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Plenarprotokoll 17/106

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

106. Sitzung

Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 23: Nadine Schön (St. Wendel)


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12188 D
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Berufsbildungsbericht 2011 Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12190 A
(Drucksache 17/5400) . . . . . . . . . . . . . . . . 12171 A
b) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz Tagesordnungspunkt 24:
(Herborn), Brigitte Pothmer, Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aus- und Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer
Weiterbildung stärken, Abbrüche ver- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ein-
ringern, Erfolgsquoten erhöhen setzung eines Sonderausschusses „Atom-
(Drucksache 17/5489) . . . . . . . . . . . . . . . 12171 B ausstieg und Energiewende“
(Drucksache 17/5473) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12191 C
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12171 C
in Verbindung mit
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12173 B
Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12174 D
Zusatztagesordnungspunkt 6:
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12176 B
Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann,
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine), weiterer
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12178 C Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Pro-
gramm für eine nachhaltige, bezahlbare
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12179 D
und sichere Energieversorgung
Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12180 D (Drucksache 17/5481) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12191 C
Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12182 A Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 12191 C
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12194 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12183 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 12195 A
Albert Rupprecht (Weiden) Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 12195 B
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12184 A
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12196 B
Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12185 B
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12198 A
Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12186 C
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12200 C
Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12187 C
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12201 C
Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12187 D
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12188 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12202 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12204 A Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 12227 D
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12204 D Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12206 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12229 B

Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12207 C


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 27:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12209 A Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von
Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12210 B Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Vorratsdaten-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12211 B speicherung von Fluggastdaten –
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12212 B Richtlinienvorschlag über die Verwendung
von Fluggastdatensätzen
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12213 C KOM(2011) 32 endg., Ratsdok. 6007/11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
desregierung gemäß Artikel 23 Ab-
Tagesordnungspunkt 25:
satz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9
– Zweite und dritte Beratung des von der Absatz 4 EUZBBG
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Neuregelung maut- (Drucksache 17/5490) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12230 B
rechtlicher Vorschriften für Bundes- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
fernstraßen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12230 C
(Drucksachen 17/4979, 17/5519) . . . . . . . 12215 B
Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12231 C
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12233 B
(Drucksache 17/5520) . . . . . . . . . . . . . . . . 12215 B Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12234 C
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12215 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12235 C
Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12216 D
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12236 D
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12218 C
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 12237 D
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12219 D
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12220 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12239 C
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12220 D
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
Anlage 1
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12221 D
Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12222 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12241 A

Tagesordnungspunkt 26: Anlage 2

Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Tackmann, Cornelia Möhring, Dr. Dietmar Antrags: Agrarförderung in Deutschland und
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak- Europa geschlechtergerecht gestalten (Tages-
tion DIE LINKE: Agrarförderung in ordnungspunkt 26)
Deutschland und Europa geschlechterge- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 12242 A
recht gestalten
(Drucksache 17/5477) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12224 C
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 12224 C Anlage 3
Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12225 C Amtliche Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12243 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12171

(A) (C)

Redetext

106. Sitzung

Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die dung und Forschung:
Sitzung ist eröffnet. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der jährliche Berufsbil-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf: dungsbericht der Bundesregierung informiert über die
Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Damit gibt er uns auch
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- wichtige Informationen über die Zukunftschancen der
regierung jungen Generation. Denn wir wissen: Zwei Drittel aller
Berufsbildungsbericht 2011 Jugendlichen gehen den Weg über die berufliche Bil-
dung. Deshalb ist die Situation auf dem Ausbildungs-
– Drucksache 17/5400 – markt ein sensibles Thema, das im Jahr 2010 mit der
Frage verbunden war: Wie wird sich die Zahl der Aus-
Überweisungsvorschlag:
(B) Ausschuss für Bildung, Forschung und
bildungsplätze in Zeiten der Wirtschaftskrise entwi- (D)
Technikfolgenabschätzung (f) ckeln? Wird sie stark zurückgehen? Wie werden die Be-
Sportausschuss werberzahlen sein?
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales Kurz zusammengefasst sehen die Fakten in Bezug auf
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Jahr 2010 folgendermaßen aus:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus Erstens. Prognostiziert war ein Rückgang der Zahl der
Haushaltsausschuss Ausbildungsangebote um 20 000. Diese Prognose hat
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska sich nicht bewahrheitet. Bezogen auf die Gesamtzahl der
Hinz (Herborn), Brigitte Pothmer, Krista Sager, abgeschlossenen Ausbildungsverträge von 560 000 be-
trägt der Rückgang 0,8 Prozent.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN Aber – das ist der zweite wichtige Punkt – wir konn-
ten die interessante Entwicklung beobachten, dass es
Aus- und Weiterbildung stärken, Abbrüche
erstmals wieder ein Plus bei der Zahl der Ausbildungs-
verringern, Erfolgsquoten erhöhen
verträge in den Betrieben gibt. Es geht hier also nicht um
– Drucksache 17/5489 – die außerbetrieblichen und die vielen Maßnahmen, die
wir vor allem in den strukturschwachen Regionen auf
Überweisungsvorschlag: den Weg gebracht haben, in denen aufgrund der schwie-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
rigen Situation nicht genügend betriebliche Ausbil-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dungsplätze zur Verfügung stehen.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Entwicklung bei den betrieblichen Ausbildungsver-
trägen ist ausgesprochen positiv. 2010 sind 519 000 Ver-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für träge abgeschlossen worden. Das ist ein Plus von
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich 5,6 Prozent gegenüber 2005.
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Bundes-
ministerin Annette Schavan das Wort. Das zeigt, dass die Unternehmen auch in Zeiten der
Wirtschaftskrise nicht nachgelassen haben, dass sie nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zurückgefahren, sondern zugelegt haben.
12172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) Der dritte wichtige Punkt betrifft die Zahl der Altbe- Der erste Punkt. Der Schwerpunkt des Ausbildungs- (C)
werber, die uns in diesem Hohen Hause schon vielfach paktes, dessen Zeitraum wir bis 2014 verlängert haben,
beschäftigt hat. Diese Zahl ist von 262 000 im Jahre liegt nicht mehr bei quantitativen, sondern bei qualitati-
2008 auf 185 000 im Jahre 2010 zurückgegangen; das ist ven Größen. Im Mittelpunkt steht also die Qualifikation.
ein Rückgang um knapp 30 Prozent. Auch das ist eine Dazu haben Bund und Länder die Qualifizierungsinitia-
überaus positive Entwicklung. Wir wollen, dass der tive verabschiedet. Es ist jetzt wichtig, dass die darin
Übergang von der Schule in die Ausbildung direkt er- vereinbarten Maßnahmen auch auf der Seite der Länder
folgt und dass nicht viele junge Leute als Altbewerber konsequent umgesetzt werden. Wir wollen erreichen,
jahrelang in einem Übergangssystem warten müssen. dass jeder Jugendliche einen Abschluss bzw. eine Quali-
fikation erreicht, die den Einstieg in die Ausbildung er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie möglicht.
bei Abgeordneten der SPD)
Der zweite Punkt betrifft die Neuordnung des Über-
Der vierte wichtige Punkt bezieht sich auf das Über- gangssystems. Wir sollten in dieser Frage nicht fahrläs-
gangssystem selbst. Auch hier ist in den vergangenen sig sein. Manchmal entsteht der Eindruck: Das Über-
fünf Jahren, seit wir uns gezielt darum kümmern, indem gangssystem brauchen wir überhaupt nicht.
wir Veränderungen vornehmen, Kompetenzen zurück-
bringen und Maßnahmen bündeln, ein deutlicher Rück- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gang zu verzeichnen, nämlich um 22,5 Prozent. Das NEN]: Das ist schlimm!)
heißt, junge Leute kommen schneller in Ausbildung als – So ist es. – Das ist aber keine Lösung. Man muss
noch vor einigen Jahren. manchmal auch über den Tellerrand schauen und darf
Das Resümee der Bundesagentur für Arbeit bezogen sich nicht nur auf Deutschland beziehen. Wer sich bei
auf das letzte Jahr ist – wir werden ein solches Resümee in den europäischen Nachbarn umschaut, der weiß: Der
den kommenden Jahren noch häufiger erleben –: Es wur- Übergang von Bildung in Beschäftigung ist ein ganz
den mehr unbesetzte Ausbildungsplätze gemeldet, als es zentrales bildungspolitisches Thema. Die Jugendarbeits-
unversorgte Bewerber gibt. In Zahlen bedeutet dies: Rund losigkeit würde in Spanien nicht 40 Prozent, in Frank-
20 000 Ausbildungsplätze – exakt sind es 19 605 – blie- reich nicht 25 Prozent und in den skandinavischen Län-
ben unbesetzt. Es verblieben rund 12 000 unversorgte Be- dern nicht um die 20 Prozent betragen, wenn es in diesen
werber. Ländern an der Stelle funktionieren würde. Der Über-
gang ist die sensible Stelle überhaupt. Wir haben in
Das macht deutlich, wie sich die Bevölkerungsent- Deutschland eine Jugendarbeitslosigkeit von 7 Prozent.
wicklung auswirkt. In Ostdeutschland konnte man diese Darum werden wir beneidet. Bei uns ist die Jugend-
(B) Auswirkung in den letzten Jahren schon sehr gut be- arbeitslosigkeit so viel niedriger als in anderen Ländern, (D)
obachten. Im übrigen Bundesgebiet wird es in den weil es die berufliche Bildung und die duale Ausbildung
nächsten Jahren eine ähnliche Entwicklung geben. Die gibt.
Schülerzahlen werden in den nächsten zehn Jahren
deutschlandweit deutlich zurückgehen. Die Frage ist Jetzt müssen aber die nächsten Schritte gegangen
also nicht mehr: „Bekommt jeder Jugendliche einen werden. Für mich beginnt das Übergangssystem nicht
Ausbildungsplatz?“, sondern die Frage wird lauten: da, wo die Schule endet. Daher sind für mich die Bil-
„Was müssen wir tun, damit angebotene Ausbildungs- dungsketten die wichtigste Maßnahme, die ab Klasse 7
stellen tatsächlich besetzt werden?“ mit der Potenzialanalyse beginnen. Begleitet werden
30 000 Schülerinnen und Schüler bis zur Ausbildung.
Ich will Ihnen noch weitere Vergleichszahlen nennen: Ich bin davon überzeugt, dass es das Ziel der Neuord-
Im Jahr 2005 gab es über 40 000 unversorgte Bewerber nung des Übergangssystems – es ist die entscheidende
auf ungefähr 12 000 unbesetzte Stellen. Das Verhältnis Maßnahme, beginnend ab Klasse 7 – sein muss, mehr
hat sich also ins Gegenteil verkehrt. Jugendlichen den Schulabschluss zu ermöglichen. Um
dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns sowohl auf der
Ausblick auf das Jahr 2011. Die Bundesagentur für Ebene der Länder wie auch auf der Ebene des Bundes ei-
Arbeit verzeichnet in ihrer Halbjahresbilanz einen deut- nigen. Mein Ziel ist nicht, einfach Geld von A nach B,
lichen Anstieg der Zahl der gemeldeten Ausbildungs- also zur BA, zu schieben. Wir brauchen vielmehr eine
plätze. Wir können davon ausgehen, dass es für den zentrale Maßnahme der Länder und des Bundes.
Zeitraum September 2010 bis Ende März 2011 einen
Anstieg der gemeldeten Ausbildungsplätze um 14,3 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf
zent gegeben hat. In absoluten Zahlen ausgedrückt: des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])
48 000 Ausbildungsplätze mehr als im Vorjahr wurden – Lieber Herr Schulz, genau das machen wir. Sie glau-
bis Ende März gemeldet. Das ist eine gute Perspektive ben das nicht? Das glaube ich Ihnen sofort. – Was will
für dieses Jahr 2011. ich sagen? Wir haben jetzt auf der Bundesebene genau
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diesen Schritt getan: Wir haben diverse Maßnahmen zu-
sammengefasst, solche im Kontext der Schule und sol-
Damit stellt sich die Frage: Was sind die zentralen che im Kontext der beruflichen Bildung. Nach allem,
Aufgaben in der Berufsbildungspolitik, vor denen wir was ich aus den Schulen höre – es ist eine wichtige un-
stehen, damit wir diese neue Situation sinnvoll gestalten terstützende Maßnahme für die Arbeit in den Schulen;
können? man kann das nicht einfach den Lehrerinnen und Leh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12173
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) rern überlassen –, bin ich davon überzeugt, dass diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
Maßnahme von allen Maßnahmen, die wir vor allen Din- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gen auf der Ebene der Länder ausprobiert haben, die
wirksamste ist; sie gibt uns die Möglichkeit, tatsächlich Dazu will ich Ihnen drei Zahlen nennen: 85 000 junge
eine bessere Qualifikation der Jugendlichen zu errei- Menschen haben im vergangenen Jahr keinen Ausbil-
chen, die sich schwertun. dungsplatz erhalten. Weitere 320 000 junge Menschen
stecken in einer der vielen Maßnahmen im Übergangs-
Dritter Punkt. Die Gruppe, die uns in diesem Kontext dschungel; auch die Frau Ministerin hat bemerkt, dass
am meisten interessieren muss – auch was die Bildungs- dort unbedingt eine Lichtung erforderlich ist. Die bedrü-
ketten angeht –, bilden die Jugendlichen mit Migrations- ckendste Zahl ist für mich: 1,5 Millionen junge Erwach-
hintergrund; man braucht dafür keine eigenen, neuen sene im Alter zwischen 20 und 29 Jahren haben keinen
Maßnahmen. Wir wissen, dass die Ausbildungsquote in Berufsabschluss und können deshalb die Schwelle zum
dieser Gruppe geringer ist; die Quote derer, die ohne Berufsleben gar nicht überwinden.
Schulabschluss bleiben, ist höher. Deshalb ist die Maß- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nahme für diese Jugendlichen besonders wichtig.
Diese jungen Erwachsenen befinden sich nicht einmal in
Wichtig ist aber auch, dass es uns in den nächsten einer Qualifizierungsmaßnahme. Diese erschreckend
Jahren gelingt, bei unserem Bemühen, Unternehmer mit hohe Zahl sinkt auch nicht, trotz des demografischen
Migrationshintergrund in die Ausbildung einzubeziehen, Wandels, trotz des Fachkräftebedarfs und trotz der Erho-
weiter voranzukommen. Die Unternehmer mit Migra- lung der Wirtschaft; das ist für mich das schlimmste Si-
tionshintergrund kommen aus unterschiedlichen Kultu- gnal, das von dieser Zahl ausgeht.
ren und wissen um kulturelle Vorbehalte und klassisches
Bildungsverhalten in dieser oder jener Kultur; sie kön- Wenn ich auf die Website Ihres Hauses gehe, dann
nen uns auf dem Ausbildungsmarkt helfen. Auch da sind lese ich über diese jungen Menschen:
wir einen guten Schritt vorangekommen; aber die Zahl Hierbei handelt es sich um ein weitere „Reserve“,
derer, die mitmachen, kann noch erhöht werden. die für eine Steigerung der künftigen Zahl junger
Letzter wichtiger Punkt. Im Laufe der nächsten Mo- Fachkräfte genutzt werden kann.
nate wird die Umsetzung des Europäischen Qualifika- Das ist, freundlich gesagt, eine sehr unglückliche Be-
tionsrahmens im Deutschen Qualifikationsrahmen voll- schreibung dieser jungen Menschen.
endet; wir sind in der Endphase. Das ist ein zentraler
Schritt; denn damit kommt es bei der Frage, ob wir bei (Beifall bei der SPD)
der Umsetzung des Qualifikationsrahmens die Gleich- Das ist eben keine Reserve, die man für schlechte Zei- (D)
(B)
wertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ak- ten anlegt. Diese Menschen haben einfach keine Start-
zeptieren, zur Stunde der Wahrheit. Ich bin der festen möglichkeiten in das Berufsleben, weil ihnen die Berufs-
Überzeugung: Jetzt ist der Moment, in dem wir europa- ausbildung fehlt. Es ist zynisch, wenn man eine solche
politisch einen wichtigen Impuls setzen können. Viele Wortwahl trifft. Es handelt sich um Einzelschicksale, de-
beneiden uns um die duale Ausbildung. Mit der Umset- nen wir helfen müssen. Vielleicht haben Sie in den
zung des Europäischen Qualifikationsrahmens im Deut- nächsten drei Wochen der sitzungsfreien Zeit die Gele-
schen Qualifikationsrahmen haben wir die große Chance genheit, diesen Terminus auf der Website zu entfernen.
– wir werden sie nutzen –, die Gleichwertigkeit von all-
gemeiner und beruflicher Ausbildung mit der Anerken- Wir sind uns einig: Wir dürfen keinen der jungen
nung von Ausbildungen und Abschlüssen zu belegen. Menschen aufgeben und verloren geben. Wir müssen je-
Insofern finde ich, dass das eine gute Situation für die den jungen Menschen mit einem Schulabschluss und ei-
berufliche Bildung ist. Das ist mit Blick auf die Zukunfts- nem Berufsabschluss in das Leben entlassen. Als SPD-
chancen der jungen Generation eine gute Botschaft. Bundestagsfraktion haben wir dazu drei konkrete Vor-
schläge gemacht.
Vielen Dank.
Wir wollen erstens eine Berufsausbildungsgarantie.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch wenn Sie auf die Jugendarbeitslosigkeit bei uns in
Höhe von 7 Prozent verweisen und sagen, dass diese
Zahl im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gut aussieht, sind wir der Meinung, dass eine Ausbil-
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Frak- dungsgarantie ein Signal an die Jugendlichen in unserem
tion. Land ist, dass es für sie eine sichere Perspektive beim
(Beifall bei der SPD) Start in das Berufsleben geben wird. Das ist etwas, was
wir unbedingt erreichen wollen. Das lehnen Sie leider
ab.
Dagmar Ziegler (SPD):
(Zuruf von der CDU/CSU: Was sagt Platzeck
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dazu?)
Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sagen, es gebe
eine positive Entwicklung. Darin stimmen wir überein. Zweitens halten wir an dem Ausbildungsbonus fest.
Diese positive Entwicklung kann uns dennoch nicht zu- Auch wenn Sie sagen: „Die Wirtschaft hat bei der Be-
friedenstellen; darüber sind wir uns hoffentlich einig. reitstellung von Ausbildungsplätzen zugelegt“, ist es im
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Dagmar Ziegler
(A) Moment das falsche Signal, auf dieses Instrument zu dass der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 tat- (C)
verzichten. Durch diesen Bonus sind bisher rund 50 000 sächlich eingelöst werden kann. In dieser Frage lassen
junge Menschen zu einer Ausbildungsstelle gekommen. Sie die Länder und Kommunen im Stich.
(Beifall bei der SPD) Sie haben auch keine neue Initiative – wie wir sie for-
dern – für den Ausbau der Ganztagsschulen gestartet.
Davon abgehen zu wollen, ist das falsche Signal zum Sie reden immer davon – mal die CDU, mal die FDP,
falschen Zeitpunkt. auch mal Frau Merkel –, dass Sie das Kooperationsver-
Drittens wollen wir das Programm „Zweite Chance“ bot für eine falsche Entscheidung halten.
erhalten, das Sie jetzt streichen wollen. Das ist kontra- (Patrick Meinhardt [FDP]: Wer hat das einge-
produktiv. führt?)
(Zuruf von der FDP: Wir streichen überhaupt Wir teilen das in diesem Haus, glaube ich, unisono. Wo
nichts!) bleibt Ihre Initiative, dieses Kooperationsverbot aufzu-
– Sie wollen zumindest kürzen. – Sie sagten eben, die heben?
Zahl der Ausbildungen im dualen Bereich sei gestiegen. (Heiner Kamp [FDP]: Sie müssen mal die Zei-
Wenn die Zahl der Ausbildungen insgesamt gesunken tung lesen, Frau Ziegler!)
ist, muss ja die Zahl der Ausbildungen in den staatlichen
Ausbildungseinrichtungen gesunken sein. Das ist der Ich kenne keine Initiative,
Beleg dafür, dass man dort nicht kürzen darf, wenn wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gemeinsam an dem Ziel festhalten, dass jede Schülerin DIE GRÜNEN)
und jeder Schüler eine Berufsausbildung erhält. Genau
deshalb brauchen wir das Programm „Zweite Chance“ in weder von der Regierung noch vom Parlament noch von
voller Höhe. dieser Koalition.

(Beifall bei der SPD) (Patrick Meinhardt [FDP]: Ob das wohl die
SPD eingeführt hat?)
Aber das reicht auch nicht. Zweite und dritte Chancen
für Jugendliche in unserem Land einzuräumen, ist das Ich würde weniger Zeitung lesen wollen,
eine. Das alles sind Reparaturmaßnahmen. Das alles sind (Patrick Meinhardt [FDP]: Warten wir ab!)
Lösungen, wenn wir Jugendlichen aus einer Situation
heraushelfen, in die sie durch vielerlei Gründe hineinge- sondern hier in diesem Haus gern eine Gesetzesinitiative
raten sind. Wir haben – das ist das andere – einen ganz- sehen.
(B) heitlichen Ansatz. Damit komme ich zu meinem letzten (Beifall bei der SPD) (D)
Punkt. Wir brauchen eine sogenannte – ich nehme dieses
Wort, weil Sie es so gern benutzen – Exzellenzinitiative Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
für Kitas und für Ganztagsschulen. Das ist Bildung von
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Anfang an. Hier müssen wir investieren, und zwar in
ganz Deutschland. Es ist der richtige Ansatz, dort viel
Geld hineinzugeben, damit Kinder von Anfang an, unab- Dagmar Ziegler (SPD):
hängig von ihrer sozialen Herkunft, individuell gefördert Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich im Kabinett zu-
werden können und einen guten Start bekommen. sammen und suchen Sie nach einem ganzheitlichen An-
satz für Bildung in unserem Lande, und machen Sie
Beim Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen wissen nicht nur Stückwerk!
wir Sie eben leider nicht an unserer Seite. Genauso wie
Ihre Kollegin Familienministerin Schröder und die Danke.
ganze Regierung Merkel legen Sie dort eben keinen (Beifall bei der SPD)
Schwerpunkt Ihrer Politik.
(Patrick Meinhardt [FDP]: Was ist denn in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Brandenburg?) Das Wort hat nun Heiner Kamp für die FPD-Fraktion.
Das ist der grundsätzliche Fehler in Ihrer Bildungspoli- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tik. Wir fordern immer wieder und erneut einen Krippen-
gipfel, Heiner Kamp (FDP):
(Patrick Meinhardt [FDP]: Was läuft in Bran- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
denburg?) Meine Damen und Herren! Liebe Frau Ziegler, man
kann Zahlen schlechtreden – die unter Ihrer Regierung
bei dem man sich mit den Ländern zusammensetzt, waren noch schlechter – und den Jugendlichen auf den
(Patrick Meinhardt [FDP]: Sehen Sie mal nach Rängen oder an den Bildschirmen jeglichen Mut und
Brandenburg!) jegliche Zuversicht nehmen, oder man liest den Bericht
richtig und versucht, die guten Zahlen zu deuten und
um dafür zu sorgen, dem Publikum näherzubringen, um bei den Menschen
Mut und Zuversicht zu verbreiten.
(Patrick Meinhardt [FDP]: Wie sehen dort die
Fortschritte aus?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12175
Heiner Kamp
(A) Der Mensch, vor allem der junge Mensch, braucht werk und Wirtschaft heutzutage händeringend Nach- (C)
die Hoffnung auf Fortschritt. Älteren Menschen ge- wuchs.
nügt es, wenn sie hoffen können, dass es nicht
schlechter wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dieser Satz ist nicht von mir, sondern er wird dem lang- Für dieses zentrale Problem müssen wir Lösungen
jährigen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rom- finden, und zwar in einer gemeinsamen Anstrengung
mel zugeschrieben. Ich glaube, in diesem Hause zählen von Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Gerade
wir uns alle nicht nur nach dieser Definition zu den jün- vor Ort brauchen wir Kooperationen von Schulen und
geren Menschen, und das sollten wir auch. Unternehmen. Die zahlreichen Einzelmaßnahmen kön-
nen vielfach durch bessere Koordination eine größere
Was den von der Bundesregierung vorgelegten Be- Wirkung entfalten. Jugendliche sollen früh ihre berufli-
rufsbildungsbericht 2011 angeht, dürfen wir uns zu den chen Entwicklungsmöglichkeiten entdecken können.
jungen Menschen zählen und zuversichtlich in die Zu-
kunft blicken. Der Bericht zeigt, dass sich die Situation Wir müssen alle Reserven für die berufliche Dualaus-
auf dem Ausbildungsmarkt weiter verbessert. Die Aus- bildung aktivieren. Dazu gehört, dass wir das vielfach
bildungsbilanz kann sich wirklich sehen lassen. Die An- noch brachliegende Potenzial der oft nur vermeintlich
fang der Woche veröffentlichte Ausbildungsumfrage der Leistungsschwächeren ausschöpfen. Pilotversuche ein-
Industrie- und Handelskammern bestätigt diese erfreuli- zelner Unternehmen zeigen deutlich, dass viele als
che Entwicklung. Die Chancen der Jugendlichen auf ei- schwer vermittelbar eingestufte Bezieher von Transfer-
nen Ausbildungsplatz werden als glänzend angesehen. leistungen mit einer Einstiegsqualifizierung tatsächlich
Für ihren Bereich rechnen die Kammern mit einem Zu- erfolgreich in die Ausbildung hereingeführt werden kön-
wachs an Ausbildungsverträgen von 5 Prozent. 40 000 nen. Es lohnt sich also für die Unternehmen, Chancen zu
zusätzliche Ausbildungsplätze wollen die Unternehmen geben. Den Unternehmen, die das tun, gebührt unser
allein in diesem Bereich im Jahr 2011 anbieten. Das sind Dank.
ausgezeichnete Nachrichten für die jungen Leute, über (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die wir uns freuen dürfen.
Wie im Vorjahr gab es auch am Ende dieses Berichts-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) jahres wieder mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als
Auch der Berufsbildungsbericht rechnet angesichts unversorgte Bewerber. Ganz besonders freue ich mich
der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung mit einer darüber, dass auch die Zahl der Altbewerber seit 2008
Zunahme der angebotenen Ausbildungsstellen. Die aktu- um rund ein Drittel zurückgegangen ist. Altbewerbern,
ellen Zahlen der Kammern sind ein erster empirischer lernschwachen Jugendlichen und jungen Menschen mit
(B)
Beleg. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Bundesre- Migrationshintergrund müssen wir zu einer Qualifizie- (D)
gierung die richtigen wirtschaftspolitischen Akzente rung verhelfen. Eine Ausbildung ist und bleibt die beste
setzt. 2,6 Prozent prognostiziertes Wachstum in diesem Garantie für gesellschaftliche Teilhabe und Integration
Jahr und ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen auf in den Arbeitsmarkt.
2,9 Millionen sind hierfür ein Nachweis. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dass es sich lohnt, hierfür Geld in die Hand zu nehmen,
Die Unternehmen werden ihrer gesellschaftlichen zeigt die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zu
Verantwortung gerecht und zeigen mit ihrer voraus- den gesellschaftlichen Folgekosten unzureichender Bil-
schauenden Personalpolitik, dass sie mit Optimismus in dung.
die Zukunft blicken. Diesen Optimismus können auch Der fortgeschriebene Ausbildungspakt mit neuem
die jungen Leute teilen. Sie profitieren von dem steigen- Schwerpunkt ist ein wichtiger Beitrag zu unseren An-
den Angebot an Ausbildungsplätzen. Aufgrund der sin- strengungen bei der Sicherung des Fachkräftenachwuch-
kenden Bewerberzahlen verbessern sich auch für leis- ses. Das Übergangssystem selbst gilt es zu optimieren.
tungsschwächere Schülerinnen und Schüler die Chancen Den unübersehbaren Maßnahmendschungel werden wir
auf einen Ausbildungsplatz. Diese Entwicklung wird vor lichten. Mit den Bildungsketten setzen wir in der Schule
allem in den neuen Bundesländern besonders deutlich. an, indem wir Schulabbrüche verhindern und Übergänge
Dort ist die Zahl der Schulabgänger um 13,5 Prozent zu- von der Schule in die duale Ausbildung verbessern. Die
rückgegangen. Darauf ist auch im Wesentlichen der ge- Bildungslotsen leisten dabei kontinuierlich und individu-
ringfügige Rückgang an abgeschlossenen Ausbildungs- ell einen richtigen und wertvollen Beitrag auf dem Weg
verträgen im Bundesschnitt zurückzuführen; denn in den förderbedürftiger Jugendlicher zum Ausbildungsab-
alten Bundesländern wurden sogar mehr Verträge abge- schluss.
schlossen als im Vorjahr.
Dabei beschreiten wir einen anderen Weg – jetzt hö-
Der erfreuliche Umstand, dass die Wehrpflicht end- ren Sie gut zu, Frau Ziegler – als der Regierende Bürger-
lich aufgehoben wird, schmälert die Chancen auf einen meister Wowereit und seine hilflose Arbeits- und So-
Ausbildungsplatz keineswegs. Auch der große Abitur- zialsenatorin Bluhm von der Linken. Beide beteuern
jahrgang wird kein Problem darstellen, ganz im Gegen- immerfort, wie wichtig das Schaffen neuer Lehrstellen
teil: Der enorme Bewerbermangel wird dadurch kurzzei- ist, und drohen der Wirtschaft und dem Handwerk.
tig ein wenig abgemildert. Während in rot-grünen Zeiten
Ausbildungsplätze Mangelware waren, suchen Hand- (Zuruf von der FDP: Das ist linke Politik!)
12176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Heiner Kamp
(A) Doch wenn es darauf ankommt, in der eigenen Verwal- im Osten viermal höher ist als im Westen. Im Westen ist (C)
tung – sozusagen vor der eigenen Haustür – Ausbil- dafür das Übergangssystem anteilig wesentlich stärker.
dungsplätze zu schaffen, versagen SPD und Linke kläg- Das hat sicherlich damit zu tun, dass die Zahl der Mi-
lich. grantinnen und Migranten, die in diesem Bildungssys-
tem stärker benachteiligt sind, dort größer ist. Die gibt es
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
im Osten nicht so reichlich.
Zuruf von der FDP: Genau so ist das!)
Zweitens. Mehr als 184 000 Altbewerberinnen und
Man muss sich das einmal vorstellen: In der Haupt-
Altbewerber – ein schreckliches Wort – haben in den
stadt lässt der rot-rote Senat über 10 Millionen Euro an
vergangenen fünf Jahren vergeblich einen Ausbildungs-
Mitteln für Ausbildung verfallen.
platz gesucht. Angesichts dieser Zahl ist es doch ein
(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Skandal, wenn von einem Fachkräftemangel geredet
wird und Unternehmen beklagen, dass sie Ausbildungs-
Von eingeplanten 2 Millionen Euro im Haushalt der lin-
plätze nicht besetzen können.
ken Sozial- und Arbeitssenatorin sind hierfür gerade ein-
mal 350 000 Euro ausgegeben worden. Peinlich hoch (Beifall bei der LINKEN)
zehn, kann ich da nur sagen.
Drittens. Auf die derzeit etwa 19 000 unbesetzten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Ausbildungsstellen kämen jeweils zehn Bewerberinnen
ruf von der CDU/CSU: Skandal!) und Bewerber, wenn man allen Altbewerberinnen und
Altbewerbern und denen aus diesem Jahr eine Ausbil-
Wir arbeiten mit den jungen Leuten daran, dass es
dungsstelle anbieten würde. Es ergäbe sich, wie gesagt,
weiter vorangeht. Rot-Rot-Grün begnügt sich damit, zu
ein Verhältnis von eins zu zehn. Dieser Bilanz sollten Sie
hoffen, dass es nicht schlechter wird. Sie sind eben ei-
sich stellen. Eine ausgeglichene Bilanz stelle ich mir we-
nes: von gestern.
sentlich anders vor.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das von einem FDP-
Redner derzeit! – Hubertus Heil [Peine] Die Ministerin sagte eben, dass es angesichts der
Wirtschaftslage noch schlimmer hätte kommen können.
[SPD]: Herr Präsident, er zitiert mich!)
Wenn die Statistik jetzt nicht ganz so schlimm aussieht
FDP und Union werden weiter zukunfts- und fort- wie noch vor ein oder zwei Jahren, so ist das offensicht-
schrittsorientierte Politik für die jungen Menschen und lich allein Folge der zurückgegangenen Zahl der Schul-
unser Land gestalten. absolventinnen und Schulabsolventen. Die geburten-
schwachen Jahrgänge, die es nach der Wende im Osten
Vielen Dank.
gab, sind jetzt altersmäßig vollständig in der Ausbil-
(B) (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dung. Damals ist die Geburtenzahl auf ein Drittel des
letzten Vorwendejahres zurückgegangen. Die Zahl der
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schulabgängerinnen und Schulabgänger, die einen Aus-
Das Wort hat nun Rosemarie Hein für die Fraktion bildungsplatz suchen, hat sich infolge dessen im Osten
Die Linke. jetzt halbiert. Die Positivbilanz, die die Bundesregierung
nun einfährt, ist also dem Geburtentief im Osten ge-
(Beifall bei der LINKEN) schuldet. Man gewinnt den Eindruck, man habe das ein-
fach ausgesessen.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):
Die Bundesregierung setzt heute offensichtlich immer
Herr Präsident! Verehrte Frau Ministerin! Liebe Kol- noch auf das Prinzip Hoffnung. Sie hofft zum einen auf
leginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich kann den weiter zurückgehende Schülerzahlen und zum anderen
Optimismus, den Sie hier verbreiten, nicht teilen. auf einen überproportionalen Anstieg des Bruttoinlands-
(Heiner Kamp [FDP]: Schade!) produkts, was die Wirtschaft wohl animieren soll, mehr
Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Was bitte
– Ja, das ist schade. Ich würde es gern, aber es gibt kei- ist das denn für ein Fortschrittsverständnis? Das können
nen Grund dazu. – In der vergangenen Woche haben Sie wir nicht teilen. Wir haben den Eindruck, dass man sich
– auch Ihr Staatssekretär – von einer insgesamt ausgegli- heftig in die Tasche lügt.
chenen Bilanz gesprochen. Die Zahl der Altbewerber,
das haben Sie auch zitiert, sei um 30 Prozent zurückge- (Beifall bei der LINKEN)
gangen. Fakt ist aber:
Hinzu kommt, dass es zugegebenermaßen eine große
Erstens. Von einer Entspannung kann eigentlich nicht Dunkelziffer gibt, weil die Statistik nur die Bewerberin-
die Rede sein. Vielmehr wurden insgesamt etwas weni- nen und Bewerber erfasst, die sich bei der Bundesagen-
ger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vor- tur für Arbeit und den anderen sogenannten zugelasse-
jahr. Dabei geht die Schere zwischen Ost und West wie- nen Trägern melden. Das ist aber nur gut die Hälfte eines
der auseinander. Während in den westlichen Absolventenjahrgangs. Wenn nun aber die Bundesregie-
Bundesländern ein leichter Zuwachs zu verzeichnen war, rung gar nicht so genau weiß, wer sich warum und wie
ging die Zahl der Ausbildungsplätze im Osten um über lange um einen Ausbildungsplatz bemüht und wer wann
4 000, also um 7,4 Prozent, zurück. Hinzu kommt, dass einen findet, wie kann sie dann helfend eingreifen? Da-
der Anteil der überbetrieblichen, also ausschließlich öf- rum lese ich mit großem Interesse, dass es endlich Be-
fentlich finanzierten, Ausbildungsplätze mit 20 Prozent mühungen um eine bessere Ausbildungsstatistik gibt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12177
Dr. Rosemarie Hein
(A) Das haben wir in einem Antrag, den wir vor einigen Mo- Nun aber wählen die Bewerberinnen und Bewerber. – (C)
naten in diesem Haus vorgelegt haben, bereits gefordert. Hören Sie einmal zu; ich habe etwas sehr Interessantes
gefunden. – Im Bericht findet sich das Schaubild 10.
Ein weiteres Problem bleibt das Übergangssystem. Dort sind die Berufe aufgeführt, in denen schon jetzt ein
Unternehmen benennen heute die mangelnde Ausbil- Bewerbermangel beklagt wird. Das sind Berufe in der
dungsfähigkeit als Grund, weshalb nicht alle Ausbil- Gastronomie, Verkäuferinnen und Verkäufer, Bäcker,
dungsplätze besetzt werden können. Aber woran bemisst Gebäudereiniger usw. All diese Berufe finden sich in ei-
sich eigentlich die Ausbildungsfähigkeit? Im Bericht ner Tabelle – es geht um Tarifverträge und Entgelte –, in
kann man dazu keinerlei Aussagen finden. Auch der der die Berufe aufgeführt sind, in denen in meinem Bun-
Staatssekretär ist mir in der vergangenen Woche eine desland ein Stundenlohn von unter 7,50 Euro gezahlt
Antwort auf meine Frage schuldig geblieben. Ich habe wird.
erfahren, dass es ein entsprechendes Kästchen in den
Formularen der Bundesagentur für Arbeit gibt. Ich er- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Hört! Hört!)
fuhr, dass man da ein Kreuz mache oder eben nicht – Entsprechend dieser Tabelle wird im Gebäudereiniger-
nach welchen Maßstäben bleibt sehr undurchsichtig. handwerk am meisten verdient. In Sachsen-Anhalt wird
Wer an dieser Stelle ein Kreuzchen hat, landet mit ziem- in diesem Bereich ein Stundenlohn von 6,58 Euro ge-
licher Sicherheit im Übergangssystem. Im Jahr 2010 ha- zahlt, und das ist ein Branchenmindestlohn. Hört! Hört!
ben sich 324 000 Jugendliche in irgendeiner Weise im
Übergangssystem wiedergefunden. Nicht alle von ihnen (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wer ver-
galten als nichtausbildungsfähig. Sie haben trotzdem handelt denn? Die Gewerkschaften!)
keinen Ausbildungsplatz bekommen. Bekannt ist aber,
Bedenkt man dann noch die Arbeitsbedingungen in die-
dass das ein- oder oftmals auch mehrmalige Durchlaufen
sen Berufsgruppen, dann ist verständlich, warum diese
des Übergangssystems längst nicht das bringt, was das
Berufe zu diesen Konditionen heute von jungen Leuten
System verspricht. Dadurch wird der Übergang in eine
nicht mehr gewählt werden. Da funktioniert der Markt
Ausbildung in der Regel nicht erleichtert, sondern er-
eben einmal anders herum. Ich finde, das ist auch in Ord-
schwert.
nung.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN)
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Jörn Wunderlich [DIE LINKE], an BÜND- Ein anständiger gesetzlicher Mindestlohn könnte da hel-
NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Das ist kein fen. Er würde die Attraktivität dieser Berufe erhöhen.
Grund, zu klatschen! Das ist Grund, zu wei- Es gibt im vorliegenden Berufsbildungsbericht sehr
(B) nen!) viele beunruhigende Befunde. Ich frage mich: Was kann (D)
Mit der Zahl der Jahre, in denen man sich erfolglos man dagegen tun? Das Bundesministerium hat eine Ab-
auf dem Ausbildungsmarkt beworben hat, sinkt zudem teilung „Programmerfindung“ – ich habe das hier schon
die Chance auf eine erfolgreiche Vermittlung drastisch. vor einigen Monaten erwähnt –, der es immer noch nicht
Darum ist der vorhin schon erwähnte Befund, dass an Ideen mangelt. Die Programme, die ich jetzt nenne,
1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen habe ich alle im Berufsbildungsbericht gefunden: Es gibt
20 und 29 Jahren überhaupt keine Berufsausbildung ha- den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräf-
ben, eines der schlimmsten Ergebnisse bundesdeutscher tenachwuchs; er wurde bis 2014 verlängert. Es gibt die
Berufsbildungspolitik der letzten Jahre. Da kann sich Initiative „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten
auch keine Vorgängerregierung ausnehmen. Für die Lö- bis zum Ausbildungsabschluss“, die unter anderem die
sung dieses Problems gibt es bis heute überhaupt kein Berufseinstiegsbegleiter beinhaltet; die Ministerin hat
überzeugendes Konzept. dies angesprochen.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall des Abg. Heiner Kamp [FDP])
Nun scheint ein neues Problem herangewachsen zu Weitere Programme heißen: EQ Plus, APO, BOP, ÜBS,
sein: der vermeintliche oder tatsächliche Fachkräfteman- ARENA, VerA und Jobstarter Connect. Ich befürchte,
gel. Zunächst einmal ist festzuhalten: Wenn man in den ich habe ein paar übersehen. Das alles hört sich lustig an,
vergangenen Jahren ausreichend Ausbildungsplätze ge- aber es ist nicht lustig. Es wird immer unübersichtlicher.
schaffen hätte, gäbe es diesen Mangel heute nicht. Welches Programm läuft wie lange und richtet sich an
wen? Hinzu kommen noch die landeseigenen Modell-
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald projekte und Programme. Wenn die Ministerin heute
[DIE LINKE]: Das ist der Punkt!) sagt, man wolle das alles vereinheitlichen, dann warte
ich gespannt auf den Entwurf, der zeigt, wie diese Ver-
Heute stellt man fest, man könne auf keinen jungen
einheitlichung aussehen soll. Ich bin skeptisch. Das hier
Menschen mehr verzichten. Konnte man das denn je?
riecht nach Vielfalt, klingt nach Vielfalt, aber ich glaube,
Offensichtlich konnten sich Unternehmen in Zeiten star-
es ist nur Wirrwarr.
ker Jahrgänge einfach die Besten aussuchen. Der Rest
wurde abgeschoben. Man konnte ja wählen. (Beifall bei der LINKEN)
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Machen So wird das nichts werden. Auch die Programme, die
Sie das nicht so in Ihrer Partei? Wen nehmen nun frühzeitig in den Schulen ansetzen sollen, um ab-
Sie denn so?) schlussgefährdeten Jugendlichen zu helfen, sind nichts
12178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Rosemarie Hein


(A) weiter als Reparaturprogramme für ein verfehltes Bil- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
dungssystem. Wenn in Zukunft immer weniger Arbeits- Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
plätze für Geringqualifizierte vorhanden sein werden, Bündnis 90/Die Grünen.
dann muss man für bessere Bildung sorgen. Wir brau-
chen das Geld dort, wo die Bildung von Anfang an bes- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ser gemacht werden kann,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der LINKEN) Herr Kamp, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede die Jugend-
lichen vor dem Fernseher begrüßt. Ich gehe davon aus,
und das Kooperationsverbot muss fallen, damit die ge- dass die meisten Jugendlichen um diese Uhrzeit, um
meinsame Verantwortung von Bund und Ländern auch 9.30 Uhr, entweder in der Schule oder bei der Ausbil-
gemeinsam wahrgenommen werden kann. dung sind. Den Jugendlichen, die um 9.30 Uhr vor dem
Fernseher sitzen, hilft Ihr Schönreden nicht.
Als Erstes muss sich die Schule ändern, damit mehr
bessere Abschlüsse erworben werden können. Ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hauptschulabschluss reicht oft nicht mehr. Auch das sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Übergangssystem hilft an dieser Stelle überhaupt nicht KEN – Heiner Kamp [FDP]: Nachrichten!
weiter. Wir brauchen mindestens solide Realschulab- Man kann das alles auf Phoenix nachschauen!
schlüsse für die Mehrzahl der jungen Menschen und na- Dass Sie kein Phoenix schauen, kann ich mir
türlich mehr Abiturienten. denken! Auch im Politikunterricht wird so et-
was gezeigt!)
Zweitens brauchen wir endlich einen Rechtsanspruch
auf eine qualitativ hochwertige berufliche Erstausbil- Sie wollen eine Perspektive, sie wollen eine Chance, und
dung. sie wollen nicht nur demografische Daten hören, die
vielleicht irgendwann wirksam werden.
Drittens muss es in der Wirtschaft ein solidarisches
System der Ausbildungsfinanzierung nach dem Vorbild Die Zahlen sprechen für sich. Einige wurden genannt:
der Bauindustrie geben. Es muss durchgesetzt werden, 185 000 Altbewerberinnen und Altbewerber, 320 000 Ju-
dass sich alle Unternehmen daran beteiligen. gendliche im Übergangssystem. Das ist noch nicht alles.
Die eigentlichen Zukunftsherausforderungen stehen un-
Viertens muss der Unsinn aufhören, dass die einen mittelbar bevor. Dazu gehört die Tatsache, dass in die-
eine Ausbildungsvergütung bekommen – nicht immer sem Jahr die doppelten Jahrgänge – Stichwort: G 8 – auf
eine besonders hohe, aber immerhin eine –, während die den Ausbildungsmarkt strömen. Die Aussetzung von
anderen Schulgeld zahlen müssen, um überhaupt eine Wehrpflicht und Zivildienst führt dazu, dass es in (D)
(B) Ausbildung zu erhalten. Darüber schweigt der Bericht
Deutschland bald 60 000 junge Männer geben wird, die
übrigens. ausgebildet werden wollen.
(Beifall bei der LINKEN) (Heiner Kamp [FDP]: Ja! Gott sei Dank! –
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die wollen
Das ist vor allem in den Gesundheitsberufen der Fall,
vielleicht auch studieren! Es soll auch Jugend-
obwohl der Bedarf an Arbeitskräften in diesen Berufen
liche geben, die studieren wollen, Frau Kolle-
in den nächsten Jahren enorm zunehmen wird.
gin!)
Fünftens muss das Berufsübergangssystem weitge- Auf diese Personengruppen gehen Sie gar nicht ein. Auf
hend überflüssig gemacht werden; ganz wird man es die Frage, was die Politik tut, damit diese jungen Män-
nicht abschaffen können. Stattdessen brauchen wir aus- ner nicht auf der Straße und nicht in einer Sackgasse lan-
bildungsbegleitende Hilfen in den Ausbildungsberufen, den, sondern eine qualifizierte Ausbildung bekommen,
beim Gang in die Berufsausbildung. Es ist sinnvoll, dort haben Sie noch keine Antwort.
anzusetzen; denn dort kann es tatsächlich helfen und
stellt nicht nur eine Warteschleife dar. (Heiner Kamp [FDP]: Manche Länder viel-
leicht nicht! Aber da, wo die FDP mitregiert,
Sechstens bedarf es einer schnellen Lösung für die schon!)
20- bis 29-Jährigen ohne abgeschlossene Berufsausbil-
dung; denn hier geht es nicht nur um die individuellen Das ist eine Herausforderung, der Sie sich annehmen
Lebensperspektiven – um die geht es natürlich auch –, sollten.
sondern auch um hohe Folgekosten bis ins Alter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das sind ganz sicher nur einige der wichtigsten sowie bei Abgeordneten der SPD)
Schritte, die unbedingt gegangen werden müssen. Es Frau Schavan, Sie sagen, dass es günstige Rahmenbe-
gibt sicher noch mehr. Man muss sie umsetzen. Wir dingungen gibt. Aber günstige Rahmenbedingungen al-
möchten eigentlich nicht bis zum nächsten Bericht war- leine helfen bei der Bewältigung dieser Herausforderun-
ten, um dann festzustellen, dass sich wieder nichts getan gen nur bedingt. All die Zahlen, die ich genannt habe
hat. – es fehlen geschätzt 670 000 betriebliche Ausbildungs-
Ich danke. plätze in Deutschland –, machen deutlich: Wir brauchen
strukturelle Reformen, um in diesem Bereich voranzu-
(Beifall bei der LINKEN) kommen. Darauf sind Sie leider gar nicht eingegangen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12179
Ekin Deligöz
(A) Sie haben davon gesprochen, dass Sie den Ausbil- keine Perspektive haben und auf dem Ausbildungsmarkt (C)
dungspakt verlängert haben. Ja, das haben Sie getan. keine Angebote erhalten, erreichen? Auf diese Fragen
Aber Sie haben keine überprüfbaren Ziele festgelegt. geben wir Antworten. Dabei setzen wir im Gegensatz zu
Ihnen nicht nur auf die demografische Entwicklung und
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Die die Hoffnung, dass sich die Welt irgendwann verändert,
Dresdner Ziele!) sondern wir machen ein konkretes Angebot, das sich an
Sie haben zum Beispiel nicht gesagt: Wir schaffen für die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Jugendlichen und
diese Jugendlichen 60 000 zusätzliche Ausbildungs- die Politik, die endlich handeln muss, richtet.
plätze. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Ach! Wir sowie bei Abgeordneten der SPD)
haben doch schon jetzt mehr Ausbildungs- Eine letzte Bemerkung zu Jugendlichen mit Migra-
plätze geschaffen! Wir haben nämlich sehr tionshintergrund. Die Zahlen zeigen: Sie sind die Verlie-
hohe Ziele!) rer unseres Ausbildungssystems; sie bleiben auf der
Das wäre messbar und überprüfbar. Das wäre eine Hand- Strecke. Was diese Jugendlichen betrifft, sind wir bisher
lungsanweisung für alle Beteiligten gewesen. Davon nicht konkret genug. Auch Ihre Antworten sind nicht
nehmen Sie aber Abstand. Damit sind wir wieder beim konkret genug. Schlimmer noch: Sie entdecken und ana-
Schönreden und bei leeren Versprechen. lysieren Probleme, geben aber keine einzige Antwort auf
die Frage, wie sie zu lösen sind. Die eine Seite der Me-
Ein anderes Beispiel: die Bildungsketten. Ja, diese daille ist, dass wir passgenaue Angebote machen müs-
Initiative ist eine sinnvolle, gute Idee. Aber wenn es so sen. Die andere Seite der Medaille ist, dass sich auch in
ist, wie Sie sagen, warum statten Sie sie dann nicht ver- der Kultur dieses Landes etwas verändern muss.
nünftig aus? Warum investieren Sie in diese Initiative
nicht so viel Geld, dass sie in ganz Deutschland flächen- Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die ei-
deckend wirken kann und nicht bei einigen wenigen nen ausländischen Namen haben, dauert es im Vergleich
Leuchtturmprojekten steckenbleibt? Für Jugendliche zu deutschen Jugendlichen dreimal so lange, bis sie zu
ohne Perspektive reichen einige wenige Vorzeigepro- einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden, und sie
jekte nicht aus. Das ist eine Binsenweisheit. bekommen viermal so oft Absagen. Es dauert bis zu
17 Monate, bis sie überhaupt eine Einladung zu einem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bewerbungsgespräch bekommen. Wenn man den Ju-
sowie bei Abgeordneten der SPD) gendlichen die Tür vor der Nase schließt, braucht man
sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann frustriert
Wenn 150 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz sind. Auch für diese Jugendlichen muss gelten: Sie soll- (D)
(B)
haben, verursacht dies Folgekosten. Das DIW spricht da- ten sich mit Optimismus bewerben können. Bis wir das
von, dass 150 000 nicht ausgebildete Jugendliche zu erreicht haben, müssen Sie noch jede Menge Hausaufga-
jährlichen Folgekosten in Höhe von 1,5 Milliarden Euro ben machen. Es reicht nicht aus, nur auf die demografi-
führen. Damit bin ich bei einem wichtigen Punkt: Es ist sche Entwicklung zu setzen, sondern man muss auch
nicht nur die Aufgabe des Staates – wir reden über ein politisch entschlossen handeln. Dazu haben Sie bis jetzt
erfolgreiches duales System –, sondern auch die Auf- noch keine Konzepte vorgelegt.
gabe der Wirtschaft, in diesem Bereich zu agieren. Auch
hier muss ein Umdenken stattfinden. Aber dieses Um- Vielen Dank.
denken fällt nicht vom Himmel. An dieser Stelle sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wir wieder bei der Verantwortung der Politik. Wir müs- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
sen die Menschen überzeugen. Wenn Sie fordern, dass LINKEN)
sich gerade Unternehmen mit Migrationshintergrund
stärker auf dem Ausbildungsmarkt engagieren – diese
Ansicht teile ich –, dann bedeutet dies auch, dass wir es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ihnen ermöglichen müssen. Wenn es darum geht, Men- Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
schen zu einer Ausbildung zu befähigen und dafür die CSU-Fraktion.
richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, sind auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die IHKs gefragt. Hier stehen wir noch halbwegs am An-
fang.
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
Wir machen Ihnen einen Vorschlag. Unser Vorschlag Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-
heißt „Dual Plus“. Mit diesem Vorschlag gehen wir nicht neten! Man kann immer nörgeln und Haare in der Suppe
nur die Umgestaltung des Übergangssystems an. Viel- finden, Frau Kollegin Ziegler. Wenn wir uns aber die
mehr haben wir vor allem folgende Fragen im Blick: Zahlen bei den Altbewerbern und den jungen Menschen,
Wie schaffen wir es, dass sich auch kleine und mittlere die im Übergangssystem sind, angucken, kann man
Betriebe am Ausbildungspakt beteiligen und die Ausbil- schon von einer rot-grünen Erblast sprechen.
dungsverpflichtung eingehen? Wie können wir Qualifi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zierung so organisieren, dass sie überbetrieblich und
Hand in Hand mit dem dualen System funktioniert? Die Es ist eine echte rot-grüne Erblast, dass jeder zweite Mi-
dritte wichtige Frage lautet: Wie können wir auch Ju- grant im Alter zwischen 25 und 34 Jahren in den Jahren
gendliche, die in einer Sackgasse stecken geblieben sind, vor 2005 keinen Ausbildungsplatz gefunden hat. Neh-
12180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Eckhardt Rehberg
(A) men Sie die Zahlen bei den Altbewerbern: Das waren aus dem Programm „Perspektive Berufsabschluss“ ein (C)
rund 300 000 im Jahr 2005. Im Jahr 2010 waren es regionales Übergangsmanagement finanziert, weil es
185 000. Die Zahl der jungen Menschen im Übergangs- dort eine sehr hohe Arbeitslosigkeit gibt und 10 Prozent
system ist in den letzten fünf Jahren um fast 100 000 zu- der Hauptschulabgängerinnen und -abgänger den direk-
rückgegangen. Allein im letzten Jahr ist sie um ein Vier- ten Übergang von der Schule ins duale Ausbildungssys-
tel gesunken. Seitdem Frau Schavan für Bildung und tem nicht schaffen. Mit diesem regionalen Übergangs-
Forschung in Deutschland Verantwortung trägt, haben management – in Güstrow gibt es ein ähnliches Projekt –
wir Erfolge auf diesem Gebiet vorzuweisen. Vorher war will man die Akteure zusammenführen, damit wirklich
das eher ein Desaster. keiner verloren geht. Frau Ministerin, ich darf vielleicht
zitieren, was Sie in Rostock auf dem Unternehmertag
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gesagt haben: „Es gibt niemanden, der nichts kann.“ Ge-
Wenn Sie eine objektive Wertung der Politik des Bun- nau das ist die Basis für das, was wir hier tun.
desbildungsministeriums bzw. der Bundesregierung vor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nehmen wollen, dann müssen Sie sich gelegentlich ein-
mal den OECD-Bericht aus dem Jahr 2010 vornehmen. Zweitens kümmern wir uns nicht nur um die, die kei-
Da steht auf Seite 19: nen Schulabschluss haben. Im Rahmen des Programms
„Perspektive Berufsabschluss“ kümmern wir uns auch
Deutschland engagiert sich auf beeindruckende
um diejenigen, die älter, angelernt oder ungelernt sind.
Weise für die Bewältigung dieser Herausforderung.
Es gibt zum Beispiel bei mir im Wahlkreis in der Stadt
Das bezieht sich auf die Herausforderung im Rahmen Schwaan ein Projekt im Pflegebereich. In Mecklenburg-
des Übergangssystems. – Dann wird weiter auf folgende Vorpommern gibt es mittlerweile große Defizite an
Themen Bezug genommen: Initiative „Perspektive Be- Fachkräften im Pflegebereich. Dort werden Module auf-
rufsabschluss“, Koordinierung der Übergangsangebote gebaut, sodass Ungelernte oder Angelernte als Alten-
auf regionaler Ebene, Un- und Angelernte, voll berufs- pflegehelfer oder Altenpfleger arbeiten können.
orientierte Abschlüsse. Das heißt, die OECD konstatiert, Diese beiden Beispiele zeigen: Die Bundesregierung
dass die Bundesregierung bzw. die Bundesministerin ge- und die Koalitionsfraktionen stellen sich den Herausfor-
nau den richtigen Weg geht. derungen. Wir machen keine Politik im Kuckucksland,
(Beifall bei der CDU/CSU) sondern wir machen Realpolitik.
Warum müssen wir diesen Weg gehen? Was hat uns Herzlichen Dank.
denn in der Krise so stark gemacht? In der Krise hat uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
doch stark gemacht, dass wir ein Industriestandort sind.
(B) (D)
Wir sind nur deswegen ein erfolgreicher Industriestand-
ort, weil die duale berufliche Ausbildung in der Welt Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
einmalig ist. Frau Schavan hat darauf hingewiesen: Wir Das Wort hat nun Willi Brase für die SPD-Fraktion.
haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Industrie- (Beifall bei der SPD)
länder, andere haben eine viel höhere. Die duale Ausbil-
dung ist eine Basis dafür, dass wir eine so niedrige Ju-
Willi Brase (SPD):
gendarbeitslosigkeit haben.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: Es
gibt einen Zuwachs an Ausbildungsplätzen auf voraus-
Sie haben auch auf die Wirtschaft Bezug genommen.
sichtlich 614 000, 615 000 bis Ende September. Es gibt
Wenn uns die Wirtschaft mitteilt, dass sie für 60 000
aber auch, wie schon erwähnt, 320 000 Menschen im
Stellen keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber
Übergangssystem und 1,5 Millionen junge Leute zwi-
hat finden können, und darauf hinweist, dass Erzie-
schen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss und mit
hungsdefizite zu Ausbildungsdefiziten werden, dann ist
möglicherweise nur schlechten Perspektiven. Darüber
doch nicht nur an die Politik und die Schule, sondern an
hinaus gab es zum 31. März 2011 100 000 Bewerber, die
die gesamte Gesellschaft die Frage zu stellen: Wie ma-
älter als 19 Jahre sind. Ich nenne diese Zahlen deshalb,
chen wir junge Menschen fit, damit sie den Herausforde-
weil der Berufsbildungsbericht 2011 meiner Meinung
rungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind? Das ist
nach sowohl Licht als auch Schatten enthält und es un-
nicht nur eine Aufgabe von Schule und Politik, das ist
sere Aufgabe ist, darauf hinzuweisen, dass wir hier im
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Parlament und in der Regierung noch eine Menge zu tun
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben, damit die jungen Leute eine vernünftige Zu-
kunftsperspektive bekommen.
Was macht die Politik? Wir haben bis zum Jahr 2014
rund 620 Millionen Euro für diesen Bereich eingestellt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte
Allein für das Jahr 2011 haben wir die Mittel für die Mo- Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
dernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung um
Kollege Rehberg hat bereits über Erziehungsdefizite
30 Millionen Euro erhöht. Was steckt dahinter? Ich will
gesprochen. Wir wollen doch einmal festhalten, was uns
das an zwei ganz konkreten Beispielen deutlich machen.
in Untersuchungen der unterschiedlichen Institute immer
Erstens geht es um ein Projekt meines sehr geschätz- wieder zum Besten gegeben wird: Junge Leute, die in
ten Kollegen Hagemann in der Stadt Worms. Dort wurde einem Haushalt mit einem Einkommen von bis zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12181
Willi Brase
(A) 1 550 Euro leben, fallen hinsichtlich der Bildung sozusa- besten, was zu tun ist. Wir sehen es vor allem als Auf- (C)
gen unter das wirtschaftliche Risiko. Wenn beide Eltern- gabe der Länder und Kommunen an, die Übergangsmaß-
teile nicht berufstätig sind, gibt es ein soziales Risiko, nahmen gemäß dem Leitsatz „Kein Abschluss ohne An-
und wenn die Eltern weder einen Schul- oder Hoch- schluss“ auf den Weg zu bringen.
schulabschluss noch einen Berufsabschluss haben, dann
Viertens. Wir wollen die Fachkräfte besser ausbilden
gibt es ein Bildungsrisiko. Man kann das auch anders
und den Fachkräftebedarf sichern. Wir wollen 1,5 Mil-
formulieren: Die Chancen in der Bildung sind heute ex-
lionen Menschen eine Perspektive geben. Wenn es zu-
trem davon abhängig, wie dick das Portemonnaie der El-
trifft, dass wir in diesem Bereich jedes Jahr Milliarden
tern ist. Das ist für eine Gesellschaft wie unsere eine
verlieren, dann müssen wir mehr ausgeben als die
Schande, auf Deutsch gesagt.
60 Millionen Euro für das Programm „Perspektive Be-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. rufsabschluss“, die derzeit für mehrere Jahre in den
Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE] und des Haushalt eingestellt sind. Das wäre ein guter und richti-
Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ger Weg.
NEN])
(Beifall bei der SPD)
Das bedeutet doch nichts anderes, als dass wir – alle
Wir wollen fünftens, dass die Unternehmen auch
Fraktionen in diesem Hause tragen in Landesregierun-
Schwächere und Ältere in Ausbildung nehmen. Allein in
gen Verantwortung – in den letzten zehn Jahren offen-
diesem Jahr gibt es 100 000 junge Bewerber zwischen
sichtlich eine Politik gemacht haben, die zumindest ge-
20 und 25 Jahren. Wir beklagen, dass junge Menschen
gen einen Teil der Menschen in unserem Lande gerichtet
nicht früh genug in die Berufstätigkeit kommen. Wir ha-
war. Eigentlich müssten wir ein Stück weit in Demut ge-
ben die Möglichkeit, ihnen eine Chance zu bieten. Las-
hen, weil wir es nicht geschafft haben, allen jungen
sen Sie uns diese Möglichkeit nutzen.
Menschen eine vernünftige Bildung zu ermöglichen.
Sechstens sind wir der Auffassung, dass wir WeGebAU
Es gibt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin
ausbauen müssen. Ich gebe zu, dass dieses Programm in
für Sozialforschung, in der es heißt: Sparen bei der Be-
der Praxis Anlaufschwierigkeiten hatte. Aber es stabili-
rufsbildung kostet den Staat Milliarden. – Wenn wir es
siert sich und wird besser genutzt. Lassen Sie uns dieses
nicht schaffen, dass alle jungen Leute eine Berufsausbil-
Programm verbessern und ausweiten, damit wir dann,
dung erhalten und einen Berufsabschluss machen, dann
wenn künftig Fachkräfte gebraucht werden, auch den
werden wir in den nächsten zehn Jahren bis zu
Menschen, die schon in Arbeit sind, ob angelernt oder
15 Milliarden Euro an gesellschaftlichen Folgekosten zu
ungelernt, eine Perspektive zu geben. Das halte ich für
tragen haben. Allein diese Zahl sollte uns ermuntern,
richtig und notwendig.
(B) endlich zu handeln und ein paar Dinge voranzubringen. (D)
(Beifall bei der SPD)
Die wirtschaftliche Situation ist gut. Was macht die
Regierung? Sie kürzt die Mittel für den Eingliederungs- Der Stern hat vor wenigen Tagen die Ergebnisse einer
titel. Umfrage zum Thema „Steuern rauf für die Bildung!“
veröffentlicht. Auch wenn das für die FDP als Steuersen-
(René Röspel [SPD]: Pfui!)
kungspartei etwas schwierig ist: 73 Prozent der Befrag-
Das ist schlecht. Ich will Ihnen sagen, was aus unserer ten – weit über 100 000 Personen – waren dafür.
Sicht notwendig ist:
(Patrick Meinhardt [FDP]: Das wäre das erste
Erstens. Ich glaube, dass das „Recht auf Ausbildung – Mal, dass SPD-Länder Geld in die Bildung
kein Abschluss ohne Anschluss“ absolut richtig ist. Al- stecken! Nur SPD-Länder fahren die Bildung
len jungen Leuten muss eine Perspektive gegeben wer- zurück!)
den.
– Jetzt wollen Sie die Steuern nicht mehr senken, sagt
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Herr Rösler. Gestern hat Herr Brüderle, der „Weinkö-
Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]) nig“, wieder gequakt: Wir wollen die Steuern wieder
senken. – Hören Sie auf! Werden Sie sich erst einmal
Zweitens. Wir wollen die Berufsorientierung ab der
selbst einig!
siebten Klasse für alle Schulen und nicht nur für die so-
genannten Risikoschulen zur Pflicht machen. Teilweise 73 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie
wird das schon auf den Weg gebracht. Bisher ist dabei an mit einer leichten Steuererhöhung einverstanden wären,
30 000 Schülerinnen und Schüler gedacht; aber es gibt wenn in der Bildung endlich etwas auf den Weg gebracht
noch viel mehr. Hier wäre es gut, wenn die Bundesregie- würde.
rung gemeinsam mit den Bundesländern endlich Initiati-
(Heiner Kamp [FDP]: Ja, weil die SPD nichts
ven ergreifen würde, damit alle Schülerinnen und Schü-
gemacht hat! – Gegenruf des Abg. René
ler von dieser Maßnahme profitieren.
Röspel [SPD]: Bei Steuerpolitik wachen Sie
(Beifall bei der SPD) auf! Bei Bildungspolitik schlafen Sie weiter!)
Drittens. Wir wollen ein regionales Bildungsmanage- Dieselben Personen haben auf eine entsprechende Frage
ment; denn wir wissen: Ausbildungsmärkte sind regio- geantwortet: Wir halten es für absolut notwendig, dass
nale Märkte – das waren sie, das sind sie, und das wer- sozial Benachteiligte in unserer Gesellschaft aufsteigen
den sie immer bleiben. In den Kommunen weiß man am können. – Es war einst ein Merkmal dieses Landes, dass
12182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Willi Brase
(A) auch Kinder aus Arbeiterfamilien wussten, dass sie mit nen. In einer modernen und offenen Gesellschaft muss (C)
etwas Anstrengung die Chance haben, nach oben zu es sehr viele Möglichkeiten geben, Übergänge im Bil-
kommen. Diese Chance ist nicht mehr für alle gegeben. dungssystem zu schaffen. Die Leistungsfähigkeit des
Systems sichert ganz besonders die individuellen Auf-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
stiegschancen. Leistungsfähigkeit erreichen wir, wenn
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heiner Kamp
wir endlich aus Abschlüssen Anschlüsse machen; denn
[FDP] – Patrick Meinhardt [FDP]: In einer li-
Anschlüsse sind das, was uns weiterbringt, und es sind
beralen Gesellschaft passiert genau das! Nicht
die Übergänge, die wir verbessern müssen.
in einer Neidgesellschaft!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
70 Prozent der Befragten haben sehr deutlich zum
der CDU/CSU)
Ausdruck gebracht, dass es richtig ist, den jungen Leuten
eine Berufsausbildungsgarantie zu geben. Lassen Sie Der Berufsbildungsbericht erhebt die Herstellung von
uns diesen Weg gehen. Durchlässigkeit zur zentralen Forderung. Das ist auch
unsere zentrale Forderung. Gerade angesichts des zu-
Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
künftigen Fachkräftemangels aufgrund des demografi-
(Beifall bei der SPD) schen Wandels müssen wir in der frühkindlichen Bil-
dung die Rahmenbedingungen schaffen, die nötig sind.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das heißt, wir brauchen eine bessere Ausbildung für Er-
Das Wort hat nun Sylvia Canel für die FDP-Fraktion. zieherinnen und Erzieher, und wir müssen qualitativ bes-
sere Rahmenbedingungen schaffen, damit Eltern ihre
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kinder in den entsprechenden Einrichtungen abgeben
können.
Sylvia Canel (FDP):
Die Zahl der Schüler wird sich bis 2025 um knapp
Mein lieber Herr Präsident! Meine Damen und Her- 20 Prozent verringern. Das steht im Bildungsbericht.
ren! Bildung ist ein lebendiger Prozess. So lebendig, wie Man könnte meinen, Deutschland habe heute zu viele
wir hier sitzen, so lebendig ist auch dieser Prozess. Kinder; denn in Zukunft wird jedes fünfte Kind fehlen.
(Dagmar Ziegler [SPD]: Na ja!) Wir können die Qualität im Bildungswesen nur dann si-
chern, wenn wir diese demografische Rendite dort belas-
Wir beginnen mit der frühkindlichen Bildung und brau- sen. Das ist unsere Forderung. Wir dürfen aus dem Bil-
chen Übergänge in Aus-, Fort- und Weiterbildung. dungsbereich keine Gelder abziehen. Wir müssen
Wir haben es mit einer riesigen rot-grünen Erblast zu mindestens die Summe, die wir heute investieren, auch
(B) tun. Ja, Herr Rehberg, Sie haben völlig recht. Das darf weiterhin in die Bildung investieren. (D)
nicht bestritten werden; das muss hier einmal gesagt Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die DIHK-
werden. Ausbildungsumfrage, die in dieser Woche erschienen ist.
(Willi Brase [SPD]: Dazwischen waren vier In dieser Ausbildungsumfrage wurde die mangelnde
Jahre Schwarz-Rot! Ohne Rot wäre die Krise Ausbildungsreife der Schulabgänger als Ausbildungs-
nicht überwunden worden!) hemmnis Nummer eins benannt. Mehr als drei Viertel
der Unternehmen beklagen die unzureichende schulische
Notwendig ist, dass die frühkindliche Bildung endlich Qualifikation und die mangelnden persönlichen Kompe-
vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Das ist bisher in tenzen der Bewerber. Das heißt: Zu der schlechten
keinem Bundesland wirklich gelungen. Selbstverständ- Schulausbildung kommt auch noch eine schlechte Erzie-
lich müssen wir zuallererst diejenigen fragen, die in den hung hinzu. Das wiederum kennzeichnet den Reparatur-
Bundesländern in Regierungsverantwortung sind, wa- betrieb, den wir uns nicht länger leisten dürfen. Das De-
rum das nicht geschehen ist. fizit beginnt bei der frühkindlichen Bildung, es setzt sich
(Zuruf von der FDP: Ganz genau!) in den Schulen fort und reicht bis hin in die weiterbil-
denden Anstalten. Wir müssen dazu kommen, am An-
Die grundlegenden Weichen des gesamten Bildungs- fang mehr zu investieren und die frühkindliche Bildung
systems bzw. der gesamten Bildungslaufbahn werden zu fördern.
deshalb ganz am Anfang gestellt, weil dadurch eine be-
sonders gute Integration und frühkindliche Förderung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sozial schwacher Kinder möglich wird. Wir können sie der CDU/CSU)
besonders gut erreichen und das ausgleichen, was die El-
Wenn nun die Zahl der Auszubildenden rückläufig ist
ternhäuser nicht leisten. Wir müssen deshalb darauf ein
und diese oftmals nicht ausbildungsreif sind, dann ergibt
besonderes Augenmerk haben – und fördern, fördern,
sich eine doppelte Schieflage. Die individuelle Förde-
fördern. Denn den Reparaturbetrieb, von dem zu lesen
rung in den Schulen muss gesteigert werden, damit jeder
ist, dürfen wir uns nicht länger erlauben.
Einzelne die Chance hat, einen Abschluss zu erreichen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dazu gehört die Erziehungsunterstützung in den Schu-
der CDU/CSU) len, und dazu gehören Rahmenbedingungen, die viel
besser sein müssen als die, die wir heute in den Schulen
Kinder früh stärken heißt, Perspektiven zu eröffnen. vorfinden.
Wenn wir Perspektiven eröffnen, gelingen auch die
Übergänge. Übergänge sind besonders kritische Situatio- (Zuruf von der SPD: Sozialarbeit!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12183
Sylvia Canel
(A) Die Potenziale aller Schüler müssen gehoben werden. grund der Tatsache, dass eine kleine Kohorte junger (C)
Früh müssen Perspektiven entwickelt werden, und die Leute eine große Kohorte alter Menschen unterstützen
Berufsorientierung in den Schulen muss früher erfolgen muss. Wenn von dieser kleinen Kohorte junger Leute
und deutlich gestärkt werden. Dazu gehören eine engere noch 17 Prozent dazu nicht nur keinen Beitrag leisten
Vernetzung der Schulen mit ihrem Umfeld und eine stär- können, sondern selbst wahrscheinlich ein Leben lang
kere Kooperation mit den Unternehmen vor Ort. Das alimentiert werden müssen, dann ist das volkswirtschaft-
muss – auch das sagt die PISA-Studie der OECD, und lich nicht mehr zu schultern.
auch wir haben das schon länger immer wieder erklärt –
Hand in Hand mit der Eigenständigkeit der Schulen ge- Deswegen reicht es auch nicht aus, ein bisschen am
hen. Die erfolgreichsten Länder sind diejenigen Länder, Übergangssystem zu verbessern. Nein, Frau Schavan,
in denen die Schulen ein hohes Maß an Eigenständigkeit das Übergangssystem in dieser Form ist nach wie vor ein
haben, Eigenständigkeit zur individuellen Förderung, Ei- Dschungel. Es gibt immer noch mehr als 200 Maßnah-
genständigkeit, möglichst früh mit der Förderung zu be- men in diesem Bereich. Es kostet uns jährlich 4 Milliar-
ginnen, und Eigenständigkeit, um mit den Unternehmen den Euro. Alle Evaluierungsergebnisse zeigen, dass das
zu kooperieren, damit die Berufsbildung früher beginnen Übergangssystem seine Aufgabe, nämlich die Jugendli-
kann. chen, die nicht ausbildungsfähig sind, ausbildungsfähi-
ger zu machen, nicht erfüllt. Deswegen muss dieses
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Übergangssystem ersetzt werden.
der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Durchlässigkeit von der Lehre zur Hochschule sowie bei Abgeordneten der SPD)
muss verbessert werden. Auch diejenigen, die aus nicht-
akademischen Berufen kommen, müssen die Möglich- Jetzt will ich als Erstes ein ganz deutliches Bekennt-
keit erhalten, in der Universität einen höheren Abschluss nis zum dualen System abgeben. Das duale System ist
zu erlangen. Genau dieses Segment müssen wir stärken. gut, ja,
Wir müssen für all diejenigen offen sein, die in ihre ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gene Bildung investieren; deshalb müssen auch wir in bei der CDU/CSU und der FDP)
Bildung investieren.
aber leider nicht für alle. Das duale System hat struk-
Die Wissensgesellschaft erfordert eine gute Bildung
turelle Probleme. In einer Krise bilden Betriebe die Ju-
für alle von Beginn an. Jedem einzelnen jungen Men-
gendlichen nicht als Fachkräfte aus, die wir für den Auf-
schen muss die beste Bildung zuteilwerden. Den positi-
schwung brauchen.
ven Trend, der von diesem Bildungsbericht ausgeht,
(B) müssen wir verstetigen. Es gibt viel zu tun. Ich denke, (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt gar (D)
dass wir auf dem richtigen Weg sind. nicht!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das ist ein strukturelles Problem.
der CDU/CSU)
Zweitens. Viele der kleinen Dienstleistungsbetriebe
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und viele der Neugründungen sind gar nicht in der Lage,
das gesamte Spektrum einer Ausbildung zur Verfügung
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
zu stellen. Die fallen quasi als Beteiligte des dualen Sys-
Bündnis 90/Die Grünen.
tems heraus. Das ist ein strukturelles Problem.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu Recht beklagt die Wirtschaft immer wieder, dass
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau viele der Jugendlichen keine Ausbildungsreife mitbrin-
Schavan, Sie haben darauf hingewiesen, dass es eine gen. Deswegen müssen wir dem dualen System eine Er-
positive Entwicklung gibt. Ich bin die Letzte, die das gänzung an die Seite stellen.
kleinreden will. Aber diese positive Entwicklung haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wir im Wesentlichen der demografischen Entwicklung
und dem wirtschaftlichen Aufschwung zu verdanken. Es Weil die Folgekosten extrem hoch sind – sie werden in
ist mir sehr wichtig, Sie darauf hinzuweisen, dass alle den nächsten Jahren 15 Milliarden Euro betragen –, sa-
Experten davon ausgehen, dass wir es bei denjenigen, gen wir: Lassen Sie uns das Übergangssystem in eine
die es in die Ausbildung geschafft haben, auch mit Crea- Berufsausbildung mit Kammerabschluss überführen.
ming-Effekten zu tun haben. Schieben Sie die Jugendlichen, die jetzt keinen Ausbil-
dungsplatz im dualen System bekommen haben, nicht
Wir steuern auf eine verfestigte Jugendarbeitslosig-
weiter in dieses perspektivlose Übergangssystem ab,
keit zu, wenn wir nichts tun.
sondern legen Sie ein Sofortprogramm auf, mit dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Jugendlichen in einer überbetrieblichen Ausbil-
und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte dungswerkstatt nach einem ganz veränderten und neuen
[DIE LINKE]) System eine Ausbildung mit Kammerabschluss bekom-
men!
Frau Schavan, wenn 17 Prozent einer Alterskohorte
keine Ausbildung haben, dann ist das ein riesiges volks- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wirtschaftliches Problem, vor allem vor dem Hinter- sowie bei Abgeordneten der SPD – Heiner
12184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Brigitte Pothmer
(A) Kamp [FDP]: Das wollen Sie doch gar nicht! nigen Unternehmern gesagt werden, die ausbilden. Da- (C)
Damit haben Sie immer was zu schimpfen!) rüber hinaus geht ein Dank an die Partner des
Ausbildungspaktes. Wir hätten uns gewünscht, dass die
Die Ausbildung muss modularisiert werden. Die Aus-
Gewerkschaften mitmachen und nicht vor der Tür stehen
bildung in den überbetrieblichen Ausbildungswerkstät-
bleiben.
ten braucht sehr hohe Praxisanteile. Insgesamt muss je-
der Jugendliche, der jetzt arbeitslos ist, vom Jobcenter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sofort ein Angebot für eine Ausbildung bekommen. Wir
Wir haben zwei große Aufgaben am Ausbildungs-
steuern auf ein Problem zu, das lautet: extrem hoher
markt zu erfüllen.
Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Jugendarbeits-
losigkeit. Frau Schavan, das ist nicht im Sinne der Volks- Es gibt zum einen immer mehr Unternehmer, die
wirtschaft, und das können Sie im Hinblick auf die indi- keine ausbildungsgeeigneten Jugendlichen finden. Der
viduellen Chancen, die die Jugendlichen verdient haben, drohende Fachkräftemangel ist eines der großen Themen
nicht zulassen. der nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Für uns,
die Unionsfraktion, gilt ganz klar, dass die Qualifizie-
Ich danke Ihnen.
rung der heimischen Bevölkerung Priorität gegenüber ei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nem Mehr an Zuwanderung aus dem Ausland hat.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es gibt zum Zweiten nach wie vor zu viele Jugendli-
che, die den Einstieg in die Ausbildung nicht schaffen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es ist richtig: 1,4 Millionen Jugendliche ohne Berufsab-
Das Wort hat nun Albert Rupprecht für die CDU/ schluss, das ist viel zu viel. Es ist aber auch richtig, Frau
CSU-Fraktion. Ziegler, dass diese Jugendlichen die Folgen der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schröder’schen Ausbildungskrise zu ertragen haben.
Das sind im Grunde genommen Altlasten, die wir abzu-
arbeiten haben.
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Liebe Frau Pothmer, Ihre Zustandsanalyse war nichts, neten der FDP – Widerspruch bei der SPD)
was sich im Berufsbildungsbericht 2011 widerspiegelt.
Wir konnten in den letzten beiden Jahren die Zahl der
Die wesentlichen Ergebnisse dieses Berichts sind: Es
Altbewerber zwar um 30 Prozent verringern – das ist ein
gab 2010 deutlich mehr Ausbildungsplätze als erwartet.
hervorragender Wert –, aber es sind in der Tat immer
Die Zahl der Jugendlichen in Warteschleifen ist drama-
noch zu viele. Beim Dresdner Bildungsgipfel haben die
(B) tisch gesunken. Auch 2011 geht es aufwärts. Wir erwar- (D)
Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten beschlos-
ten 14 Prozent mehr Ausbildungsplätze. Das sind sehr
sen, dass die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis
gute Nachrichten für unsere Jugendlichen.
2015 von 8 auf 4 Prozent halbiert wird und dass ebenso
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsabschluss von
17 auf 8,5 Prozent halbiert wird. Ich finde, das sind ehr-
Die demografische Entwicklung ist eine Ursache für geizige Ziele.
die guten Ergebnisse, aber bei weitem nicht die einzige.
Wir erleben, dass in fast allen europäischen Ländern die Das Herzstück unserer Maßnahmen ist – Ministerin
Zahl der Jugendlichen demografiebedingt sinkt. Wir er- Schavan hat es dargestellt – das Konzept der Bildungs-
leben auch, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ketten. Wir nehmen die gefährdeten Kinder künftig be-
sehr unterschiedlich ist: In Deutschland liegt sie bei reits in der siebten Klasse an die Hand – wesentlich frü-
7 Prozent; in Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien, her als bisher – und begleiten sie kontinuierlich und
Belgien, Schweden und vielen anderen europäischen individuell in die Ausbildungszeit hinein. Frühzeitig,
Ländern beträgt sie dagegen 20 bis 40 Prozent. Man kontinuierlich und individuell, das ist die neue Qualität
spricht in diesen Ländern von verlorenen Generationen. der Bildungsketten.
Während die Länder um uns herum in Schulden und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
in Arbeitslosigkeit versinken, ist Deutschland unter der
Richtig ist auch, dass wir die Vielzahl der Programme
Kanzlerschaft von Angela Merkel gestärkt aus den gro-
im Übergangssystem überarbeiten müssen. Deswegen
ßen Krisen – aus der Wirtschaftskrise, der Finanzkrise
gilt es, nicht alles zur Seite zu schieben und kaputtzuma-
und der Euro-Krise – hervorgegangen.
chen, sondern, herauszufinden, was erfolgreich war.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
neten der FDP)
NEN]: Wie lange wollen wir das noch ma-
Diese Stärke kommt am Ausbildungsmarkt an. Unsere chen?)
Jugendlichen werden gebraucht. Die Zukunftsaussichten
Das muss ausgebaut werden. Darüber hinaus gilt, zu sor-
unserer Jugendlichen sind so gut wie selten zuvor.
tieren, welche Programme erfolglos waren, und die Kraft
Die zweite Ursache für die sehr guten Jugendarbeits- aufzubringen, diese zu streichen. Wir erwarten von der
losigkeitswerte in Deutschland im Vergleich zu anderen Bundesregierung zeitnahe, inhaltlich überzeugende Be-
Ländern ist das nach wie vor exzellente duale Ausbil- schlüsse. Darüber hinaus erwarten wir von den Ländern
dungssystem. An dieser Stelle muss ein Dank all denje- und von den Kommunen, dass sie sich gemeinsam mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12185
Albert Rupprecht (Weiden)
(A) der Bundesregierung an einen Tisch setzen und den Erstens. Es ist hier schon benannt worden, dass die (C)
Wildwuchs, der zu Recht kritisiert wurde, beenden. Situation junger Menschen mit Migrationshintergrund
am Ausbildungsmarkt deutlich schlechter ist als die der-
Bei der Erreichung der Dresdner Ziele trägt der Bund
jenigen ohne Migrationshintergrund.
Verantwortung. Ganz klar ist: Die Länder haben die
Hauptverantwortung. (Heiner Kamp [FDP]: Auch darauf haben wir
hingewiesen!)
Wenn wir die Schulabbrecherquoten anschauen, dann
zeigt sich wieder das klassische Bild: Die besten Werte Nur jedem Vierten gelingt der Übergang von der Schule
haben die unionsgeprägten Länder Baden-Württemberg in die Ausbildung problemlos. Es gehört zu den gern zi-
und Bayern und in Ostdeutschland die unionsgeprägten tierten Binsenwahrheiten, dass wir trotzdem auf keinen
Länder Thüringen und Sachsen. Wenn wir bis 2015 die von ihnen verzichten können. Ich glaube schon, dass der
Dresdner Ziele erreichen wollen, dann müssen auch die Berufsbildungsbericht einige richtige Maßnahmen be-
schlechten Bundesländer massiv Gas geben. nennt, aber die Herausforderung ist weiter gehend. Wir
müssen noch entschlossener und vor allem rechtzeitig
Frau Ziegler, Sie hatten in Brandenburg über Jahre als
darauf reagieren.
Ministerin Verantwortung. Brandenburg ist eines der
Länder, die absolut miserable Werte abgeliefert haben. Ich will dazu ein Beispiel nennen. Frau Kollegin
Ziegler und auch Frau Kollegin Canel haben hier gerade
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schon darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, frühzeitig
NEN]: Das ist doch nur so dahergeplappert! –
einzugreifen, etwa in der Schule spezifische Problemla-
Dagmar Ziegler [SPD]: Quatsch!)
gen anzupacken. Deshalb war und ist es richtig, mit
Die Kinder im SPD-geführten Brandenburg sind nicht Schulsozialarbeitern die Schulen darin zu unterstützen,
dümmer als die Kinder aus dem CDU-geprägten Sach- ihre Integrationsarbeit und auch die Vorbereitung auf die
sen. Arbeitswelt zu verbessern, zu intensivieren.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir als SPD zu Be-
ginn dieses Jahres die 3 000 Stellen im Vermittlungsaus-
schuss nur durchsetzen konnten gegen den Widerstand
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
der Koalition und auch gegen den anfänglichen Wider-
Ich komme zum letzten Satz. – Deswegen ist es Auf-
stand der zuständigen Ministerin, die das noch auf dem
gabe der Länder, in die Pötte zu kommen. Ich sage es
Bildungsgipfel 2008 abgetan hat. Wir müssen jetzt dafür
noch einmal: Insbesondere die SPD-geführten Länder,
(B) sorgen, dass die Kommunen nach 2013, wenn die Finan- (D)
die bis dato miserable Werte abliefern, müssen ihre Ar-
zierungszusage des Bundes ausläuft, diese Stellen erhal-
beit in diesem Bereich verbessern.
ten können. Wir müssen die Zusage geben, dass die
Danke schön. Kommunen die Stellen weiter finanziert bekommen und
wir die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht im Stich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lassen.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): (Beifall bei der SPD)
Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPD- Ausbildung und Arbeit sind zentrale Voraussetzungen
Fraktion. für gesellschaftliche Teilhabe. Gerade deshalb ist es
(Beifall bei der SPD) wichtig, politische Maßnahmen für junge Menschen mit
Migrationshintergrund zu ergreifen, um ihnen zu zeigen:
Ihr gehört zu uns. Ihr seid wichtig für unsere gemein-
Oliver Kaczmarek (SPD):
same Zukunft. Deshalb helfen wir euch dabei, einen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade ist
Platz in der Gesellschaft und eine Zukunft in dieser Ge-
der Satz gefallen, dass die Zukunftsaussichten für junge
sellschaft zu finden. – Das muss unser politischer An-
Menschen selten so gut waren, wie das im Moment der
spruch sein, und das ist unser politischer Ansatz. Da
Fall ist. Das mag für einige zutreffen; die Lebenswirk-
nützt es nichts, die Zahlen ansonsten schönzureden; wir
lichkeit für viele Jugendliche sieht aber leider anders
müssen politisch handeln.
aus, und einige von denen wohnen auch in Bayern oder
Baden-Württemberg. (Beifall bei der SPD)
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Ein zweites Thema. Viele Unternehmen haben den
Ganz wenige!) Bedarf an Fachkräften erkannt und geben jungen Men-
schen nach der Ausbildung die Möglichkeit, in die Er-
Deswegen nützt es nichts, wenn wir hier die Zahlen
werbstätigkeit überzugehen. Aber wir dürfen die Augen
schönreden und Erfolge betonen; wir müssen die Le-
nicht davor verschließen, dass sich ein anderer Trend im-
benswirklichkeit junger Menschen zur Kenntnis nehmen
mer weiter verstärkt. Wie ist es denn mittlerweile für
und die Probleme benennen. Das will ich bei zwei The-
junge Menschen, die mit 20 Jahren ihre Berufsausbil-
men auch tun.
dung abgeschlossen haben, die vielleicht mit ihrer
(Beifall bei der SPD – Heiner Kamp [FDP]: Freundin oder ihrem Freund in die erste gemeinsame
Haben Sie mal zugehört?) Wohnung ziehen und die Grundlagen für die spätere Fa-
12186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Oliver Kaczmarek
(A) milienplanung legen wollen? Wie ist das für sie im wirk- Uwe Schummer (CDU/CSU): (C)
lichen Leben? Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Zunächst eine gute Botschaft in dieser Berufsbildungs-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wie ist denn
debatte: Die heutige Debatte ist, glaube ich, seit 2002,
das?)
seit ich dem Bundestag angehöre, die erste, in der von-
Für viele junge Menschen wird das Ende der Ausbil- seiten der Oppositionsfraktionen nicht die Ausbildungs-
dung zur Zitterpartie. Mehr als ein Drittel von ihnen platzabgabe gefordert wird.
steht danach auf der Straße. Das ist die Wirklichkeit.
Viele bekommen nur einen befristeten Vertrag oder kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nen lediglich als Leiharbeitnehmer zu schlechteren Kon- Das zeigt: Auch Sie sind lernfähig. Das nehmen wir mit
ditionen im gleichen Betrieb bleiben. Das ist ein Zu- großer Freude und Optimismus zur Kenntnis.
stand, der – das ist hier gerade schon benannt worden –
gesellschaftlich und volkswirtschaftlich nicht zulässig Eine Botschaft des Berufsbildungsberichts lautet: Die
sein sollte und den wir politisch ernsthaft diskutieren duale Ausbildung ist in der Europäischen Union, wo sie
müssen. in der Anerkennungsrichtlinie negativ bewertet wurde,
auch dank Annette Schavan aus der Benachteiligtenecke
(Beifall bei der SPD) herausgeholt worden. Heute ist die duale Ausbildung,
Die sogenannte zweite Schwelle nach der Ausbildung wie sie in Deutschland existiert, ein Vorbild sowohl im
ist ein Thema für den Deutschen Bundestag; das müssen europäischen Bildungsraum als auch global. Durch die
wir politisch konsequent in den Blick nehmen: Gleichstellung des Bachelors mit den Weiterbildungsbe-
rufen des Meisters und des Technikers, auch mit Blick
Erstens. Das Ziel ist natürlich die unbefristete Über- auf den europäischen Bildungsraum, wollen wir dafür
nahme; denn nach einer mehrjährigen Ausbildung im sorgen, dass Abitur und qualifizierte Ausbildungsberufe
Betrieb braucht es eigentlich keine Probezeit mehr. Die wie Mechatroniker gleichwertige Chancen bieten.
unbefristete Übernahme wäre für die jungen Menschen
eine vernünftige Perspektive. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD) Das sind unsere Maßnahmen, die dazu geführt haben,
dass unser System der dualen Ausbildung heute auch in
Zweitens. Leih- und Zeitarbeit dürfen nicht zum Dau-
erzustand für einen immer größer werdenden Teil der Brüssel als Vorbild gesehen wird.
jungen Generation werden. Über dieses Thema haben Dass die duale Ausbildung einen gewissen Stellen-
wir oft genug gesprochen. wert in Deutschland und Akzeptanz bei den Unterneh-
Drittens. Es zeigt sich immer häufiger, dass insbeson- men hat, zeigen die folgenden Zahlen: In Deutschland
(B) (D)
dere junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befris- liegt die Arbeitslosigkeit bei der Gruppe der Ungelernten
tete Arbeitsverhältnisse angeboten bekommen – ohne bei 30 Prozent; bei denen, die eine duale Ausbildung ab-
Begründung. Das geschieht nicht, weil es unternehme- solviert haben, liegt sie bei 5,1 Prozent; bei den Hoch-
risch notwendig wäre, sondern deshalb, weil es rechtlich schulabsolventen liegt sie bei 3,2 Prozent; bei denen, die
möglich ist. Aus diesem Grunde ist es wichtig und rich- eine duale Weiterbildung, zum Beispiel Meister oder
tig – auch darüber haben wir im Plenum schon gespro- Techniker, absolviert haben, liegt sie bei 2,8 Prozent.
chen –, dass die sogenannte sachgrundlose Befristung Das zeigt die Bildungsrendite, die mit der dualen Ausbil-
endlich gestrichen wird. dung einhergeht.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Junge Menschen, deren Wunsch es ist, nach Bildung
und Ausbildung auf eigenen Füßen zu stehen, die eine Wir wissen: Gut fördert, wer früh fördert. Wir haben
Familie gründen wollen – was sie auch sollen und was viele Themen, über die wir, auch mein geschätzter Kol-
wir politisch unterstützen –, die sich zugleich weiterbil- lege Willi Brase,
den und für die Einhaltung des Generationenvertrages
(Willi Brase [SPD]: Danke schön!)
einstehen sollen, die also am Beginn der sogenannten
Rushhour des Lebens stehen, brauchen Perspektiven und hier seit Jahren sprechen, in Angriff genommen. Wir ha-
Sicherheit. Wenn dieses zentrale Versprechen der sozia- ben ein Bildungspaket aufgelegt, um besonders die
len Marktwirtschaft – wenn du Leistung bringst, dann 2,5 Millionen Kinder und Jugendlichen zu fördern, die
bekommst du auch materielle Sicherheit – nicht einge- aus Familien kommen, die ihre Kinder nicht entspre-
halten wird, dann wird die Akzeptanz sinken. Deswegen chend unterstützen können. Zu dem Paket gehören das
ist politische Eile geboten. Schulstarterpaket, die Schulspeisung, unterstützender
Herzlichen Dank. Unterricht und weitere Maßnahmen. Mit dieser frühzei-
tigen Förderung über die Kommunen versuchen wir, zu
(Beifall bei der SPD) verhindern, dass negative Sozialkarrieren von einer Ge-
neration auf die nächste übergehen, und wir versuchen,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den Ausstieg aus Hartz IV und den Aufstieg durch Bil-
Das Wort hat nun Uwe Schummer für die CDU/CSU- dung zu organisieren. Unsere christlich-liberale Koali-
Fraktion. tion hat dieses Thema verstärkt in Angriff genommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12187
Uwe Schummer
(A) Wir, die wir leidend vom Niederrhein bei Düsseldorf Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
kommen, müssen feststellen: Nachdem der Bund die Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
Schulspeisung für Kinder und Jugendliche aus hilfebe- gen Thomas Oppermann.
dürftigen Familien organisiert hat, streicht die rot-grüne
Landesregierung diese.
Thomas Oppermann (SPD):
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Lieber Herr Kollege Schummer, ich habe mich zu
Skandal! – Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Un- dieser Kurzintervention gemeldet, weil Sie vorhin ge-
glaublich!) schummelt haben. Sie haben davon berichtet, dass in den
Ländern die Mittel für die Schulspeisung gekürzt wer-
51 Millionen Euro werden ersatzlos gestrichen. Das ist den. Dabei haben Sie unterschlagen, dass in den Geset-
Ihre Doppelstrategie: In Berlin fordern Sie Geld, und in zen, die wir nach Vermittlungsverfahren hier gemeinsam
Düsseldorf, wo Sie regieren, streichen Sie die Mittel er- verabschiedet haben, der Vorrang der Bundesleistung
satzlos. beim Essensgeldzuschuss des Bundes für Kinder von
Hartz-IV-Empfängern festgeschrieben wird. Das heißt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- die Länder müssen keine Mittel für den Essensgeldzu-
derspruch bei der SPD – Albert Rupprecht schuss bereitstellen. Sie können diese Mittel einsetzen,
[Weiden] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) um beispielsweise Schulsozialarbeiter einzustellen, um
In der Opposition den Lautsprecher machen und sich die Qualität der Ausbildung zu verbessern oder um Un-
dort, wo Sie regieren, als Leisetreter aus dem Staube ma- terrichtsausfall zu bekämpfen.
chen: Das ist Ihre Mentalität, Herr Schulz. Das erleben Das war der Sinn der Sache. Sie dürfen also nicht von
wir nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Berlin. willkürlichen Einsparungen sprechen. Dass die Länder
Gut fördert, wer systematisch fördert. Deshalb gibt es keine Mittel mehr für den Essensgeldzuschuss geben
die Bildungsketten. müssen, ist von uns gewollt. Denn in dem Gesetz, das
Sie gemeinsam mit uns verabschiedet haben, steht, dass
der Essensgeldzuschuss des Bundes vorrangig ist und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: von den Ländern nicht gezahlt werden muss.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:
Kollegen Oppermann? Beim Schummeln erwischt! Ungenügend!)

Uwe Schummer (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:


(B) (D)
Ich weiß, Herr Kollege Oppermann, dass Sie mir Bitte schön, Herr Kollege Schummer.
mehr Redezeit gönnen. Aber ich komme mit meiner Re-
dezeit aus. Vielen Dank für Ihr Angebot.
Uwe Schummer (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Die Kritik, die ich geäußert habe, bezog sich auf das
rufe von der SPD: Oh! – Swen Schulz [Span- ersatzlose Streichen. Wir sind uns doch darin einig, dass
dau] [SPD]: Ganz schwach!) wir mit dem Bildungspaket die Bildungsausgaben von
Bund, Ländern und Kommunen insgesamt erhöhen wol-
Wir organisieren mit den Ausbildungsketten endlich len. Wenn also durch das Ausweiten von Bundesmitteln
eine systematische Förderung beim Übergang von der auf Landesebene Gelder eingespart werden, dann ist un-
Schule in den Beruf. Das wirkt natürlich motivierend: sere Erwartung als Bildungs- und Forschungspolitiker,
Der Jugendliche merkt, dass er durch eine berufsqualifi- dass die so eingesparten Mittel – in Düsseldorf sind es
zierende Maßnahme eine Perspektive bekommt und dass 51 Millionen Euro – beispielsweise für den Förderunter-
er kein Hartzer wird. Er wird deswegen in der Schule richt oder für andere Maßnahmen zur Unterstützung von
stärkere Anstrengungen unternehmen, um den Ab- Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden
schluss zu schaffen.
(Thomas Oppermann [SPD]: Das passiert
Wir müssen gemeinsam organisieren, dass die Abbre- doch!)
cherquote bei den Auszubildenden von derzeit 22 Pro-
zent abgesenkt wird. Die Hälfte derer, die ihre Ausbil- und nicht ersatzlos gestrichen werden. Sie aber streichen
dung abbrechen, tun dies deswegen, weil sie den diese Mittel in Düsseldorf ersatzlos.
falschen Beruf gewählt oder weil sie den falschen Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
trieb gefunden haben. Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das stimmt
Die Ausbildungsketten bedeuten einen systemati- doch nicht! Eine Schummerei! – Weitere Zu-
schen Übergang zur beruflichen Qualifizierung und sind rufe von der SPD)
daher bitter notwendig. Wir fördern frühzeitig mit dem
Bildungspaket, und wir fördern systematisch mit den Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bildungsketten. Das ist die Botschaft des Berufsbil- Das Wort hat nun Kollegin Katja Mast für die SPD-
dungsberichts, die wir gemeinsam unterstützen sollten. Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)
12188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

(A) Katja Mast (SPD): Lassen Sie uns einmal schauen, was Sie bei der Re- (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! form der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf den
Wir von der SPD führen die Diskussion über den Berufs- Tisch gelegt haben. Heute gibt es 1 200 Berufseinstiegs-
bildungsbericht mit dem Ziel: Keiner darf verloren ge- begleiter an den Schulen; Olaf Scholz hat sie eingeführt.
hen; kein Jugendlicher darf ohne Schulabschluss und Sie begleiten Jugendliche an der Schwelle zwischen
ohne Berufsabschluss ins Leben entlassen werden. Das Schule und Ausbildung. Jetzt gibt es im Haushalt des
ist unser Ziel, und das unterscheidet uns von Ihnen. Bundesministeriums für Bildung und Forschung Mittel
für weitere 1 000 Berufseinstiegsbegleiter. Das ist eine
(Beifall bei der SPD) Parallelstruktur; aber das ist nicht so schlimm, Hauptsa-
che, es gibt Berufseinstiegsbegleiter. Jetzt schreiben Sie
1,5 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und
im Zusammenhang mit der Reform der arbeitsmarktpoli-
29 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Das wurde
tischen Instrumente auf, dass Sie die Berufseinstiegsbe-
heute schon mehrfach erwähnt. Aber ich habe keine Ant-
gleiter toll finden und es sie an jeder Schule geben soll.
wort von der Bundesregierung auf die Frage gehört, wie
Aber Sie geben nicht das Geld, das nötig ist, damit es sie
dieses Problem behoben werden soll. Wir fordern ein
an jeder Schule geben kann.
Bundesprogramm, das diesen jungen Menschen eine
zweite Chance gibt, damit die Wirtschaft die Fachkräfte, (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
die sie braucht, um unseren Wohlstand zu erhalten, fin- [SPD])
det und qualifiziert. Was aber machen Sie als Bundes-
Sie sagen, es solle hier eine Kofinanzierung der Kom-
politiker gegen den Fachkräftemangel?
munen geben; aber Sie haben die Kommunen vorher mit
Ich finde es wirklich sehr bedauerlich, dass aus- Ihren ganzen Steuersenkungen geschröpft.
schließlich Frau Ministerin Schavan hier ist; Frau von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Leyen, die bei diesem Thema ebenfalls viel Verant- der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)
wortung trägt, ist heute nicht anwesend.
Woher soll denn das Geld für die Unterstützung der Aus-
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann bildungsfähigkeit der jungen Leute kommen? Das ist
[SPD]) doch die Frage; das ist ein Thema, über das wir diskutie-
Herr Fuchtel, ich sehe schon, dass Sie da sitzen; aber das ren müssen, wenn es darum geht, Jugendlichen eine
Thema ist mir so wichtig, dass ich gerne die „Führungs- Chance zu geben. Keiner darf verlorengehen.
attention“ der Ministerin hätte und nicht nur die des Wir müssen den Blick nach vorne richten und eine
Staatssekretärs. Allianz für Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutsch-
(B) land schaffen. Da versagt Ihre Regierung. Es ist schön, (D)
(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der
sich hinzustellen und zu sagen: Wir haben viele Einzel-
CDU/CSU und der FDP)
projekte. Wir brauchen aber ein Programm zur Stärkung
Warum sage ich das? Wir Bundestagsabgeordnete tragen der zweiten Chance. Wir brauchen ein System des Über-
die Verantwortung für den Bundeshaushalt; sehr viel Bil- gangs. Diese Übergangszeit sollte auf die Ausbildung
dungs- und Weiterbildungspolitik wird nicht im Haus- angerechnet werden; sie sollte nicht additiv vor die Aus-
halt von Frau Schavan verantwortet, sondern im Haus- bildung geschoben werden.
halt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Ich komme zu meinem letzten Punkt. Wir müssen da-
Schauen wir uns an, was in den nächsten Jahren pas- für sorgen, dass kein Jugendlicher in Deutschland mehr
sieren soll: Im Zeitraum von vier Jahren sollen 22,5 Mil- die Schule ohne Schulabschluss verlässt. 2009 gab es bei
liarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik gespart uns 60 000 Jugendliche, die die Schule ohne Haupt-
werden. schulabschluss verlassen haben. Die Bertelsmann-Stif-
tung hat festgestellt: Davon finden nur 20 000 einen
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Skandal!) Ausbildungsplatz. Das sind die Hilfeempfänger von
morgen; hier sind Ihre Investitionen notwendig. Wir
Das heißt, Sie wollen in der Arbeitsmarktpolitik das För- brauchen nicht nur schöne Worte und kalte Taten, wie
dern abschaffen und es beim Fordern belassen: Sie wol- wir sie bei dieser Regierung leider viel zu oft erleben.
len die Schaffung von Ausbildungsplätzen und die be-
rufliche Weiterbildung nicht mehr unterstützen; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-
(Heiner Kamp [FDP]: Das glauben Sie doch rufe von der CDU/CSU: Oh!)
selber nicht! Das haben Sie doch nicht aufge-
schrieben! – Uwe Schummer [CDU/CSU]:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das stimmt doch gar nicht!)
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU-
Sie wollen kein Programm der zweiten Chance für die Fraktion.
angesprochenen 1,5 Millionen jungen Erwachsenen zwi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schen 20 und 29 Jahren. Das ist die Konsequenz Ihrer
Sparpolitik im Bund.
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Birkwald [DIE LINKE]) Kollegen! 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum: Das haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12189
Nadine Schön (St. Wendel)
(A) die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute für das lau- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in unseren (C)
fende Jahr vorausgesagt. Das sollte uns alle freuen. Denn Anstrengungen für diese Jugendlichen nicht nachlassen
ein robustes und gesundes Wachstum sichert die Zu- wollen, wurde bei meinen Vorrednern deutlich. Ich är-
kunftsfähigkeit unseres Landes; darüber waren wir uns gere mich schon, liebe Kollegen, wenn Sie in Ihren Pres-
am Mittwoch im Wirtschaftsausschuss bei der Diskus- semeldungen und in Ihren Reden kontinuierlich die Er-
sion des Frühjahrsgutachtens fast alle einig. folge verschweigen und bei den Problemen so tun, als
seien sie erst unter CDU-Regierungen aufgetaucht und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
wir würden nichts dagegen tun.
Heiner Kamp [FDP]: Das gibt Anlass zur
Hoffnung!) (Willi Brase [SPD]: Das habe ich nicht gesagt,
Frau Schön! Sie haben nicht zugehört!)
Wir waren uns einig: Es gibt einige Risiken, die diese
positive Entwicklung abbremsen und gefährden können. Dass wir trotz Wirtschaftskrise eine so geringe Jugend-
Eines dieser Risiken ist der drohende Fachkräftemangel. arbeitslosigkeit haben, niedriger als in allen anderen eu-
ropäischen Ländern, und dass wir Jahr für Jahr mehr Ju-
Sehr geehrte Damen und Herren, der Fachkräfteman- gendliche in betriebliche Ausbildung vermitteln, ist ein
gel wird in den nächsten Jahren eines der entscheidenden großer Erfolg. Das dürfen Sie gern auch einmal anerken-
Themen für unsere gesamte deutsche Wirtschaft werden – nen.
vom kleinen Schlosserbetrieb bis zum großen Chemie-
konzern. Wir alle wissen, es braucht ein Bündel von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
Maßnahmen, um diesem Fachkräftemangel zu begeg- ruf von der FDP: Alles madig machen!)
nen. Eine ganz entscheidende Maßnahme ist mit Sicher-
heit die berufliche Bildung. Fachkräftesicherung durch Wenn wir über Fachkräfte sprechen, dann geht es
berufliche Bildung, das heißt Ausbildung, und das heißt auch darum, leistungsstarke Jugendliche für eine Ausbil-
auch lebenslange Fort- und Weiterbildung. dung zu begeistern. Das Handwerk hat mit einer sehr gu-
ten Kampagne vorgelegt, in der es darauf aufmerksam
Zum Thema Ausbildung ist vieles gesagt worden. Es macht, dass es gerade in Handwerksbetrieben innovative
gibt viel Licht, und ja, es gibt auch Schatten. Das ist in und zukunftsträchtige Berufe und viele Chancen gibt.
dieser Debatte deutlich geworden. Die positive Nach- „460 000 Innovationen. Und das Patentamt haben wir
richt ist aber doch, dass uns auch der demografische auch gebaut“ – das ist einer der Slogans, der für die In-
Wandel mit dem drohenden Fachkräftemangel dabei novationskraft des Handwerks mit seinen attraktiven Be-
hilft, noch mehr Licht dahin zu bringen, wo vorher rufen wirbt. Diese Attraktivität zu erhöhen, ist auch Auf-
Schatten war. Der demografische Wandel gibt uns die gabe der Politik. Hier können wir unterstützen: zum
Chance, auf die jungen Menschen zuzugehen und ihnen Ersten durch eine bessere Durchlässigkeit des Systems,
(B) eine Ausbildungsperspektive zu geben, die es vorher (D)
zum Zweiten durch bessere Berufsorientierung auch an
schwerer hatten. Liebe Kollegin Pothmer, ich weiß gar Gymnasien und zum Dritten vor allem dadurch, dass wir
nicht, was daran schlecht sein soll. Ausbildung im dualen System wertschätzen und als
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wichtigen Baustein unserer Wirtschaft auf Augenhöhe
Willi Brase [SPD]: Gar nichts! Das zu behe- mit den Akademikern anerkennen. Die Ministerin hat es
ben, ist entscheidend!) gesagt: Dazu gibt der Nationale Qualifikationsrahmen
Gelegenheit.
Das betrifft in erster Linie die Altbewerber, das be-
trifft Jugendliche mit besonderen Problemen, und das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
betrifft Jugendliche mit Migrationshintergrund. Diese Abschließend will ich einen Teil der beruflichen Bil-
drei Gruppen stehen noch stärker als zuvor im Fokus der dung erwähnen, der heute leider nicht angesprochen
Bemühungen. Nicht nur die Politik, sondern auch die wurde, aber sehr wichtig ist. Das ist das Thema der Fort-
Wirtschaft sieht sich diesen jungen Menschen gegenüber und Weiterbildung. Der Berufsbildungsbericht widmet
in der Pflicht. Deshalb bilden sie einen Schwerpunkt sich diesem Bereich mit einem eigenen Kapitel. Wäh-
beim nationalen Ausbildungspakt, der im letzten Jahr rend der Kurzarbeit haben beispielsweise bei uns im
verlängert wurde. Das sind nicht nur Lippenbekennt- Saarland viele Arbeitnehmer Weiterbildungsangebote
nisse. Das sieht man an den Zahlen. genutzt. Das hat mit dazu geführt, dass wir stärker aus
Die Zahl der Altbewerber ist in den vergangenen Jah- der Krise herausgekommen sind, als wir hineingegangen
ren um ein Drittel reduziert worden. Ja, es gibt noch sind.
185 000 Altbewerber. Für jeden dieser 185 000 ist es (Willi Brase [SPD]: Eine Leistung der SPD in
schlimm, wiederholt keinen Ausbildungsplatz gefunden der Großen Koalition!)
zu haben. Das will ich gar nicht kleinreden. Aber 2008
waren es noch über 260 000. Jeder dieser jungen Men- Weiterbildung und lebenslanges Lernen sollen in
schen, der nun eine Perspektive hat, ist eine Erfolgsge- Deutschland selbstverständlich sein. Die Politik muss
schichte, und hinter jedem dieser jungen Menschen ste- dazu Rahmenbedingungen schaffen, Anreize setzen. Der
hen ein engagierter Betrieb und ein Team von Berufsbildungsbericht stellt die Initiativen dar. Rein-
Pädagogen und engagierten Sozialarbeitern, die diesen schauen lohnt sich. Die Fort- und Weiterbildung ist
Weg ermöglicht haben. All denjenigen sollten wir heute ebenfalls ein wichtiger Faktor gegen Fachkräftemangel.
Morgen ein großes Dankeschön senden. Das sollten wir noch stärker forcieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
12190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es ist so, wie Anette Hübinger immer sagt: Die SPD (C)
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- schafft zuerst den Missstand, um ihn später zu beklagen.
men. Damit ist glücklicherweise Schluss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Willi Brase [SPD]: Das ist doch lächerlich! –
Liebe Kollegen, ich komme zum Schluss. – In einem Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
dynamischen Land mit einem hohen Bedarf an Fachkräf- Lassen Sie sich mal was Neues einfallen!)
ten brauchen wir alle Menschen. Deshalb sollten wir uns
gemeinsam dafür einsetzen. Ich halte nichts – heute wurde es angesprochen – von
Ausbildungsgarantien und einer Zwangsübernahme. Wir
Vielen Dank. haben heute vor einer Woche ein Gespräch mit dem Prä-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sidium des DGB geführt. Ich musste feststellen: Man
muss wirklich häufiger mit diesen Menschen reden,
denn man stellt fest, dass die Gewerkschaften viel ver-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nünftiger sind als die linke Opposition hier in diesem
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Haus.
erteile ich Kollegen Michael Kretschmer für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
chen bei Abgeordneten der SPD – Willi Brase
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [SPD]: Warum haben Sie den Pakt nicht ange-
fasst? Weil Sie sich geweigert haben, Wahrhei-
Michael Kretschmer (CDU/CSU): ten anzuerkennen!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Ich finde es bemerkenswert, dass eine frühere Ar-
Herren! Am Ende dieser Debatte ist es gut, die Sachen
beitsministerin aus Brandenburg sich hier hinstellt und
noch einmal zurechtzurücken
schimpft wie ein Rohrspatz, aber nicht über das, was Sie
(René Röspel [SPD]: Nach rechts zu rücken!) in Brandenburg falsch gemacht haben, weswegen es dort
so viele Schulabbrecher gibt und so viele schlechte Leis-
und auf die Realitäten und die wirklichen Fakten zurück- tungen herauskommen.
zukommen.
(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die Situation im Bereich der Ausbildung in Deutsch- NEN]: Wir sind hier im Bundestag, nicht in
land hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend Brandenburg!)
verändert. Vor fünf, sechs Jahren mussten wir noch häu- (D)
(B)
fig darüber sprechen, dass große Teile eines Jahrgangs Das wäre das richtige Thema für Ihre Rede bzw. für Ihre
– vor allen Dingen, wie die Bundesministerin richtiger- Kritik gewesen, Frau Kollegin.
weise sagte, in den neuen Ländern – ohne Ausbildung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn
geblieben sind. Es gab belastende Gespräche in Schul-
Wunderlich [DIE LINKE]: 20 Jahre schwarze
klassen. Ein Jugendlicher hat 30 bis 40 Bewerbungen
Bildungspolitik in Sachsen, danke! – Dagmar
geschrieben, und am Ende gab es nur Absagen. Das ge-
Ziegler [SPD]: Wir haben weder das eine noch
hört Gott sei Dank der Vergangenheit an. Wir haben
das andere in Brandenburg!)
heute eine grundlegend andere Situation. Heute kann je-
der, der die Leistung erbringt, einen Ausbildungsplatz Was wir heute einfordern müssen, ist: Leistung. Wir
bekommen. Das ist eine gute Nachricht. brauchen Leistungsorientierung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Willi Brase [SPD]: Geben Sie den Menschen
neten der FDP) doch eine Chance, Leistung zu erbringen!)
Die Feindbilder, die die linke Opposition in der Ver- Die Zahlen belegen zwar, dass jeder Jugendliche eine
gangenheit aufgebaut hat, haben schon früher nicht ge- Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, aber wir brau-
taugt, um die Probleme und die Situation richtig zu be- chen auch vernünftige Ergebnisse nach Abschluss der
schreiben, geschweige denn, sie zu lösen. Heute sind sie Realschule oder der Hauptschule. Ich finde schon, dass
absurd. Deswegen muss man auf den Kern zurückkom- von diesem Platz aus gesagt werden muss: In Deutsch-
men: Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft, so- land hat jeder eine Chance auf einen Aufstieg, wenn er
wohl für den jungen Menschen als auch für den Unter- die Leistung erbringt, und dies ist auch möglich.
nehmer. Deswegen kann man Bildungspolitik, berufliche
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bildung, nicht ohne Wirtschaftspolitik denken. Deswe-
gen war das, was wir vor Jahren erlebt haben – auch in Dass die linke Opposition sich hier als Anwalt der
den alten Bundesländern –, das Ergebnis einer verfehlten kleinen Leute aufspielt,
rot-grünen Wirtschaftspolitik.
(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
(Willi Brase [SPD]: Herr Kretschmer, hören BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Willi Brase
Sie auf! Wenn Sie uns nicht gehabt hätten, wä- [SPD]: Die kleinen Leute vergessen Sie! – Jörn
ren Sie nicht aus der Krise gekommen! Sie ha- Wunderlich [DIE LINKE]: Das glauben wir! –
ben doch geschlafen! – Weitere Zurufe von der Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
SPD) NEN]: Bitte ein bisschen mehr Substanz!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12191
Michael Kretschmer
(A) gefällt mir per se nicht. Ich glaube, so wie Sie es betrei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
ben, sind Sie keine Anwälte, sondern Sie wollen Vor- Ich schließe die Aussprache.
mund sein, Sie wollen selbst bestimmen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
(Widerspruch bei der SPD – Willi Brase den Drucksachen 17/5400 und 17/5489 an die in der Ta-
[SPD]: Ich weiß, wovon ich rede!) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie machen den Leuten keinen Mut, sondern Sie sagen: Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
Es ist alles furchtbar. – Aber es ist nicht furchtbar. Jeder der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
hat eine Chance in unserem Land! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie den Zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – satzpunkt 6 auf:
Willi Brase [SPD]: Deshalb sind Sie abge- 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
wählt worden!) Hempelmann, Dr. Matthias Miersch, Dirk
Ich sage ganz klar: Wir brauchen Eigenverantwor- Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
tung. Ich bin froh, dass endlich einmal ein Gericht eine der SPD
Mutter zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt Einsetzung eines Sonderausschusses „Atom-
hat, ausstieg und Energiewende“
(Willi Brase [SPD]: Was will der eigentlich?)
– Drucksache 17/5473 –
weil der eigene Sohn 477 Tage nicht in die Schule ge- Überweisungsvorschlag:
gangen ist. Das Gericht hat gesagt: Das kann ja wohl Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
nicht wahr sein. Die Eltern sind dafür verantwortlich. Geschäftsordnung

(René Röspel [SPD]: Es ist doch gut, dass der ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Staat hinguckt!) Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
(Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Es sind nicht die Unternehmen oder die Wirtschaft oder der SPD
die Politik oder die Lehrer, die daran schuld sind, dass
dieser junge Mensch keinen Ausbildungsplatz bekommt, Programm für eine nachhaltige, bezahlbare
sondern es sind die Eltern und der Jugendliche selbst, und sichere Energieversorgung
und das muss auch so benannt werden.
– Drucksache 17/5481 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Überweisungsvorschlag:
Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
(B) NEN]: Er kann doch nichts für seine Eltern!) Auswärtiger Ausschuss (D)
Innenausschuss
Nicht das geringe Einkommen ist das Problem. Das Finanzausschuss
Problem entsteht, wenn sich jemand nicht kümmert. Es Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
ist eine Beleidigung für alle Menschen – auch für solche Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
mit einem kleinen Einkommen –, die sich redlich um Ar- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beit bemühen, wenn Sie sich hinstellen und sagen: Die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
haben ja keine Chance. Aus denen wird sowieso nichts. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
(Willi Brase [SPD]: Das habe ich nicht gesagt! Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Sie lügen! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Entwicklung
Sie können noch nicht mal richtig zuhören! Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Schlimm!) Haushaltsausschuss

Nein, meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft ist Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
eine Aufstiegsgesellschaft, in der jeder eine Chance hat, die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
wenn er sich Mühe gibt. höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wei-
tere Zurufe von der SPD) Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
Unsere Arbeit der vergangenen Monate und Jahre mit
dem Bildungsgipfel, den Bildungsketten und dem Bil- (Beifall bei der SPD)
dungs- und Teilhabepaket führt zu einem Punkt, an dem
Ernst damit gemacht wird, denjenigen zu helfen, die Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
wirklich Schwierigkeiten haben. Ich bin froh darüber, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
dass wir hierfür in den vergangenen Monaten hohe Geld- Allgemeinen bin ich ein gelassener Mensch; aber diese
summen bereitgestellt haben. Das muss man anerkennen Gelassenheit fehlt mir in diesen Tagen, wenn ich die öf-
und akzeptieren. Wir sind auf einem guten Weg, den wir fentlichen Erklärungen von Herrn Brüderle und Herrn
weiter gemeinsam gehen sollten. Röttgen zur Energiepolitik lese. Das ist schon dreist, was
Vielen Dank. ich da in diesen Tagen lese.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Dabei sage ich Ihnen: Wer im Regierungsamt handelt,
Heil [Peine] [SPD]: Gute Nacht!) der kann falsch liegen. Wer nicht handelt, kann erst recht
12192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) falsch liegen. Aber wer sich so katastrophal irrt wie Sie, dieser schrecklichen Katastrophe werden wir in wenigen (C)
wer sich absichtsvoll, verantwortungslos über alle Be- Tagen zum 25. Mal begehen. Das ruft auch die Bilder
denken zur Kernkraft hinweggesetzt hat, wer sich noch von vor 25 Jahren wieder wach: 1,5 Millionen Hektar
vor einem halben Jahr öffentlich damit gebrüstet hat, Bodenfläche sind verseucht, 4 000 Menschen sind un-
dem Energiekonsens in diesem Land das Genick zu bre- mittelbar nach der Katastrophe gestorben, 350 000 Men-
chen und sich dafür feiern zu lassen, von dem erwarte schen wurden evakuiert – viele von ihnen sind später an
ich auch einen Moment der Demut. Krebs gestorben –, Kinder mit schweren Missbildungen,
die in ein Leben im Abseits hineingeboren wurden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, nicht Japan, nicht Fuku-
shima war der Lernort für Politik. Es waren die Unglü-
Ich finde es unerträglich, dass Sie gerade einmal drei cke vor Japan, die gezeigt haben, dass dies eine Hoch-
Wochen nach dem energiepolitischen Super-GAU Ihrer risikotechnologie ist, die letztlich von den Menschen
Parteien so tun, als hätten Sie immer an der Spitze der nicht beherrschbar ist.
Bewegung für eine neue Energiepolitik in diesem Lande
gestanden. Aber das passt am Ende auch zu der Kanzle- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rin. DIE GRÜNEN)
Glauben Sie mir: Ich schätze Herrn Töpfer. Ich ver- Das ist die traurige Botschaft, die wir seit mindestens
mute sogar, ich schätze ihn mehr als einige aus den Rei- 25 Jahren kennen. Aber Ihre Bundeskanzlerin hat sich
hen der Regierungsparteien. noch 2009 vor das Deutsche Atomforum gestellt und
Tschernobyl als den Betriebsunfall eines verlotterten
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wohl wahr!) Sowjetkommunismus bezeichnet. Ein paar Monate spä-
Aber ich sage Ihnen auch: Was ist das für eine Dreistig- ter hat sie sogar vollmundig angekündigt, die Laufzeit-
keit, wenn ausgerechnet diejenigen, die den bestehenden verlängerungen als energiepolitische Mitgift in die
Konsens über die Zukunft der Energiepolitik – Ausstieg schwarz-gelbe Regierungsehe einzubringen.
aus der Kernenergie, Einstieg in erneuerbare Energien – (René Röspel [SPD]: „Gift“ im wahrsten
erst in die Tonne treten und dann, ein halbes Jahr später, Sinne des Wortes!)
nach den Ereignissen in Japan, eine Ethikkommission
gründen! Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich in dieser Ehe noch
alle wohlfühlen. Ich bin mir nur sicher: Was Sie da ange-
Ich weiß gar nicht, meine Damen und Herren von den richtet haben, das ist das Komplettchaos in der deut-
Regierungsparteien, ob Ihnen das bewusst ist: Aber was schen Energiewirtschaft.
(B) ist die Gründung der Ethikkommission denn anderes als (D)
die Behauptung, die Energiepolitik der Vorgängerregie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rungen sei nicht nur falsch oder unvollständig, zu viel DIE GRÜNEN)
oder zu wenig ambitioniert? Nein, sie ist der in eine In- Wer uns mit einer doppelten Kehrtwende innerhalb
stitution gegossene Vorwurf, die Energiepolitik der Vor- von sechs Monaten da hineingeführt hat, der kann für
gängerregierungen habe ethische Anforderungen ver- sich nicht beanspruchen, den Weg aus diesem Chaos he-
letzt. Das lasse ich mir von keinem in diesem Lande raus zu kennen. Dazu braucht man Glaubwürdigkeit, und
sagen, meine Damen und Herren. die, meine Damen und Herren, haben Sie nicht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Da muss DIE GRÜNEN)
man erst mal drauf kommen!)
Es kommt eines hinzu: Fehlende Glaubwürdigkeit kann
– Da kommen schon andere drauf. Sie können es, glaube man sich am Ende auch nicht leihen, die kann man sich
ich, in diesen Tagen auch nachlesen. – auch nicht bei großen Persönlichkeiten einer Ethikkom-
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mission leihen, im Übrigen auch deshalb nicht, weil
NEN]: Das Ministerium ist ja noch nicht mal diese Persönlichkeiten für unlautere Ziele nicht zur Ver-
vertreten!) fügung stehen. Was ich sehe: Das Vorgehen der Regie-
rung ist unlauter.
Ich lasse mir das von keinem sagen, aber erst recht nicht
von denjenigen, die den politischen und ethischen (Widerspruch bei der FDP)
Grundkonsens, den es gab, mutwillig, absichtsvoll, ohne Sie ahnen das doch miteinander: Dieses Parlament ist
Rücksicht auf die Folgen gebrochen haben. Ich sage Ih- der ungeliebte Ort der Kanzlerin. Ob Euro-Rettung, ob
nen: Die ethischen Fragen des Atomausstiegs waren in Aussetzung der Wehrpflicht, ob Moratorium bei der
diesem Lande beantwortet. Sie haben die Fragen wieder Laufzeitverlängerung: alles an diesem Parlament vorbei!
offen gestellt. Das ist Ihre Bilanz. Damit, meine Damen und Herren, muss Schluss sein.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
Sie wollten nicht lernen, und Sie wollten nicht hören. Der einzige Ort, an dem verbindlich über die Zukunft
Die Geschichte der Atomkraft in der Welt hat Namen: der Energiepolitik in diesem Lande entschieden wird, ist
Harrisburg, Sellafield und Tschernobyl. Den Jahrestag der Deutsche Bundestag und nirgendwo sonst.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12193
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Weg war. Nach der Verlängerung der Laufzeiten ha- (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ben die Stadtwerke Investitionen in Höhe von 7 Milliar-
den Euro storniert. Jetzt storniert auch der Rest der Ener-
Kaum eine Frage ist für die künftige Entwicklung die- giewirtschaft Investitionen. Unternehmen, die extrem
ses Landes so entscheidend wie die nach der Zukunft der energieabhängig sind, wissen nicht, ob es sich noch
Energiepolitik. Wenn ich das so sage, dann auch, weil lohnt, in diesem Lande Arbeitsplätze zu schaffen. Meine
ich weiß, dass das in der Vergangenheit immer Ihre Damen und Herren, das ist Ihre energiepolitische Bilanz
Worte waren. Wenn Sie das ernst meinen, dann darf nach 17 Monaten. „Herzlichen Glückwunsch!“, kann ich
doch gar nicht umstritten sein, dass diese wichtige Zu- dazu sagen. Herzlichen Glückwunsch!
kunftsfrage intensivster Diskussion und intensivster Be-
gleitung durch das Parlament bedarf. Nur deshalb haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wir die Einrichtung eines parlamentarischen Sonderaus- DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/
schusses verlangt. CSU]: Das ist aber scheinheilig!)
Ich habe Ihnen das in einem Brief an alle Fraktionen In einer solchen Situation – auch das in aller Offen-
vorgeschlagen. Ich nehme zur Kenntnis: Das muss Sie heit – ist es für eine Opposition verführerisch, zu sagen:
bei den Regierungsfraktionen tief verschreckt haben. Dann lasst doch diese Regierung in ihrem selbstge-
Die Antwort kam ja schon, fast noch bevor der Brief von pflanzten Irrgarten weiter herumirren, im Zweifel nützt
mir bei Ihnen eingegangen war. Die Antwort lautete, die uns das vielleicht sogar parteipolitisch. Aber hier geht es
Botschaft war: auf keinen Fall so etwas. Ich zitiere: eben um mehr, hier geht es um Zukunft, und das ist nicht
„Nach unserer Auffassung“, schreiben Herr Kauder, nur die Zukunft der Regierungsparteien. Es geht um Le-
Frau Hasselfeldt und Frau Homburger, „ist die Einrich- bensqualität, Umwelt, Wirtschaft und Arbeitsplätze. Das
tung eines solchen Sonderausschusses nicht erforder- können wir ganz offenbar Ihnen allein nicht überlassen.
lich.“ Das ist der Grund, weshalb wir Ihnen einen konkreten
Vorschlag auf den Tisch legen, wie wir aus unserer Sicht
Ich frage mich: Was ist das eigentlich? Ist das Angst aus der Sackgasse herauskommen.
oder Ignoranz? Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hat-
ten, über meinen Brief und die Antwort darauf in den Ich danke ausdrücklich allen Mitgliedern meiner
Fraktionen zu diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen, Fraktion, die in den letzten Tagen mit aller Kraft und mit
dass Sie alle miteinander wirklich der Meinung sind, großem Ehrgeiz an diesem Vorschlag gearbeitet haben.
dass wir über diese existenzielle Frage, über die Zukunft Was da auf dem Tisch liegt, das ist kein Traumschloss.
der Energiepolitik, im Deutschen Bundestag und seinen Wir wissen um die Folgen fortschreitender Erderwär-
Ausschüssen und in einem Sonderausschuss nicht wirk- mung auf der einen Seite, und wir wissen um die Not-
(B) lich vertieft beraten müssen. wendigkeit, dass dieses Land ein Industriestandort blei- (D)
ben muss, auf der anderen Seite. Deshalb sind unsere
(Michael Kauch [FDP]: Wir diskutieren im Prioritäten klar:
Moment jede Woche im Ausschuss darüber!
Jede Woche!) Erstens. Energie muss so erzeugt werden, dass wir
ehrgeizige Klimaschutzziele weiter erreichen.
– Ja, das frage ich auch Sie. – Warum lassen Sie das ei-
gentlich mit sich machen, meine Damen und Herren? Zweitens. Energie muss für Verbraucher bezahlbar
Haben Sie gelesen, was Thomas Hanke im Handelsblatt sein, für private Verbraucher ebenso wie für produzie-
geschrieben hat, und haben Sie nicht gemerkt: Das rich- rendes Gewerbe.
tet sich an Sie, wenn er schreibt: „Steht auf, wenn ihr Drittens. Schlafende Riesen wie die Energieeffizienz
freie Abgeordnete seid!“ müssen geweckt werden. Weniger Energieverbrauch ist
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Gebot der Stunde.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Viertens. Wir brauchen einen weiteren Ausbau der
LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Von denen Regenerativen bei beschleunigtem Ausstieg aus der
steht keiner auf!) Kernenergie.
Was zu entscheiden ist, das müssen wir jetzt entschei- Fünftens. Wir brauchen – auch das steht in unserem
den, nicht in einem Monat, nicht in einem Jahr. Sie sind Vorschlag – eine ehrliche Diskussion darüber, welchen
die Mehrheit hier in diesem Hause, und Sie können, wie Anteil welche Energieerzeugung in welcher Zeit wirk-
im letzten Jahr, versuchen, energiepolitische Grundsatz- lich beitragen kann.
entscheidungen mit Ihrer Mehrheit hier im Bundestag
Wer sich dazu nicht ehrlichmacht, der wird keinen be-
durchzudrücken. Ich sage Ihnen nur eines voraus: Die
lastbaren Grundkonsens über die Zukunft der Energie-
Methode „Friss oder stirb!“ wird Ihnen nicht bekommen.
politik in diesem Lande zustande bringen,
Ihnen muss einfach klar sein: So viel Chaos, so viel Un-
sicherheit in der Energiepolitik war nie in Deutschland. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Darauf lässt sich keine Zukunft bauen. DIE GRÜNEN)
Schauen Sie doch gelegentlich einfach einmal auf die wer die Glaubwürdigkeit verloren hat, erst recht nicht.
letzten Tage zurück. Schauen Sie, was Sie angerichtet Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien,
haben. Ihre doppelte Kehrtwende in der Energiepolitik Sie können so weitermachen wie in den letzten Wochen,
gefährdet doch alles, was in der Energiewende schon auf schwankend zwischen den wechselnden Zurufen von
12194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) Verbänden, Medien und Zeitgeist. Aber das ist nicht die (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Auch (C)
Verantwortung, wie ich sie verstehe. So werden Sie über die Kernkraft! – Weiterer Zuruf von der
scheitern. Wenn Sie das verhindern wollen, dann greifen SPD: Libyen!)
Sie unsere Vorschläge auf.
Es waren im Übrigen die Fraktionen von SPD und
Herzlichen Dank. Bündnis 90/Die Grünen, die häufiger als unsere Fraktion
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Anlass hatten, ihre Positionen zu korrigieren.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Lachen bei Abgeordneten der SPD –
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: NEN]: Jetzt kommen Sie doch mal zur Sache!)
Das Wort hat nun Peter Altmaier für die CDU/CSU-
Fraktion. Aber Tatsache ist doch, dass derjenige, der immer schon
der Auffassung war, er habe von Anfang an alles ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wusst und alles richtig gemacht, an der praktischen Poli-
tik scheitert. Tatsache ist: Wir alle müssen unser Verhal-
Peter Altmaier (CDU/CSU): ten und unser Handeln überprüfen und danach
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ausrichten, was sich in der Realität abspielt.
Herren! Wir haben soeben eine engagierte, etwas pole-
mische Wahlkampfrede des Kollegen Steinmeier gehört. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie doch,
Nur, sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, zunächst dass Sie geirrt haben! – Dr. Hermann Ott
einmal ist festzuhalten: Die Landtagswahlen in Rhein- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kom-
land-Pfalz und Baden-Württemberg sind vorbei. men Sie doch mal auf uns zu, Herr Altmaier!)

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Und Sie sind Ich sage für meine Fraktion: Wir sind bereit, vor dem
abgewählt worden!) Hintergrund dessen, was in Fukushima geschehen ist,
mutig und entschlossen
Ihre Partei hat in Rheinland-Pfalz etwa 10 Prozentpunkte
verloren, und in Baden-Württemberg sind Sie hinter die (Lachen des Abg. René Röspel [SPD])
Grünen auf den dritten Platz abgefallen.
die Diskussion über einen gesamtgesellschaftlichen
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber wir regie- Konsens in der Frage der künftigen Energiepolitik auf-
ren! Im Gegensatz zu Ihnen! – Bärbel Höhn zunehmen. Diese Koalition
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke,
(B) der Wahlkampf ist vorbei!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eiert herum!) (D)
Wenn Sie weiter so am Thema vorbeireden, wird sich an und die sie tragenden Fraktionen werden das Ihre dazu
diesem Trend so schnell auch nichts ändern. beitragen, dass dieser Konsens in den nächsten Wochen
unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – arbeitet wird und auch zustande kommt.
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Abschal-
ten! Abwählen! – Weiterer Zuruf von der SPD: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es geht um die Energiepolitik, Herr Altmaier!
Das ist empörend!) Wenn ich sage: „Wir wollen einen gesellschaftlichen
Konsens“, dann meine ich damit ausdrücklich auch ei-
Der zweite Punkt. Ich glaube, dass Sie eigentlich gar nen parlamentarischen Konsens. Aber der gesellschaftli-
nicht vorhatten, so zu reden. Sie wollten wahrscheinlich che Konsens steht doch an erster Stelle. Das ist der
darüber reden, wie wir die Debatten der nächsten Wo- Grund, warum wir unmittelbar nach dem Unglücksfall
chen und Monate so strukturieren, dass wir die Chance, von Fukushima die Ethikkommission einberufen haben.
die in der schrecklichen Tragödie von Fukushima liegt,
gemeinsam ergreifen (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ja, das wäre Die Ethikkommission ist aus hervorragenden, maßgebli-
schön gewesen! Das hatten wir eigentlich chen Vertretern aller gesellschaftlich relevanten Grup-
vor!) pierungen zusammengesetzt: der Wirtschaft, der Ge-
werkschaften, der Wissenschaft, des Umweltbereichs.
und einen der letzten großen gesellschaftlichen Kon-
flikte der letzten Jahrzehnte beenden. (Zuruf des Abg. Florian Pronold [SPD])
Wir haben in der Nachkriegszeit öfter solche Debat- Ich glaube, wenn Sie ein Interesse an der Sache haben
ten geführt. Ich erinnere an die Debatte über die Westin- und nicht nur den Versuch unternehmen wollen, partei-
tegration, über die soziale Marktwirtschaft, über die politisches Kapital aus einer wichtigen Debatte zu schla-
NATO-Nachrüstung, gen, dann müssen Sie auch ein Interesse daran haben,
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Auch dass die Arbeit der Ethikkommission gelingt, und dann
über die Kernkraft!) müssen Sie anders über die Ethikkommission reden, als
Sie es in den letzten Wochen getan haben.
über Auslandseinsätze der Bundeswehr am Beispiel des
Kosovo-Krieges. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12195

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: dingt durch die Unsicherheit wegen der Laufzeitverlän- (C)
Kollege Altmaier, es gibt zwei Wünsche nach einer gerungen.
Zwischenfrage, einmal von der Kollegin Bulling- Weiterhin können Ihnen doch die Proteste auf den
Schröter und einmal vom Kollegen Heil. Straßen, die wir schon vor Fukushima erlebt haben, nicht
entgangen sein. Deshalb wäre es, bevor Sie einen sol-
Peter Altmaier (CDU/CSU): chen Konsens wiederherstellen wollen, ein Zeichen von
Sehr gerne. Größe und Anstand, zu sagen, dass Sie sich im Herbst
geirrt haben. Haben Sie die Größe, das zuzugeben?
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD und Abgeordneten des
Vielen Dank. – Sie haben gesagt, dass es einen gesell- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schaftlichen Konsens geben soll und dass in der Ethik-
kommission alle relevanten Verbände vertreten sind. Peter Altmaier (CDU/CSU):
Meine Frage an Sie: Warum wurden dazu keine Umwelt- Herr Kollege Heil, ich kann verstehen, dass Sie versu-
verbände eingeladen? Warum dürfen deren Vertreter chen, das, was die rot-grüne Regierung damals gemacht
nicht teilnehmen? hat, als Großtat darzustellen. Sie haben damals übrigens
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: im Einvernehmen den Energieproduzenten Nachrüstun-
Sind die nicht relevant?) gen erlassen und keine zusätzlichen Sicherheitsauflagen
durchgesetzt.
Peter Altmaier (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Doch. – Wir haben die Ethikkommission so zusam- Ulrich Kelber [SPD]: Unwahrheit! – Christian
mengesetzt, dass sie überschaubar ist, Lange [Backnang] [SPD]: Sie haben es immer
noch nicht verstanden! – Rolf Hempelmann
(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem [SPD]: Sie wollten doch aufhören, die Un-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wahrheit zu sagen!)
dass sie arbeitsfähig ist und dass sie imstande ist, eine Allerdings bestand damals nicht dieser Konsens wie
Debatte zu führen, die in weiten Teilen öffentlich geführt heute. Damals haben Sie ein Gesetz beschlossen.
werden wird,
Als wir im letzten Jahr vor der Frage standen, wie wir
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einen vernünftigen Übergang zu erneuerbaren Energien
(B) NEN]: Und das können die Umweltverbände gestalten, haben wir festgestellt, dass Sie im Zeitplan für (D)
nicht?) den Ausbau der Netze und der Speicherkapazitäten, also
mit all dem, was notwendig ist, damit ein Land von
auch unter Einbeziehung der Umweltverbände und der 80 Millionen Einwohnern in das Zeitalter der erneuerba-
Bürgerinnen und Bürger. Dass wir imstande sind, eine ren Energien kommt, um Jahre zurück lagen.
solche Debatte zu organisieren, haben Sie im Rahmen
von Stuttgart 21 gesehen. Es hätte der Politik niemand (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie
zugetraut, dass wir eine solche Debatte zustande brin- einen Fehler gemacht, oder nicht?)
gen. Und Sie haben ja auch gesehen, dass die Öffentlich- Sie haben zwar ein großes Schild vor sich her getragen.
keit honoriert hat, dass wir diese Debatte geführt haben. Hinter diesem Schild befanden sich aber lauter ungelöste
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fragen und Probleme.
René Röspel [SPD]: Der ist lustig! Kann man (Rolf Hempelmann [SPD]: Wir haben vier
den mieten?) Jahre zusammen regiert! Sie regieren im
sechsten Jahr!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Deshalb frage ich Sie, Herr Heil: Sind Sie denn be-
Kollege Heil. reit, zuzugeben, dass Sie damals zwar eine große Über-
schrift produziert haben, bei der Umsetzung aber
Hubertus Heil (Peine) (SPD): schmählich und kläglich versagt haben?
Sehr geehrter Kollege Altmaier, hätten Sie, wenn Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
jetzt von Umdenken und Umlernen unter Hinweis auf chen bei der SPD – Christian Lange [Back-
das, was Frank-Walter Steinmeier eben ausführte – dabei nang] [SPD]: Abschalten! Abwählen! –
ging es darum, wie glaubwürdig das ist –, sprechen, viel- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie zeigen keine
leicht einmal die Größe, einzuräumen, dass Sie im Größe, Herr Altmeier!)
Herbst letzten Jahres einen Energiekonsens zwischen der
Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und der Ich komme, lieber Kollege Hubertus Heil, darauf zu-
Energiewirtschaft kaputtgemacht und damit einen ge- rück, wie wir diesen Prozess parlamentarisch gestalten.
sellschaftlichen Großkonflikt aufgerissen haben? Ich Die Wirklichkeit ist nämlich viel weiter, als Sie in der
frage Sie, Herr Altmaier: Ist Ihnen entgangen, was im Bundestagsfraktion offenbar sind. Heute um 13 Uhr tref-
Herbst letzten Jahres in der Wirtschaft passiert ist? Da fen sich die Ministerpräsidenten aller Bundesländer mit
gab es nämlich Investitionsstau und Attentismus, be- der Bundeskanzlerin,
12196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Peter Altmaier
(A) (Rolf Hempelmann [SPD]: Ist das parlamenta- Peter Altmaier (CDU/CSU): (C)
risch? – René Röspel [SPD]: Und der Deut- Herr Kollege Kelber, im ersten Teil Ihrer Frage bezo-
sche Bundestag?) gen Sie sich auf die parlamentarischen Beratungen im
letzten Herbst. Weil sehr viele Bürgerinnen und Bürger
um darüber zu reden, welche Voraussetzungen wir im
heute Morgen zuhören,
Zuständigkeitsbereich der Länder schaffen müssen, da-
mit der Übergang gelingt. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aha!)
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Es ist ja will ich noch einmal ausdrücklich sagen:
schön, dass die Ministerpräsidenten das wis-
sen!) Erstens. Ich kam damals nicht in die Sitzung des Um-
weltausschusses, um für einen Abbruch zu sorgen, son-
Es wird nicht das einzige Treffen dieser Art sein. dern um für einen zeitgerechten Abschluss zu sorgen,
Weil wir den Konsens wollen, werden wir selbstver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
ständlich auch für eine angemessene parlamentarische Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
Beratung Sorge tragen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Rolf Hempelmann [SPD]: So wie beim ersten weil dieses Parlament ein Recht darauf hat, dass man die
Mal? Wie bei der Laufzeitverlängerung? – parlamentarischen Beratungen nicht durch Filibustern
Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und willkürlich gestellte Anträge verzögert und unmög-
NEN: Was heißt denn das?) lich macht.
Die Frage ist nur, ob der Vorschlag, den Sie mit heißer (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Peinlichst! –
Nadel gestrickt haben, der Weisheit letzter Schluss ist Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und ob er wirklich dazu angetan ist, dieses Problem bzw. NEN]: Das ist ja unglaublich!)
diese Herausforderung in angemessener Weise zu behan-
Das ist Ihnen und den Grünen damals ja auch nicht ge-
deln. Ich will Ihnen dazu drei Überlegungen vortragen.
lungen, wie die Abläufe gezeigt haben.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kollege Altmaier, es gibt eine Frage des Kollegen neten der FDP)
Kelber. Zweiter Punkt. Der Ausgangspunkt unserer Unterhal-
tung über die Strukturierung der parlamentarischen Ar-
Peter Altmaier (CDU/CSU): beit in diesem Frühjahr ist doch ganz klar: Wir sollten
(B)
Ja, gerne. die Arbeiten der Ethikkommission gemeinsam abwarten. (D)
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Rolf
Ulrich Kelber (SPD): Hempelmann [SPD]: Unglaublich!)
Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben ja gerade er-
Das gebietet der Respekt vor der Ethikkommission und
wähnt, dass Sie für eine angemessene Beteiligung des
der gesellschaftlichen Debatte.
Parlaments und damit der Öffentlichkeit an den Beratun-
gen sorgen wollen. Ich hoffe, das wird anders als damals (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist die Auf-
ablaufen, als Sie persönlich als Parlamentarischer Ge- gabe der Ethikkommission?)
schäftsführer in die Sitzung des Umweltausschusses ge-
gangen sind, um dort für einen Abbruch der Beratungen Ich möchte an dieser Stelle im Auftrag meiner Frak-
zu sorgen. tion und auch der gesamten Koalition sagen, dass wir da-
von überzeugt sind, dass durch die Person des Vorsitzen-
Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen der eineinhalb Seiten den der Ethikkommission, Professor Klaus Töpfer, nicht
umfassende Zeitplan der Bundesregierung für die Bera- nur die Gewähr dafür geboten wird, dass in dieser Kom-
tung bekannt ist. Das Bundeskanzleramt schreibt vor mission seriös gearbeitet wird, sondern auch dafür, dass
dem Hintergrund, dass am 15. Juni das Moratorium aus- die großen Fragen und Weichenstellungen angemessen
läuft – ich zitiere nur den letzten Satz –: behandelt werden.
Ein Gesetz zur Stilllegung, das bis Ende des Mora- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
toriums in Kraft tritt, setzt Kabinettsbefassung am Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist mit dem
7. Juni voraus. Bundestag, Herr Altmaier?)
Da der Deutsche Bundestag das Gesetz am 9. Juni be- Die Ethikkommission wird ihren Bericht gegen Ende
schließen müsste, sähe nach Meinung der von Ihnen ge- Mai 2011 vorlegen. Etwa zur gleichen Zeit wird die Re-
stellten Bundesregierung die Parlamentsbefassung so aktor-Sicherheitskommission ihren Bericht vorlegen.
aus: keine Befassung der Fachausschüsse, keine Anhö- Dann müssen wir uns die Frage stellen, wie wir im Bun-
rung, kein Änderungsantrag, Verzicht auf die Fristen, destag den Prozess so strukturieren, dass wir die nötigen
Abstimmung zwei Tage später. Anhörungen durchführen können, dass wir die nötigen
Ausschussberatungen durchführen können und dass wir
Werden Sie diesen Zeitplan umsetzen, oder wird das
die nötigen Plenarberatungen durchführen können.
Gesetz im Mai oder gar noch im April in dieses Parla-
ment kommen? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie denn?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12197
Peter Altmaier
(A) Lieber Kollege Heil, ich will hier die Frage stellen, hinnehmbar ist, sondern dann muss es doch auch um die (C)
um die es heute Morgen in der Debatte geht: Frage gehen, was im Rahmen eines Gesamtkonzeptes
geschehen muss, damit tatsächlich ein schnellerer Über-
(Ulrich Kelber [SPD]: Heil oder Kelber?) gang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien möglich
Glauben Sie angesichts der Fülle der Entscheidungen, wird.
um die es im Bereich der Netze, im Bereich der Spei- Liebe Frau Höhn, ich habe mit Respekt zur Kenntnis
chermöglichkeiten, im Bereich des Planungsrechts und genommen, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auch im Bereich der Laufzeiten am Ende dieser Debatte als ein Ergebnis der Debatten im letzten Jahr ihre Posi-
geht, wirklich, dass es sinnvoll ist, die Zuständigkeiten tion in der Frage der Stromtrassen für die 380-kV-Lei-
und Kompetenzen der Ausschüsse, die sich in den letz- tungen überdacht und modifiziert hat.
ten Monaten auf hohem Niveau mit diesen Fragen be-
schäftigt haben und weiterhin beschäftigen, durch einen (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sonderausschuss außer Kraft zu setzen, der naturgemäß NEN]: Blödsinn!)
aus einigen wenigen Kolleginnen und Kollegen besteht,
Das ist ein klarer Hinweis, dass niemand in diesem Haus
(Rolf Hempelmann [SPD]: Aus allen Fachbe- sagen kann: Wir haben keinen Grund, unsere Positionen
reichen!) kritisch zu hinterfragen und zu überdenken.
und all diese Aufgaben im Sonderausschuss zu lösen? Meine Fraktion hat diese Woche in insgesamt drei Sit-
zungen stundenlang über die Fragen diskutiert, die im
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zusammenhang mit der Energiepolitik in den nächsten
Rolf Hempelmann [SPD]: Genau so wäre es Monaten zu beantworten sind. Wir werden das in den
richtig!) nächsten Wochen fortsetzen. Ich weiß, dass es auch in
In einem Punkt sind wir uns doch einig: Wenn die anderen Fraktionen, wie bei der FDP und anderswo in
Ethikkommission Ende Mai ihre Ergebnisse vorlegt, diesem Haus, ein ähnliches Ringen gibt.

(Frank Schwabe [SPD]: Was ist denn mit dem Von den Kolleginnen und Kollegen Sozialdemokraten
Moratorium?) habe ich als einzige substanzielle Äußerung bisher die
Forderung nach einem Sonderausschuss vernommen.
dann wollen wir natürlich auch eine parlamentarische
Entscheidung zustande bringen, mit der dafür gesorgt (Rolf Hempelmann [SPD]: Lesen Sie doch
wird, dass mit dem Ablauf des Moratoriums klar ist, wie mal unser Energieprogramm, das wir einge-
bracht haben! Unglaublich!)
(B) die Zukunft der Kernenergie und der Energiepolitik in (D)
Deutschland aussieht. Wenn Sie die Begründung für die Einsetzung eines sol-
(Rolf Hempelmann [SPD]: Die üblichen Nick- chen Ausschusses lesen, dann werden Sie feststellen,
bewegungen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: dass zu den inhaltlichen Herausforderungen wenig oder
Drei Tage!) nichts gesagt wird.

– Das sind keine drei Tage, sondern wir haben ein ange- Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal das Angebot
messenes, aber anspruchsvolles zeitliches Konzept. unterbreiten – das richtet sich an das gesamte Haus –, die
nächsten Wochen und Monate für einen wirklichen Dia-
Ich sage Ihnen: So wie Sie in der Vergangenheit in log zu nutzen.
ähnlichen Situationen aus guten Gründen keine Sonder-
ausschüsse eingesetzt haben, so ist es die Auffassung un- (Zuruf von der SPD: Eher ein Monolog!)
serer Fraktion und Koalition, dass es sinnvoll ist, diese Es geht nämlich nicht nur um die Glaubwürdigkeit einer
Debatte im Umweltausschuss, im Wirtschaftsausschuss, einzelnen Fraktion; es geht vielmehr um die Glaubwür-
im Verkehrsausschuss und in allen anderen zuständigen digkeit des politischen Systems und des Parlamentaris-
Ausschüssen auf breiter Front zu führen, und wir werden mus.
dafür sorgen, dass sie unter angemessener Beteiligung
der Öffentlichkeit stattfindet. Ich bin davon überzeugt, dass die vor uns liegenden
Beratungen eine große Chance sind, die Glaubwürdig-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keit und die Zustimmung zum politischen Handeln auch
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube in der Öffentlichkeit zu erhöhen.
nicht, dass irgendjemand Verständnis dafür hätte, wenn (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir uns über technische Detailfragen wie die Frage, ob NEN]: Machen Sie das richtig, Herr Altmaier! –
es einen Sonderausschuss gibt, oder die Frage, wie er zu- Rolf Hempelmann [SPD]: Ihr verspielt sie ge-
sammengesetzt ist, zerstreiten würden. rade!)
(Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist ein techni- Ich möchte uns alle aufrufen, dass wir dazu einen Bei-
sches Detail? Interessant!) trag leisten.
Wenn wir einen Konsens herbeiführen wollen, dann darf Vielen Dank.
es doch nicht nur um einen Konsens darüber gehen, wie
lange Kernkraft in Deutschland noch unverzichtbar und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
12198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: barem Maße stiegen. Mit diesen drei Argumenten (C)
Das Wort hat der Kollege Dr. Gysi für die Fraktion möchte ich mich kurz auseinandersetzen.
Die Linke.
Das Argument der Versorgungssicherheit von Herrn
(Beifall bei der LINKEN) Kauder ist schon deshalb falsch, weil selbst der Umwelt-
beirat Ihres Bundesumweltministeriums festgestellt hat,
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): dass wir die acht alten Atomkraftwerke nicht brauchen,
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr weil sie nur Überschüsse produzieren. Das Argument ist
Altmaier, es nutzt nichts, wenn man versucht, eine zwin- also falsch.
gend notwendige Entscheidung durch Verzögerung hin- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
auszuschieben. Es bringt Ihnen nichts, es schadet Ihnen neten der SPD)
nur. Sie kommen aus der Sache sowieso nicht heraus.
Der Ausschluss der Öffentlichkeit wird nicht funktionie- Das zweite Argument ist die Schuldenbremse. Das
ren. finde ich spannend. Union und SPD haben die Schulden-
bremse in das Grundgesetz geschrieben – wir hielten das
(Beifall bei der LINKEN – Peter Altmaier [CDU/ immer für falsch –, und jetzt wird gesagt, die Schulden-
CSU]: Das hat auch niemand gesagt!) bremse hindere uns daran, Fortschritte zu machen.
Wir haben eine japanische Atomkatastrophe erlebt. (Beifall bei der LINKEN)
Erst jetzt haben die Behörden eingeräumt, dass es doch
der höchste Schadensfall ist und dass ein Super-GAU Das ist genau das, worauf wir immer hingewiesen haben.
vorliegt. Auch das hat sehr lange gedauert. Aber jetzt ist Indirekt bestätigt uns Herr Schäuble; denn er sagt: Wir
es eingestanden worden. Selbstverständlich werden wir können leider nichts mehr machen. Die Politik ist hand-
der japanischen Bevölkerung jede uns mögliche Hilfe lungsunfähig. – Aber in diesem Fall ist das Argument
zukommen lassen. falsch, und zwar deshalb, weil die vier Energieriesen
über solche Reserven verfügen, dass das Ganze sehr
Eines hat sich aber in Deutschland herumgesprochen: wohl finanzierbar ist. Darauf komme ich noch zurück.
Ein Atomkraftwerk ist im Falle einer Katastrophe nicht
beherrschbar, durch niemanden, auch nicht in Deutsch- Das dritte Argument ist das Argument der höheren
land. Deshalb sind nun plötzlich alle Parteien für den Strompreise. Die FDP spricht von einem Sparpaket. Sie
Atomausstieg – irgendwann und irgendwie. Aber dafür sagt, es müsse noch mehr Sozialabbau geben und gerade
brauchen wir keine Ethikkommission der Regierung, die ärmeren Schichten und die durchschnittlich Verdie-
Herr Altmaier, die auch noch geschlossen tagen soll nenden hätten das alles zu bezahlen. Das ist der ein-
(B) fachste und unsozialste Weg; für uns kommt der über- (D)
(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Die tagt doch haupt nicht infrage.
nicht geschlossen! – Gegenruf des Abg. Rolf
Hempelmann [SPD]: Doch! Das ist so!) (Beifall bei der LINKEN)
und von einer Regierung eingesetzt wird, die diesbezüg- Aber dahinter steckt doch etwas ganz anderes: Sie
lich völlig unglaubwürdig und inzwischen auch unbere- drohen mit Strompreiserhöhungen, um die Zustimmung
chenbar ist. gerade der ärmeren Schichten der Bevölkerung zur
Atomenergie zurückzugewinnen. Ich sage Ihnen: Das ist
Welche Konsequenzen werden denn gezogen? Der übel. Mit solchen Katastrophen darf man nicht spielen,
FDP-Generalsekretär Lindner hat zum Beispiel gefor- und man darf auch nicht eine solche Stimmung erzeu-
dert: Alle alten Meiler müssen dauerhaft geschlossen gen.
werden. – Jetzt nimmt er das wieder zurück. Dann äu-
ßern sich Herr Röttgen und Herr Brüderle und legen ei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
nen Sechs-Punkte-Ausstiegsplan vor, der alles Mögliche neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
ist, aber kein Plan. Darin geht es zum Beispiel um den GRÜNEN)
rascheren Ausbau der regenerativen Energien, aber so Die Grünen äußern sich zur sozialen Frage überhaupt
gut wie ausschließlich auf der Basis von Offshorewinde- nicht, und die SPD denkt in erster Linie an die Großver-
nergie. Doch diese großen Parks können nur von den braucher. Wir denken an alle Verbraucherinnen und Ver-
vier Energieriesen gebaut und finanziert werden. braucher.
(Horst Meierhofer [FDP]: Quatsch!) (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
Zugleich wird aber so gut wie nichts zu Photovoltaik dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)
oder Erdwärme gesagt, in die auch kleine und mittlere – Ja. Sie können uns doch nicht verbieten, zu denken.
Unternehmen investieren könnten. Das fällt auf.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber selbst diese Absichtserklärung der beiden Bun- Wir bezweifeln, dass Sie das können!)
desminister trifft vor allem auf Ablehnung in der Union,
und zwar vonseiten der Herren Schäuble und Kauder. Wir denken sowohl an die durchschnittlich Verdienen-
Sie führen drei Argumente an: Das erste Argument ist, den als auch an die Armen sowie an die kleinen und
dass es dann keine Versorgungssicherheit mehr gäbe. mittleren Unternehmen, die alle davon betroffen sind.
Das zweite ist, dass die Schuldenbremse dagegensprä- Was wir brauchen, ist die Wiedereinführung einer staat-
che, und das dritte ist, dass die Strompreise in unzumut- lichen Preisregulierung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12199
Dr. Gregor Gysi
(A) (Beifall bei der LINKEN – Bärbel Höhn Zweitens. Wir brauchen einen Atomausstieg mit ei- (C)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! – nem Ausstiegsgesetz, damit das Ganze juristisch wasser-
Michael Kauch [FDP]: Wie in der DDR!) dicht wird. Außerdem soll der Ausstieg unumkehrbar
werden. Deshalb brauchen wir eine Ergänzung des
– Ich wusste, dass die FDP von Planwirtschaft redet.
Grundgesetzes.
Wissen Sie, auch in der Bundesrepublik Deutschland
herrschte in diesem Bereich Planwirtschaft; denn bis zur (Beifall bei der LINKEN)
Großen Koalition hatten wir eine staatliche Preisregulie-
Wir haben drei Anträge hierzu eingebracht. Herr
rung in der Bundesrepublik Deutschland.
Lindner, lesen Sie diese; das bildet.
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)
Im ersten Antrag geht es um die dauerhafte Stillle-
Das haben Sie bloß nicht mitgekriegt. Waren Sie nicht gung der sieben alten AKW und des AKW Krümmel.
im Bundestag, oder was?
Im zweiten Antrag geht es um den Ausschluss der
Erst die Große Koalition, bestehend aus Union und Übertragung der früher zugesicherten Reststrommengen
SPD, hat beschlossen, die staatliche Preisregulierung ab- für diese acht AKW auf die dann noch verbleibenden
zuschaffen, und zwar mit der Begründung, dass es einen neun weiterlaufenden AKW. Das ist ganz wichtig; denn
topfunktionierenden Markt gebe, der ohnehin dafür wenn diese neun AKW die Reststrommengen überneh-
sorge, dass die Preise sinken. Nun haben aber alle Bür- men, dann bedeutet das für diese eine Laufzeitverlänge-
gerinnen und Bürger und alle Unternehmen mitbekom- rung. Genau so etwas planen Sie. Das darf es auf gar kei-
men, dass die Preise in der ganzen Zeit nicht gesunken, nen Fall geben. Dieser Trick darf nicht funktionieren.
sondern ständig gestiegen sind, weil die vier Riesen sich
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
abgesprochen haben, wie sie die Bevölkerung abzocken.
neten der SPD)
So einfach ist das.
Als Drittes haben wir beantragt, dass ein Verbot der
(Beifall bei der LINKEN)
Nutzung der Atomtechnologie für energetische Zwecke
Jetzt müsste doch auch die SPD einräumen, dass das und für Waffen ins Grundgesetz aufgenommen wird.
gerade genannte Argument für die Abschaffung der Das ist besonders wichtig, denn wenn wir das einmal im
Preisregulierung falsch war. Es bleibt auch falsch. RWE Grundgesetz stehen haben – geben Sie sich doch wirk-
hat übrigens durch falsche Preise sogar 2,3 Milliarden lich einen Ruck –, garantiere ich Ihnen, dass es nie wie-
Euro abgezockt. Wo blieb da eigentlich Ihr Protest? Der der eine Zweidrittelmehrheit geben wird, die dieses Ver-
wäre meines Erachtens wichtig gewesen. bot abschaffen kann. Das ist das Entscheidende daran.
(B) Also: Wir müssen zurück zur staatlichen Strompreis- (Beifall bei der LINKEN) (D)
regulierung. Es gibt jetzt eine große Chance für eine
Zurück zu den fünf Schritten: Wir brauchen drittens
grundlegende Neuorientierung der ökonomischen, öko-
eine staatliche Preisregulierung und kein Sparpaket, wie
logischen, demokratischen und sozialen Grundlagen un-
es die FDP will. Was wir wirklich brauchen, ist Steuer-
serer Gesellschaft. Weder die Verlängerung der Laufzei-
gerechtigkeit.
ten durch die jetzige Bundesregierung noch der rot-
grüne Atomkompromiss aus dem Jahr 2002 sind heute Jetzt sage ich Ihnen etwas zu den Kosten für die Ener-
noch die Verhandlungsbasis. Wir brauchen jetzt fünf giewende: In erster Linie müssen das meines Erachtens
Schritte für eine sozialökologische Energiewende. die vier Energieriesen bezahlen. Die von diesen gebilde-
ten Rückstellungen für den Abbau der AKW in Höhe
Erstens. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche
von 29 Milliarden Euro sind jetzt in einen öffentlich-
Debatte. Es kann nicht bei der Ethikkommission der Re-
rechtlichen Fonds überzuleiten, damit das Geld auch
gierung bleiben. Wir brauchen, wie von der SPD bean-
wirklich für den Abbau der AKW zur Verfügung steht.
tragt, einen Sonderausschuss des Bundestages.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Aber das ist nur das eine. Außerdem müssen sie ihre Ex-
traprofite abführen, um die Umstellung auf erneuerbare
Entgegen dem Willen der SPD darf aber auch dieser
Energien zu gewährleisten.
Ausschuss nicht geschlossen tagen. Es reicht auch nicht,
alles im Internet zu veröffentlichen. Das ist wichtig, und Jetzt sage ich einmal etwas zu den Profiten dieser vier
das können wir machen. Auch der Ausschuss muss je- Energieriesen, damit die Bevölkerung es auch weiß:
doch die breiteste Öffentlichkeit zulassen, Fragen von Eon, EnBW, RWE und Vattenfall haben seit 2002 einen
den Betroffenen aufnehmen und Gespräche mit ihnen Profit von über 100 Milliarden Euro erwirtschaftet. Dort
führen. Das ist das Wichtige. Wir brauchen einen wirkli- gibt es also genügend Geld, denn die Bürgerinnen und
chen gesellschaftlichen Konsens. Die Konzepte des Bürger und die Unternehmen wurden und werden von
BUND und von Greenpeace, die keinen Platz in Ihrer den vier Energieriesen abgezockt.
Ethikkommission haben, zeigen doch, welch fundiertes
Kleine und mittlere Unternehmen haben dagegen im
Wissen und welches Ideenpotenzial in der Gesellschaft
Jahre 2009 – vor der fälschlich durch Ihre Regierung be-
vorhanden sind. Lassen Sie es uns doch endlich nutzen,
schlossenen Verlängerung der Laufzeiten – 26,7 Milliar-
statt es ständig auszuschließen!
den Euro in die erneuerbaren Energien investiert. Wenn
(Beifall bei der LINKEN) Sie Ihre Laufzeitverlängerung, die diese so schockiert
12200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) hat, wieder zurücknehmen, sind diese auch bereit, wie- möglichen Ausstieg aus der Atomenergie zu begleiten (C)
der zu investieren und Mittel für die Erneuerbaren zur und den Einstieg in das nachatomare Industriezeitalter
Verfügung zu stellen. mit vorzubereiten, wenn er mit dazu beitrüge, eine breite
und offene gesellschaftliche Debatte zu organisieren, be-
(Beifall bei der LINKEN)
käme er einen hohen gesellschaftlichen Gebrauchswert.
Übrigens noch zur Ergänzung: Ich habe gesagt, dass
die vier Konzerne über 100 Milliarden Euro Profit seit Hören Sie auf, zu verdunkeln! Hören Sie auf, zu ver-
2002 erwirtschaftet haben. Allein in der Krise im Jahr tuschen!
2009 waren es 23 Milliarden Euro, und im Jahre 2010 (Michael Kauch [FDP]: Hören Sie auf, zu
waren es 30 Milliarden Euro. Solche finanziellen Reser- reden!)
ven haben die! Da müssen Sie einmal den Mumm haben
und umgekehrt auch einmal ein bisschen abzocken, und Lassen Sie uns die dringend notwendigen Entscheidun-
zwar durch gerechte Steuern. Das ist das, was wir for- gen hier im Bundestag treffen.
dern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN) neten der SPD)
Selbstverständlich muss auch der Bund investieren.
Erst ganz zuletzt darf man an die Verbraucherinnen und Vizepräsidentin Petra Pau:
Verbraucher denken, und das muss angemessen gesche- Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Frak-
hen: Das bedeutet, dass man finanziell schwachen Haus- tion.
halten einen Sozialtarif gewähren muss.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Viertens. Die überkommenen Konzernstrukturen und der CDU/CSU)
die marktbeherrschende Stellung der vier Stromkon-
zerne stehen einer wirklichen Energiewende entgegen. Michael Kauch (FDP):
Die Regierung hat bewiesen, dass sie erpressbar ist. Jetzt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
erpressen die Konzerne erneut – mit einem Stopp der
Gysi, wir wissen, dass Sie Experte für alle Themen sind
Zahlungen in den Ökofonds. Ich sage: Wer so erpresst, und dass Ihre Fachpolitiker hier fast nie reden dürfen.
darf kein Verhandlungspartner sein. Dass Sie sich hier jetzt aber erdreisten, einen toten Kol-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- legen, Hermann Scheer, für Ihre antikapitalistischen Re-
neten der SPD) flexe, für etwas, was Hermann Scheer nie vertreten hat,
zu vereinnahmen, all das, was Sie hier abgeliefert haben,
(B) Die Energiewende gelingt dezentral oder gar nicht. (D)
ist so unterirdisch, so grottenschlecht und auch unfair
Die Linke wird das Erbe von Hermann Scheer aufneh- gegenüber den Sozialdemokraten, das kann man hier im
men, das die SPD leider ausschlägt. Parlament nicht akzeptieren.
(Michael Kauch [FDP]: Erbschleicher! –
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ulrich Kelber [SPD]: Sie kennen die Meinung
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-
von Hermann Scheer über die Linkspartei
SES 90/DIE GRÜNEN)
ganz genau! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]:
Das Erbe kommt zu den SED-Milliarden, oder Herr Gysi, Sie haben wieder einmal schwadroniert:
wie?) Im Zweifel ist die Großindustrie schuld am Elend der
Der notwendige Netzausbau muss zum Einstieg in die Welt; sie muss ihre Extraprofite abführen. – Offensicht-
dezentrale kommunale Energieversorgung genutzt wer- lich ist Ihnen nicht klar: Ab 2013 muss die Großindustrie
den. Die Stromnetze müssen endlich in öffentliche ihre Extraprofite aus dem Emissionshandel abführen,
Hand, und zwar deshalb, weil ich möchte, dass die Poli- nämlich in den Energie- und Klimafonds.
tik zuständig ist. In der Politik haben wir Demokratie, (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Zum
bei den vier Konzernen haben wir keine Demokratie. Sie Teil!)
wollen die Zuständigkeit der Konzerne, wir wollen die
Zuständigkeit der öffentlichen Hand. Diese Koalition hat beschlossen, dass diese Mittel in die
Nutzung erneuerbarer Energien investiert und nicht vom
(Beifall bei der LINKEN) Finanzminister eingesackt werden. Das ist eine Leistung
Fünftens und Letztens. Wir brauchen höchste Ener- dieser Koalition, die Sie an dieser Stelle einmal wahr-
gieeffizienz. Das ist auch eine soziale Frage. Darauf nehmen sollten, Herr Gysi.
muss sich auch die Forschung konzentrieren. Wir haben (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
schon vor Jahren 2,5 Milliarden Euro für einen Fonds Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
beantragt, um Bürgerinnen und Bürgern mit einer Effi- NEN]: Gegen den Widerstand Ihrer eigenen
zienzprämie bei der Anschaffung energiesparender Ge- Partei aus Nordrhein-Westfalen!)
räte zu helfen. Das gilt übrigens auch für Unternehmen;
denen soll damit ebenfalls geholfen werden. Über den Wir reden heute über das Thema Einsetzung eines
Fonds ist auch zusätzliche Hilfe für finanziell, das heißt Sonderausschusses „Atomausstieg und Energiewende“.
sozial Schwache möglich. Wenn der Sonderausschuss Man hat den Eindruck, es geht bei der SPD inzwischen
gebildet würde und dazu dienen würde, den schnellst- kaum noch um die Inhalte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12201
Michael Kauch
(A) (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Rolf Punkte-Papier, das bei Ihnen umstritten ist, (C)
Hempelmann [SPD]: Das ist unglaublich! – sonst nichts!)
Ulrich Kelber [SPD]: Was für ein Niveau! –
Das war beim Energiekonzept so, und es wird bei der
Weitere Zurufe von der SPD)
Weiterentwicklung des Energiekonzeptes so sein.
Man gewinnt nämlich den Eindruck, dass man von der
Koalition in dem Bemühen überholt wird, in das Zeital- Vizepräsidentin Petra Pau:
ter der erneuerbaren Energien zu kommen. Da Sie der Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Koalition offensichtlich inhaltlich nichts entgegenzuset-
zen haben,
Michael Kauch (FDP):
(Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist nur der Gerne. Von wem denn?
bloße Neid!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
echauffieren Sie sich hier während der Kernzeitdebatte
über eine formale Frage. Von Herrn Schwabe. – Herr Schwabe, bitte.
(Ulrich Kelber [SPD]: Ruhrgebiet unter sich!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Das führen Sie uns
doch im Sonderausschuss vor!)
Frank Schwabe (SPD):
Angeblich wird in diesem Parlament nicht diskutiert. Herr Kollege Kauch, Sie haben gerade gesagt, dass
Wenn ich zurückschaue, was ich in den letzten Wochen wir keine zusätzlichen Ausschüsse und keine zusätzli-
getan habe, dann stelle ich fest, dass ich an jedem chen Gremien brauchen. Wie bewerten Sie, dass die
Plenarfreitag hier im Parlament über das Thema Atom- Bundesregierung die Ethikkommission „Sichere Ener-
ausstieg diskutiert habe. gieversorgung“ – das ist eine Art Ausschuss – einberu-
fen hat? Ist das ebenfalls ein überflüssiges Gremium?
(Ulrich Kelber [SPD]: Unsere Anträge! –
Schließlich meinen Sie, dass wir solche Fragen hier im
Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nur, weil wir es
Parlament zu klären haben.
beantragt haben!)
Wir diskutieren permanent darüber. Es ist doch ein Mär- Michael Kauch (FDP):
chen, dass diese Diskussion unter Ausschluss der Öf- Diese Ethikkommission berät die Regierung. Wir als
fentlichkeit passiere. Parlament müssen am Schluss über die Vorlagen der Re-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gierung, also über das, was die Regierung vorschlägt,
(B) entscheiden. (D)
Es ist völlig aberwitzig, zu glauben: Wenn man einen
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Am Schluss!
Sonderausschuss einsetzt, dann kommen plötzlich bes-
Wann kommen denn die Vorlagen?)
sere Ergebnisse zustande. Wir haben einen Wirtschafts-
ausschuss, wir haben einen Umweltausschuss und einen Am Schluss wird im Parlament und nirgendwo sonst ent-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, der schieden.
sich beispielsweise mit Fragen der Gebäudesanierung
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
beschäftigt. In all diesen Ausschüssen kümmert man
der CDU/CSU)
sich um die Fragen, um die es hier geht, und zwar nicht
erst seit gestern. In diesen drei Ausschüssen sitzen dieje- Wie beim Energiekonzept sind die Koalitionsfraktio-
nigen Experten in diesem Parlament, die zu diesen Fra- nen schon im Vorfeld in Regierungsentscheidungen ein-
gen beraten sollen. gebunden.
(Ulrich Kelber [SPD]: Und für die innere Si- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ach!)
cherheit noch den Innenausschuss! – Es ist nicht so, dass wir darauf warten, dass uns Frau
Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wann wird das Merkel, Herr Brüderle oder Herr Röttgen Vorlagen ge-
Parlament damit befasst? Wann kommen denn ben, und dass wir uns hinstellen und abnicken. Das ha-
die Vorlagen?) ben wir beim Energiekonzept im letzten Jahr nicht getan,
Wenn wir einen neuen Ausschuss einsetzen, dann ist und das werden wir auch in diesem Jahr nicht tun, meine
er in den ersten vier Wochen nur mit Formalia beschäf- Damen und Herren.
tigt. In dieser Zeit können wir in diesem Parlament Ent- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
scheidungen treffen. der CDU/CSU)
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) Wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe in der Frage,
Das will diese Koalition: Entscheidungen treffen und was selbstbewusste Parlamentarier sind.
nicht neue Gremien institutionalisieren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Wir brauchen von Ihnen auch keine Nachhilfe in der
Hempelmann [SPD]: Wo sind die Vorlagen für Frage, wie Vorlagen im Parlament behandelt werden. Ich
Entscheidungen? – Dr. Barbara Hendricks erinnere mich an meine Zeit in der Opposition. Da wur-
[SPD]: Aber bis jetzt gibt es nur ein Sechs- den bei der Gesundheitsreform Hunderte von Seiten Ge-
12202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Michael Kauch
(A) setzestext hier innerhalb von zwei Tagen durchge- Zur Ehrlichkeit gehört dazu, den Menschen auch zu (C)
peitscht. Da wurden zig Seiten Änderungsanträge mal sagen: Diese Reformen gibt es nicht zum Nulltarif. –
eben als Tischvorlage eingereicht. Das war die SPD! Man kann nicht zum Nulltarif aus der Kernkraft ausstei-
Deswegen brauchen wir von Ihnen hier überhaupt keine gen und gleichzeitig alle anderen Ziele – Versorgungs-
Nachhilfe. Wir machen die Verfahren korrekt. sicherheit, Klimaschutz usw. – erreichen. Unsere Verant-
wortung als Parlamentarier ist, dafür zu sorgen, dass die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Menschen nicht unnötig mehr bezahlen. Ihnen Sand in
Hempelmann [SPD]: So wie letztes Jahr!) die Augen zu streuen und zu sagen: „Das kostet gar
Wir brauchen auch keine Nachhilfe von Herrn nichts; wir machen das mal eben so mit einem Schnipp“,
Steinmeier. Herr Steinmeier sagt, wegen unserer Politik (Rolf Hempelmann [SPD]: Wer sagt denn so
würden – angeblich – Investitionen zurückgehen und was? – Gegenruf von der FDP: Herr Gysi zum
keine Arbeitsplätze geschaffen. Gestern haben wir die Beispiel!)
Zahlen bekommen. Seit der Wiedervereinigung waren in
Deutschland noch nie so viele Menschen beschäftigt wie geht einfach an der Sache vorbei.
jetzt unter Schwarz-Gelb. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Land auch sagen, dass es weitere Kosten gibt, nämlich
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Trotz Kosten nichtmonetärer Art, dass insbesondere die ländli-
Schwarz-Gelb! Das ist ja das Wunder! Das chen Räume stärker als bisher ihren Beitrag zur Energie-
sagt selbst die Wirtschaft! – Rolf Hempelmann versorgung leisten müssen und dass sich auch dort viele
[SPD]: Damit haben Sie gar nichts zu tun!) Dinge, viele Landschaftsbilder beispielsweise, verän-
dern werden.
Das ist der Erfolg dieser Regierung. Da brauchen wir
von Ihnen keine Nachhilfe, meine Damen und Herren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das müssen Sie vor allem Ihrer Partei
Die SPD muss sich schon entscheiden, was sie will. sagen!)
Herr Steinmeier sagt: Wir müssen ein Industrieland blei-
ben; wir brauchen Klimaschutz und Versorgungssicher- Das ist unumgänglich, das ist notwendig in einem ver-
heit. – Alles richtig! Heute Morgen stellt sich Frau netzten Industrieland. Wir sollten nicht so tun, als würde
Nahles ins Fernsehen, und auf die Frage, wie sie denn si- das überhaupt nicht stattfinden.
cherstellen wolle, dass das, was sie fordere, nämlich dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die Armen nicht belastet würden, durchgeführt werde, der CDU/CSU)
(B) kam als einzige Antwort: Das muss die Regierung vorle- (D)
gen. – So viel zu den sozialpolitischen Konzepten der
Sozialdemokratischen Partei! Das ist peinlich. Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Höhn für die Fraktion
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bündnis 90/Die Grünen.
Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie mal was zu
sich selbst, zu Ihren Vorstellungen!) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die FDP will schneller aus der Kernkraft aussteigen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
als das bisher vorgesehen ist. Deshalb werden wir aber Gestern hatten wir eine sehr ernsthafte Debatte zur PID.
nicht alles über Bord werfen, was wir in den letzten Jah- Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Debatte zur
ren für wichtig gehalten haben. Energie genauso ernsthaft führen würden und nicht so
krähenhaft und so lautstark, wie Sie, Herr Kauch, das
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Auch im eben getan haben.
nächsten Herbst noch?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deshalb werden wir nicht zulassen, dass das Problem und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
einfach verlagert wird, indem man dauerhaft Kernkraft- LINKEN – Michael Kauch [FDP]: Da sind wir
strom aus Frankreich und Tschechien importiert oder in- jetzt gespannt!)
dem man die Klimaschutzziele oder die Versorgungs-
sicherheit gefährdet. Nach der Katastrophe von Fukushima gibt es in der
Gesellschaft mittlerweile einen breiten Konsens. Herr
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gysi, wir brauchen also nicht einen breiten Konsens,
NEN]: Das sind die Argumente der Atom- sondern wir haben einen breiten Konsens.
industrie, Herr Kauch!)
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Lösungen
Deshalb muss ein Ausstieg aus der Kernkraft so gestaltet brauchen wir!)
sein, dass die Netzstabilität gewährleistet wird, dass wir
unsere Klimaschutzziele erreichen und dass wir unsere Über 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind einer
Importabhängigkeit nicht vergrößern. Meinung. Die Kirchen, die Umweltschützer, die Ge-
werkschaften, die Jungunternehmer, Greenpeace, die
(Beifall bei der FDP – Oliver Krischer Katholische Landjugend und seit neuestem auch der
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Bundesverband der Energiewirtschaft sind dabei. Dieser
Sie doch selber nicht!) breite Konsens lässt sich auf eine ganz einfache Formel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12203
Bärbel Höhn
(A) bringen: Raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerba- sonderen Nähe zu den erneuerbaren Energien. Das Gut- (C)
ren Energien! Es ist unsere Aufgabe, das umzusetzen. achten von EWI kommt zu dem Ergebnis: Die Rückkehr
zum rot-grünen Atomausstieg würde für die Bürgerinnen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Bürger in den gesamten nächsten Jahren einen höhe-
sowie bei Abgeordneten der SPD) ren Preis um vielleicht 0,5 Cent pro Kilowattstunde be-
Denn wir sind die Volksvertreter. Die Umsetzung muss deuten. Lasst uns das einmal mit den Kostensteigerun-
sachlich und fachlich und ohne Übertreibung und gen vergleichen, die wir in den letzten Jahren hatten:
Schwarzmalerei erfolgen. Seit 2005 ist der Strompreis um rund 7 Cent gestiegen.
Die bei der Rückkehr zum Atomausstieg anfallenden
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 0,5 Cent sollte uns eine Energiewende doch wert sein.
DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bei der Umsetzung dieses gesellschaftlichen Konsen- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
ses in Politik sind drei wichtige Punkte zu bedenken: der SPD)
Erstens. Wir müssen raus aus den alten Atomanlagen.
Das heißt, die sieben alten Reaktoren und Krümmel Die zweite Frage bezieht sich auf die Energiesicher-
müssen abgeschaltet werden, und zwar nicht nur vo- heit. Jede Sekunde muss Strom da sein. Ich finde es gut,
rübergehend, sondern endgültig, ein für alle Mal. dass auch Herr Röttgen heute sehr klar gesagt hat, dass
es beim Atomausstieg nicht um die Frage der Energie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sicherheit geht. Wir haben genügend Kapazitäten. Wir
bei der SPD und der LINKEN) haben mit den acht Atomkraftwerken 10 Prozent unseres
Stromanteils abgeschaltet, und der Stromimport liegt
Der zweite wichtige Punkt ist, dass die im letzten
momentan bei 1 bis 2 Prozent. Das ist offensichtlich
Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung endlich voll-
nicht das Problem, zumal die Experten sagen, dass der
ständig zurückgenommen werden muss,
Import im Laufe des Jahres sogar wieder zurückgehen
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird.
NEN]: Jawohl! Das muss einmal gesagt wer-
den!) Die Situation könnte allerdings im Mai schwieriger
werden, wenn weitere fünf Atomkraftwerke zu War-
denn sie war ein großer Fehler. Dieser Fehler muss jetzt tungszwecken vom Netz gehen. Das kommt einem so-
korrigiert werden. fortigen Atomausstieg gleich. Für das Netz – nicht für
die Kapazität – stellt das ein Problem dar. Auch da gilt:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) Es ist wichtig, dass die Bundesregierung gemeinsam mit (D)
bei der SPD und der LINKEN – Dorothea
den Energieunternehmen – auch die müssen sich dazu
Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er
verhalten – im Mai eine Lösung findet. Es ist machbar;
muss vor allem zugegeben werden!)
das sagen alle Experten. Es liegt aber auch in der Verant-
Der dritte wichtige Punkt ist, dass wir eine konse- wortung der Energieunternehmen, dass es im Mai nicht
quente Politik des Energiesparens, der Energieeffizienz zu einem Blackout kommt.
und der erneuerbaren Energien machen müssen, um auch
die verbleibenden Atomkraftwerke so schnell wie mög- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lich überflüssig zu machen und abschalten zu können. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Wir Grünen sagen: Das können wir in der nächsten Le- KEN)
gislaturperiode schaffen.
Deshalb sagen wir: Die Energiewende ist möglich,
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ohne zu hohe Kosten und ohne Gefährdung der Versor-
NEN]: 2017 spätestens!) gungssicherheit. Die Bürger brauchen davor keine Angst
zu haben. Die Einzigen, die Angst haben müssen, sind
Wir freuen uns, dass das Bundesumweltamt uns da recht die Energiekonzerne; denn durch die Energiewende ver-
gibt. lieren sie das Monopol, das sie jetzt noch haben und das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihnen den Freibrief gibt, die Energiepreise so hoch stei-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- gen zu lassen, wie wir es in den letzten Jahren erlebt ha-
KEN) ben: Seit 2005 sind die Energiepreise um 40 Prozent
gestiegen. Das liegt am Monopol, nicht an den erneuer-
Wenn wir diesen Konsens politisch umsetzen wollen, baren Energien.
haben wir allerdings einige Fragen zu beantworten. Die
Bürger fragen: Wie teuer ist das? Über diese Frage kön- Ich sage Ihnen von CDU und FDP: Pfeifen Sie die
nen wir nicht einfach hinweggehen. Es wäre falsch, an Atomfreunde in Ihrer Fraktion zurück! Nehmen Sie den
diesem Punkt Angst zu machen. Aber das tun viele, Konsens in der Bevölkerung wahr, und setzen Sie ent-
selbst aus diesem Hause. Wir sollten uns einmal ganz ru- sprechende Maßnahmen um! Dann sind wir an Ihrer
hig anschauen, was die Bundesregierung selber im letz- Seite. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie am Ende der
ten Herbst an Gutachten zu diesem Thema auf den Tisch Atomlobby wieder folgen, dann werden wir Sie heftig
gelegt hat. Ich erinnere an das Gutachten vom EWI-In- kritisieren. Damit würden Sie eines machen, nämlich
stitut. EWI wird vor allen Dingen von Energiekonzernen den Konsens, den wir jetzt in der Gesellschaft haben,
bezahlt; das heißt, es steht nicht im Verdacht einer be- aufkündigen.
12204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Frau Kollegin Höhn, achten Sie bitte auf die Redezeit. NEN]: Sagen Sie doch einfach, dass Sie sich
geirrt haben!)
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Wenn das so einfach wäre und wenn man nur sagen
Der Konsens besagt eindeutig und klar: Raus aus der müsste, man habe sich geirrt!
Atomkraft und rein in die erneuerbaren Energien. Was haben wir gemacht? Es gab einen gewissen Kon-
Vielen Dank. sens. Ich erwähne dies, weil er von der SPD angemahnt
wurde und weil ich der Meinung bin, man sollte sich an
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dieser Stelle auf einen Konsens beziehen. Es muss natür-
bei der SPD und der LINKEN) lich unser Ziel sein, einen ehrlichen Konsens zu erwir-
ken. Tun wir doch nicht so, als ob wir alle unsere Hände
Vizepräsidentin Petra Pau: in Unschuld waschen könnten. Es gab doch hier, was die
Das Wort hat der Kollege Dr. Nüßlein für die Unions- Sicherheitsthematik angeht, offenkundig einen Konsens.
fraktion. (Ulrich Kelber [SPD]: Nix! Nix! Nix!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – Doch! Doch! Doch!
der FDP)
(Ulrich Kelber [SPD]: Nein! Vorsicht!)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Sie haben in Ihrer Ausstiegsvereinbarung aus dem Jahr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war 2000 klar bestätigt, dass die Kernkraftwerke in Deutsch-
von der Rede der Frau Höhn nur bis zu der Stelle ange- land auf einem international hohen sicherheitstechni-
tan, an der Sie, Frau Kollegin, den Versorgern höchst schen Niveau sind.
präventiv und einseitig die Schuld für einen Blackout (Michael Kauch [FDP]: Genau! – René Röspel
und für höhere Preise zugeschoben haben, was im Rah- [SPD]: Ziehen Sie das in Zweifel?)
men einer Energiewende passieren kann.
Aufgrund einer Änderung in Ihrer Parteipolitik wurde
So einfach können wir es uns politisch aber nicht ma- der Ausstieg auf das Jahr 2020 verschoben. Dabei sind
chen. Wir haben letzten Herbst ein Energiekonzept be- Sie doch gemeinsam mit den Grünen davon ausgegan-
schlossen, das wohlüberlegt und aus unserer Sicht gut gen, dass unsere Kernkraftwerke sicher sind.
austariert war.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Mit dem kern-
(B) (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) technischen Regelwerk, das Sie außer Kraft (D)
gesetzt haben!)
Es ging darum, mithilfe von Laufzeitverlängerungen den
notwendigen und teuren Ausbau der erneuerbaren Ener- – Frau Kollegin, wir haben dieses Regelwerk nicht außer
gien gegenzufinanzieren. Wir haben nicht geglaubt, dass Kraft gesetzt; das ist schlicht falsch. Ihre Minister haben
wir dafür viel Applaus und großen Zuspruch bekommen sich nicht getraut, dieses Regelwerk in Kraft zu setzen;
würden. bis heute ist es in der Erprobungsphase.
Wir haben das Energiekonzept beschlossen, weil wir (Ulrich Kelber [SPD]: Die war im Oktober
gesehen haben, dass wir mit dem Ausbau der erneuerba- 2010 abgeschlossen!)
ren Energien in Bezug auf Netze und Speicher bei wei- Man kann jetzt nicht dem Kollegen Röttgen die Schuld
tem noch nicht so weit sind, wie wir sein müssten, um in die Schuhe schieben, wenn Trittin und Gabriel es
eine Energiewende nicht nur rhetorisch herbeizuführen. letztendlich nicht umgesetzt haben. Ich bitte schon um
Wir hatten es in der Vergangenheit versäumt – ich mache ein bisschen Lauterkeit in dieser Debatte.
da keine Schuldzuweisung; deshalb sage ich an dieser
Stelle bewusst „wir“ –, mit dem Aufbau und Ausbau von (Beifall des Abg. Stefan Müller [Erlangen]
Kapazitäten eine Versorgung mit erneuerbaren Energien [CDU/CSU])
sicherzustellen. Wir sind da bei weitem nicht so weit
– manchmal wird dies suggeriert –, wie wir gerne wären. Vizepräsidentin Petra Pau:
Die Diskussion in den nächsten Wochen wird sich Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
noch mehr der Frage widmen müssen, wie wir die erneu- gen Kelber?
erbaren Energien sinnvoll weiter ausbauen können.
Diese Diskussion muss man jenseits von Wahlkampfge- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
töse und parteipolitischem Kalkül führen. Ich habe Ver- Ja, gern.
ständnis dafür, dass wir von der Union Prügel beziehen.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ulrich Kelber (SPD):
NEN]: Zu Recht beziehen Sie hier Prügel!) Zum kerntechnischen Regelwerk: Der Unterschied
ist: Das neue Regelwerk wurde, bis Herr Röttgen kam,
Das muss man mit Demut hinnehmen. Nichtsdestotrotz bereits parallel angewendet; Herr Röttgen hat dafür ge-
sind wir in unserer Auffassung bestärkt, dass wir auf sorgt, dass jetzt nur noch das alte Regelwerk angewandt
dem richtigen Weg sind. wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12205
Ulrich Kelber
(A) Jetzt zur Frage, die ich Ihnen stellen wollte: Haben (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist kein Fakt! Das (C)
Sie die Atomausstiegsvereinbarung von 2000 und das ist eine Lüge!)
Gesetz von 2002 bis zum Ende gelesen? Hinter dem von
Kollegen aus Ihren Reihen oft zitierten Teil, demzufolge Es ist auch für Sie etwas Neues, wenn wir nun die
man die Atomkraftwerke zu dem Zeitpunkt als sicher an- Restrisiken, die Sie damals in Kauf genommen haben,
sah, wird erstmals die gesetzliche Normierung der gemeinsam neu bewerten. Ich unterstreiche, dass das
Pflicht zur periodischen Sicherheitsüberprüfung von Thema Ausstieg für uns von der Union nichts Neues ist,
Atomkraftwerken geregelt. Diese Überprüfung dauert auch wenn man jetzt so tut, als seien wir diejenigen ge-
übrigens etwa anderthalb Jahre für ein Kraftwerk, nicht wesen, die die Kernenergie bis zum Sankt-Nimmerleins-
sechs Wochen für 17 Kraftwerke. Außerdem ist die ste- Tag nutzen wollten. In unserem Energiekonzept und in
tige Anpassung der Anforderungen an den Stand von unserem Koalitionsvertrag steht ganz klar: Wir werden
Wissenschaft und Technik in der Vereinbarung zum aussteigen und keine neuen Anlagen bauen. Es ist also
Atomausstieg geregelt worden. Haben Sie den Teil gele- falsch, uns in Richtung der Atomlobby schieben zu wol-
sen? Würden Sie ihn in Zukunft bitte mit zitieren? len,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): wenngleich ich das parteipolitische Kalkül dahinter na-
Erstens habe ich das gelesen. Zweitens haben Sie, lie- türlich nachvollziehen kann.
ber Kollege Kelber, doch gemerkt, dass ich momentan
Nun räume ich ein, dass es einen Unterschied gibt:
keine konfrontative Rede halten will, sondern vom Kon-
Wir haben klipp und klar gesagt, dass wir die Laufzeiten
sens reden möchte. Drittens zwingen Sie mich jetzt,
verlängern, um den Ausbau der erneuerbaren Energien
noch einmal zu sagen, dass Sie da eine klare Vereinba-
gegenzufinanzieren. Darum bitte ich, uns abzunehmen,
rung mit den Versorgern getroffen haben, in der steht:
dass wir uns bei den Erwägungen, die wir jetzt machen
Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um
müssen, ein bisschen schwertun, weil jetzt plötzlich die-
diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde lie-
ses Geld – zumindest das, was aus der Nutzung der
gende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
Kernenergie kommen sollte – wegbrechen wird und am
(Ulrich Kelber [SPD]: Ich habe doch gerade Schluss nur noch die heute schon angesprochenen Ein-
den anderen Teil zitiert! Ich habe Ihnen gerade nahmen aus dem Emmissionshandel übrig bleiben wer-
das Gegenteil erzählt!) den. Da ist es schon schwierig, eine Lösung zu finden,
wenn die Finanzierung teilweise wegbricht, man aber
Nun sagen Sie, dass der Satz, der vorne steht, gegen- gleichzeitig die erneuerbaren Energien schneller aus-
(B) standslos sei, weil das, was weiter hinten steht, gelte. Ich bauen will. Das ist keine leichte Übung; da braucht man (D)
möchte jetzt die Gegenfrage stellen – Sie können sie eine ganze Menge Gehirnschmalz.
jetzt schlicht nicht beantworten; aber vielleicht können
wir einmal bilateral darüber reden –, was der Passus im Ich möchte, ohne dass Sie es gleich wieder als Vor-
Vertrag eigentlich bedeutet. wurf verstehen sollen, deutlich unterstreichen: Wir ha-
ben uns damals bei der Erstellung des Energiekonzepts
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das, was im immerhin Gedanken gemacht, wie man die Erforschung
Gesetz steht, ist relevant!) und den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Geld
kosten werden, angesichts knapper Haushaltskassen
Was wollten Sie denn damit sagen? Sie haben sich ver- finanziert. Das haben andere versäumt oder vernachläs-
pflichtet, nichts an den Sicherheitsstandards und der sigt.
Sicherheitsphilosophie zu ändern. Es wird doch wohl ir-
gendeinen Grund haben, dass das in diesem Vertrag Es ist einigermaßen offensiv, Frau Kollegin Höhn,
steht. sich jetzt hier hinzustellen und zu sagen: Das kostet alles
nichts, das geht zum Nulltarif.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ulrich Kelber [SPD]: Der dynamische Faktor
Ich habe Ihr eigenes Gutachten zitiert! –
steht im Gesetz!)
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Man kann doch jetzt nicht kommen und sagen: „Wir ha- NEN]: EWI! – Gegenruf der Abg. Bärbel
ben es einmal da vorne reingeschrieben und weiter hin- Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist
ten im Vertrag zurückgenommen!“ Es geht hier auch um denn EWI?)
Ehrlichkeit. Das ist nicht korrekt. Sie sagen, die Kosten je Kilowatt-
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Unwahrheit! stunde Strom steigen um 0,5 Cent. Ich bin mir nicht si-
Sie dürfen nicht die Unwahrheit sagen!) cher, ob das das Ende der Fahnenstange ist, weil Sie den
Emissionshandel berücksichtigen müssen, weil Sie die
Ich will darauf hinaus, dass Sie offenkundig unsere höheren Kosten für die Nutzung der erneuerbaren Ener-
Sicherheitseinschätzungen teilen, denn Sie haben auf gien berücksichtigen müssen usw.
Basis dieser Sicherheitseinschätzungen gesagt, dass wir (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glau-
die Kernkraft in diesem Land 20 Jahre länger nutzen ben Sie Ihrem eigenen Gutachten nicht?)
können. Das ist doch Fakt; ich mache Ihnen da gar kei-
nen Vorwurf, sondern stelle es nur fest. – Ich will es nicht in Abrede stellen.
12206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) Das Problem ist: Wenn man solche Themen kritisch Nicht, weil wir die Rechte der anderen Ausschüsse be- (C)
beleuchtet, wird man sofort an den politischen Pranger schneiden wollen – das bei Gott nicht.
gestellt. Es heißt dann: Der will doch eigentlich gar nicht
wirklich aussteigen. – Das stimmt so nicht. Ich will nur (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist
sagen: Wir müssen uns natürlich mit folgenden Proble- aber das Ergebnis!)
men beschäftigen: Was heißt das für die Verbraucher? – Das ist nicht das Ergebnis. Hören Sie einfach einmal
Hier sitzt der angebliche Vertreter der Verbraucher, der zu. Die vielen Einzelfragen, die es zu diskutieren gibt,
morgen mit der Forderung nach Sozialtarifen kommt werden unter unterschiedlichsten Federführungen in den
und dann uns und den Versorgern die Schuld für die Fol- einzelnen Ausschüssen diskutiert. Gerade bei Anträgen
gen der Ausstiegspolitik in die Schuhe schiebt. Was zur Energiepolitik gibt es so lange Listen von federfüh-
heißt das für die Wirtschaft? Was heißt das für die ener- renden bzw. mitberatenden Ausschüssen, wie sonst sel-
gieintensiven Betriebe? Das sind die Themen, die uns an ten. Vor diesem Hintergrund wollen wir zur Herstellung
dieser Stelle beschäftigen müssen. eines Konsenses zu den zentralen energiepolitischen
Über dem Ganzen steht ganz zentral das Thema „Be- Fragen einen solchen Querschnittsausschuss bilden.
wahrung der Schöpfung“. Uns als Union hat Fukushima Dort kann man diese Themen bündeln und zu Ergebnis-
in der Tat mehr bewegt als Tschernobyl – nicht wegen sen kommen. Detailfragen sind natürlich wieder in den
der Kategorie oder der Zahl der Opfer; beides ist gleich Fachausschüssen zu behandeln.
erschütternd. Aber, lieber Kollege Gysi, das Reaktor- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir
unglück in Tschernobyl beruhte in der Tat ganz eindeutig schließen Kollegen aus!)
auf menschlichem Versagen und dem Versagen eines
menschenverachtenden Sowjetregimes. Die SPD-Bundestagsfraktion hat nicht nur diesen
Sonderausschuss beantragt, sondern hat ein mehr als
(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer 40 Seiten umfassendes Energieprogramm vorgelegt, das
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis jetzt ging eine – ich betone: eine! – Grundlage für die Arbeit eines
es ja!) solchen Sonderausschusses sein kann. Es ist ein Vor-
Fukushima in Japan hat eine andere Dimension. Wir schlag, der aufzeigt, wie wir möglichst im Konsens
sehen ganz klar und deutlich die Probleme bei der Be- einen Weg finden können, den Umbau des Energiesys-
herrschbarkeit dieser Technologie. Seien Sie versichert: tems, der jetzt ansteht, gemeinsam zügig voranzubrin-
Wir werden uns dieser Thematik wohlüberlegt und ziel- gen.
orientiert annehmen. Frau Höhn hat eben gesagt, dass es schon so etwas
Vielen herzlichen Dank. wie einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Die Men-
(B) (D)
schen wollen beschleunigt aus der Kernenergie ausstei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen und beschleunigt in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien einsteigen; das ist unbestreitbar. Ich glaube
Vizepräsidentin Petra Pau:
aber, dass es bei dem, was wir hier machen und was die
Öffentlichkeit zu Recht von uns erwartet, um mehr geht.
Der Kollege Hempelmann hat für die SPD-Fraktion Es geht auch darum, einen Konsens darüber zu finden,
das Wort. wie wir den zügigen Umbau des Energiesystems hin zu
(Beifall bei der SPD) einem System, das von erneuerbaren Energien dominiert
wird, gestalten sollen. Hierbei geht es nicht um triviale
Fragen. Es geht beispielsweise darum, wie wir das mit
Rolf Hempelmann (SPD): einem Höchstmaß an Versorgungssicherheit – und das zu
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! jeder Sekunde im Jahr – verbinden. Es geht natürlich um
Herr Nüßlein, wer Ihre, wie Sie selbst sagen, auf Kon- die Frage, wie wir das mit dem Ziel verbinden, zu ge-
sens getrimmte Rede gerade gehört und in Erinnerung währleisten, dass Energie bezahlbar bleibt, Herr Gysi,
hat, was Ihr Kollege Altmaier zu Beginn der Debatte ge- und zwar nicht nur für die Industrie, sondern selbstver-
sagt hat, wer außerdem weiß, wie Herr Kauder oder Herr ständlich auch für den privaten Endverbraucher, für den
Brüderle oder Herr Röttgen zur Energiepolitik stehen, einzelnen Haushalt. Es geht auch um die Frage, wie wir
weiß, wie breit das Meinungsspektrum zu diesen Fragen das so klimaverträglich wie möglich hinbekommen.
allein in Ihrer Fraktion ist. Vielleicht wäre es an der Zeit,
dass Sie zunächst einmal in Ihren eigenen Reihen an ei- Diese Fragen erfordern eine Befassung im Detail und
nem Energiekonsens arbeiten. eine Verständigung zum Beispiel darüber, wie wir es in
der Übergangsphase im Erzeugungsbereich mit Kohle-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Gaskraftwerken halten; das hat heute explizit noch
DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Aber keiner angesprochen. Darüber werden wir uns verständi-
nicht zu lange Zeit dafür nehmen!) gen müssen. Wie halten wir es mit der Industrie, und
Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Einsetzung eines zwar nicht nur mit der Industrie, die wir als Zukunftsin-
Sonderausschusses beantragt. Warum haben wir das ge- dustrie titulieren, sondern mit all den anderen Unterneh-
tan? men in unserem Land? Wer sich mit den Unternehmen in
Deutschland auskennt, der weiß, dass wir eine hochver-
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das netzte Industrie haben, dass die Unterscheidung zwi-
fragen wir uns auch!) schen Alt und Neu eher in die Irre führt und dass wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12207
Rolf Hempelmann
(A) sehr stromintensive Unternehmen haben, für die Energie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
bezahlbar bleiben muss. Diese Unternehmen sind die der CDU/CSU)
Basis für Wertschöpfungsketten in unserem Land, die
nicht nur viele Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen, Horst Meierhofer (FDP):
sondern die auch dafür sorgen, dass wir bei den Techni- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ken der erneuerbaren Energien weit vorne liegen. Ich fand diese Debatte bislang in weiten Teilen wohltu-
Das sind Fragen, über die man dezidiert und qualifi- end und relativ entspannend, abgesehen von einigen
ziert reden muss. Man muss das Ganze bündeln und ge- Spitzen. Wir sollten versuchen, weitgehend Einigkeit da-
meinsam wenigstens Leitlinien festgelegen. Wir haben rüber zu erzielen, wie wir die Bürger einbeziehen und
eine große Chance. Diese Chance sollten wir nicht unge- wie wir einen Wechsel hinbekommen können; das halte
nutzt lassen. ich für eine vernünftige Sache. Hierüber müssen wir uns
ernsthaft Gedanken machen. Mir war nicht ganz klar,
(Beifall bei der SPD) warum Herr Steinmeier meinte, alle Fragen seien schon
beantwortet. Ich nehme für uns in Anspruch, dass jetzt
Wer den Zeitplan bis zum Juni dieses Jahres betrachtet, nicht alle Fragen so beantwortet werden wie in der Ver-
der hat Bedenken, dass die Koalitionsfraktionen diese gangenheit. Man kann die Fragen mit gutem Gewissen
Chance mit uns gemeinsam hier im Parlament tatsäch- neu beantworten. Frau Höhn hat selber darauf hingewie-
lich nutzen wollen. Die Zeit, die uns am Ende bleibt, ist sen, dass sich seit Fukushima die Wahrnehmung der
vergleichbar mit dem, was im letzten Jahr bei der Lauf- Restrisiken bei der Mehrheit der Bevölkerung verändert
zeitverlängerung passiert ist. Diese Zeit reicht für eine hat. Das nehme ich auch für mich in Anspruch.
Kopfbewegung: Das kann man nur noch abnicken. Das
liegt weder im Interesse der Koalitionsfraktionen noch Bei Tschernobyl wurde damals noch darauf verwie-
im Interesse des gesamten Parlaments. sen, es handele sich ja um einen russischen Reaktortyp,
und die UdSSR befinde sich gerade in der Endphase.
(Beifall bei der SPD) Jetzt sagen manche: Japan ist nicht vergleichbar, weil es
dort ein Erdbeben gab. – Das wussten wir aber vorher.
Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: Wir brauchen zu-
All das führt zum Umdenken. Man sagt nun: Ein Land,
erst den gesellschaftlichen Konsens, und dann vollzie-
das technologisch ähnlich hoch entwickelt ist wie unse-
hen wir das im Parlament nach; dafür brauchen wir erst
res – wenn auch nach internationalen Standards die japa-
einmal den Input einer Ethikkommission. – Ich will gar
nischen Kernkraftwerke nicht auf dem gleichen guten
nicht in Abrede stellen, dass dort vernünftige Leute zu-
Stand sind wie die unseren –, hat mit Sicherheitsreserven
sammensitzen. Es ist sicherlich auch interessant, was
kalkuliert. Diese haben aber nicht ausgereicht. Die
(B) dort besprochen wird. Aber wichtig ist die ethische Realität hat das Ganze überholt. In einem solchen Fall ist (D)
Frage. Sie hat uns geleitet. Sie war Grundlage für die
es nicht nur legitim, sondern dringend nötig, neu nachzu-
Entscheidungen zum Energiekonsens, zum Atomkon-
denken. Dazu dient das Moratorium.
sens Anfang dieses Jahrtausends.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) der CDU/CSU)
Jetzt müssen die parlamentarische Befassung und die Dieses Moratorium leistet für mich einen Beitrag zu
Lösung der konkreten Fragen, die ich gerade angespro- mehr Glaubwürdigkeit und stellt keinen Kursschwenk
chen habe, im Mittelpunkt stehen. um 180 Grad dar; das bitte ich anzuerkennen. Es ist nicht
so, dass wir nicht wissen, was wir wollen. Wenn Sie das
Wir haben ein sehr seriöses Angebot unterbreitet, das
Ganze nicht nur politisch ausnutzen wollen, sondern
in anderthalb Jahren von meiner Fraktion erarbeitet wor-
auch Interesse an der Sache haben, wie es Herr
den ist. Es wurde übrigens in einer Querschnittsarbeits-
Hempelmann oder Frau Höhn gezeigt haben, dann wäre
gruppe „Energie“ vorbereitet, in der Vertreter von zehn
ich sehr erfreut, wenn wir gemeinsam die Fragen beant-
unterschiedlichen Fachausschüssen sitzen. Ich glaube,
worten: Was hat sich jetzt verändert, und was sind un-
dieses Querschnittsdenken hat sich bewährt. Lassen Sie
sere Schlussfolgerungen? – Ich bin mir relativ sicher,
uns angesichts der zu beantwortenden Querschnittsfra-
dass wir zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kom-
gen auch im Parlament so verfahren und den vorgeschla-
men werden, wenn es um die Fragen geht, wie viele Off-
genen Sonderausschuss einsetzen. Ich glaube, er bietet
shorewindenergieanlagen, wie viele neue Kohlekraft-
die große Chance, dass wir zügig zu einer Verständigung
werke und wie viele neue Gaskraftwerke wir benötigen
kommen. Alle Parteien, aber auch die Gesellschaft ins-
und was das dann für den Gebäudebestand bedeutet.
gesamt, können dabei nur gewinnen.
Wenn wir mehr Gas verstromen, müssen wir überlegen,
Vielen Dank. ob wir im Energiebereich im Hinblick auf Gebäude-
management und -sanierung noch mehr investieren sol-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len, damit dort weniger verbraucht wird.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden auch unterschiedlicher Meinung sein, wie
sinnvoll es ist, kurzfristig Strom aus anderen Ländern zu
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: importieren, weil wir das Leitungsnetz in Deutschland
Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer für die nicht so schnell ausbauen können. Bislang war unser
FDP-Fraktion. Ansatz: Es macht für uns wenig Sinn, aus Frankreich,
12208 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Horst Meierhofer
(A) Polen oder Tschechien Atom- oder Kohlestrom zu im- beim Thema Elektromobilität – Stichwort „Zwischen- (C)
portieren. Wir wollen angesichts unserer höheren Sicher- speicher“ – voranzugehen.
heitsanforderungen dann lieber Strom selbst erzeugen.
Dieser Meinung sind wir weiterhin. Wir müssen aber hö- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer bremst denn da?)
here Sicherheitsstandards als Maßstab anlegen. Höhere
Sicherheitsstandards sind ebenfalls eine Folgerung aus Wir brauchen technologische Antworten. Wir dürfen
Fukushima. Für mich ist auch nicht klar, dass alle alten nicht nur sagen, was wir alles nicht wollen, sondern wir
Kraftwerke abgeschaltet bleiben. Möglicherweise ergibt müssen den Leuten auch offen sagen, welche Auswir-
sich aus der Untersuchung, die wir jetzt durchführen, kungen das hat, und diese Auswirkungen sind nicht nur
dass die älteren Kraftwerke in einigen Punkten sicherer angenehm.
sind als die neuen. So gibt es getrennte Stromkreisläufe
oder Sicherheitsreserven, die bei älteren Kraftwerken so (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
oft aktualisiert worden sind, dass sie besser sind als bei Es ist eben nicht angenehm, eine 380-kV-Leitung vor der
den neueren. Das bedarf der genauen Untersuchung. Tür zu haben. Auch ein Pumpspeicherkraftwerk im
schönen Schwarzwald ist keine angenehme Sache. Es ist
Herr Hempelmann, in der Diskussion über unser auch nicht angenehm, zu überlegen, woher der Strom
Energiekonzept könnte man doch auch über das Energie- künftig kommen soll, nachdem jetzt acht Kernkraft-
konzept der SPD, das genauso ausführlich ist wie unse- werke abgeschaltet wurden. Ich muss mir überlegen, wie
res, debattieren. Man muss nicht immer einen neuen es weitergehen soll, wenn andere Kernkraftwerke in die
Ausschuss fordern und wieder von vorne anfangen. Bei Revision kommen. Diese Revision wollen ja alle, damit
der Debatte über unser Energiekonzept haben wir erst- es sicher ist. Vielleicht haben wir dann eine niedrigere
mals nicht nur den Atomausstieg als Ziel gesetzt – koste Spannung im Netz, die dazu führt, dass die Sicherheit
es, was es will –, sondern auch klar begründet, warum der anderen Kernkraftwerke nicht mehr garantiert wer-
wir Milliardenbeträge von den großen, bösen Energie- den kann.
versorgern, Herr Gysi, einkassieren. Wir haben aufge-
zeigt, wie man schneller auf die Erneuerbaren umsteigen (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Davon
kann, und zwar auf einem Weg, der international durch- haben die keine Ahnung!)
setzbar ist, der nicht zu Verlagerungen von Unternehmen Deshalb sage ich: Ein sofortiges Abschalten können wir
und Arbeitsplätzen führt und der sicherstellt, dass wir in uns nicht leisten, es sei denn, wir holen den Strom aus
Deutschland auch technologisch an der Spitze bleiben. Fessenheim, das 30 Kilometer von Freiburg entfernt ist,
Ich bin überzeugt, dass diese Punkte vernünftig sind. oder aus Temelin, das direkt an der Grenze zu Bayern
(B) Wenn wir jetzt allerdings schneller aus der Kernkraft liegt. (D)
aussteigen, dann fehlt etwas. Dann stellen wir fest, dass
der Strom teurer wird und dass wir mehr importieren Wir müssen versuchen, gemeinsam zu einem Ergeb-
müssen. Sie können sagen: Das ist uns völlig egal. – Mir nis zu kommen. Wir brauchen keinen neuen Ausschuss.
ist das aber nicht egal, weil das dazu führt, dass die Si- Dadurch, dass Wirtschafts- und Umweltausschuss betei-
cherheit international nicht zunimmt, sondern abnimmt. ligt sind, fließen die Meinungen der Umwelt- und Wirt-
schaftspolitiker der verschiedenen Fraktionen ein. Auch
Wir brauchen andere Antworten. Der Strompreis darf bei Ihnen gibt es einen Unterschied zwischen Umwelt-
in Deutschland nicht so stark ansteigen. Anderenfalls und Wirtschaftspolitikern; das muss auch so sein. Wir
werden die Unternehmen versuchen – ob man das nun müssen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Wir
wahrhaben will oder nicht –, auf dem internationalen brauchen keinen Ausschuss, der für mehr Öffentlichkeit
Markt den Strom vom günstigsten Anbieter zu bekom- sorgt. Gleichzeitig wird die Arbeit der Ethikkommission
men. Das werden wir nicht verhindern können. Der gute in der Öffentlichkeit ins Lächerliche gezogen.
Wille, im eigenen Häuschen und im eigenen Garten alles (Ulrich Kelber [SPD]: Werden die Ausschüsse
schön zu machen, ist das eine. Das andere ist, auf inter- denn da beteiligt?)
nationaler Ebene eine Energiewende einzuleiten. Dabei
müssen wir die Wirtschaftlichkeit gerade der strominten- Wir müssen uns schon darauf verständigen, dass wir ge-
siven Industrie berücksichtigen. Eine Aluminiumhütte, meinsam zu Ergebnissen kommen wollen. Das gilt übri-
die Gewässer mit irgendwelchen roten Flüssigkeiten ver- gens auch für die Endlagerfrage.
schmutzt, nutzt uns nichts. Wir müssen versuchen, das
Wenn Sie das Problem mit uns gemeinsam in Angriff
Problem bei uns zu lösen. nehmen wollen, dann sorgen Sie bitte dafür, dass wir in
(Beifall bei der FDP) der Öffentlichkeit auch dann eine Mehrheit bekommen,
wenn es um unangenehme Dinge wie die Kostenfrage,
Dazu habe ich zu wenige Antworten gehört. Frau die Endlagerung oder Stromtrassen geht. Wenn uns das
Höhn, ich habe auch nicht gehört, wie es gelingen soll, gelingt, machen wir wirklich einen großen Schritt nach
dass die erneuerbaren Energien grundlastfähig werden, vorne.
wenn wir nicht auch bereit sind, mehr Pumpspeicher- Vielen Dank.
kraftwerke zu bauen, wenn wir nicht bereit sind, die
Speichertechnologien hinsichtlich der Methanisierung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
weiterzuentwickeln, und wenn wir nicht bereit sind, der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12209

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: In Deutschland gibt es Planungen für Windkraftanla- (C)
Der Kollege Oliver Krischer hat das Wort für gen in der Größenordnung von 1 400 Megawatt. Diese
Bündnis 90/Die Grünen. Anlagen werden nur deshalb nicht gebaut, weil die Bun-
deswehr das verhindert. Sie sagt, dass diese Anlagen das
Radar stören würden. Das ist absurd; denn das Radar im
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereich des zivilen Luftverkehrs und das Radar der ame-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rikanischen Streitkräfte wird dadurch nicht gestört. Der
Ich bin froh, heute auch das eine oder andere nachdenk- Bundesumweltminister müsste nur einmal mit dem Ver-
liche Wort aus den Reihen der Regierungsfraktionen ge- teidigungsminister reden, um dieses Problem zu lösen.
hört zu haben. Das könnten Sie sofort tun. Damit könnten Sie deutlich
machen, dass Sie bereit sind, zu handeln.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
hättest du uns nicht zugetraut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Diese Debatte unterscheidet sich wohltuend von anderen
Debatten, die wir sowohl vor als auch nach Fukushima Ich nenne das Beispiel Onshorewindenergie. Der
geführt haben. Diese Debatte unterscheidet sich auch Bundesverband Wind-Energie hat vor einigen Tagen
wohltuend von dem, was wir im November letzten Jah- eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass wir, wenn wir die
res erlebt haben, als Sie hier die Laufzeitverlängerung Ziele von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, näm-
beschlossen haben. Das Energiekonzept, das Sie damals lich 2 Prozent der Landesfläche – das ist wirklich nicht
beschlossen haben, haben Sie als Jahrhundertwerk, als viel – für Windenergie zu nutzen, zugrunde legen wür-
epochales Machwerk, als leuchtenden Pfad bezeichnet. den, die installierte Leistung in Deutschland fast ver-
Was habe ich damals nicht alles gehört! Es ist gut, dass achtfachen könnten. Aber – ich schaue in Richtung
Sie jetzt einsehen, dass Ihr Energiekonzept, dessen Kern Unionsfraktion und FDP-Fraktion – wer blockiert denn
die Laufzeitverlängerung ist – die Atomkraft sollte an- in den Ländern den Ausbau der Windenergie? Wer ist
geblich eine Brücke hin zu den erneuerbaren Energien das? Überall sind es Union und FDP, die blockieren.
darstellen –, in sich zusammengefallen ist. Hier könnten Sie sofort aktiv werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nicht sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael
„angeblich“! Das steht da schwarz auf weiß Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Besuchen Sie
geschrieben!) einmal Niedersachsen!)
(B) Wir haben – das ist völlig richtig – in der Gesellschaft – Dann besuchen Sie einmal Nordrhein-Westfalen, Bay- (D)
einen breiten Konsens: Raus aus der Atomkraft, rein in ern und Baden-Württemberg; dort sehen Sie, dass die
die erneuerbaren Energien. Die Frage ist jetzt doch nur: Union an vorderster Front bei den Blockierern steht.
Sind wir, sind Sie, die Koalition und die Regierung, in
der Lage, diesen Konsens umzusetzen? Das ist die ent- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Seite an
scheidende Frage, die wir jetzt stellen müssen. Seite mit Ihren Kollegen!)

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und Ein anderes Beispiel: die Kraft-Wärme-Kopplung. In


machen Sie dabei mit? Das ist auch eine span- der Großen Koalition wurde beschlossen, dass sie einen
nende Frage!) Anteil von 25 Prozent an der Stromversorgung haben
soll. In Ihrem alten Energiekonzept taucht das überhaupt
– Darauf komme ich jetzt zu sprechen. – Ich habe da nicht mehr auf. Wir haben gemeinsam mit den Kollegen
große Zweifel. Wir haben die Bundesregierung einmal von der SPD viele Vorschläge gemacht, wie wir die
konkret gefragt, welche Maßnahmen ihres Energiekon- Kraft-Wärme-Kopplung voranbringen können. Greifen
zepts sie außer der Laufzeitverlängerung umgesetzt hat. Sie das auf! Das brauchen Sie nur umzusetzen. Dafür
Die Antwort war entwaffnend ehrlich: Nichts. Außer der braucht man keine Kommissionen und keine Debatten.
Laufzeitverlängerung haben Sie in den letzten Monaten Das können Sie, wenn Sie es politisch wollen, sofort
keine andere Maßnahme ergriffen. Deshalb zweifelt die umsetzen. Tun Sie es einfach! Das wäre richtig, um raus
Gesellschaft daran, dass Sie den Konsens „Raus aus der aus der Atomkraft und rein in die erneuerbaren Energien
Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien“ umsetzen. und Energieeffizienztechnologien zu kommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Herr Röttgen und Herr Brüderle haben einen Sechs- Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Energie-
Punkte-Plan vorgelegt. Er enthält viel Lyrisches, viele sparfonds, Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, CO2-Ge-
Ankündigungen, viel Unkonkretes, aber auch manches bäudesanierungsprogramm, Energieleitungsausbauge-
Richtige. Ich habe aber erhebliche Zweifel daran, dass setz. Es gibt etliche Projekte, die wir anpacken können.
das ernst gemeint ist. Statt weitere Pläne vorzulegen und Sie müssen es einfach nur tun, statt die Schuld – Herr
Konzepte zu entwickeln, sollten Sie endlich Maßnahmen Meierhofer, das habe ich eben bei Ihnen trotz aller Nach-
ergreifen. Es gibt viel Konkretes, was Sie machen könn- denklichkeit wieder herausgehört – immer auf andere zu
ten. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. schieben. Sie müssen handeln.
12210 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Oliver Krischer
(A) (Horst Meierhofer [FDP]: Wir müssen in der ren Energien und dann die Energieeffizienz hinzukom- (C)
Zukunft zusammenarbeiten! Da müssen Sie men. Ich habe festgestellt, dass die Verstromung der Ge-
mithelfen!) sellschaft jahrzehntelang – trotz aller Energieeffizienz,
trotz aller Einsparungen – immer zugenommen hat. Ich
Sie müssen den Menschen deutlich machen, dass Sie es
prophezeie, dass das auch in Zukunft so sein wird, weil
mit der Energiewende ernst meinen. Sonst werden Sie
wir – die Erklärung ist ganz einfach – viele neue Anwen-
scheitern und den Konsens, den es in der Gesellschaft
dungen, viele neue Geräte und insbesondere auch die
gibt, nicht umsetzen. Das wäre das falsche Signal. Sor-
Elektromobilität nutzen werden. Deswegen wird der An-
gen Sie für Konsens! Zeigen Sie, dass Sie ernsthaft han-
teil des Stroms an der Energie eher zunehmen als abneh-
deln und nicht nur die Schuld auf andere schieben wol-
men. Das müssen wir vor dem Hintergrund von Japan
len!
beachten.
(Horst Meierhofer [FDP]: Sie auch!)
Natürlich stellen die Ereignisse in Japan eine Zäsur
– Auch wir handeln, Herr Meierhofer. dar. Ich spreche niemanden hier im Hohen Hause die
Empathie für Japan ab, auch nicht die guten Absichten.
(Horst Meierhofer [FDP]: Gut! – Stefan
Ich glaube, das Ziel ist uns allen klar: Wir wollen in das
Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da sind wir
Zeitalter der regenerativen Energien, der erneuerbaren
aber gespannt! An ihren Taten müsst ihr sie
Energien, aber insbesondere in das Zeitalter der alterna-
messen!)
tiven Energien. Wir sollten uns hier nicht einschränken.
Zum Schluss noch einen kurzen Satz zum Energie- Nur, heute ist wieder einmal deutlich geworden, dass der
konzept der SPD. Ich habe darin viel Gutes und Richti- Weg und die Zeitschiene nicht ganz klar sind. Ich bin
ges gelesen. Vieles deckt sich mit dem, was meine Frak- mir nicht sicher, ob ein Sonderausschuss dieses Problem
tion im Herbst letzten Jahres vorgeschlagen hat; da gibt letztendlich lösen wird.
es große Gemeinsamkeiten. Aber bei einem Punkt kann
ich Ihnen nicht folgen: Nach wie vor reiten Sie das alte (Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP])
Grubenpony vom nationalen Steinkohlensockel. Nach der Zäsur in Japan, die wir alle erleben mussten,
(Heiterkeit der Abg. Dorothea Steiner müssen wir neu nachdenken. Wir müssen neu justieren
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. und die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Nachden-
Michael Kauch [FDP]) ken bedeutet aber nicht, dass wir das Denken einstellen
sollten.
Sie sind nicht bereit, sich von dieser Technologie zu ver-
abschieden. Meine Damen und Herren von der SPD, das (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!
(B) ist einfach nicht zukunftsweisend. Darunter sollten Sie Das Gegenteil!) (D)
einen Schlussstrich ziehen. Gestern haben wir hier im Es bedeutet nicht, dass wir in Aktionismus verfallen
Parlament beschlossen, dass mit dem Steinkohlenberg- sollten. Es bedeutet auch nicht, dass wir populistisch
bau in Deutschland, dass mit den Milliardensubventio- handeln sollten. Es darf erst recht nicht bedeuten, dass
nen Schluss ist. Ein ehrlicher Schritt ins 21. Jahrhundert wir das Leid der Japaner und die Katastrophe, die sich
wäre bei Ihnen also angebracht. ereignet hat, für unseren partikularen Egoismus aus-
Danke schön. schlachten. Das darf nicht passieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der CDU/CSU)
Ulrich Kelber [SPD]: Genau! Das ist ein super
Ich möchte darauf hinweisen – das sage ich an dieser
Modell für Verkehr! Das ist die Realität von
Stelle immer wieder –: Dieses Nachdenken muss natür-
Oliver Krischer!)
lich ergebnisoffen sein – sonst braucht man nicht nach-
zudenken –, und es muss technikoffen sein. Wir dürfen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: uns Techniken, die vielleicht noch nicht hinreichend er-
Jens Koeppen hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- forscht sind, nicht verschließen.
tion.
Die Akzeptanz von Kernkraftwerken ist in der deut-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schen Gesellschaft nicht mehr vorhanden; in Umfragen
der FDP) sprechen sich 86 Prozent der Befragten dagegen aus.
Jetzt müssen wir die Frage beantworten: Welche Folgen
Jens Koeppen (CDU/CSU): hätte es, wenn wir 8 oder 17 Anlagen abschalten wür-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den? Dabei geht es nicht um die Folgen in 50 Jahren
Ich habe mich mein ganzes Berufsleben lang mit Ener- – natürlich wird in unserer Gesellschaft bis dahin einiges
giefragen beschäftigt, insbesondere mit elektrotechni- passiert sein –, auch nicht um die Folgen in 20 Jahren
scher Energie. Das ist natürlich nicht verwunderlich, da oder in 15 Jahren. Die Frage, die ich stelle, lautet: Wel-
ich Elektrotechniker bin. Ich möchte einmal auf die Fa- che Folgen hätte der Ausstieg hier und heute, im
cetten dieser Energieform eingehen. Eine Facette ist na- April 2011? Diese Frage müssen wir beantworten. Dass
türlich die Energieerzeugung. Eine andere Facette ist die wir bereit sind, aus der Kernenergie auszusteigen, habe
Energieverteilung; dies ist sehr spannend. Eine weitere ich von allen Seiten gehört. Sind wir gleichzeitig aber
Facette ist die Energienutzung direkt beim Verbraucher. auch bereit – lassen wir die Merit Order einmal außen
Seit Mitte bzw. Ende der 90er-Jahre sind die erneuerba- vor –, seit dem 17. März dieses Jahres jeden Tag 6 kW
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12211
Jens Koeppen
(A) andere Energie – möglicherweise Kernenergie aus man sachgerechte Informationen aufnimmt und hier im (C)
Frankreich und Temelin in Tschechien – einzukaufen? Parlament wiedergibt. Sie haben gerade eine Horrorzahl
genannt und gesagt, angeblich seien 4 500 Kilometer
(Ulrich Kelber [SPD]: Was? 6 kW? Das wäre
neue Hochspannungsleitungen erforderlich. Bisher war
aber nicht viel! Sind Sie da sicher?)
immer von einer Länge von 3 600 Kilometern die Rede;
Wenn wir dazu bereit sind, Herr Kelber, dann sollten wir das ist die Zahl, die von der dena bzw. von der beteilig-
den Menschen dies sagen; das sollten auch Sie tun. ten Industrie genannt wurde. Diese Zahl ist die Wunsch-
zahl einiger Unternehmen.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Meinen Sie wirklich 6 kW? 6 Kilo- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ach! Das ist
watt?) doch Quatsch! Sie haben ja keine Ahnung!)
– Gigawatt! Der nächste Punkt. Wir legen ein Netzaus- Ist Ihnen bekannt, dass eine Untersuchung im Auftrag
baubeschleunigungsgesetz vor. Sind wir bereit, sind Sie des Wirtschaftsministeriums, also für Herrn Brüderle,
bereit, in den Wahlkreisen dafür zu sorgen, dass so gerade zu dem Schluss gekommen ist, dass vielleicht nur
schnell wie möglich 4 500 Kilometer neue Leitungen ge- 250 Kilometer neue Hochspannungsleitungen gebraucht
baut werden? werden?
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Es wird ja immer mehr!) Was? Nur 250 Kilometer? – Dr. Maria
– Ja. Flachsbarth [CDU/CSU]: Wie bitte? Was sa-
gen Sie da?)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nein! 3 500! – Ulrich Kelber [SPD]: Ich Ansonsten ist in seriösen Schätzungen von einer Länge
denke, es sind nur 250 Kilometer erforder- von 1 000 bis 1 500 Kilometern die Rede. Operieren Sie
lich!) bitte nicht immer mit Horrorzahlen, die die Leute nur
verschrecken und Angst vor den hohen Kosten machen
Ich beziehe mich auf die dena-Netzstudie I und die sollen!
dena-Netzstudie II, meine Damen und Herren; Sie müs-
sen diese Studien auch einmal lesen. Diese Zahl gilt üb-
rigens nur dann, wenn der Anteil erneuerbarer Energien Jens Koeppen (CDU/CSU):
lediglich 38 Prozent beträgt. Wenn wir einen höheren Sie haben sicherlich die dena-Netzstudie I gelesen.
Anteil erneuerbarer Energien wollen, wird sich die Wir haben – Herr Hempelmann war aktiv dabei – in der
Länge der benötigten Leitungen sogar verdoppeln. vergangenen Legislaturperiode um 850 Kilometer ge-
(B) stritten. (D)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Herr Koeppen, das ist jetzt aber ein bisschen (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
daneben!) 6 Kilowatt hat er gesagt!)
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Sind wir Von diesen 850 Kilometern sind nicht einmal 100 Kilo-
letztendlich auch bereit, den Zubau erneuerbarer Ener- meter gebaut worden. Bei einem Anteil der erneuerbaren
gien zuzulassen? Sie haben gerade gesagt, wir seien da- Energien von 38 Prozent werden laut dena-Netzstudie II
gegen. 3 600 Kilometer Leitungen benötigt. Wir müssen aber
die anderen Leitungen, die in der Netzstudie I genannt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden, noch hinzunehmen. Dann kommen wir auf die
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Herrn Ott eben genannten 4 500 Kilometer. Das ist keine Horror-
zulassen? zahl, sondern eine ganz realistische Zahl. Das hat die
dena uns in den letzten Tagen erneut bestätigt.
Jens Koeppen (CDU/CSU): (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Selbstverständlich. NEN]: Was ist mit der Studie des Wirtschafts-
ministeriums?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: So viel zum Netzausbau, den wir vornehmen müssen.
Bitte schön.
Herr Krischer hat gesagt, dass wir nicht bereit sind,
den Zubau von erneuerbaren Energien zuzulassen. In
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
meinem Wahlkreis geht es übrigens um 2,3 Prozent der
Herr Kollege Koeppen, vielen Dank. – Das Grundge- regionalen Planungsfläche. Da stellt sich der NABU in
setz verlangt von uns Abgeordneten keine spezifische die vorderste Reihe der Bewegung, die zum Ziel hat, den
und vertiefte Sach- oder gar Fachkenntnis; das ist auch Bau von Windenergieanlagen zu verhindern. Als Bun-
gut so. desvereinigung sagt der NABU Ja zum Wind, vor Ort
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber aber Nein. So kann es nicht gehen.
auch schade!)
Die Kosten – wir haben das immer wieder angespro-
Aber die Achtung vor dem Grundgesetz und der Respekt chen – sind bei 46 Cent Steuern und Abgaben ein großes
vor unserer Stellung als Abgeordnete erfordern, dass Problem. Wir müssen bedenken: Können wir es den
12212 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Jens Koeppen
(A) Menschen zumuten, letztendlich noch mehr auf den Altmaier gehört habe; denn seine Beschreibung dieses (C)
Strompreis draufzusatteln, Stellenwerts stellt eine Abwertung des deutschen Parla-
ments dar. Das kann nicht Realität in diesem Hause sein.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Keine Horrorzahlen, Herr Koeppen!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
oder soll es der Staat machen? Soll es – ich erinnere an
unsere Schuldenbremse – dann letztendlich der Steuer- Ich führe viele Gespräche und sehe in Ihre Gesichter.
zahler übernehmen, wie es heute Frau Nahles im Früh- Ich glaube, dass viele – auch von Ihnen – über die aktu-
stücksfernsehen gesagt hat? Wir müssen auf jeden Fall elle Situation sehr unglücklich sind; denn sie haben im
darauf achten, dass die Belastung der Privathaushalte letzten Herbst erlebt, dass ein Gesetz eigentlich ohne Be-
nicht zu groß wird und dass auch die Industrie nicht zu ratung durchgepeitscht worden ist und dass der Bundes-
sehr belastet wird; denn wenn die Industrie wegbricht, tagspräsident dies ausdrücklich kritisiert hat. Nun droht
bedeutet das gleichzeitig den Wegfall von Arbeitsplät- eine Wiederholung dieses Vorgangs. Das darf nicht pas-
zen. sieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir müssen bereit sein, neue Gaskraftwerke zu (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
bauen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie das durchsetzen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wollen. Wir müssen außerdem neue Pipelines bauen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie die Verfas-
Ferner müssen wir bereit sein, neue Kohlekraftwerke zu sung bei der elementaren Frage der Energieversorgung
bauen und CCS zuzulassen. Die Kraftwerke müssen der Zukunft auf den Kopf stellen. Diese Regierung for-
nach einer EU-Richtlinie CCS-ready sein. Ich bin ge- muliert neue Dinge, die es in der deutschen Verfassung
spannt, was da passieren wird. nicht gibt.
(Rolf Hempelmann [SPD]: Aber nur in Bran- Fangen wir mit dem sogenannten Moratorium an. Wo
denburg nach eurem Gesetz!) steht in der Verfassung, dass der Deutsche Bundestag
Natürlich müssen wir auch sehen, ob wir letztendlich die plötzlich ein Moratorium verhängen und aufhören kann,
hohen Klimaschutzziele einhalten können. zu denken? Das kann doch nicht die Wahrheit sein!
Natürlich können wir über das alles in den Ausschüs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sen beraten. Aber, meine Damen und Herren von der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
SPD, ich weiß nicht, ob ein Sonderausschuss wirklich LINKEN)
das richtige Instrument ist. Es sollen Kompetenzen aus Sie verweisen darauf, dass Sie hier regelmäßig, wö-
(B) den Ausschüssen, die jetzt damit befasst sind – das sind chentlich über das Thema diskutiert haben. Warum? (D)
der Umweltausschuss und der Wirtschaftsausschuss –, Weil die Oppositionsfraktionen Anträge zu diesem
abgezogen werden, um einen neuen Ausschuss einzuset- Thema gestellt haben. Von Ihnen kommt aber nichts.
zen, der noch nicht einmal bei einem Ministerium ange- Das ist die Wahrheit.
siedelt ist. Dann müssen wir einen Schritt weitergehen
und sagen: Wir brauchen auch auf administrativer Ebene (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
ein Ministerium – das könnte vielleicht das Innenminis- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
terium sein –, bei dem alles gebündelt wird. Die Kompe- Als Nächstes ist verfassungsrechtlich hochproblema-
tenzen wären dann nicht im Umwelt-, Wirtschafts- oder tisch, dass diese Bundesregierung im Herbst einen Deal
Verbraucherschutzministerium, sondern woanders ge- mit vier Energiekonzernen gemacht und einen Kaufver-
bündelt, vielleicht in einem Energieministerium. Eine trag geschlossen hat, dessen Rechtsform bis heute ver-
Ansiedlung des von Ihnen geforderten Sonderausschus- fassungsrechtlich überhaupt nicht klar ist; denn Sie ha-
ses dort wäre dann logisch und sinnvoll. Vielleicht soll- ben ein Gesetz für eine Einzahlung in den Fonds zur
ten wir darüber nachdenken. Ich bin gerne dazu bereit. Förderung regenerativer Energien verkauft. Ich glaube,
Vielen Dank. es ist in der deutschen Geschichte ein einmaliger Vor-
gang, dass jetzt vier Konzerne sagen: Wir haben uns
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zwar vertraglich verpflichtet, aber das Gesetz „kippt“,
und deswegen stoppen wir die Zahlungen. Deswegen:
Vizepräsidentin Petra Pau: Wiederholen Sie diesen Fehler nicht, sondern führen Sie
Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat das Wort für diese Debatte im Deutschen Bundestag. Das darf dieser
die SPD-Fraktion. Regierung nicht alleine überlassen bleiben.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Matthias Miersch (SPD): Was haben wir in der letzten Sitzung des Umweltaus-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schusses miteinander besprochen? Der Vorsitzende der
Ich möchte auf eine ganz elementare Frage zu sprechen Reaktor-Sicherheitskommission war dort und hat über
kommen, die mir in vielen Wortbeiträgen ein bisschen zu den Zwischenstand berichtet. Er hat gesagt, die Ent-
kurz gekommen ist: Welchen Stellenwert haben wir als scheidung darüber, welche Szenarien anzunehmen sind,
Parlamentarier eigentlich nach der deutschen Verfas- werde nicht von der Reaktor-Sicherheitskommission ge-
sung? Ich war erschrocken, als ich die Rede von Herrn troffen, sondern Sie würden der Ethikkommission eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12213
Dr. Matthias Miersch
(A) entsprechende Empfehlung vorlegen. Was passiert da ei- Abschließend noch eines: Auch über die Finanzen (C)
gentlich im Kanzleramt? und die Kosten würde ich gerne in aller Öffentlichkeit in
diesem Sonderausschuss sprechen. Werfen wir vielleicht
Es ist zu lesen, dass die Ethikkommission am einen Blick auf die volkswirtschaftlichen Kosten der Su-
28. April 2011 eine Anhörung durchführen will. Gehö- per-GAUs in Fukushima und Tschernobyl, die bis jetzt
ren diese Anhörungen nicht in den Deutschen Bundes- jeweils 300 Milliarden Euro betragen. Was sind dagegen
tag? Dann könnten wir uns eine Meinung bilden. die Kosten, die jetzt für den Sonderausschuss auf uns zu-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem kämen? Sie sind ein Klacks. Deswegen wünsche ich mir,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael dass es diesen Sonderausschuss gibt und wir hier
Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Natürlich! Bean- schnellstmöglich zu einem überparteilichen Konsens
tragen Sie doch eine! – Dr. Georg Nüßlein kommen.
[CDU/CSU]: Beides!) Ich danke Ihnen.
– Sie sagen „beides“. Was haben wir in der letzten Sit- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
zung des Umweltausschusses besprochen? Auf der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Grundlage unserer Gesetzentwürfe haben wir mit Ihnen
besprochen, dass wir jetzt die Sachverständigenanhö-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
rung über diese Gesetzentwürfe wollen. Was haben Sie
vorgeschlagen? Sie haben vorgeschlagen, am 27. Juni Der Kollege Andreas Lämmel hat jetzt das Wort für
2011 eine Anhörung durchzuführen, obwohl Sie wissen, die CDU/CSU-Fraktion.
dass dieses Gesetz Ende Juni „stehen“ soll. Dadurch of- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
fenbaren Sie doch alles. neten der FDP)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fehlinforma- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
tion! 6. Juni 2011! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann kann man fest-
CSU]: 6. Juni 2011!) stellen: Abgesehen von der Rede des Herrn Kollegen
Gysi, der alles weiß, alles schon durchdacht und im Vo-
Weil Sie gemerkt haben, dass Sie nun wirklich völlig da- raus bestimmt hat, war es eine sehr interessante Debatte,
nebenliegen, haben Sie sich korrigiert, sodass wir diese weil alle Fraktionen deutlich gemacht haben, dass die
Anhörung, Herr Nüßlein, jetzt in der Tat am 6. Juni 2011 Energiepolitik kein ausschließliches Thema von
durchführen. Schwarz, Rot, Grün, Weiß oder Gelb, sondern ein hoch- (D)
(B)
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aha! komplexes Thema ist, in das sehr viele Fachpolitiken hi-
Also doch kein Zeitdruck!) neinspielen.
Wir stehen vor komplizierten Herausforderungen.
Ich sage Ihnen: Was könnten wir in diesen Wochen al-
Das Problem ist, dass erst die Koalition im letzten
les klären! Die Abschaltung, die Rücknahme der Lauf-
Herbst überhaupt ein Energiekonzept vorgelegt hat. Rot-
zeitverlängerung, das Inkraftsetzen des Kerntechni-
Grün hat jahrelang einen Energiedialog geführt. Es wur-
schen Regelwerks: All dies wäre problemlos möglich,
den Berge von Studien verfasst, aber das Ergebnis war
weil die unterschiedlichen Sachverständigen in den An-
null.
hörungen im Herbst alle Fakten auf den Tisch gelegt ha-
ben. Wir haben als CDU/CSU-FDP-Koalition erstmalig
ein Konzept vorgelegt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Rolf Hempelmann [SPD]: Das jetzt zur
GRÜNEN) Disposition steht!)
Weil Sie diesen Sonderausschuss abgelehnt haben, Daran kann man zwar Kritik üben – das mag schon sein;
sollten Sie die Osterpause noch einmal dafür nutzen, es war schließlich das Konzept der Koalition –, aber wir
sich das durch den Kopf gehen zu lassen; denn ich haben immerhin ein Konzept vorgelegt.
glaube, dass wir dieses große Problem tatsächlich nur lö- Jetzt kommen Fragen auf: Muss dieses Energiekon-
sen können, wenn wir interdisziplinär an dieses Thema zept jetzt weg? Müssen wir völlig neu diskutieren?
herangehen. Meine Antwort darauf ist: Nein, das Konzept muss nicht
Herr Koeppen, das Beispiel von den Netzen war rich- weg.
tig, aber die Antwort auf die Frage, wie viele Netze wir Ein Mitglied der Ethikkommission hat uns letzte Wo-
wirklich brauchen, hängt zum Beispiel elementar von che mit auf den Weg gegeben, dass man in der Diskus-
dem zukünftigen Energiemix ab. Deswegen müssen wir sion bestehende Risiken nicht durch neue Risiken erset-
diese Frage beantworten, und ich behaupte: Wir brau- zen soll.
chen viel, viel weniger Netze. Diese Debatte gehört in
den Sonderausschuss.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Herr Kollege, möchten Sie das Risiko einer Zwi-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schenfrage der Kollegin Bulling-Schröter eingehen?
12214 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

(A) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Im Moment nicht. – Wenn man in Zeiten des Aktio- Was? Einen langsameren!)
nismus und der Hysterie Entscheidungen trifft, ist die
Aber was hat sich denn zum Beispiel im Bereich der
Gefahr groß, dass sie sich letzten Endes als Risiko he-
rausstellen. Offshorewinderzeugung gezeigt? Es gab technische Pro-
bleme, finanzielle Probleme und Akzeptanzprobleme.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie wissen genau, dass es nicht darum geht, heute einen
Herr Kollege Dr. Miersch, Sie haben gesagt, dass wir Beschluss zu fassen, den man morgen realisiert, und in
ein Moratorium verkünden und aufhören, zu denken. – drei Tagen ist die Welt wieder heil.
Das ist ja wohl der größte Hohn. Das Moratorium ist ge- Heute früh wurde im Deutschlandfunk eine Repor-
rade deswegen in Kraft gesetzt worden, um nachzuden- tage über Windkraft gesendet. Es ging darum, dass sich
ken, den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und die Bevölkerung im Raum Bremen massiv gegen Wind-
uns zu fragen, wo die Stellschrauben sind und was wir kraft ausgesprochen hat, weil sie ihre Lebensqualität be-
tun müssen, um auch gesellschaftlich voranzukommen. droht. Sie wissen also ganz genau, dass es diese Pro-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – bleme vor Ort gibt.
Rolf Hempelmann [SPD]: Das können wir Kommen wir zum Planungsrecht. Ja, wir müssen das
auch ohne Moratorium machen!) Planungsrecht ändern. Ich erinnere an die Diskussion
Ich denke, wir haben jetzt eine einmalige Chance. über das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz.
Auch das hat sich deutlich gezeigt. Sie waren früher ei- Das gab es in einer leicht lesbaren, dünnen Version für
ner der strengen Kritiker der Koalition, Frau Höhn. Aber den Aufbau Ost. Dann wollten wir dieses Gesetz – das
ich habe aus Ihren Worten deutlich gehört, dass auch bei war Konsens – auf Gesamtdeutschland anwenden, um
den Grünen das Nachdenken darüber angefangen hat, Infrastrukturinvestitionen zu beschleunigen. Was dabei
wie eine zukünftige Energiepolitik aussehen kann. herausgekommen ist, wissen Sie selbst. So sieht die
Wahrheit aus, und die Wahrheit ist immer konkret.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wir haben aber schon vorher gedacht! – Oliver Das betrifft auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir Sie wissen ganz genau: Wenn wir noch stärker in den
denken darüber schon etwas länger nach als Ausbau der regenerativen Energien einsteigen, dann
Sie!) müssen wir auch die Mechanismen des EEG überden-
ken. Nicht umsonst haben Italien, Frankreich und Spa-
Denn Sie wissen selbst ganz genau, Frau Höhn: Es ist nien – Spanien schon vor einem Jahr – das EEG ge-
eben nicht mit einem „Raus aus der Atomenergie, rein in stoppt.
(B) die Regenerativen, und die Welt ist heil“ getan. (D)
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wir werden
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
es aber nicht stoppen, Herr Kollege!)
NEN]: Das sagen wir schon seit einer ganzen
Weile!) Diese Dinge müssen diskutiert werden.
Denn die Probleme, die wir jetzt zu bearbeiten haben (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– dazu kommen wir noch –, sind viel schwerwiegender. NEN]: Habe ich Sie richtig verstanden? Sie
Deutschland ist keine Insel der Glückseligen. Wir wollen das EEG stoppen? – Gegenruf des Abg.
müssen darauf achten, dass wir mit den Korrekturen am Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das haben
Energiekonzept auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig Sie falsch verstanden!)
bleiben. Es nützt uns nichts, wenn wir die sauberste Luft, Der schnelle Ausbau der Stromnetze ist schon disku-
das grünste Gras und den teuersten Strom, aber keine tiert worden. Es ist nicht so einfach, heute in Deutsch-
Arbeitsplätze mehr haben. land Stromleitungen zu verlegen. Es geht nicht um 3 000
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder 3 500 Kilometer Stromleitungen, sondern es wäre
NEN]: Haben Sie schon gehört, wie viele Ar- gut, wenn wir wenigstens 1 000 Kilometer verlegt hät-
beitsplätze in den Erneuerbaren entstehen?) ten.
Das alles unter einen Hut zu kriegen, ist, wie Sie wissen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
nicht eine Sache von einer Woche; es geht vielmehr um Die Fragen, die sich uns stellen, sind wirklich schwer zu
die Frage, wie man jetzt in der Gesellschaft den Konsens beantworten.
über den richtigen Weg herbeiführen kann.
Ich will noch ein Thema anschneiden: Smart Grids,
Es geht ganz entscheidend um die Kosten der künfti- also intelligente Stromnetze. Auch Sie wissen, dass in
gen Energieversorgung. Man kann darüber streiten. Ich Holland und Kalifornien die Einführung von intelligen-
bin gegen Zahlenspiele. Ob 0,5 Cent, 0,1 Cent, 0,8 Cent ten Stromzählern am Widerstand der Bevölkerung ge-
oder 2 Cent: Keiner weiß genau, was die Stromversor- scheitert ist. Wir dürfen also auch in diesen Fragen nicht
gung in Deutschland in drei, fünf oder zehn Jahren kos- ideologisch handeln und das einfach durchziehen, son-
ten wird. Eines steht fest: Es wird nicht billiger. dern wir müssen der Bevölkerung das Thema vermitteln.
Das Konzept der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion Dazu brauchen wir aber keinen Sonderausschuss. Der
sah den schnelleren und starken Einstieg in die Welt der Sonderausschuss, den die SPD gerne möchte, soll
erneuerbaren Energien vor. 17 Abgeordnete als Mitglieder haben. Darin würden von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12215
Andreas G. Lämmel
(A) den Grünen wahrscheinlich zwei Abgeordnete sitzen, si- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (C)
cher Frau Höhn und noch jemand. gemäß § 96 der Geschäftsordnung
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Drucksache 17/5520 –
Das entscheiden wir immer noch selber!)
Berichterstattung:
Von den Linken würde wahrscheinlich Herr Gysi und Abgeordnete Bartholomäus Kalb
noch jemand darin sitzen. Herr Gysi als oberschlauer Johannes Kahrs
Besserwisser würde sicherlich große Beiträge zu einem Dr. Claudia Winterstein
Energiekonzept beisteuern. Daran können Sie doch Roland Claus
schon sehen, dass Sie mit diesem Antrag die Diskussion Stephan Kühn
auf einen kleinen Kreis von Abgeordneten verengen.
Wir wollen genau das Gegenteil. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu diesem
(Rolf Hempelmann [SPD]: Wir haben nichts Punkt zu debattieren. – Auch dazu sehe und höre ich kei-
dagegen, wenn Sie den Ausschuss größer ma- nen Widerspruch.
chen!)
Wir wollen die Diskussion auf einer breiten Grundlage Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
führen. Es sollen nicht nur Wirtschaftspolitiker und Um- tarischen Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer das Wort.
weltpolitiker die Energiepolitik gestalten; denn das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ein Querschnittsthema. Deswegen ist aus unserer Sicht
dieser Spezialausschuss nicht geeignet.
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär beim
(Rolf Hempelmann [SPD]: Was ist denn Ihr Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Vorschlag?) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
– Herr Hempelmann, ich kenne Ihre Überlegungen dazu. – legen! Mit dem Gesetz zur Neuregelung mautrechtlicher
Ich frage Sie: Wie kann man ins Gespräch kommen und Vorschriften für Bundesfernstraßen soll die Auto-
zu einem Konsens gelangen? Wir sind da nicht so weit bahnmaut für schwere Lkw auch auf Teile der Bundes-
auseinander. Ich habe aber noch nie gehört, dass die SPD straßen ausgedehnt werden. Bei diesen handelt es sich
zu anderen Themen einen Sonderausschuss wollte. um Straßen, die sich durch ihren autobahnähnlichen
Ausbauzustand auszeichnen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wichtig ist der Hinweis, dass nur das mautpflichtige
Wir sind der Auffassung, dass wir keinen Sonderaus-
Straßennetz erweitert werden soll. Alle anderen Merk-
(B) schuss brauchen. Wir brauchen vielmehr eine breite Dis- male wie Mautsätze oder Bemautung nur von Lkw ab (D)
kussion hier im Hause und in der Öffentlichkeit. Deswe-
gen werden wir den SPD-Antrag in die Ausschüsse 12 Tonnen bleiben unverändert. Es findet also keine
überweisen. Dort können wir uns darüber unterhalten, ob Mauterhöhung statt, sondern das zu bemautende Netz
es vielleicht andere Ideen gibt, wie man eine konsens- wird einfach erweitert.
orientierte Energiepolitik betreiben kann. Zu diesem Gesetz hat in der letzten Woche eine An-
Vielen Dank. hörung stattgefunden. Die von den eingeladenen sechs
Verbänden vorgetragenen Stellungnahmen lassen sich zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) drei wesentlichen Punkten zusammenfassen. Ich möchte
in diesem Zusammenhang hervorheben, dass wir im Ver-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kehrsausschuss sehr sachorientiert diskutiert haben.
Ich schließe die Aussprache. Stellvertretend möchte ich dem Vorsitzenden dafür herz-
lich danken. Die Anhörung bot Raum für den breiten
Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Druck-
Dialog mit den Verbänden.
sachen 17/5473 und 17/5481 an die Ausschüsse zu über-
weisen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit Einige Verbände wünschen sich eine Ausdehnung der
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Maut, zumindest auf das gesamte Bundesstraßennetz.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Die Verbände des Straßengüterkraftverkehrs befürchten
eine zusätzliche Belastung ihrer Mitglieder, und mehrere
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Verbände gaben zu bedenken, dass sich die Ausdehnung
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der Maut auf Bundesstraßen nicht rechnen würden; sie
zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften stellen die Systemkosten der Mauterhebung zur Diskus-
für Bundesfernstraßen sion.
– Drucksache 17/4979 – Dazu folgende Anmerkungen: Ziel des Gesetzes ist
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- es, die Bundesstraßenabschnitte zu bemauten, die auto-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bahnähnlich ausgebaut sind, aber wegen einiger fehlen-
(15. Ausschuss) der rechtlicher und technischer Voraussetzungen nicht zu
einer Autobahn aufgestuft werden können. Zudem sollen
– Drucksache 17/5519 – die autobahnähnlichen Bundesstraßen an die Autobah-
Berichterstattung: nen angebunden sein, also einen räumlichen Bezug zur
Abgeordneter Uwe Beckmeyer Autobahn aufweisen. Eine Bemautung aller Bundesstra-
12216 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer


(A) ßen war und ist gegenwärtig nicht beabsichtigt. Dazu nung ausgewiesenen Mehreinnahmen von 100 Millionen (C)
gibt es auch verschiedene Meinungen im Fachgremium, Euro erreicht werden.
dem Verkehrsausschuss. Die Kolleginnen und Kollegen
Noch ein Wort zu den Systemkosten – auch hierzu hat
der Linksfraktion und der Grünen gehen insofern noch
der Kollege Hofreiter nachgefragt –: Wir haben mit dem
einen Schritt weiter – aber das werden wir in dieser De-
bestehenden Netz die Erfahrung gemacht, dass die Sys-
batte noch hören –, als sie das ganze Bundesfernstraßen-
temkosten bei etwa 12,5 Prozent liegen. Das wird bei
system bemauten wollen.
den Bundesstraßen nicht anders sein. Damit ist die dies-
Gemäß dem Ziel des Gesetzes waren nach dem ur- bezügliche Kritik entkräftet.
sprünglichen Gesetzentwurf rund 2 000 Kilometer Bun-
desstraße zusätzlich zur Bemautung vorgesehen. Sie wa- Vor allem ist die Zuverlässigkeit des Toll-Collect-
ren gesetzlich definiert als mindestens vierstreifige Systems hervorzuheben; darüber wird medial sehr disku-
Bundesstraßen in der Baulast des Bundes mit unmittel- tiert. Ich möchte hier noch einmal hervorheben, dass un-
barer und mittelbarer Anbindung an die Autobahn. Ent- ser System die dichteste Abdeckung aller Mautsysteme
sprechend dem Wunsch der Bundesländer und auf hat und mit am wenigsten Kosten verursacht. Das heißt,
Antrag der Koalitionsfraktionen werden zusätzliche Kri- andere Mautsysteme verursachen bedeutend höhere
terien aufgenommen, nämlich Bemautung erst bei einer Kosten. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir
Mindestlänge von 4 Kilometern, Bemautung nur von ein Interesse daran haben, dieses System weltweit zu
Bundesstraßen mit einer durchgehenden baulichen Rich- vertreiben. Zur Zuverlässigkeit und Zulässigkeit der Ver-
tungstrennung und keine Bemautung innerorts. Auch gabe haben wir ein externes Gutachten erstellen lassen.
sollen die mittelbar an die Autobahn angebundenen Stre- Der entsprechende Einwand ist im Fachausschuss disku-
cken nicht mehr bemautet werden. Damit wird auch das tiert worden; ihm wurde Rechnung getragen. Wir haben
Problem des derzeit reduzierten Speicherplatzes der Ge- also alles sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich ge-
räte gelöst. prüft.

Somit gehen wir im Bundesministerium für Verkehr, Hinzu kommt, dass das mittelständische Gewerbe die
Bau und Stadtentwicklung auch auf die Belange des mittel- Möglichkeit hatte, Hinweise zu den Geräten vorzubrin-
ständischen Transportgewerbes ein. Mit diesen zusätzlichen gen. Auch das wurde berücksichtigt. Ich glaube, dieses
Kriterien und der Streichung des mittelbaren Streckenbe- System ist ausgewogen. Wir können somit den Einstieg
zugs stehen nunmehr anstelle von rund 2 000 Kilometern in den Finanzierungskreislauf Straße vollziehen. Wir,
Bundesstraße nur noch 1 000 Kilometer zur Bemautung das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtent-
an. wicklung, haben sämtliche Schattierungen dieses Sys-
tems getestet. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass wir
(B) Damit wären wir beim Thema, ob sich das rechnet. die Ausdehnung auf 1 000 Kilometer verantworten kön- (D)
Kollege Hofreiter hat dazu mehrere Fragen an die Exper- nen.
ten gestellt. Zunächst einmal verbietet uns das Haus-
haltsrecht, unwirtschaftliche Projekte zu realisieren. Un- Ich bedanke mich noch einmal für die konstruktive
sere Projekte sind wirtschaftlich gerechnet. Diskussion. Mein Dank gilt auch den Experten, die uns
bei der Anhörung mit Rat und Tat zur Seite gestanden
(Lachen bei der SPD – Florian Pronold [SPD]: haben. Vielen herzlichen Dank für die parlamentarische
Der war gut!) Beratung.
Das Projekt Maut auf Bundesstraßen und das Gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gebungsverfahren beruhen auf einer pflichtgemäßen Ab-
schätzung von Einnahmen und Ausgaben. Hierzu sind Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
die Erfahrungswerte aus der uns bekannten Kostenkal-
Uwe Beckmeyer hat das Wort für die SPD-Fraktion.
kulation von Mautbetreibern und die Einschätzung der
mautpflichtigen Fahrleistungen durch einen Gutachter (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
herangezogen worden. Danach ergibt sich, dass das Pro-
jekt auch nach aktuellem Stand wirtschaftlich ist. Was Uwe Beckmeyer (SPD):
ich gesagt habe, lässt sich trotz des Lachens der Kolle- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
ginnen und Kollegen der SPD-Fraktion definitiv nicht Herren! Was im ersten Teil der Rede des Staatssekretärs
entkräften. Wir haben wirtschaftlich gerechnet. Dies ist gesagt wurde, war richtig: Wir haben uns im Ausschuss
auch dann richtig, wenn der Kollege Pronold über diese darüber unterhalten.
Aussage lächelt.
(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- LINKE])
neten der FDP)
Aber Murks bleibt Murks. Das zu sagen, kann ich Ihnen
Gemäß ersten gutachterlichen Einschätzungen wird
nicht ersparen.
mit 1,288 Milliarden mautpflichtigen Fahrzeugkilome-
tern bei einer Streckenlänge von ursprünglich 2 187 Kilo- Der Gesetzentwurf der Merkel-Regierung stammt
metern gerechnet. Auch bei Reduzierung des ursprüngli- vom 2. März 2011. Verantwortlich dafür ist das Ministe-
chen Streckennetzes um 50 Prozent können somit bei rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Er ist uns
einem derzeit kalkulierten durchschnittlichen Mautsatz von mit einem Zuleitungsschreiben der Kanzlerin übersandt
17 Cent pro Kilometer die in der mittelfristigen Finanzpla- worden. Der Änderungsantrag der Koalition stammt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12217
Uwe Beckmeyer
(A) vom 22. März 2011; er wurde also knapp drei Wochen Der DSLV kommt in seiner Stellungnahme des Weite- (C)
später eingebracht. Durch ihn ist einiges verändert wor- ren zu dem Ergebnis, dass der Gesetzentwurf keinerlei
den. Die Frage ist: Warum musste eigentlich einiges ver- Aussagen über die zu erwartenden Systemkosten bei der
ändert werden? Haben Sie schlecht gearbeitet? Das, was Übertragung der Mauterhebung auf einen externen
abgeliefert worden ist, war also nicht so gut. Dienstleister beinhaltet. Diese Systemkosten sollen aus
unserer Sicht im Vorfeld ermittelt und bekanntgegeben
Wenn man sich anschaut, was uns die Sachverständi- werden, so heißt es, damit eine verlässliche Nutzen-Kos-
gen in ihren Stellungnahmen vermittelt haben, wird man ten-Aufstellung erstellt werden kann. Nach dem derzeiti-
feststellen: Überall ist deutliche Kritik geäußert worden. gen Kenntnisstand haben wir erhebliche Zweifel, dass
Wenn Sie schon der SPD-Fraktion nicht trauen, weil ihre Aufwendungen und Einnahmen zur Bemautung auf vier-
Mitglieder einer anderen Partei angehören, dann trauen und mehrspurigen Bundesstraßen in einem vernünftigen
Sie doch bitte schön den Experten der Verbände und Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen.
Gremien, in denen auch Ihre Parteikollegen Verantwor-
tung tragen. Zum Bundesrat: Der federführende Ausschuss, der
Verkehrsausschuss, und der Ausschuss für innere Ange-
Der Deutsche Städtetag zum Beispiel sagt, das, was legenheiten wünschen sich eindeutigere Kriterien hin-
vorgeschlagen wird, sei nicht zielführend. Er befürchtet sichtlich der bemauteten Bundesstraßen. Sie fordern
eine Verdrängung. Ich zitiere Ihnen das alles ausweislich zweckmäßigerweise die Einführung einer Rechtsverord-
der entsprechenden Vorlage. Der Deutsche Städte- und nung mit der Zustimmung des Bundesrates. Sonst wäre
Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag rechnen bei jeder Veränderung des Streckennetzes immer ein Ge-
mit Mautausweichverkehren und vielem mehr. Ich kann setzentwurf notwendig.
Ihnen all die Kritik zu Ihrem Entwurf eines Mautgeset- (Patrick Döring [FDP]: Deswegen haben wir
zes vorlesen, die in diesen Stellungnahmen angeführt es ja geändert! – Thomas Jarzombek [CDU/
wird. CSU]: Das war ja auch der Sinn davon!)
(Patrick Döring [FDP]: Deshalb haben wir ihn Der federführende Verkehrsausschuss sagt auch deut-
ja geändert!) lich, dass er sich gegen eine Zweckbindung der Mautein-
nahmen nur für Bundesfernstraßen wendet.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag
mahnt die VIFG an. Außerdem sagt er: Durch die Verab- All das zeigt, dass von Ihnen aus unserer Sicht keine
schiedung dieses Gesetzentwurfs würde das Ziel, die verlässliche und verantwortungsbewusste Politik ge-
Transportbranche zu entlasten, konterkariert. Er sagt macht wird. Denn auf der einen Seite – das ist die Be-
gründung – entsteht durch die entsprechende Aufhebung
(B) auch, dass innerhalb dieses Gesetzentwurfes eine offene (D)
Vergabefrage enthalten ist, und erstellt eine bemerkens- der Zweckbindungen in Bezug auf die Bundesfernstra-
werte Berechnung hinsichtlich der Systemkosten. Mit- ßen eine sichere Grundlage. Auf der anderen Seite
tels der alten Rechnung auf der Grundlage von 2 000 Ki- kommt es aber zur Zuweisung in die Haushaltszwänge
lometern kommt er zu entsprechenden Mauteinnahmen des Bundes. Das kann man zwar so fortsetzen. Ich sage
und führt aus, dass sie pro Kilometer deutlich geringer aber: Das, was Sie uns heute öffentlich vortragen, ist die
ausfallen werden als auf Bundesautobahnen. Er ver- Empfehlung eines Gesetzentwurfes, der große Mängel
gleicht dann den entsprechenden Systemaufwand und aufweist. Ich habe bereits im Ausschuss dazu gesagt,
kommt nicht nur auf 8,5 Millionen Euro an Vollzugskos- dass dieser Gesetzentwurf nicht ausgegoren und nicht
ten für das BAG, sondern auf weitere 24,3 Millionen beschlussfähig ist.
Euro an Kosten, und das alles bei Einnahmen in Höhe Ein Letztes: Wir haben am Mittwoch um 13.31 Uhr
von 100 Millionen Euro. Wollen Sie das wirklich verant- per Fax die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-
worten? Bundestagsfraktion bekommen, und zwar nach der Aus-
Mein nächster Punkt betrifft den BGL. Der Bundes- schusssitzung. Das wurde schön getimt, damit wir diese
verband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung, der Vorlage nicht auch schon während der Ausschusssitzung
eine entsprechende Position hat, fragt im Hinblick auf zur Beratung heranziehen konnten. Unsere Frage lautete:
die Aufstellung, ob es ein angemessenes Verhältnis zwi- Auf welche rechtlichen Regelungen des deutschen und
schen dem Aufwand für Betrieb und Kontrolle und dem europäischen Vergaberechts bezieht sich die in der Öf-
Ertrag gebe. Er fragt ferner, ob der Gesetzentwurf in die- fentlichkeit zitierte Aussage der Bundesregierung, dass
bei der Einführung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bun-
ser Weise gerechtfertigt sei.
desstraßen keine Ausschreibung erfolgen muss und eine
In der Stellungnahme des DSLV – die einzelnen Direktvergabe der Erhebung der Lkw-Maut an ein Un-
Punkte kann man unter den Spiegelstrichen auf Seite 2 ternehmen möglich ist?
nachlesen – kommt auffällig oft das Wort „begrüßt“ vor. Die Antwort lautet folgendermaßen:
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass hier einige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihre Änderungen bzw. Die zitierte Aussage zur Zulässigkeit eines Ver-
einen zweiten Gesetzentwurf verfasst haben. handlungsverfahrens ohne vorherigen Teilnahme-
wettbewerb mit der Möglichkeit der Direktvergabe
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Jetzt eines Auftrages zu Errichtung und Betrieb eines
schimpfen Sie auf den DSLV! Ob das clever Systems zur Erhebung streckenbezogener Lkw-
ist?) Maut auf vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen be-
12218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Uwe Beckmeyer
(A) zieht sich auf § 3 Abs. 4 Buchstabe c) EG VOL/A Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
(Fallgruppe „Schutz von Ausschließlichkeitsrech- Und ich habe heftige Bedenken, dass Sie weiterreden.
ten“). Diese Norm setzt Art. 31 Nr. 1 Buchstabe b) Die Redezeit ist deutlich überschritten.
der Richtlinie 2004/18/EG vom 31.03.2004 über
die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öf- Uwe Beckmeyer (SPD):
fentlicher Aufträge um. Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Wunderbar, denkt man, alles geregelt. Dann liest man Ich sage an dieser Stelle: Murks bleibt Murks, und
aber in der Vorlage: dieses Gesetz ist kein gutes Gesetz. Wir Sozialdemokra-
Die Auftraggeber können Aufträge im Verhand- ten werden es ablehnen.
lungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb verge- Danke schön.
ben: …
(Beifall bei der SPD – Arnold Vaatz [CDU/
Dann kommen a, b, c usw.; c trifft wahrscheinlich genau CSU]: Der größte Murks war Ihre Rede!)
auf Ihren Fall zu:
wenn der Auftrag wegen seiner technischen oder Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
künstlerischen Besonderheiten oder aufgrund des Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Frak-
Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten (z. B. Pa- tion.
tent-, Urheberrecht) nur von einem bestimmten Un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ternehmen durchgeführt werden kann;
Dazu gibt es entsprechende Rechtsprechungen in der Patrick Döring (FDP):
Bundesrepublik Deutschland und der EU. Wenn man Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sich diese anschaut, wird man feststellen, dass Sie sich Nach dieser wegweisenden Rede ist ja wenigstens klar,
auf sehr dünnem Eis bewegen, lieber Herr Staatssekretär. was die Sozialdemokraten wollen; das hat das deutsche
Voraussetzung für die Durchführung eines Verhand- Volk jetzt verstanden, lieber Kollege Beckmeyer.
lungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ist nicht
(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Gustav
nur, dass ein Ausschließlichkeitsrecht besteht; die Norm
Herzog [SPD])
fordert zudem einen eng auszulegenden Ausnahmetatbe-
stand und zusätzlich, dass aufgrund des Ausschließlich- Es ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten, wenn man,
keitsrechtes nur ein einziges Unternehmen in der gesam- nachdem die rot-grüne Regierung uns diesen Toll-
(B) ten EU den fraglichen Auftrag durchführen kann. Collect-Vertrag hinterlassen hat, jetzt den Eindruck er- (D)
weckt, wir wären in der rechtlichen Auslegung frei.
Es geht weiter:
(Zuruf des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD])
Die bloße Behauptung, mit der fraglichen Liefe-
rung habe nur ein bestimmter Lieferant beauftragt Dieser Vertrag, über den du, lieber Uwe, dich hier minu-
werden können, weil der auf nationaler Ebene vor- tenlang ausgelassen hast, ist von einer rot-grünen Regie-
handene Wettbewerber kein Erzeugnis angeboten rung geschlossen worden. Der Vertrag hat dem jetzigen
habe, das den notwendigen technischen Anforde- Betreiber mehrfache umfangreiche Ausschließlichkeits-
rungen entsprochen habe, kann nicht für den Nach- rechte eingeräumt. Der Bundesregierung und dieser Ko-
weis genügen, dass die außergewöhnlichen Um- alition jetzt vorzuwerfen, dass sie diese Ausschließlich-
stände … tatsächlich vorlagen. keitsrechte nicht wegverhandeln können, sondern damit
leben müssen, ist wirklich bemerkenswert.
Was das angeht, kann ich nur sagen: Gute Nacht!
Denn sobald irgendjemand in dieser Frage auch nur den (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie können ja
Hauch einer Chance wittert, ist er vor Gericht, und dann ausschreiben!)
haben Sie den Salat. An dem zu dieser Frage gefertigten Gutachten gibt es
(Oliver Luksic [FDP]: Wortsalat!) keinen Zweifel: Man kann wegen der vorhandenen Aus-
schließlichkeitsrechte des Betreibers nicht ausschreiben.
Ein letzter Punkt, Herr Präsident. Die Antwort auf un- Das ist in einem 31-seitigen Rechtsgutachten zweifels-
sere Frage 3 ist ziemlich verräterisch. Wir fragen näm- frei geklärt. Das ist die Grundlage, auf der wir dieses Ge-
lich, mit welcher rechtlichen Begründung die Bundesre- setz machen.
gierung die Bedenken des Bundesministeriums der
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Murks bleibt
Justiz und des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Murks!)
Technologie hinsichtlich der Frage, ob eine Direktver-
gabe möglich ist, fallengelassen hat. Darauf wird geant- Es ist auch ein bemerkenswertes Parlamentsverständ-
wortet: Das federführende Bundesministerium für Ver- nis, lieber Kollege, wenn Sie darauf hinweisen, dass die
kehr, Bau und Stadtentwicklung ist nach Prüfung der Koalitionsfraktionen Änderungen hätten vornehmen
rechtlichen Fragen zu dem Ergebnis gekommen, dass müssen, um einen besseren Gesetzentwurf hinzubekom-
das so ist. – Das heißt im Grunde, die anderen Ressorts men. Das ist die Aufgabe des Parlaments. Es ist unsere
haben heftigste Bedenken dagegen, aber das federfüh- Aufgabe, die Gesetze, die von der Regierung kommen,
rende Ressort ist anderer Meinung. besser zu machen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12219
Patrick Döring
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Maßnahmen, die in diesem Werk vorgeschlagen wurden, (C)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE hat die damalige Regierung nur einen einzigen Punkt
GRÜNEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber das umgesetzt. Das war die Einführung der Lkw-Maut mit
ist doch Ihre eigene Regierung! – Gustav dem Vertrag, über dessen Schwächen der Kollege
Herzog [SPD]: Da haben Sie aber viel Arbeit Beckmeyer, der daran beteiligt war, vorhin ausführlich
bei dieser Regierung!) referiert hat.
Deswegen braucht man hier nicht den Eindruck zu erwe- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Nein! Ich habe die
cken, das sei fehlerhaft. Schwächen des Gesetzes dargestellt! – Arnold
Vaatz [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Wir haben mit der klaren Definition jedenfalls dafür
gesorgt, dass die Einwände des Bundesrates ausgeräumt Man muss keine neuen Kommissionen bilden, son-
werden konnten. Denn die Stellungnahme des Bundes- dern man muss einfach nur das beachten, was uns da-
rats – auch das muss man den Zuhörern einmal sagen – mals die Experten gesagt haben, und das Punkt für Punkt
ist ja zu dem noch nicht geänderten Gesetzentwurf er- politisch bewerten und abarbeiten. Das ist die Aufgabe
folgt. Es war ein Webfehler, dass diesem Gesetz eine eines Parlaments. Wenn man so vorgeht, nimmt man
lange Liste von zu bemautenden Bundesstraßenabschnit- eine Kommission auch ernst.
ten angehängt werden sollte. Solche Gesetze will die
christlich-liberale Koalition dem Parlament nicht vorle- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gen. Darum haben wir auf diese lange Liste verzichtet. Es geht aber nicht – darin liegt der Unterschied –,
Der Bundesrat hat keinen Grund, sich jetzt zu beschwe- dass man in Deutschland benutzerfinanzierte Systeme
ren; denn wir haben eine klare Norm gefunden, mit der für Bundesautobahnen in Deutschland einführt, diese
geregelt wird, welche Strecken bemautet werden und sinnvollerweise auf vierstreifige Bundesstraßen, die un-
welche nicht, ohne dass wir komplizierte und lange Lis- mittelbar an Autobahnen anschließen, erweitert, aber die
ten an das Gesetz anhängen müssen. Auch das ist die Einnahmen nicht für Straßeninfrastrukturmaßnahmen,
Aufgabe des Parlaments. Da haben wir richtig gehandelt. sondern für irgendetwas anderes verwendet. Deshalb hat
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Koalition richtigerweise den geschlossenen Finan-
zierungskreislauf Straße eingerichtet. Damit finanzieren
Die Gemengelage hier im Haus – das darf man bei die Nutzer das, was sie benutzen. So kommt Ehrlichkeit,
dem Thema einmal sagen – ist relativ einfach. Die Lin- Transparenz und Zuverlässigkeit in das System. Diesen
ken und die Grünen tendieren in der Verkehrspolitik Webfehler von Rot-Grün zu beseitigen, war in der Tat
Richtung Schwerverkehrsabgabe nach – ich sage es ein- richtig.
(B) mal so – Schweizer Modell. Das bedeutet eine Belastung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
von Fuhrunternehmen und Gewerbe weit über die der-
zeitige Lkw-Maut hinaus. Die Abgabe betrifft Fahrzeuge Wer sich hier und heute der Beteiligung an dieser
ab 3,5 Tonnen Gewicht und soll für alle Bundesautobah- sinnvollen und moderaten Erweiterung verweigert, der
nen und alle Bundesstraßen gelten. Das kann man poli- muss eine Antwort darauf geben, wie zum Beispiel das
tisch vertreten. Wir glauben aber, dass ein solches Mo- Thema Systemkosten – das ist der einzige Punkt, bei
dell für eine polyzentrische Struktur wie die in dem ich dem Herrn Staatssekretär widersprechen will;
Deutschland mit viel Wirtschaftsgeschehen auch in der
Fläche zu sehr viel größeren Schäden für die heimische (Gustav Herzog [SPD]: Hört! Hört!)
Wirtschaft führt, als wir verantworten können. Deshalb die Kosten für dieses System sind im Vergleich zu den
ist ein solches System von uns nicht angedacht. Kosten für alle anderen Systeme am höchsten – bei einer
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kommenden Ausschreibung behandelt werden soll.
Diese politische Aufgabe werden wir dann wahrnehmen,
Die Sozialdemokraten allerdings haben in der letzten wenn es so weit ist. Am Ende dieser Wahlperiode wer-
Ausschusssitzung gesagt, dass wir eine Infrastruktur- den wir darüber sprechen, wie wir ausschreiben. Wir
kommission einrichten und darüber sprechen müssen, wollen die Belastung für das Gewerbe verringern und
wie es weitergeht. mehr Geld zur Verfügung haben, das wir in die Infra-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja!) struktur investieren können.

An dieser Stelle muss ich sagen: Die damalige rot-grüne Vielen Dank.
Regierung mit einem sozialdemokratischen Verkehrsmi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nister hat eine Kommission dieser Art schon einmal ein-
berufen. Das war die Pällmann-Kommission.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Und Der Kollege Florian Pronold hat nun das Wort für
nicht ausgeführt, was die empfohlen hat! Das eine Kurzintervention.
war Müntefering!)
Sie hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht, das ge- Florian Pronold (SPD):
rade anlässlich des zehnjährigen Jubiläums in zweiter Sehr geehrter Herr Kollege Döring, ich war über-
Auflage erschienen ist und in unsere Büros verschickt rascht, wie viel Redezeit Sie auf die Vergangenheit ver-
wurde. Jeder kann also darin nachschauen. Von allen wendet haben, anstatt über Ihre eigenen Pläne zu reden.
12220 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Florian Pronold
(A) Sie sprechen davon, dass zu wenig Geld für die Finan- strecken in unmittelbarer Nähe gibt, die Kreis- und Lan- (C)
zierung der Infrastruktur zur Verfügung steht. desstraßen wären.
(Patrick Döring [FDP]: Kein Wort!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist doch ein
Denkfehler! – Gustav Herzog [SPD]: Wie war
Es war die schwarz-gelbe Koalition, die eine bereits be-
das noch mal mit dem Denken?)
schlossene Mauterhöhung ausgesetzt und damit der In-
frastruktur Geld entzogen hat. Zweitens. Ich habe heute darauf hingewiesen – Sie
müssen schon ein bisschen mehr lesen als zwei Zeilen
Jetzt gehen Sie einen zweiten Schritt, indem Sie sa-
einer Agenturmeldung –, dass wir bei der Verkehrsinfra-
gen: Die vierspurigen Bundesstraßen beziehen wir mit
strukturfinanzierung eben kein Einnahmeproblem ha-
ein. – Die Länge wurde zunächst mit 2 000 Kilometer
ben, sondern der Verkehr mehr als 50 Milliarden Euro
veranschlagt. Jetzt kommen Sie zu dem Ergebnis, dass
für den Bundeshaushalt aufbringt. Deshalb müssen wir
man eigentlich nur 1 000 Kilometer braucht. Sie wollen
uns im Verteilungskampf der Ressorts um mehr Geld für
aber den gleichen Betrag einnehmen. Diese Milchmäd-
die Infrastruktur bemühen. Eine Mehrbelastung der
chenrechnung wird nicht aufgehen.
Autofahrer ist jedenfalls mit dieser Koalition nicht zu
(Iris Gleicke [SPD]: Milchbubenrechnung!) machen.
– Gerne auch Milchbubenrechnung. Drittens. Ja, wir haben in einer konjunkturell schwie-
rigen Lage die falsche Ausweitung der Spreizung der
Sie machen wieder einen Kniefall vor der Lkw-Lobby Mauthöhe für Fahrzeuge nach den Abgasnormen Euro 3
und präsentieren uns heute wieder den alten Vorschlag. bzw. Euro 5 zurückgenommen, um dem mittelständi-
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Primi- schen Gewerbe in einer der größten wirtschaftlichen Kri-
tiver geht es nicht!) sen dieses Landes keine zusätzlichen Steine in den Weg
zu legen.
Stattdessen wollen Sie die Autofahrer abzocken: Sie ha-
ben heute wieder eine Pkw-Maut gefordert. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Die haben gerade
ihre Flotte umgerüstet!)
(Patrick Döring [FDP]: Nein!)
Wir von der Koalition haben dieses Gesetz geändert.
– Doch! Das kann man nachlesen.
Sie müssen einmal die Vorurteile, die Sie im Kopf ha-
(Patrick Döring [FDP]: Ich gebe Ihnen meine ben, beiseiteräumen. Ich habe gerade gesagt, dass wir
Pressemeldung dazu! Nicht nur Agenturmel- das nicht tun, um irgendjemandem irgendwie entgegen-
dungen lesen!) zukommen, sondern um ein klar anwendbares Gesetz (D)
(B)
– Ich beziehe mich auf die Agenturmeldungen; Sie kön- mit klaren Definitionen und ohne seitenlange Aufzäh-
nen das ja richtigstellen. Sagen Sie doch, dass Sie dieses lungen von Straßenabschnitten zu schaffen, ein Gesetz,
Ansinnen, das im schwarz-gelben Lager immer wieder das klar und deutlich definiert, was bemautet wird. Es
zu hören ist, ablehnen. Auch Herr Scheuer hat das immer ging um ein gutes Gesetz, nicht darum, wer mehr oder
gefordert; seit er in Regierungsverantwortung ist, tut er weniger zahlt; wir wollten die Erweiterung sachlogisch
das nicht mehr. vornehmen. Für uns war folgende Eingrenzung sachlo-
gisch: vierstreifige Bundesstraßen, die unmittelbar an
Sagen Sie doch endlich, woher Sie das Geld nehmen Autobahnen anschließen und länger als 4 Kilometer
wollen. Lügen Sie die Menschen nicht an, wie Sie es sind. Das kann jeder definieren; dafür braucht man kei-
hier tun, indem Sie behaupten, dass Sie mit dem, was Sie nen Bundesrat und keine Verwaltung. Unser Ziel war
hier vorlegen, einen sinnvollen Beitrag zur Finanzierung eine gute Gesetzgebung, so wie es die Aufgabe des Par-
der Infrastruktur leisten! Mit dieser halbherzigen Lösung laments ist.
machen Sie nur eines: Sie generieren Mautausweichver-
kehr. Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Jarzombek [CDU/CSU]: Da klatschen nicht
mal die eigenen Kollegen! – Patrick Döring Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
[FDP]: Quatsch!) Nun hat Kollege Herbert Behrens für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der LINKEN)
Kollege Döring, bitte.
Herbert Behrens (DIE LINKE):
Patrick Döring (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, man soll sagen,
gen! Meine Damen und Herren! Hier wird viel Lärm ge-
was man denkt, wenn man denkt. Ich versuche wirklich
macht; aber wenn man auf den Gesetzestext schaut, dann
noch einmal, es zu erläutern:
weiß man: Es ist viel Lärm um nichts. Vor vier Wochen
Erstens. Unmittelbar an Bundesautobahnen ange- wurde hier angekündigt, dass möglicherweise 2 000 Ki-
schlossene vierstreifige Bundesstraßen können nicht zu lometer Bundesstraße bemautet werden sollen. Heute
Mautausweichverkehr führen, weil es keine Alternativ- haben wir festgestellt, dass 1 000 Kilometer übrig ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12221
Herbert Behrens
(A) blieben sind. Gut, dass wir heute und nicht erst in vier ökologischer geworden ist. Auch da haben Sie auf die (C)
Wochen darüber abstimmen; dann wären wohl nur noch Spediteure und das, was ihnen gefällt oder nicht gefällt,
500 Kilometer übrig geblieben und es hätte nichts ge- gehört. Diese Art der Klientelpolitik führt zu solch
bracht. schwachen Gesetzesvorlagen, wie wir sie heute vorlie-
gen haben. Das ist ein Armutszeugnis und sonst nichts.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und
der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜND- (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Linke hat Ihnen ganz konkrete Vorschläge für ein
Die Regierung hat uns wortreich erklärt, warum all gutes Gesetz gemacht. Die Lkw-Maut ist notwendig für
das nicht geht, was eigentlich notwendig wäre. Sie legen den sozial-ökologischen Umbau des Verkehrswesens.
uns hier einen Gesetzentwurf vor, der finanziell kaum et- Deshalb fordern wir, dass schwere Lkw auf allen Bun-
was bringt; er bringt schon gar nichts für die vielen Men- desstraßen Maut zahlen müssen, nicht nur auf 2,5 Pro-
schen, die von Mautausweichverkehr geplagt sind. zent der Strecken, wie Sie es jetzt vorhaben. Wir wollen
auch, dass Lastwagen ab 7,5 Tonnen herangezogen wer-
Während die Mauteinnahmen früher auf Straße, den und nicht erst ab 12 Tonnen. Schließlich müssen
Schiene und Wasserwege verteilt worden sind, führen auch Länder und Kommunen Vorschläge machen dürfen,
Sie heute ein System zur reinen Straßenfinanzierung ein. welche anderen Strecken einbezogen werden müssen,
Im Klartext: Sie verwenden die zusätzlichen Mautein- um typische Mautausweichstrecken zur Schadensbeseiti-
nahmen ausschließlich für das System Straße. Das ist gung heranzuziehen. Das würde gleich doppelt helfen:
falsch. Sie hätten mehr Geld in der Kasse und weniger Lärm vor
(Iris Gleicke [SPD]: Ja, sehr richtig! Da hat er der Haustür. Die Bundesregierung sagt selbst, dass es
recht!) diese Mautausweichverkehre auf circa 11 000 Kilome-
tern gibt – natürlich nicht direkt an der Autobahn. Das
Die hier schon zitierten Experten aus der Anhörung, wissen wir alle; dieses Hinweises hätte es nicht bedurft.
nämlich die Vertreter des Automobilclubs Europa, ACE,
und des Verkehrsclubs Deutschland, haben darauf hinge- Wir fordern, dass ein Gesetzentwurf vorgelegt wird,
wiesen, dass diese Einschränkung nicht in Ordnung ist; der den Bürgern etwas bringt, der dafür sorgt, dass die
dem schließen wir uns an. schweren Lkw nicht mehr durch ihre Ortschaften bret-
tern, und keinen Gesetzentwurf, der ausschließlich den
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Logistikunternehmen dient.
neten der SPD)
Uns geht es um die Lebensqualität der Bürgerinnen
Ich bleibe dabei: Die Maut für schwere Lkw muss und Bürger und um eine Wende hin zu einer ökologi-
(B) nicht auf ein paar wenige Bundesstraßen, sondern auf schen Verkehrspolitik. Deshalb ist es notwendig, dass (D)
alle Bundesstraßen ausgeweitet werden. Dies fordern die Bundesregierung an einer vernünftigen Ausweitung
auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Land- der Maut für schwere Lkw arbeitet. Wir wollen gern da-
kreistag; Kollege Beckmeyer hat darauf hingewiesen. ran mitwirken. Wenn Sie uns zugehört haben, haben Sie
Die kommunalen Spitzenverbände – auch das haben wir schon ausreichend Ansatzpunkte, wie man Gesetze bes-
schon gehört; ich betone es, weil es so bedeutsam ist und ser machen kann.
für uns in der Anhörung überraschend war – fordern,
dass das bemautete Straßennetz umfassend ausgeweitet Vielen Dank.
wird. Schließlich nutzten die schweren Lkw auch die (Beifall bei der LINKEN)
Straßen ab, die nicht in der Nähe der Autobahnen liegen.
Wenn Sie schon Experten zu einer Anhörung einladen, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dann sollten Sie, bitte schön, die Ergebnisse heranziehen Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
und die Gesetzesvorlagen entsprechend verändern. Anton Hofreiter.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
So geht es nicht. Wieder einmal sehen wir: Das ist
NEN):
Klientelpolitik, das ist keine Verkehrspolitik. Dabei ist
eine verantwortungsvolle Verkehrspolitik dringend er- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
forderlich. Lärm an den Straßen – wir haben gestern da- Kollegen! Der Gesetzentwurf ist, betrachtet man seine
rüber diskutiert –, Staus auf den Autobahnen, aber auch Genese – darauf ist schon hingewiesen worden –, schon
Klimakiller aus den Auspuffrohren der Brummis – alles amüsant zu lesen. Wir haben ursprünglich einmal mit
das macht den Menschen schwer zu schaffen. 3 000 Kilometern angefangen; dann waren es 2 000 Kilo-
meter. Jetzt sind wir bei 1 000 Kilometern. Und immer
Ich erinnere Sie daran: Die Lkw-Maut ist eingeführt sind es 100 Millionen Euro Einnahmen geblieben. Dann
worden, weil der Güterverkehr auf der Straße große ist noch gesagt worden, Sie hätten scharf und exakt
Schäden anrichtet und er daher zur Deckung der Kosten nachgerechnet.
herangezogen werden sollte. Die Maut sollte außerdem
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
helfen, dass Dreckschleudern von den Straßen ver-
NEN und bei der SPD)
schwinden und der Verkehr ökologischer wird. Das Aus-
setzen der vereinbarten Mauterhöhung für umweltschäd- Wenn man scharf und exakt nachrechnet und es immer
liche Lkw hat dazu geführt, dass der Verkehr eben nicht bei 100 Millionen Euro bleibt, stellt man sich schon die
12222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Anton Hofreiter


(A) Frage: Warum beziehen Sie nicht einfach nur vernünftiges intermodales Angebot: Schiff, Eisenbahn, (C)
500 Kilometer mit ein? Das würde vielleicht Systemkos- Straße und Umschlagterminals.
ten sparen, und wir blieben dennoch bei 100 Millionen
Euro Einnahmen. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Richtig!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deshalb müssen die Einnahmen aus dieser Logistik-
bei der SPD und der LINKEN) abgabe vernünftig investiert werden: in die Transport-
ketten bzw. die Infrastruktur für die Transportketten. Das
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie- haben Sie zerschlagen. Sie nehmen eine sektorale Be-
rungsfraktionen, das kann so einfach nicht stimmen. Ent- trachtung vor. Damit wird eine der entscheidenden
weder waren es früher, als Sie mehr Kilometer Bundes- Voraussetzungen für unseren Wohlstand, nämlich eine
straßen einbeziehen wollten, mehr Einnahmen, oder jetzt vernünftige Transportinfrastruktur, nicht genutzt.
sind es keine 100 Millionen Euro. Es kann schlichtweg
nicht stimmen. Ich rufe Sie auf: Kehren Sie um! Folgen Sie unseren
Vorschlägen: Ausweitung der Maut auf alle Bundesstra-
Letztlich ist der Grund auch bekannt, warum Sie sich ßen und Verwendung der Einnahmen aus der Logistik-
mit 1 000 Kilometern begnügen. Der Grund ist ganz ein- abgabe für eine integrierte Verkehrspolitik.
fach der, dass die alten OBUs nicht mehr Speicherkapa-
Vielen Dank.
zität haben. Der Grund liegt nicht darin, dass Sie das Ge-
setz sauberer oder schöner machen wollten. Vielmehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
verfügen die alten OBUs nicht über ausreichend Spei- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
cherkapazität. LINKEN)
Die Aussage, dass man ein anderes System nicht zur
Anwendung hätte bringen können, ist auch falsch. Denn Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wir haben ja zwei Systeme in der Anwendung: einerseits Letzter Redner in dieser Debatte ist Thomas
das satellitengestützte OBU-System und auf der anderen Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion.
Seite das manuelle Einwahlsystem. Man hätte selbstver-
ständlich ein anderes System mit entsprechend niedrigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Systemkosten zur Anwendung bringen können. neten der FDP)

Eines zumindest war in der Rede von Patrick Döring Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
richtig, nämlich als er dem Staatssekretär bezüglich der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir füh-
12 Prozent Systemkosten widersprochen hat. Selbstver- ren heute eine Debatte, in der zumindest einige Unter- (D)
(B) ständlich sind die Systemkosten höher. Das wissen auch
schiede deutlich werden. Kollege Hofreiter hat uns ge-
alle. In die Systemkosten müssen nämlich zum Beispiel rade erklärt – den Widerspruch müsste er einmal
die Kosten des BAG für die Kontrolle und eine ganze auflösen –, dass die On-Board-Units nicht in der Lage
Reihe weiterer Kosten eingerechnet werden. wären, mehr als diese 1 000 Kilometer abzubilden.
Was sind unsere Forderungen? Unsere Forderungen Gleichzeitig fordert er, dass wir die Lkw-Maut auf das
sind ganz einfach: In einer ersten Stufe ist die Maut auf gesamte Streckennetz ausdehnen müssen. Wie das zu-
alle Bundesstraßen auszuweiten. In einer weiteren Stufe sammengehen soll, ist mir unklar. Entweder stimmt die
ist die Maut auf alle Lkw ab 3,5 Tonnen auszuweiten. eine Aussage nicht oder die andere.
Was sind die Vorteile? Erstens. Wir haben weitaus mehr (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
Geld. Zweitens. Es ist ein gerechtes, sauberes System. GRÜNEN]: Sie haben einfach nicht zugehört!
Drittens. Mit einem guten System, zum Beispiel mit Mi- Das ist eine andere Technik!)
krowellentechnik, gelangt man bei extrem niedrigen
Systemkosten zu wunderschönen Einnahmen. Was wir heute als Regierung vorlegen müssen, unter-
scheidet sich von dem, was Sie tun müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind die Koali-
Ein weiterer großer Fehler, den Sie begangen haben tion und die Regierung!)
– allerdings nicht im vorliegenden Gesetzentwurf –, ist,
dass Sie die Einnahmen ausschließlich für Straßenbau – Ja, wir sind die regierungstragende Koalition. Das ist
verwenden wollen. Für uns ist die Abgabe eine Logistik- sehr spitzfindig bemerkt. – Was wir tun müssen, das
abgabe. Für einen Logistiker ist es entscheidend, dass er muss auch funktionieren. Der Vorschlag, 1 000 Kilo-
seine Waren verlässlich mit dem Schiff zum Hafen, dann meter Bundesstraßen in die Mautpflicht mit einzubezie-
mit der Eisenbahn und die letzte Meile mit dem Lkw hen, der heute beraten wird, wird funktionieren. Wir
zum Kunden bringt. Für ihn ist es nicht entscheidend, können sie mit dem System und den vorhandenen Soft-
dass die Güter ausschließlich auf der Straße oder aus- ware- und Speicherkapazitäten abbilden. Sie wissen ge-
schließlich auf der Schiene transportiert werden. Viel- nau, wie die Situation ist. Durch eine Umprogrammie-
mehr ist es für unsere Wirtschaft, für unsere Logistiker rung der Software kann man eine Erweiterung der
und für unseren Wohlstand entscheidend, dass wir ver- Streckenkilometer aufnehmen. Das können wir vielleicht
nünftige Transportketten organisieren, dass wir die Rah- im nächsten Jahr, aber nicht jetzt. Deshalb ist es ein Zei-
menbedingungen für vernünftige Transportketten abste- chen von Klugheit, wenn man sich im Laufe eines Ge-
cken. Zu einer vernünftigen Transportkette gehört ein setzgebungsverfahrens daran orientiert, was technisch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12223
Thomas Jarzombek
(A) überhaupt möglich ist. Deshalb hat sich die Zahl von (Florian Pronold [SPD]: Und Sie machen (C)
2 000 auf 1 000 Kilometer reduziert. Kermit, oder was?)
Sie fragen, wie es sein kann, dass wir trotzdem mit Sie kritisieren die Vergabe an Toll Collect, sagen aber
100 Millionen Euro Einnahmen rechnen; das war ver- nicht, wie man das Ganze anders regeln kann. Der Kol-
schiedentlich die Frage. Es ist die Logik des ehrlichen lege Döring hat eindrucksvoll dargestellt, dass alle Ge-
Kaufmanns: Man arbeitet nach dem Niederstwertprinzip setze, die wir hier beachten müssen, damals von Rot-
– es ist im HGB festgelegt –, was bedeutet, dass man erst Grün verabschiedet worden sind. Sie können nicht euro-
einmal Vorsicht walten lässt, paweit ein neues Mautsystem für diese zusätzlichen
Straßen ausschreiben.
(Florian Pronold [SPD]: Das muss für die
schwarz-gelbe Koalition gelten, dass sie nach Und ganz ehrlich: Wer drei Jahre gebraucht hat, das
dem Niederstwertprinzip arbeitet!) bestehende System zu etablieren – der Spiegel hat im
Jahr 2003 vom „Maut-Propheten Stolpe“ gesprochen;
solange man noch keine Verträge abgeschlossen hat. An
die Überschrift lautete „Chronologie der gebrochenen
dieser Stelle können Sie nachrechnen – –
Versprechen“; das manager magazin hat 2003 vor der
(Florian Pronold [SPD]: Das ist ein Kennzei- „Stolper-Gefahr“ gewarnt –, der sollte, glaube ich, klei-
chen Ihrer Politik, dieses Niederstwertprin- nere Brötchen backen. Derjenige sollte ein bisschen be-
zip!) scheidener sein und nicht so harsch über das urteilen,
was wir hier tun.
– Bitte, fragen Sie, Herr Kollege Pronold!
(Florian Pronold [SPD]: Sie haben wohl ein
(Florian Pronold [SPD]: Ich habe lediglich schlechtes Gewissen bei dem Schrott, den Sie
festgestellt, dass das Ihre Politik kennzeich- hier zur Abstimmung stellen!)
net!)
Grüne und Linke sind in dem, was sie tun, wenigstens
– Wollen Sie etwas fragen, oder nicht? Dann stehen Sie ehrlich. Sie wollen die Maut ausweiten auf alle Strecken.
auf und drücken auf den Knopf! Das ist in Ordnung, wenngleich es derzeit technisch
(Florian Pronold [SPD]: Nein, ich will Ihre nicht möglich ist. Die Linkspartei – Herr Behrens, Sie
Redezeit nicht verlängern!) gehen noch einen Schritt weiter – will sogar eine Maut
für den Linienfernbusverkehr einführen, obwohl das
– Sie trauen sich nicht zu fragen. Das ist interessant. noch gar nicht zugelassen ist. Das ist auf jeden Fall flott,
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des so viel kann ich sagen.
(B) (D)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Florian (Florian Pronold [SPD]: Das ist zumindest voraus-
Pronold [SPD]: Haben Sie zu wenig Rede- schauend, anders als Schwarz-Gelb!)
zeit?)
Ich glaube aber, dass gerade die Linienfernbusse für die
Wir nehmen zur Kenntnis: Kollege Pronold traut sich Menschen mit geringerem Einkommen ein sehr attrakti-
nicht zu fragen. ver Mobilitätsfaktor sein werden. Ob Sie diese direkt be-
26 Milliarden Mautkilometer führten zuletzt zu knapp lasten mögen, müssen Sie Ihrer eigenen Klientel erst ein-
5 Milliarden Euro Mauteinnahmen in einem Jahr. Wenn mal erklären.
Sie die 1,3 Milliarden Mautkilometer aus dem ursprüng- Weiterhin haben Sie darauf hingewiesen, dass Sie es
lichen Gesetzentwurf halbieren, dann kommen Sie auf für falsch halten, dass wir die von Ihnen vorgesehenen
2,5 Prozent der Mautkilometer, die vorgesehen sind. Erhöhungen bei den Euro-3-Lkw zurückgenommen ha-
Wenn Sie das auf die entsprechenden Einnahmen bezie- ben. Hier geht es um die kleinen Spediteure. Wir reden
hen, kommen Sie auf Mehreinnahmen von 121 Mil- nicht über die großen Speditionen mit den großen Flot-
lionen Euro. Insofern ist die Rechnung, die hier ange- ten, die permanent modernisieren, sondern über die klei-
stellt wurde, nicht ganz verkehrt. nen Speditionen. Ich habe es bei der letzten Debatte
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Brutto oder netto?) schon einmal gesagt: Ein Drittel der Lkw sind Euro-3-
Lkw, die aber nur 16 Prozent der Streckenkilometer ge-
– Natürlich ist das brutto. Davon können Sie die System- nerieren. Das sind die Wenigfahrer unter den Lkw. Zu-
kosten in Höhe von 12,5 Prozent abziehen und haben meist handelt es sich um kleinere Betriebe. Die kleinen
immer noch einen Sicherheitspuffer. Betriebe und der Mittelstand sind uns als Union wichtig,
(Florian Pronold [SPD]: Und wie viel wäre das Ihnen offenbar nicht.
denn bei 3 000 Kilometer? – Zuruf des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Uwe Beckmeyer [SPD])
Am Ende der Debatte hat Herr Beckmeyer alles zu-
Sie kommen so auf die entsprechenden Zahlen. Insofern sammengenommen. Es gab noch nie eine Anhörung, bei
ist das, was wir hier vorgelegt haben, sehr seriös. Herr der es nur Lob gab; das habe ich noch nie erlebt. Sie ha-
Kollege Beckmeyer, Sie üben sich darin, auch in dieser ben in einer Sisyphusarbeit sämtliche Kritik zusammen-
Plenarsitzung Waldorf und Statler nachzueifern. Im Er- getragen.
gebnis ist es aber so, dass Sie keinen Vorschlag gemacht
haben, wie Sie mit der Sache umgehen wollen. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Es hagelte Kritik!)
12224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Thomas Jarzombek
(A) Zum Abschluss lese ich Ihnen noch vor, was Herr Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: (C)
Stecker vom BGL gesagt hat – damit spricht er für viele
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Spediteure –:
Tackmann, Cornelia Möhring, Dr. Dietmar
Nichtsdestotrotz haben wir uns öffentlich mit der Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Kritik an der Ausweitung der Maut auf die mehr- DIE LINKE
streifen Bundesstraßen zurückgehalten, weil wir Agrarförderung in Deutschland und Europa
zum einen die Zwänge angesichts der Sparbemü- geschlechtergerecht gestalten
hungen der Bundesregierung sahen, zum anderen
aber auch den Finanzierungskreislauf Straße be- – Drucksache 17/5477 –
grüßt haben und das für einen Schritt in die richtige Überweisungsvorschlag:
Richtung halten und in diesem Zusammenhang Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
auch jedem Transportunternehmen plausibler ist, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Maut für diese Strecken zu bezahlen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Das ist Lob. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-
(Florian Pronold [SPD]: Lob von der Lobby ist nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
doch kein Beleg für Richtigkeit, eher für
Falschheit!) Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke das Wort.
– Wenn Sie mittelständische Transportunternehmer als (Beifall bei der LINKEN)
Lobby ansehen, dann können Sie sich gerne weiter mit
den Großen unterhalten.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Ich danke Ihnen vielmals. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Junge Frauen sehen in Dörfern und kleinen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Städten immer öfter keine Perspektive mehr für sich; das
Florian Pronold [SPD]: Schwach begonnen, wissen wir seit Jahren. Das hat auch politische Gründe:
stark nachgelassen!) Es fehlt an existenzsichernder bezahlter Arbeit. Der
Lohnabstand zu Männern ist hier noch größer als in
Großstädten. Familie und Beruf sind noch schwieriger
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
zu vereinbaren. Familiäre Betreuungs- und Versorgungs-
(B) Ich schließe die Aussprache. wege zur Schule, zum Einkauf und zu den Ärzten wer- (D)
den immer länger, und sie müssen meistens von den
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frauen übernommen werden. – Der Preis des Bleibens
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neu- ist unter diesen Bedingungen oft mit dem Verzicht auf
regelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfern- eigene Lebensperspektiven verbunden. Darum wandern
straßen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent- junge Frauen in die Großstädte ab.
wicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5519, den Gesetzentwurf der Bundes- Der Politik fehlt der Blickwinkel der Frauen. Gerade
regierung auf Drucksache 17/4979 in der Ausschussfas- in Deutschland ist die Agrarpolitik männerdominiert,
sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der ebenso wie der Berufsstand und die Verbände. Das ist in
Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. der EU-27 nicht überall so. Zum Beispiel im Baltikum
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Linken auf wird fast die Hälfte der Landwirtschaftsbetriebe von
Drucksache 17/5531? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Frauen geleitet. In Deutschland sind das nicht einmal
tungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der magere 10 Prozent, und wenn, dann sind das eher Be-
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von triebe in Ostdeutschland oder kleinere Betriebe. Ein
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Bauernverbandsfunktionär hat neulich in einer Veran-
staltung der Linken gesagt: Für Gleichstellung sind bei
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in uns die Landfrauen zuständig. – Nichts gegen Landfrauen
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- – im Gegenteil, sie arbeiten sehr engagiert vor Ort –; aber
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der wenn die Gleichstellung gelingen soll, müssen sich alle
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den verantwortlich fühlen.
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grü- (Beifall bei der LINKEN)
nen angenommen. Deshalb sagt die Linke: Agrarpolitik muss endlich Frauen
in alle Entscheidungen einbeziehen, und zwar nicht nur
Dritte Beratung formal, sondern wirkungsvoll; denn Gleichstellung ist ein
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Grundrecht. Es geht nicht um eine großzügige Gewäh-
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – rung, sondern um einen Anspruch. Das ist mehr als die
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- alte Leier von gleichen Bedingungen für alle.
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie in der Die Bundesregierung antwortete auf eine Kleine An-
zweiten Beratung angenommen. frage der Linken zur Agrarförderung, sie sei „geschlechts-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12225
Dr. Kirsten Tackmann
(A) neutral“. Sie meint damit, sie sei nicht diskriminierend. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Das zeigt aber nur eine gravierende Gleichstellungs- Das Wort hat nun Christoph Poland für die Fraktion
inkompetenz; denn so werden ungleiche Verhältnisse der CDU/CSU.
nicht gerechter, sondern so werden sie zementiert.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN) neten der FDP)
Man darf deswegen nicht geschlechtsneutral fördern,
sondern man muss geschlechtergerecht fördern. Christoph Poland (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
(Beifall bei der LINKEN) „Heiterkeit ist ohne Ernst nicht zu begreifen“, meinte
Die Linke fordert: Die 58 Milliarden Euro im EU- Loriot. Also versuche ich, bei der Debatte über diesen
Agrarhaushalt für Agrarbetriebe und ländliche Räume Antrag, der mich sehr erheitert hat, ernst zu bleiben.
müssen geschlechtergerecht verteilt werden. Wie das (Karin Binder [DIE LINKE]: Das ist aber
geht, steht in den 19 Forderungen unseres Antrags. Da- wirklich bedauerlich!)
bei geht es nicht einfach darum, jeden zweiten Euro an
Frauen zu überweisen. Wir wollen einen grundlegenden Das Thema ruft und rief bei Frauen in der Landwirt-
Wandel. Vor allen Dingen geht es uns um die Überwin- schaft, mit denen ich gesprochen habe – ich spreche täg-
dung diskriminierend wirkender Strukturen. Zwei lich mit ihnen –, große Verwunderung und Heiterkeit
Schwerpunkte unserer Vorschläge möchte ich nennen: hervor. Aber ich verspreche den Damen und Herren von
der Linken, dass wir das Thema ernst nehmen. Frauen-
Erstens. Wir müssen mehr wissen über die Lebens- förderung findet bei uns in allen Politikbereichen ihren
situation der Frauen auf dem Land. Die Gleichstellungs-
Niederschlag.
politik muss im Agrarbericht einen größeren Raum ein-
nehmen. Bis Ende 2011 soll dem Bundestag ein Bericht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
zum Stand der Gleichstellung in den ländlichen Räumen Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann
vorgelegt werden. hätten Sie mal zuhören sollen!)
Zweitens. Frauen brauchen mehr wirksame Mitspra- Dieser Antrag, den Sie diese Woche mit heißer Nadel
che bei den Entscheidungen. Zum Beispiel beim ELER- gestrickt haben und uns nun im Plenum vor die Füße
Fonds zur Förderung der ländlichen Räume müssen werfen, ist eigentlich überflüssig. Ich sage Ihnen auch,
Frauen aktiv in die Entwicklung und Umsetzung der warum:
Programme eingebunden werden. Die Leader-Arbeits-
gruppen, die diese Arbeit vor Ort planen und koordinie- (Karin Binder [DIE LINKE]: Da sind wir mal
(B) ren, brauchen Frauenbeiräte, die über ein Vorschlags- gespannt!) (D)
recht verfügen. Sie haben von der Bundesregierung bereits eine Antwort
(Beifall bei der LINKEN) auf eine Kleine Anfrage zu diesem Thema erhalten.

In der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die die nationalen (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das
Förderprogramme plant, muss die Bundesfrauenministe- ändert doch nichts an der Situation!)
rin mit Stimmrecht vertreten sein, damit sie schon in der Insofern gilt für Sie das, was Norbert Blüm einmal ge-
Programmplanungsphase eingreifen kann. sagt hat:
Die Gleichstellungsdefizite auf dem Land benennen Der Vorteil der Opposition ist, dass sie Fragen stel-
übrigens nicht nur wir Linken, sondern auch der Bericht len kann, die sie nicht beantworten muss.
über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im
ländlichen Raum des Europäischen Parlaments vom Ja- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nuar. Auch der Weltagrarbericht weist ausdrücklich auf Karin Binder [DIE LINKE]: Unser Antrag ist
die große Bedeutung von Frauen bei der Lösung der Pro- die Antwort darauf!)
bleme auf dem Land hin.
Ich kann Ihnen gerne noch einmal darlegen, was wir
Die Diskriminierung von Frauen als Kleinbäuerinnen für die Frauen in ländlichen Gebieten tun. Zuallererst
oder Händlerinnen oder Hauptverantwortliche der Fami- möchte ich Ihnen aber sagen, dass die CDU/CSU von
lien ist eine wesentliche Ursache der Armut. Die Agrar- den Linken keine Nachhilfe in Sachen Frauenförderung
exportförderung der EU ist an dieser Situation nicht un- braucht.
schuldig. Deshalb sagen wir Linken: Auch damit muss
Schluss sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Karin Binder [DIE LINKE]: Das ist
(Beifall bei der LINKEN) ein Irrtum!)
Um zusammenzufassen: Nur eine geschlechterge- 1961 holte Konrad Adenauer die erste Frau als Ministe-
rechte Agrarpolitik wird die Probleme auf dem Land lö- rin in das Bundeskabinett.
sen. Das gilt für Deutschland, für Europa und für die
ganze Welt. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie sind
wirklich lustig, Herr Kollege!)
Vielen Dank.
Sie erinnern sich sicherlich an Elisabeth Schwarzhaupt.
(Beifall bei der LINKEN) Heute steht eine Frau an der Regierungsspitze.
12226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Christoph Poland
(A) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wilhelm Außerdem darf ich Sie darauf hinweisen, dass die (C)
Priesmeier [SPD]: Aber sie macht keine Frau- Gleichstellung der Geschlechter Fundament der EU und
enpolitik! – Kerstin Tack [SPD]: Das geht völ- in den nationalen Verfassungen niedergelegt ist. Nie-
lig am Thema vorbei! – Dr. Kirsten Tackmann mand hier braucht Ihren Antrag, Ihre Nachhilfe zum
[DIE LINKE]: Sie reden am Thema vorbei!) Thema Frauenförderung.
– Verehrte Frau Tackmann, ich komme gleich dazu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Sie zitieren ja gerne die Kommunistin Clara Zetkin.
Die multifunktionale Rolle der Frau im ländlichen
(Kerstin Tack [SPD]: Worüber redet er denn?) Raum
Ich wünsche mir allerdings inständig, dass Sie nicht die (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Multi-
Möglichkeit haben, Ihren Glauben an die überlegene funktionale Rolle der Frau? – Kerstin Tack
Macht des Kommunismus weiter als etwas Gutes zu de- [SPD]: Das hat er doch jetzt nicht gesagt,
klarieren. oder?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, in der Gesell-
schaft ein modernes Frauenbild zu prägen. Meist sind es
Angesichts der Diskussion, ob Oskar Lafontaine in Ihrer die Frauen, die in der Erschließung zusätzlicher Einkom-
Partei wieder eine wichtige Rolle spielen soll, würde ich mensquellen Zukunftsperspektiven sehen und neue
Ihnen empfehlen, Wege gehen. Durch ihr unternehmerisches Engagement
leisten Frauen einen wesentlichen Beitrag zum Fami-
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Reden lieneinkommen, zur Existenz der landwirtschaftlichen
Sie doch mal zum Thema!) Betriebe und zur regionalen Wirtschaftskraft. Dies gilt in
eher das Frauenbild der Linken und ihrer Mitglieder zu besonderem Maße für den ländlichen Tourismus, die Di-
klären, als sich über das Frauenbild anderer Parteien er- rektvermarktung, den Dienstleistungsbereich und andere
haben zu fühlen. unternehmerische Initiativen.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Alles
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten
prekäre Beschäftigung!)
Tackmann [DIE LINKE]: Ich habe über kein
Frauenbild geredet! Ich habe über die Situa- In meinem Wahlkreis gibt es starke Unternehmerin-
tion geredet! – Weiterer Zuruf von der LIN- nen im landwirtschaftlichen Bereich.
KEN: Sie sollten einmal den Antrag lesen!) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Bei mir
(B) – Ich komme gleich dazu. auch!) (D)
Sie beklagen in Ihrem Antrag die Landflucht der Im Bereich der Rinderzucht hat Frau Dr. Sabine Krüger
Frauen. Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis, in Woldegk zum Wohle der Landwirte und einer eigen-
dass die Landflucht der Frauen keine neue Erscheinung ständigen Zucht eine einheitliche, wirtschaftlich starke
ist. Schon seit Jahrzehnten, also auch in der früheren Zucht- und Besamungsorganisation aufgebaut. Frau
DDR und in der alten Bundesrepublik, gibt es eine Land- Carola Lehmann gebietet als Vorstandsvorsitzende über
2 000 Hektar.
flucht von Frauen. Das hat etwas mit der Entwicklung
und der Industrialisierung der Landwirtschaft zu tun. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was
sagt denn das?)
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie sollten
sich einfach mal richtig vorbereiten!) Es gibt dort auch Fischerinnen, die ihren eigenen Betrieb
eröffnet haben, zum Beispiel Frau Sabine Reimer-
Frauen streben in die Städte, in die Dienstleistungsbe- Meißner, und junge Frauen, die einen Agrarbetrieb mit
rufe und haben keine Lust mehr, auf dem Lande zu le- Gourmetrestaurant, Hofladen und Ähnlichem aufgebaut
ben. haben.
Sie wollen die Agrarförderung auch in Europa ge- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ja! Das
schlechtergerecht gestalten; so haben Sie es in Ihrem zeigt doch, dass sie es können! Warum sind es
Antrag formuliert. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, denn dann nur 10 Prozent?)
dass wir auf europäischer Ebene bereits federführend ei- – Ich weiß nicht, ob Sie glauben, dass dann, wenn
nen Bericht eingebracht haben mit dem Titel „Bericht 50 Prozent einen Hofladen hätten, alle davon leben
über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im könnten.
ländlichen Raum“.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wieso
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ja, der mit einem Hofladen? Frauen können also nur
hat die Probleme aufgezeigt!) Hofladen, oder wie? – Kerstin Tack [SPD]:
Dieser Bericht ist, wie Sie wissen, ohne Änderungs- Peinlich!)
antrag vom Europäischen Parlament angenommen wor- Den unterschiedlichsten Anforderungen begegnen
den. Frauen sehr kreativ,
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist (Patrick Döring [FDP]: Oh ja! Wie der Antrag
ein Bericht! Das sind keine Taten!) der Linken beweist!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12227
Christoph Poland
(A) vor allem im Rahmen familiärer Unterstützungsnetz- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C)
werke. Das Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut hat
Wir als CDU sind gegen den Mindestlohn. Wir wollen
festgestellt, was Frauen Kreatives leisten.
nicht, dass durch die Einführung eines flächendeckenden
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der Mindestlohns Arbeitsplätze im landwirtschaftlichen und
LINKEN) ländlichen Bereich vernichtet werden.
Sie spielen für die ländliche Entwicklung eine wesentli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
che Rolle, auch wenn dies von der Öffentlichkeit häufig
nicht wahrgenommen wird. Meine Damen und Herren, in ihrem Antrag fordern
die Linken – hören Sie jetzt gut zu – deutlich höhere An-
Den EU-Bericht über die Rolle der Frauen in der teile des europäischen Agrarfonds für Frauen. Ich finde,
Landwirtschaft und im ländlichen Raum, den Sie in Ih- das geht über Gleichbehandlung hinaus.
rem Antrag erwähnen, verstehe ich ganz anders als Sie.
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau! Was ist
(Kerstin Tack [SPD]: Das war klar!) daran gerecht?)
Sie schreiben: Hier überdrehen Sie das Rad gewaltig.
In vielen Regionen droht mittel- bis langfristig eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
weitere Verschlechterung der sozialen Infrastruktur.
Zusammenfassend will ich ganz klar sagen: Wir leh-
(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Aber sicher!) nen Ihren Antrag ab.
Das ist nicht richtig. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Jetzt
(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Doch!) schon? Sie haben ihn ja noch gar nicht richtig
gelesen! Wir diskutieren darüber doch gerade
Vielmehr wird in dem Bericht hervorgehoben, dass die
erst in erster Lesung!)
Rollenvielfalt, der sich Frauen im ländlichen Umfeld
stellen, einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt und Ich schenke Ihnen allerdings ein paar Minuten meiner
zu Innovationen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Redezeit. Frohe Ostern!
zu einem Anstieg der Lebensqualität insbesondere im
ländlichen Raum leistet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Allein
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ja! für diese Rede hat es sich gelohnt, herzukom-
Aber da ist Deutschland doch schon Vorreiter, men!)
denke ich!)
(B) (D)
Denken Sie nur an die Frauen in Verbänden, in Feuer- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wehren, im Landfrauenverband. Es gibt bereits erste Danke schön. – Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier
Feuerwehrführerinnen, für die SPD-Fraktion.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten
auch gut so! Aber die können viel mehr! – Tackmann [DIE LINKE])
Kerstin Tack [SPD]: Das ist total peinlich, was
Sie da erzählen!) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
weil Männermangel herrscht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kollege
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Also
Poland, Ihre Bemerkung zu Heiterkeit und Ernst nehme
nur als Ersatz für Männer, oder wie?)
ich als gegeben hin. Aber die Sachlichkeit war in Ihrer
Außerdem schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass das Rede nicht besonders stark ausgeprägt.
Seminar „Frauen in der nachhaltigen Entwicklung des
ländlichen Raums“ lediglich einen begrenzten Sensibili- (Iris Gleicke [SPD]: Ja, die Sachkunde auch
sierungseffekt hatte. Diese Einschätzung kann ich so nicht! – Kerstin Tack [SPD]: Das war pein-
nicht teilen. Im Bericht wurde vielmehr festgehalten, lich!)
dass es in der letzten Dekade im Hinblick auf die Ar- Insofern hat es auch entsprechende Bemerkungen gege-
beitslosenzahlen von Frauen einen positiven Trend gege- ben.
ben hat. Nehmen Sie diese positiven Arbeitsmarktzahlen
doch einmal zur Kenntnis! 2011 werden in Deutschland Ich glaube, das Thema, um das es geht, hat gravie-
mehr Menschen Arbeit haben als jemals zuvor seit dem rende Auswirkungen auf den gesamten ländlichen Raum
Zweiten Weltkrieg. und die demografische Entwicklung im ländlichen
Raum.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es geht
um existenzsichernde Bezahlung!) (Iris Gleicke [SPD]: Richtig!)
Natürlich kommen Sie auch mit Ihrem Lieb- Die Gleichstellungsstrategie ist ein Kernziel der Strate-
lingsthema um die Ecke, dem Mindestlohn. gie „Europa 2020“. Insofern hat sich Ihre Kollegin Frau
Jeggle im Europaparlament besondere Verdienste erwor-
(Beifall bei der LINKEN)
ben. Sie hat nämlich den Bericht aufgegriffen und am
Da machen wir nicht mit. 4. April dieses Jahres einen wirklich hervorragenden
12228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) Entschließungsantrag – Sie haben ihn vielleicht noch Raum ist ein zentrales Instrument, um dem demografi- (C)
nicht gelesen –, der 39 Forderungen enthält, durch das schen Wandel, der sich in den ländlichen Räumen voll-
Europaparlament gebracht. In diesem Antrag wurden zieht, etwas entgegenzusetzen und ihn zu bewältigen.
viele Dinge, die im Antrag der Linken stehen, themati-
siert und fast wortgleich eingefordert. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist Für uns ist aktive Gleichstellungspolitik eine Selbst-
ja Sozialismus! Mein Gott!) verständlichkeit. Wir wollen die Agrarpolitik davon
nicht ausnehmen. Es geht sicherlich nicht um einen An-
Insofern würde ich mir das – was moderne Politik für satz in Richtung „Bauer sucht Frau“ zur Finanzierung
Frauen im ländlichen Raum und auch was die Möglich- des Projekts. Es geht viel weiter. Aber wenn Sie in sol-
keiten betrifft, den Agrarhaushalt dort mit einzusetzen – chen Regionen leben, ist die Wahrscheinlichkeit, eine
zumindest einmal vor Augen führen und unter Umstän- adäquate Lebenspartnerin zu finden, geringer, als wenn
den zum Konzept machen. Sie am Polarkreis lebten.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Man muss auch sehen, welche Entwicklungen sich in
Christoph Poland [CDU/CSU]: Aber nicht Bezug auf das Wahlverhalten abspielen. Es gibt eine Un-
wortgleich mit dem Linken-Antrag!) tersuchung – ich kann sie Ihnen vorlegen –, in der der
Nachweis geführt wird, dass rechtsradikales Wählerver-
Wir Sozialdemokraten wollen natürlich die Rolle der halten unmittelbar mit dem Phänomen der Abwanderung
Frauen in den ländlichen Räumen stärken, damit diese korreliert. Das sollte uns allen zu denken geben. Wir
lebenswert bleiben. Deshalb unterstützen wir nachdrück- müssen versuchen, dort aktiv gegenzusteuern. Wir müs-
lich alle 39 Forderungen dieses Entschließungsantrags. sen versuchen, jungen Frauen Perspektiven zu bieten.
Wir haben allerdings auch die Aufgabe, die Forderun- Denn wer wandert ab? Es wandern die ab, die am besten
gen, die für Europa formuliert sind, an Deutschland und ausgebildet sind und die besten Voraussetzungen haben.
seine Strukturen anzupassen.
Es ist uns mittlerweile gelungen, in unserem Bil-
Die Bundesregierung bekennt sich ebenfalls zur dungssystem dafür zu sorgen, dass die Zahl der weibli-
Gleichstellungspolitik. An der Antwort auf die Kleine chen Hochschulzugangsberechtigten fast 60 Prozent ei-
Anfrage der Linken erkennt man aber, dass sie bislang nes Jahrgangs ausmacht. Wenn wir auf der anderen Seite
keine Vorschläge erarbeitet und offensichtlich auch schauen, wer einen Hauptschulabschluss oder keinen
keine konkreten Vorstellungen im Hinblick auf die Um- Schulabschluss hat, dann sind 60 Prozent der Betroffe-
setzung hat. nen männlich. Das sollte uns zu denken geben. Es hat in
(B) Im Rahmen der Ausgestaltung der zweiten Säule nach diesen Räumen unmittelbare Auswirkungen. (D)
ELER gibt es einen relativ großen Spielraum an Mög- Jemand, der für sich eine adäquate Lebensperspektive
lichkeiten, dort spezifische Frauenförderung zu veran- sucht, der sucht auch eine adäquate Arbeit und ein ad-
kern. Schauen Sie sich doch einmal an, wie sich der äquates Beschäftigungsverhältnis. Insofern ist es ge-
ländliche Raum darstellt. Schauen Sie vor allem in die rechtfertigt, dass man sich diesem Thema im Rahmen
ländlichen Räume der neuen Bundesländer: nach Nord- der Diskussion über die Neuausrichtung der Gemeinsa-
ostvorpommern, in die Prignitz oder nach Sachsen. Dann men Agrarpolitik in ganz besonderer Weise widmet und
erkennen Sie, dass dort mittlerweile ein Missverhältnis die Demografie im ländlichen Raum zu einem zentralen
zwischen den Geschlechtern besteht – ein Verhältnis im Thema bei der Ausgestaltung der Gemeinsamen Agrar-
Extremfall von 100 zu 75, im Regelfall von 100 zu 80. politik in der zweiten Säule macht. Darum kommen wir
Das heißt, 20 Prozent der Frauen in den Altersgruppen gar nicht herum; denn allen Veränderungen, die sich in
zwischen 18 und 29 Jahren fehlen, und es werden weni- diesen Räumen abspielen, müssen wir zumindest beglei-
ger Kinder geboren. Auch das führt dazu, dass diese tend etwas entgegenstellen, wenn wir diesen Prozess
Räume sozial instabil werden. schon nicht verhindern können. Darum ist der Ansatz,
Die Wanderungsbewegung – das haben Sie richtig be- der von der Kollegin eingefordert wird, richtig.
merkt – ist sicherlich eine Erscheinung, die wir seit (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
100 oder 200 Jahren haben. Das ist so, seitdem die
Städte wachsen. Bislang waren wir aber immer in der Ich kann nicht alle Ihre Forderungen unterschreiben;
Lage, dies durch einen entsprechenden Bevölkerungszu- aber es besteht durchaus die Notwendigkeit, das poli-
wachs in den ländlichen Räumen auszugleichen. Das tisch anzuerkennen und auch in politisches Handeln um-
passiert schon lange nicht mehr. zusetzen. Darüber, ob gerade Frau Schröder als Famili-
enministerin an den PLANAK-Verhandlungen beteiligt
Wenn ich meinen eigenen Wahlkreis bzw. meine ei- werden muss, kann man sich trefflich streiten.
gene Kommune anschaue, sehe ich dort ein charakteris-
tisches Beispiel. Wir hatten, als ich anfing, Kommunal- Was wir auch brauchen, ist – das ist hier ebenfalls the-
politik zu machen, etwa 11 500 Einwohner. Heute haben matisiert worden – Entgeltsicherheit und Entgeltgleich-
wir noch 9 800 Einwohner. Im letzten Jahr sind in dieser heit für Männer und Frauen. Bislang ist es so, dass
Kommune – ich habe bei meinem Bürgermeister nach- Frauen im Regelfall – besonders aber in den ländlichen
gefragt – 48 Kinder geboren worden. Das ist die Per- Räumen – erheblich schlechter bezahlt werden. Es gilt
spektive, die wir in ländlichen Räumen haben. Aktive dem etwas entgegenzusetzen. Deshalb bedauere ich,
Frauenpolitik, das Fördern von Frauen im ländlichen dass Sie unseren Antrag mit dem Titel „Entgeltgleichheit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12229
Dr. Wilhelm Priesmeier
(A) zwischen Männern und Frauen gesetzlich durchsetzen“ haben nach wie vor mit einem tradierten Rollenverständ- (C)
in der letzten Woche abgelehnt haben. nis zu kämpfen, das ihren eigenen Vorstellungen in kei-
ner Weise entspricht.
(Beifall bei der SPD)
Die Linksfraktion greift diese Problematik in ihrem
Damit haben Sie den Frauen und auch den ländlichen
Antrag dankenswerterweise auf. Ein klares politisches
Räumen weiß Gott keinen Dienst erwiesen.
Handlungskonzept, wie wir diese Herausforderung
Die Lohndiskriminierung von Frauen auf dem Lande meistern können, bleiben Sie allerdings schuldig. Das
sollte längst der Vergangenheit angehören. liegt vor allem daran, dass man ländliche Räume und
Landwirtschaft wieder einmal in einen Topf geworfen
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
hat. Die Bedeutung der Agrarbranche für die ländliche
Ich garantiere Ihnen: Hinsichtlich der Forderungen nach Entwicklung ist zwar unstrittig. Wenn wir aber die Situa-
Lohn- bzw. Entgeltgleichheit und Mindestlöhnen auch in tion von Frauen auf dem Lande nachdrücklich verbes-
der Landwirtschaft und in den ländlichen Räumen stehen sern wollen – und das sollte ja ein wesentliches Ergebnis
wir an der Seite der Gewerkschaften; wir unterstützen von Gleichstellung sein –, dann kommen wir mit einer
dies. Ich glaube, Gender Budgeting, also das Einfließen Beschränkung auf Landwirtschaft und Agrarförderung
dieser Grundüberlegungen in alle Politik- und Haus- nicht weit. Arbeitsplätze, gute Löhne, Aus- und Weiter-
haltsbereiche, sollte in Zukunft eine Selbstverständlich- bildungsmöglichkeiten, die Vereinbarkeit von Familie
keit sein. Wir als Sozialdemokraten werden uns dafür und Beruf durch familienfreundliche Infrastrukturen –
einsetzen, dass diese Selbstverständlichkeit zur Realität das sind die Knackpunkte für mehr Chancengleichheit
wird. und gelebte Geschlechtergerechtigkeit gerade für Frauen
auf dem Lande.
Vielen Dank.
Im Forderungsteil des Antrags der Linksfraktion fin-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
det sich dazu nichts. Da hilft auch die Aufnahme des
Bundesfamilienministeriums in den PLANAK nicht
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wirklich weiter. Meinen Sie, dass sich dadurch etwas an
Die Kollegin Christel Happach-Kasan von der FDP- der falschen Prioritätensetzung bei der GAK ändert?
Fraktion hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass
jetzt Kollegin Cornelia Behm von der Fraktion Bünd- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wenn
nis 90/Die Grünen als letzte Rednerin in dieser Debatte wir eine kompetente Ministerin hätten, wäre
das Wort erhält. das schon möglich!)

(B) Selbst wenn wir uns auf den Agrarbereich beschrän- (D)
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ken, sind die Vorstellungen der Linken nicht wirklich
Vielen Dank, sehr geehrter Herr Präsident. – Liebe ambitioniert. „Mehr Frauen in die Führungsetagen der
Kolleginnen und Kollegen! Herr Poland, Ihre Rede war großen Agrargenossenschaften und GmbHs“ lautet eine
wahrlich sehr schwer zu ertragen. Dass Sie von den Ko- Ihrer Forderungen. Das wäre sicherlich ein wichtiges
alitionsfraktionen so viel Beifall bekommen haben, Zeichen. Vielen gestandenen Landwirten erschiene es
spricht Bände hinsichtlich Ihrer Geisteshaltung in dieser wahrlich als eine Art Kulturrevolution. Aber reicht uns
Frage. das?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei der SPD und der LINKEN) NEN]: Nein!)
Es wird niemand leugnen wollen, dass die Chancen- Die Stärkung der ökologischen und bäuerlichen Land-
gleichheit von Frauen in unserer Gesellschaft besonders wirtschaft würde uns viel weiter bringen; denn diese
in ländlichen Regionen eine besondere Herausforderung schafft Arbeitsplätze.
darstellt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Holger Krestel [FDP]: Da wächst der österli-
che Friede aber nicht!) Sie ist im Gegensatz zu den großen Betrieben innovativ,
wenn es um mehr Beschäftigung und neue, gleichbe-
Ich blicke hier insbesondere auf Ostdeutschland. Die rechtigte Einkommensmöglichkeiten gerade auch für
Forschung weist seit Jahren auf die prekäre Situation der Frauen geht. Aber dazu findet sich im Antrag der Linken
Frauen dort hin, die eine massive Abwanderung zur leider nichts.
Folge hat.
Ich will das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
(Holger Krestel [FDP]: Sie sollten Ihrem Vor- Der Ansatz ist gut. Jetzt kommt es aber auf konkrete In-
redner zuhören!) strumente an.
Die formalrechtliche Gleichstellung der Frauen ist zwar Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, liebe Kolleginnen
auf dem Papier vorhanden, die Wirklichkeit sieht aber und Kollegen von der Koalition: die Hofabgabeklausel.
leider häufig anders aus. Frauen werden schlechter be- Nach der geltenden Regelung gilt: Wenn ein Landwirt
zahlt, sie haben schlechtere Aufstiegschancen, und sie mit 65 Jahren nicht seinen Hof abgibt, verliert er seinen
Rentenanspruch. Will er ihn aber an seine jüngere Ehe-
1) Anlage 2 frau abgeben, so darf diese nicht jünger als 55 Jahre sein.
12230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Cornelia Behm
(A) Ist sie beispielsweise 53 oder 48, hat sie Pech gehabt. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Der Gesetzgeber verbietet ihr die Übernahme des Hofes NEN):
und entzieht ihr damit die Lebensgrundlage als Bäuerin. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1 101 889 000 Passagiere wurden nach Anga-
Ein weiteres Beispiel: Ist die Bäuerin 65, ihr Ehe-
ben von Eurostat im Jahr 2008 in der EU auf dem Luft-
mann aber nicht bereit, den Hof mit Eintritt ins Ren-
weg befördert. Von einem erheblichen Teil dieser Passa-
tenalter abzugeben, verweigert ihr der Gesetzgeber die
giere sollen nun jeweils 19 Datenkategorien ohne Anlass
Rente. Es ist ihr somit gesetzlich verwehrt, eigenständig
und auf Vorrat gespeichert werden: Anschrift, Telefon-
über ihr Leben im Rentenalter zu entscheiden. Das müs-
nummer, E-Mail-Adresse, Kreditkartennummer, Zahl
sen wir ändern, und zwar jetzt.
und Name der Mitreisenden,
Zusammengefasst heißt das: Um die Diskriminierung
von Frauen auf dem Lande zu beenden, reicht es nicht, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sie stärker an Förderprogrammen zu beteiligen, und NEN]: Unglaublich!)
schon gar nicht, Aktionsprogramme zu machen und Bei- der Name des Sachbearbeiters im Reisebüro, der soge-
räte zu berufen. Das Feld, das es zu beackern gilt, ist nannte Vielfliegervermerk, die Sitzplatznummern und
groß und steinig. Die Regierungskoalition sollte endlich – ein Meisterwerk der Unbestimmtheit – sogenannte all-
die Kraft zusammennehmen, nicht nur vor Ort bei den gemeine Hinweise.
Betroffenen schöne Worte zu machen, sondern wenigs-
tens die schwersten Steine – damit meine ich beispiels- Um hier gar keinen großen Spannungsbogen aufzu-
weise die Hofabgabeklausel – aus dem Weg zu räumen. bauen und den Tenor unseres Antrags gleich offen zu be-
nennen: So geht es nicht, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Schon das allein ist eine riesige Menge äußerst aus-
Ich schließe die Aussprache.
sagekräftiger personenbezogener Daten. Aber zu allem
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Überfluss ist in der jetzt vorliegenden Richtlinie eine
Drucksache 17/5477 an die in der Tagesordnung aufge- Verknüpfung dieser Daten, eine Abgleichung oder, um
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- es konkreter zu sagen, eine Rasterung verpflichtend vor-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung gesehen. Hier entsteht ein unüberschaubarer, staatlich
so beschlossen. kontrollierter Datenpool, der nicht nur mit anderen euro-
(B) päischen und nationalen Datensammlungen abgeglichen (D)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: werden kann und soll, sondern aus dem sich zusätzlich
Beratung des Antrags der Abgeordneten verschiedenste Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, aller 27 Mitgliedstaaten bedienen sollen.
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Was ist da-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ran schlimm?)
Keine Vorratsdatenspeicherung von Fluggast- – Das will ich Ihnen jetzt erklären, Herr Kollege. – Wie
daten – lange diese Behörden wiederum die abgerufenen Daten
Richtlinienvorschlag über die Verwendung von speichern
Fluggastdatensätzen, KOM(2011) 32 endg.,
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Polizeiar-
Ratsdok. 6007/11
beit ist etwas Schlimmes für euch!)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
– Herr Binninger, Sie haben eine Frage gestellt, hören
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Sie jetzt auch zu! –,
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4
EUZBBG (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Jawohl!)
– Drucksache 17/5490 – wozu sie die Daten, die sie abrufen, genau verwenden
Überweisungsvorschlag: und an welche weiteren Länder – ohne ausreichendes
Innenausschuss (f) Datenschutzniveau – sie sie weitergeben, ist nach der
Rechtsausschuss vorliegenden Richtlinie völlig unklar.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Dann ma-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
chen Sie einen Vorschlag!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Diese Vorratsdatenspeicherung ist ein weiterer Baustein
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre
in einem völlig unkontrollierbaren Gewirr von unter-
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
einander verbundenen Datenpools in Europa. Meine
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Fraktion und ich sehen hier – das sage ich Ihnen in aller
Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Deutlichkeit – ein massives datenschutzrechtliches und
Grünen das Wort. verfassungsrechtliches Problem.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12231
Dr. Konstantin von Notz
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mung nach Europa tragen, statt weiter den politischen (C)
bei der SPD und der LINKEN) Grundrechteabbau durch die europäische Hintertür zu
betreiben.
Weil das Bundesministerium des Innern vor Monaten
schon selbst erhebliche Zweifel an der verfassungskon- Ganz herzlichen Dank.
formen Umsetzung dieser unausgegorenen Richtlinie an-
gemeldet hat, ist es mir völlig unverständlich, warum die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Bundesregierung in Kenntnis dieser Zweifel und in bei der SPD und der LINKEN)
Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts bei den Verhandlungen zum Kommissionsentwurf Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
am Anfang dieser Woche nicht ausdrücklich darauf hin- Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/
gewiesen hat, dass eine solche Vorratsdatenspeicherung CSU-Fraktion.
– um nichts anderes handelt es sich hier – mit dem deut-
schen Grundgesetz überhaupt nicht vereinbar ist.
Clemens Binninger (CDU/CSU):
Schon in seinem Urteil zur Umsetzung der Richtlinie Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations- Vorneweg eine klarstellende Bemerkung, Herr Kollege
verbindungsdaten fiel es dem Bundesverfassungsgericht von Notz: Die Richtlinie liegt im Entwurf vor. Über sie
auffallend schwer, die zugrunde liegende EU-Richtlinie wird etwa ein Jahr verhandelt werden. Sie ist noch nicht
unangetastet zu lassen und nur Teile des Umsetzungsge- beschlossen. Wir alle sind aufgefordert, gute Beiträge
setzes für verfassungswidrig zu erklären. Es wurden zur Formulierung der Richtlinie zu leisten. Ihre Rede
engste Grenzen gesetzt, die den Gesetzgeber zu großer war leider kein guter Beitrag dazu.
Zurückhaltung zwingen. Der Richtlinienvorschlag aber,
der uns heute vorliegt, übt gar keine Zurückhaltung; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ganz im Gegenteil: Es wird gespeichert, so lange es geht, Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
so umfassend es geht und von so vielen Menschen, wie NEN]: Aber hallo!)
es geht. Gleich eine ganze Reihe von Regelungen des Die Erwartungshaltung der Bevölkerung, der Medien
Richtlinienvorschlags widersprechen diametral den kla- und der Politik, wenn es um die Notwendigkeit der Spei-
ren Vorgaben unseres Bundesverfassungsgerichts. cherung von Passagierdaten und um die Luftsicherheit
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geht, lässt sich am besten mit einem Blick in die Realität
NEN]: Genau!) beantworten.
Ich sage Ihnen heute voraus: Müsste das Bundesver- 25. September 2009: Es gelingt einem Terrorverdäch-
(B) (D)
fassungsgericht über ein Gesetz zur Umsetzung der tigen, von Nigeria über Amsterdam nach Detroit zu flie-
Fluggastdatenrichtlinie entscheiden, könnte das massive gen.
negative Folgen für den rechtlichen Zusammenhalt der
Europäischen Union haben; denn eines der zentralen Ge- (Dr. Eva Högl [SPD]: Trotz Datenspeiche-
bote unserer Verfassung lautet: Die Freiheitswahrneh- rung!)
mung der Bürger darf nicht total erfasst und registriert Es gibt Hinweise auf sein Verhalten: Er bezahlt bar; er
werden. – Hierfür muss sich – ich zitiere das Bundesver- bucht nur ein One-Way-Ticket; er reist ohne Gepäck in
fassungsgericht – „die Bundesrepublik in europäischen die USA. All das bleibt unbemerkt. Er versucht, im Lan-
und internationalen Zusammenhängen einsetzen“. Das deanflug auf Detroit eine Flüssigkeit zu entzünden, um
haben Sie bisher allenfalls kosmetisch, aber leider über- das Flugzeug zum Absturz zu bringen.
haupt nicht ernsthaft getan. Fangen Sie endlich damit an!
Als das passierte, kam aus allen Parteien – von der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Linken über die Grünen, bei uns sowieso – zu Recht die
bei der SPD und der LINKEN) klare Aussage, dass es nicht sein kann, dass ein Terror-
Denn sonst stellen Sie das Bundesverfassungsgericht vor verdächtiger unerkannt ein Flugzeug besteigt. Da müsse
folgende Wahl, Herr Kollege Binninger – doch irgendwo eine Warnlampe angehen. Wenn die
Warnlampe angehen soll, brauchen wir auch eine Passa-
gierdatenspeicherung. Alles andere ist Unfug und Sand,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der den Leuten in die Augen gestreut wird.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Un-
GRÜNEN): sinn! Wir hatten sie mit den USA, als der ein-
– ich komme zum Ende –: entweder erstmals Europa- gestiegen ist!)
recht direkt anzugreifen oder aber sich in direkten Wi- Was wir unter Rot-Grün hatten, will ich lieber nicht nä-
derspruch zu der eigenen jüngsten Rechtsprechung und her erläutern.
damit dem deutschen Verfassungsrecht zu begeben. Ich
fordere Sie daher auf: Ersparen Sie uns diese Niederlage Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass in
für die Grundrechte des Grundgesetzes oder die europäi- den Bereichen von Terrorismus und organisierter
sche Integration! Wir Grüne bieten Ihnen an: Lassen Sie Kriminalität – um nichts anderes geht es hier – die Si-
uns das Grundrecht auf informationelle Selbstbestim- cherheitsbehörden darauf angewiesen sind, Daten über
12232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Clemens Binninger
(A) Reisebewegungen, Kommunikationsbeziehungen und (Jan Korte [DIE LINKE]: Also wollen Sie es (C)
Finanzströme zu erhalten. auch innereuropäisch?)
Das PNR-Abkommen, das jetzt im Entwurf vorliegt, – Nein, das ist eine Frage, die sich stellt.
schafft einen einheitlichen Rahmen innerhalb der EU. (Jan Korte [DIE LINKE]: Aber die Antwort ist
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ja klar!)
NEN]: Hat es was genutzt bei dem Unterwä- Wir debattieren darüber. Machen Sie einen Vorschlag!
schebomber? Nein!)
Für mich ganz persönlich stellt sich auch eine dritte
Es wird jetzt ein Jahr verhandelt werden. Die Richtlinien Frage, da greife ich sogar Ihre Bedenken ein Stück weit
haben drei Ziele. Erstens. Es soll – ich glaube, noch auf. Zu verhindern, dass ein Terrorverdächtiger ein Flug-
nicht einmal Sie sind da anderer Meinung – verhindert zeug besteigt, ist oberstes Ziel. Daran kann es für mich
werden, dass Terrorverdächtige, die einen Anschlag pla- keinen Zweifel geben.
nen, überhaupt erst ein Flugzeug besteigen. Wer dagegen
etwas hat, soll es sagen. Es gibt gegen die Forderung, (Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig!)
das zu verhindern, ernsthaft nichts einzuwenden. Wer das ablehnt, macht keine seriöse Sicherheitspolitik.
Auch schwere Straftaten aufzuklären, halte ich für abso-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lut berechtigt. Die dritte Zielrichtung des Abkommens
NEN]: Nein, aber es hilft nicht!) ist, anhand der Daten Kriterien zu erkennen, mit denen
Zweiter Punkt: Es soll gelingen, schwere Straftaten auf- Verdächtige identifiziert werden können, also eine Art
zuklären. Dritter Punkt: Es soll gelingen, Verdächtige zu Rasterfahndung. Da hat uns das Bundesverfassungsge-
erkennen. richt ganz klar aufgegeben: Die Rasterfahndung ist zu-
lässig, sie muss aber an eine konkrete Gefahr geknüpft
Wenn wir die Richtlinie jetzt ansehen, stellen sich na- sein. Das heißt, eine pauschale Ermächtigung, diese Da-
türlich einige – auch datenschutzrechtliche – Fragen. ten quasi jede Woche auf irgendwelche Auffälligkeiten
Das bestreite ich überhaupt nicht. Wir sind erst am Be- hin zu durchleuchten, ist rechtlich nach unserem Ver-
ginn der Debatte. Eine Frage, die sich auch für mich ständnis schwer abzubilden. Deshalb müssen wir darauf
stellt, ist, ob die Speicherdauer – 30 Tage offen, dann achten, dass wir hier, wenn es dabei bleibt, auch den Be-
pseudonymisiert für fünf Jahre – notwendig oder zu zug zur konkreten Gefahr haben.
lange ist.
Insgesamt können wir aber nicht darüber hinwegge-
(Jan Korte [DIE LINKE]: Nein, zu lang!) hen, dass wir an einem solchen Instrument nicht vorbei-
(B) kommen, wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen, (D)
Ich bin durchaus der Auffassung, dass wir sehr genau wenn wir verhindern wollen, dass Passagiermaschinen
überlegen müssen, warum es fünf Jahre sein sollen. Es Ziele von Anschlägen werden, und wenn wir wollen,
könnten auch weniger sein. Ich will aber auch darauf dass wir in der Lage sind, schwere Verbrechen – es geht
hinweisen – das gehört zur Ehrlichkeit dazu –: Diese Da- auch um organisierte Kriminalität, es geht um Men-
ten werden nicht gespeichert, weil der Staat es will. schenhandel – aufzuklären und Strukturen zu erkennen.
Diese Daten sind alle schon heute bei den Fluggesell-
schaften vorhanden und werden auch dort heute schon Durch die PNR-Richtlinie wird zumindest ein einheit-
mehrere Jahre gespeichert. licher Rahmen geschaffen. Es gab zwischen einzelnen
Staaten lange einen bilateralen Wildwuchs. Es war völlig
(Jan Korte [DIE LINKE]: Aber dezentral!) unklar, wer wie viele Daten bekommt. Insofern ist eine
Richtlinie, durch die Einheitlichkeit hergestellt wird, zu
Es geht um die Frage, ob wir unter bestimmten Voraus- begrüßen. Wir können über das Thema Speicherdauer
setzungen den Sicherheitsbehörden diese Daten zur Ver- reden. Wir können auch über das Thema „Was alles soll
fügung stellen, um Anschläge zu verhindern, schwere man mit den Daten machen dürfen?“ sprechen. Ich
Straftaten aufzuklären oder Verdächtige zu identifizie- glaube, an den zwei Grundzielen braucht man nicht zu
ren. Wem die Sicherheit der Bürger etwas wert ist, der rütteln.
kann diese Frage nicht mit Nein beantworten.
Herr Kollege von Notz, ich finde, das, was Sie von
(Beifall bei der CDU/CSU) den Grünen in Ihrem Antrag geschrieben haben, ist ein
Trotzdem glaube ich, dass wir über das Thema Speicher- bisschen Wischiwaschi:
dauer reden müssen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was?)
Die zweite Frage, die sich stellt, ist, ob wir nur Flüge
von außerhalb in die EU erfassen wollen oder auch von allem ein wenig, aber keine klare Position.
Flüge innerhalb der EU. Da gibt es unterschiedliche
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Positionen. Das will ich nicht bestreiten. Wir müssen uns
GRÜNEN]: Die Richtlinie ist Wischiwaschi!)
darüber klar werden, dass die Gefährlichkeit von Perso-
nen nicht geringer wird, weil sie von Barcelona nach Sie müssten schon sagen, ob Sie grundsätzlich gegen die
Berlin fliegen statt von Nigeria nach Berlin. Wir müssen Passagierdatenspeicherung sind – auch wenn Sie damit
versuchen, diese Frage eher an der Gefährlichkeit der in Kauf nehmen, dass Terrorverdächtige Flugzeuge be-
Personen zu orientieren. steigen – oder ob Sie unter bestimmten Bedingungen da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12233
Clemens Binninger
(A) für sind. Dazu äußern Sie sich in Ihrem Antrag nicht. Teil mit deutschem Recht. Es kollidiert auch mit dem (C)
Die häufigste Formulierung in Ihrem Antrag lautet Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das wir seinerzeit
– viermal kommt das vor –: noch nicht kannten. Es ist also berechtigt, das Ganze zu
hinterfragen. Unter Umständen kommt man zu dem Er-
Falls ein Verzicht auf die Normierung einer Ver-
gebnis, dass man das, was geplant ist, nicht benötigt. Ich
pflichtung zur Speicherung von Fluggastdaten nicht
biete an, zu prüfen, was umsetzbar ist.
durchsetzbar sein sollte …
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Was will die
Sagen Sie doch klipp und klar, ob Sie für diese Daten-
SPD denn jetzt?)
speicherung sind – bringen Sie dann Ihre Kritikpunkte
vor – oder ob Sie dagegen sind. Dann wissen die Men- Herr Wieland, ich nenne Ihnen ein Beispiel. Herr
schen in Deutschland, was Ihnen die Sicherheit wert ist – Binninger hat nicht so unrecht. Sie schreiben in Ihrem
offensichtlich sehr wenig. Beziehen Sie Position! Antrag viermal: Wenn das alles nicht geht, dann soll das
(Jan Korte [DIE LINKE]: Mann, Mann!) und das gemacht werden. – Das ist außerordentlich ge-
schickt gemacht – das gebe ich zu –: Man stellt eine Ma-
Es geht nicht an, dass Sie sich einmal so und einmal so ximalforderung, räumt ein, dass die Erfüllung dieser
äußern, nur weil Sie einer bestimmten Klientel gefallen Forderung nicht sehr realistisch ist, und arbeitet sich
wollen. Wir brauchen diese Richtlinie, um mehr Sicher- schrittweise an den Punkten ab, die kritikwürdig sind.
heit zu bekommen. Sie sind herzlich eingeladen, auf un- Clever gemacht; das muss man Ihnen lassen.
serem Weg mitzumachen. Beziehen Sie aber bitte eine
klare Position. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Clemens Binninger
Herzlichen Dank. [CDU/CSU]: Genug des Lobes jetzt! –
(Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ein Hilfsantrag! – Dr. Konstantin von
Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es war
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schon sehr clever!)
Das Wort hat nun Wolfgang Gunkel für die SPD-
Fraktion. – Siehste, ein bisschen was drauf haben muss man.
(Beifall bei der SPD) Es geht hier darum, zu sagen, was konkret gefordert
werden soll.
Wolfgang Gunkel (SPD): (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Genau! Das
(B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Dis- wollen wir jetzt mal hören!) (D)
kussion über die PNR-Daten ist nicht neu; wir haben sie
schon in der vorigen Legislaturperiode geführt. Ich erin- Wir haben das im Innenausschuss schon diskutiert. Die
nere daran, dass der damalige EU-Kommissar für Justiz, Bundesregierung hat dazu Stellung genommen: Sie will
Frattini, einen Vorschlag eingebracht hat, der sich an den Teile übernehmen. Ich zum Beispiel bin grundsätzlich
Fluggastdatenvereinbarungen mit den USA orientiert gegen die Vorratsdatenspeicherung. Sie ist meiner Mei-
hat. Damals waren horrende Speicherfristen und ähnli- nung nach an dieser Stelle total verfehlt, weil bereits ge-
che Dinge vorgesehen. Bis auf die CDU/CSU haben wir nügend andere Daten vorhanden sind.
damals einheitlich festgestellt, dass Frattinis Vorschlag (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht akzeptabel ist. Die Unionsfraktion hat dann mitge- NEN]: Viel zielgerichteter!)
teilt, man versuche, zu verhandeln und entsprechend
nachzubessern. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen, Das Verfassungsgerichtsurteil besagt, dass Deutschland
weil Frattini gehen musste und die Sache auf Eis lag. unter bestimmten Voraussetzungen Vorratsdatenspeiche-
rungen vorzunehmen hat. Das Verfassungsgericht hat sol-
Jetzt taucht dieser Vorschlag wieder auf. Wichtig ist che Speicherungen mit hohen Eingriffsschwellen verse-
in diesem Zusammenhang, dass eine einheitliche Daten- hen. Es müssten zumindest konkrete erhebliche
erhebung in der Europäischen Union außerordentlich Gefahren bestehen oder Rechtsgüter von hohem Wert
schwierig ist. Das wird klar, wenn man sich anschaut, betroffen sein. Auch das ist in diesem Falle zu berück-
welche Daten bisher schon erhoben werden. Da setze ich sichtigen. Diesbezüglich fehlt in der Richtlinie der EU-
an: Wenn wir schon ein Schengener Informationssystem, Kommission ein klarer Hinweis, was Kriterium sein soll
ein Visa-Informationssystem und API-Dateien haben, und wie die Umsetzung vonstatten gehen soll. Schwere
warum brauchen wir dann noch zusätzlich etwas? Auch Kriminalität: Ja. Terrorismusbekämpfung: auch Ja. Aber
die EU-Kommission hat nicht erklärt, warum die bisher mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck soll das er-
vorhandenen Dateien nicht ausreichen, um ein System hoben werden? Wir denken, dass darüber noch einmal
zu installieren, durch das das ermöglicht wird, was Sie, gesprochen werden muss. Nach unserer Auffassung
Herr Binninger, hier vorhin vorgestellt haben. Diese kann die Richtlinie so nicht bleiben.
Frage ist für mich nach wie vor unbeantwortet.
Es ist klar, dass für die Erfassung der Daten be-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
stimmte Zentralstellen vorgesehen sind. Es würden dann
NEN]: Genau!)
27 Staaten nationale Zentralstellen haben. Die Flugge-
Ich kann nur sagen: Das, was Sie vorgetragen haben, sellschaften würden in diesen 27 Staaten Daten erheben
ist in vollem Umfang zu unterstützen. Es kollidiert zum und sie an die jeweilige nationale Zentralstelle weiter-
12234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Wolfgang Gunkel
(A) geben. Schon allein deswegen wird man unter daten- tieren sie darüber aber auch wirklich. Wenn tatsächlich (C)
rechtlichen Gesichtspunkten zu unterschiedlichen Be- Ratschläge der Opposition in Ihre Überlegungen einflie-
handlungsweisen kommen. Was daran einheitlich sein ßen, kann ich Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie den
soll, verstehe ich nicht ganz. Es steht sogar noch ge- Beitrag von Herrn von Notz, meinen Beitrag und die, die
schrieben, dass die Daten an Drittstaaten weitergegeben noch kommen, wahr und verarbeiten Sie sie. Dann wä-
werden sollen. Es wird aber nicht auf die Verfahrens- ren wir schon sehr zufrieden.
weise eingegangen und dargelegt, nach welchen Krite-
rien die Daten verwendet werden dürfen und wer über- Vielen Dank.
haupt erfasst werden soll. All das bleibt völlig unklar. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Insofern können wir diese Richtlinie nicht mittragen. DIE GRÜNEN – Clemens Binninger [CDU/
Ein weiterer wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht die CSU]: Sagen Sie das den Kollegen im Euro-
Frage der Nutzung innerhalb der Europäischen Union. päischen Parlament!)
Da stellt sich mir die Frage, wozu wir dann überhaupt ei-
nen Raum der Freiheit geschaffen haben, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Nicht für Krimi- Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
nelle! – Zuruf von der SPD: Alle Flugpassa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
giere sind Kriminelle! Das gibt es doch gar der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]:
nicht!) Jetzt sind wir gespannt!)
in dem 470 Millionen Menschen in 27 Staaten zusam-
mengefasst werden. Es handelt sich doch nur noch um Gisela Piltz (FDP):
eine Freiheit auf dem Landwege, wenn wir anfangen, je- Das ist auch richtig so, Herr Korte. – Herr Präsident!
den Einzelnen zu registrieren, der innerhalb der Europäi- Sehr geehrte Damen und Herren! Herr von Notz, Sie ha-
schen Union auf dem Luftwege reist. ben uns mit auf den Weg gegeben, wir sollen die Grund-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem rechte nach Europa tragen. Ganz ehrlich: Ihren Hinweis
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dazu hätten wir nicht gebraucht. Das tun wir nämlich
schon selber.
Das ist ein Punkt, über den man nachdenken sollte. Herr
Binninger, der geschilderte Fall und das Beispiel mit (Beifall bei der FDP – Lachen beim BÜND-
Barcelona waren okay. Aber sehen Sie: Der Herr Minis- NIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) ter Friedrich – jetzt sitzt der Herr Staatssekretär Ich will Ihnen zugestehen – Sie sind um einiges jünger –, (D)
Dr. Schröder hier – war gerade erst, am 14. dieses Mo- dass Sie sich nicht so daran erinnern können, dass 2004
nats, in Brüssel und hat diesen Sachverhalt im Justizrat der damalige Außenminister – Sie wissen vielleicht
besprochen. Was hat er getan? Er hat sich eindeutig ge- noch, wie er hieß und welcher Partei er angehörte –,
gen die innereuropäische Erfassung ausgesprochen. Joschka Fischer von den Grünen
(Gisela Piltz [FDP]: Er ist eben ein unabhängi-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ger Abgeordneter!)
NEN]: Unvergessen!)
Folgen Sie doch Ihrem Minister, Herr Binninger!
– unvergessen deswegen, weil er einen Sündenfall im
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ich folge Datenschutz begangen hat, an dem wir heute noch knab-
niemandem!) bern; das liegt auch in Ihrer Verantwortung –,
Sehen Sie doch ein, dass zumindest er erkannt hat, um (Beifall bei der FDP – Manuel Höferlin [FDP]:
was es geht. Hört! Hört!)
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wir sind im Rat einem Abkommen zur Übermittlung von Flug-
hier das Parlament, Herr Kollege!) gastdaten zugestimmt hat. Das war der Sündenfall. Das
war übrigens ein Abkommen, für das Datenschutz ein
– Ja, gut. Manchmal orientiert man sich aber auch an absolutes Fremdwort war. Erst dem massiven Druck des
Ministern und Staatssekretären. Das machen Sie auch. Europäischen Parlamentes war es zu verdanken, dass
Richtig, Frau Piltz? Ich muss sagen: Das haben Sie überhaupt nachgebessert worden ist.
locker drauf.
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Es ist so still ge-
Ich will sagen: Es ist deutlich zu erkennen, dass es im worden bei den Grünen! – Dr. Konstantin von
europäischen Rahmen sehr, sehr große Diskrepanzen Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden
gibt. Es haben sich neuerdings weitere Länder ange- Sie einmal über die Zukunft, Frau Kollegin!)
schlossen. Früher waren es fünf Länder plus Deutsch-
land. Nach der letzten Sitzung sind zwei weitere Länder Der Sündenfall war die Zustimmung des grünen Außen-
dazugekommen, die erhebliche Bedenken haben, die ministers und im Weiteren die Unterstützung für das
PNR-Richtlinie in europäisches Recht umzusetzen. Ich PNR-Abkommen unter Missachtung aller datenschutz-
meine, dass das auch inhaltlich begründet ist. Sie haben rechtlichen Erwägungen und ohne jegliche Rechts-
angeboten, ein Jahr darüber zu diskutieren. Dann disku- schutzmöglichkeiten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12235
Gisela Piltz
(A) Herr Kollege Gunkel von der SPD, ich frage mich: Es ist wirklich nicht so, dass wir als FDP ein EU-Sys- (C)
Wo war da eigentlich die SPD? tem zur Nutzung von Fluggastdaten in diesem Umfang
begrüßen würden.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die war auf
Linie gebracht!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie waren doch damals in der Regierung. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Notz?
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir reden über die Zukunft, Frau Gisela Piltz (FDP):
Piltz!) Aber immer gerne.
Deshalb hätte ich hier gerne eine entsprechende Aussage
gehört. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Wenn Sie schreiben, dass der Speicherzeitraum von
Frau Kollegin Piltz, während Sie so viel über Joschka
30 Tagen unverhältnismäßig lang sei, möchte ich daran
Fischer reden, verrinnt Ihre kostbare Redezeit. Ehre,
erinnern, dass die Grünen es damals als großen Erfolg
wem Ehre gebührt; aber es geht ja um die Zukunft. Des-
gefeiert haben, dass bei dem ersten PNR-Abkommen mit
wegen ist die entscheidende Frage, wie sich die FDP in
den USA eine Speicherfrist,
Regierungsverantwortung konkret mit der Verfassungs-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE widrigkeit der augenblicklichen Richtlinie auseinander-
GRÜNEN]: Fünf Jahre!) setzt; entscheidend ist nicht, was Joschka Fischer vor
vielen Jahren gemacht hat.
und zwar ohne Pseudonymisierung, von dreieinhalb Jah-
ren verhandelt wurde. Das wurde damals als Erfolg ver- (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Vor vielen
kauft. Jahren!)
(Manuel Höferlin [FDP]: Na so was! – Da war ich ja noch ein Kind.
Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das
(Heiterkeit bei der FDP – Stephan Mayer [Alt-
ist ja interessant!)
ötting] [CDU/CSU]: So stehen die Dinge um
Wenn man alte Plenarprotokolle liest, merkt man, Joschka Fischer! Komplette Distanzierung!)
dass der Inhalt der Reden manchmal wirklich von der
Rolle im Parlament abhängt. Ich bitte also um Aufklärung, was die Zukunft angeht;
Vergangenheitsbewältigung ist nicht erforderlich.
(B) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (D)
GRÜNEN]: Sie scheinen ja Zeit zu haben!) Gisela Piltz (FDP):
– Ich lese sie nicht, weil ich zu viel Zeit habe, sondern Erstens, Herr von Notz: Wenn Sie damals noch ein
weil ich mich ernsthaft auf die Debatten vorbereite; das Kind waren, dann sind Sie heute – denn so lange ist es
ist vielleicht der Unterschied zwischen Ihnen und mir. noch nicht her – bestenfalls ein Heranwachsender.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
Manuel Höferlin [FDP], an den Abg. Ob Sie damit leben möchten, müssen Sie für sich selber
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE klären.
GRÜNEN] gewandt: Wir nehmen die Koali-
tion halt ernst, Herr Kollege!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich kann damit leben! Aber jetzt
Die Grünen haben in der Debatte am 27. Mai 2004
die Antwort!)
vorgetragen, dass sie den damals debattierten Antrag der
FDP-Fraktion, in dem rechtsstaatliche Garantien und – Sie wissen: Die Antwort bestimmt derjenige, der am
Datenschutz gefordert wurden, ablehnen. Rednerpult steht.
(Manuel Höferlin [FDP]: Aha! – Zweitens. Natürlich ist das, was Sie uns damals ein-
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE gebrockt haben, im Hinblick auf das, was wir in Zukunft
GRÜNEN]: Dann kommen Sie heute mit auf tun, von Bedeutung. Das Problem ist: Wenn man in der
unseren Antrag!) Geschichte einen Sündenfall herbeiführt – dafür gibt es
vielfältige, auch biblische, Beispiele –, begleitet einen
Ich will jetzt gar nicht darüber spekulieren, was Ihnen
das ein Leben lang. Deshalb müssen Sie sich den Rück-
die Bundesregierung, insbesondere Ihr damaliger Au-
blick in die Vergangenheit gefallen lassen. Unser Pro-
ßenminister, dafür versprechen musste.
blem ist, dass es in der Vergangenheit ein Abkommen
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Dass er ins gegeben hat.
Parlament kommt!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Aber ich finde es vor diesem Hintergrund schon drollig, NEN]: Das haben die USA erzwungen! Das
was Sie heute hier aufführen. wissen Sie auch!)
(Beifall bei der FDP – Manuel Höferlin [FDP]: – Ich kann mich nicht erinnern, dass die USA einen von
Peinlich, nicht drollig!) uns erpresst hätten.
12236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Gisela Piltz
(A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Bundesrat hat im Übrigen auf Initiative unter an- (C)
NEN]: Alle!) derem von Baden-Württemberg und Hessen einen, wie
ich finde, sehr guten Beschluss gefasst, in dem der Bun-
Zur Wahrheit gehört, dass von Ihrer Bundesregierung ein desrat die EU-Kommission auffordert, die Verhältnismä-
klares Nein zum Irakkrieg erfolgt ist. Deshalb mussten ßigkeit der Maßnahme erneut zu prüfen. Die Länder ha-
Sie damals den USA an anderer Stelle entgegenkom- ben es ebenso wie wir und die Bundesregierung erkannt:
men. Nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zur Vorratsdaten-Richtlinie ist der verfassungsrechtliche
NEN]: Nun kommen aber Verschwörungs- Spielraum für solche anlasslosen Datenerhebungen mi-
theorien!) nimal.

Das war die Konsequenz Ihrer verfehlten Politik. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann können Sie doch mit unse-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rem Antrag gehen!)
NEN]: Sie haben den Entzug der Start- und
Landeerlaubnis angedroht, das wissen Sie Für uns ist deshalb klar: Die anlasslose Erfassung der
auch!) Fluggastdaten ist ein weiterer Fall einer Vorratsdaten-
speicherung.
– Warum setzen Sie sich jetzt einfach, Herr von Notz?
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das war GRÜNEN]: In der Tat! So ist es!)
eine Stehblockade!)
Deshalb müssen wir sehr genau hinschauen, wie und ob
– Von mir oder von ihm? das überhaupt geht.
Auf jeden Fall unterstützen wir die Bundesregierung (Beifall bei der SPD – Clemens Binninger
sehr darin, in Brüssel – damit hat sie ja schon begon- [CDU/CSU]: Es geht schon!)
nen – klarzumachen, dass sie einer Ausweitung auf Die liberale Fraktion im Europaparlament hat bereits
innereuropäische Flüge nicht zustimmen wird. Darauf Bedenken angemeldet. Deswegen werden wir hier ge-
haben wir frühzeitig hingewiesen, und darauf legen wir meinsam mit den Ländern und mit der liberalen Fraktion
auch Wert. Wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe in im Europäischen Parlament dafür eintreten, dass noch
Sachen Datenschutz oder Vorratsdatenspeicherung. einmal grundsätzlich überprüft wird, ob dieser Vorschlag
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Kommission weiterverfolgt werden kann.
(B) NEN]: Die bekommen Sie aber!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D)
Denn Sie wissen, dass es in unserer Fraktion Menschen der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜND-
gegeben hat, die dieses Urteil, genau wie das bei Ihnen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Sie haben
der Fall ist, erst erkämpft haben. Zweifel!)

(Wolfgang Gunkel [SPD]: Sehr richtig!) Wir brauchen keine Nachhilfe in Sachen Datenschutz
und Grundrechte in Europa.
– Nein, von der SPD habe ich dabei keinen gesehen,
übrigens in dem ganzen Verfahren nicht, lieber Kollege (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gunkel. In dem ganzen Verfahren bezüglich der Vorrats- NEN]: Wir geben sie Ihnen gebührenfrei!)
datenspeicherung war die SPD komplett abgetaucht. Das Uns wäre es lieber gewesen, Sie hätten 2004 unsere
muss man hier sagen dürfen. Nachhilfe angenommen. Sie hätten sie nämlich ge-
braucht.
(Beifall bei der FDP)
Herzlichen Dank.
Wir als FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag hin-
gegen haben uns immer für einen hohen Datenschutz- (Beifall bei der FDP)
standard bei der Nutzung von Fluggastdaten eingesetzt,
und das tun wir auch heute noch. Deshalb haben wir im Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass, sollte die EU- Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die
Kommission, wie im Stockholm-Programm angekün- Linke.
digt, einen Vorschlag vorlegen, das EU-US-Abkommen
gerade nicht der Maßstab sein darf, sondern dass wir da- (Beifall bei der LINKEN)
rüber hinaus tätig werden müssen. Natürlich kann man
immer über das Datenschutzniveau streiten. Jan Korte (DIE LINKE):
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
NEN]: Ob man so was überhaupt braucht!) Liebe Kollegin Piltz, Ihr jetzt geschasster Parteivorsit-
zender hat vor ein paar Jahren gesagt, Ihre Partei wolle
Aber – wenn ich mir noch einen Blick in die Geschichte die Freiheitsstatue der Republik sein, und jetzt sind Sie
erlauben darf – ich muss feststellen, dass es eigentlich da angekommen, dass Sie sich die Vorratsdatenspeiche-
nur besser werden kann, egal, was passiert. Daran arbei- rung einmal anschauen wollen. Von Ihrem Freiheitsden-
ten wir. ken ist nichts übrig geblieben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12237
Jan Korte
(A) Es handelt sich nicht unbedingt um ein neues Pro- genommen werden. Von der FDP hört man diesbezüg- (C)
blem. Seit Jahren gibt es schon die Übermittlung von lich gar nichts. Von der selbst ernannten Freiheitsstatue
sensibelsten Fluggastdaten an die USA, Australien und ist dazu kein einziges Wort an die Adresse der Hardliner
Kanada. Jetzt soll das Ganze auf die nächsthöhere Stufe in der CDU/CSU zu hören.
gehoben werden.
(Gisela Piltz [FDP]: Ich kann auch nichts da-
Bei den Verhandlungen werden auf schauspielerisch für, dass Sie nicht zuhören können!)
mittelprächtige Weise Bedenken vorgetragen. Sie brau-
chen bei den Verhandlungen aber einen klaren Stand- Kollegin Piltz, Ihre Partei hat im Moment ein paar Pro-
punkt, um etwas durchzusetzen. Das Problem ist, dass bleme. Hier hätte die FDP wirklich die Chance, mit einer
Sie diesen Standpunkt nicht haben. Unser Standpunkt klaren und nachvollziehbaren Linie ihr Profil zu schär-
hingegen ist klar: Wir lehnen eine Vorratsdatenspeiche- fen. Das bedeutet aber, dass Sie sich gegen Ihren Koali-
rung grundsätzlich ab. So muss man in die Verhandlun- tionspartner stellen müssen. Das trauen Sie sich nicht.
gen hineingehen. Sie trauen sich sowieso überhaupt gar nichts. Das ist das
Problem, das wir jetzt haben.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der
Trotz aller Datensammelorgien, über die wir hier im- FDP – Gisela Piltz [FDP]: Hunde, die bellen,
mer wieder sprechen, ist bis heute nicht belegt – das gilt beißen nicht!)
auch für die Vorratsspeicherung von Fluggastdaten –,
Kollegin Piltz, einen aufmunternden Satz kurz vor
dass ein solches Vorgehen substanziell mehr Sicherheit
Ostern: Sie haben in der Tat damit recht, dass die Libera-
bringt. Diese Richtlinie bewirkt nicht nur eine anlasslose
len im Europaparlament geschlossen – ich hoffe, das
Vorratsdatenspeicherung, sondern eine Kombination mit
bleibt so – angekündigt haben, dass sie das Ganze ableh-
einer Rasterfahndung. Das ist mit Blick auf Bürgerrechte
nen werden. Das ist erfreulich. Das gilt übrigens auch für
ein doppelter Horror. Deswegen müssen Sie diesen Vor-
die Vereinte Europäische Linke und die grüne Fraktion
schlag ablehnen und dürfen nicht so herumeiern.
im Europaparlament. Die Sozialdemokraten müssten in
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem diesem Punkt dazu beitragen – da haben Sie recht –, dass
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch die Sozialdemokraten im Europaparlament dage-
gen stimmen. Dann könnte man eine Mehrheit dagegen
Bei der jetzigen Fluggastdatensammlung ist es so – es erreichen; das wäre mehr als sinnvoll.
ist so weit richtig beschrieben worden –, dass die Daten
bei den Fluggesellschaften dezentral gespeichert wer- (Beifall bei der LINKEN)
(B) den. Die neue Qualität ist, dass die Speicherung nun Peter Schaar hat recht: Er hat in dieser Woche sinnge- (D)
staatlich zentral erfolgen soll. Die Vorstellung, was man
mäß gesagt, dass diese Koalition im Bereich des Daten-
mit diesen Datenmengen machen kann, ist der blanke
schutzes – von anderen Bereichen ganz zu schweigen –
Horror. Welche Begehrlichkeiten damit geweckt werden,
nichts Substanzielles auf den Weg gebracht hat. Deswe-
kann man sich ausmalen. Das kennen wir von vielen an-
gen ist es bald Zeit, diese Regierung abzulösen, auch aus
deren Datensammlungen. Auch deswegen muss man
Datenschutzgründen.
diesen Vorschlag ablehnen. Die Linke unterstützt daher
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Schönen Dank.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist ganz interessant, dass sich die Bundesregierung
jetzt kritisch gibt. Sie sagt, die Sache sei schwierig und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
man müsse darüber nachdenken. Sie haben sich im In- Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-
nenausschuss allerdings stets geweigert, Ihre Verhand- Fraktion.
lungstaktik offenzulegen und darzulegen, wie Sie in die
Verhandlungen beispielsweise mit den USA hineinge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hen. Damals sind Sie reihenweise eingeknickt und sind
bis heute nicht bereit, Ihre Verhandlungstaktik offenzule- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
gen. Es wäre eine gute Sache, Sie würden die Unterstüt- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-
zung des Parlamentes und der Opposition einholen. nen! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag, den die Grünen
Dann würden Sie nicht ganz so alleine dastehen. Wenn heute vorlegen, dient nur einem Zweck und einem Ziel,
Sie es ernst meinen würden, würden Sie es tun. nämlich dem der Effekthascherei und Skandalisierung.
(Beifall bei der LINKEN) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was? – Dr. Eva Högl [SPD]: Herr Kol-
Kollege Binninger, Sie haben noch eine Schippe lege! Etwas mehr Niveau, bitte!)
draufgelegt und gesagt – Sie haben es in Frageform ge-
kleidet; es ist aber klar, was Sie wollen –, dass man als Ihnen geht es nicht um einen sachlichen Problemaufriss;
nächsten Schritt eine innereuropäische Regelung an- Ihnen geht es nur darum, bewusst den Eindruck zu ver-
strebt und das umsetzt, was Großbritannien will: Auch mitteln, dass der Staat einer Sammelwut nachgehen
der Bahnverkehr und der Schiffsverkehr sollen mit auf- würde
12238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

Stephan Mayer (Altötting)


(A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Deutschland fallen knapp 200 Milliarden Telefonminu- (C)
GRÜNEN]: So ist es! – Jan Korte [DIE ten an.
LINKE]: So viel zu den Fakten!)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
und einen riesigen „Datenpool“ – so haben Sie es wort- GRÜNEN]: Sind Sie jetzt allgemein für die
wörtlich genannt – anlegen würde, um im Bedarfsfall Vorratsdatenspeicherung?)
darauf zurückgreifen zu können.
Das heißt, jeder Deutsche telefoniert im Schnitt sechs-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einhalb Minuten pro Tag. Bei der Speicherung von Tele-
NEN]: Binninger will immer mehr! Er will kommunikationsverbindungsdaten geht es also um eine
jetzt auch noch die Daten der innereuropäi- weitaus größere Menge als bei den Fluggastdaten.
schen Flüge haben! Er ist unersättlich!)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wo- GRÜNEN]: Da haben Sie was Wahrens ge-
rum geht es konkret? Wenn man potenziellen islamisti- sagt! – Zuruf von der SPD: Na, und?)
schen Terroristen rechtzeitig auf die Schliche kommen
will, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Dies sollte man bei der Abwägung berücksichtigen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
So findet man doch keinen einzigen!) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
Man muss entweder ihre Kommunikationswege oder geht nicht um die Frage, ob sich die Europäische Union
ihre Reisewege ausfindig machen. Das sind die beiden eine Richtlinie zur Speicherung von Fluggastdaten gibt,
Möglichkeiten, denen man sich intensiv zuwenden muss. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Doch,
Es ist aus meiner Sicht nach wie vor unerlässlich, dass darum geht es!)
der Staat, insbesondere die Sicherheitsbehörden des
Staates, sowohl auf Telekommunikationsverbindungsda- sondern ausschließlich um die Frage, wie sie gestaltet
ten als auch auf Reiseverkehrsdaten zugreifen kann. sein wird. Es liegt jetzt noch keine fertige Richtlinie vor,
sondern ein Entwurf der Europäischen Kommission vom
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE 3. Februar.
GRÜNEN]: Das ist durch nichts wissenschaft-
lich belegt!) (Dr. Eva Högl [SPD]: Deswegen diskutieren
wir das ja! – Jan Korte [DIE LINKE]: Der
Es ist doch nicht so, dass Fluggastdaten noch nie ge- muss weg!)
speichert wurden. Ganz im Gegenteil: Fluggastdaten
(B)
werden schon heute gespeichert; es gibt bilaterale Ab- Jetzt wird man sich in aller Sachlichkeit und Ausgewo- (D)
kommen der Europäischen Union mit den USA, Kanada genheit und mit der notwendigen Zeit mit diesem Richt-
und Australien. linienentwurf auseinandersetzen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Leider! – Dr. Konstantin von Notz GRÜNEN]: Ohne Effekthascherei! – Dr. Eva
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind die Högl [SPD]: Ohne Schaum vorm Mund!)
Erfolge?) Ich möchte ganz offen sagen: Ich bin dem Bundes-
Jetzt ist die Frage, ob man die Speicherung der Fluggast- innenminister Dr. Friedrich sehr dankbar, dass seine ers-
daten entsprechend erweitert. ten Einlassungen zu diesem Thema, insbesondere bei der
Innenministerkonferenz am vergangenen Montag, sehr
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Nein!) ausgewogen und sachlich waren. Bestimmte Fragen sind
Es gibt auch nationale Lösungen: Zum Beispiel unter- nun in aller Offenheit zu diskutieren: Ist es notwendig,
hält Großbritannien ein eigenes System zur Fluggast- auch die Daten von innereuropäischen Flügen zu spei-
datenspeicherung. Ich glaube, man muss sich jetzt ohne chern? Es gibt Argumente dafür, und es gibt Argumente
Schaum vorm Mund mit sachlichen Argumenten aus- dagegen. Dabei ist sicherlich vor dem Hintergrund der
einandersetzen; darum geht es. Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit auch zu
berücksichtigen, um welche Menge von Daten es geht.
(Dr. Eva Högl [SPD]: Wir haben keinen Sind dies überhaupt die entscheidenden Verkehrswege?
Schaum vor dem Mund!) Oder gibt es, wenn jemand Übles im Schilde führt, nicht
alternative Verkehrswege oder Reisewege zum Fliegen,
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Stichwort „Bahnverkehr“, Stichwort „Pkw“? Ich frage
den Grünen, es ist verfehlt, wenn Sie hier den Eindruck also: Was bringt es überhaupt, die Fluggastdaten von in-
erwecken, dass ein Vergleich mit den Telekommunika- nereuropäischen Flügen zu speichern?
tionsverbindungsdaten angemessen ist. Das trifft nicht
zu; Sie vergleichen Äpfel mit Birnen. Man muss sich Natürlich muss man auch offen über die Kostenfrage
wirklich einmal vor Augen halten, worum es geht: Jeder sprechen. Die Speicherung pro Passagier pro Flug kostet
Deutsche reist im Schnitt zweimal im Jahr mit dem die Fluggesellschaft 10 Cent. Das sind, auf den Passa-
Flugzeug. Dagegen gibt es in Deutschland 147 Millio- gier bezogen, relativ geringe Kosten, aber in der Summe
nen Telefonanschlüsse; das heißt, jeder Deutsche verfügt durchaus bemerkenswerte Kosten. Also auch die Kos-
im Schnitt über knapp zwei Telefonanschlüsse. In tenfrage ist in diesem Zusammenhang zu eruieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12239
Stephan Mayer (Altötting)
(A) Auch die Speicherfrist ist ins Kalkül zu ziehen; das ist Sicht der Antrag der Grünen zum einen, was den Zeit- (C)
schon angesprochen worden. Die schon jetzt vorhande- punkt anbelangt, vollkommen verfehlt, und zum ande-
nen bilateralen Abkommen sehen unter der Pseudonymi- ren, was die inhaltliche Schärfe anbelangt, vollkommen
sierung im Einzelfall sogar eine Speicherfrist von bis zu deplatziert.
15 Jahren vor. Meines Erachtens – ich mache keinen
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk-
Hehl aus meiner Meinung – ist eine Speicherfrist von
samkeit.
15 Jahren vollkommen überdimensioniert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Je Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
länger Sie reden, umso besser wird es!) Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Abgesehen davon bringen auch die Daten, wenn sie ein-
Drucksache 17/5490 an die in der Tagesordnung aufge-
mal 10, 12, 13 Jahre alt sind, wenn es um die Präven-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
tionsarbeit oder die Ermittlungstätigkeit geht, aus meiner
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Sicht ganz konkret relativ wenig.
so beschlossen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
besteht überhaupt kein Grund, sich in irgendeiner Auf- ordnung.
geregtheit oder Skandalisierung über diesen Richtli-
nienentwurf zu echauffieren. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 11. Mai 2011, 13 Uhr, ein.
(Dr. Eva Högl [SPD]: Wir sind überhaupt nicht
aufgeregt! Wir sind engagiert!) Ich wünsche Ihnen eine fröhliche, eine schöne Oster-
zeit.
Wir haben genügend Zeit, uns sowohl im Innenaus-
Die Sitzung ist geschlossen.
schuss als auch mit der Bundesregierung mit dieser The-
matik auseinanderzusetzen. Deswegen ist aus meiner (Schluss: 14.37 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12241

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Arnold, Rainer SPD 15.04.2011 Nink, Manfred SPD 15.04.2011

Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 15.04.2011 Pieper, Cornelia FDP 15.04.2011
DIE GRÜNEN
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 15.04.2011
Becker, Dirk SPD 15.04.2011
Poß, Joachim SPD 15.04.2011
Blumenthal, Sebastian FDP 15.04.2011
Roth (Heringen), SPD 15.04.2011
Brinkmann (Hildesheim), SPD 15.04.2011 Michael
Bernhard
Roth (Esslingen), Karin SPD 15.04.2011
Dr. Danckert, Peter SPD 15.04.2011
Rupprecht (Tuchenbach), SPD 15.04.2011
Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 15.04.2011 Marlene

Friedhoff, Paul K. FDP 15.04.2011 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 15.04.2011

Friedrich, Peter SPD 15.04.2011 Schlecht, Michael DIE LINKE 15.04.2011

Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 15.04.2011 Schmidt (Eisleben), SPD 15.04.2011


Silvia
Dr. Geisen, Edmund FDP 15.04.2011
(B) Peter Schuster, Marina FDP 15.04.2011* (D)

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 15.04.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 15.04.2011
Gerster, Martin SPD 15.04.2011 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 15.04.2011
DIE GRÜNEN
Götz, Peter CDU/CSU 15.04.2011**
Ulrich, Alexander DIE LINKE 15.04.2011**
Heil, Mechthild CDU/CSU 15.04.2011
Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ 15.04.2011
Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ 15.04.2011 DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN
Weinberg, Harald DIE LINKE 15.04.2011
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 15.04.2011
DIE GRÜNEN Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 15.04.2011*
Kampeter, Steffen CDU/CSU 15.04.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 15.04.2011*
Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 15.04.2011 Dr. Westerwelle, Guido FDP 15.04.2011
DIE GRÜNEN
Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 15.04.2011
Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ 15.04.2011 DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN
Wolff (Wolmirstedt), SPD 15.04.2011
Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 15.04.2011** Waltraud
Lindemann, Lars FDP 15.04.2011 Zypries, Brigitte SPD 15.04.2011
Lindner, Christian FDP 15.04.2011
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
Möller, Kornelia DIE LINKE 15.04.2011 lung des Europarates
** für die Teilnahme an der 124. Jahreskonferenz der Interparlamenta-
Niebel, Dirk FDP 15.04.2011 rischen Union
12242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011

(A) Anlage 2 ment und insbesondere das der Frauen einer höheren ge- (C)
sellschaftlichen Anerkennung bedarf.
Zu Protokoll gegebene Rede
Fakt ist, dass es im ländlichen Raum Probleme und
zur Beratung des Antrags: Agrarförderung in Umstände gibt, die sich auf die Selbstbestimmung der
Deutschland und Europa geschlechtergerecht Frauen und ihre Entfaltungsmöglichkeiten nachteilig
gestalten (Tagesordnungspunkt 26) auswirken. Das ist jedoch in vielen Städten und im in-
dustriellen Arbeitsumfeld genauso. Allerdings ist die so-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die rechtliche ziale Verbundenheit in ländlichen Regionen oft größer
Gleichstellung der Frauen in Deutschland ist längst voll- als in vielen Städten, wodurch Defizite, beispielsweise
zogen, ihre formale Bildung ist der der männlichen Kol- die ungenügende Zahl von Plätzen in Kinderbetreuungs-
legen weitgehend überlegen und dennoch sind Frauen in einrichtungen, weitgehend ausgeglichen werden.
der gesellschaftlichen Realität deutlich benachteiligt. Der Duktus des vorliegenden Antrags suggeriert, dass
Frauen besonders förderungsbedürftig seien. Diese Ein-
Es ist kein Ruhmesblatt für unsere Gesellschaft, die
schätzung teile ich nicht. Frauen sind gut ausgebildet
gesellschaftliche Teilhabe eines Teils der Bevölkerung
und stark. Sie brauchen keine spezielle Förderung, son-
zu beschränken. Es ist zum Nachteil für unsere Gesell-
dern einfach nur Gerechtigkeit. Der Bildungsbereich hat
schaft, dass ihre Kreativität und Intelligenz nicht in dem
dies deutlich gezeigt. Frauen sind dort erfolgreich, wo es
Umfang genutzt wird, wie dies in anderen Gesellschaf-
auf Leistung ankommt, zum Beispiel in der Schule.
ten realisiert ist.
Uns Frauen wird mit derartigen Anträgen stets unter-
Wir haben eine Kanzlerin, zwei Vizepräsidentinnen stellt, es wäre eine Ausnahme, wenn wir aus eigener Kraft
im Deutschen Bundestag, mehrere Ministerinnen, aber etwas schaffen. Diese Unterstellung halte ich für eine
gleichwohl sind wir ein weitgehend männerbestimmtes Diskriminierung, sie stärkt uns nicht, sondern schwächt
Land. die Position der Frauen. Es ist deshalb gut, wenn Defizite,
Ein an der Universität Lüneburg erarbeiteter Bericht, von denen wir meinen, dass sie sich besonders als nach-
der sich mit der medialen Präsenz von Politikerinnen be- teilig für Frauen auswirken, als gesamtgesellschaftliche
schäftigt, kommt zu dem Schluss: „Gemessen an ihrer Defizite begriffen werden. Frauen gehören schließlich
Vielfalt und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung werden zur Mitte der Gesellschaft und sind keine Randgruppe.
Frauen medial unzureichend abgebildet.“ Der Anteil der Wenn wir den ländlichen Raum stärken wollen, und
Politikerinnen in Pressemedien beträgt 18 Prozent. Auf ich halte dies für richtig, müssen wir überlegen, wie wir
den Titelseiten der Zeitungen beträgt der Anteil der Poli- die Bedingungen für Frauen, aber eben auch für Männer, (D)
(B) tikerinnen nur 13 Prozent. Es gibt somit eine deutliche
verbessern, sich neue eigene Erwerbsquellen auf dem
Unterrepräsentation der Spitzenpolitikerinnen in den Me- Land zu erschließen. Dies ist allemal besser als frau-
dien. Frau Merkel ist als Bundeskanzlerin überdurch- enspezifische Globalförderung. Der Ausbau von öffent-
schnittlich in den Medien präsent, aber selbst die Bundes- lichen Verkehrsmitteln, Zugang zum schnellen Internet
ministerinnen sind – wie andere Politikerinnen – nach wie und nicht zuletzt eine Verbreiterung des Angebots von
vor in den Medien unterrepräsentiert. Kinderbetreuungsplätzen ermöglicht Frauen und Män-
nern den Start und den Ausbau eigener Erwerbsgrundla-
Um Frauen eine bessere gesellschaftliche Teilhabe zu
gen im ländlichen Raum. Die Möglichkeiten von Klein-
ermöglichen, werden verschiedene Vorschläge disku-
krediten und Start-up-Förderungen helfen Frauen und
tiert. Zumeist wird die Quote vorgeschlagen. Ich bin
Männern. Aber das ist keine Agrarförderung, sondern
skeptisch, ob eine Quote zu einer Verhaltensänderung
Infrastrukturförderung, Investitionsförderung und Wei-
von Männern und Frauen führen wird.
terbildung. Viele Projekte, die sich mit diesen Problem-
Der heute von der Linken gemachte Vorschlag, das bereichen beschäftigen, können für Frauen heute schon
bestehende gesellschaftliche Defizit über eine Änderung aus dem Europäischen Sozialfond gefördert werden.
der Agrarförderung zu beheben, ist zumindest innovativ. Dort gehört die Förderung auch hin. Wir sollten nicht an-
Ich bezweifele allerdings, dass er zielführend ist. fangen, mit der Gemeinsamen Europäischen Agrarpoli-
tik, GAP, noch eine Sozialpolitik „light“ zu machen.
Der Titel des Antrags legt nahe, dass unsere bisherige
Agrarförderung und Agrarpolitik geschlechterungerecht Wir arbeiten konstruktiv an den jetzt vorliegenden
ist und es möglich sei, diese geschlechterspezifisch und Vorschlägen von Herrn Ciolos zur Reform der Gemein-
damit angeblich geschlechtergerechter zu gestalten. Ich samen Agrarpolitik der Europäischen Union. Wir möch-
teile diese Einschätzung nicht: Agrarpolitik, Agrarförde- ten für unsere Landwirte, und damit meine ich Männer
rung ist geschlechterneutral und muss es auch bleiben. und Frauen, dass bei der Reform der GAP das Zwei-Säu-
len-Modell erhalten bleibt, dass es weiterhin einen Aus-
Frauen im ländlichen Raum sind das Rückgrat für un- gleich für die Bereitstellung öffentlicher Güter gibt und
sere Dörfer. Sie haben oft eine Vielzahl von Doppel- und dass der Bürokratieabbau vorangetrieben wird. Die Ent-
Dreifachbelastungen in der Familie, im eigenen Beruf, in kopplung, welche in Deutschland schon fast abgeschlos-
den landwirtschaftlichen Betrieben und auch in der dörf- sen ist, muss sich auch in anderen EU-Mitgliedstaaten
lichen Gemeinschaft. Sie sind oft die tragende Säule im durchsetzen. Wir setzen uns in der Agrarpolitik für eine
ehrenamtlichen sozialen Engagement und in vielen Ver- in die Zukunft gerichtete, multifunktionale, moderne und
einen. Wir sind uns einig, dass ehrenamtliches Engage- unternehmerische Landwirtschaft ein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. April 2011 12243

(A) Anlage 3 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und (C)


Reaktorsicherheit
Amtliche Mitteilung
Drucksache 17/1270 Nr. A.5
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ratsdokument 6948/10
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- Drucksache 17/3791 Nr. A.17
Ratsdokument 14927/10
dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be-
ratung abgesehen hat.
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Innenausschuss
Drucksache 17/4509 Nr. A.8 Drucksache 17/4927 Nr. A.36
Ratsdokument 16746/10 Ratsdokument 2122
Drucksache 17/5123 Nr. A.24
Ratsdokument 2138
Rechtsausschuss
Drucksache 17/4598 Nr. A.10
Ratsdokument 18122/10 Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Drucksache 17/178 Nr. A.41
Ausschuss für Gesundheit Ratsdokument 15367/09
Drucksache 17/4927 Nr. A.23 Drucksache 17/504 Nr. A.26
Ratsdokument 2124 Ratsdokument 17193/09

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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