarisierung
scher Ebene zu stärken. Durch die Identifizierung von des Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei der
Modulen, die innerhalb der nationalen Katastrophen- Föderalismusreform I als auch in der großen Koalition
abwehrkapazitäten bereitgestellt werden, und durch am klaren Widerstand der sozialdemokratischen Partei
zusätzliche Ausbildung können diese untereinander gescheitert sind.
kompatibel und bei der Hilfe gegenüber Dritten hand-
Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich mi-
lungsfähig gemacht werden. Diese Strategie halten wir
litärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amtshilfe
grundsätzlich für richtig und sollten sie auch vom
Katastrophenschutz unterstützen können, so wie dies un-
Grundsatz her bei der Bildung des in den Lissabonner
ser Grundgesetz vorsieht. Dies gilt nicht nur im Inland,
Verträgen vorgesehenen europäischen Freiwilligen-
sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Da-
korps verfolgen.
bei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeiten
Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokraten ent- kommen, und gerade in so genannten komplexen Krisen-
scheidend, angesichts der Herausforderung und der lagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militäri-
Größe drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten schen klar und eindeutig sein. Dies gilt nach meinem
des Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Dafürhalten nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch
Anstrengungen zur Katastrophenprävention zu unter- für internationale Unterstützungsmechanismen. Aber
nehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindäm- Subsidiarität muss möglich sein.
mung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrate- Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
gien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Linken, ist Ihr Antrag eindeutig über das Ziel hinausge-
(B) Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stär- schossen. Offensichtlich haben Sie einige Zusammen- (D)
kere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastruktu- hänge entweder nicht verstanden aus ideologischen
ren, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Ge- Gründen oder bewusst mißgedeutet. Lassen Sie mich aus
sellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen eigener Erfahrung sagen: In bestimmten Lagen ist die
und Steuerungssysteme. In diesem Zusammenhang be- zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch mi-
grüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung mit litärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen.
der geplanten Einrichtung eines zivilen Cyberabwehr- Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und im
zentrums einen Schritt in die richtige Richtung setzt und Speziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre üb-
die Gefahren nicht allein unter Cyber War subsumiert. rigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eine
Denn die Reduzierung auf den militärischen Verteidi- Schmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressour-
gungsbegriff wäre deutlich zu kurz gegriffen. Neben cen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Ma-
staatlichen Aktionen liegt das Gefährdungspotenzial terial noch einmal zivil vorhalten wollte.
nicht nur im Terrorismus, sondern auch in organisierter
Kriminalität und im wachsenden Schadenspotenzial Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäi-
durch Individualtäter. Die Zunahme internationaler Kri- schen und internationalen Rahmen auch, die Besonder-
senherde fordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten heiten anderer europäischer Länder zu respektieren. In
der Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zu den meisten anderen europäischen Ländern ist der Be-
denen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastro- völkerungs- und Katastrophenschutz in Form der Zivil-
phenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtige verteidigung organisiert, was übrigens auf unser THW
Rolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivile auch zutrifft. So sind etwa die österreichischen Ret-
Hilfsorganisationen oder die Bundesanstalt Technisches tungseinheiten bei Erdbeben, mit denen das THW auf in-
Hilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielt ternationaler Ebene zusammenarbeitet, unbewaffnete
haben und spielen. Wir Sozialdemokraten sind bereits in Teile des österreichischen Bundesheeres. In Frankreich
der Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, die wird diese Aufgabe von der Sécurité Civile wahrgenom-
zivile gegenüber der militärischen Komponente bei der men, einer kasernierten militärischen Formation, die
Bewältigung von Krisenlagen – die Vereinten Nationen dem Innenministerium unterstellt ist. Aber nicht nur
sprechen nach meinem Dafürhalten zu Recht von soge- das: Die von Ihnen kritisierte Nutzung von militärischen
nannten Complex Emergencies – zu stärken, und dies Mitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenannten
nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rah- Osloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10
men der internationalen Mechanismen. Wir halten es ausdrücklich Bezug nimmt. Diese Osloer Leitlinien um-
ausdrücklich für richtig, dass auch die Koordinierung fassen eben nicht nur militärisches Gerät und Einrich-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10217
Gerold Reichenbach
(A) tungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern EU-eigenen Kapazitäten das Wort geredet, die Katastro- (C)
auch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu phenschutz, humanitäre Hilfe und Krisenreaktionsab-
denen nach der Definition dieser Leitlinien auch das wehr im Sinne von Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Technische Hilfswerk gehört. Ich kann mir nicht vorstel- bewältigen sollen. Anspielend auf die Haushaltszwänge
len, dass Sie mit Ihrem Antrag wirklich fordern wollen, wird den Mitgliedstaaten eine Brücke gebaut, eigene
dass die Bundesrepublik Deutschland künftig auf den Kapazitäten einzusparen und auf einen europäischen
Einsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitären Katastrophenschutz umzusatteln.
Hilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichtet, weil
dies eine Militarisierung derselben sei, oder gar aus den Wenn Sie sich mit den Mitarbeitern des Zivil- und Ka-
gleichen Gründen die Auflösung des THW im Inland for- tastrophenschutzes unterhalten, wird Ihnen jeder bestä-
dern. tigen, dass Katastrophenschutz flächendeckend und de-
zentral organisiert sein muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
schießen mit Ihrem Antrag weit über das Ziel hinaus und Die schnelle Reaktion der Helfer in den ersten Stun-
darum ist er für uns Sozialdemokraten nicht zustim- den einer Katastrophe entscheidet über die Effektivität
mungsfähig. bei der Rettung von Opfern oder der Eindämmung von
Schadensereignissen. Weit auseinanderliegende Struktu-
ren mit Leitungsstäben, die Hunderte Kilometer vom
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Schadensort entfernt agieren, sind ineffektiv.
Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bishe-
rige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss Es spricht alles für eine Stärkung des Katastrophen-
überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden. schutzes vor Ort. Es mag einige wenige Fälle geben, bei
Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am bes- denen es sinnvoll ist, teure Spezialtechnik europaweit
ten geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an anzuschaffen und koordiniert einzusetzen, zum Beispiel
den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten aus- Feuerlöschflugzeuge zur Waldbrandbekämpfung.
gerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlich-
keiten. EU-Einheiten zum Katastrophenschutz an sich ma-
chen aber fachlich keinen Sinn. Da dies bekannt ist, wer-
Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zu- den von der Kommission die internationale humanitäre
sammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen Hilfe und die Krisenreaktionsabwehr in die Diskussion
uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt gebracht. Nun obliegt die Koordination der internatio-
bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den nalen humanitären Hilfe den Vereinten Nationen. Diese
Zentralisierungsabsichten der EU. Der Schutz der Be- bittet die Staaten bei Katastrophen um Hilfe. Welche
(B) völkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine Rolle die EU dort spielen will, wird von der Kommission (D)
der grundlegenden Aufgaben des Staates. Es gibt jedoch aber nicht fachlich beantwortet.
nur selten Großschadenslagen, die im Sinne des unmit-
telbaren Bevölkerungsschutzes mehrere EU-Staaten zu- Der Vorschlag der Kommission, verstärkt die Nut-
gleich treffen. EU-Rechtsakte auf diesem Gebiet sind zung militärischer Kapazitäten zum Katastrophenschutz
höchst überflüssig. Das gezierte antimilitärische Brim- einzubringen, wird auf eine immer stärkere Vermischung
borium des Linken-Antrags entspricht nicht unserem von zivilen und militärischen Elementen hinauslaufen.
Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechts- Wie immer wird unter dem Vorwand von Haushalts-
akten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wie zwängen auf die brachliegende Nutzung militärischer
der Linken-Antrag völlig zu Recht sagt, ist davor zu war- Kapazitäten und Spareffekte bei der Anschaffung im zi-
nen, „die Sichtbarkeit der und Koordination durch die vilen Bereich verwiesen. Dieses Herangehen hat die
EU als Selbstzweck zu verfolgen.“ Bundesregierung der Kommission seit Jahren vorgelebt
und es wird von dieser offensichtlich kopiert. Die ver-
sprochenen Spareffekte sind aber eine Milchmädchen-
Frank Tempel (DIE LINKE):
rechnung. Militärische Standorte mit potenziellen Kata-
Für den Katastrophenschutz kann man nie zu viel tun; strophenschutzfähigkeiten sind oft mehrere Hundert
man kann aber das Falsche tun. Kilometer voneinander entfernt und in ihrer Verteilung
Die Europäische Kommission hat sich des Themas nach verteidigungspolitischen Systematiken und nicht
angenommen, und das ist an sich gut. Es ist gut, eine In- nach Erfordernissen des Katastrophenschutzes aufge-
ventarisierung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten stellt. Eine zeitnahe Verwendbarkeit des Militärs im
in den Mitgliedstaaten durchzuführen und auch Pla- Schadensfall ist nicht gewährleistet.
nungsszenarien zu entwickeln, wie länderübergreifen-
Der Bericht der Kommission bezweckt nur eins: Ei-
den Großschadenslagen begegnet werden kann. Auch
nige wenige sinnvolle Ansätze zur Effektivierung des
sind eine verstärkte Koordinierung von Katastrophen-
Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe wer-
schutz und humanitärer Hilfe sowie eine Intensivierung
den zum Anlass genommen, der EU Zuständigkeiten zu-
der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen äußerst
zuschieben, die dem Subsidiaritätsprinzip widerspre-
sinnvoll.
chen und verstärkt militärische Elemente in den
Doch die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung an Katastrophenschutz integrieren. Damit wird in Kauf ge-
das Europäische Parlament und den Rat auch Ziele for- nommen, dass angesichts der schwierigen Haushalts-
muliert, die auf entschiedenen Widerstand der Linken lage einzelne Mitgliedstaaten ihre Kapazitäten abbauen
stoßen. Teils versteckt, teils offen wird dem Aufbau von und die Verantwortung zunehmend in die Hände der EU

Zu Protokoll gegebene Reden


10218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

Frank Tempel
(A) geben, wo sie nicht hingehört. Dieser Weg ist falsch und gute Kooperation als keine Hilfe. Dabei muss es selbst- (C)
wird von uns entschieden abgelehnt! verständlich Spielregeln und Grenzen geben. Hier geht
der Vorschlag von Frau Georgieva in die richtige Rich-
Unser Weg ist ein anderer. Wir fordern die Bundes- tung.
regierung daher auf: erstens sich im Rat aktiv für eine
zivile und von sicherheitspolitischen Erwägungen unab- Die Möglichkeit auf einen Hilfeaufruf rechtzeitig zu
hängige Katastrophenabwehr einzusetzen und für den reagieren, hängt im Rahmen des EU-Gemeinschaftsver-
Aufbau entsprechender logistischer Kapazitäten, die fahrens bisher von den freiwilligen Zusagen der Mit-
vom Militär unabhängig sind, einzutreten; zweitens die gliedstaaten ab. Die Hilfe ist deshalb häufig nur impro-
in der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu ei- visiert oder kommt zu langsam. Benötigt werden aber
ner verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die verbindliche, permanent zur Verfügung stehende Kapa-
Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe“ zitäten, auf die die Kommission zurückgreifen kann. Mit
(Ratsdokument 15614/10) angekündigten Rechtsakte zur dem Vorschlag eines europäischen Notfallabwehrzen-
Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenab- trums würde eine neue Plattform geschaffen, in der das
wehr abzulehnen; drittens sich im Rahmen der Vorberei- Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, mit der Koordinie-
tung des für Ende 2011 angekündigten Legislativvor- rungsstelle für Katastrophenschutz, dem Informations-
schlags „Vorschlag zur Überarbeitung der Vorschriften und Beobachtungszentrum, MIC, zusammengelegt wer-
für Katastrophenvorsorge und -abwehr“ dafür einzuset- den. Das gemeinsame Notfallabwehrzentrum soll rund
zen, dass die Verzahnung ziviler und militärischer In- um die Uhr einsatzfähig sein und europaweit koordi-
strumente in der Katastrophenabwehr und die Verbin- nierte Notfallpläne garantieren, die auf sicher zugesagte
dung der Katastrophenabwehr mit sicherheits- und Einsatzkräfte und Hilfsmittel in allen Mitgliedstaaten
außenpolitischen Strategien ausgeschlossen werden; die basieren müssen. Um Missverständnissen vorzubeugen:
primäre Verantwortung der zuständigen Behörden der Es kann nicht darum gehen, die vorhandenen Strukturen
betroffenen Staaten für die Umsetzung im Katastrophen- in Mitgliedsländern mit guten Kapazitäten – wie etwa in
fall sichergestellt ist; die Mitgliedstaaten bei bilateralen Deutschland – zu zerschlagen.
Hilfsersuchen weiterhin handlungsfähig bleiben.
Es muss zunächst ein Mapping der vorhandenen Ka-
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE pazitäten in den Nationalstaaten geben. Anschließend
GRÜNEN): muss ein Konsens herbeigeführt werden, welche Grund-
Die Zahl der Naturkatastrophen ist weltweit seit 1975 ausstattung in allen Staaten vorhanden sein sollte und
um das Fünffache gestiegen. Erinnert sei hier nur an die welche Arbeitsteilung bei bestimmten Katastrophen-
beiden schlimmsten Naturkatastrophen im vergangenen schutzinstrumenten sinnvoll ist. Das heißt, die Kommis-
(B)
Jahr: das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmun- sionsvorlage soll einer gemeinsamen strategischen Aus- (D)
gen in Pakistan. Diese Ereignisse haben sehr viele Men- richtung und Arbeitsteilung dienen, damit unter den
schen das Leben gekostet und große Zerstörung hinter- Mitgliedstaaten Synergien hergestellt werden können
lassen. Langfristig kann ein weiterer Anstieg von und offensichtliche Verluste aufgrund von Doppelungen
Naturkatastrophen nur durch einen effektiven Klima- minimiert werden. Das ist das Ziel. Nicht jeder Mitglied-
und Umweltschutz verhindert werden. staat benötigt alle Instrumente des Katastrophenschut-
zes. Die EU-Katastrophenhilfe darf aber auch keine
Kurzfristig geht es aber vor allem darum, schnell zu substituierende Wirkung haben. Mitgliedstaaten mit
reagieren, und damit sind wir auch schon bei einer der schwachen Strukturen müssen durch die angekündigten
wichtigsten Fragen, der Frage des Zeitpunkts, an dem Rechtsakte der EU-Kommission dazu verpflichtet wer-
die EU vor Ort koordinierte Hilfe leisten kann. Nach den, ausreichend eigene Kapazitäten im Katastrophen-
Einschätzung von EU-Kommissarin Georgieva kann schutz zu schaffen.
diese Frage unter den gegebenen EU-Rahmenbedingun-
gen häufig nur bedingt beantwortet werden. Diese Un- Für uns ist wichtig, dass das Einsatzspektrum für den
sicherheit und die verbundene Zeitverzögerung führen EU-Katastrophenschutz begrenzt sein muss. Es kann
in vielen Fällen dazu, dass den hilfesuchenden Ländern nicht sein, dass die Instrumente des EU-Katastrophen-
nicht unmittelbar die angefragte Hilfe zugesagt werden schutzes mit der Terrorismusbekämpfung vermischt wer-
kann. Nicht selten geht mehr als ein halber Tag ins Land, den. Deshalb müssen klare Bedingungen für Einsatzge-
ehe die Zusagen für die gewünschte Unterstützung gege- biete und -zwecke definiert werden. Die Nutzung
ben werden. Also stellt sich die Frage: Wie kann den Op- militärischer Instrumente für den Katastrophenschutz
fern von Katastrophen zügig geholfen werden? Diese muss sich streng an den Oslo-Leitlinien der Vereinten
Perspektive ist entscheidend. Wir alle wissen, ein Kno- Nationen orientieren, die die Nutzung von militärischen
chenbruch in zwei Tagen oder in zwei Wochen zu behan- Instrumenten für die Katastrophenhilfe nur als letztes
deln, macht einen entscheidenden Unterschied. In die- Mittel vorsehen. Sicherlich stellt uns die Harmonisie-
sem Fall dürfte den Opfern zunächst nicht wichtig sein, rung des europäischen Katastrophenschutzes vor große
ob die medizinischen Instrumente in einem Militärhub- Herausforderungen. Das stark zentralistische Zivil-
schrauber oder einem zivilen Flugzeug transportiert schutzsystem in Frankreich ist leichter mit neuen EU-
wurden. Die Debatte, die die Linke in dem vorliegenden Strukturen zu verzahnen als das dezentrale System in
Antrag aufmacht, ist also insofern wieder einmal eine Deutschland. Die starke Heterogenität unter den EU-
innenpolitische und eine, die komplett an den Bedürfnis- Mitgliedstaaten sollte deshalb stets mit bedacht werden.
sen der betroffenen Menschen vorbeigeht. Lieber eine Die Bundesländer und die relevanten Akteure und Insti-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10219
Viola von Cramon-Taubadel
(A) tutionen wie das Technische Hilfswerk müssen kontinu- spektivisch den Aufbau eines europäischen Notfallab- (C)
ierlich in diesen Prozess eingebunden werden. wehrzentrums unterstützen.
Die Stärkung des gemeinsamen Katastrophenschut-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zes ist europapolitisch zu begrüßen. Die EU ist weltweit
der größte Geber von humanitärer Hilfe. Eine bessere Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Sichtbarkeit der EU im Krisen- und Katastrophenfall Drucksache 17/4672 an die in der Tagesordnung aufge-
würde den Menschen in den begünstigten Staaten inner- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
halb oder außerhalb Europas den zivilen Charakter eu- Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
ropäischer Außenpolitik kenntlich machen. Deshalb ist
die Harmonisierung der EU-Katastrophenhilfe nicht nur Wir sind damit auch schon am Schluss unserer heuti-
im Sinne einer kosteneffizienten Arbeitsteilung unter den gen Tagesordnung.
Mitgliedstaaten sinnvoll. Die Rechtsakte zur Weiterent-
wicklung des europäischen Katastrophenschutzes müs- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
sen die Effizienz und Kohärenz von Einsätzen verbes- destages auf morgen, Freitag, den 11. Februar 2011,
sern. Sie von vornherein abzulehnen, wie die Linke 9 Uhr, ein.
fordert, macht keinen Sinn. Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend
und schließe die Sitzung.
Die Bundesregierung muss sich klar zur Harmonisie-
rung der Katastrophenhilfe in der EU bekennen und per- (Schluss: 21.02 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10221

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 nieren, Zivilgesellschaft stärken (Tagesord-


nungspunkt 7 a und b, Zusatztagesordnungs-
Liste der entschuldigten Abgeordneten punkt 5)
Wir verurteilen die Verletzung elementarer demokra-
entschuldigt bis tischer Rechte im Zusammenhang mit den Präsident-
Abgeordnete(r) einschließlich schaftswahlen in Weißrussland.
Da kein eigener Antrag unserer Fraktion vorliegt, ge-
Bätzing-Lichtenthäler, SPD 10.02.2011 ben wir folgende Stimmerklärung ab:
Sabine
Leider bringen die vorliegenden Anträge der Koali-
Bülow, Marco SPD 10.02.2011 tion sowie von SPD und Grünen unsere Position nicht
zum Ausdruck. Wir können ihnen aus folgenden Grün-
Friedhoff, Paul K. FDP 10.02.2011 den nicht zustimmen.
Gerster, Martin SPD 10.02.2011 Alle Anträge benennen die Probleme bei der Wahl
nicht korrekt: Neben Problemen bei der Stimmauszäh-
Gottschalck, Ulrike SPD 10.02.2011 lung müssen auch der ungleiche Zugang zu den Medien
und die unfaire Nutzung von Staatsressourcen zur Unter-
Dr. Freiherr zu CDU/CSU 10.02.2011 stützung des Amtsinhabers benannt werden.
Guttenberg,
Karl-Theodor Des Weiteren lehnen wir die – in allen Anträgen ge-
forderten – Sanktionen ab. Wir gehen nicht davon aus,
Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 10.02.2011 dass diese durch eine „faire und transparente“ Prozedur
DIE GRÜNEN auferlegt wurden, wie es die Resolution der Parlamenta-
rischen Versammlung des Europarates fordert.
Hintze, Peter CDU/CSU 10.02.2011
Auch wird in den Anträgen die Kritik am brutalen
Dr. Knopek, Lutz FDP 10.02.2011 Vorgehen der Miliz und an der Verfolgung nach den
Wahlen auf Grundlage unscharfer „europäischer Werte
Lenkert, Ralph DIE LINKE 10.02.2011 und Regeln“ geübt. Die allgemein gültigen politischen (D)
(B)
Rechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und
Lindner, Christian FDP 10.02.2011 Versammlung werden im Unterschied zur Resolution der
Lutze, Thomas DIE LINKE 10.02.2011 Parlamentarischen Versammlung des Europarates nicht
als solche benannt.
Maurer, Ulrich DIE LINKE 10.02.2011 Insgesamt scheint es bei den Anträgen mehr um die
Annäherung an die EU zu gehen als um die Verteidigung
Möhring, Cornelia DIE LINKE 10.02.2011 demokratischer Rechte und Wahlen.
Möller, Kornelia DIE LINKE 10.02.2011

Nietan, Dietmar SPD 10.02.2011 Anlage 3


Zu Protokoll gegebene Reden
Roth (Esslingen), Karin SPD 10.02.2011
zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten
Scholz, Olaf SPD 10.02.2011 Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset-
zes (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Süßmair, Alexander DIE LINKE 10.02.2011

Veit, Rüdiger SPD 10.02.2011 Dieter Stier (CDU/CSU): Mit der anstehenden Ge-
setzesnovelle zum Fünfzehnten Gesetz zur Änderung
Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 10.02.2011 des Arzneimittelgesetzes soll der vorliegende Gesetzent-
DIE GRÜNEN wurf der Bundesregierung eine logische Gleichstellung
von Tierarzneimitteln für nicht lebensmittelliefernde
Tiere und Humanarzneimitteln beim Internetversand si-
Anlage 2 cherstellen. Das bisher geltende Versandhandelsverbot
für Tierarzneimittel für nicht lebensmittelliefernde Tiere
Erklärung nach § 31 GO muss auf den Prüfstand; denn die Öffnung des Arznei-
versandhandels beim Menschen ist seit Jahren sehr viel
der Abgeordneten Andrej Hunko und Ulla
liberaler als der Internetversand mit Tierarzneimitteln.
Jelpke (beide DIE LINKE) zu den Abstimmun-
gen über die Anträge: Belarus – Repressionen Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Lockerung
beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktio- des bisher geltenden umfassenden Versandhandelsverbo-
10222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) tes für Tierarznei reagiert die Bundesregierung auf ein tel gefordert. In seiner Begründung argumentiert der (C)
Beschwerdeverfahren der EU-Kommission sowie auf Bundesrat mit der fehlenden Harmonisierung der tierarz-
ein Urteil des Bundesgerichtshofes, welches das derzei- neimittelrechtlichen Vorschriften auf EU-Ebene im Hin-
tige Versandhandelsverbot als unverhältnismäßig erach- blick auf die Bedingungen, unter denen der Tierarzt ein
tet. Es kann nicht angehen, dass im Hinblick auf den Rezept ausstellen kann. In einer Gegenäußerung dazu
Arzneimittelversand seit Jahren für unsere Haustiere hat die Bundesregierung am 8. Dezember 2010 deutlich
strengere Maßstäbe gelten als für die Medikation des gemacht, dass die vom Bundesrat geäußerten Bedenken
Menschen. Folglich ist es höchste Zeit, eine Lockerung einer Beibehaltung des Versandhandelsverbots für ver-
der gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Disposition zu schreibungspflichtige Arzneimittel für nicht lebensmit-
stellen – natürlich unter der Prämisse, dass den Erforder- telliefernde Tiere nicht zu rechtfertigen sind. Um den
nissen des Tierschutzes Rechnung getragen wird. Bedenken des Bundesrates hinreichend Rechnung zu tra-
gen, plädieren die Fraktionen der CDU/CSU und der
Inhaltlich orientiert sich der vorliegende Gesetzent- FDP in einem Änderungsantrag vom 8. Februar 2011 für
wurf eng an den seit 2004 etablierten Vorgaben für den eine Ergänzung des Arzneimittelgesetzes mit der Vor-
Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medika- gabe, dass Tierhalter verschreibungspflichtige Arznei-
menten, die zur Anwendung beim Menschen bestimmt mittel bei ihren Haustieren nur dann anwenden dürfen,
sind. Bisher sind innerhalb dieser in Deutschland mögli- wenn diese von einem Tierarzt direkt abgegeben werden
chen Verteilerkette keinerlei Probleme bekannt gewor- oder aber vom behandelnden Tierarzt verschrieben wer-
den. Versandapotheken liefern bereits jetzt eine Vielzahl den. Folglich kann die Behandlung eines Haustieres
von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und durch den Tierhalter mit verschreibungspflichtigen Tier-
Zubehör für unsere Haustiere. Die Vorteile des Internet- arzneimitteln nur nach vorheriger tierärztlicher Konsul-
versands liegen auf der Hand: Dieser Vertriebsweg ist tation erfolgen.
sehr beliebt, weil die Produkte dort günstiger angeboten
werden können, als dies Apotheken mit Miet- und Perso- Hinsichtlich des Versandhandels mit anderen EU-
nalkosten tun können. Zudem ist der Service einer Inter- Staaten bedeutet diese Regelung, dass ein Versand nach
netbestellung hinsichtlich der Auswahl der Produkte und Deutschland nur in dem Fall möglich ist, wenn der Tier-
der Lieferung bis zur Haustüre insbesondere für Men- halter bei der Bestellung in anderen Mitgliedstaaten das
schen abseits der Ballungszentren sowie für ältere Men- Rezept seines behandelnden Tierarztes beifügt. Dem-
schen nicht zu unterschätzen. Eine schnelle und be- nach werden diese verschreibungspflichtigen Tierarznei-
queme Abwicklung trägt zudem einem modernen mittel nur nach Vorlage einer durch Stempel und Unter-
Verbraucherleitbild, orientiert am gegenwärtigen Nut- schrift des behandelnden Tierarztes klar als gültig zu
zerverhalten, Rechnung, welches letztlich auch den Tie- identifizierende Verschreibung ausgeliefert. Im Rahmen
(B) ren zugutekommt. Als Unionspolitiker sollten wir der der Selbstverpflichtung der Unternehmen wird jedes Re- (D)
wachsenden Nachfrage der Verbraucher nach dem Ver- zept auf Vollständigkeit und Authentizität überprüft. In
sandhandel von Tierarzneimitteln gerecht werden und Großbritannien und in Nordirland ist eine tierärztliche
diesen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden Behandlung für die Verschreibung von Tierarzneimitteln
Gesetzentwurf weiter öffnen. verpflichtend. Der Internethandel hat sich dort als eine
verantwortungsvolle Ergänzung zum stationären Bezug
Letztlich zeigt die Praxis, dass Tierhalter aufgrund von Tierarzneimitteln bewährt.
hoher Preise mitunter abgeneigt sind, eine empfohlene
oder verordnete Medikation durchzuführen. Der Ver- In einer Bekanntmachung der Übersicht zum Ver-
sandhandel schließt eine diesbezüglich vorhandene Lü- sandhandel mit Arzneimitteln nach § 73 Abs. 1 Satz 3
cke, was wiederum der Tiergesundheit zugutekommt. des Arzneimittelgesetzes des Bundesministeriums für
Bei der Medikation von Tieren spielt auch die Zugäng- Gesundheit vom 31. Mai 2010 ist eine Übersicht über ei-
lichkeit von Medikamenten eine Rolle, zum Wohle der nige Mitgliedstaaten der EU und anderen Vertragsstaaten
Tiere. aufgeführt. Diese Staaten haben einen dem deutschen
Recht vergleichbaren Sicherheitsstandard gemäß §11 a
Unabhängig von diesen Vorteilen des Internethandels Apothekengesetz. Apotheken aus anderen Staaten, in de-
mit verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln möchte nen diese Vergleichbarkeit derzeit nicht besteht, können
ich auch auf „Risiken und Nebenwirkungen“ einer Libe- für Deutschland eine Versandhandelserlaubnis beantra-
ralisierung des Tierarzneiversandhandels aufmerksam gen. Die Forderung der Bundesvereinigung Deutscher
machen. Eine unkontrollierte Selbstmedikation von Apothekerverbände nach einem grundsätzlichen Ver-
Haustieren durch den Tierhalter birgt diverse Risiken für sandhandelsverbot aufgrund eines hohen Gefahrenpo-
das Haustier. Fehlbehandlungen und Nebenwirkungen tenzials für die Haustiere ist übertrieben vorsichtig. Die
fügen dem Tier Schmerzen und Schaden zu. Ebenfalls Menschen in Deutschland haben die Liberalisierung des
können Auswirkungen auf das Umfeld entstehen. Unkri- Humanmedizinversands auch schadlos überstanden.
tische Anwendung von verschreibungspflichtigen Medi-
kamenten, insbesondere von Antibiotika, kann uner- Als Unionspolitiker sollten wir uns jedoch der wach-
wünschte Resistenzen hervorrufen. senden Nachfrage der Verbraucher nach dem Versand-
handel von Tierarzneimitteln nicht verschließen und die-
Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom sen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden
5. November 2010 im Hinblick auf diese Gefahren eine Gesetzentwurf weiter öffnen. Ich befürworte jeglichen
Öffnung des Internetversandhandels nur für rein apothe- Abbau von ungerechtfertigten Handelshemmnissen, um
kenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimit- eine Optimierung der Wettbewerbsbedingungen in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10223

(A) Deutschland zum Wohle des Verbrauchers zu erzielen. rung des europäischen Arzneimittelrechtes – aber nicht (C)
Das derzeit geltende Verbot lässt sich gegenüber dem auf unterstem Niveau.
Verbraucher kaum plausibel vermitteln, zumal der Ver-
Aus Sicht der Arzneimittelsicherheit und des Gesund-
sandhandel bei rezeptpflichtigen Humanarzneimitteln
heitsschutzes halte ich es für nicht vertretbar, dass wir
seit Jahren erlaubt ist. Die von der Koalitionsfraktion ge-
den Versandhandel auf Tierarzneimittel ausdehnen, ins-
forderte Änderung dieses Gesetzentwurfes der Bundes-
besondere wenn sie verschreibungspflichtig und für
regierung, zusätzlich zur Internetbestellung des ver-
nicht Lebensmittel liefernde Tiere zugelassen sind. Wir
schreibungspflichtigen Medikamentes das Rezept des
brauchen einen möglichst restriktiven Umgang mit ver-
behandelnden Tierarztes beizufügen, ist ein für alle Sei-
schreibungspflichtigen Tierarzneimitteln aller Art. Wir
ten akzeptabler Kompromiss.
wissen doch alle, dass neue Vertriebswege über das In-
ternet kaum zu überwachen sind. Auch wenn in diesem
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Was für die Human- Gesetzentwurf der Versand nur nach der Verschreibung
medizin gilt, gilt selbstverständlich auch für die Tierarz- durch einen Tierarzt erfolgen soll, muss doch zu Recht
neimittel: Dosis facit venenum – die Dosis macht das bezweifelt werden, ob das Gebaren eines Internetver-
Gift. Das bedeutet nichts anderes, als dass von jedem sandhändlers, zumal wenn er nicht nur in Deutschland
Arzneimittel – ob verschreibungspflichtig oder nicht – vertreten ist, überhaupt überwacht werden kann. Schon
eine potenzielle Gefahr ausgehen kann. Vor diesem Hin- heute gibt es im Tierarzneimittelbereich immer noch ei-
tergrund muss auch die Diskussion um die hier vorlie- nen grauen Markt und mittlerweile auch gefälschte Arz-
gende Novelle des Arzneimittelrechts geführt und be- neimittel mit fragwürdiger, gefährlicher oder gar keiner
wertet werden. Die Toxikologie, die Resistenzbildung Wirkung. Das sollten wir durch die Öffnung des Arznei-
sowie die missbräuchliche Anwendung, die auch bei mittelversandes nicht auch noch fördern.
Arzneimitteln, die bei nicht lebensmittelliefernden Tie- Warum will die schwarz-gelbe Koalition ohne Not ne-
ren zur Anwendung kommen, müssen beachtet werden. ben dem bestehenden und gut funktionierenden System
Denn sowohl Antibiotika als auch andere systemisch des Tierarzneimittelvertriebs in Deutschland ein völlig
wirkende Arzneimittel werden überwiegend auch in der neues etablieren? Ziel sollte es doch eher sein, die stren-
Humanmedizin angewandt. Vor allem bei Antiparasitika gen deutschen Regeln zur Arzneimittelverordnung auf
und Anthelminthika gibt es tierartbezogene, teilweise europäischer Ebene zu verankern.
rassespezifische Unverträglichkeiten, die jedem Tierarzt
in der Praxis bekannt sind. Die missbräuchliche Anwen- Hinterfragt werden muss auch, ob die Ministerin
dung von Tierarzneimittel kann schwerwiegende Folgen Leutheusser-Schnarrenberger den Versandhändlern und
für unsere Heimtiere haben. Es sei nur an lebensbedro- ihren Lobbytruppen neue Einnahmemöglichkeiten eröff-
(B) hende Allergien und tödliche Nebenwirkungen erinnert. nen möchte. Damit würde man der Arzneimittelsicher- (D)
Wir dürfen auch hier den Tierschutzgedanken nicht au- heit und dem vorbeugenden Gesundheitsschutz einen
ßer Acht lassen. Bärendienst erweisen. Die Aufgabe des Gesetzgebers
muss es sein, die unberechtigte Verabreichung von Tier-
Die Verschreibung und die Abgabe von Tierarznei- arzneimitteln bestmöglich einzudämmen. Dazu gehört
mitteln dürfen nur nach gründlicher Anamnese und Dia- für mich auch ein Versandhandelsverbot für verschrei-
gnose durch einen behandelnden Tierarzt erfolgen. Das bungspflichtige Tierarzneimittel für nicht lebensmittel-
gebietet die gute fachliche Praxis. Dies ist eine strenge liefernde Tiere. Wir Sozialdemokraten wollen die No-
Anforderung an das Handeln eines jeden Tierarztes. Den velle der EU-Tierarzneimittelrichtlinie abwarten und
Sachverhalt kann ich aus meiner eigenen beruflichen Er- keine Schnellschüsse fabrizieren – im Interesse der Arz-
fahrung als Tierarzt und Assistent am Institut für Phar- neimittelsicherheit und des vorbeugenden Gesundheits-
makologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover sehr schutzes und gegen Lobbyinteressen. Wir werden daher
wohl beurteilen. diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Ob diese Voraussetzung für eine Verschreibung in an-
deren EU-Mitgliedstaaten, auch gilt, möchte ich doch Hans-Michael Goldmann (FDP): Das Arzneimit-
ernsthaft bezweifeln. Insofern dürfen wettbewerbsrecht- telgesetz, insbesondere der für das Tierarzneimittelge-
liche Bedenken nicht unsere hohen deutschen Standards setz relevante § 43, ist nur teilweise EU-harmonisiert.
infrage stellen. Eine Kontrolle der Anwendung von Tier- Die EU-Kommission hat eine Beschwerde eingelegt,
arzneimitteln durch den Tierarzt muss auch in Zukunft weil hier eine Behinderung des Warenhandels vorlag.
Auch ein entsprechendes BGH-Urteil empfiehlt eine No-
bei nicht Lebensmittel liefernden Tieren gewährleistet
vellierung. Damit besteht zwingender Handlungsbedarf.
sein. Kostensparende und gefährliche Eigenbehandlun-
gen durch den Tierbesitzer dürfen durch den Versand Ich bedauere, dass wir in dieser Sache handeln müs-
von Tierarzneimitteln nicht noch begünstigt werden. Die sen, aber angesichts der Gleichstellung von Humanme-
Grundsätze der Verschreibungspflicht für Arzneimittel dizin und Veterinärmedizin brauchen wir eine Gesetzes-
dürfen nicht infrage gestellt werden. Angesichts ver- änderung. Im Ergebnis zeigt die Novelle, dass ein
mehrter Antibiotikaresistenzen hat der Einsatz dieser rezeptpflichtiges Medikament Teil eines Diagnose- und
Medikamente mit entsprechendem Verantwortungsbe- Behandlungsprozesses ist, den die praktischen Tierärzte
wusstsein zu erfolgen. Denn Antibiotikaresistenzen ha- auch weiterhin ausgestalten. Damit ist die Fachlichkeit
ben eine unmittelbare Auswirkung auf die menschliche der Tierärzte als Grundlage der 15. Fassung des Arznei-
Gesundheit. Sicherlich benötigen wir eine Harmonisie- mittelgesetzes gestärkt. Das möchte ich an dieser Stelle
10224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) noch mal betonen. Bei unserer Gesetzesfassung handelt fachpolitischen Konsens mit dem vorliegenden Gesetz- (C)
es sich um eine praktikable und vernünftige Lösung, die entwurf aufzukündigen. Der Änderungsantrag der Koali-
sowohl dem Schutz der Tiere und der menschlichen Ge- tionsfraktionen, der eine tierärztliche Behandlung zur
sundheit Rechnung trägt als auch unseren Pflichten als bußgeldbewehrten Vorbedingung für eine Internetbestel-
EU-Mitglied nachkommt. lung macht, kann aus unserer Sicht die Bedenken gegen
eine solche Öffnung nicht aus der Welt räumen.
Der aktuelle Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der
Versandhandel aus Apotheken an den Tierhalter auch für Denn aus Sicht der Linken gibt es zwingende Gründe,
verschreibungspflichtige Arzneimittel, die für nicht le- das Arzneimittelversandverbot für Haus- und Heimtiere
bensmittelliefernde Tiere bestimmt sind, künftig erlaubt aufrechtzuerhalten. Das gilt erst recht wenn man be-
wird. Neben einer weiterhin bestehenden Rezeptpflicht denkt, wie viele Tierhalterinnen und Tierhalter und ihre
wird durch eine Behandlungs- und Anwenderegel die Tiere von dieser Neuregelung betroffen sind, also auch
fachärztliche Betreuung der Haus- und Kleintiere be- von ihren Risiken. Kennziffern aus dem Jahr 2009 skiz-
wahrt. Zudem bleibt die Transparenz des Tierarzneimit-
zieren dies: In der Bundesrepublik leben allein 5 Millio-
telhandels bestehen, indem nachvollziehbar ist, wer re-
nen Hunde und 8 Millionen Katzen. Die Heimtiere ein-
zeptiert.
gerechnet, sind 23 Millionen Tiere betroffen. Das ist
Im Kern der Diskussion stehen sich also die Argu- alles andere als eine Lappalie.
mente der Wettbewerbsfreiheit im EU-Binnenmarkt und
der aus Sicht der Veterinäre bedrohte Schutz der Die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der
menschlichen Gesundheit und der Tierschutz gegenüber. FDP nehmen mit dem Änderungsantrag einen der Ein-
Kritiker sehen die humane Gesundheit vor allem durch wände des Bundesrates gegen den Gesetzentwurf auf, in
ein mögliches unkontrolliertes Inverkehrbringen von dem eine rechtskonforme Beschaffung von verschrei-
Arzneimittel gefährdet, die missbräuchlich auch bei le- bungspflichtigen Tierarzneimitteln einzig in Verbindung
bensmittelliefernden Tieren angewendet werden könn- mit einer entsprechenden tierärztlichen Behandlung er-
ten. Ein Missbrauch ist nie auszuschließen, wenngleich folgen soll. Damit werden formal die Rechte der Tierärz-
dieser lediglich theoretisch vorhanden ist, da die Arznei- tinnen und Tierärzte gestärkt. Das sieht die Linke durch-
mittelabgabemenge für die Hauskatze oder den Hund aus als Schritt in die richtige Richtung, und wir haben
nicht ausreicht, um etwa einen Schweinebestand damit uns im Ausschuss bei diesem Änderungsantrag deshalb
zu versorgen. Diese theoretische Gefahr ist durch die auch enthalten. Die Probleme des Gesetzentwurfes wer-
eingeführte Behandlungspflicht gebannt. den damit aber nicht gelöst. Weil einerseits erhebliche
Zweifel bleiben, wie das funktionieren oder wer das wie
Ferner wird aus tiermedizinischer Sicht eine mögliche
(B) Medikamentenverabreichung vom Tierhalter kritisch be- effizient kontrollieren soll, und weil wesentliche andere (D)
Risiken des Gesetzentwurfs zum Versandhandel nach
wertet, da eine unprofessionelle Medikamentenabgabe
wie vor unberücksichtigt bleiben.
die Tiergesundheit gefährden könnte. Dieses Problem
lässt sich jedoch mit der in § 56 a eingeführten Anwen- Solange eine europaweite Harmonisierung des Tier-
dungsregelung lösen. Kern dessen ist, dass die Rezept- arzneimittelrechts nicht erfolgt und nur vage für die
vergabe an eine Behandlung gebunden sein muss, die nächsten Jahre angekündigt wird, kann und wird der
auch dazu verpflichten kann, dass die Arzneimittelver- Vertrieb solcher Mittel mit erheblichen tiergesundheitli-
abreichung über den Veterinär erfolgen muss. chen, und damit tierschutzrechtlich relevanten, und
Die neue Regelung in ihrer jetzigen Form ist ein soli- rechtlichen Risiken verbunden sein. Die Bundestierärz-
der Kompromiss und untermauert die Sorgfaltsplicht der tekammer spricht von kaum vorstellbaren Konsequen-
Tierärzteschaft. Der Tierarzt, die Tierärztin – kurz: der zen, die trotz einer faktischen Verschreibung durch einen
Fachmann – bleibt in der Poleposition. Der Tierschutz- Tierarzt drohen. Lediglich Zufallstreffer würden Ver-
gedanke flankiert die Argumentation der Anwendungs- stöße gegen das geltende Recht aufdecken, der Versand-
regelung. Im Ergebnis bleiben die Tierärzte – ich will handel bleibt de facto unkontrollierbar. Der bereits ge-
das noch einmal betonen – in ihrer Verantwortung. Diese genwärtig kaum zu überschauende, erst recht kaum zu
Entwicklung kann ich nur begrüßen. kontrollierende Internethandel wird die formal beste-
hende Verschreibungspflicht ins Lächerliche ziehen. Wie
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Es gab in den sollten Apotheken in anderen EU-Mitgliedstaaten nach-
vergangenen Monaten eine sehr intensive Debatte zum vollziehen können, ob ein nach nationalen Regelungen
Thema Internethandel mit Tierarzneimitteln zur Behand- gültiges Rezept vorliegt? Diese Frage stellt sich abgese-
lung von Tieren, die nicht der Lebensmittelgewinnung hen vom gezielten Missbrauchspotenzial. Wahrschein-
dienen, also Haus- und Heimtieren. Die Grundposition, lich brauchen wir dann neben Schwerpunktstaatsanwalt-
dass der Versand von Tierarzneimitteln im Vergleich zur schaften für Lebens- oder Futtermittel zukünftig auch
beratenden Abgabe durch Tierärzte oder durch Apothe- eine für den Internethandel mit Tierarzneimitteln, um
ken keine adäquate Abgabeform sei, war Konsens bei wenigstens grobe Verstöße gegen die gesetzlichen Rege-
der 8. AMG-Novelle, mit der 1998 der Versand apothe- lungen überhaupt erkennen und beweisen zu können. An
kenpflichtiger Arzneimittel verboten wurde. Unter dem dieser Stelle kann ich die Bundesregierung nur fragen,
Druck der EU-Kommission und eines Urteils des Bun- wie sie unter diesen Bedingungen falsche und eigen-
desgerichtshofes sah sich die Bundesregierung nun – aus mächtige Anwendungen von Tierarzneimitteln wenigs-
wettbewerbsrechtlichen Gründen – gezwungen, diesen tens behindern will?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10225

(A) Völlig unbeachtet bleibt im Gesetzentwurf die Frage, gravierende Auswirkungen haben können, via Versand- (C)
wie Tierhalterinnen und Tierhalter sich der Echtheit der handel aus anderen EU-Ländern Probleme entstehen
im Internet angebotenen Arzneimittel sicher sein kön- können. So kann das Ziel, antibiotikaverursachte Resis-
nen. Gefälschte Medikamente können gravierende ge- tenzbildungen aktiv zu vermeiden, eben nicht erreicht
sundheitliche Schäden bei Tieren nach sich ziehen. Die werden. Auch wenn der überwiegende Teil der Tier-
Öffnung des Marktes durch den Versandhandel macht es halter sich korrekt verhält, muss verhindert werden, dass
zudem nur allzu wahrscheinlich, dass bei preiswerteren der Missbrauch von Tierarzneimitteln möglich wird.
Produkten aus dem EU-Ausland eine Zunahme des regu-
lären Medikamenteneinsatzes folgt. Der Hinweis des Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
Bundesrates auf das Risiko dadurch verstärkt steigender wurden unsere Bedenken zum Teil aufgegriffen. So soll
Antibiotikaresistenzraten wird im Gesetzentwurf nur un- festgelegt werden, dass „Tierhalter … verschreibungs-
zureichend aufgegriffen. Dies ist wohl kaum mit der pflichtige Arzneimittel bei Tieren nur anwenden dürfen,
deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie in Überein- wenn die Arzneimittel von dem Tierarzt verschrieben
stimmung zu bringen. oder abgegeben worden sind, bei dem sich die Tiere in
Behandlung befinden.“ Diese Bestimmung soll dem
Außerdem sollten wir daran denken, dass es eine stei- Tierhalter den Einsatz von verschreibungspflichtigen
gende Zahl von Heim- und Haustierhalterinnen und -hal- Tierarzneimitteln, die ohne vorherige Konsultation bzw.
tern gibt, die in Armut leben und möglicherweise in ohne vorherige Verschreibung durch einen Tierarzt in
Versuchung sein könnten, sich wenigstens billige Tier- seinen Besitz gelangt sind, verhindern. Diese Änderung
arzneimittel zu besorgen, wenn sie denn den Besuch begrüßen wir daher. Solange es jedoch keine Vereinheit-
beim Tierarzt oder bei der Tierärztin schon nicht bezah- lichung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene gibt,
len können. Wer will ihnen das verdenken? Es war die halten wir eine Öffnung des Versandhandels – insbeson-
schwarz-gelbe Koalition, die die Kosten für die Haltung dere für verschreibungspflichtige Tierarzneimittel – für
von Haustieren aus dem Regelsatz gestrichen hat, ob- problematisch. Wir sehen aber auch, dass ein Beschwer-
wohl der Hund oder die Katze für immer mehr Men- deverfahren der EU-Kommission gegenüber Deutsch-
schen der letzte Anker in der Gesellschaft geworden land anhängig ist und einem Urteil des Bundesverfas-
sind. sungsgerichtes Rechnung zu tragen ist, zumal die
Zunehmende Missbrauchsmöglichkeiten im Arznei- Öffnung des Versandhandels im Bereich der Humanme-
mittelhandel, Unkontrollierbarkeit des Versandhandels dizin bereits erfolgt ist.
und die Gefahr eines weiteren deutlichen Anstiegs des Eine Harmonisierung des Tierarzneimittelrechts auf
Medikamentenkonsums sehen wir als Folgen dieser Ge- EU-Ebene ist unabdingbar. Daher fordern wir die Bun-
setzesnovelle. Deshalb kann die Linke diesen Gesetzent- desregierung auf, sich für eine zügige Vereinheitlichung (D)
(B)
wurf nur ablehnen. des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene einzusetzen –
mit der Maßgabe, den Missbrauch oder gesundheitsschä-
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE digenden Einsatz von Tierarzneimitteln zu verhindern.
GRÜNEN): Ziel des von der Bundesregierung vorgeleg- Außerdem fordern wir das Bundesministerium für Er-
ten Gesetzentwurfes ist es, den Versandhandel für Tier- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf, von
arzneimittel teilweise zu öffnen. Betroffen sind davon seiner Ermächtigung durch § 56 a Abs. 3 Gebrauch zu
apothekenpflichtige und verschreibungspflichtige Arz- machen und per Verordnung vorzuschreiben, dass be-
neimittel für Tiere, wenn diese Tiere nicht zur Lebens- stimmte Arzneimittel nur durch den Tierarzt selbst ange-
mittelgewinnung verwendet werden. Wir sind der Mei- wendet werden dürfen, wenn diese Arzneimittel für die
nung: Tiere müssen von einem Tierarzt begutachtet und Gesundheit von Mensch und Tier gefährlich sein könn-
untersucht werden, bevor dem Tier Arzneimittel verab- ten oder wenn Missbrauch möglich ist.
reicht werden. Die persönliche Beratung des Tierhalters
und gegebenenfalls seine Einweisung in die Arzneimit- In der Gesamtschau bleiben weiterhin Bedenken, so-
telverabreichung sind unseres Erachtens nach unver- dass wir uns bei dieser Änderung des Arzneimittelgeset-
zichtbar. Bündnis 90/Die Grünen sehen die geplante Öff- zes enthalten.
nung des Versandhandels für Tierarzneimittel kritisch,
da auch der Versand aus dem europäischen Ausland
möglich ist. Leider gibt es aber bislang keine EU-weite Anlage 4
Regelung der tierärztlichen Verschreibung, die die
Untersuchung der betroffenen Tiere durch den behan- Zu Protokoll gegebene Reden
delnden Tierarzt und seine Behandlungskontrolle
vorschreibt. Aus Gründen des Tierschutzes, des Gesund- zur Beratung des Antrags: Alle Waffenexporte
heitsschutzes und der Arzneimittelsicherheit muss aber des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbie-
gewährleistet werden, dass Tierhalter keine Arzneimittel ten (Tagesordnungspunkt 13)
beziehen können, die nicht für die Behandlung ihres Tie-
res geeignet oder gar nicht vorgesehen sind. Dies ist vor Erich G. Fritz (CDU/CSU): Der Export von Waffen
allem relevant für verschreibungspflichtige Tierarznei- gehört zweifellos zu den sensibelsten Bereichen des Au-
mittel, zu denen auch Antibiotika zählen. Wir haben die ßenhandels. Deswegen sind die rechtlichen Bestimmun-
begründete Befürchtung, dass bei der Abgabe von Arz- gen in diesem Gebiet eindeutig und in Deutschland
neimitteln, die auch auf die menschliche Gesundheit äußerst strikt. Die Bundesregierung übt eine verantwor-
10226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) tungsvolle Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexpor- nehmigung eine strikte Einzelfallprüfung stattfindet. Die (C)
ten aus und ist keinesfalls „lasch“ in der Kontrolle der Bundesregierung prüft und bewertet vor Erteilung einer
Rüstungsexporte – auch wenn die Fraktion Die Linke Genehmigung für die Lieferung von Rüstungsgütern alle
uns mit ihrem Antrag etwas anderes weismachen will. vorhandenen Informationen über den Endverbleib der
Grundlage bilden die Politischen Grundsätze der Bun- betroffenen Rüstungsgüter. Dies sehen der „Gemein-
desregierung für den Export von Kriegswaffen und sons- same Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. De-
tigen Rüstungsgütern aus dem Jahr 2000, das Außen- zember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die
wirtschaftsgesetz, die Prüfungen durch das Bundesamt Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Mili-
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, bzw. den tärgütern“ und die entsprechenden Regelungen der „Po-
Bundessicherheitsrat und der Verhaltenskodex der EU litischen Grundsätze der Bundesregierung für den Ex-
vom 8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame port von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“
Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat vom 19. Januar 2000 vor. Sofern es keine Zweifel am
verabschiedet wurde. Ich zitiere Greenpeace: „Über jede Endverbleib der zu liefernden Kriegswaffen gibt und die
Patrone, die das Land verlässt, wird also gründlich Buch übrigen für eine Genehmigung eines Kriegswaffenex-
geführt.“ ports notwendigen rechtlichen und politischen Voraus-
setzungen gegeben sind, können Genehmigungen erteilt
Der Fall Heckler & Koch, ein Oberndörfer Kleinwaf- werden. Durch die Ex-ante-Prüfung wird von vornherein
fenhersteller, wird von der Fraktion Die Linke benutzt, gesichert, dass Rüstungsgüter nicht an Empfänger gelie-
um die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung er- fert werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die Güter
neut in den Medien als „außerordentlich lasch“ zu kriti- umgeleitet werden. Wenn Zweifel am gesicherten End-
sieren und den Waffenexport als nicht mit dem Grundge- verbleib beim Empfänger bestehen, werden Ausfuhran-
setz vereinbar darzustellen. Wahr ist, dass die träge abgelehnt.
Staatsanwaltschaft Stuttgart sowie das Zollkriminalamt
Köln derzeit den Verdacht prüfen, dass Heckler & Koch Darüber hinaus sichern Empfänger in sogenannten
im Jahr 2006 mit Exporten in mexikanische Unruhepro- Endverbleibserklärungen der Bundesregierung zu, die
vinzen (Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco) ge- betreffenden Güter nicht ohne Zustimmung der Bundes-
gen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffen- regierung an andere Staaten weiterzuverkaufen. Dies
kontrollgesetz verstoßen haben sollen. Die Bearbeitung wird grundsätzlich bei allen Exporten von Rüstungs-
von Anträgen von Heckler & Koch für den Export von gütern verlangt. Lieferungen von Kriegswaffen sowie
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Me- sonstigen Rüstungsgütern, die nach Umfang oder Be-
xiko wurde deshalb zeitweilig ausgesetzt. Der Links- deutung für eine Kriegswaffe wesentlich sind, dürfen
fraktion geht das nicht weit genug; sie fordert, auch die nur bei Vorliegen von amtlichen Endverbleibserklärun-
(B) Bearbeitung der Exportanträge des Unternehmens in an- gen, die ein Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt ent- (D)
dere Länder auszusetzen. Die Frage, ob und in welchem halten, genehmigt werden. Die Bundesregierung lässt
Umfang die Firma Heckler & Koch Waffen unter Ver- sich zusätzlich zu den Endverbleibserklärungen weitere
stoß gegen das deutsche Exportkontrollrecht Sturmge- geeignete Dokumente wie zum Beispiel Erläuterungen
wehre des Typs G36 nach Mexiko geliefert hat, ist bis- des Empfängers zum beabsichtigten Verwendungs-
lang nicht abschließend geklärt. Vielmehr ist sie zweck, technische Unterlagen oder internationale Ein-
Gegenstand des laufenden staatsanwaltschaftlichen Er- fuhrbescheinigungen (International Import Certificates)
mittlungsverfahrens. Im Lichte des Ergebnisses dieses vom Endempfanger deutscher Rüstungsgüter vorlegen.
Ermittlungsverfahrens wird die Bundesregierung prüfen, Die Vereinbarkeit von Waffenexporten mit dem Frie-
ob wegen mangelnder Zuverlässigkeit des Unterneh- densgebot des Grundgesetztes ist somit gewährleistet.
mens weitere Genehmigungsverfahren auszusetzen oder
erteilte Genehmigungen zurückzunehmen sind. Heckler Die Bundesregierung erhält im Zusammenhang mit
& Koch beteuert, im Einvernehmen mit der Ausfuhrge- außenwirtschafts- bzw. kriegswaffenrechtlichen Geneh-
nehmigung des Bundesamtes für Wirtschaft und Aus- migungsverfahren in Form der Genehmigungserteilung
fuhrkontrolle ausschließlich an die dafür gesetzlich vor- laufend einen Überblick über den Endverbleib von der
gesehene Waffeneinkaufsbehörde, D.C.A.M., welche Bundesrepublik Deutschland ausgeführten Rüstungs-
dem mexikanischen Verteidigungsministerium unter- gütern. Eine Genehmigung für die Vergabe von Lizen-
steht, geliefert zu haben. Das BAFA hatte den Antrag zen ist nach dem Außenwirtschaftsgesetz, AWG, und/
von Heckler & Koch ausschließlich für 28 der 32 mexi- oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz, KWKG, erforder-
kanischen Bundesstaaten genehmigt, da in den anderen lich, wenn im Zusammenhang mit der Lizenzerteilung
Bundestaaten anhaltende Menschenrechtsverletzungen Technologie in Form von Know-how, Fertigungsunterla-
vorliegen. Vor diesem Hintergrund der Strafanzeige von gen und -maschinen oder Komponenten ausgeführt wer-
Jürgen Grässlin begrüßt Heckler & Koch die Maßnah- den sollen, die selbst dem AWG und/oder KWKG unter-
men der Staatsanwaltschaft, da vom Anzeigeerstatter fallen. Alle Entscheidungen über Rüstungsexporte
bisher nur einseitige Informationen über mediale Kanäle werden nach sorgfältiger Abwägung der außen-, sicher-
verbreitet wurden. heits- und menschenrechtspolitischen Belange im Ein-
zelfall getroffen. Zusätzlich kann die Bundesregierung
Die Fraktion Die Linke hat bereits vermehrt die Kon- nachträglich Überprüfungen der Einhaltung von Endver-
trolle des Endverbleibs deutscher Kriegswaffen und bleibserklärungen durchführen. Erkenntnisse, ob die der
Rüstungsgüter als „unzureichend“ kritisiert. Seien Sie Genehmigung zugrunde liegenden Informationen zutref-
jedoch versichert, dass bei jedem Antrag auf Ausfuhrge- fend waren, können sich aus nachrichtendienstlichem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10227

(A) Aufkommen, aus dem Informationsaustausch mit ande- mit Klein- und Leichtwaffen thematisiert. Im Dezember (C)
ren Regierungen sowie aufgrund der bei exportierenden 2005 verabschiedete der Europäische Rat die EU-Klein-
Unternehmen durchgeführten Betriebsprüfungen erge- waffenstrategie, deren Umsetzung einen Schwerpunkt
ben. der deutschen EU-Präsidentschaft in der ersten Hälfte
des Jahres 2007 bildete. Zuletzt hat der Rat sich über
Die Einhaltung eingegangener Endverbleibszusagen eine Maßnahme der EU zur Bekämpfung des unerlaub-
ist für die Bundesregierung eine wichtige Voraussetzung ten Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen auf
für die etwaige Erteilung weiterer Ausfuhrgenehmigun- dem Luftweg (Ratsdokument 8679/10 vom 29. Oktober
gen. In Fällen des begründeten Verdachts auf Verstöße 2010) geeinigt. Deutschland engagiert sich darüber hi-
gegen Endverbleibszusagen, wie im Fall Heckler & naus auch im Rahmen der Organisation für Sicherheit
Koch, wird die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen und Zusammenarbeit in Europa, OSZE. Die OSZE hat
für den betreffenden Empfänger so lange ausgesetzt, bis bereits im November 2000 das Dokument über Klein-
der Sachverhalt umfassend aufgeklärt ist. Die Entschei- waffen und leichte Waffen verabschiedet, das gemein-
dung, ob die Erklärungen eines Landes oder eines Unter- same Ausfuhr- und Überschusskriterien aufstellt, regio-
nehmens generell als nicht verlässlich einzustufen sind, nale Transparenz von Kleinwaffentransfers schafft und
muss die Bundesregierung wegen der damit verbunde- die Grundlage für einen umfassenden Informationsaus-
nen Folgen mit großer Sorgfalt treffen. Hierfür ist es er- tausch bildet. Im Rahmen einer von Deutschland finan-
forderlich, dass der Sachverhalt weitestgehend aufge- ziell unterstützten zweitägigen Konferenz im September
klärt ist. Dies ist wegen des noch andauernden 2009 wurden noch bestehende Defizite und mögliche
Ermittlungsverfahrens jedoch nicht der Fall. Deshalb ist Schritte zur Verbesserung der Umsetzung des OSZE-
es sehr wohl sachlich zu begründen, dass der Export- Kleinwaffendokuments identifiziert. Deutschland enga-
stopp nicht für alle Exporte des Unternehmens, sondern giert sich auch bilateral vielfältig im Kleinwaffenbe-
nur für die nach Mexiko gilt. Für eine Aussetzung der reich. Einen Schwerpunkt bildet z. B. die Projektarbeit
Bearbeitung von Exportanträgen anderer deutscher Fir- in Subsahara-Afrika und Osteuropa sowie die enge Zu-
men nach Mexiko besteht bislang kein Anlass. sammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Arabischen
Das deutsche System der Exportkontrolle für Rüs- Liga, AL, um das Thema Kleinwaffenkontrolle in der
tungsgüter gewährleistet in zuverlässiger Weise die Region stärker zu verankern.
Sicherung des Endverbleibs. Dies bestätigen die Erfah- Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements
rungen der deutschen Exportkontrollpraxis. Die Bundes- in der Kleinwaffenkontrolle auf allen Ebenen sowie auf-
regierung hat seit Jahrzehnten gute Erfahrungen mit die- grund der positiven Erfahrungen der deutschen Export-
sen Regelungen gemacht. Nur in wenigen Einzelfällen kontrollpraxis, die nicht nur dem in Europa üblichen
(B) ist eine Umleitung bekannt geworden. System entspricht, sondern darüber hinaus als wirksa- (D)
Der Antrag der Fraktion Die Linke bezeichnet zudem mes Kontrollsystem anerkannt ist und weltweit hohes
den Export von Kleinwaffen als „unkalkulierbares Ri- Ansehen genießt, ist der Antrag der Fraktion Die Linke
siko und ernsthaftes Problem für den Frieden, die Si- „Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenher-
cherheit und die soziale Stabilität“. Dass der unerlaubte stellers verbieten“, abzulehnen.
Handel mit Klein- und Leichtwaffen ein sicherheitspoli-
tisches Problem ist, wurde jedoch längst nicht nur auf Rolf Hempelmann (SPD): Die Kontrolle des Ex-
nationaler, sondern auch auf europäischer und internatio- ports von Kriegswaffen ist ein Thema, mit dem sich die
naler Ebene erkannt. Deutschland engagiert sich aktiv SPD-Bundestagsfraktion schon sehr lange beschäftigt.
im Rahmen des VN-Kleinwaffenprozesses, der den glo- Bereits in den 70er-Jahren wurden Grundsätze der Rüs-
balen Referenzrahmen für Bemühungen um Kleinwaf- tungs- und Waffenexportkontrolle formuliert, die bis
fenkontrolle bildet. Darüber hinaus bemüht sich heute gelten. Schon aus unserer eigenen Vergangenheit
Deutschland auch in spezifischen Thematiken wie Mar- fühlen wir uns einer restriktiven Rüstungs- und Waffen-
kieren und Nachverfolgen, Lagerverwaltung und Um- exportpolitik verpflichtet.
gang mit Munitionsbeständen um Fortschritt mittels För-
derung von regionalen Seminaren und Konferenzen der Geregelt ist der Export von Rüstung und Waffen im
Vereinten Nationen, Organisation von Expertentreffen Außenwirtschaftsgesetz, im Kriegswaffenkontrollgesetz
sowie Einbringung spezifischer VN-Resolutionen. Zur und in den „Politischen Grundsätzen der Bundesregie-
Förderung konkreter Maßnahmen der Projektarbeit ist rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Deutschland im Rahmen der in New York tagenden Rüstungsgütern“. Bei Rüstungsexporten in andere Län-
Gruppe interessierter Staaten (GIS – Group of Interested der als EU-Mitgliedstaaten, NATO-Länder und NATO-
States) engagiert. Ländern gleichgestellte Staaten hat sich die Bundesrepu-
blik eben einer restriktiven Rüstungsexportpolitik ver-
Die EU und ihre Mitgliedstaaten gehören mit ihrem pflichtet. Auch in Europa schweben wir nicht im leeren
Engagement im Kleinwaffenbereich zu den wichtigsten Raum. Im Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP
Akteuren weltweit. Bereits in der 2003 im Auftrag des des Rates haben wir uns mit unseren Partnern in der
Hohen Vertreters der EU für die Gemeinsame Außen- Europäischen Union Regeln für die Kontrolle der Aus-
und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, erstellten fuhr von Militärtechnologie und Militärgütern gesetzt.
und von ihm dem Europäischen Rat vorgelegten Euro- Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten Kriterien wie
päischen Sicherheitsstrategie wird die Gefahr der illega- Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völ-
len Kriminalität am Beispiel des unerlaubten Handels kerrechts, Beachtung der nachhaltigen Entwicklung in
10228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) den Empfängerländern, Friedenserhalt und Konfliktver- dieses Thema so hochsensibel ist, ist es dann nicht kon- (C)
meidung bei der Bewertung von Waffenexporten für ab- sequent, auch bestehende Genehmigungen für die Dauer
solut entscheidend. Negative Bewertungen müssen dann des Verfahrens auszusetzen und keine neuen Genehmi-
auch zum Entzug von Genehmigungen führen, bezie- gungen zu erteilen? Da gehen unsere Vorstellung deut-
hungsweise es dürfen dann keine Genehmigungen erteilt lich über die im vorliegenden Antrag formulierte Auffor-
werden. Jedoch sehen wir bei der derzeitigen Bundesre- derung hinaus.
gierung die Aufweichungstendenzen bei der konsequen-
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht aber noch ein an-
ten Durchsetzung einer restriktiven Rüstungspolitik.
deres Problem. Wir finden, die Informationspolitik der
Dies scheint natürlich konsequent. So spricht die Koali- Bundesregierung ist unzureichend. Seit April 2010 er-
tion in ihrem Koalitionsvertrag auch nicht mehr von „res- mittelt die Staatsanwaltschaft. Die Durchsuchungen fan-
triktiver“, sondern von „verantwortungsbewusster Geneh- den im Dezember 2010 statt. Aber erst auf die Anfrage
migungspolitik für die Ausfuhr von Rüstungsgütern“. der Linken äußert sich die Bundesregierung im Januar
Nun liegt uns ein Antrag der Fraktion Die Linke vor, 2011 zu der Problematik. Das ist zu spät und, wenn man
sich die Antworten der Bundesregierung ansieht, zu we-
wonach alle Waffenexporte eines Exporteurs verboten
nig. Wenn im Bereich des Waffen- und Rüstungsexpor-
werden sollen. Ja, die Überschrift lässt mehr erwarten,
tes solche Probleme mit einem Exporteur auftreten,
als der Antrag dann hält. Es ist gut und richtig, dass wir muss eine unverzügliche Mitteilung an das Parlament er-
uns hier und heute mit möglichen Verstößen gegen das folgen. In diesem hochsensiblen Bereich müssen wir
Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz über bessere Beteiligungs- und Informationsformen des
befassen. So etwas muss auf unsere Tagesordnung und Parlaments nachdenken. Wir können das nicht allein und
in unser Bewusstsein. Gerade vor dem Hintergrund, dass zu 100 Prozent der Exekutive überlassen. Diesen Antrag
es nicht das erste Mal ist, dass die Heckler & Koch zum Anlass nehmend sollten wir uns daher über eine ef-
GmbH – und um die geht es hier, auch bei der ein wenig fiziente Beteiligung des Parlaments Gedanken machen.
verklausulierten Formulierung des Antragstitels – in die Zwar ist die Genehmigung von Rüstungsexporten Sache
Schlagzeilen geraten ist. Schon mehrfach standen sie im der Exekutive, aber uns obliegt die Kontrolle, und ohne
Verdacht, das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffen- umfangreiche Informationen kann keine wirkliche Kon-
kontrollgesetz verletzt zu haben. Schon mehrfach tauch- trolle erfolgen. Dabei müssen wir natürlich beachten,
ten in Spannungsgebieten Waffen von ihnen auf. In diese Geschäftsgeheimnisse, nicht zu publizieren und uns als
Gebiete dürfen keine Waffen geliefert werden. Hinter- Parlament nicht zu überlasten.
grund dieser Regelung ist, dass, wer Waffen in ein Span-
nungsgebiet an Konfliktparteien liefert, sich mindestens Aber auch ein anderer Gesichtspunkt erscheint uns
faktisch zur Konfliktpartei macht, weil er den Konflikt wichtig: Es besteht immer noch ein Problem in der
(B) sehr konkret unterstützt. Bei den vorherigen Malen er- Transparenz, wie viele Waffen nun exportiert werden. (D)
härteten sich die Vorwürfe nicht zu einem konkreten Zwar wird im Rüstungskontrollbericht dargestellt, für
Strafdelikt. Hier handelt es sich derzeit um ein schwe- welche Anzahl von Waffen Genehmigungen erteilt wur-
bendes Verfahren. Die Durchsuchungen waren im De- den. Es wird aber nicht erhoben und kontrolliert, wie viel
zember, deren Ergebnisse werden erst noch ausgewertet. letztendlich davon exportiert wird. Diese Lücke zwi-
Diesbezüglich sollten wir die Ermittlungen der Staatsan- schen genehmigten Waffenexporten und tatsächlich ex-
waltschaft abwarten. portierten Waffen muss geschlossen werden. Wir brau-
chen eine valide Erhebung der tatsächlichen Zahlen.
Jedoch muss schon jetzt beachtet werden, dass nach Es gibt also viel zu besprechen und zu tun. Das sollten
den Grundsätzen der Bundesregierung zum Export von wir im zuständigen Ausschuss machen. Die Bundesre-
Kriegswaffen Zuverlässigkeit des Exporteurs ein wichti- gierung steht in der Pflicht, uns ausführliche Auskünfte
ges Kriterium zur Erteilung der Exportgenehmigung ist. zu erteilen und uns Vorschläge zu unterbreiten, wie eine
Die Bundesregierung hat nach eigener Aussage die Be- valide Zahlengrundlage erlangt und wie in Zukunft das
arbeitung von Anträgen, die das Unternehmen Heckler & Verfahren zu einer effektiven Zusammenarbeit verbes-
Koch für den Export von Kriegswaffen und sonstigen sert werden kann.
Rüstungsgütern nach Mexiko gegenwärtig gestellt hat,
ausgesetzt. Die Frage, die sich hier stellt: Wie weit ist
die Fortsetzung von möglichen kriminellen Aktivitäten Klaus Breil (FDP): Die Frage, ob die Oberndorfer
eingeschränkt, wenn nur die Neuerteilung von Genehmi- Firma unter Verstoß gegen das deutsche Exportkontroll-
gungen an Heckler & Koch nach Mexiko nicht weiter er- recht Waffen nach Mexiko geliefert hat, ist keineswegs
folgt, erteilte Genehmigungen aber fortbestehen und Ge- geklärt – so wie es die Linke uns suggerieren will. Viel-
nehmigungen zum Export in andere Länder erteilt mehr ist sie Gegenstand eines laufenden staatsanwalt-
werden. schaftlichen Ermittlungsverfahrens.
Rüstungs- und Waffenexport ist ein hochsensibles Bei jedem Antrag auf Ausfuhrgenehmigung findet
Thema, bei der Kontrolle geht es auch um unser außen- eine strikte Einzelfallprüfung statt. Nur dann, wenn es
politisches Ansehen – um das außenpolitische Ansehen keine Zweifel am Endverbleib der zu liefernden Kriegs-
Deutschlands. Laufende staatsanwaltschaftliche Ermitt- waffen gibt und die notwendigen rechtlichen und politi-
lungen zu möglichen Verstößen gegen das Außenwirt- schen Voraussetzungen gegeben sind, werden Genehmi-
schafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz führen trotz des gungen erteilt. Die von den Linken geforderte
Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung zu Zwei- Untersagung aller Ausfuhren käme einer Vorverurtei-
feln an der Zuverlässigkeit des Exporteurs. Und, weil lung gleich und ist in der Forderung maßlos.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10229

(A) In Deutschland entscheiden Gerichte über Schuld und – Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze (C)
Unschuld. Bis dahin herrscht die Unschuldsvermutung. für multinationale Unternehmen als Chance
Sie ist die Grundlage eines jeden Rechtsverfahrens. Of- für einen stärkeren Menschenrechtsschutz
fensichtlich hat sich dies bei den Linken noch nicht he- nutzen
rumgesprochen. Oder schimmert hier vielmehr der
wahre Kern der Linken unter einer demokratischen (Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatzta-
Lackschicht hervor? Frei nach dem Motto: Wer schuld gesordnungspunkt 7)
ist, bestimmt immer noch die Partei und nicht irgendwel-
che Gerichte. Würde man schließlich der verdrehten Lo- Jürgen Klimke (CDU/CSU): Fast monatlich hören
gik eines Generalverbotes folgen, müßte konsequenter wir in den Medien, dass Textilarbeiter zum Beispiel in
Weise die Fraktion der Linken bei jedem vagen Stasi- Bangladesch, dem Zentrum der Textilproduktion für
verdacht gegen eines ihrer Mitglieder sofort die Arbeit Deutschland, auf die Straße gehen und für bessere
einstellen und die Fraktion auflösen. Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Arbeiter der rund
4 500 Textilfabriken des Landes, in denen auch zahlrei-
Im Übrigen hat es in der Vergangenheit bereits mehr- che westliche Firmen wie zum Beispiel H&M und Levi
fach Versuche gegeben, dem Unternehmen in Oberndorf Strauss produzieren lassen, protestieren dagegen, dass
angeblich illegale Rüstungsexporte anzuhängen. Sie alle ihre Arbeitgeber ihnen keine Pausen gewähren, keinen
waren haltlos und sind im Sande verlaufen. Zudem rich- zum Leben angemessenen Mindestlohn zahlen oder ihre
tet sich das Ermittlungsverfahren nicht gegen das Unter- Gewerkschafts- und Versammlungsrechte massiv ein-
nehmen selbst, sondern gegen bestimmte Personen, die schränken.
für das Unternehmen tätig sind oder waren. Daher kön-
nen selbst im Falle eines erwiesenen Verstoßes gegen au- Ganz klar gesagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedin-
ßenwirtschafts- oder kriegswaffenkontrollrechtliche Vor- gungen, wie wir sie in vielen Partnerländern vorfinden,
schriften nur diese Personen belangt werden und nicht sind unakzeptabel, gerade auch im Hinblick auf die
das Unternehmen selbst – sofern die betroffenen Perso- menschenrechtlichen Grundsätze unserer westlichen
nen nicht mehr an verantwortlicher Stelle im Unterneh- Industriegesellschaft. Richtig verstandene Unterneh-
men tätig sind. mensverantwortung deutscher und internationaler Un-
ternehmen muss sich an den tatsächlichen Produktions-
Vielmehr scheint mir das Ziel der Linken ein ganz an- bedingungen in unseren Partnerländern messen lassen.
deres zu sein: Es geht ihr um die Schwächung unlieb- Dieses verantwortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht
samer Unternehmen und um die Destabilisierung des in allen deutschen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie
Sicherheitsgefüges im Ganzen: Schließlich beliefert das Unternehmensverantwortung positiv auch für die Ar-
(B) Oberndorfer Unternehmen die Streit- und Sicherheits- beitsbedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unterneh- (D)
kräfte von NATO- und EU-Staaten. Diese sind auf eine men muss erst einmal bewusst gemacht werden, wel-
permanente Ersatzteilversorgung angewiesen. Die Ver- chen wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz
sorgung aufrechtzuerhalten ist bei einem Exportverbot für gute Arbeitsbedingungen hat.
undenkbar. Das Vertrauen in die Lieferzuverlässigkeit
der gesamten deutschen Rüstungsindustrie sowie in die Es gibt Leuchtturmunternehmen, die Vorreiter und
Berechenbarkeit der deutschen Rüstungsexportpolitik Beleg dafür sind, dass die neue Form des „Social Busi-
würde erschüttert. Zudem ist das Unternehmen wichtiger ness“ einen Mehrwert für jedes Unternehmen hat. Man-
Lieferant für die Bundeswehr und die Polizeien in che haben diesen Weg bereits kräftig eingeschlagen; ich
Deutschland. Eine erzwungene Beschränkung auf den möchte an dieser Stelle unter anderem OTTO, Puma,
Binnenmarkt durch ein völliges Exportverbot hätte zur hessennatur oder adidas benennen. Diese Unternehmen
Folge, daß die Fertigungskapazitäten nicht mehr ausge- haben bei dem CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stif-
lastet werden könnten. Das Unternehmen wäre wirt- tung Warentest positiv abgeschnitten. Gerade die OTTO
schaftlich nicht mehr zu führen. Arbeitsplatzverluste und AG, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis Hamburg-
gegebenenfalls eine völlige Schließung des Unterneh- Wandsbek, spielt eine besondere Vorreiterrolle. Neben
mens wären die Folge. Allein hierum geht es den Lin- seinen Umweltstiftungen hat das Unternehmen eine neue
ken. Kooperation im Rahmen von „Social Business“ mit dem
Friedensnobelpreisträger Yunus gestartet. Ziel ist es,
eine Textilfabrik in Bangladesch aufzubauen, die die
Vorgaben der ILO, nämlich akzeptable Arbeitsbedingun-
Anlage 5
gen, erfüllt. Diesen Schritt unternimmt die OTTO AG
Zu Protokoll gegebene Reden gerade unter dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social
Business“-Vorhaben in Afrika – Vorhaben, bei denen für
zur Beratung: Baumwollfarmer Know-How-Transfer geleistet wurde,
damit sie zukünftig effektiver anbauen können, Vorha-
– Beschlussempfehlung und Bericht: Men- ben, bei denen 150 000 Farmern gerechte Preise für die
schenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät- Rohstoffe gezahlt wurden.
zen für multinationale Unternehmen stärken
Es ist die Pflicht eines jeden Menschenrechtlers und
– Antrag: Verpflichtender Menschenrechts- Entwicklungspolitikers, der sich mit diesem Thema be-
schutz bei den OECD-Leitsätzen für multi- schäftigt, gerade das Engagement solcher Unternehmen
nationale Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervorzuheben. Dieser
10230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Weg des positiven Hervorhebens oder, im Gegenteil, des weitet werden können. Wichtig zu diskutieren ist, wie (C)
öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger-Stellens, wie mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unter-
bei den Beispielen Lidl oder KiK geschehen, ist der nehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze
sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema umzugehen halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen mit
haben. nicht nachhaltigem Wirtschaften von staatlichen Förder-
instrumenten eine Zeit lang ausgeschlossen werden.
Ich bin der Auffassung, dass wir bei diesem Thema
parteiübergreifend keinen Dissens haben dürfen und Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständig-
würde mir wünschen, dass gerade auch die Grünen posi- keiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium
tive Leuchtturmprojekte als Chance sehen, sozialen für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Refe-
Fortschritt in unseren Partnerländern zu organisieren. Es rat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung
ist falsch, die grundsätzlich ethisch verantwortungsvolle von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entste-
deutsche Wirtschaft oder gar den deutschen Mittelstand henden Interessenkonflikte dürfen nicht sein und unter-
immer wieder grundsätzlich moralisch zu attackieren. graben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesre-
Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Dies sollte sich gierung die Leitlinien umsetzen will.
die Opposition endlich einmal hinter die Ohren schrei-
ben. Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an
dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschut-
Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unse- zes für Geschädigte gegenüber den internationalen
ren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den interna- Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusam-
tionalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch menhang kommen die Instrumente der deutschen Ent-
eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zu- wicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftun-
sammenhang besonders auf die Bemühungen der Ar- gen im Ausland ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland
beitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht, verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der ge-
mit dem Aktionsplan CSR eine neue Benchmark für die meinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerlän-
deutschen CSR-Bemühungen zu setzen. dern in Regierungsverhandlungen verankert. Der Grund
Ziel der Initiative ist es, verstärkt kleine und mittel- ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie
ständische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleich- es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstandards in
zeitig soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da
Anerkennung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bun- die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen.
desregierung gesellschaftliche Verantwortung besser in Daher wäre es auch nicht gerecht, dass deutsche und in-
Unternehmen und öffentlicher Verwaltung verankern ternationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor
(B) will. Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter internationalen Gerichten verklagt werden können. Es (D)
anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vor- muss in der Selbstverantwortung der Partnerländer lie-
getragen. Damit ist klar, welchen Weg die Bundesrepu- gen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor
blik hier gehen möchte. Ort ermöglicht, Recht erst einmal im eigenen Land zu
erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die
Gleichzeitig steht für die Bundesregierung und die ILO, die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht
internationale Gemeinschaft die Überarbeitung der nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhalti-
OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen auf ger und einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu
der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in meiner Fraktion, 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in
sondern im gesamten Haus sehr unterschiedliche Auffas- den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtli-
sungen von Sinn und Zweck der Leitlinien bis hin zur che Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass
Frage, wie wir eine wirkliche Verbesserung erreichen wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus
können. Mir ist es wichtig, dass die Bundesregierung zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müs-
sich der Überarbeitung der Leitsätze der OECD positiv sen.
nähert. Es ist zu beachten, dass die OECD-Leitsätze das
weltweit einzige Instrument sind, das die Förderung glo- Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die
baler Unternehmensverantwortung im Blick hat. Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung er-
31 Staaten haben sich diesen Leitsätzen verpflichtet, und kennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu
Deutschland muss ein Vorreiter bei der nachhaltigen justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen
Umsetzung dieser Leitlinien sein – gerade auch im Hin- Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhalten. Daher
blick auf die Vorbildfunktion gegenüber anderen Part- muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es
nern. keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwi-
schen importierenden deutschen und internationalen Un-
Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/
ternehmen geben darf. Die Bundesregierung nimmt sich
CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Dis-
dieser Maxime an; es ist der moralische Anspruch der
kussionsprozess angesprochen werden müssen. Die
deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen.
Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr
Gewicht erhalten. Sie sollen daher in einem eigenen Ka-
pitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Ullrich Meßmer (SPD): 2011 ist ein wichtiges Jahr
Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung von
den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise Unternehmen. 2011 können in entscheidender Weise die
auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausge- Weichen für die Stärkung der Menschenrechte und den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10231

(A) weiteren Ausbau der gesellschaftlichen Unternehmens- mit den internationalen Verpflichtungen und Engage- (C)
verantwortung gestellt werden. In Deutschland liegt seit ments der Regierung des Gastlandes“ eingeschränkt.
einigen Monaten der Aktionsplan zur gesellschaftlichen Das widerspricht ihrem universellen Gültigkeitsan-
Unternehmensverantwortung, kurz CSR, vor, dessen spruch und bleibt hinter dem inzwischen international
Umsetzung in diesem Jahr erfolgen wird. CSR oder Cor- erzielten Konsens über die menschenrechtliche Verant-
porate Social Responsibility stellt die unternehmerische wortung von Unternehmen zurück. Umso mehr begrüßt
Gesellschaftsverantwortung in den Punkten Menschen- der Deutsche Bundestag, dass die überarbeiteten OECD-
und Arbeitnehmerrechte, Gesellschaft und Umwelt auf Leitsätze ein eigenes Kapitel Menschenrechte haben
freiwilliger Basis dar. Im Juni wiederum wird der UN- werden. Wir als SPD-Fraktion hoffen darüber hinaus,
Menschenrechtsrat über die sogenannten Guiding Prin- dass das Menschenrechtskapitel nicht nur eine Hilfestel-
ciples von John Ruggie, dem UN-Sonderberichterstatter lung für Unternehmen darstellt, sondern als Verpflich-
für Wirtschaft und Menschenrechte, abstimmen. Zur sel- tung für unternehmerisches Handeln betrachtet wird.
ben Zeit wird auch die Revision der OECD-Leitsätze ab-
geschlossen sein. Kommen wir zu den Problemen mit den nationalen
Kontaktstellen, den sogenannten NKS. Hauptproblem
Die OECD-Leitsätze beinhalten Vorgaben zur Einhal- sind die Zulassung von Beschwerdefällen und ihre Bear-
tung von Sozial- und Arbeitsstandards, zur Korruptions- beitung. Besonders in Deutschland werden Beschwerden
bekämpfung, zur Steuerehrlichkeit sowie zum Umwelt- häufig mit dem Hinweis auf den fehlenden Investitions-
und Verbraucherschutz. Die Leitsätze stehen an der bezug, den sogenannten Investment Nexus abgewiesen.
Schnittstelle zwischen verbindlichen und freiwilligen Auch die Ansiedelung der deutschen NKS im Bundes-
Ansätzen und gelten derzeit als das weitreichendste In- wirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsin-
strument zur Stärkung der globalen Unternehmensver- vestitionen ist nicht unproblematisch. Interessenkon-
antwortung. Für die 31 Mitgliedstaaten der OECD sowie flikte sind hier vorprogrammiert. Im Rahmen der
für 11 weitere Staaten, die sich den Leitsätzen ange- Überarbeitung wäre es daher sinnvoll, alle NKS auf
schlossen haben, sind diese verbindlich; für Unterneh- Mindeststandards zu verpflichten, was ihre Unabhängig-
men sind sie freiwillig. Aufgrund der Leitsätze haben keit und ihre Arbeit im Sinne der Betroffenen anbelangt.
bereits 42 Staaten sogenannte nationale Kontaktstellen Auch die deutsche NKS sollte eine unabhängige Struktur
eingerichtet, die die Leitsätze implementieren, über ihre bekommen, etwa nach dem Vorbild der niederländischen
Einhaltung wachen und Beschwerden entgegennehmen. NKS, in der Experten verschiedener Fachrichtungen zu-
John Ruggie sowie viele Nichtregierungsorganisatio- sammenarbeiten.
nen hatten seit längerem den Reformbedarf der Leitsätze Ein weiteres Problem stellt der bereits erwähnte In-
(B) unterstrichen und auf verschiedene Schwachstellen hin- vestment Nexus dar. Der Investment Nexus verhindert (D)
gewiesen. Gleichzeitig betonten sie aber auch ihr Poten- häufig, dass die Leitsätze auch bei den Zulieferketten
zial, die Regelungslücke zwischen den zunehmenden multinationaler Unternehmen angewendet werden, da
Rechten von Unternehmen und den fehlenden korres- viele Kontaktstellen – so auch die deutsche – Beschwer-
pondierenden Pflichten zu schließen. Mit seinem Rah- den nur dann akzeptieren, wenn ein direkter Investitions-
menwerk Guiding Principles will Ruggie zwischen den bezug nachweisbar ist. Hier bedauert die SPD-Fraktion,
bestehenden teils freiwilligen, teils verbindlichen Nor- dass die von der Bundesregierung vertretene Position
men vermitteln. Sein Rahmenwerk beruht auf drei Säu- nur in „sehr begrenzten Einzelfällen“ eine Ausdehnung
len: erstens Protect, also die staatliche Verpflichtung, die der OECD-Leitsätze auch auf die Lieferkette vorsieht.
Menschenrechte gegenüber Verletzungen Dritter zu Wir fordern, dass der Geltungsbereich und die Wirksam-
schützen; zweitens Respect, also die Verantwortung von keit der OECD-Leitsätze über den Investment Nexus hi-
Unternehmen, die Menschenrechte zu respektieren; drit- naus erweitert wird, damit die OECD-Leitsätze auch auf
tens Remedy, also Zugang der Opfer zu effektiven Be- die Lieferkette angewendet werden können. Darüber hi-
schwerde- und Abhilfemaßnahmen. naus ist es unabdingbar, dass ein Verstoß gegen die Leit-
In diesem Kontext treten die Schwachstellen der Leit- sätze für das jeweilige Unternehmen auch Konsequen-
sätze deutlich zutage und bewegen sich zugleich die Ver- zen haben muss.
handlungen über ihre Revision. Um folgende Schwach-
stellen geht es im Wesentlichen: erstens der zu schwache Das einzige Druckmittel der OECD-Leitsätze sind so-
Bezug zu den Menschenrechten; zweitens die stark genannte Abschlusserklärungen, die die nationalen Kon-
divergierende Ausstattung, Anbindung und Arbeitsweise taktstellen bei Verletzungen der Leitsätze erstellen. Hier
der nationalen Kontaktstellen; drittens der zu große spricht die NKS Empfehlungen an das Unternehmen
Spielraum beim Investitionsbezug; viertens die fehlen- aus. Hält sich Unternehmen nicht an die Empfehlungen,
den Sanktionsmöglichkeiten; fünftens die fehlende gibt es – von einer möglichen Rufschädigung einmal ab-
Transparenz in der Steuerlegung der Unternehmen. gesehen – keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten. Das
ist unbefriedigend, darin sind sich Nichtregierungsorga-
Kommen wir zu den Menschenrechten. Obwohl die nisationen und zum Teil sogar Vertreter des CSR-
Einhaltung der Menschenrechte für verantwortliches Forums einig. Ein Verstoß gegen die Leitsätze sollte
Unternehmerhandeln wesentlich ist, haben die Men- zukünftig für Unternehmen Konsequenzen haben. Bei
schenrechte bislang nur Eingang in die Allgemeinen der Überarbeitung könnten Sanktionsmechanismen
Grundsätze der OECD-Leitsätze gefunden. Auch wer- vereinbart werden wie der zeitweilige Ausschluss von
den die Menschenrechte durch den Zusatz „im Einklang staatlichen Exportgarantien oder anderen staatlichen Un-
10232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) terstützungsmaßnahmen für ausländische Direktinvesti- OECD-Leitsätze zu erhöhen und damit weitere Staaten (C)
tionen und für den Außenhandel. zu einem Beitritt zu ermutigen.
Als Letztes fordern wir die Bundesregierung auf, bei Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze für multi-
der Überarbeitung auf länderbezogene Rechnungslegung nationale Unternehmen sind die Kompetenzen, die Orga-
der Unternehmen zu bestehen, damit globales unterneh- nisation und die Anbindung der nationalen Kontakt-
merisches Handeln transparent bleibt und problemati- stellen ohnehin ein zentraler Verhandlungsgegenstand.
sche Transaktionen – etwa über Steueroasen – sichtbar Daher ist diese Forderung der Opposition aus Sicht der
werden. Ziel muss es sein, die OECD-Leitsätze zu einem Liberalen ebenfalls hinfällig. Im Lichte dieser Ausfüh-
schlagkräftigen Instrument zur Stärkung der globalen rungen sind die Anträge der Grünen und der Linken als
Unternehmensverantwortung zu machen, damit die Ein- vollkommen überflüssig abzulehnen.
haltung der Menschenrechte für das gesamte unterneh-
merische Handeln verpflichtend wird. Annette Groth (DIE LINKE): Schon bei der Verab-
schiedung der OECD-Leitsätze für multinationale Unter-
nehmen im Jahr 1976 gab es deutliche Kritik der ent-
Serkan Tören (FDP): Wir lehnen die vorgelegten
wicklungspolitischen Organisationen an der fehlenden
Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Verbindlichkeit der Leitsätze. Aus diesem Grund wird
Fraktion Die Linke ab. Die Anträge sind weder substan-
von den entwicklungspolitischen Initiativen und Organi-
tiiert, noch bieten sie inhaltlich etwas Neues und greifen
sationen seit vielen Jahren über die notwendige Weiter-
in ein laufendes Verfahren ein, dessen Abschluss für
entwicklung der OECD-Leitsätze für multinationale
Mitte 2011 geplant ist. Worum geht es genau? Die
Unternehmen diskutiert. Germanwatch, Misereor und
OECD-Leitsätze sind der weltweit einzige multilaterale Transparency Deutschland fordern, dass die OECD-Leit-
und umfassend anerkannte Kodex zur Förderung globa- sätze endlich zu einem wirksamen Instrument gegen un-
ler Unternehmensverantwortung. Derzeit werden die ternehmerisches Fehlverhalten ausgestaltet werden müs-
OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im sen. Im Zentrum ihrer Kritik steht der fehlende
Rahmen eines Revisionsverfahrens überprüft. In dem verbindliche Charakter der OECD-Leitsätze. Auch wenn
Revisionsprozess werden sowohl Menschenrechts- transnationale Unternehmen Fehlverhalten an den Tag
aspekte, Zulieferbeziehungen als auch die Funktionalität legen, führt eine Ahndung durch die nationalen Kontakt-
der nationalen Kontaktstellen und Verfahrensaspekte des stellen zu keinerlei direkten Konsequenzen für die be-
Beschwerdeverfahrens als besondere Themen der Über- troffenen Unternehmen.
arbeitung aufgegriffen. Die Grünen und die Linken neh-
men die Überarbeitung der OECD-Leitsätze nun zum Warum brauchen wir verbindliche Regeln für welt-
(B) Anlass für einen Antrag, der eine Reihe von überholten weites unternehmerisches Handeln? Damit sich Schick- (D)
Forderungen enthält. All diese Forderungen sind aus sale wie das der 18-jährigen Näherin Fatema Akter aus
Sicht der FDP vollkommen überflüssig. Denn die christ- Bangladesch nicht wiederholen. Fatema brach im De-
lich-liberale Koalition verfolgt unter anderem – wie in zember 2009 während ihrer Schicht tot zusammen. Sie
den Anträgen gefordert – bereits das Ziel, dass die Men- musste an sieben Tagen in der Woche 13 bis 15 Stunden
schenrechte ein eigenes Kapitel in den OECD-Leitsätzen in der Textilfabrik in der Hafenstadt Chittagong arbeiten
erhalten. Dies, sehr verehrte Kollegen der Opposition, und pro Stunde bis zu hundert Jeanshosen reinigen.
hat ein Vertreter der Bundesregierung am 11. November Rund 80 Prozent der in der Fabrik hergestellten Textilien
2010 bei der Unterrichtung zu den OECD-Leitsätzen im wurden für Metro produziert, ein deutsches Unterneh-
MR-Ausschuss auch hinreichend dargestellt. Daher ist men, für das die OECD-Leitsätze gelten.
Ihr Antrag umso erstaunlicher. Für die Fraktion Die Linke muss unternehmerisches
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP strebt an, dass Handeln mit verbindlichen Arbeits- und Sozialstandards,
der sogenannte Investment Nexus beibehalten wird. Dies aber auch Umweltschutz- und Verbraucherschutz-
ist aus Sicht der FDP insofern sachgerecht, als dass zu- kriterien verbunden werden. Die Leitsätze haben hier
erst eine Verbreitung der OECD-Leitsätze anzustreben lediglich erste Ansätze geliefert. Zwar wird in vielen be-
ist statt eine Vertiefung. Bislang haben sich alle triebswirtschaftlichen Lehrbüchern von „guter Unter-
31 OECD-Staaten und 11 weitere Industrienationen zu nehmensführung“ und „Best-Practice-Beispielen“ ge-
den OECD-Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung auf schwärmt. Die Realität der Arbeit vieler transnationaler
Unternehmen wird jedoch in vielen Regionen der Welt
Staaten, die einen hohen Anteil an Unternehmen aufwei-
von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, fehlender Ge-
sen, welche etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer
sundheitsversorgung für die Beschäftigten und katastro-
wichtiger Schritt. Dazu zählen Länder wie die kommen-
phalen Umweltauswirkungen begleitet. Freiwillige
den Wirtschaftsmächte Indien und China. Eine Vertie-
Selbstverpflichtungen haben sich in der Praxis als völlig
fung der Leitsätze würde von einem Beitritt abschre-
unzureichend erwiesen, da für viele transnationale Un-
cken. Darüber hinaus würde es Unternehmen aus
ternehmen vor allem der Gewinn und nicht die men-
Staaten, die den OECD-Leitsätzen beigetreten sind,
schenrechtlichen Aspekte ihrer Arbeit im Vordergrund
Wettbewerbsnachteile verschaffen. Sanktionsmechanis-
stehen.
men, wie von der Opposition in den Anträgen vorge-
schlagen, stellen ebenso eine kontraproduktive Verschär- Nun besteht mit der Überarbeitung der OECD-Leit-
fung der OECD-Leitsätze dar. Diese Sanktionsmecha- sätze die Möglichkeit, die Leitsätze zu einem wirksamen
nismen sind hinderlich für das Ziel, die Akzeptanz der Instrument zur Sicherung von Menschenrechten in mul-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10233

(A) tinationalen Unternehmen weiterzuentwickeln. Sowohl len in China wurden in der Stadt Kashgar in Xinjiang (C)
der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als auch der zahlreiche Uiguren willkürlich festgenommen. Diese
SPD-Antrag haben positive Ansätze. Beide bleiben in Festnahmen gingen nicht etwa auf Straftaten zurück,
ihren konkreten Forderungen jedoch halbherzig. Positiv sondern dienten lediglich dazu, befürchtete Proteste an-
ist, dass sich alle vorliegenden Anträge für eine Verände- lässlich des Fackellaufs im Keim zu ersticken. Die
rung der bisherigen Organisation der nationalen Kon- Volkswagen AG ließ sich von diesen Menschenrechts-
taktstellen einsetzen. Nationale Kontaktstellen müssen verletzungen im Umfeld des Fackellaufs nicht beirren
unabhängig von staatlichen Stellen und Ministerien wer- und unterstützte den umstrittenen sogenannten Lauf der
den. Die beiden anderen Anträge bleiben jedoch deutlich Harmonie großzügig. Zur Rechenschaft gezogen wurde
hinter den Forderungen der Linken zurück. Sowohl bei Volkswagen für diese Entscheidung nie.
SPD als auch bei Grünen fehlt eine klare Forderung nach
einer besseren personellen Ausstattung der nationalen Nun gelten in Deutschland wie auch in allen anderen
Kontaktstellen. Wir sehen hierin eine wichtige Voraus- OECD-Mitgliedstaaten seit 1976 Leitsätze für Unterneh-
setzung für eine effektivere Arbeit der nationalen men. Es sollte uns sehr nachdenklich stimmen, dass
Kontaktstellen. Zurzeit stehen riesige Apparate der diese Leitsätze das bisher am weitreichendste Instrument
transnationalen Konzerne einzelnen Mitarbeiterinnen für die Stärkung der globalen Unternehmensverantwor-
und Mitarbeitern dieser Kontaktstellen gegenüber. Chan- tung sind. Denn im Bemühen um eine bessere men-
cengleichheit in der Arbeit ist so in keiner Weise gege- schenrechtliche Bindung von Unternehmen sind sie ein
ben. Wenn wir die nationalen Kontaktstellen als wirksa- stumpfes Schwert. Dies liegt nicht allein daran, dass die
mes Instrument zur Bekämpfung von Fehlverhalten Leitsätze für Unternehmen nicht verpflichtend sind, son-
weiterentwickeln wollen, kann dies nur mit angemesse- dern auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen.
ner Personalausstattung geschehen. Die Menschenrechte haben in den Leitsätzen bisher
keinen festen Platz. Nur im Grundsatzkapitel werden sie
Deutlich unterscheiden sich die Anträge auch in der
einmal kurz erwähnt. Dort heißt es, Unternehmen sollten
Forderung nach Einbeziehung von Gewerkschaften,
die „Menschenrechte der von ihrer Tätigkeit betroffenen
Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen. Ein-
Menschen respektieren“, dies allerdings nur, wie es dort
zig die Linke setzt sich dafür ein, dass in Zukunft die na-
heißt, „im Einklang mit den internationalen Verpflich-
tionalen Kontaktstellen paritätisch mit Vertreterinnen
tungen und Engagements der Regierung des Gastlands“.
und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften, Ent-
In der Praxis hieße dies beispielweise, dass internatio-
wicklungs- und Menschenrechtsorganisationen besetzt
nale Unternehmen weiterhin billigend in Kauf nehmen
werden. Wir sind davon überzeugt, dass nur durch die
dürfen, dass ihre Subunternehmen in Kolumbien in still-
direkte Einbeziehung von unabhängigen Vertreterinnen
schweigender Komplizenschaft mit Guerillas stehen, die
(B) und Vertretern in die nationalen Kontaktstellen eine un- (D)
für den Mord an Tausenden von Gewerkschaftern ver-
abhängige Kontrolle der transnationalen Unternehmen
antwortlich sind, und das nur, weil Kolumbien die
erreicht wird.
grundlegenden Konventionen zum Schutz von Gewerk-
Die Linke tritt dafür ein, dass sich multinationale Un- schaftern nie unterzeichnet hat. Eine solch aufgeweich-
ternehmen auch für die Verstöße ihrer Subunternehmen ter Grundsatz ist das Papier nicht wert, auf dem er steht,
und Zulieferer gegen die Leitsätze verantworten müssen. und hat mit menschenrechtlicher Verpflichtung nichts zu
Der Investment Nexus muss hierbei so weiterentwickelt tun.
werden, dass auch alle selbstständigen Subunternehmen Obwohl in den Leitsätzen also ohnehin viel fehlt und
und Zulieferbetriebe in den Geltungsbereich der Leit- ihre Einhaltung vom guten Willen der Unternehmen ab-
sätze fallen und die bisherige Beschränkung der Leit- hängt, wird in Deutschland noch nicht einmal das ge-
sätze auf grenzüberschreitende Investitionstätigkeiten ringe Potenzial dieser schwachen Leitsätze voll ausge-
auf alle Investitionen und Lieferbeziehungen der multi- schöpft. Wir haben in Deutschland zwar eine sogenannte
nationalen Unternehmen erweitert wird. Die Linke ist Nationale Kontaktstelle, die Beschwerden bei Missach-
davon überzeugt, dass Betroffene die Möglichkeit haben tung der Leitsätze bearbeiten soll. Doch das anfangs ge-
müssen, bei Fehlverhalten von Unternehmen ihre Forde- nannte Beispiel veranschaulicht, dass wir es bei der
rungen individuell einklagen zu können. Dies setzt je- deutschen Nationalen Kontaktstelle mit einem so gut wie
doch voraus, dass die von Unternehmen aus der EU ge- zahnlosen und zudem äußerst lethargischen Tiger zu tun
schädigten Bürgerinnen und Bürgern auch einen haben. Die meisten Beschwerden, die bei der Nationalen
ungehinderten und kostenfreien Zugang zu Rechtsschutz Kontaktstelle in den letzten Jahren eingingen, wurden
innerhalb der EU erhalten, auch wenn sie keine EU-Bür- abgelehnt. Häufig interpretierte die Kontaktstelle den
gerinnen und -Bürger sind. Mit der Revision der OECD- Geltungsbereich der Leitsätze so willkürlich, dass sie
Leitsätze haben wir die große Chance, einen qualitativen sich in vielen Fällen als nicht zuständig bezeichnen
Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegen- konnte, so auch im Falle der Beschwerde gegen die
über multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Ich Volkswagen AG. Gerade einmal drei Beschwerden hat
hoffe, dass sich die Bundesregierung aufgrund einer die Kontaktstelle in den zehn Jahren ihres Bestehens als
übertriebenen Rücksichtnahme auf die Interessen der zulässige Beschwerdefälle angenommen, und das, ob-
Großkonzerne dem nicht verweigert. wohl die Beschwerdeführer, darunter viele renommierte
NGOs, ihrerseits sehr glaubwürdig Verstöße gegen die
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Leitsätze geltend gemacht haben. Diese Arbeitsbilanz
Im Vorfeld des Fackellaufes zu den Olympischen Spie- der Kontaktstelle ist ein Armutszeugnis für die deut-
10234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) schen Bemühungen um eine stärkere Unternehmensver- vorlegte, sah eine Nettokreditaufnahme von 86,1 Mil- (C)
antwortung und verdient die Bezeichnung Kontrolle liarden Euro vor. Der zweite Entwurf des neuen Bundes-
nicht. finanzministers Wolfgang Schäuble blieb leicht unter-
halb dieser ursprünglichen Nettokreditaufnahme. In den
Die Leitsätze werden nun nach langer Zeit wieder Beratungen wurde dann das Soll der Nettokreditauf-
überarbeitet. Dies bietet die Gelegenheit, die Leitsätze nahme auf 80,2 Milliarden Euro gesenkt. Zum Zeitpunkt
endlich menschenrechtlich zu schärfen, sie auf alle Ge-
des Kabinettbeschlusses zum Entwurfs des Haushalts
schäftstätigkeiten von Unternehmen auszuweiten und
2011 und Finanzplan bis 2013 wurde für 2010 ein Ist-Er-
die nationalen Kontaktstellen zu echten Kontrollorganen
gebnis von 65,2 Milliarden Euro erwartet, das dann die
zu machen. Die Bundesregierung ist nun gefordert, sich
Grundlage für die Festlegung des Abbaupfads des struk-
genau dafür einzusetzen. Denn eine grundlegende Über-
turellen Defizits bis 2016 bildet.
arbeitung der Leitsätze ist unumgänglich, wenn wir wol-
len, dass massive Menschenrechtsverletzungen durch Der SPD-Antrag kritisiert nun diese Festlegung des
Unternehmen der Vergangenheit angehören. Abbaupfads im Sommer 2010 anhand des damalig er-
Doch selbst die besten Leitsätze nützen nicht viel, warteten Ist-Ergebnisses für die Nettokreditaufnahme
wenn es keine Möglichkeiten gibt, die Einhaltung der und fordert ein Nachjustieren. Wir lehnen dieses Ansin-
Regeln durchzusetzen, sie zu überwachen und Verstöße nen aus fachlichen Gründen ab und nehmen mit Verwun-
zu sanktionieren. Es kann nicht angehen, dass Unterneh- derung zu Kenntnis, dass die SPD jetzt hinter den
men, die direkt oder indirekt durch ihre Zulieferer Men- damals noch unter ihrem Bundesfinanzminister einge-
schenrechte verletzen oder Menschenrechtsverletzun- führten und von ihr getragenen Regelungen zurückfällt.
gen zumindest billigend in Kauf nehmen, weiterhin Diesen Sinneswandel muss sie selbst erklären.
Förderungen des deutschen Staates erhalten, beispiels-
weise in Form von Exportbürgschaften. Machen wir uns Der damals unter SPD-Riege eingeführte und heute
keine Illusionen, freiwillige Selbstverpflichtungen von von der SPD kritisierte Ermessungsspielraum hätte uns
Unternehmen, wie sie den Kolleginnen und Kollegen auch ermöglicht, das Steinbrück’sche Soll als Ausgangs-
von der Koalition vorschweben, reichen nicht aus. Für punkt nehmen zu können. Das hätte uns einen sehr viel
Unternehmen muss es teuer werden, gegen Menschen- größeren Spielraum für die Nettokreditaufnahme ermög-
rechte zu verstoßen. Nur so werden wir langfristig einen licht. Ähnliches gilt für den Fall, wenn wir das Soll 2010
wirkungsvollen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen unterstellt hätten. Wir haben jedoch darauf verzichtet
durch Unternehmen erreichen. und restriktiv das damals erwartete Ist-Ergebnis als Aus-
gangspunkt gewählt.
(B) Die SPD wirft uns vor, wir würden uns einen Puffer (D)
Anlage 6 anlegen, um in Zukunft zum Beispiel eine Steuersen-
Zu Protokoll gegebene Reden kung umzusetzen. Die christlich-liberale Koalition hat
sich an anderer Stelle oft genug zu ihren Vorstellungen
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur zu einer Steuersenkung geäußert, so dass ich das hier
Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Tagesord- nicht wiederholen muss. Diese geht in der Tat nur dann,
nungspunkt 15) wenn entsprechende Handlungsspielräume erarbeitet
werden. Mit der Wahl des damals erwarteten Ist-Ergeb-
Norbert Barthle (CDU/CSU): Die Einführung der nisses haben wir bewusst auf „Buchungstricks“ verzich-
für Bund und Länder geltenden Schuldenbremse in das tet. Hätten wir das Steinbrück’sche Soll unterstellt, hät-
Grundgesetz ist eine haushalts- und finanzpolitische ten wir in der Tat vorgegaukelt, schon jetzt einen
Leistung der großen Koalition der letzten Legislaturpe- entsprechenden Handlungsspielraum zu haben. Da wir
riode, die für die nachhaltige Stabilität der öffentlichen aber gerade darauf verzichtet haben, läuft der Vorwurf
Haushalte von zentraler und richtungsweisender Bedeu- der SPD offensichtlich ins Leere. Wir werden uns den
tung ist. Die gemeinsam mit der SPD gefundene Rege- notwendigen Handlungsspielraum für eine Steuersen-
lung kann sich sehen lassen, wie nicht zuletzt die aktuel- kung solide erarbeiten. Denn die Union steht für eine so-
len Diskussionen auf EU-Ebene zeigen. Um dauerhaft lide Haushalts- und Finanzpolitik.
die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu stabili-
sieren und damit die gemeinsame Währung Euro zu si- Der Umgang mit dem Ermessungsspielraum muss
chern, werden vergleichbare Regelungen auch in den auch praktisch umsetzbar sein. Ein mehr oder weniger
Partnerstaaten angeregt, wenn nicht sogar gefordert. Die laufendes Nachjustieren des Abbaupfads aufgrund sich
deutsche Schuldenbremse könnte so ein Exportschlager laufend ändernder Parameter ist wenig hilfreich für eine
werden, ohne dass dies in unserer Intention lag. nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik. Das Vertrauen
in die Wirkung der Schuldenbremse wird damit nicht ge-
Die rechtlichen Grundlagen der Schuldenbremse sind wonnen. Vielmehr wird ein hektischer Anpassungsmara-
unter dem damaligen SPD-Bundesfinanzminister Peer thon eingeleitet, der am Ende niemandem hilft.
Steinbrück verabschiedet worden. Es lohnt daher, sich
die Situation zum Zeitpunkt der Einführung der Schul- Das Ergebnis wäre Willkür und damit gerade das, was
denbremse nochmals vor Augen zu führen. Der Entwurf mit der Schuldenbremse vermieden werden sollte. Das
des Bundeshalts 2010, den Peer Steinbrück noch im lehnen wir ab. Wir wollen dies dem geordneten Haus-
Sommer 2009 – und damit vor der Bundestagswahl – haltsaufstellungsverfahren überlassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10235

(A) Unabhängig davon, wie der Abbaupfad festgelegt Peter Aumer (CDU/CSU): Der Beschluss über eine (C)
wird, am Ende steht das Ergebnis fest: In 2016 darf das Schuldenbremse war ein wichtiges Signal für die Konso-
strukturelle Defizit maximal 0,35 Prozent des Bruttoin- lidierung der Haushalte in der Zeit der Finanz- und Wirt-
landsprodukts betragen. Die Wahl des Ausgangspunkts schaftskrise. Gerade die aktuelle Entwicklung auf den
zur Festlegung des Abbaupfads ändert daran nichts. Finanzmärkten und die Spekulation gegen einzelne Mit-
Dass sich Erwartungen nicht erfüllen, ist im praktischen gliedsländer in der Europäischen Union zeigen, wie
Leben nicht ungewöhnlich. Dies gilt erfreulicherweise wichtig eine nachhaltige Haushaltspolitik ist. Und sie
auch für das Ist-Ergebnisses 2010 für die Nettokreditauf- zeigen auch, wie zukunftsweisend die Entscheidung der
nahme, das wir seit wenigen Wochen kennen. Es liegt mit damaligen Großen Koalition war, die Schuldenbremse
44 Milliarden Euro deutlich unterhalb des damaligen im Grundgesetz zu verankern.
Soll-Ansatzes beziehungsweise unterhalb des im Som-
mer 2010 noch erwarteten Ist-Ergebnis. Dies zeigt nur Nun, in Zeiten der Opposition, stellen Sie, meine sehr
die Binsenwahrheit, dass Unsicherheiten bei Planungen geehrten Damen und Herren von der SPD, das infrage,
und Schätzungen bestehen. Welche Zahl für die Netto- was damals Konsens war. Der von der SPD-Fraktion kri-
kreditaufnahme hätte man denn zwischen Sommer 2010 tisierte Ermessensspielraum zur Festlegung des Abbau-
und dem Abschluss des Haushaltsjahres als Ausgangs- pfades gemäß des geltenden § 9 Abs. 2 des Ausfüh-
punkt nehmen sollen? Letztlich ist jede Zahl mehr oder rungsgesetzes zu Art. 115 GG widerspricht nicht Sinn
weniger gegriffen und willkürlich. Diese Willkür gilt und Zweck der Schuldenregel. Einer Gesetzesänderung
letztlich auch für den Versuch der SPD, jetzt das Ergeb- bedarf es daher nicht. Was Sie hier betreiben, meine sehr
nis nachzujustieren. Zumal der Haushalt 2011 schon ver- geehrten Damen und Herren von der SPD, ist reine Pole-
abschiedet ist, läuft hier ein Nachjustieren ohnehin ins mik. Die Koalition arbeitet mit aller Kraft, den grundge-
Leere. setzlich vorgeschriebenen Vorgaben der Schuldenbremse
zu entsprechen. Und Ihr Beitrag zur Konsolidierung ist
Der Abbaupfad stellt eine Obergrenze für die Ent- null; von Ihrer Seite gab es keine konstruktiven Vor-
wicklung des strukturellen Defizits dar. Die Koalition schläge, wie mit dem gemeinsamen Ziel der Haushalts-
hat diese bewusst nicht ausgereizt. Wenn man aber aktu- konsolidierung verantwortungsvoll umgegangen wer-
ell die Forderungen der Opposition aus dem Vermitt- den kann. Sie fordern sparen, jawohl, aber Sie sagen
lungsausschuss um die Hartz-IV-Sätze sieht, so gewinnt nicht, wo, sie sagen nicht, wie, und das ist verantwor-
man den Eindruck, dass ein Füllhorn ausgegossen wer- tungslos. Das wird der aktuellen Situation nicht gerecht.
den soll. Wie dies dann mit dem SPD-Antrag zusam- Das wird vor allem nicht Ihrer Verpflichtung für die
menpassen soll, ist schon ein wenig fragwürdig. Viel- kommenden Generationen gerecht.
leicht sollten wir uns mal wirklich die Aufgabe machen,
Sie verlassen den Konsenspfad in der Politik der (D)
(B) die finanziellen Auswirkungen all der Forderungen der
Opposition zusammenzuzählen. Ich befürchte, dass man Haushaltskonsolidierung und setzen auf Populismus.
zu folgendem Ergebnis kommt: Um sie zu erfüllen, Das nehmen Ihnen die Menschen in unserem Land nicht
dürfte selbst ein Abbaupfad nicht ausreichen, der mit der ab. Der verantwortungsvolle Beitrag eines jeden einzel-
Wahl des Steinbrück’schen Soll-Ansatzes erreicht wer- nen Bürgers in unserem Land ist substanzieller Bestand-
den würde. So viel zur Konsistenz von linker Politik. teil der Konsolidierungs- und Einsparanstrengung. Leis-
ten auch Sie, meine Damen und Herren von der
Die gute Situation, die letztlich das Ergebnis der gu- Opposition, Ihren Beitrag. Lassen Sie in der Konsolidie-
ten und richtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik der rungsfrage ausnahmsweise das politische Ränkespiel,
christlich-liberalen Koalition ist, führt überhaupt erst zur und stellen Sie sich der Verantwortung für unsere Zu-
von der SPD angestoßenen Debatte. Wenn die SPD jetzt kunft. Ziel und damit Geist und Sinn der Schuldenregel
so vehement für die Nachjustierung eintritt, so frage ich sind, die strukturelle Verschuldung ab 2016 auf maximal
mich, ob sie das auch getan hätte, wenn wir in einer ge- 0,35 Prozent des BIP zu begrenzen. Die im Gesetzestext
nau gegenteiligen Situation gewesen wären. Ich möchte offene Formulierung zum strukturellen Defizit des Haus-
die Frage in den Raum stellen: Wäre die SPD auch dann haltsjahres 2010 für die Übergangsregelung der Schul-
für eine Nachjustierung eingetreten, die weitere Ver- denregel gibt sowohl der Bundesregierung als auch dem
schuldungsfreiräume für die Koalition eröffnet hätte? Parlament einen Beurteilungsspielraum im Rahmen der
Dies alles sind sicherlich Gedankenspiele. Aber sie zei- Feststellung des maßgeblichen strukturellen Defizits
gen, wie richtig es ist, auf das von der SPD vorgeschla- 2010. Die Erreichung dieses Ziels bleibt völlig unberührt
gene Verfahren nicht einzugehen, da es am Ende doch von der zu wählenden Vorgehensweise im Rahmen des
nur zu einer willkürlichen Handhabung der Schulden- gemäß § 9 Abs. 2 bestehenden Beurteilungsspielraums
bremse führt. und damit der Festlegung des Abbaupfades.
Die christlich-liberale Koalition blickt in der Haus- Die Bundesregierung hat mit dem Zukunftspaket ein
halts- und Finanzpolitik nach vorne. Das Konsolidie- nachhaltiges Konsolidierungskonzept vorgelegt, dessen
rungspaket ist auf den Weg gebracht, die Konjunktur Verbindlichkeit für die Jahre bis 2014 in der Öffentlich-
läuft gut. Dies ist alles sehr erfreulich, darf aber nicht als keit kommuniziert wurde. Im Sinne einer kontinuierli-
Anlass genommen werden, in den Konsolidierungsbe- chen und damit vertrauensbildenden Politik stellt sich
mühungen nachzulassen. Es ist noch ein weiter Weg bis also die Herangehensweise der Bundesregierung als die
zur Einhaltung der Schuldenbremse in 2016. Die christ- einzig richtige dar. Wir haben mit einer breiten Mehrheit
lich-liberale Koalition wird den eingeschlagenen Kurs in diesem Haus die Schuldenbremse in das Grundgesetz
einhalten. geschrieben und das Ausführungsgesetz zu Art. 115 GG
10236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) erlassen. Halten Sie sich doch an den Pakt von Vernunft trickst außerdem bei der Festlegung des konjunkturellen (C)
und Verantwortung. Fallen Sie nicht schon wieder um Anteils am Haushaltsdefizit. Mit dem Gesetzentwurf
wie bei vielen von Ihnen mitgetragenen, herausragend wollen wir ihn auf den Pfad der Tugend zurückholen und
wichtigen Entscheidungen für unsere Zukunft: Rente dies kommt nicht aus heiterem Himmel. Wir haben in
mit 67, Hartz IV und vieles mehr. Überall stehlen Sie vielen Sitzungen im Haushaltsausschuss und auch hier
sich aus der Verantwortung oder fordern nicht einhalt- bei der Lesung des Bundeshaushalts im Parlament im-
bare Positionen zum eigenen politischen Profit. Das wol- mer wieder gefordert, er möge sich an Geist und Sinn
len die Menschen in unserem Land nicht mehr! Das, was des Gesetzes halten. Dies war ohne jeden Erfolg und
die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land heute von deshalb ist diese Gesetzesänderung notwendig.
der Politik erwarten, sind die Übernahme von Verant-
wortung und eine vernünftige sowie sozial ausgewogene Der Bundesfinanzminister soll verpflichtet werden,
Politik. Aber das, was Sie gerade im Bundesrat veran- den Ausgangswert 2010 für den Abbaupfad bis 2016 an
stalten, hat nichts mit dem zu tun. Dort zeigen Sie Ihr der tatsächlichen Entwicklung auszurichten und nicht
wahres Gesicht. Mit dieser Gesetzesänderung versuchen willkürlich an dem im vorigen Sommer für 2010 erwar-
Sie, Ihre Scheinheiligkeit zu postulieren. So bringen wir teten Wert. Das damals für 2010 erwartete Defizit lag bei
Deutschland nicht nach vorn. So schaffen wir keine Ba- 65 Milliarden Euro, das tatsächliche Defizit liegt jetzt
sis, damit Deutschland sich von der Finanz- und Wirt- bei 44 Milliarden Euro. Diese erfreuliche enorme Ab-
schaftskrise erholt. Unser Land braucht Stabilität und senkung um 21 Milliarden Euro muss sich auch in einer
Verlässlichkeit. Die christlich-liberale Koalition ist sich entsprechenden Absenkung des Abbaupfades widerspie-
ihrer Verantwortung bewusst, jener Verantwortung, die geln. Das ist völlig plausibel und eigentlich selbstver-
die SPD aus den Augen verloren hat. ständlich, denn der enorme Aufschwung in 2010 hat die
Bundesfinanzen durch höhere Steuereinnahmen und ge-
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Die SPD-Frak- ringere Arbeitsmarktausgaben erheblich verbessert.
tion legt heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung Diese Verbesserung wirkt als Sockeleffekt in die nächs-
des Art.-115-Gesetzes vor. Damit wollen wir nicht Er- ten Jahre fort. Hingegen bekräftigt die Bundesregierung
gebnisse der Finanzreform infrage stellen oder verän- noch im Jahreswirtschaftsbericht, sie wolle bei ihrer
dern. Im Gegenteil, wir wollen durch Konkretisierungen Festlegung der Verschuldungsobergrenze für die Auf-
im Gesetz erreichen, dass das, was der Gesetzgeber da- stellung des Bundeshaushalts 2012 und der Finanzpla-
mals gewollt hat, auch tatsächlich vom Bundesfinanz- nung bis 2015 von dem völlig überhöhten Wert von
minister umgesetzt wird. Denn dieser Bundesfinanz- 65 Milliarden Euro ausgehen.
minister – der ja auch mal Verfassungsminister war –
(B) handelt Sinn und Geist der Regelungen der Schulden- Was bedeutet das für 2012 in Zahlen? Bei einem an- (D)
bremse zuwider. Er will durch sinnwidrige Interpretatio- genommenen Sockel von 65 Milliarden Euro in 2010
nen der gesetzlichen Regelungen die gewollt stramme liegt die Schuldenobergrenze für 2012 um 11,5 Milliar-
Schuldenbremse ausbremsen und sich einen doch noch den Euro höher als bei dem tatsächlichen Sockel von
möglichst großen Verschuldungsspielraum sichern. 44 Milliarden Euro. Eine solche Absenkung klingt zu-
nächst nach viel und nach einem riesigen Problem für
Zum einen will der Bundesfinanzminister dadurch den Bundesfinanzminister. Der Eindruck ist aber falsch,
den Konsolidierungsdruck abschwächen. Weite Teile des denn diese Absenkung ist Folge der deutlich besser als
sogenannten Sparprogramms vom vorigen Jahr sind erwarteten Wirtschaftsentwicklung, die auch den Bun-
nämlich nach wie vor nicht unterlegt. Wo ist denn das deshaushalt 2012 wesentlich besser aussehen lassen wird
Konzept zur Einsparung bei der Bundeswehr? Wo ist als in der bisherigen Finanzplanung angenommen. Ich
denn das Konzept zur Einsparung bei der Bundesagentur gehe von konjunkturellen Verbesserungen für den Bun-
für Arbeit? Wo ist denn der Gesetzentwurf zur Finanz- deshaushalt 2012 von mindestens 15 Milliarden Euro ge-
transaktionsteuer, die ab 2012 gemäß Sparpaket einge- genüber dem Finanzplan aus. Dies ist deutlich mehr als
führt werden soll? Überall Fehlanzeige! die beschriebene Absenkung der Obergrenze um
Zum anderen drängt sich ein Verdacht auf. Diese Ko- 11,5 Milliarden Euro, die unser Gesetzentwurf zur Folge
alition will dadurch, dass sie die Schuldenobergrenze so haben wird. Im Prinzip wird also nur der Spielraum ein-
hoch wie nur möglich ansetzt, Spielräume für Steuersen- gedampft, den die Konjunktur geschaffen hat. Und dage-
kungen vor der nächsten Wahl schaffen. Solche Steuer- gen wehrt sich das BMF nun so vehement. Warum? Ich
senkungen wären nur auf Pump und nur durch Trickse- wiederhole: Sie wollen dem Konsolidierungsdruck ent-
reien bei der Schuldenbremse zu finanzieren. Und gehen und bauen vor für Steuersenkungen auf Pump und
dagegen wehren wir uns mit dem vorgelegten Gesetzent- das ist unverantwortlich.
wurf. Die grundlegende Konsolidierung des Bundes-
haushalts ist notwendig und ohne Alternative. Deshalb Sie stehen dabei völlig alleine. Bislang habe ich nie-
muss die Schuldenbremse nach Geist und Sinn strikt ein- mand aus Wissenschaft oder Wirtschaft gehört, der ihre
gehalten werden. Auffassung zur Festlegung des Sockels 2010 teilt. Im
Gegenteil haben Bundesrechnungshof, der Sachverstän-
Worum geht es konkret? Der Bundesfinanzminister digenrat und die Bundesbank wie wir gefordert, von ak-
trickst vor allem bei der Festlegung des sogenannten tuellen Daten auszugehen. Die Bundesbank hat dies in
strukturellen Defizits des Jahres 2010 als Ausgangswert ihrem letzten Monatsbericht nochmals ganz deutlich un-
für den Abbaupfad der Neuverschuldung bis 2016. Er terstrichen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10237

(A) Auch bei der Berechnung der Konjunkturkomponente mit sind Sie vor Gericht voll gegen die Wand gefahren. (C)
des Defizits hat der Bundesfinanzminister während des Und für 2011 hat Rot-Grün in NRW über alle Bedenken
gesamten letzten Jahres getrickst, desinformiert bzw. nur und Warnungen hinweg einen verfassungswidrigen
scheibchenweise informiert. Der Haushaltsausschuss Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung von
wurde regelrecht für dumm verkauft, wenn seitens des 7,8 Milliarden Euro vorsieht. Obwohl Rot-Grün gegen-
Bundesfinanzministeriums behauptet wurde, es brauche über dem ursprünglichen Finanzplan der Vorgänger-
Monate, um auf ein neues Verfahren umzustellen. Insti- regierung für 2011 knapp 1 Milliarde Euro an Mehrein-
tute und der Sachverständigenrat konnten dies binnen nahmen zur Verfügung steht, haben sie trotzdem die
Stunden. Wir mussten lernen, dass BMF auch hier bei Neuverschuldung gegenüber der Finanzplanung um
der Berechnung Ermessensspielräume hat, die im Ex- 1,4 Milliarden Euro erhöht, weil sie die Ausgaben um
trem die Schuldenobergrenze um 6 bis 8 Milliarden Euro 2,3 Milliarden Euro nach oben getrieben haben. Und
nach oben schieben können. Für mich als Parlamentarier Ihre neue Hoffnungsträgerin, Frau Kraft, rechtfertigt ei-
ist das mit Blick auf das Budgetrecht nicht hinnehmbar. nen solchen Haushalt mit ihrer sogenannten vorbeugen-
Der Bundesfinanzminister darf nicht solche Entschei- den Politik, mit zusätzlichen Ausgaben für die Bildung,
dungsspielräume haben und damit dem Parlament die die sich laut Frau Kraft spätestens 2100 rechnen sollen.
Schuldenobergrenze nach Gusto diktieren. Wir hatten Der Geist dieser Verschuldungspolitik zeigt sich, wenn
ihn deshalb schon während der Haushaltsberatung auf- Frau Kraft offen zugibt, dass sie davon überzeugt ist,
gefordert, die Berechnung der Konjunkturkomponente dass die Schuldenbremse ohne zusätzliche Einnahmen,
an eine unabhängige Institution, nämlich den Sachver- also ohne Steuererhöhungen für die Bürgerinnen und
ständigenrat zu übertragen. Der Bundesfinanzminister Bürger, nicht einzuhalten ist. Ich sage Ihnen: Das ist eine
hat dies persönlich im Haushaltsausschuss auch nicht ab- verantwortungslose Politik, mit dem Verweis auf eine
gelehnt und soll jetzt durch unseren Gesetzentwurf dazu sehr vage Zukunftsprognose die Situation in der Gegen-
verpflichtet werden. wart bewusst zu verschlimmern. Und wenn man selbst
nicht daran glaubt, das Ziel solider Staatsfinanzen errei-
Die SPD will, dass die Regelungen zur Schulden- chen zu können, dann hat man in der Regierungsverant-
bremse auf Punkt und Komma und nach Sinn und Geist wortung auch nichts verloren. Der Kurs von Rot-Grün in
eingehalten werden. Die Konkretisierung des Gesetzes Bund und Ländern zeigt nur, dass die sparsamen Haus-
wird dies garantieren. hälter der Grünen und der SPD in ihrer eigenen Partei
den Status einer Randgruppe erreicht haben, die völlig
Florian Toncar (FDP): Der hier zur Abstimmung abgemeldet ist.
stehende Antrag der SPD-Fraktion zeigt einmal mehr,
Die christlich-liberale Koalition ist dagegen fest
dass die SPD keinen klaren politischen Kurs verfolgt. In
(B) davon überzeugt, dass wir die Vorgaben der Schulden- (D)
ihrem Antrag fordert die SPD jetzt eine Verschärfung
bremse erfüllen werden. Wir werden es im Bund schaf-
des Abbaupfades der Neuverschuldung gegenüber den
fen, im Haushalt 2011 die Ausgaben gegenüber dem
Erfordernissen der Schuldenbremse. Und vor nur drei
Vorjahr ohne Steuererhöhung für die Bürgerinnen und
Monaten, als es bei den Haushaltsverhandlungen darum
Bürger um 13,7 Milliarden Euro abzusenken, die Vorga-
ging, die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen, for-
ben der Schuldenbremse einzuhalten und trotzdem bis
derte die SPD anstelle von Ausgabensenkungen mit ih-
2013 zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildung und For-
ren Anträgen sogar noch eine Ausgabenerhöhung um
schung auszugeben. Denn eine verantwortungsvolle
ganze 6,3 Milliarden Euro. Dieses Verhalten der SPD,
Politik bedeutet, Zukunftschancen zu sichern und gleich-
erst Mehrausgaben und kurze Zeit danach eine Verschär-
zeitig auch die Handlungsfähigkeit zukünftiger Genera-
fung der Haushaltskonsolidierung zu fordern, zeigt deut-
tionen zu bewahren.
lich, dass sie in Wahrheit kein ernsthaftes Interesse an
soliden Staatsfinanzen hat. Aber auch die Grünen forder- Gerade bei der Schuldenbremse hat die SPD sich im-
ten in den Haushaltsverhandlungen Mehrausgaben von mer wieder darum bemüht, diese Regelung aufzuwei-
insgesamt 12,9 Milliarden Euro. Und wenn ich erst an chen. Diese Regelung in Art. 115 des Grundgesetzes, um
das aktuelle Vermittlungsverfahren zu Hartz IV denke, die uns die Finanzminister in Europa und den USA so
wo Ihre Leute finanzielle Maximalforderungen gestellt beneiden, ist vor allem der FDP und ihrem Drängen auf
haben, dann kann ich Ihnen Ihre zur Schau gestellte die Föderalismuskonferenz II zu verdanken. Aus Ihrer
Sparsamkeit nicht abnehmen. Es zeigt sich hier ganz Fraktion haben dagegen 19 Abgeordnete mit Nein ge-
klar, dass mit Rot-Grün die Staatsausgaben und im glei- stimmt. Und jetzt fordern Sie mit ihrem Antrag die Ver-
chen Zug auch die Steuerbelastung der Bürgerinnen und schärfung Ihres eigenen Gesetzes, das viele von Ihnen
Bürger immer weiter ansteigen würden. nie wirklich haben wollten.
Ziel der Schuldenregel, als deren Verfechter sich die Zu dem Antrag selbst ist zu sagen, dass vereinbart
SPD jetzt mit ihrem Antrag gibt, ist es die strukturelle wurde, die Neuverschuldung in gleichmäßigen Schritten
Verschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 Prozent des – das bedeutet, einem linearen Abbaupfad folgend – zu
Bruttoinlandprodukts zu begrenzen. Und das ist genau reduzieren. So wird wie es auch in der mittelfristigen
das, was die SPD da, wo sie Verantwortung trägt, nicht Finanzplanung des Bundes dargestellt. Diese Gleichmä-
macht. Am schlimmsten ist es – unter Mithilfe der Grü- ßigkeit ist aber nicht erreichbar, wenn man zuerst mit der
nen und der Linken – in Nordrhein-Westfalen. Ihre erste vorläufigen Neuverschuldung 2010 rechnet und nach der
Maßnahme nach der Wahl war eine zusätzliche Neuver- Aufstellung des Haushalts 2011 – denn erst dann liegt
schuldung allein für 2010 von 1,8 Milliarden Euro. Da- das Ist-Ergebnis des Haushaltsvollzugs 2010 vor – den
10238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) Abbaupfad und die mittelfristige Finanzplanung wieder los“ wäre. Da muss man dann doch feststellen: Wo Poli- (C)
anpasst. Ein für die Bürgerinnen und Bürger nachvoll- tik alternativlos sagt, verweigert sie sich dem Wähler-
ziehbares und transparentes Verfahren mit gleichmäßi- auftrag. Die Konsequenz, die die SPD aus der Not-
gen Konsolidierungsstufen ist so nicht möglich. Das von wendigkeit der Konsolidierung zieht, heißt Schulden-
der Bundesregierung praktizierte Verfahren entspricht bremse und sonst gar nichts. Die Verfasserinnen und
den Vorgaben des Gesetzes unter Berücksichtigung der Verfasser des Antrages kommen gar nicht auf die Idee,
praktischen Umsetzbarkeit und der transparenten Dar- im Zusammenhang mit dem Begriff der Konsolidierung
stellung in der mittelfristigen Finanzplanung. auch einmal die Einnahmeseite zu bedenken, wie denn
auch, wo sie doch die Miterfinder der Schuldenbremse
Ungeachtet dessen hat die christlich-liberale Koali- sind. Es geht aber selbstverständlich auch anders. Meine
tion bei der Neuverschuldung im Haushaltsentwurf 2011 Partei Die Linke rechnet es in ihrem Steuerkonzept de-
nach dem Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns gerech- tailliert vor. 180 Milliarden Euro Mehreinnahmen sind
net, und es spricht vieles dafür, dass wir die vorsichtig möglich, wenn die großen Vermögen angemessen an der
geplante maximale Obergrenze der Neuverschuldung Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden.
von 48,4 Milliarden Euro im Haushaltsvollzug deutlich 80 Milliarden Euro kämen dann aus einer Millionär-
unterschreiten werden. Die Bundesregierung strebt ge- steuer von 5 Prozent jenseits eines Freibetrages von
rade nicht an, die Obergrenzen der Schuldenbremse 1 Million Euro, weitere 40 Milliarden Euro aus einer
komplett auszuschöpfen. Stattdessen wird sie, wie Wiederanhebung des Körperschaftsteuersatzes auf
bereits 2010, die tatsächliche Neuverschuldung deutlich 25 Prozent und der Rücknahme einiger anderer Steuer-
stärker absenken, als es die Schuldenbremse überhaupt geschenke an die Großunternehmen sowie 27 Milliarden
verlangt. Euro aus der Einführung einer Finanztransaktionsteuer –
Zum zweiten Teil Ihres Antrags: Die Bestimmung der um hier nur die wichtigsten Bestandteile unseres Kon-
Konjunkturkomponente erfolgt in Übereinstimmung mit zepts zu nennen.
den Verfahren der Europäischen Union in einem erprob- Die Schuldenbremsenparteien versuchen, uns glau-
ten und transparenten Verfahren. Es gibt keinen Anlass ben zu machen, die Schuldenbremse sei eine finanz-
für die Behauptung, dass Ermessensspielräume genutzt technische Angelegenheit. Sie ist aber eine politische
würden, um die maximal zulässige Obergrenze der Net- Angelegenheit von tiefgreifender Bedeutung, denn sie
tokreditaufnahme nach oben zu treiben. Eine derartige beschränkt die Souveränität von Parlamenten und Re-
Unterstellung entbehrt jeglicher Grundlage. Liebe Kolle- gierungen. Wo es eine Schuldenbremse gibt, können
ginnen und Kollegen der Opposition, entscheidend für Parlamente und Regierungen nicht mehr souverän da-
die Auslegung von Art. 115 des Grundgesetzes ist letzt- rüber entscheiden, welche politischen Vorhaben sie mit
(B) endlich das Bundesverfassungsgericht. Wer der Meinung welchen Finanzmitteln in den Mittelpunkt ihrer Politik (D)
ist, die Regierungskoalition hier im Bundestag habe mit stellen. Die Landesparlamente und Landesregierungen
ihrer Auslegung von Art. 115 das Grundgesetz verletzt, haben keinen Einfluss auf die Einnahmepolitik, und so
muss das Verfassungsgericht anrufen. Das kann auch die hängen sie am Tropf der bundespolitischen Vorgaben.
SPD-Fraktion tun. Ich habe aber keinen Zweifel daran, Wenn dort Steuergeschenke an die großen Unternehmen
dass die Auslegung der Bundesregierung dem Grundge- und die Inhaberinnen und Inhaber großer Vermögen ver-
setz entspricht. Die Tatsache, dass die SPD nicht vor teilt werden, haben die Landesregierungen, weil sie in
dem Verfassungsgericht klagt, zeigt, dass sie das auch der Schuldenbremse gefesselt sind, keine Möglichkeit
selbst weiß. mehr, politisch gegenzusteuern.
Ich würde mir wünschen, dass die SPD sich nicht in Denkt man diese Situation konsequent zu Ende, kann
technischen Details verzettelt, sondern im Bundestag man auf Wahlen in den Ländern verzichten. Es genügt
eine Politik vertritt, die die Verschuldung des Bundes ab- dann eine von der Bundesregierung eingesetzte Verwal-
senkt und nicht dramatisch erhöht, und dass sie in den tung, die im zentral vorgegebenen Finanzrahmen agiert.
Ländern, in denen sie Verantwortung trägt, ihre hem-
mungslose Verschuldungspolitik beendet. Wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine
Steuerpolitik, die die großen Unternehmen und die Inha-
Roland Claus (DIE LINKE): Der SPD geht es mit
berinnen und Inhaber großer Vermögen endlich wieder
diesem Antrag um die Wahrung von – ich zitiere – angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens be-
„Geist und Sinn der Schuldenbremse“, und darum leh- teiligt. Die Herstellung von Steuergerechtigkeit, die
nen wir ihn ab, und zwar entschieden. Denn es ist ein energische Verpflichtung der Vermögenden auf das Ge-
Unding, Geist und Sinn von etwas wahren zu wollen, das meinwohl – das sind die Schritte, die gegangen werden
dem Geist und Sinn der Demokratie widerspricht und müssen, um das zu realisieren, was auch die SPD in ih-
aus diesem Grunde im Parlament zwar nur von uns, den rem Antrag wieder beschwört: die nächste Generation
Linken, im wirklichen Leben aber von sehr viel mehr nicht „weit über Gebühr“ zu belasten. Umverteilung von
Menschen und Institutionen, als sie zur Anhängerschaft oben nach unten – das ist es, worum es geht. Und das –
der Linken gehören, abgelehnt wird. ich wiederhole mich gern – ist nicht nur eine finanztech-
nische Frage, auch nicht nur eine Frage der Vermögens-
Ich finde, das ist leider sehr typisch SPD. Im Antrag verteilung, sondern eine Frage der Demokratie, eine
heißt es richtig, dass „die grundlegende Konsolidierung Frage der Mitgestaltung der Gesellschaft. Das Geld ge-
des Bundeshaushaltes notwendig“ sei. Aber dann folgt hört dorthin, wo die Menschen sind. Es gehört von oben
noch das seltsame Wort, dass sie auch noch „alternativ- nach unten umverteilt, um allen ein lebenswürdiges Da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10239

(A) sein zu ermöglichen. Und es gehört auch in den Verwal- Einen noch heftigeren Verstoß gegen den Geist der (C)
tungsebenen von oben nach unten umverteilt – vom Schuldenbremse würde der jetzt von der Bundesregierung
Bund hin zu den Ländern und Kommunen. ins Gespräch gebrachte Buchungstrick im Zusammen-
hang mit den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss
Der technokratische Antrag der SPD zur Verschär- bedeuten. Im Rahmen des Vermittlungsausschusses zur
fung der Schuldenbremse läuft all diesen Überlegungen Hartz-IV-Reform hat die Koalition angeboten, den Kom-
diametral entgegen. Er ist der Einstieg der SPD in einen munen schrittweise ab 2012 die Kosten der Grundsiche-
Wettlauf mit Schwarz-Gelb um die weitere Umvertei- rung im Alter abzunehmen. Ab 2015 sollen diese Kosten
lung von unten nach oben und um Beschränkung der De- nach dem Vorschlag der Koalition dann ausschließlich
mokratie. Vielleicht muss man der SPD für die Unmiss- vom Bund getragen werden. Der Bund beziffert die Ent-
verständlichkeit dieser Botschaft dankbar sein. Sie lässt lastung der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden
vor den Landtagswahlen in diesem Jahr keinen Zweifel Euro netto. Grundsätzlich haben wir Sympathien für die
daran, dass sie an grundlegenden politischen Verände- Umsetzung der Grundsicherung im Alter zum Bund.
rungen kein Interesse hat. So wie sie mit CDU/CSU, Aber das muss in einem eigenen Gesetz geregelt werden.
FDP und Grünen gemeinsam Hartz-IV-Partei ist, so ist Die Verknüpfung mit dem Haushalt der Bundesagentur
sie auch mit diesen allen gemeinsam Schuldenbremsen- für Arbeit, BA, halten wir für grundsätzlich falsch. Die
partei. Bundesbeteiligung an der Bundesagentur soll zusam-
mengestrichen werden, ein halber Mehrwertsteuerpunkt
Die Linke antwortet auf diesen Gesetzentwurf mit ei- soll der Agentur entzogen werden. Bis Ende 2012 würde
nem klaren Nein. sich bei der BA ein Defizit in Höhe von über 10 Milliar-
den Euro auftürmen, bis 2015 ein Defizit von knapp
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 15 Milliarden Euro. Bei einer analog zur Bundesbeteili-
Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ist ein gung an den Kosten der Grundsicherung im Alter auf-
Gewinn für die notwendige Konsolidierung des Bundes- wachsend gestalteten Reduktion des Mehrwertsteueran-
haushalts und damit ein wichtiger Beitrag zur Generatio- teils für die BA würde das Defizit der BA bis 2015
nengerechtigkeit. Wir Grüne hatten für die Schulden- knapp 10 Milliarden Euro betragen. Auch in diesem Fall
bremse andere Vorschläge, die nicht umgesetzt wurden. würde hoher Druck auf eine erneute erhebliche Erhö-
Dennoch bekennen wir uns klar zur Umsetzung der hung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entste-
hen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt, insbe-
Schuldenbremse, so wie sie jetzt im Grundgesetz veran-
sondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute stark
kert ist. Schon heute betragen die Zinszahlungen des
von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind.
Bundes 38 Milliarden Euro, bis 2014 werden diese Zins-
(B) lasten auf fast 50 Milliarden Euro anwachsen. Diese Mit einer solchen Finanzoperation würde die (D)
Schuldenbremse muss keine Sozialstaatsbremse sein. So schwarz-gelbe Bundesregierung gleichzeitig die im
wird sie nur von Schwarz-Gelb interpretiert. Wir haben Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aushebeln. Die
bei den Haushaltsverhandlungen klar dargelegt, wie die Schulden der Sozialversicherungen bleiben bei Berech-
Schuldenbremse eingehalten werden kann und gleichzei- nung des für die Schuldenbremse maßgeblichen struktu-
tig die soziale und ökologische Verschuldung im Haus- rellen Defizits unberücksichtigt. Der geplante Verschie-
halt reduziert werden kann. bebahnhof widerspricht nicht nur dem Prinzip der
Haushaltsklarheit und -wahrheit, sondern stellt auch ei-
Die grundgesetzlich geschützte Schuldenbremse darf nen eklatanten Verstoß gegen den Geist der Schulden-
nicht durch Buchungstricks ausgehebelt werden. Das bremse dar. Die Rückführung der in den BA-Haushalt
aber scheint das Vorhaben der schwarz-gelben Bundes- verschobenen Verschuldung wird allein den künftigen
regierung zu sein: Aufgrund der guten Konjunkturent- Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern aufgebürdet. In
wicklung 2010 konnte das Defizit des Bundes im Haus- diesem Fall würde hoher Druck auf eine erneute erhebli-
haltsvollzug von geplanten 80 auf 44 Milliarden Euro che Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
gedrückt werden. Damit wurde immer noch ein neuer entstehen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt,
Schuldenrekord aufgestellt. Aber diese positive Haus- insbesondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute
haltsentwicklung bildet sich – trotz Schuldenbremse – stark von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind.
nicht im Haushaltsentwurf für 2011 ab. Die Bundesre- Um einen ausgeglichenen BA-Haushalt bei konstant po-
gierung plant mit 48,4 Milliarden Euro neuen Schul- sitiven Wachstumsannahmen zu erreichen, müsste der
den, obwohl die konjunkturelle Lage sich entschieden Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um etwa 0,3 bis
aufgehellt hat. Damit verstößt die Bundesregierung be- 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Bei einem Wie-
reits im ersten Jahr des Inkrafttretens der Schulden- deraufflammen der Wirtschaftskrise würden sofort sehr
bremse gegen den Geist der Schuldenbremse. Denn ei- hohe Defizite in dieser für die Stabilität unserer Volks-
gentlich soll die strukturelle Verschuldung bis 2016, wirtschaft zentralen Sozialversicherung entstehen. Mit
wenn die Schuldenbremse dann voll greift, Jahr für Jahr diesem Missbrauch der Schuldenbremse würde die
in gleichmäßigen Schritten abgesenkt werden. Mit dem schwarz-gelbe Koalition die Finanzsituation der Sozial-
vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hätte be- versicherungen weiter schwächen. Um ein Wiederauf-
reits 2011 eine stärkere Konsolidierung des Haushaltes flammen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu verhin-
stattfinden müssen. Die Idee der Schuldenbremse wäre dern, müssen die Vorgaben der Schuldenbremse ohne
so gestärkt worden. Daher unterstützen wir als Fraktion Einschränkungen umgesetzt werden. Gleichzeitig dürfen
Bündnis 90/Die Grünen diesen Gesetzentwurf. die Haushalte der Sozialversicherungen nicht überfor-
10240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) dert werden. Diese sind ein zentraler Stabilitätsanker für lung wird auch den Aufbau bilateraler Rohstoffpartner- (C)
unsere Volkswirtschaft. schaften angehen. Ich könnte jetzt hier auch noch auf
den Rohstoffdialog des Ministeriums für Wirtschaft und
Bei der Haushaltspolitik dieser Koalition müssen wir Technologie mit der Wirtschaft und weiteren wichtigen
froh sein, dass es die Schuldenbremse überhaupt gibt. Akteuren eingehen, möchte das mit Blick auf die Uhr
Die Forderungen nach Steuersenkungen, die immer wie- aber lassen. Sie sehen, das Thema ist hochaktuell und
der aus der Koalition geäußert werden, machen sehr bereits in besten Händen. Sogar die SPD hat gemerkt,
deutlich, wie notwendig diese Regelung ist. Wenn die dass da was los ist
Restriktionen der Schuldenbremse nicht gelten würden,
wäre die Haushaltspolitik der schwarz-gelben Koalition Nun zur Rohstoffstrategie der Koalition. Ihr Antrag
noch katastrophaler für die zukünftigen Generationen in freut mich insoweit, als er keinen Widerspruch zur Roh-
unserem Land. stoffstrategie der Bundesregierung darstellt. Ich stelle
fest, die Fraktion der SPD unterstützt die Rohstoffstrate-
gie der Koalition, zumindest nimmt die Fraktion keine
Anlage 7 nennenswerten Ergänzungen bei den Forderungen an die
Bunderegierung vor.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber gestatten Sie mir dennoch vier Anmerkungen
zur Beratung des Antrags: Fairen Rohstoffhan- inhaltlicher Art. Erstens. Sie fordern verstärkte Bemü-
del sichern – Handel mit Seltenen Erden offen- hungen um Rohstoffpartnerschaften oder Rohstoffab-
halten (Tagesordnungspunkt 16) kommen mit Entwicklungsländern. Das ist zunächst zu
begrüßen, aber haben Sie etwas in dieser Richtung ange-
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten stoßen, als das Ministerium für wirtschaftliche Entwick-
heute einerseits über ein hochaktuelles Thema, anderer- lung und Zusammenarbeit von einer Ministerin der SPD
seits aber über einen längst überholten Antrag. Die Ak- geführt wurde? Hat Herr Steinmeier als Außenminister
tualität des Themas verdeutlicht am besten ein Blick in sich um diese Themen bemüht? Oder kümmert sich die
die Wirtschaftsteile der Zeitungen: Da vergeht kaum ein SPD nur dann um Rohstofffragen, wenn es darum geht,
Tag ohne einen Artikel zu den Themen Rohstoffversor- einem ehemaligen Bundeskanzler einen sicheren Posten
gung oder Rohstoffpreise. Dazu passend berichtete die zu bescheren? Zu Ihrer Regierungszeit war es doch ver-
Welt am Montag, dass unter den zehn wertvollsten Un- pönt, die Themen Außenpolitik oder Entwicklungshilfe
ternehmen der Welt fünf Unternehmen sind, die ihr Geld mit wirtschaftlichen Fragen zu verknüpfen. Wir machen
das anders, und es ist schön, dass Sie Ihre Meinung wohl
mit der Förderung von Bodenschätzen verdienen. Im
geändert haben.
(B) Jahr 2006 war dort nur ein Unternehmen verzeichnet. (D)
Auch nach Gesprächen mit Unternehmern aus dem ver- Zweitens. Sie fordern ebenfalls die Nutzung heimi-
arbeitenden Gewerbe, insbesondere im Hightechbereich, scher Lagerstätten. Auch das ist kein schlechter Vor-
wird man mit dem Problem konfrontiert. schlag. Allerdings ist die Rohstoffförderung immer ein
Eingriff in die Natur, und da ist erfahrungsgemäß lokaler
Der Antrag ist inhaltlich deshalb veraltet, weil das
Widerstand zu erwarten. Wir werden die Grünen auf der
Thema Rohstoffversorgung, insbesondere mit Nicht-
Seite des Protestes sehen, und die SPD wird unent-
Eisen-(NE-)Metallen für die Hightechindustrie längst
schlossen rumstehen. Oder aber meine Erwartung
auf der politischen Ebene angekommen ist und darüber
täuscht mich, dann freue ich mich schon, wie Sie Ihre
intensiv diskutiert und an Lösungen gearbeitet wird. Wir,
grünen Freunde von der Notwendigkeit des Rohstoffab-
also die Fraktion der CDU/CSU, hatten bereits im Juli baus in Deutschland überzeugen wollen. Dann kann die
2010 einen Kongress mit vielen Gästen aus internationa- Öffentlichkeit sehen, wie ernst es Ihnen mit Ihren Ab-
len Organisationen, der Wirtschaft und der Wissenschaft sichten ist.
veranstaltet. Das begleitende Positionspapier der Frak-
tion hat die Kollegen von der SPD offensichtlich sehr in- Drittens. Sie thematisieren das Recycling. Auch das
spiriert. Die Positionen und Initiativen unserer Fraktion ist richtig und wichtig. Aber Recycling ist ein energie-
finden sich auch in der Arbeit der Bundesregierung wie- intensives Geschäft, welches von den Altlasten rot-grü-
der. Seit Herbst 2010 liegt die Rohstoffstrategie der Bun- ner Energiepolitik – ich denke zum Beispiel an den
desregierung vor, die einen ganzheitlichen Ansatz zur Schuldenberg aus der Solarverstromung – erschwert
Rohstoffversorgung beinhaltet. Auch in der Industrie- wird. Wer für Recycling ist, muss auch eine Energiepoli-
strategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und tik beherzigen, die nicht nur auf ein vermeintlich gutes
Technologie spielt die Rohstoffversorgung eine zentrale Gewissen abstellt, sondern auch die Preise im Blick be-
Rolle. Dies gilt auch ganz aktuell für die Technologie- hält, so wie wir es von der Koalition tun.
offensive und die Mittelstandsinitiative des Ministe-
riums. Viertens. Schließlich bezweifele ich die Sinnhaftig-
keit eines Antrages, der auf einen Rohstoff oder eine
Das Ministerium hat auch bereits auf organisatori- Rohstoffgruppe verengt ist. Gerade bei den Seltenen Er-
scher Ebene reagiert. Momentan wird eine Unterabtei- den gibt es Lagerstätten weltweit. Die wurden aus öko-
lung Rohstoffpolitik eingerichtet, die speziell für die hei- nomischen Gründen aber bisher nicht erschlossen oder
mische Rohstoffversorgung, insbesondere mit NE- stillgelegt. Deswegen ist die Produktion der Seltenen Er-
Metallen für das Recycling und den Zugang zu interna- den momentan auf China konzentriert. Bis 2012 werden
tionalen Rohstoffen zuständig sein wird. Die Unterabtei- Lagerstätten in den USA, Kanada, Indien, Australien
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10241

(A) und Malawi ihre Produktion massiv erhöhen. Auch die Energiepreis. Wir müssen jetzt angesichts der nicht zu- (C)
Bundesrepublik hat bereits ein Abkommen mit Kasachs- letzt durch das Erneuerbare Energien Gesetz, EEG, ver-
tan über die Lieferung Seltener Erden abgeschlossen; ursachten Strompreissteigerungen der letzten Jahre in
Kollege Mißfelder wird anschließend darauf eingehen. Deutschland gegensteuern, um die energieintensive roh-
Dann werden die Regeln der Marktwirtschaft eine Lin- stoffverarbeitende Industrie auch weiterhin bei uns in
derung des Problems Seltene Erden bewirkt haben. Es ist Deutschland zu behalten. Sonst wird es Kupfer- oder
sinnvoller, eine Gesamtstrategie zur Rohstoffversorgung Aluminiumhütten bald nur noch in Ländern geben, in
aufzustellen, wie dies die Koalition schon getan hat. denen Energie billiger ist und die im Zweifel nicht unse-
Zum Fazit. Das Thema Rohstoffsicherung ist längst ren Umweltstandards genügen. Hier appelliere ich an die
ein bedeutender Teil der politischen Agenda dieser Ko- SPD, mit uns gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, um
alition; ich hatte es am Anfang ausgeführt. Sie haben le- Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze bei uns in Deutsch-
diglich aus unserer Rohstoffstrategie abgeschrieben und land zu sichern. Gerade die SPD mit ihrer Tradition im
dabei noch manche wichtige Punkte vergessen, zum Bei- Ruhrgebiet, wo auch mein Wahlkreis liegt, kann kein In-
spiel die Ausbildungsunterstützung in Rohstoffpartner- teresse an einer Deindustrialisierung Deutschlands ha-
ländern oder den Aspekt des Technologietransfers. Der ben. Mit Blick auf den globalen Wettbewerb, in dem un-
Antrag ist auch deshalb nicht notwendig, weil er nur ein sere Unternehmen stehen, gehört es zwingend zu den
Thema – nämlich Seltene Erden – aus einem komplexen Aufgaben der Politik, die Energiekosten für die rohstoff-
Bereich isoliert betrachtet, dessen Dramatik bald abneh- verarbeitende Industrie langfristig kalkulierbar zu ma-
men wird. Wir sollten hier aber immer die Zusammen- chen und auf einem wettbewerbsfähigen Niveau zu hal-
hänge sehen. Schließlich freue ich mich darauf, dass die ten.
Koalition bald von der SPD unterstützt wird, wenn es da-
rum gehen wird, heimische Rohstofflagerstätten zu er- Der vorliegende Antrag beschreibt richtig, dass sich
schließen, Energiepreise für Recycling niedrig zu halten, seit Anfang vergangenen Jahres der Trend einer weltwei-
Import- und Exportgarantien zu gewähren sowie Außen-, ten Steigerung der Nachfrage nach Rohstoffen und ins-
Entwicklungs- und Rohstoffpolitik stärker zu verknüp- besondere nach Seltenen Erden fortgesetzt hat. Ich
fen. möchte hierbei aber noch einen Schritt weiter gehen,
denn nicht nur Preis und Verfügbarkeit spielen beim in-
Zum Schluss bleibt mir, festzustellen, dass die SPD ternationalen Rohstoffhandel eine entscheidende Rolle,
ihren Glauben an die Marktwirtschaft wiedergefunden sondern auch zentrale außenpolitische Aspekte. So ist
zu haben scheint. Sie schreiben im Antrag auf Seite 2: das Versorgungsrisiko vor allem bei den Hochtechnolo-
„Richtig ist, das es zu allererst Aufgabe der Unterneh- giemetallen aufgrund der geografischen Lage der Vor-
men ist, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken kommen in politisch instabilen Regionen zumeist höher (D)
(B) und sich vorausschauend auf künftige Trends einzustel-
als bei energetischen Rohstoffen wie Öl und Gas. Über
len.“ Das ist ein Grund zur Freude, vielleicht schlägt Ihr
die Hälfte der Länder, in denen Vorkommen an metalli-
Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit und Fähigkei-
schen Rohstoffen nachgewiesen sind, werden in einer
ten der Unternehmen auch auf andere Themen durch.
Studie der Weltbank als politisch instabil oder gar ex-
trem instabil eingestuft. Fehlende Substitutionsmöglich-
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ich freue mich, dass keiten steigern das Risiko noch. Ohne Chrom lassen sich
auch die SPD-Bundestagsfraktion unsere Anregung aus keine rostfreien Stähle und ohne Kobalt keine ver-
dem vergangenen Jahr aufgenommen hat und sich nun schleißfesten Legierungen produzieren. Auch Platin,
mit dem Thema Rohstoffe intensiv befasst. Das ist wich- Neodyn oder Indium kann die Hochtechnologieindustrie
tig, denn die deutsche Industrie, die erkennbar gestärkt nicht durch andere Rohstoffe ersetzen.
aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgegangen ist,
ist auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Gleich- Dabei stellt sich die Frage: Wie können wir unsere
zeitig steigt durch die weltweite Wirtschaftsentwicklung Rohstoffversorgung sichern? Dazu hat die CDU/CSU-
der Bedarf. Das können wir täglich auf den Kurstafeln Bundestagsfraktion im Juli 2010 ihre Position vorgelegt.
der Rohstoffbörsen sehen, die von Rekordstand zu Re- „Deutschlands und Europas Rohstoffversorgung si-
kordstand eilen. Der Hunger der aufstrebenden Schwel- chern“ steht in der Reihe von außenpolitischen Grund-
lenländer nach energetischen und nichtenergetischen satzdokumenten der Unionsfraktion wie der Lateiname-
Rohstoffen ist noch längst nicht gestillt. So wird die rika-Strategie und der Sicherheitsstrategie. Damit hat das
Nachfrage nach Kupfer, dem wichtigsten Industrieme- zentrale Politikfeld der Sicherung der Versorgung mit
tall, das Angebot wohl auf Jahre hinaus übersteigen. Der metallischen Rohstoffen auch im politischen Raum end-
Kupferpreis eilt von einem Allzeithoch zum nächsten lich die Aufmerksamkeit gefunden, die ihm gebührt. In
und erreicht wohl bald die Marke von 10 000 Dollar je diesem Grundsatzpapier der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
Tonne. tion sind zentrale Fragen, die der vorliegende Antrag der
Ich will, bevor ich zum Thema der Seltenen Erden SPD nun aufwirft, bereits behandelt. So sind die Vorga-
komme, hier eines sagen: Dieser Kupferpreis ist ein ben der Extractive Industries Transparency Initiative,
Welthandelspreis. Ihn zahlen alle, egal aus welcher Re- EITI, nach denen Zahlungsströme an öffentliche Stellen
gion der Erde sie kommen. Ob wir in Deutschland eine im Bereich der Rohstoffgewinnung wie etwa Konzes-
nennenswerte Kupferverarbeitung behalten, hängt dem- sionsabgaben oder Genehmigungskosten von den
nach nicht primär vom Rohstoffpreis für Kupfer, son- Unternehmen offengelegt werden, für uns selbstver-
dern von einem ganz anderen Faktor ab, nämlich vom ständlich. Die Herstellung von Transparenz über Zah-
10242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) lungsflüsse ist ein wichtiges Mittel zur Korruptionsbe- plätze in Zukunftsindustrien, in denen laut DIW schon (C)
kämpfung. heute über 340 000 Menschen arbeiten.
Und auch Gespräche zu verlässlichen Rohstoff- und Die Bundesregierung riskiert mit ihrer Untätigkeit die
Handelspartnerschaften finden bereits statt. So sagte der deutsche Position auf den Märkten von morgen. Die
Chef des Ostausschusses beim Bundesverband der Deut- neue Deutsche Rohstoffagentur wird in ihrem jetzigen
schen Industrie, BDI, Metro-Chef Eckhard Cordes am Zuschnitt weder die Spekulation mit knappen Rohstof-
31. Januar 2011 in Berlin, dass Kasachstan bereit sei, fen verhindern können noch eine sichere Versorgung der
Deutschland bei seiner Ressourcensicherung zu unter- deutschen Industrie mit diesen Rohstoffen gewährleis-
stützen. Dieser Weg bilateraler Zusammenarbeit ten. Deutschland muss vielmehr alles daran setzen, um
Deutschlands in Rohstofffragen ist ein neuer Weg. Er ist national wie international zukunftsorientierte Strategien
vielversprechend und muss deshalb auch mit weiteren zur Rohstoffsicherung zu entwickeln und umzusetzen,
Ländern und Regionen gegangen werden. Wir als CDU/ zum Beispiel in Form einer Rohstoffpartnerschaft mit
CSU-Bundestagsfraktion unterstützen diese neue Form Ländern wie der Mongolei. Im Rahmen der Welthan-
deutscher Rohstoffsicherung. delsorganisation muss ein offener und fairer Zugang im
Rohstoffhandel verhandelt werden. Dabei muss gezielt
auf die Abschaffung von Exporthemmnissen gedrängt
Edelgard Bulmahn (SPD): Kein anderes Land in werden. Die Europäische Kommission hat sich vergan-
Europa ist so gut aus der weltweiten Wirtschaftskrise ge- gene Woche ausdrücklich dafür ausgesprochen. In ihrer
kommen wie Deutschland. Und in kaum einem anderen Rohstoffstrategie fordert die Kommission die gezielte
Land hat sich so deutlich gezeigt, welche Bedeutung die Vereinbarung bilateraler Rohstoffpartnerschaften mit
Industrie als Grundlage für Wachstum und Wohlstand Förderländern und ein besseres Recyclingsystem für
hat. Wer diese Grundlage stützen will, der muss die knappe Rohstoffe.
nachhaltige und langfristige Versorgung der deutschen
Industrie mit Rohstoffen sichern, und zwar aktiv. Es Die Bundesregierung muss endlich Gespräche mit
reicht nicht aus, die Eigenverantwortung der Privatwirt- Ländern und Ländergruppen aufnehmen, die für solche
schaft zu betonen, wie das der Wirtschaftsminister wie- Rohstoffpartnerschaftsabkommen infrage kommen. Im
derholt getan hat. Sicher, es ist die Aufgabe der Unter- Gegensatz zu anderen Staaten, die immer mehr zu sol-
nehmen, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu chen bilateralen Vertragswerken übergehen, die WTO-
decken und sich vorausschauend auf künftige Trends konform sind, ist die Bundesregierung bisher tatenlos
einzustellen. Doch die Bundesregierung muss diese geblieben und hat bislang kein einziges Rohstoffabkom-
Schritte unterstützen und mit politischen Mitteln beglei- men abgeschlossen. Es geht uns dabei explizit nicht um
(B) ten. eine Abkehr vom Multilateralismus, sondern um eine (D)
Flankierung der im Rahmen von EU und Welthandelsor-
Das gilt ganz besonders für die Beschaffung von Sel- ganisation erfolgten Aktivitäten. Die SPD-Fraktion setzt
tenen Erden. Seit Anfang letzten Jahres ist die Nachfrage sich für einen fairen Rohstoffhandel ein. Die Einhaltung
nach diesen Metallen drastisch gestiegen. Gleichzeitig sozialer Mindeststandards und finanzieller Transparenz-
hat China, das mit 97 Prozent der Weltproduktion eine regelungen muss ebenso garantiert werden wie eine faire
Quasimonopolstellung hält, die Ausfuhr von Seltenen Verteilung der Gewinne und die Vermeidung von Um-
Erden im zweiten Halbjahr 2010 um 72 Prozent gegen- weltbelastungen.
über dem Vorjahr gesenkt. Nun soll die Exportquote In ihrer Rohstoffstrategie vom Oktober 2010 hat die
weiter gesenkt werden. Es ist zu befürchten, dass es in- Bundesregierung eine Verbesserung der Rahmenbedin-
folge von Versorgungsengpässen schon bald zu Produk- gungen für das Recycling in Aussicht gestellt. Nur, ge-
tionsausfällen kommt. Die wachsende Nachfrage nach schehen ist bisher nichts. Inzwischen haben einige Un-
einzelnen Seltenen Erden wäre in den kommenden Jah- ternehmen ein eigenes Rücknahmesystem für bestimmte
ren aber selbst ohne chinesische Förder- und Exportbe- Metalle eingeführt oder bereiten dies zielstrebig vor. Wir
schränkungen mithin nicht gedeckt. Bis 2014 sind Ver- fordern deshalb die Schaffung eines Recyclingsystems
sorgungsengpässe bei bis zu sieben Elementen der zur Rückgewinnung wichtiger Technologiemetalle. Es
Seltenen Erden zu erwarten. Schließlich verfügt China gilt jetzt nicht Rahmenbedingungen zu evaluieren, son-
über lediglich 38 Prozent der weltweiten Reserven an dern konkret der deutschen Wirtschaft die Rückgewin-
Seltenen Erden. nung dieser Metalle zu erleichtern.
Besonders Unternehmen aus der metallverarbeiten- Wir brauchen ein weltweites Rohstoffregime, das An-
den Industrie sorgen sich um den Verlust ihrer internatio- bietern und Abnehmern gleiche Bedingungen sichert
nalen Wettbewerbsfähigkeit. Von Seltenen Erden hängen und langfristig gültige Regeln schafft. Damit dies gelin-
gerade jene Wertschöpfungsketten ab, an deren Ende gen kann, bedarf es konkreter Maßnahmen, um den Han-
wichtige Hightechprodukte stehen. Windturbinen, Solar- del mit Rohstoffen und insbesondere Seltenen Erden fair
kollektoren, Katalysatoren und Motoren für Hybridfahr- zu gestalten und offenzuhalten. Die Rohstoffstrategie der
zeuge sind nur einige Beispiele. Gerade in der Boom- Bundesregierung droht zu einem leeren Versprechen zu
branche Greentech und Erneuerbare Energien ist die werden. Die deutsche Wirtschaft fühlt sich von einer Re-
Abhängigkeit von Seltenen Erden enorm. Versorgungs- gierung im Stich gelassen, die sich in einem Auf-
engpässe bremsen Fortschritte bei Energieeffizienz und schwung sonnt, der nicht ihrer ist, und den sie nun
Umweltschutz. Und nicht zuletzt gefährden sie Arbeits- leichtfertig gefährdet. Ich bitte Sie, dem Antrag der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10243

(A) SPD-Fraktion zuzustimmen und so eine wichtige Grund- Feind wieder einmal schnell ausgemacht. Das böse (C)
lage für Wachstum und Wohlstand in diesem Land zu China dreht der westlichen Industrie den Rohstoffhahn
stützen. zu. Ganz so einfach ist die Situation allerdings nicht.
Richtig ist, dass China derzeit etwa 90 Prozent der Selte-
Klaus Breil (FDP): Wer in der Schule abschreibt und nen Erden fördert. Falsch ist, dass China 90 Prozent der
erwischt wird, erhält die Note sechs. Und nur diese Note Rohstoffvorkommen besitzt. Höchstens ein Drittel sollen
hat der Antrag der SPD hier und heute verdient. Dieser es sein. Nur, die anderen potenziellen Förderländer wie
Antrag enthält nichts anderes als die Ideen aus den von USA, Kanada oder Australien haben ihre Förderung ein-
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle initiierten gestellt bzw. nicht weiter ausgebaut, weil ihnen das Ge-
Rohstoffdialogen und der Rohstoffstrategie. Wir wissen schäft nicht lukrativ genug war. Und die deutsche Indus-
alle, dass die Rohstoffversorgung eine Zukunftsaufgabe trie hat gerne die billigen Rohstoffe aus China importiert
ist. Die Gleichung ist ganz einfach: Eine wachsende und sich keinen Deut darum geschert, unter welch kata-
Weltbevölkerung bedeutet wachsender Energie- und strophalen menschlichen Bedingungen und Umweltbe-
Rohstoffbedarf. Dabei sind noch unter keiner Bundesre- dingungen diese gefördert wurden. Jetzt, da China die
gierung – und schon gar nicht unter Rot-Grün – so viele Rohstoffe für die eigene Industrie behalten will, ist das
Initiativen zur Rohstoffversorgung gestartet worden wie Wehklagen groß.
im letzten Jahr unter Rainer Brüderle: Rohstoffdialoge,
Rohstoffstrategie, Rohstoffagentur und Rohstoffpartner- Drehen wir doch den Spieß um und fragen die deut-
schaften sind unsere Antworten auf die drängenden Fra- sche Industrie, was sie denn gegen die drohende Ver-
gen der Rohstoffversorgung. Die Bundesregierung hat knappung getan hat. Die Antwort ist einfach: nichts. Seit
ihre Hausaufgaben gemacht, und Sie, liebe Kolleginnen Jahren gäbe es die Möglichkeit, dass die deutsche Indus-
und Kollegen der SPD, laufen jetzt den Aktivitäten des trie ein Recyclingsystem für Seltene Erden und andere
Bundeswirtschaftsministeriums hinterher. wichtige Rohstoffe wie Coltan aufbaut. Aber die kurz-
fristige Rendite lockt und blockiert das Denken über den
Selbstverständlich ist die Bundesregierung schon in Tag hinaus. Sicherlich ist es teurer, ein Recyclingsystem
Gesprächen über bilaterale Rohstoffpartnerschaften. aufzubauen, als billige Rohstoffe zu importieren. Und
Und damit sollen die Aktivitäten der Wirtschaft flankiert dann ist das Geschrei da, wenn der Engpass kommt. Hier
werden. Dies alles zeigt: Die Bundesregierung bedarf kann der Wirtschaftsminister wieder einmal sehen, wie
nicht ihrer Nachhilfe, auch nicht, was die Erleichterung unfähig die von ihm so hochgelobte freie Marktwirt-
des Handels mit den sogenannten Seltenen Erden an- schaft letztlich doch ist.
geht. Ja, in der Hochtechnologieindustrie hat man sich in
den vergangenen Monaten mit Engpässen für Seltene Er- Angesichts dessen, dass einige wenige Industrielän-
(B) den beschäftigt. Bald müssten deutsche Firmen ihre Pro- der in wenigen Jahrzehnten die begrenzten Ressourcen (D)
duktionslinien stoppen, verlautete es in den Medien. Und der Welt verbrauchen, muss ein grundsätzlich anderer
das war schon gleich der erste deutliche und notwendige Ansatz gefunden werden, als Handelsliberalisierung und
Auftritt der Deutschen Rohstoffagentur: „Übertriebene Abbau von Exporthemmnissen für Rohstoffe zu fordern,
Panikmache.“ Zwar haben die Chinesen nun angekün- wie Bundesregierung und SPD dies tun. Den zügellosen
digt, auch bald vom Exporteur zum Importeur Seltener Ressourcenverbrauch einfach fortzusetzen, heißt nichts
Erden zu werden, doch bringt dieser Engpass – auch anderes, als das Problem einfach ein paar Jahrzehnte in
wenn er in eine unglückliche Situation mitten in unseren die Zukunft zu verschieben. Verlierer sind auf jeden Fall
Aufschwung fällt –, auch eine Chance mit sich, eine die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenlän-
Chance für andere Länder, ihre Vorkommen dieser Roh- dern.
stoffe – hoffentlich auch umweltverträglicher als der
derzeitige Hauptexporteur – zu explorieren. Mehr Län- Steigerung der Ressourceneffizienz und Materialrecy-
der, die explorieren, bedeuten einen größeren Markt und cling sind die beiden wichtigsten Aufgaben, die anste-
damit mehr Wettbewerb. Hin oder her, die Situation der hen. Bei beidem gibt es ein eklatantes Marktversagen.
letzten Monate müssen wir – und ganz besonders auch Da die Gesellschaft aber nicht warten kann, ob und
die deutsche Wirtschaft – als Weckruf verstehen. Es war wann eine Verteuerung der Ressourcenimporte viel-
in der Vergangenheit ein Fehler, das erste Glied der leicht doch noch mal den notwendigen Impuls für die
Wertschöpfungskette in der Rohstoffwirtschaft aufzuge- Industrie geben wird, muss der Staat steuernd eingrei-
ben. Für eine Rückwärtsintegration ist es heute aber fast fen. Anforderungen an Ressourceneffizienz bei der öf-
zu spät. In diesem Fall müsste die Industrie extrem hohe fentlichen Beschaffung, Aufbau eines Recyclingsys-
Kosten tragen. tems, Besteuerung des Rohstoffverbrauchs, wie die EU-
Kommission dies vorschlägt, sind wichtige Maßnahmen,
Einseitige Abhängigkeiten, Handelsbarrieren und un-
die jetzt ergriffen werden können.
zureichende Sanktionen vonseiten der WTO sind die na-
türlichen Feinde einer Industrienation wie Deutschland. Letztlich besteht die Aufgabe darin, Strategien für
Diese gilt es zu bekämpfen. Dafür steht der Liberalis- eine Ressourcensuffizienz zu entwickeln, also der Redu-
mus. Dafür steht unser Bundeswirtschaftsminister. Dafür zierung von Ressourcenverbrauch. Wir haben in der En-
steht die FDP. quete-Kommission unsere Debatte über das Wirtschafts-
wachstum, über die Abkopplung vom Rohstoffverbrauch
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Debatte um Seltene und die Definition von Lebensqualität aufgenommen.
Erden nimmt teilweise absurde Züge an. Da wird der ich hoffe, dass wir zu guten Ergebnissen kommen, die
10244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011

(A) dann auch in eine Rohstoffpolitik der Bundesregierung stoffreicher Länder sein. Die von der Bundesregierung (C)
einfließen werden. angekündigten Rohstoffpartnerschaften dürfen nicht zu
einem neuen Rohstoffkolonialismus ausarten. Völlig
falsch ist zudem die Debatte, die in manchen sicherheits-
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
politischen Zirkeln geführt wird und die den Schutz des
NEN): Das Thema Rohstoffe, vor allem die Seltenen Er- Zugangs zu Rohstoffen zum Beispiel zur Aufgabe der
den, erlebt derzeit Hochkonjunktur. Es ist gut, dass die- NATO machen will. Eine solche Politik, die an die histo-
sem Thema mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Wie die rische Kanonenbootpolitik erinnert, lehnen wir strikt ab.
Menschheit mit ihren begrenzten Ressourcen haushält, Vor allem aber verrennen wir uns mit dieser Verengung
ist – gerade angesichts der riesigen Wachstumsprozesse auf die Beschaffungsseite. Glaubt jemand ernsthaft, man
in den Schwellenländern – eine der großen Herausforde- könnte China über die WTO zwingen, mehr zu exportie-
rungen des 21. Jahrhunderts. Wir müssen dieses Thema ren, als es will? Ich würde meine Hoffnungen nicht da-
aber sehr präzise diskutieren, um Fehlschlüsse zu ver- rauf bauen, vor allem da es auch viele WTO-kompatible
meiden. Nehmen wir den aktuellen Knappheitsdiskurs Möglichkeiten der Exporteinschränkungen gibt. Nein,
bei den Seltenen Erden. Dort haben wir zwar gegenwär- wir brauchen einen Perspektivwechsel. Diesen löst lei-
tig in der Tat eine Abhängigkeit von China. China för- der auch der vorliegende Antrag nicht ein.
dert gerade über 90 Prozent der Seltenen Erden. Zu-
gleich besitzt China aber „nur“ 31 Prozent der weltweit Der Schwerpunkt einer modernen Rohstoffstrategie
bekannten Vorkommen. Diese Abhängigkeit ist entstan- muss auf Effizienz, Recycling und Substitution liegen.
den, weil andere Minenstandorte preislich nicht mehr Diese Punkte werden zwar überall erwähnt, sie müssen
wettbewerbsfähig waren und weil der Abbau Seltener aber im Zentrum unserer Politik stehen. Hier werden die
Erden in hohem Maße umweltschädlich ist und es ja Potenziale systematisch unterschätzt. So wird immer
auch ganz bequem war, dass dieser Abbau in den hin- wieder behauptet, dass Seltene Erden kaum substituiert
tersten Ecken Chinas stattfand. Hier wurde – weder von werden könnten – obwohl das für wichtige Produktkate-
der Industrie noch von der Politik – strategisch gegenge- gorien wie Windräder, Elektroautos oder auch Mobil-
steuert. Stattdessen wird in den USA und in Europa jetzt funkgeräte nicht stimmt. Und auch beim Recycling kön-
die verbale Keule gegenüber China ausgepackt und be- nen noch gewaltige Potenziale erschlossen werden. Das
klagt, dass China weniger Seltene Erden exportiert als in zeigt alleine schon die Tatsache, dass noch immer
der Vergangenheit. Zudem wird der aktuelle Engpass 40 Prozent des europäischen Elektroschrotts teilweise
viel zu oft gleichgesetzt mit langfristigen Knappheiten. illegal in Drittländer exportiert werden.
Knappheiten sind aber kein unausweichliches Schicksal;
sie sind wirtschaftlich und politisch gestaltbar. Deshalb Hier müssen sich Industrie, Forschung und die Politik
(B) hat die Diskussion mit ihrem Fokus auf die Beschaf- anstrengen. Und da kommt es besonders auf die europäi- (D)
fungsperspektive eine gewaltige Schieflage. sche Ebene an. Es macht hier keinen Sinn in national-
staatliches Klein-Klein zu verfallen. Hier springt leider
Nehmen wir die Rohstoffstrategie der EU. Dort steht auch der Antrag der SPD zu kurz. Der Umgang mit end-
als erster Punkt „Zugang zu Rohstoffen in Staaten außer- lichen Ressourcen ist eine zentrale Zukunftsfrage. Nor-
halb der EU“. Das halte ich für eine falsche Akzentset- mativ müssen wir in den Industrieländern akzeptieren,
zung. Es wäre falsch, Druck auf Entwicklungsländer dass aus einem überproportionalen Verbrauch kein Recht
auszuüben, um möglichst billig an ihre Rohstoffe zu auf überproportionalen Zugang entsteht. Deshalb sollten
kommen. Aber genau das ist zu befürchten. So will die wir bei der Lösung der Ressourcenfrage zuerst bei uns
EU sich dafür engagieren, dass möglichst keine Export- selber anfangen. Dazu wäre eine klare Schwerpunktset-
zölle auf Rohstoffe erhoben werden. Dabei können diese zung auf Recycling, Effizienz und Substitution ein wich-
ein wichtiges Finanzierungsinstrument armer, aber roh- tiger Schritt.
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ISSN 0722-7980

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