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Plenarprotokoll 17/122

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

122. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abge- Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14375 D
ordneten Uta Zapf, Franz Obermeier, Anita
Schäfer, Sabine Leutheusser- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14377 B
Schnarrenberger, Angelika Krüger-
Leißner, Undine Kurth und Eberhard Einzelplan 06
Gienger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14349 B
Bundesministerium des Innern
Wahl der Abgeordneten Stefan Rebmann,
Holger Krestel und Johanna Voß als Schrift- Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister
führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14349 B BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14378 D
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 14381 A
Tagesordnungspunkt 1: Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 14382 C
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14383 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
haushaltsplans für das Haushaltsjahr DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14385 D
2012 (Haushaltsgesetz 2012) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14387 A
(Drucksache 17/6600) . . . . . . . . . . . . . . . . 14349 C
Michael Hartmann (Wackernheim)
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14389 A
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
(Drucksache 17/6601) . . . . . . . . . . . . . . . . 14349 C Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14390 C
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14349 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14391 C
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14360 A Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14393 A
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14362 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14365 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14394 A

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14367 A Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14393 B


Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14369 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14394 D
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14370 D Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14394 D
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 14373 A Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14395 D
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14374 C Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14397 A
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 14374 D Jürgen Herrmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14398 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Einzelplan 07 Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14415 D
Bundesministerium der Justiz
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14417 A
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . 14400 A Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14418 C
Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14401 C Alexander Funk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14420 A
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . 14403 A
Einzelplan 16
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14404 B
Bundesministerium für Umwelt, Natur-
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . 14404 B schutz und Reaktorsicherheit
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14404 C BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14421 B
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . 14404 C Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14424 B
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14406 A Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14425 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14427 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14408 A Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14409 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14428 A
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14406 A Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14429 C

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14430 D


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14411 B Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14432 C
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14411 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 14434 A
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14411 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14435 A
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14412 A Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14436 B
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14438 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14412 A Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . . 14439 C
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14412 B
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14413 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14440 D

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14415 A Anlage
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14415 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 14441 A
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(A) (C)

Redetext

122. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Beginn: 10.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Kolleginnen und Kollegen gewählt. Ich freue mich auf
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. die Zusammenarbeit hier oben im Präsidium.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und b auf:
begrüße Sie alle herzlich zur ersten Plenarsitzung des a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Deutschen Bundestages nach der parlamentarischen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Sommerpause. Die meisten haben durch Gremiensitzun- Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
gen und Klausurtagungen von Fraktionen und Fraktions- Haushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012)
vorständen den Dienst längst wieder angetreten. Ich
hoffe, dass die meisten in den vergangenen Wochen Ge- – Drucksache 17/6600 –
legenheit gefunden haben, sich nicht nur um die Stabili- Überweisungsvorschlag:
tät von Haushalten und Währungen, sondern auch um Haushaltsausschuss
die Stabilisierung von Leib und Seele zu kümmern. b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
(B) regierung (D)
Einige Kolleginnen und Kollegen hatten während der
Sommerpause runde Geburtstage. Dazu gehört die Kol- Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
legin Uta Zapf, die am 14. August 2011 ihren 70. Ge-
burtstag gefeiert hat. – Drucksache 17/6601 –
Überweisungsvorschlag:
(Beifall) Haushaltsausschuss
Der Kollege Franz Obermeier hat seinen 65. Geburts- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind im
tag gefeiert. Rahmen der Haushaltsberatungen für die heutige Aus-
sprache im Anschluss an die Einbringung des Haushalts
(Beifall)
durch den Bundesfinanzminister sechs Stunden, für
Die Kolleginnen Anita Schäfer, Sabine Leutheusser- Mittwoch acht Stunden, für Donnerstag neuneinhalb
Schnarrenberger, Angelika Krüger-Leißner, Undine Stunden und für Freitag noch einmal dreieinhalb Stun-
Kurth sowie der Kollege Eberhard Gienger haben ihr den vorgesehen. Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen
60. Lebensjahr vollendet. Allen Kolleginnen und Kolle- feststellen? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
gen herzliche Glückwünsche! sen.
(Beifall) Zur Einbringung des Haushalts erteile ich dem
Bundesminister der Finanzen, unserem Kollegen
Nun wollen wir einmal schauen, wie lange der Jubel Dr. Wolfgang Schäuble, das Wort.
im ganzen Hause für die weitere Tagesordnung vorhält.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Heiterkeit)
Ich habe noch darauf hinzuweisen, dass die Kollegin Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
Agnes Alpers sowie die Kollegen Klaus Hagemann und zen:
Sebastian Körber ihre Schriftführerämter niedergelegt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
haben. Als neue Schriftführerinnen und Schriftführer Herren! Diese Haushaltsdebatte findet unter dem Ein-
werden vorgeschlagen: von der SPD-Fraktion der Kol- druck beunruhigender Turbulenzen auf den Finanzmärk-
lege Stefan Rebmann, von der FDP-Fraktion der Kol- ten statt. Das Problem der Vereinigten Staaten von
lege Holger Krestel und von der Fraktion Die Linke die Amerika, ihr Haushaltsdefizit und ihre hohe Staatsver-
Kollegin Johanna Voß. Sind Sie damit einverstanden? – schuldung bei relativ schwieriger Lage von Wirtschaft
Das ist offensichtlich der Fall. Damit sind die genannten und Arbeitsmarkt in den Griff zu bekommen, und die
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) durch die Schulden und Wachstumsprobleme einiger zessionen um fast jeden Preis zu verhindern. Mit geld- (C)
Euro-Länder verursachte Verunsicherung über die Stabi- und finanzpolitischen Maßnahmen wurde versucht, dro-
lität der Euro-Zone als Ganzes haben in den letzten Mo- hende Rezessionen abzuwenden, ohne dass in der Folge
naten zu zunehmender Marktbeunruhigung geführt. Be- die aufgeblähten öffentlichen Defizite in guten konjunk-
sorgnisse über die globale wirtschaftliche Entwicklung turellen Zeiten wieder zurückgefahren wurden. So ist
nehmen zu. Die Verlangsamung der Wachstumsdynamik übrigens auch die Verschuldung des öffentlichen Ge-
in den Industrieländern geht zwar im Wesentlichen auf samthaushalts in Deutschland auf rund 2 Billionen Euro
eine Abflachung der starken, zyklisch bedingten Erho- angestiegen.
lung zurück, aber es ist eben eine Verlangsamung.
Zuletzt haben wir alle – zu Recht – nach der durch das
Die hartnäckigen Probleme im Bereich der öffentli- Platzen der Immobilienblase in den USA ausgelösten
chen Verschuldung und des Finanzsektors dämpfen die Finanzmarktkrise noch gravierendere Verwerfungen auf
private Nachfrage. Übrigens werden kurzfristige Nach- den Güter- und Arbeitsmärkten dadurch verhindert, dass
fragestimulierungen nicht helfen, weil der Spielraum da- die öffentlichen Haushalte vorübergehend weltweit ei-
für zu gering ist und das Übermaß an Defiziten schon nen Teil des massiven privaten Nachfrageeinbruchs
jetzt die Hauptursache der Krise ist. Deshalb wird es kompensiert haben. Das war in dieser Krise von histori-
ohne strukturelle Anpassungen nicht zu schaffen sein. scher Bedeutung richtig. Es war übrigens gerade auch in
Das muss weiterhin das bestimmende Element unserer Deutschland erfolgreich; aber es hat eben rund um den
Finanzpolitik sein. Deshalb gehen wir mit dem Bundes- Globus zu einer weiteren Aufblähung der öffentlichen
haushalt 2012 einen weiteren Schritt auf dem Weg der Defizite geführt. Weil sich viele Haushalte schon vorher
wachstumsfreundlichen Defizitreduzierung. Wir beschrei- in einer kritischen Lage befanden, hat der Schulden-
ten einen Weg, der uns Gestaltungsspielräume in der Zu- anstieg das Vertrauen vieler Anleger in die Fähigkeit der
kunft offen lässt und der diese Gestaltungsspielräume Politik zur längerfristigen Haushaltskonsolidierung er-
eben nicht durch einen übermäßigen Gegenwartsbezug schüttert.
beschneidet.
(Zuruf von der SPD: Unter dieser Bundes-
Wir schaffen Vertrauen durch finanzpolitische Solidi- regierung!)
tät und Verlässlichkeit. – In allen Ländern. Es ist ein Problem der westlichen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Länder insgesamt, dass das Vertrauen in die Fähigkeit
ruf von der SPD: Nur nicht in der eigenen unserer Systeme zur längerfristigen Haushaltskonsoli-
Fraktion!) dierung erschüttert ist. Wir haben in der Euro-Zone nicht
die größten Defizite; in anderen Bereichen sind die öf-
(B) Dieses Vertrauen müssen wir schaffen in den Augen der fentlichen Defizite höher. Das muss man sehen. (D)
Finanzmärkte und auch in den Augen der Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland und Europa. Wir dürfen die Konsolidierung der öffentlichen Haus-
halte bei aller berechtigten Kritik an überzogenen Markt-
(Joachim Poß [SPD]: Gestern Abend hat es reaktionen nicht aus den Augen verlieren.
nicht geklappt bei Ihnen!)
Angesichts der tradierten Verhaltensmuster bei der
– Aber Herr Kollege Poß, zur parlamentarischen Demo- Krisenbekämpfung war es – wir haben es gesehen – im
kratie gehört, dass man unterschiedliche Meinungen hat, vergangenen Jahr nicht leicht, unsere internationalen
dass man darüber diskutiert, dass man abstimmt. Man Partner davon zu überzeugen, dass ein maßvoller und
bringt Gesetzentwürfe ein, dann debattiert man über sie rechtzeitiger Ausstieg aus den wirtschaftlichen Stüt-
im Bundestag, und am Schluss stimmt man wieder ab. zungsmaßnahmen sinnvoll ist. Deutschland hat sich im
Warten Sie es in großer Gelassenheit ab! Wir werden vergangenen Jahr wegen seiner Haushaltskonsolidierung
eine große Mehrheit dafür finden. international erheblicher Kritik ausgesetzt gesehen. Aber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wir können heute sagen: Der Erfolg hat uns recht gege-
Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) ben.

Im Übrigen ist entscheidend, dass wir die Vorgaben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Schuldenbremse des Grundgesetzes konsequent um- Das ist über den Tag hinaus von Bedeutung. Wir dürfen
setzen; das gerade in diesen Tagen, wo es schon wieder in die
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch in den andere Richtung gehen soll, nicht vergessen. Wir haben
Ländern!) gezeigt, dass es möglich ist, auf eine Weise zu konsoli-
dieren, die das Wirtschaftswachstum nicht beschädigt,
denn das ist für die Überzeugungskraft deutscher Politik sondern – im Gegenteil – ankurbelt. Dem Wachstum im
auf internationaler Ebene von ganz elementarer Bedeu- vergangenen Jahr von rund 3,5 Prozent wird in diesem
tung. Vielleicht noch wichtiger ist, dass wir einen Bei- Jahr ein Wachstum von rund 3 Prozent folgen. Wenn die
trag leisten zu einer auch mentalen Abkehr von dem, deutsche Wirtschaft in diesem Jahr – nach einem stürmi-
was Ralf Dahrendorf in einem seiner letzten Aufsätze schen Beginn mit einem Wachstum von 1,3 Prozent im
vor seinem Tod als einen „extremen Pumpkapitalismus“ ersten Quartal – mit einem Wachstum von 0,1 Prozent
bezeichnet hat. Es ist wahr: In den vergangenen 40 Jah- im zweiten Quartal einen moderateren Gang eingelegt
ren hat sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik vieler In- hat, so entspricht das der weltweiten Abkühlung. Das ist
dustrieländer im Wesentlichen darauf konzentriert, Re- doch eher eine Normalisierung in einer grundsätzlich
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) positiven Entwicklung. Rezession sieht jedenfalls anders Weniger Arbeitslosigkeit, mehr Beschäftigung, mehr Ar- (C)
aus. beitsplätze bedeuten für die Menschen ganz konkret:
mehr Teilhabechancen und mehr Sicherheit. So zeigt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich, dass der Aufschwung nicht allein durch höhere
Meine Damen und Herren, man muss daran erinnern: Löhne bei den Menschen ankommt.
Wir haben mit der Entwicklung in den Jahren 2010 und Unser Kurs der wachstumsfreundlichen Defizitreduzie-
2011 den Einbruch des Jahres 2009 wieder aufgeholt. rung hat deutlich gemacht – das ist in diesen Tagen welt-
Wir haben durch diesen Einbruch 2009 nach der berei- weit und in Europa von entscheidender Bedeutung –, dass
nigten statistischen Gesamtrechnung – im August gab es die Ziele, Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive im
neue Zahlen – 5,1 Prozent unserer gesamtwirtschaftli- Euro-Raum zu sein, miteinander vereinbar sind. Man
chen Leistung verloren. Ein solcher Einbruch ist in der muss daran erinnern, dass die US-Ökonomen Rogoff
Nachkriegsgeschichte völlig einmalig. Anfang der Le- und Reinhart vor kurzem in einer viel beachteten Unter-
gislaturperiode hatte die Bundeskanzlerin das Ziel aus- suchung dargelegt haben, dass das Wirtschaftswachstum
gegeben, bis 2013 wieder den Stand vor der Krise zu ab einem bestimmten Verschuldungsgrad der öffentli-
erreichen. Sie hatte versprochen, dass Deutschland ge- chen Haushalte durch öffentliche Verschuldung nicht
stärkt aus der Krise herauskommen werde. Die Zahlen, mehr gesteigert, sondern gedämpft wird. Wir haben dazu
verehrte Kolleginnen und Kollegen, belegen, dass wir eine Art umgekehrten praktischen Beweis erbracht:
Wort gehalten haben. Durch konsequenten Defizitabbau und durch Stärkung
des Vertrauens in die deutsche Volkswirtschaft haben wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr Investitionen erreicht und damit mehr Wachstum
Wir dürfen uns aber nicht darauf ausruhen. Ich sage generiert. Das ist die richtige Politik.
es einmal ganz klar: Nachhaltige Investitionen im Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
telstand sind für unsere Zukunft bestimmt wichtiger als
windige Finanz- oder Immobilieninvestitionen irgendwo Wenn wir den eingeschlagenen Weg konsequent weiter-
auf der Welt. gehen, dann leistet unsere Haushaltspolitik den besten
Beitrag zu Stabilität und nachhaltigem Wachstum.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir brauchen übrigens nicht nur in der Finanzpolitik
Deshalb muss und wird Deutschland seine Rolle als Sta- eine grundsätzliche Neubewertung der Verschuldung, ei-
bilitätsanker und Wachstumslokomotive zugleich in nen Paradigmenwechsel. Um noch einmal Dahrendorf
Europa spielen. Das ist übrigens konkrete Politik für zu zitieren: Die Kurzatmigkeit ökonomischen Handelns
(B) mehr soziale Gerechtigkeit. Auch wenn viele Ökonomen – so hat er in einem Aufsatz geschrieben – und die Ver- (D)
derzeit eine nachlassende konjunkturelle Dynamik fest- antwortungslosigkeit gegenüber der Zukunft erforderten
stellen, gibt es niemanden, der negative Auswirkungen einen Mentalitätswechsel, der zu einem neuen Verhältnis
auf den Arbeitsmarkt erwartet. Man muss es noch ein- zur Zeit in Wirtschaft und Gesellschaft führen müsse.
mal sagen: Wir haben heute viel mehr Menschen in Ar- Das müsse an der Spitze bei der längerfristigen Orientie-
beit als noch vor wenigen Jahren. rung der Managergehälter beginnen und insbesondere in
der Konzentration auf die Belange der Stakeholder
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Teilzeit- – statt wie bisher nur der Shareholder – seine Fortset-
beschäftigung! Leiharbeit! Im Niedriglohn- zung finden. Stakeholder sind die Gesamtheit: die Öf-
sektor! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: fentlichkeit, Arbeitnehmer, Kunden und Lieferanten.
Was für Arbeit?) Shareholder sind nur die Eigentümer. Wer lange genug
Im Jahre 2005 waren 5 Millionen Menschen ohne Ar- im Deutschen Bundestag ist, mag sich daran erinnern,
beit. Heute ist die Zahl um 2 Millionen niedriger; im Au- dass der damalige Oppositionsführer – das war ich – bei
gust waren es 2,94 Millionen Arbeitslose. der Präsentation des Schröder/Blair-Papiers gesagt hat:
Das ist mir ein bisschen zu viel Shareholder-Value. –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Davon ist heute nicht mehr die Rede.
ruf von der LINKEN: Prekäre Beschäftigung
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
und Leiharbeit!)
der FDP)
Die Zahl der Erwerbstätigen lag im Juli bei mehr als Man muss daran erinnern: So hat es mit Rot-Grün ange-
41 Millionen. Das ist ein Anstieg gegenüber dem Vor- fangen.
jahr um mehr als 500 000 Personen. Der Zuwachs bei
der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (Joachim Poß [SPD]: Was hat Ihre Partei dazu
ist übrigens noch größer: Es gab einen Zuwachs gegen- gepredigt?)
über dem Vorjahr um rund 700 000 Arbeitnehmer; ange-
– Auch wir haben Fehler gemacht.
sichts der Zwischenrufe weise ich darauf hin, dass mehr
als die Hälfte davon auf Vollzeitbeschäftigung entfällt. (Joachim Poß [SPD]: Leipziger Beschlüsse!
Meine Damen und Herren, das ist der niedrigste Stand War das nicht Shareholder-Value?)
der Arbeitslosigkeit seit der deutschen Wiedervereini-
gung. Das ist ein historischer Erfolg. – Herr Kollege Poß, es wäre gut, wenn wir uns heute da-
rauf verständigen könnten, dass wir uns einig sind, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir den Weg, so wie Dahrendorf ihn beschrieben hat, ge-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) meinsam weitergehen. Dann haben wir eine gute Wir haben – auch das muss gesagt werden – in der (C)
Chance, dass wir unser Land in einer schwierigen Zeit letzten Legislaturperiode die Schuldenbremse in das
weiterhin erfolgreich voranbringen. Grundgesetz eingefügt. In der Rückschau wird einmal
der 17. Deutsche Bundestag – das sind wir – derjenige
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sein, von dem die Wirksamkeit dieser neuen Schuldenre-
der FDP – Joachim Poß [SPD]: Ob Sie hier
gelung im Grundgesetz abhing. Erst unser konsequenter
mit allen einig sind, daran habe ich meine
Umgang mit dem gemeinsamen Ziel einer konsequenten
Zweifel! – Lachen bei Abgeordneten der SPD
Defizitreduzierung wird diese Regelung mit Leben erfül-
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
len und den notwendigen Mentalitätswechsel hin zu ei-
– Keine Sorge. Die Geschlossenheit der Koalition ist al- ner nachhaltigeren Politik prägen.
lenfalls durch Ihre innerparteilichen Auseinandersetzun-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das sieht
gen zu übertreffen.
die Bundesbank aber anders!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
– Die Bundesbank sieht das ganz genauso. Sie tritt sehr
der FDP)
dafür ein, dass wir die Schuldenregel strikt umsetzen.
Ich will aber auch klar sagen – man muss es gelegent- Deswegen ist es gut, dass wir Regierungsverantwortung
lich der Öffentlichkeit sagen, weil die Finanzmärkte nur tragen und eine solide Finanzpolitik machen.
als etwas Bedrohliches angesehen werden –: Wir alle
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind darauf angewiesen, uns laufend zu refinanzieren.
Auch der Bund muss ständig hinreichend Anleihen auf Dass das überall auf der Welt so gesehen wird, kön-
den internationalen Märkten platzieren. Im Übrigen darf nen Sie auch daran erkennen, dass die Bundesrepublik
man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es ist Deutschland nach wie vor das Vertrauen der Finanz-
auch wahr, dass ohne das Schwungrad leistungsfähiger, märkte genießt. Das kann man nun wirklich nicht infrage
innovativer Finanzmärkte der Wohlstandsgewinn in den stellen. Das verschafft uns niedrige Refinanzierungskos-
Industrie- und Schwellenländern völlig undenkbar wäre. ten, was angesichts unserer Gesamtschuld von großer
Mehr noch: Ohne das Schwungrad leistungsfähiger Bedeutung für unsere Haushaltsspielräume ist. Mit dem
Finanzmärkte gibt es keine Chancen für die Menschen in eingeschlagenen Weg der Defizitreduzierung und mit
den Entwicklungsländern. Das müssen wir angesichts ei- der seit diesem Jahr voll wirksamen und verfassungs-
ner Weltbevölkerung von 7 Milliarden Menschen klar rechtlich verankerten Schuldenbremse sichern wir das
sagen. Vertrauen bei Investoren und Anlegern, das auf den
Märkten derzeit rar ist. Auch darum geht es beim Haus-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
halt 2012.
(B) der FDP) (D)
Dieser Haushaltsentwurf und der Finanzplan belegen
Das Problem sind nicht die Märkte, sondern die Über-
die Absicht der Bundesregierung, hinsichtlich der Kon-
treibungen und die Exzesse. Deshalb brauchen wir Gren-
solidierungsanstrengungen nicht nachzulassen. Bei der
zen und Regeln. Jede freiheitliche Ordnung – auch
mittelfristigen Finanzplanung gehen wir nach den Auf-
Märkte – ohne Grenzen und Regeln zerstört sich selbst.
holeffekten in den Jahren 2010 und 2011 – das habe ich
Das Problem ist, dass Regulierung angesichts der zuneh-
übrigens schon in früheren Haushaltsdebatten gesagt –
menden internationalen und globalen Verflechtungen auf
von moderateren Wachstumsannahmen aus. Wir rechnen
nationaler Ebene nur noch sehr eingeschränkt funktio-
ab 2013 mit durchschnittlich 1,6 Prozent jährlich.
niert. Wir brauchen ein starkes und handlungsfähiges
Europa und mehr internationale Zusammenarbeit. Die Wir müssen dabei bedenken: Nachhaltige Politik, wie
Finanzmärkte müssen wieder auf ihre dienende Funktion wir sie verstehen, erfordert, dass sich unsere Haushalts-
gegenüber der Realwirtschaft konzentriert werden. und Finanzpolitik an der gesellschaftlichen Realität und
an den politischen Herausforderungen orientiert. Dazu
Neben einer besseren Finanzmarktregulierung muss
gehört in allererster Linie der demografische Wandel,
vor allem dem Übermaß an öffentlicher Verschuldung in
der unsere mittel- bis langfristigen Wachstumschancen
den meisten Industrieländern entgegengewirkt werden;
begrenzen wird. Die Bundesregierung wird eine umfas-
denn dieses Übermaß an öffentlicher Verschuldung ist
sende Strategie zur Auseinandersetzung mit den Folgen
– das belegen alle internationalen Analysen; das ist un-
des demografischen Wandels vorlegen. Wir können
streitig – die Hauptursache für die krisenhafte Zuspit-
diese Entwicklung kurzfristig zwar nicht ändern, aber
zung. Ich will daran erinnern – ganz bescheiden –, dass
wir brauchen angesichts der möglichen mittel- und lang-
sich alle teilnehmenden Industrieländer beim Weltwirt-
fristigen Folgen auch nicht zu resignieren. Wir müssen
schaftsgipfel in Toronto im vergangenen Jahr verpflich-
bei unseren Handlungen nur ständig die Zusammen-
tet haben, ihre Haushaltsdefizite bis 2013 zu halbieren.
hänge berücksichtigen. Deshalb brauchen wir eine öf-
Frau Bundeskanzlerin, ich sehe derzeit kein Land außer
fentliche Kenntnisnahme und eine breite öffentliche De-
Deutschland, das diese Verpflichtung erfüllt; wir werden
batte.
sie erfüllen.
Jedenfalls ist unter diesen Annahmen ein Wachs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tumsansatz von durchschnittlich 1,6 Prozent pro Jahr für
Umso wichtiger ist, dass wir Kurs halten. Umso ent- die mittelfristige Periode realistisch und zugleich ehrgei-
scheidender ist, wie wir den Bundeshaushalt 2012 auf- zig. Ich füge hinzu: Wir sollten uns von der Volatilität
stellen. von Quartalszahlen zur konjunkturellen Entwicklung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14353
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) – 1,5 Prozent im ersten Quartal und 0,1 Prozent im zwei- alle betrifft: Die kalte Progression führt nicht nur beim (C)
ten Quartal – nicht verrückt machen lassen. Das gilt Bund zu Mehreinnahmen. Fast zwei Drittel der Steuer-
übrigens auch, um das hinzuzufügen, für die monatli- mehreinnahmen, die die Steuerschätzung vom Mai für
chen Statistiken zu den Steuereinnahmen. Sie laufen der das Jahr 2013 gegenüber dem Jahr 2009 ausweist, entfal-
konjunkturellen Entwicklung logischerweise immer hin- len auf die Länder und Kommunen. Auch die Länder
terher. Weil das so ist, bleibt die Bundesregierung dabei, und Gemeinden müssen konsolidieren. Verehrte Kolle-
einen Sicherheitspuffer einzuplanen, damit wir die Ver- ginnen und Kollegen, es kann aber nicht richtig sein,
schuldungsobergrenze bei der Schuldenbremse auf kei- dass eine staatliche Ebene Mehreinnahmen aus der kal-
nen Fall überschreiten. Ich möchte das Bild von der ten Progression einfach einstreicht, während eine andere
Bremse nicht überstrapazieren, aber auch wenn man eine Ebene allein dafür verantwortlich sein soll, den Men-
ganz gute Bremse hat, ist es vernünftig, nicht auf einen schen Geld zurückzugeben.
Sicherheitsabstand zu verzichten. Dieses Prinzip liegt
unserer mittelfristigen Finanzplanung zugrunde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss sich die Defizitzahlen für das erste Halb-
jahr 2011, die das Statistische Bundesamt in der vergan-
Ich muss bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, genen Woche gemäß den Maastricht-Kriterien veröffent-
dass sich die Schuldenbremse auf das sogenannte struk- licht hat, noch einmal vor Augen führen. Sie zeigen, dass
turelle Defizit bezieht. Das heißt, die geplante Nettokre- die Ausgangsbedingungen für die Länder und Gemein-
ditaufnahme wird um konjunkturelle Einflüsse bereinigt. den sehr viel besser sind als für den Bund. Das Defizit
Rein konjunkturell bedingte, also nicht dauerhafte Mehr- des Bundes belief sich im ersten Halbjahr 2011 laut Sta-
einnahmen, hauptsächlich aus Steuern, oder entspre- tistischem Bundesamt auf 14,7 Milliarden Euro. Dies
chende Minderausgaben, vor allem aus dem Bereich des entspricht im Übrigen der erwarteten Neuverschuldung
Arbeitsmarkts, müssen nach diesem Konzept unmittel- in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro. Das De-
bar zur Senkung des Defizits eingesetzt werden. Sie dür- fizit aller Länder belief sich im gleichen Zeitraum auf
fen nicht für strukturell wirkende Mehrausgaben oder 2 Milliarden Euro und das der Kommunen auf insgesamt
Mindereinnahmen verwendet werden. Anderenfalls wür- 0,6 Milliarden Euro. Da die gesetzlichen Sozialversiche-
den wir das strukturelle Defizit erhöhen und sehenden rungen im ersten Halbjahr einen Überschuss von 10 Mil-
Auges eine Verletzung der Schuldenregeln riskieren. liarden Euro ausweisen, errechnet sich für das erste
Herr Kollege Schneider, wir werden dies im Haushalts- Halbjahr ein gesamtstaatliches Defizit von 7,2 Milliar-
ausschuss vorwärts und rückwärts durchrechnen, und den Euro. Bei diesen Zahlen ist die Übernahme der Kos-
Sie werden sehen: Wir werden die im Grundgesetz ver- ten für die Grundsicherung im Alter noch nicht berück-
(B) ankerte Schuldenobergrenze nicht im Entferntesten be- sichtigt. Wir haben beschlossen, dass der Bund die (D)
rühren, geschweige denn verletzen. Kommunen stufenweise und ab 2014 in voller Höhe
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im
Alter, die Rot-Grün den Kommunen auferlegt hat, ent-
Im Übrigen hat die Koalition verabredet, im Licht der lasten wird. Im Jahr 2014 wird dies in Höhe von 4 Mil-
aktuellen Daten im Herbst über steuerpolitische Maß- liarden Euro geschehen, wobei der Betrag aufgrund der
nahmen in dieser Legislaturperiode zu entscheiden. Da- demografischen Entwicklung in den Folgejahren anstei-
bei wird die Bekämpfung der kalten Progression im Vor- gen wird. Damit hat die Bundesregierung ihr Verspre-
dergrund stehen. Die Preissteigerungsrate lag in den chen, die Kommunalfinanzen nachhaltig zu entlasten,
letzten Monaten über dem Durchschnitt der vergangenen eingelöst. Auch das muss festgestellt werden.
Jahre, aber die Tendenz ist glücklicherweise eher rück-
läufig. Bei unserem progressiven System der Einkom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mensbesteuerung, also bei einem System, bei dem der
Prozentsatz der Besteuerung bei höheren Einkommen Umso mehr muss der Bund darauf bestehen, dass die
ansteigt – was wir aus Gründen der sozialen Ausgewo- notwendige Konsolidierung des öffentlichen Gesamt-
genheit für richtig und unerlässlich halten –, führen haushalts nicht immer stärker einseitig zulasten des Bun-
Preissteigerungen dazu, dass der Prozentsatz der Besteu- deshaushalts geht. Es gibt natürlich große Unterschiede
erung ohne reale Einkommenszuwächse ansteigt. Wenn in der Haushaltslage zwischen den verschiedenen Kom-
man also eine nominale Erhöhung hat, die die Geldent- munen und den verschiedenen Ländern. Sie auszuglei-
wertungsrate nicht übersteigt, dann hat man real keinen chen, ist übrigens nach der föderalen Grundstruktur
Zuwachs, zahlt aber einen höheren Prozentsatz an Steu- unseres Grundgesetzes in erster Linie Sache der Bundes-
ern. Das sind die kalten Steuererhöhungen, und mit de- länder. Aber wenn man die staatlichen Ebenen insgesamt
nen müssen wir uns auseinandersetzen. vergleicht, ist nicht zu bestreiten, dass der Bund eine we-
sentlich größere Konsolidierungsaufgabe hat, nicht zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) letzt deshalb, weil er sich in den letzten Jahren im Zuge
der Finanz- und Wirtschaftskrise stellvertretend für alle
Dabei darf man in der öffentlichen Debatte aber nicht staatlichen Ebenen verschuldet hat, um den schlimmsten
übersehen, dass wir der kalten Progression mit den zum Auswirkungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeits-
1. Januar 2010 in Kraft gesetzten steuerlichen Maßnah- markt entgegenzuwirken. Auch das muss man anführen.
men im Vorhinein erheblich entgegengewirkt haben. Bei
dieser Gelegenheit muss ich auf etwas hinweisen, das (Otto Fricke [FDP]: Nur er!)
14354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) Deswegen gehe ich davon aus, dass die Länder ihre Ver- Schließlich hat der Europäische Rat vereinbart, als (C)
antwortung kennen – sie sind ja auch hinreichend vertre- Teil der Gesamtstrategie zur Vermeidung künftiger
ten – Staatsschuldenkrisen und zur dauerhaften Stabilisierung
der Euro-Zone ab 2013 einen Europäischen Stabilisie-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU,
rungsmechanismus – abgekürzt: ESM – einzurichten,
der FDP und der LINKEN)
damit wir im Ernstfall für notwendige Anpassungsmaß-
und dass sie die grundgesetzliche Aufteilung der Ge- nahmen besser gerüstet sind. Hierfür wird Deutschland
meinschaftssteuern respektieren werden. nach der Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag
– es ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der ratifiziert wer-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den muss – einen Beitrag zum einzuzahlenden Kapital in
Dass der Bund strikte Ausgabendisziplin übt, lässt Höhe von insgesamt rund 22 Milliarden Euro in fünf
sich am vorliegenden Haushaltsentwurf erkennen. Ich gleichen Jahrestranchen von je 4,3 Milliarden Euro ab
will Sie nur mit wenigen Zahlen belästigen. Die Ausga- dem Jahr 2013 leisten müssen. Auch dies ist in der mit-
ben des Bundes steigen 2012 gegenüber dem Soll 2011 telfristigen Finanzplanung abgebildet und berücksich-
um lediglich 0,07 Prozent. Über den gesamten Finanz- tigt.
planungszeitraum sehen wir einen durchschnittlichen
Übrigens gehen wir mit der Leistung von Bareinlagen
Ausgabenanstieg von 0,7 Prozent vor. Das ist im histori-
für den Europäischen Stabilisierungsmechanismus im
schen Vergleich ein einmalig niedriger Wert.
Vergleich zu dem alternativen Modell des EFSF einen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Deutschland in mehrfacher Hinsicht vorteilhaften
Weg. An der Einzahlung der Einlagen sind nämlich alle
Der Regierungsentwurf sieht für das Jahr 2012 eine Länder der Euro-Zone in gleicher Weise beteiligt und
Neuverschuldung in Höhe von 27,2 Milliarden Euro vor. nicht nur die Länder der Euro-Zone mit Triple-A-Rating.
Das sind immer noch 27 Milliarden Euro Neuverschul- Damit wird die Einlagenlösung für Deutschland insge-
dung. Wir schwimmen nicht im Geld, aber wir ertrinken samt billiger, weil die für ein Spitzenrating erforderliche
auch nicht mehr in Schulden. Es sind jetzt also 13 Mil- Übersicherung durch das eingezahlte Kapital geringer
liarden Euro weniger Neuverschuldung für 2012 vorge-
wird. Im Übrigen sind die ESM-Einlagen – auch das will
sehen als im alten Finanzplan – und dies, obwohl wir mit
ich sagen – im Sinne der Schuldenbremse neutral. Sie
unserem Haushalt neue politische Schwerpunkte berück-
sind nicht zum strukturellen Defizit zu rechnen, weil ih-
sichtigen. Ich nenne davon drei.
nen eine Position gegenübersteht; aber die Nettokredit-
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist alles aufnahme erhöht sich.
konjunkturell!)
Trotz dieser zusätzlichen Haushaltsbelastungen ge-
(B) (D)
Zum einen berücksichtigen wir im vorliegenden lingt es uns, auch in den folgenden Jahren die jährliche
Haushaltsentwurf die energiepolitischen Beschlüsse Neuverschuldung kontinuierlich zurückzuführen, bis auf
vom 30. Juni 2011. Durch den beschleunigten Ausstieg 14,7 Milliarden Euro im Jahr 2015. Das für die Schul-
aus der Atomenergie werden in den nächsten Jahren denbremse maßgebliche strukturelle Defizit wird nach
erhebliche Investitions- und Forschungsmaßnahmen er- 2012 weiter, um rund 6 Milliarden Euro pro Jahr, sinken.
forderlich, um den zügigen Ausbau der regenerativen Es ist aus heutiger Sicht denkbar – wir können es aller-
Energien zu schaffen. Deshalb wird die finanzielle Aus- dings nicht versprechen; man sollte bei Prognosen im-
stattung des Energie- und Klimafonds – abgekürzt: mer vorsichtig sein –, dass wir die ab 2016 geltende Vor-
EKF – noch einmal deutlich verbessert. Natürlich wer- gabe des Grundgesetzes – ein strukturelles Defizit von
den die Einnahmen aus der Brennelementesteuer unter maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts –
den Erwartungen liegen, wenn wir die Atomkraftwerke schon 2015 einhalten. Also: Wir setzen mit diesem
schrittweise abschalten und somit weniger Atomkraft- Haushaltsentwurf und mit der mittelfristigen Finanzpla-
werke am Netz sein werden. Insgesamt bedeutet das für nung den Defizitabbau konsequent fort.
den Bundeshaushalt Belastungen auf der Einnahmeseite
in Höhe von etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will daran erinnern: Der erste Haushaltsplan, den
ich als Finanzminister einzubringen hatte, war der für
Wir haben zweitens im Bereich des Bundesverteidi- 2010. Im ersten Entwurf – noch von der Vorgängerregie-
gungsministers die Einsparungen gegenüber der ur- rung, der ich, wenn auch nicht als Finanzminister, ange-
sprünglichen Finanzplanung über einen längeren Zeit- hört habe – war als Neuverschuldung die Rekordzahl
raum, das heißt bis 2015, gestreckt. Damit hat die von 86 Milliarden Euro vorgesehen. So lange ist das
Bundeswehrreform eine verlässliche Grundlage. Aus noch nicht her, ein bisschen mehr als anderthalb Jahre.
dieser Entscheidung folgen ab 2013 gegenüber der bis-
herigen Finanzplanung jährlich geringere Einsparungen (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wer war denn da
in Höhe von bis zu 2,4 Milliarden Euro. Ich glaube, ver- Minister? – Zurufe von der SPD)
ehrte Kolleginnen und Kollegen, dass das in unserer ge- – Ich habe ja gesagt: Ich habe der Regierung angehört.
meinsamen Verantwortung liegt. Die Bundeswehr ist
eine Parlamentsarmee. Die Soldaten, die für unsere Frei- (Peer Steinbrück [SPD]: Das war doch eine
heit und unsere Demokratie ihr Leben riskieren, sollen ganz andere Lage! Fügen Sie das doch bitte
unter guten Bedingungen ihren Dienst leisten können. mal hinzu! – Beifall bei der SPD)
Das sind wir ihnen schuldig.
– Herr Kollege Steinbrück, ich weiß nicht, ob Sie mir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schon die ganze Zeit die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit ha-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14355
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) ben zuteilwerden lassen. Für den Fall, dass es so gewe- schuldung in der mittelfristigen Finanzplanung erst noch (C)
sen sein sollte, müssten Sie wissen, dass ich vorhin erreichen. Noch steht zum Beispiel die europaweite Ein-
schon sehr deutlich gesagt habe: Wir haben den führung einer Finanztransaktionsteuer aus.
schlimmsten Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeits-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Gehen Sie
markt entgegengewirkt.
doch mit gutem Beispiel voran!)
(Peer Steinbrück [SPD]: Dann argumentieren
– Darüber können wir gerne diskutieren.
Sie doch nicht so einseitig! – Beifall bei Abge-
ordneten der SPD – Gegenruf des Abg. Otto (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Keine
Fricke [FDP]: Aber es waren nun mal 86!) Sorge!)
– Herr Kollege Steinbrück, wenn Sie Kanzlerkandidat Die Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsi-
werden wollen, müssen Sie sich noch ein bisschen bes- dent haben sich Anfang August erneut mit großem
sere Manieren zulegen; sonst wird das nichts. Nachdruck dafür eingesetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Machen
Gleicke [SPD]: Ja, ja! Wenn die Argumente Sie doch mal! Einfach machen!)
nicht mehr ausreichen!)
Die Kommission hat erklärt, sie werde dazu einen Vor-
Ich wiederhole es in großer Ruhe: Ich bekenne mich schlag vorlegen. Wir arbeiten also mit aller Kraft daran.
dazu, dass ich der Regierung angehört habe. Das ändert
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
überhaupt nichts.
– Ich weiß nicht, warum Sie nicht hören wollen, dass wir
(Burkhard Lischka [SPD]: Das war ja eine
auf dem guten Weg der Konsolidierung sind.
tolle Antwort! – Weiterer Zuruf von der SPD:
Das war peinlich!) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wir unter-
stützen Sie doch nur, Herr Schäuble!)
– Wenn Sie sonst keine Argumente haben, ist es gut;
aber es wird wohl so bleiben. Offenbar haben Sie bessere Laune, wenn es um Schul-
den als wenn es um die Rückführung der Verschuldung
Es war völlig richtig, dass wir in der Krise und nach
geht.
der Krise diese Politik betrieben haben; das habe ich
gesagt. Man kann dann die Folge, dass die Defizite ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stiegen sind, nicht bestreiten. Wenn wir heute den Haus-
Wir haben ein Aufkommen aus der Finanztrans-
haltsentwurf 2012 bewerten, müssen wir an die Aus-
aktionsteuer ab 2013 eingestellt. Es ist nicht sicher, ob es (D)
(B) gangslage erinnern. Sie war nun einmal so, dass Ende
uns tatsächlich zur Verfügung stehen wird. Für den
2009 die geplante Neuverschuldung für 2010 86 Mil-
Haushalt 2012 konnten wir ein solches Aufkommen ent-
liarden Euro betrug.
gegen der bisherigen Planung nicht berücksichtigen; da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für besteht keine Chance. Ich hatte das im Frühjahr
schon erläutert.
Diesen Wert konnten wir im Laufe des Jahres 2010
schrittweise reduzieren. Als im Jahre 2011 für 2010 spitz Im Übrigen lassen sich im Rahmen einer konsequen-
abgerechnet war, waren es noch 44 Milliarden Euro. Den ten Konsolidierung politische Gestaltungsspielräume
Haushalt 2011 haben wir im Bundestag im vergangenen nutzen. In dieser Legislaturperiode steht das Thema
Jahr mit einer geplanten Neuverschuldung von 48 Mil- „Bildung und Forschung“ als zentraler politischer
liarden Euro verabschiedet. Wenn die derzeitige Ent- Schwerpunkt im Mittelpunkt unserer Politik. Die Bun-
wicklung einigermaßen konstant verläuft, werden wir desrepublik Deutschland ist auf dem Weg zur Bildungs-
am Ende des Jahres im Vollzug bei einer Größenordnung republik.
von rund 30 Milliarden Euro liegen. Diesen eingeschla-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
genen Abbaupfad gehen wir mit dem nun vorliegenden
NEN]: Wo?)
Haushaltsentwurf 2012 und der mittelfristigen Finanz-
planung konsequent weiter. Er ist ein guter Weg: für Wir werden in den Jahren 2010 bis 2013 insgesamt
Deutschland und für die Stabilität und das Wachstum in 12 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen. Das
Europa. spiegelt sich im Etat des Bundesministeriums für Bil-
dung und Forschung wider, der im Regierungsentwurf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
erneut überproportional ansteigt, und zwar im Vergleich
Natürlich verdanken wir diese erfreuliche Entwick- zum Vorjahr um gut 10 Prozent. In Relation zum Ist des
lung auch dem bislang guten Konjunkturverlauf; das ist Jahres 2010 können wir mit einer Steigerung um 21 Pro-
gar keine Frage. Darüber kann man sich freuen. Im Übri- zent sogar einen Anstieg um über 2,3 Milliarden Euro
gen bin ich fest davon überzeugt: Mit unserer wachs- verzeichnen. Wir halten Wort, wenn wir sagen: Bildung
tumsfreundlichen Konsolidierung haben wir zu einem und Forschung haben für diese Regierung Priorität. –
guten Teil zu diesem Verlauf beigetragen. Das unterlegen wir mit Zahlen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich will gleich mahnend hinzufügen: Natürlich müs- Mit unserer Schwerpunktsetzung in der Bildungs-,
sen wir die Zielgrößen für die Ausgaben und die Neuver- der Forschungs- und auch in der Energiepolitik schaffen
14356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) wir die besten Voraussetzungen für eine innovative, Die Erwartung, dass eine gemeinsame Währung (C)
wettbewerbsfähige deutsche Wirtschaft mit gut ausgebil- große positive wirtschaftliche Impulse mit sich bringt,
deten Fachkräften. Oder, um es anders zu sagen: Wir hat auch nicht getrogen, sondern ist bestätigt. Deutsch-
schaffen die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachs- land als eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder
tum. in der Euro-Zone hat mit am meisten davon profitiert.
Weil die Investitionsausgabenquote im Entwurf des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Haushalts und auch in der mittelfristigen Finanzplanung Das muss man bei allen Problemen und Sorgen wieder
teilweise kritisch hinterfragt wird, will ich darauf hin- und wieder ins Gedächtnis rufen.
weisen, dass ich die Abgrenzung der Investitionsausga-
ben in unserer Haushaltsrechnung für fragwürdig halte. Dabei rede ich gar nicht vom politischen Glück eines
Meine Überzeugung ist, dass angesichts der modernen vereinten Europa, obwohl man das vor dem Hintergrund
Entwicklung, insbesondere vor dem Hintergrund unserer unserer europäischen Geschichte mit ihren unendlichen
demografischen Entwicklung, Investitionen in das Hu- Kriegen und für uns als das Land mit den meisten direk-
mankapital möglicherweise stärkere Wachstumsimpulse ten Nachbarn in Europa gar nicht hoch genug bewerten
generieren als Sachinvestitionen. kann. Wir sollten jedenfalls das politische Glück eines
vereinten Europa nicht aufs Spiel setzen, bloß weil es
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- scheinbar selbstverständlich geworden ist.
NEN]: Wie wahr!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Deshalb haben wir bei aller notwendigen Konsolidie- bei Abgeordneten der SPD)
rung unsere Ausgaben für Bildung und Forschung und
auch Integration nicht verringert, sondern verstärkt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich meine es
auch rein wirtschaftlich. Unsere Verflechtung in den in-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ternationalen Leistungsaustausch mit Exporten und Im-
porten ist höher als die aller anderen vergleichbaren
Natürlich bleibt jede Finanzpolitik eingebettet in die Länder in der Welt. An unseren Exporterfolgen hängt ein
globale Entwicklung von Weltwirtschaft und Finanz- wesentlicher Teil unserer wirtschaftlichen Leistungs-
märkten. Wir werden am Donnerstag dieser Woche die kraft, unserer Arbeitsplätze und unserer sozialen Sicher-
Beratungen über die gesetzgeberische Umsetzung der heit. Über 60 Prozent unserer Exporte gehen in andere
von den Mitgliedstaaten der Euro-Zone beschlossenen europäische Länder. Ohne eine gemeinsame Währung
Maßnahmen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der wäre unsere wirtschaftliche Lage wesentlich weniger
EFSF, der europäischen Finanzierungsfazilität, die wir gut.
(B) im vergangenen Jahr vorübergehend – bis zur Schaffung (D)
des Stabilisierungsmechanismus – geschaffen haben, Man stelle sich im Übrigen vor, wir hätten in und
aufnehmen. nach den Turbulenzen der Weltfinanz- und -wirtschafts-
krise seit 2008 keine gemeinsame europäische Währung
Deshalb will ich jetzt eher grundsätzlich in Erinne- gehabt.
rung rufen, dass wir die europäische Währung in den
90er-Jahren auf den Weg gebracht haben, weil wir die (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
erreichte wirtschaftliche Integration in Europa unum- NEN]: Schweizer Modell!)
kehrbar machen wollten und weil wir mit einer gemein- Die Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt
samen Währung große positive Impulse für die durch gewaltige Verspannungen zwischen den einzelnen
wirtschaftlichen Interessen aller Euro-Mitgliedsländer Währungen wären wesentlich größer geworden, und wir
erzielen. Man muss sich das wieder und wieder klarma- wären in der Überwindung der Krise lange nicht so weit,
chen: In einer globalisierten Welt, in der die Vertiefung wie wir heute sind.
der internationalen Arbeitsteilung die Abhängigkeit je-
der Volkswirtschaft von globalen Entwicklungen we- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
sentlich verschärft und im Übrigen den Wettbewerbs- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
druck auf alle Volkswirtschaften verstärkt, brauchen wir SES 90/DIE GRÜNEN)
eine gemeinsame europäische Währung. Herr Kollege Trittin, die Schweiz ist nun nicht dafür
Diese gemeinsame europäische Währung – das muss berühmt, sich durch ein Übermaß an Euphorie, Europa
man bei allen Sorgen ins Gedächtnis rufen – ist eine sta- beizutreten, auszuzeichnen. Wenn jetzt in der Schweiz
bile Währung geworden: Die durchschnittliche Preisstei- überlegt wird, den Schweizer Franken an den Euro anzu-
gerungsrate war seit der Einführung des Euro niedriger koppeln, dann sollte das jedem in Deutschland, der
als die durchschnittliche Preissteigerungsrate zu Zeiten glaubt, ohne den Euro hätten wir weniger Probleme, zu
der D-Mark. Der äußere Wert des Euro, also der Aus- denken geben.
tauschkurs, ist seit seiner Einführung gegenüber fast al- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
len anderen Währungen deutlich gestiegen. Auch daran und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
muss man erinnern. Der Euro war und ist eine stabile
Währung. Das Versprechen einer stabilen Währung ist Die Konstruktion einer gemeinsamen Währung, bei
nicht gebrochen, sondern eingehalten. der die Geldpolitik vergemeinschaftet und – übrigens
ganz im Sinne unseres Grundverständnisses von Geld-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) politik – einer unabhängigen Notenbank anvertraut wird,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14357
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) während die Finanz- und Haushaltspolitik sowie wesent- Schnitte zur Rückführung von Haushaltsdefiziten und (C)
liche Teile der Wirtschaftspolitik in der Zuständigkeit Staatsverschuldung unvermeidlich. Sie sind im Zweifel
der Mitgliedstaaten verbleiben, ist in der Wirtschaftsge- – das haben wir in den betreffenden Ländern gesehen –
schichte neu. Das wussten wir aber. mit schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen
verbunden. Ich habe schon bei anderer Gelegenheit in
Deswegen waren übrigens viele, vor allem in der an-
diesem Hohen Hause gesagt, dass wir davor auch Res-
gelsächsischen Welt, von Anfang an skeptisch. Wir in
pekt haben müssen. Sie sind aber unvermeidlich. Jeden-
der Bundesrepublik Deutschland wollten schon damals
falls zeigen die innenpolitischen Auseinandersetzungen
die politische Union, also vertiefte Schritte institutionel-
auch, dass das Bild von der bequemen Hängematte, die
ler Vergemeinschaftung. Das war in den 90er-Jahren
wir anderen ermöglichen würden, das in Deutschland
aber nicht zu erreichen.
zum Teil gezeichnet wird, ganz gewiss falsch ist. Wir
An dieser Stelle muss man daran erinnern, dass die sollten das nicht fortsetzen.
europäische Integration seit dem Zweiten Weltkrieg im-
mer nur Schritt um Schritt vorangekommen ist. Das war (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
schon in den 50er-Jahren nach dem Scheitern der Euro- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
päischen Verteidigungsgemeinschaft in Frankreich nicht GRÜNEN)
anders. Meistens war es so, dass die wirtschaftliche Inte- Ersparen können wir es aber nicht.
gration politische Integration nachgezogen hat. Wir sind
immer mit wirtschaftlicher Integration vorangegangen. Genauso sind strukturelle Reformen zur Verbesserung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf diesem Wege sind der wirtschaftlichen Leistungskraft und Wettbewerbsfä-
wir in Europa in diesen über 50 Jahren zu unserem higkeit unumgänglich. Man muss wissen, dass die
Glück weit vorangekommen. Globalisierung und eine gemeinsame Währung den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wettbewerbsdruck bzw. den Druck auf die Wettbewerbs-
fähigkeit jeder Volkswirtschaft dramatisch erhöhen. Das
Deshalb hat man bei der Einführung der gemeinsa- haben alle gewollt, aber dann muss man sich auch diesen
men Währung den Stabilitäts- und Wachstumspakt abge- Herausforderungen stellen. Es gibt das eine nicht ohne
schlossen. Dieser Stabilitäts- und Wachstumspakt das andere.
verpflichtet jedes Mitgliedsland zur Einhaltung von
Grenzen in der Finanz- und Haushaltspolitik, die die Sta- Schließlich müssen wir noch – das können wir sicher-
bilität einer gemeinsamen Währung erfordert. lich auch – das europäische Instrumentarium von Struk-
turhilfen und Programmen zielführender, konzentrierter
In diesem Zusammenhang muss man an Folgendes und weniger bürokratisch nutzen. All dies haben übri-
(B) erinnern: Die Ersten, die massiv gegen diese Verpflich- gens die Staats- und Regierungschefs der Länder der (D)
tung verstoßen haben, waren Deutschland und Frank- Euro-Zone am 21. Juli beschlossen.
reich im Jahr 2004.
Aber damit all dies wirken kann, brauchen die Länder
(Rainer Brüderle [FDP]: Genau! Schröder!) Zeit, bis sie sich an den Finanzmärkten wieder zu erträg-
Das war ein schwerer Fehler. Er wird uns heute bei lichen Konditionen refinanzieren können. Dafür haben
manchmal kritischen Diskussionen über andere entge- wir im vergangenen Jahr übergangsweise die privat-
gengehalten. Wir sollten diesen Fehler auch nicht ver- rechtlich konstruierte Finanzierungsfazilität, die EFSF,
drängen. geschaffen. Bis Mitte 2013 wollen wir als internationale
Finanzinstitution den ESM durch einen völkerrechtli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen und noch zu ratifizierenden Vertrag zur Verfügung
Ich füge hinzu: Nach meiner Einschätzung hat sich stellen.
der Mechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspaktes,
der grundsätzlich richtig ist, gegenüber den unglaubli- Die Instrumente des EFSF müssen wir nun erweitern,
chen Beschleunigungen in den globalen Finanzmärkten, damit wir möglichen Ansteckungsgefahren aus der
wie wir in der Krise, die durch den Zusammenbruch von Krise, insbesondere im Bankensektor, frühzeitig entge-
Lehman Brothers ausgelöst wurde, überhaupt erst richtig gentreten können.
gelernt haben, als zu langsam erwiesen. Das ist der (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Grund dafür, dass sich heute aus der Schuldenkrise eines NEN]: Ja!)
Mitgliedslandes, das nicht mehr als 2 Prozent des Brutto-
inlandsproduktes der Euro-Zone vertritt, wegen der An- Das alles geht nur Zug um Zug. Ohne energische Refor-
steckungsgefahr über die Finanzmärkte ein Problem für men in den betroffenen Ländern wäre jede Hilfe nicht
die Euro-Zone als Ganzes ergeben kann. Aus diesem zielführend. Deshalb ist verabredet und gesetzlich fest-
Grund müssen wir unsere Währung verteidigen: in unse- gelegt, dass die Einhaltung der Verabredungen durch
rem eigenen Interesse, natürlich in unser aller Interesse. IWF und EZB, also durch den Internationalen Wäh-
rungsfonds und die Europäische Zentralbank, und Euro-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
päische Kommission vierteljährlich überprüft wird. Erst
NEN]: Jetzt spricht er wieder in die eigenen
wenn diese gemeinsam bestätigen, dass die Vorausset-
Reihen!)
zungen vorliegen, kann die jeweils nächste Tranche aus-
Hilfe für Länder, die in Schwierigkeiten sind, kann gezahlt werden. Dabei gibt es keinen Entscheidungs-
immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Deshalb sind harte spielraum.
14358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) Das ist die aktuelle Situation in Griechenland, wo die agentur Standard & Poor’s in diesen Tagen erkannt. Sie (C)
Troika-Mission unterbrochen worden ist. Die Troika- hat gesagt, sie würde Euro-Bonds unter diesen Bedin-
Mission muss fortgesetzt werden und zu einem positiven gungen als Ramschpapiere einstufen. Das ist vielleicht
Abschluss kommen. Andernfalls kann die nächste Tran- übertrieben, zeigt aber die Richtung an.
che für Griechenland nicht ausgezahlt werden. Das muss
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
man in Griechenland wissen.
Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sind die Ra-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tingagenturen die Weltregierung? – Ingrid
der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Arndt-Brauer [SPD]: Das sind die neuen Bera-
Und wenn nicht?) ter! – Joachim Poß [SPD]: Sie haben schon
einmal die Griechen beraten, Standard &
Das ist so geregelt: sobald die Voraussetzungen vorlie- Poor’s!)
gen. Das ist Gegenstand vertraglicher Absprachen, und
es ist Gegenstand unserer Gesetzgebung. Das ist bin- – Nein, überhaupt nicht. Mit den Linken über Haushalts-
dend. Dafür gibt es keinen Beurteilungs- und Entschei- konsolidierung und solide Haushaltspolitik zu diskutie-
dungsspielraum. ren, ist vielleicht amüsant, aber nicht wirklich zielfüh-
rend. Das ist wahr.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir
sprechen uns wieder!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich füge gleich hinzu, Herr Kollege Steinmeier: So- Ich will mit allem Ernst hinzufügen: Wenn der Euro
lange wir keine anderen Instrumente haben, um die Ein- nicht mehr Ausdruck einer Stabilitätsgemeinschaft in
haltung der verabredeten Grenzen für nationale Finanz- Europa ist – das möge jeder bedenken –, verlieren wir
und Haushaltspolitik zu garantieren – damit sind wir nicht nur wirtschafts- und finanzpolitisch den Boden un-
nämlich beim Kern des Problems –, können und dürfen ter den Füßen, sondern werden wir auch bei der europäi-
wir das Zinsrisiko nicht vergemeinschaften. schen Integration die entscheidende Unterstützung der
Bevölkerung der Mitgliedstaaten verlieren. Die Deut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen wollen ein stabiles, handlungsfähiges Europa, aber
Denn die unterschiedlichen Zinsen sind der stärkste An- keine Schulden- und Inflationsgemeinschaft. Das wollen
reiz für Solidität. Die unterschiedlichen Zinsen sind im wir nicht.
Übrigen die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gegebenenfalls Anpassungsauflagen durchsetzen kön-
nen. Deswegen kann darauf, solange die Konstruktion Wem also Europa am Herzen liegt und wer dafür
wirbt, den Weg der europäischen Integration fortzuset-
(B) und die Architektur so sind, wie sie sind, nicht verzichtet (D)
werden. zen, der muss für Stabilität in Europa eintreten. Anders
ist das nicht zu machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Widerspruch bei der SPD) Natürlich müssen wir die jetzige Krise auf der Basis
der geltenden Verträge bewältigen; wir haben keine an-
Deswegen sage ich mit großer Klarheit: Ohne institu- deren. Das ist auch möglich. Die zum EFSF verabrede-
tionelle Veränderungen Euro-Bonds einzuführen – diese ten Maßnahmen sind dazu geeignet. Ich will aber auch
Forderung wird von der Opposition erhoben –, wäre bes- klar sagen: Für eine dauerhafte Lösung für die gemein-
tenfalls falsch verstandene Solidarität. Der Euro würde same Währung und die wirtschaftliche Integration müs-
seinen Ruf als stabile Währung verlieren. sen wir zu einer Weiterentwicklung durch institutionelle
(Johannes Kahrs [SPD]: Was reden Sie da für Reformen kommen. Wir müssen in Europa voranschrei-
einen Unsinn?) ten – oder wir werden zurückfallen.

– Herr Kollege, bevor Sie mir unterstellen, dass ich Un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sinn rede, geben Sie mir die Chance, Ihnen das noch ein- der FDP)
mal zu erklären. Ich habe die Ansteckungsgefahr im Finanzsektor er-
wähnt. Ich will die Gelegenheit nutzen, hinzuzufügen,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP –
dass wir die Berechnungen des Internationalen Wäh-
Zuruf von der SPD: Da sind wir mal ge-
spannt!) rungsfonds über den angeblichen Rekapitalisierungsbe-
darf der europäischen Banken für überzogen halten. Wir
Weil wir die Finanz- und Haushaltspolitik nicht ver- werden darüber am Wochenende im Kreis der G-7-Fi-
gemeinschaftet haben, aber eine gemeinsame Währung nanzminister in Marseille sprechen können und sprechen
haben, brauchen wir Anreizsysteme; denn wir haben müssen. Das hat eine große Bedeutung für die Märkte.
noch keine Automatismen und keine institutionellen Vo- Der IWF hat bei seinen Berechnungen offensichtlich die
raussetzungen, die die Mitgliedsländer dazu veranlassen seit 2009 vorgenommenen Abschreibungen ebenso we-
– notfalls durch Anpassungsauflagen –, die Regeln ge- nig berücksichtigt wie die bestehenden Absicherungsge-
meinsamer Finanzpolitik einzuhalten, ohne die der Euro schäfte. Es besteht die Gefahr, dass die in dem Report
nicht stabil ist. Wenn wir diese Anreizsysteme beseiti- über die globale Finanzstabilität veröffentlichte Gesamt-
gen, indem wir das Zinsrisiko vergemeinschaften, wird zahl von 397 Milliarden Dollar von der Öffentlichkeit
der Euro blitzschnell das Vertrauen verlieren und nicht als Rekapitalisierungsbedarf der europäischen Banken
mehr als stabile Währung betrachtet. Das hat die Rating- insgesamt verstanden wird. Das ist für den Markt unge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14359
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) heuer gefährlich. Dabei ist völlig klar, dass das kein Ka- Denn an der Frage der Fähigkeit, aus Fehlern und Irrtü- (C)
pitalfehlbedarf ist, weil ein Großteil der Forderungen mern zu lernen, entscheidet sich letztlich die Überlegen-
nicht in den Handelsbüchern der betroffenen Banken ist, heit freiheitlicher Ordnung.
sondern bis zur Endfälligkeit in den Anlagebüchern ge-
halten wird. Das heißt: Die Zahlen des IWF sind teils (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Jawohl!)
falsch, teils missverständlich. Wir müssen dem entge- Manchmal scheint es mir, als ob in den Weltfinanz-
gentreten, damit die falschen Zahlen keine Auswirkun- märkten bezweifelt werde, ob unsere westlichen Demokra-
gen auf die Finanzmärkte haben, die wir im Augenblick tien insgesamt noch in der Lage seien, die notwendigen
leider beklagen müssen. strukturellen Entscheidungen schnell genug zustande zu
bringen, um mit der beschleunigten Entwicklung der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Globalisierung Schritt zu halten. Ich will auch darüber
Wir werden im Übrigen bei den Beratungen der G-7- mit meinen Kollegen in Marseille sprechen. Im Zusam-
Finanzminister am Wochenende darlegen, dass wir mit menhang mit unserer Fähigkeit, in aufregend schnellen
der Erweiterung des EFSF-Instrumentariums gut vorbe- Veränderungen Stabilität, Zukunftsvertrauen, soziale
reitet sind. Gut vorbereitet sind vor allen Dingen wir in Fairness und Nachhaltigkeit zu gewährleisten, steht
Deutschland – liebe Kolleginnen und Kollegen, das füge mehr als nur unsere Wirtschaftsordnung auf dem Spiel.
ich hinzu – mit unserem Restrukturierungsgesetz. Wir Deshalb müssen wir übrigens auf der Beteiligung der
sind damals im Vorgriff auf eine europäische Regelung Privatgläubiger im Falle von Restrukturierungsmaßnah-
zur Bankenrestrukturierung national vorangegangen. men bestehen, auch wenn es nicht allen Marktteilneh-
Hoffentlich kommt eine solche Regelung bald zustande, mern gefällt. Aber für die politische Legitimation ist dies
damit wir bei einer nächsten Krise nicht in die Lage ge- unerlässlich, und wir werden darauf bestehen.
raten, in der wir 2008 gemeinsam, Herr Kollege (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Steinbrück, gewesen sind. Wir haben ja die Lehren da- bei Abgeordneten der SPD)
raus gezogen.
Märkte brauchen Grenzen und Regeln, und deshalb dür-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ach so?) fen wir den notwendigen Strukturentscheidungen auch
nicht durch den scheinbar bequemen Ausweg in höhere
Wir sind übrigens auch beim Verbot ungedeckter Verschuldungen oder Inflation ausweichen.
Leerverkäufe im vergangenen Jahr national, im Allein-
gang, vorangegangen. Wir haben dafür eine Menge Kri- Wir sind ganz offensichtlich in einem schwierigen
tik bekommen, insbesondere von Ländern, die ein sol- Fahrwasser der Entwicklung der Weltwirtschaft und der
ches Verbot mittlerweile ebenfalls eingeführt haben. Finanzmärkte. Die Handlungsspielräume sind – um es
(B) Dies bringt mich zu der Bemerkung, dass nicht immer noch einmal zu sagen – wegen überzogener Verschul- (D)
der Langsamste das Tempo bestimmen darf, wenn wir dung in den meisten Industrieländern nicht mehr groß.
die Lehren aus der Finanz- und Bankenkrise rechtzeitig Das belegen übrigens gerade die Berichte – auch die des
ziehen wollen. IWF selbst –, in deren Empfehlungen die weitere Redu-
zierung der Defizite für zwingend notwendig erklärt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wird und in denen anschließend defizitfinanzierte Kon-
Joachim Poß [SPD]: Das ist richtig! – Jürgen junkturprogramme gefordert werden. Das ist ein biss-
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das chen in sich widersprüchlich, zeigt aber in Wahrheit nur,
sagen Sie mal der Kanzlerin!) wie gering die Handlungsspielräume geworden sind.
Es ist in diesem Sinne viel erreicht worden; aber das Wir brauchen also Strukturwandel und Stabilität, und
Momentum, aus den Erfahrungen der Krise zu lernen, wir brauchen neues Vertrauen. Deshalb muss Deutsch-
darf nicht verloren gehen. Wir müssen insbesondere die land Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive in
alternativen Marktteilnehmer – das ist ein Schwerpunkt Europa bleiben. Die Bundesregierung ist entschlossen,
der kommenden Arbeiten – stärker in den Regulierungen sich dieser Aufgabe zu stellen. Solidität und Nachhaltig-
erfassen. Wir müssen bei allen strukturierten Produkten keit sind die Grundlage für Vertrauen, und der Haushalt
Transparenz auch durch zentrale Gegenparteien schaf- 2012 leistet dazu seinen Beitrag.
fen, und wir dürfen uns bei diesen Bemühungen nicht zu
schnell von angeblichen Standortinteressen behindern (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
lassen. der FDP)

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Präsident Dr. Norbert Lammert:
DIE GRÜNEN)
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich im Zu-
Es zeigt sich gerade bei der Finanzregulierung gele- sammenhang mit dem weiteren Ablauf der Haushaltsbe-
gentlich, dass der Einfluss von grundsätzlich legitimer ratungen dieser Woche darauf hinweisen, dass Einver-
Interessenvertretung angesichts der Kompliziertheit der nehmen unter den Fraktionen darüber hergestellt worden
Materie die notwendige Reformbereitschaft in Parla- ist, dass wir die Beratungen morgen früh mit dem Etat
menten häufig eher schwächt als stärkt. Aber wir müssen des Auswärtigen Amtes beginnen und anschließend
die Lehren aus der Krise entschlossen ziehen. – voraussichtlich ab etwa 10.30 Uhr – den Etat des
Kanzleramtes aufrufen. Da jetzt vermutlich eine etwas
(Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!) höhere Zahl von Kolleginnen und Kollegen für die Über-
14360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) mittlung dieser Nachricht erreicht wird, als es heute am gekommen. Diese hehren Weisheiten sind nicht prakti- (C)
späten Nachmittag, am Ende des ersten Debattentages ziert worden, weil es hier die Röslers und die anderen
der Fall sein könnte, ist es, glaube ich, klug, das an die- von der FDP und auch einige vom Wirtschaftsflügel der
ser Stelle ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Union gab, die das alles nicht wollten. Das ist die Wahr-
heit, meine Damen und Herren.
Nun eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kol-
legen Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Deswegen bräuchten wir jetzt eine Regierung, die
wirklich führt, und eine Koalition, die gestaltet.
Joachim Poß (SPD): Schwarz-Gelb hat diesen Anspruch in den letzten zwei
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letz- Jahren hoffnungslos verspielt.
ten Wochen und Monate haben immer deutlicher gezeigt (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: So
– auch der gestrige Abend im Übrigen –: Wir haben eine ein Unsinn!)
Schönwetterregierung, die nicht krisenfest ist. Das ist die
Realität in der Bundesrepublik Deutschland. Ja, noch schlimmer: Diese Regierung und diese Ko-
alition verschärfen durch ihr Verhalten – siehe gestrige
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das Probeabstimmung in den Koalitionsfraktionen zum Ret-
wünscht ihr euch! – Norbert Barthle [CDU/ tungsschirm – die Probleme. Sie zeigen, dass sie in
CSU]: Wie kommt ihr denn darauf?) schwierigster Lage – wir befinden uns, wie wir wissen,
Herr Schäuble, Sie sind der intelligenteste Schönred- in einer sehr schwierigen Lage; wir brauchen nur die
ner dieser Schönwetterregierung, Medien zu verfolgen –

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

der, bei aller Intelligenz, aber auch mit Gedächtnislü- nicht handlungsfähig sind, weil die eigenen Abgeordne-
cken ausgestattet ist; ten – das wird von Frau Merkel bevorzugt versucht –
nicht überzeugt werden, sondern sie das Gefühl haben,
(Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie mal dass Wackelkurs und Taktik vorherrschen. So kann man
zur Sache!) die eigenen Abgeordneten nicht überzeugen.
denn natürlich war der Einwand von Herrn Steinbrück (Beifall bei der SPD)
berechtigt. Geplant war in der Großen Koalition, bevor
die Krise kam, eine Neuverschuldung in 2010 von 6 Mil- Der heute eingebrachte Haushalt ist nichts, wofür sich
die Regierung in besonderer Weise rühmen sollte. Er ist
(B) liarden Euro. Daraus wurden dann aufgrund der Krise (D)
86 Milliarden Euro. Ihre Darstellung hierzu war tenden- einerseits ein typischer Schönwetterhaushalt, der von ei-
ziös. ner günstigen wirtschaftlichen Entwicklung profitiert.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Unfug!)
(Beifall bei der SPD)
Andererseits schreibt er die soziale Schieflage Ihrer Poli-
Es wurde hier subkutan irgendjemandem etwas in die
tik fort und vergrößert die Probleme und Defizite auf
Schuhe geschoben.
dem Arbeitsmarkt, die auch im aktuellen Aufschwung
Auch Ihre Darstellung der Revision des Stabilitäts- nicht verschwunden sind. Nur wer die Augen vor der
und Wachstumspaktes in 2005 ist – im Übrigen hat die Realität verschließt, kann zu dem Schluss kommen, die
Bundeskanzlerin etwas Ähnliches gemacht – immer wie- Probleme des gespaltenen Arbeitsmarktes seien ver-
der Legendenbildung; denn unsere Schuldenbremse schwunden.
– Herr Schäuble hat es lediglich angedeutet – ist der Lo-
(Beifall bei der SPD)
gik dieser Revision angepasst. Ohne diese Änderung in
2005 hätten wir in der Großen Koalition außerdem die Herr Schäuble, auch wir hoffen, dass 2012 die Steu-
Krisenpakete im Umfang von 80 Milliarden Euro gar ern so sprudeln werden, wie Sie es annehmen.
nicht schultern können. Das ist die Wahrheit und nicht
(Otto Fricke [FDP]: Weil ihr es ausgeben
die Legenden, die von Ihnen hier kommen.
wollt!)
(Beifall bei der SPD)
Auch wir hoffen, dass die Beschäftigung im nächsten
An den wenigen Beispielen zeigt sich, dass Sie, wenn Jahr in dem Maße weiter ansteigen wird, wie Sie es für
Sie in der Ecke sind – und Sie sind in der Ecke –, nur Ihr Rechenwerk voraussetzen. Dann dürfen allerdings,
noch mit billigen Ausreden und Ausflüchten klarkom- wenn Sie ehrlich an die Sache herangehen wollen, die
men, und das reicht nicht als Anspruch für eine Regie- existierenden Risiken für die wirtschaftliche Entwick-
rung. lung in Europa und in der Welt, die wir alle kennen, auf
absehbare Zeit nicht eintreffen. Bei Ihrer Finanzplanung
Die hehren Weisheiten und Absichten, die Herr
tun Sie so, als gäbe es diese Risiken gar nicht. Das gibt
Schäuble in vielen seiner Reden hier verkündet, möchte
es doch nun wirklich nicht!
man ja manchmal beklatschen. – Bei der Finanzmarkt-
regulierung gibt es ein positives Beispiel; das betrifft die Auch wenn der eingeplante Rückgang der Neuver-
Leerverkäufe. Diesbezüglich habe ich ihn immer unter- schuldung in Ihren Reihen als großer Konsolidierungs-
stützt. – Das alles ist aber letztlich nicht von der Stelle erfolg gefeiert wird: In einer Aufschwungsituation sinkt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14361
Joachim Poß
(A) die öffentliche Neuverschuldung wie von selbst. Deswe- rechner und Schönredner, weil Sie damit nicht die (C)
gen sprechen ja auch einige Abgeordnete der Koalition Realität abbilden.
davon, dass das Ganze nicht ehrgeizig genug ist. Im Ver-
lauf der weiteren Haushaltsberatungen werden wir ja se- Das Ganze garnieren Sie noch mit globalen Minder-
hen, wie weit Ihr Ehrgeiz gehen wird, ob er so weit geht, ausgaben in Höhe von 4,8 Milliarden Euro pro Jahr, die
dass es, wie wir es Ihnen vorschlagen werden, dazu durch nichts belegt sind, um die Kreditaufnahme auf
kommt, dass Sie schließlich doch die Schuldenbremse in diese Art und Weise herunterzurechnen. Sie verzichten
ehrlicher Art einhalten. Das werden wir dann sehen, auch darauf, das zu machen, was in einem sozialen
meine Damen und Herren. Staatswesen selbstverständlich sein sollte: Sie verzichten
darauf, Spitzenverdiener und Vermögende stärker zur
(Beifall bei der SPD) Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen. Mit
welcher Begründung eigentlich? Wollen Sie den sozia-
Eine soziale Gestaltung des Haushaltes wird dadurch len Ausgleich in unserer Gesellschaft nicht?
im Übrigen nicht verhindert. Aus dem Finanzkonzept
der SPD ergibt sich zum Beispiel, dass man konsolidie- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Herr Poß, jetzt
ren und trotzdem Zukunftsinvestitionen finanzieren ist aber gut!)
kann. Für den sozialen Ausgleich in unserem Land wäre
es besser, wenn Sie wenigstens einige der Sozialkürzun- Das ist doch die Basis unseres Zusammenlebens und Zu-
gen rückgängig machen würden, die Sie gegen unseren sammenwirkens. Darüber hinaus ignorieren Sie offen-
Willen durchgedrückt haben. In der Tat ist es so: Der von kundig auch die wachsende gesellschaftliche Spaltung,
Schwarz-Gelb vorgesehene Kahlschlag bei den Arbeits- die mit Händen zu greifen ist. Der Kern der Vorschläge
marktmitteln, der ja schon in diesem Jahr spürbar ist, der Sozialdemokratie ist, dieser Spaltung in unserer Ge-
vergrößert, wie ich von Kolleginnen und Kollegen höre, sellschaft entgegenzuwirken. Das kann man, wenn man
auch in prosperierenden Regionen denn will, solidarisch und gerecht finanzieren, und
gleichzeitig kann man konsolidieren.
(Iris Gleicke [SPD]: Richtig!)
(Beifall bei der SPD)
und nicht nur in strukturschwachen Regionen die Spal-
tung des Arbeitsmarktes. Reden Sie doch mit Vertretern Was ist denn, wenn eintritt, was wir alle nicht wollen,
der Caritas oder anderer Organisationen, die damit zu wenn die bereits zu beobachtende Verunsicherung der
tun haben! So bekommen Sie mit, was wirklich in der Konsumenten und Investoren weitergeht, wenn es viel-
Welt los ist. leicht zu einer weiteren Zuspitzung der Finanzkrise
kommt? Spätestens dann sind Ihre Rechnungen nichts
(Beifall bei der SPD) mehr wert.
(B) (D)
Sie verfestigen mit dieser Politik die Langzeitarbeits- Sie haben sich hier Ihrer Finanzmarktüberlegungen
losigkeit in unserem Land. und -politik gerühmt, Herr Schäuble und Frau Merkel. In
der Praxis aber scheitern Sie beide doch hier. Da wird
(Iris Gleicke [SPD]: Leider wahr!) eine Verabredung über die Einführung einer Finanz-
Sie sorgen dafür, dass die angesichts des Fachkräfteman- markttransaktionsteuer zwischen Merkel und Sarkozy
gels notwendigen Qualifizierungen nicht stattfinden getroffen. Gott sei Dank zumindest das, kann man da nur
können. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik. Sie sorgen sagen; denn das ist ein wichtiges Instrument, nicht nur
auch dafür, dass viele junge Menschen in ihrem Leben mit Blick auf die Finanzierung zum Beispiel der Krisen-
nicht die Chancen bekommen, die sie mit entsprechen- kosten, sondern auch, um die Dynamik, die zu den Tur-
der Förderung bekommen würden. Hier versagen Sie, bulenzen führt, aus den Märkten zu nehmen. Aber was
trotz der momentan günstigen Ausgangssituation. geschieht? Der Koalitionspartner FDP stellt sich mit
dem Stoppschild hin und sagt: Das geht nicht! Die Euro-
(Beifall bei der SPD) Zone reicht nicht aus! – Wer auf Großbritannien warten
Es dürfte also in diesem Bereich nicht so gesenkt und will, der vergackeiert die Bevölkerung. Das weiß jeder,
gestrichen werden, wie Sie das vorhaben. Dass man so und das machen Sie in der Praxis.
etwas in einem moderaten Maße vorsieht, ist selbstver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
ständlich, wenn sich Erfolge auf dem Arbeitsmarkt ein- Dr. Volker Wissing [FDP]: Was hat denn die
stellen, SPD jahrelang gemacht? Hat die SPD immer
(Otto Fricke [FDP]: Aha!) auf Großbritannien gewartet, oder was?)

aber doch nicht in dem Maße, wie Sie das betreiben. Das ist unehrlich, und dadurch werden die Glaubwür-
digkeit und die Autorität von Frau Merkel in einem
Sie unterstellen, wie gesagt, dass es konjunkturell bis wichtigen Punkt untergraben. Frau Merkel ist offenkun-
2015 so weitergeht wie zurzeit, und Sie unterstellen da- dig nicht in der Lage, das in der Koalition durchzuset-
mit, dass wir sechs Jahre lang ununterbrochen ein star- zen. Herr Schäuble sagt ausdrücklich, er sei für die Ein-
kes und stetiges Wachstum haben würden. Das wider- führung dieser Steuer innerhalb der Euro-Zone. Das
spricht jeder Erfahrung. Dafür sind, wie wir alle wissen, heißt, Frau Merkel sind die Dinge entglitten. Es geht
die Risiken zu groß. Diese positive Wachstumserwar- auch schon lange um ihre persönliche Reputation. Wenn
tung stellt ja das Zentrum Ihres Rechenwerkes dar. Da- sie das nicht versteht, wird sie in die Geschichtsbücher
mit sind Sie auch wieder nichts anderes als ein Schön- lediglich als eine Kanzlerin eingehen, die sich, koste es,
14362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Joachim Poß
(A) was es wolle, zwei Legislaturperioden an der Macht ge- Lieber Herr Kollege Poß, was haben Sie am Ende Ih- (C)
halten, darüber aber jeglichen politischen Kompass ver- rer Regierungszeit in Deutschland abgeliefert? Über
loren hat. 5 Millionen Arbeitslose. Heute liegen wir bei unter
3 Millionen.
(Beifall bei der SPD)
(Joachim Poß [SPD]: Welche Regierungszeit
Präsident Dr. Norbert Lammert: meinen Sie denn? Meinen Sie die Große Ko-
alition, Herr Kollege Meister? Waren Sie al-
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister lein in der Großen Koalition?)
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sie sind dafür verantwortlich, dass die Langzeitarbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- losigkeit in Deutschland trotz all Ihrer Programme, die
neten der FDP) Sie so sehr loben, permanent gestiegen ist. Obwohl
Deutschland es endlich geschafft hat, die strukturelle Ar-
Dr. Michael Meister (CDU/CSU): beitslosigkeit zu überwinden, und wir einen Beschäfti-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gungsstand haben, der zu den höchsten in der Geschichte
Herren! Wir befinden uns seit vier Jahren in der größten dieser Republik gehört,
Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir seit Ende des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zweiten Weltkriegs erlebt haben. Bisher ist die Bundes-
republik Deutschland durch diese Finanz- und Wirt- legt die SPD am gestrigen Tag ein Programm vor, wel-
schaftskrise besser durchgekommen als die meisten an- ches bewirken wird, dass Menschen vermehrt in Arbeits-
deren Industrienationen dieser Welt. Wir sind durch losigkeit kommen, dass sie in Arbeitslosigkeit sozusagen
diese Krise gestärkt worden, weil wir unsere Strukturen eingesperrt werden und nicht mehr herauskommen. Als
verbessert haben. Das ist eine Leistung der Regierung Angebot formulieren Sie, dass Sie den Menschen mit
Angela Merkel. Deshalb werden wir diese Regierung Programmen und Betreuung helfen wollen. Die Men-
und diesen Kurs nachhaltig unterstützen. schen wollen aber keine Programme und Betreuung, die
Menschen wollen arbeiten. Diese Koalition steht für Ar-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beit. Sie aber stehen für Arbeitslosigkeit.
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
Wir haben ein Wachstum von über 3 Prozent im ver- chen bei der SPD – Klaus Brandner [SPD]:
gangenen Jahr und von rund 3 Prozent in diesem Jahr zu Das ist simpel!)
verzeichnen. Natürlich muss man feststellen, dass wir
(B) gegenwärtig eine gewisse Abschwächung erleben. Ich Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen. Angesichts (D)
glaube, dass diese Abschwächung sogar gut ist. Denn der Staatsschuldenkrise reicht es nicht, im In- und Aus-
wir haben gesehen, wie gefährlich Blasenentwicklungen land große Reden zu halten. Es wird genau auf die Bun-
auf den internationalen Märkten sind. Deshalb sollten desrepublik Deutschland geschaut und registriert, wie
wir Übertreibungen hier vermeiden. wir selbst uns verhalten, wie wir in unseren Kommunen
und Ländern und im Deutschen Bundestag die Haushalte
Neben dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklung führen.
gibt es allerdings auch Risiken. Mit Blick darauf müssen
wir aus meiner Sicht zwei Grundlinien einhalten, was (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist ein
wir in den vergangenen vier Jahren auch getan haben: Drama!)
Erstens sollten wir nicht die Kontrolle über die Ent- Wo standen wir denn in den Jahren 2001 bis 2003?
wicklung auf den Märkten verlieren. Sie haben den Maastricht-Vertrag gebrochen. Anstatt an-
schließend zu sagen, dass jetzt konsolidiert werden
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) müsse, haben Sie Ihren Finanzminister im Auftrag des
Wir haben bei der Bankenrettung nie den Fehler ge- Kanzlers nach Brüssel geschickt und gesagt: Jetzt müs-
macht, eine systemrelevante Bank in die Insolvenz ge- sen der Vertrag und die Regeln aufgeweicht werden. –
hen zu lassen. Genauso müssen wir jetzt Kurs halten. Mit dem Aufweichen des Maastricht-Vertrages haben
Wir dürfen nicht die Kontrolle über die Abläufe verlie- Sie dafür gesorgt, dass wir in der heutigen Staatsschul-
ren, weil wir ansonsten nur noch Teil des Spiels, aber denkrise stecken.
kein bestimmender Spieler mehr sind. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Zweitens brauchen wir, damit Fehlentwicklungen Schröder, Eichel und Poß sind die Verantwortlichen für
durch staatliche Überschuldung und zu heftiges Spiel an diese Krise.
den Finanzmärkten vermieden werden, eine klare Per-
spektive in Bezug auf einen neuen Ordnungsrahmen am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ende der Krise, in dem das Ganze geordnet geregelt Sie haben damit die Glaubwürdigkeit der Bundes-
werden kann und nicht mehr durch einzelne Hilfsaktio- republik Deutschland, die wichtig ist, um in dieser
nen. Dies hat diese Koalition zum 1. Januar 2011 im Staatsschuldenkrise ernst genommen zu werden, aufs
Finanzsektor mit dem Restrukturierungsgesetz geschafft. Spiel gesetzt.
Dies müssen wir auch im Hinblick auf Staatsinsolvenzen
in Europa und in der Welt erreichen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aha!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14363
Dr. Michael Meister
(A) Wenn wir heute nach Athen, Lissabon und Dublin fah- Das hatte mit verantwortlicher und besserer Regulierung (C)
ren, wird uns gesagt: Ihr wart es doch, die die Verträge nichts zu tun. Dies war ein Beitrag dazu, dass wir heute
verletzt und nicht eingehalten haben. – Deshalb sage ich diese Probleme haben.
eines: Durch unsere nationale Haushaltspolitik müssen
wir klarmachen, dass wir für Glaubwürdigkeit stehen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
was den Maastricht-Vertrag und die Bekämpfung der neten der FDP)
Schulden betrifft. Wir werden unsere Konsolidierungs- Ich bin der Meinung: Wir haben in Deutschland an
verantwortung nicht nur national, sondern auch interna- verschiedenen Stellen Vorlagen geliefert – ich habe vor-
tional wahrnehmen. hin schon das Restrukturierungsgesetz angesprochen –,
um im Bankensektor für geordnete Verfahren zu sorgen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Ich will darüber hinaus die Debatte zu Basel III an-
sprechen. Wir brauchen mehr Eigenkapital in den Finanz-
Wir müssen uns einmal anschauen, wo denn die Wur- instituten. Wir haben auch eine Entscheidung in Bezug
zeln der heutigen Krise liegen. Der erste Punkt ist, dass auf die ungedeckten Leerverkäufe getroffen – ich danke
Staaten ihre Haushalte nicht im Griff hatten und sich Herrn Kollegen Poß, der das unterstützt hat –, obgleich
überschuldet haben. Ich bin schon der Meinung, dass wir wir hier zunächst einmal einen nationalen Alleingang
da entgegenwirken müssen, indem wir eine Kultur unternommen haben. Darin werden wir mittlerweile be-
schaffen, die aus dieser ständigen Überschuldung he- stätigt. Denn nicht nur wir allein, sondern auch andere
rausführt. Deshalb war es richtig, dass wir in der vergan- haben erkannt, dass dieses spekulative Instrument durch
genen Wahlperiode gemeinsam die Schuldenbremse in Regulierung ausgeschaltet werden muss.
die Verfassung geschrieben haben. Ich stimme dem
Finanzminister zu: Jetzt kommt der Test auf unsere Jetzt aber tragen Sie die Finanzmarkttransaktionsteuer
Glaubwürdigkeit. als Monstranz vor sich her, um all das zu entschuldigen,
was Sie falsch gemacht haben. Unser Problem ist doch
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja eben!) nicht, dass wir uns erst darauf verständigen müssen. Wir
Die Schuldenbremse darf nicht nur in der Verfassung wollen sie. Wir haben klar und deutlich erklärt, dass wir
stehen, sondern sie muss auch eingehalten werden. sie wollen.

(Joachim Poß [SPD]: Das machen Sie ja (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die FDP
nicht!) will sie doch gerade nicht!)

– Herr Poß, Sie machen es nicht. Sie kommen aus Nord- Die Finanzmarkttransaktionsteuer soll aber auch zu einer
(B) rhein-Westfalen. Ihre Ministerpräsidentin Kraft unter- besseren Regulierung beitragen. Das heißt, dass wir sie (D)
nimmt alles, um diese Verfassungsregel zu brechen. möglichst breit in der Welt durchsetzen müssen. Nur so
kann eine vernünftige Wirkung entfaltet werden. Dafür
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kämpft die Bundesregierung. Dafür hat sie auch die
Widerspruch bei der SPD) volle Unterstützung dieser Koalition.
Das ist der Fehler. Sagen Sie Ihrer Regierungschefin in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Düsseldorf, dass auch im Land Nordrhein-Westfalen
diese Regelung eingehalten werden muss! Noch ein Wort zur Staatsschuldenkrise: Wir müssen
nicht beschwören, dass wir für Europa sind. Denn ich
Ein zweiter Punkt. Wir haben in der Finanzkrise ge- hoffe, dass daran niemand Zweifel hat. Wir sind für
lernt – schauen Sie sich einmal das Beispiel Irland an –, Europa und wissen, was uns Europa in den vergangenen
dass nicht nur die überbordende Verschuldung, sondern Jahrzehnten im Hinblick auf Frieden und Freiheit ge-
auch eine nicht hinreichende Regulierung der Finanz- bracht hat. Das bezieht sich auch auf die Finanzkrise. Ich
märkte ein Problem darstellt. An dieser Stelle sage ich: stimme der Einschätzung, dass für uns die Finanzkrise
Wir brauchen eine bessere Regulierung im Sinne der so- ohne den Euro wesentlich schwieriger zu bewältigen ge-
zialen Marktwirtschaft. wesen wäre, ausdrücklich zu.
(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] Nun geht es aber um die Frage, wie wir Europa ge-
[SPD]) stalten. Gestalten wir ein Europa der Verantwortung, wo
diejenigen, die Entscheidungen treffen, auch die Verant-
Wir brauchen Wettbewerbspolitik mit besserer Regulie- wortung für deren Folgen tragen? Oder gestalten wir ein
rung, um für künftige Krisen Vorkehrungen zu treffen. Europa der Verantwortungslosigkeit, wo die einen ent-
(Klaus Hagemann [SPD]: Dann machen Sie scheiden und alle anderen die Folgen dafür tragen müs-
mal!) sen? Ich bin der Meinung, dass eine gemeinsame Wäh-
rungspolitik auf Dauer nur mithilfe einer gemeinsamen
– Jetzt rufen Sie dazwischen: „Machen Sie mal!“ Finanzpolitik funktionieren kann. Solange wir diese
Schauen Sie sich einmal an, wie in dem Jahrzehnt, in nicht haben, benötigen wir unterschiedliche Zinssätze
dem Sie die Verantwortung für die deutsche Finanzpoli- und unterschiedliche Pönale für die jeweiligen nationa-
tik getragen haben, die Finanzmärkte reguliert – genauer len Finanzpolitiken.
gesagt: dereguliert – worden sind.
Ihr Vorschlag hinsichtlich der Euro-Bonds ist in An-
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist es!) betracht der derzeitigen Krise keine Lösung. Sie würden
14364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Michael Meister


(A) nur dazu führen, dass denjenigen Verantwortung wegge- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ach ja? (C)
nommen wird, von denen sie eingefordert werden muss. Wo denn? Da bin ich aber gespannt!)
Die Euro-Bonds würden die Krise nicht abschwächen,
Das ist doch die Kunst einer vernünftigen Haushaltspoli-
sondern sie verschärfen. Deshalb dürfen wir in dieser
tik.
Krise diesen Irrweg nicht gehen.
Sie sagen nun, wir würden kritisieren, was Herr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schäuble vorgelegt hat. Nein, wir sind der Meinung: Die
Was die Konsolidierung des Haushalts angeht, gehen Haushaltsvorlage ist eine gute Haushaltsvorlage. Als
wir, glaube ich, einen vernünftigen Weg. Wir haben Haushälter und Parlamentarier haben wir aber einen ge-
nicht einfach nur Sparorgien auf den Weg gebracht, son- wissen Ehrgeiz: Auch etwas Gutes kann noch besser
dern auch gesagt: Wir kombinieren im Haushalt in klu- werden.
ger Weise Einsparungen struktureller Art mit Wachstums- In diesem Sinne werden wir jetzt die Parlamentsde-
anreizen. Ein weiterer Beitrag ist die Verbesserung der batte führen. Das haben wir in den vergangenen Jahren
Strukturen in unserem Land, die zwar nicht direkt mit geschafft, und das werden wir auch diesmal schaffen.
dem Haushalt verbunden sind, die aber strukturell zu Sie sollten in den Beratungen nicht den Anspruch be-
Anreizen für mehr Wachstum führen. Ein solcher Bei- streiten, noch besser werden zu wollen; vielmehr sollten
trag ist zum Beispiel das, was ich vorhin im Zusammen- Sie überlegen, welchen Beitrag Sie an dieser Stelle leis-
hang mit der Schuldenbremse angesprochen habe. Das ten können.
kostet im ersten Moment kein Geld; es bringt auch kein
Geld. Es trägt aber zur Entwicklung besserer Wachstums- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim
aussichten bei. Poß [SPD]: Ich habe nur zitiert!)
Es gelingt mittlerweile sogar, in Europa einen Werbe- Ich habe gerade darüber gesprochen, wie wir zu den
feldzug für die Schuldenbremse durchzuführen. Die besseren Strukturen gekommen sind. An dieser Stelle
Spanier haben sie bereits umgesetzt. In Portugal und nenne ich das Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
Frankreich wird eine Debatte darüber geführt. Das ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der richtige Weg. Den müssen wir fördern. Ich ziehe den der FDP – Zurufe von der SPD)
Hut vor den Kollegen in diesen Ländern. Wir haben uns
eine ganze Wahlperiode Zeit genommen, um dieses Das haben wir vor zwei Jahren diskutiert, und zwar strei-
Thema zu diskutieren. In Spanien wurde sie in nur weni- tig.
gen Tagen umgesetzt. Das ist eine tolle Leistung, die wir
(Joachim Poß [SPD]: Das ist peinlich!)
entsprechend anerkennen und unterstützen sollten.
(B) Damals haben Sie gegen die Kinder in der Bundesrepu- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie blik Deutschland gestimmt. Der Kinderfreibetrag und
bei Abgeordneten der SPD) das Kindergeld wurden erhöht. Sie haben gegen die Fa-
Herr Poß, ich verstehe nicht, warum Sie sich darüber milien und gegen die Unternehmen in Deutschland ge-
aufgeregt haben, dass darauf hingewiesen wurde, dass stimmt.
der damalige Finanzminister Peer Steinbrück vor zwei (Zurufe von der SPD)
Jahren in der Finanzkrise einen Haushalt mit einer Net-
tokreditaufnahme von rund 86 Milliarden Euro vorgelegt Sie haben am Ende auch nicht zulassen wollen, dass Be-
hat. Das ist eine Tatsachenfeststellung. Darüber gibt es zieher kleinerer Einkommen mehr von ihrem Lohn in
keinen Streit. Das kann man im damaligen Kabinettsbe- der Tasche haben.
schluss nachlesen. Genauso richtig ist es, dass wir jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
für 2012 einen Entwurf mit einer Nettokreditaufnahme
von rund 27 Milliarden Euro vorlegen. Das heißt zu- Das muss einmal klar und deutlich gesagt werden. Dafür
nächst einmal, dass wir es geschafft haben, binnen zwei tragen Sie als Opposition die Verantwortung, weil Sie
Jahren die notwendige Nettokreditaufnahme um 60 Mil- mit Nein gestimmt haben. Wir haben gezeigt, dass die
liarden Euro zu reduzieren. von uns getroffenen Maßnahmen tatsächlich dazu ge-
führt haben, dass wir nicht einfach nur Geld ausgeben,
(Zuruf von der FDP: Starke Leistung!) sondern dass wir damit in diesem Land auf Dauer struk-
Man kann sagen, dass es zum Teil an der Konjunktur turelles Wachstum organisieren und somit Vorteile erzie-
liegt; das ist richtig. Darüber freuen wir uns aber. Wir len. Deshalb sollten wir diesen Weg der strukturellen
freuen uns über eine starke Konjunktur in Deutschland. Konsolidierung weitergehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ich möchte abschließend noch eine Bemerkung zum
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Thema Steuern machen: Wenn man die Zeit von 1998
GRÜNEN]: Das ist doch nicht Ihr Verdienst!) bis 2005 betrachtet, stellt man fest, dass Sie im Bereich
der Steuervereinfachung nichts getan haben. Wir haben
Zum Teil liegt es aber auch an der Struktur. Darüber eine sehr angespannte Haushaltslage. Deshalb haben wir
freuen wir uns auch. Der entscheidende Punkt ist, dass uns in der Koalition entschieden, eine Vorlage zum
wir uns nicht auf der guten konjunkturellen Entwicklung Thema Steuervereinfachung zu machen. Und siehe da,
ausruhen. Wir treffen Vorsorge für die Zeit, in der die der Deutsche Bundestag hat entsprechend dieser Vorlage
konjunkturelle Entwicklung einmal nicht mehr so gut ist. beschlossen. Aber Sie behindern im Bundesrat über die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14365
Dr. Michael Meister
(A) Länder, in denen Sie Verantwortung tragen, eine Steuer- auf über 335 Milliarden Euro, wie die Bundesbank be- (C)
vereinfachung für die Menschen in Deutschland. rechnet hat. Das ist mehr als dieser Bundeshaushalt; das
muss man sich einmal vorstellen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren von der FDP, in der Ver-
Dabei geht es nicht um Geld, sondern es geht um weni- gangenheit haben Sie immer gerne behauptet, dass die
ger Pflichten und Auflagen für die Steuerbürger in Beschäftigten das erste halbe Jahr für den Staat und erst
Deutschland. Leisten Sie Ihren Beitrag, damit es den das zweite halbe Jahr für sich arbeiten würden. Jetzt füh-
Menschen in Deutschland besser geht! ren Sie eine Situation herbei, in der die Steuerzahlerin-
Vielen Dank, meine Damen und Herren. nen und Steuerzahler in der zweiten Jahreshälfte für not-
leidende Banken arbeiten sollen. Ich glaube, das werden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich die Menschen in diesem Lande nicht mehr lange ge-
fallen lassen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gesine Lötzsch ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke. Allein die Nervosität an den Börsen reicht der Bun-
desregierung aus, um über Nacht Milliardenentscheidun-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner gen zu treffen. Die Ratingagenturen würden von Politik
[Berlin] [FDP]: Jetzt kommen die Liebesgrüße auf Ramschniveau sprechen. Aber die zunehmende Ner-
aus Havanna!) vosität der Menschen scheint diese Bundesregierung
nicht weiter zu stören. Ich finde, das Parlament darf sich
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): niemals den Zeittakt von den Finanzmärkten vorgeben
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten lassen.
Damen und Herren! Ich muss Ihnen sagen: Dieser Haus- (Beifall bei der LINKEN)
haltsentwurf kommt mir vor wie ein antiker Torso. Es
fehlen Arme, Beine und der Kopf; nur der Rumpf ist da. Jeder Börsenspekulant kann mit einem Mausklick in
Niemand in diesem Haus weiß, was die Bundesregie- Bruchteilen von Sekunden über Milliarden von Euro ent-
scheiden. Herr Finanzminister, wenn Sie – wie in den
rung in den nächsten Wochen alles heimlich an diesen
vergangenen Tagen – von uns verlangen, dass wir uns an
Torso anfügen wird. Niemand weiß, welche Banken,
die Geschwindigkeit von Börsenspekulanten anpassen,
welche Kasinos über Schattenhaushalte und Rettungs-
dann fordern Sie, Herr Schäuble, im Klartext nicht mehr
schirme abgesichert werden sollen. So ist keine seriöse und nicht weniger als die Aushebelung der Demokratie.
Beratung möglich. Das lassen wir uns nicht bieten.
(B) (Beifall bei der LINKEN) (D)
(Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle
Unsere Haushaltsberatungen sollen den demokrati- [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)
schen Schein wahren; doch eigentlich ist die Bundes- Herr Schäuble, ich möchte der vorhin hier von Ihnen
regierung dabei, die wichtigste demokratische Institu- ausgeführten These, die Bundesregierung habe nach der
tion, die wir in diesem Lande haben, nämlich den Finanzkrise 2008 die richtigen Schlussfolgerungen gezo-
Deutschen Bundestag, auszuhebeln. gen, grundsätzlich widersprechen. Hätten Sie nämlich
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, dann sähe die
Welt heute ganz anders aus. Wir, die Linke, hatten da-
Der Bundestag ist immerhin von 44 Millionen Men- mals vorgeschlagen, die Finanzmärkte wirksam zu be-
schen gewählt worden. Die Börsen und Ratingagenturen steuern, Steueroasen auszutrocknen, gefährliche Finanz-
hingegen sind von niemandem gewählt worden. Hier instrumente zu verbieten, Hedgefonds zu regulieren und
sind die Verhältnisse auf den Kopf gestellt worden. Das die Verursacher der Krise wirksam zur Verantwortung zu
muss wieder geändert werden. ziehen. All das haben Sie nicht getan.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
In den vergangenen Tagen haben Sie, Herr Schäuble, Drei Jahre hatten Sie, Herr Schäuble, und Frau
den Bundestag mehrfach davor gewarnt, zu viel Mitspra- Merkel Zeit, diese Aufgaben zu erfüllen, doch nichts ist
cherecht einfordern zu wollen. Das würde Entschei- passiert. Weil Sie nichts getan haben, rollt nun bereits
dungsprozesse verlangsamen und schnelles Reagieren die nächste Finanzkrise auf uns zu. Wieder wird von den
auf die Finanzmärkte unmöglich machen. Ich finde, das gleichen Leuten argumentiert, dass wir erst einmal ganz
ist eine unglaubliche Warnung an dieses Parlament und schnell Rettungsschirme für Banken aufspannen müss-
zeigt, dass die Bundesregierung jede Achtung vor dem ten und erst nach der Krise die Finanzmärkte regulieren
Bundestag verloren hat. Das sollten wir uns als Parla- könnten. Das ist ein fauler Trick; denen kann wirklich
mentarier nicht bieten lassen. niemand mehr glauben. Es muss immer einen Zusam-
menhang geben: Man kann Euro-Rettungsmaßnahmen
(Beifall bei der LINKEN) nur dann beschließen, wenn gleichzeitig erstens die
Finanzmärkte wirksam reguliert werden und zweitens
Zunehmend wird die Bundesregierung von den Men- die Verursacher der Krise endlich kräftig zur Kasse ge-
schen nur noch als Steuereintreiberin für die Banken und beten werden.
Spekulanten wahrgenommen. Erinnern wir uns: Allein
die Kosten der letzten Finanzkrise belaufen sich bis jetzt (Beifall bei der LINKEN)
14366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Herr Schäuble, Sie haben hier Ihre Freude über Steu- dern den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, was (C)
ermehreinnahmen zum Ausdruck gebracht. Das ist Ihr ich heute noch einmal bekräftigen will. Dazu sagen uns
gutes Recht, aber nicht Ihr Verdienst. Denn die Export- die anderen Parteien gerne: Das ist doch ein alter Hut.
erfolge sind vor allem Ergebnis der umfangreichen Kon- Der Abzug ist so gut wie beschlossen. – Schauen wir uns
junkturprogramme, die in China und den USA aufgelegt aber das Zahlenwerk an, dann bekommt man einen ganz
wurden. Sie von der Bundesregierung sind bei diesen Er- anderen Eindruck: Im Haushaltsjahr 2010 waren
folgen also nur Trittbrettfahrer und nicht Verursacher. 831 Millionen Euro für Auslandseinsätze der Bundes-
wehr eingeplant. Für das Jahr 2012 plant die Bundes-
(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/ regierung wesentlich mehr Mittel ein, nämlich mehr als
CSU]: Oh, Gott! Sie sind weit entfernt!) 1 Milliarde Euro. Wenn Sie wirklich aus Afghanistan ab-
Frau Merkel, Herr Schäuble, Sie hätten sich wirkliche ziehen wollen, dann frage ich Sie, warum Sie jedes Jahr
Verdienste erwerben können, wenn Sie endlich mit Steu- mehr für Auslandseinsätze ausgeben. Das soll mir ein-
ererhöhungen für Millionäre die Lücke zwischen Armen mal jemand erklären. Ich kann das nicht hinnehmen.
und Reichen in unserem Land wenigstens etwas ge- (Beifall bei der LINKEN – Andreas Mattfeldt
schlossen hätten. Sie hätten sich Verdienste erwerben [CDU/CSU]: Zum Schutz der Soldaten! Das
können, wenn Sie endlich mit einem gesetzlichen Min- sind Schutzmaßnahmen!)
destlohn wenigstens für etwas mehr Gerechtigkeit in un-
serer Gesellschaft gesorgt hätten. Ich höre den Zwischenruf: zum Schutz der Soldaten. –
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Der beste Schutz der deut-
(Beifall bei der LINKEN) schen Soldatinnen und Soldaten wäre es, ihr Leben nicht
Durch Steuermehreinnahmen, durch eine Millionär- mehr aufs Spiel zu setzen, sie nicht mehr zu verheizen,
steuer, aber auch durch Mindestlöhne hätten alle Kür- sondern sie endlich in die Bundesrepublik zurückzuho-
zungspakete, die auf dem Rücken der Armen in dieser len.
Gesellschaft beschlossen wurden, überflüssig gemacht (Beifall bei der LINKEN)
werden können. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie endlich
die unsozialen Kürzungspakete zurück! Bitten Sie die Dann würden zwar etwas weniger Spenden der Rüs-
Millionäre in diesem Land zur Kasse! tungsindustrie in Ihre Parteikassen fließen, aber das wäre
der weitaus humanere Ansatz.
(Beifall bei der LINKEN)
Am Wochenende konnten wir im Spiegel lesen, dass
Die Haushaltspraxis der Bundesregierung zeigt, dass einige Kollegen von SPD und Grünen Zweifel äußern,
Politik nicht mehr gewählt, sondern von Lobbyisten be- ob ihre Entscheidung damals richtig war. Es war eher so
(B) stellt werden kann. Herr Kollege Poß von der SPD hat zu verstehen, als hätten sie erkannt, dass es eine falsche (D)
schon über die Mövenpick-Steuer gesprochen. Schauen Entscheidung war. Aber wenn man erkannt hat, dass et-
wir uns einmal an, was die Lobbyisten sonst noch alles was falsch ist, dann muss man es auch ändern.
erreicht haben: Die Finanzmarktlobby hat bis heute die
Finanztransaktionsteuer verhindert. Im ursprünglichen (Beifall bei der LINKEN)
Haushaltsentwurf standen bereits Einnahmen in Höhe
von 2 Milliarden Euro aus dieser Steuer. Sie, Herr Abschließend ein Wort zu Frau von der Leyen. Frau
Schäuble, mussten diese Einnahmen herausstreichen, von der Leyen ist unsere neue Expertin zum Thema
weil eine europäische Einigung zur Finanzmarktsteuer Euro-Rettung. Dabei vergisst sie allerdings die Arbeit,
nicht möglich war. für die sie vom Bundespräsidenten vereidigt wurde. Frau
von der Leyen, Sie könnten etwas tun, um zunehmende
Sie haben in Ihrer Rede aber selbst darauf verwiesen: Altersarmut zu verhindern, sie könnten etwas tun, um
Mit dem Verbot von Leerverkäufen im Jahr 2010 haben die Ausdehnung des Niedriglohnsektors zu verhindern,
Sie gezeigt, dass Deutschland allein Maßstäbe setzen sie könnten etwas für Langzeitarbeitslose und deren Kin-
kann; andere Länder sind dann gefolgt. Vorhin haben Sie der tun. Aber auf allen diesen Gebieten sind Sie geschei-
wieder beschworen, man müsse das endlich auf europäi- tert, und deshalb suchen Sie anscheinend schon wieder
scher Ebene regeln. Ich bin aber der festen Auffassung: nach einer neuen Aufgabe. Besonders deutlich wird das
Wenn die Bundesregierung entschlossen mit gutem Bei- Scheitern am Beispiel der Bildungsgutscheine. Das ist
spiel vorangehen würde, dann würden auch die anderen ein bürokratisches Monster. Über Wochen haben Sie uns
Länder mitziehen. Herr Schäuble, Sie werden sich doch hier ein Schauspiel vorgeführt. Das Geld kommt bei den
nicht von der FDP aufhalten lassen! Menschen, die es brauchen, aber nicht an. Selbst Ihre
Parteifreundin aus Bayern, Frau Haderthauer, sagt – ich
(Beifall bei der LINKEN) darf mit Erlaubnis des Präsidenten kurz zitieren –:
Ich nenne Ihnen weitere Beispiele: Die Atomlobby Man könnte fast meinen, dass die Ausgestaltung
muss 1 Milliarde Euro weniger Kernbrennstoffsteuer bewusst so kompliziert ist, weil man ja einiges
zahlen. Die Militär- und Rüstungslobby verhindert die spart, wenn das nicht viele in Anspruch nehmen.
Kürzung von Rüstungsprojekten.
Frau von der Leyen, ich schlage Ihnen vor: Konzentrie-
Erinnern wir uns an die letzten Haushaltsberatungen. ren Sie sich auf Ihre Arbeit, und verwirren Sie uns nicht
Eigentlich sollte im Rahmen der Bundeswehrreform durch Ihre zusätzlichen Vorschläge zur Euro-Rettung!
1 Milliarde Euro eingespart werden. Darüber ist im vor-
liegenden Haushalt nichts zu lesen. Wir als Linke for- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14367
Dr. Gesine Lötzsch
(A) Europäische Sozialpolitik stellen wir uns anders vor. zahlen sind auf einem niedrigen Niveau, und wir haben (C)
Wir wollen in Europa Gerechtigkeit in der Steuerpolitik, ein hohes Wirtschaftswachstum. Wenn Sie in Ihrer Re-
der Lohnpolitik und der Sozialpolitik. Die Politik muss gierungszeit nur ein einziges Mal solche Zahlen gehabt
endlich wieder im Interesse der europäischen Völker ge- hätten, wären Sie froh gewesen. Wir wissen zwar, dass
staltet werden und nicht im Interesse einer Handvoll weitere Arbeit auf uns zukommt, bei der entscheidenden
Spekulanten. Herr Schäuble, legen Sie endlich alle Kar- Zahl sind wir aber bereits weit unter dem, was Sie erwar-
ten auf den Tisch, damit wir nicht über einen Haushalts- ten haben.
torso, sondern über die wirklichen Fakten ernsthaft dis-
kutieren können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vielen Dank. Die Erregung von Herrn Steinbrück, der leider nicht
mehr anwesend ist, habe ich nicht verstanden. Das waren
(Beifall bei der LINKEN) 86 Milliarden Euro.
(Joachim Poß [SPD]: Das bestreitet doch
Präsident Dr. Norbert Lammert: keiner!)
Nun erhält das Wort der Kollege Dr. Otto Fricke für
die FDP-Fraktion. Es kommt aber noch viel besser. Herr Steinbrück hatte ja
auch eine Idee, wie man die Neuverschuldung verrin-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gern könnte. Das damals angesetzte Wirtschaftswachs-
der CDU/CSU) tum entsprach ungefähr dem, das wir heute ansetzen,
Herr Poß.
Otto Fricke (FDP):
(Joachim Poß [SPD]: Das lief ja auch gut,
Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
2007 und 2008!)
men und Herren! Frau Kollegin Lötzsch, zur Ihrer Rede:
Es wäre wohl besser, bei einem Glas Cuba Libre darüber – Ja, das lief gut, Herr Poß. Soll ich Ihnen einmal sagen,
nachzudenken, was man so sagt. was Herr Steinbrück für das Jahr 2012 an Neuverschul-
dung vorgesehen hat?
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN –
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nee, nee!)
kommen Sie denn her?)
– Lieber nicht, nicht wahr? 57 Milliarden Euro hatten
Wenn man sich den Haushalt genau anschaut, dann stellt Sie für dieses Jahr geplant. Wir liegen 50 Prozent darun-
man fest, dass es dabei nicht um irgendwelche Ver- ter.
(B) schwörungstheorien geht – weder von Links noch von (D)
Halblinks noch von Grün –, sondern: Das sind die Fak- (Joachim Poß [SPD]: Das war die Große
ten. Koalition!)

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: In zwei Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer
Jahren seid ihr weg!) Haushaltspolitik, der sich in den tatsächlichen Zahlen
niederschlägt.
Viele Bundesbürger waren in den letzten Monaten
zum Glück im Urlaub, auch deswegen, weil sie einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Arbeitsplatz haben und sich das leisten konnten. Wenn Herr Poß, nehmen wir den nächsten Punkt einmal
man sich im Ausland mit den Menschen vor Ort unter- auseinander, Ihre ewige Litanei, das sei unsozial. Der
hält und nach dem Urlaub mit den Vertretern der Opposi- Herrgott erhalte mir mein Vorurteil! Die Frage, wie so-
tion, dann fragt man sich: Waren die von der Opposition zial oder unsozial ein Haushalt ist, können Sie – das wis-
die ganze Zeit im Ausland, oder haben sie verfolgt, was sen Sie – an einer Zahl festmachen, an der Sozialquote.
im Inland passiert? Ganz Europa fragt uns: Wie habt ihr
das gemacht? Wie habt ihr das mit der Wirtschaft hinbe- (Joachim Poß [SPD]: Diese Ignoranz!)
kommen, und wie schafft ihr es gleichzeitig, eine ver- – Herr Poß, hören Sie mir einfach zu. Ich habe Ihnen
nünftige Haushaltspolitik zu machen? eben auch zugehört. – In diesem Jahr beträgt die Sozial-
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Aber Sie quote unter dieser Bundesregierung 52 Prozent. Im
wissen das nicht! Mit der FDP hat das nichts nächsten Jahr wird sie 51 Prozent betragen. Am Ende
zu tun, Herr Fricke!) von Rot-Grün lag sie bei 42 Prozent. Erzählen Sie uns
nichts über soziale Verantwortung. Wir nehmen sie im
Die Opposition hingegen zeichnet ein Bild von einer Rahmen der Haushaltspolitik wahr. Wir wissen, was zu
Welt, die gar nicht existiert. tun ist.
Ich kann nur eines in Richtung Opposition sagen: Versu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chen Sie, sich von Ihrem Wunschdenken zu trennen, und
versuchen Sie, die Zahlen und Fakten anzuerkennen. Dann kommt der nächste Punkt, der wunderschön ist:
Die Investitionen in Deutschland seien nicht hoch ge-
Wie sind die Zahlen und Fakten? Die Zahl der Ausbil- nug. Herr Poß, die SPD sollte sich endlich von ihrem al-
dungsplätze ist zweistellig angestiegen, die Zahl der ten Investitionsbild trennen.
Erwerbstätigen steigt, die Zahl der sozialversicherungs-
pflichtig Erwerbstätigen ist gestiegen, die Arbeitslosen- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aha!)
14368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Otto Fricke
(A) Die prozentuale Investitionsquote ist heute höher als in (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (C)
den meisten Jahren unter Rot-Grün, sogar höher als in CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist
den meisten Jahren unter der Großen Koalition. Sie ha- konjunkturell!)
ben ein altes Bild von Investitionen. Sie meinen Investi-
tionen in Beton, vielleicht auch in Betonköpfe. Man – Das ist konjunkturell bedingt? 60 Milliarden Euro sind
muss aber klar sagen – Stichwort „Schuldenbremse“ –: für Sie konjunkturell?
Investitionen in einer modernen Gesellschaft sind Inves- (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist eine
titionen in Bildung und Forschung, also in Köpfe. Milchmädchenrechnung!)
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, zum Beispiel bei Ich kann Ihnen sagen, was Ihr Problem ist – das zeigt
der Bundesagentur für Arbeit!) sich auch jetzt wieder –: Sie hängen dem Irrglauben an
– Herr Schneider wird das gleich wieder erklären –, dass
– Wir wollen, anders als Sie, nicht mehr Köpfe bei der
man die Haushalte dadurch saniert, dass man den Leuten
Bundesagentur. – Welche Etatansätze wurden erhöht?
tiefer in die Tasche greift, weil man dadurch mehr Geld
Wir wollen mehr Köpfe in Schulen, in Universitäten, in
zur Verfügung hat.
Lehrberufen, an all diesen Stellen. Das ist es, was eine
moderne Investitionspolitik ausmacht, die Sie nicht wol- (Joachim Poß [SPD]: Welchen Leuten?)
len. Unsere Investitionspolitik zielt in die richtige Rich-
tung, weil sie die Überlebensfähigkeit unserer Gesell- Sie können ja einmal den Kollegen Steinbrück fragen,
schaft in der globalisierten Welt sichert. Sie können das was passiert ist, als die Steuereinnahmen in den Jahren
schlicht nicht. 2006, 2007 und 2008 erheblich gestiegen sind. Man
könnte sagen, in diesen Jahren hätten Sie das viel besser
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gemacht. Nein, Sie haben jedes Jahr die Ausgaben um
10 Milliarden Euro hochgefahren. Das ist Ihr wesentli-
Die Haushaltsdisziplin ist Markenkern dieser Koali- ches Problem. Sie behaupten, dass wir nur mehr Geld
tion. Ich merke, dass es Sie frustriert, dass wir die Neu- einnehmen müssen und dann sparen. Ich sage Ihnen, wie
verschuldung jedes Jahr, Schritt für Schritt, verringern. das laufen wird – wir werden das den Rest der Woche er-
Wir sind dabei aber sehr vorsichtig. Dafür möchte ich leben –: Es wird mehr Geld eingenommen, und Ihre
mich ausdrücklich bei den Haushältern der CDU/CSU- Ausgabenpolitiker fordern, dass da und dort mehr Geld
Fraktion bedanken. In jeder Debatte sagen Sie von der ausgegeben wird. Sie können nicht sparen. Deswegen
Opposition: Das schafft ihr nicht. Am Ende eines jeden führt Ihre Politik am Ende immer zu einem Defizit. Das
Jahres müssen Sie aber feststellen, dass wir noch viel werden wir bei Ihnen stetig und ständig vorfinden.
(B) besser gewesen sind, als wir vorausgesagt und Sie be- (D)
fürchtet haben. Der Kollege Meister hat dies im Zusammenhang mit
NRW angesprochen. Ich muss ehrlich sagen: Manchmal
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sind Sie schäme ich mich dafür, dass der dortige Finanzminister
ein toller Hecht! Super!) auf das gleiche Gymnasium gegangen ist wie ich. Wie
gesagt, wohl bei anderen Mathematiklehrern.
Das ist auch in diesem Jahr der Fall, und das wird auch
beim Haushalt 2012 so sein. Darauf können Sie sich ver- (Zurufe von der SPD)
lassen.
Leute, ich muss ehrlicherweise sagen: In einem Land,
Ich will noch eine Sache klarmachen, weil sie der das es erst 2020 schafft, dorthin zu kommen, wo der
Kern sozialdemokratischer, aber – das wird klar, wenn Bund bereits 2014 sein wird, stimmt doch etwas nicht,
man sich die Steuervorschläge der Grünen anschaut – wenn man berücksichtigt, dass die Steuereinnahmen
auch grüner Politik ist: Sie meinen, Konsolidierung geht gleich sind.
über die Einnahmen.
Da denkt man, die Grünen machen das besser. Gratu-
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE lation, die Grünen haben einen Ministerpräsidenten. Das
GRÜNEN]: Das muss uns gerade der Fricke ist wunderbar.
erzählen!)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Wir haben nachgerechnet, was in den elf bzw. zehn Jah- Kein Neid!)
ren – das erste Jahr will ich nicht hinzurechnen – sozial-
demokratischer Regierungspolitik auf der Ausgabenseite – Nein, kein Neid. Ich erkenne es an, wenn ein demokra-
passiert ist: Die Ausgaben sind in diesen zehn Jahren um tischer Beschluss dazu gekommen ist. – Was aber ma-
chen Sie jetzt? Sind Sie die großen Sparer? Was macht
60 Milliarden Euro gestiegen. Was hat diese Koalition in
Baden-Württemberg? Was sagt der Ministerpräsident?
zwei Jahren erreicht? Sie hat die Neuverschuldung um
Er sagt: Na ja, wir könnten es eigentlich schon 2012 oder
60 Milliarden Euro gesenkt.
2013 schaffen, die Neuverschuldung auf null zu setzen.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Was aber wird unter der Federführung der Grünen ange-
NEN]: Das ist aber nicht Ihr Verdienst!) kündigt? Wir machen das 2020, dann, wenn die Verfas-
sung dies verlangt. Das ist der Unterschied zwischen
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer grüner und roter Haushaltspolitik und unserer Haushalts-
Haushaltspolitik. politik.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14369
Otto Fricke
(A) (Beifall bei der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ tun dies mehr als jeder andere in der Koalition, die diese (C)
DIE GRÜNEN) Regierung trägt.
In den Beratungen werden wir zeigen, dass dies noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ein Stückchen besser geht. Sie werden in den Beratun- Wir haben hier einen klaren Kurs. Herr Bundesfinanz-
gen wieder sagen, der Haushalt sei nicht stabil. In jedem minister, das wissen Sie sicher am besten. Ich glaube,
Einzelplan aber werden Sie hier und dort noch mehr deshalb haben Sie einen Großteil Ihrer Rede an die eige-
Geld fordern. Hier werden wir Sie stellen. Wir freuen nen Reihen gerichtet; denn an uns kann dies eigentlich
uns auf die weiteren Verhandlungen. nicht adressiert gewesen sein.
Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
So ist es!)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Meister, Sie sprechen hier immer von der Ein-
haltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Wissen
Priska Hinz hat nun das Wort für die Fraktion Bünd-
Sie, wer zurzeit einen besseren Mechanismus zur Ein-
nis 90/Die Grünen.
haltung der Defizitkriterien und auch eine bessere wirt-
schaftliche Koordinierung blockiert? – Das ist Ihre
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundeskanzlerin mit dem Präsidenten Sarkorzy. Sie blo-
NEN): ckieren das weitere Fortkommen einer europäischen In-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man tegration. Darüber sollten Sie einmal in Ihren eigenen
dem Bundesfinanzminister folgen will, dann müssten Reihen reden, statt uns gegenüber so zu argumentieren.
sich die Sorge um die wirtschaftliche Entwicklung, die
Da Ihre Europapolitik so zögerlich ist, wird natürlich
Bekundung der notwendigen strukturellen Anpassungen
auch die Haushaltspolitik überhaupt nicht gut gemacht.
und die Risikovorsorge irgendwie im Bundeshaushalt
Sie ruhen sich auf guter Konjunktur aus, statt den Haus-
2012 oder im Finanzplan wiederfinden. Wenn man sich
halt strukturell zu verändern und auf eine solide Grund-
aber beide genau anschaut, dann sieht man: Nichts da-
lage zu stellen, damit Sie Unwägbarkeiten abfedern kön-
von ist dort vorhanden.
nen, wenn es notwendig ist. Wir sind der Meinung, die
Es gibt zum Beispiel das Risiko der Neuverschul- Bundesregierung und die Koalition müssten sich viel
dung, die im kommenden Haushalt in einer Höhe von stärker um eine echte Konsolidierung bemühen. Bislang
27,2 Milliarden Euro geplant ist. Im Finanzplanungszeit- ist die Senkung der Neuverschuldung nur zu einem
(B) raum bis 2015 sind neue Schulden in Höhe von Fünftel strukturell und zu vier Fünfteln konjunkturell be- (D)
85,5 Milliarden Euro vorgesehen. Bei dem aktuell histo- dingt. Das heißt, Sie ruhen sich permanent auf guter
risch niedrigen Zinsniveau bedeutet jede Milliarde Neu- Konjunktur aus. Das wird nicht gut gehen.
verschuldung mehr eine Zinsbelastung von 16 Millionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Euro im Jahr. Schon durch die kleinste Zinserhöhung um sowie bei Abgeordneten der SPD)
0,1 Prozent erhöht sich die gesamte Zinslast um mehr als
1 Milliarde Euro. Wir wissen, dass die jetzige Situation Das kann man auch am sogenannten Sparpaket der
bei den Staatsanleihen nicht so bleiben wird. Dafür ha- Regierung vom letzten Jahr sehen. Da finden wir Luft-
ben Sie keine Vorsorge in Ihrem Finanzplan getroffen. buchungen wie die Bahndividende; linke Tasche, rechte
Tasche. Der Abbau von Mitnahmeeffekten für Unterneh-
Das zweite Risiko Ihrer Haushaltsplanung ist die men bei Energiesteuervergünstigungen wurde ja schon
wirtschaftliche Entwicklung. Sie rechnen mit einem ste- im Gesetzgebungsverfahren entscheidend abge-
tigen Wachstum von 1,5 Prozent, obwohl dies schon schwächt. Die Einnahmen aus der Brennelementesteuer
jetzt mit einem Fragezeichen zu versehen ist. Bereits im kann man sich fast abschminken; diese Einnahmen hätte
zweiten Quartal hatten wir eine deutliche Abflachung es auch ohne die Abschaltung der AKW so nicht gege-
der Konjunktur. Wir wissen immer noch nicht, ob die ben. Wo ist die versprochene Dividende aus der Reform
wirtschaftliche Entwicklung in den USA nicht auch der Bundeswehr? Das ist die größte Luftbuchung im
Konsequenzen für den Euro-Raum haben wird. Wir wis- Haushalt, die ich bislang gesehen habe.
sen nicht, wie es mit der Euro-Krise insgesamt weiter-
geht. Auch hier haben Sie keine Vorsorge getroffen. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rechnen mit einem Wachstum von 1,5 Prozent. Wenn sowie bei Abgeordneten der SPD)
dieses Wachstum irgendwie einbricht, dann stehen Sie Nur beim Sozialabbau haben Sie die Ankündigungen
da. Dann können Sie diesen Finanzplan so nicht erfüllen. aus dem Sparpaket umgesetzt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Oh ja! Es
hätte uns überrascht, wenn dazu nichts gekom-
Das dritte Risiko sind die möglichen Belastungen des
men wäre!)
Haushalts durch die Euro-Krise. Sie haben die zusätzli-
chen Zinszahlungen, die wir für den ESM haben werden, Die Starken schonen, die Schwachen belasten – das
eingerechnet; das ist richtig. Für weitere Risiken ist prägt bislang Ihre Haushaltspolitik. Damit erhöhen Sie
keine Vorsorge getroffen. Verstehen Sie mich nicht die soziale Verschuldung. Damit senken Sie nicht struk-
falsch: Die Grünen stehen zu den Rettungsschirmen. Sie turell die Neuverschuldung. Damit werden Sie auch auf
14370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Priska Hinz (Herborn)


(A) Dauer nicht die Schuldenbremse einhalten; denn mit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Reform im Bereich des Arbeitsmarktes drehen Sie die sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Spirale weiter. Sie verhindern, dass die Langzeitarbeits- KEN – Christian Lindner [FDP]: Ach was! Sie
losen besser qualifiziert und wieder eingegliedert wer- wollen doch Steuererhöhungen! Ihre Steuerer-
den können. Aufgrund der besseren Konjunktur wäre es höhungen heißen Euro-Bonds, und die sollen
jetzt notwendig, die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit die Deutschen für die Griechen zahlen!)
in den Griff zu bekommen. Hier versagen Sie kläglich.
Die gleiche irre Diskussion führt die Koalition jetzt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch im Hinblick auf die Finanztransaktionsteuer, anstatt
sowie bei Abgeordneten der SPD) sie durchzusetzen. Der Bundesfinanzminister ist generell
für eine Finanztransaktionsteuer; das finden wir gut. Er
Zusätzlich zu dieser Rotstiftpolitik belasten Sie die kann sie aber noch nicht einführen. Die Kanzlerin will
Bundesagentur für Arbeit auch stark durch das Ergebnis sie in ganz Europa, notfalls in der Euro-Zone. Die FDP
des Vermittlungsausschusses. Wir sind dafür, dass die will sie gar nicht und erst recht nicht in der Euro-Zone.
Grundsicherung im Alter vom Bund übernommen wird, Wenn sich eine Koalition im Hinblick auf ein neues
aber wir halten nichts davon, dass die BA dafür bluten finanzpolitisches Instrument und die Finanzmarktregu-
muss. Denn wenn die Konjunktur schwächelt, braucht lierung so verhält, dann muss es schiefgehen. Das zeigt
die BA einen Puffer, um zum Beispiel Maßnahmen wie aber den Zustand dieser Koalition.
das Kurzarbeitergeld – dies hat gewirkt – finanzieren zu
können. Sie ruhen sich zurzeit auf guter Konjunktur aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aber die Politik, die Sie jetzt machen, wird die Bedin- und bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]:
gungen strukturell verschlechtern und nicht verbessern; Wie war das denn unter Rot-Grün mit der
dies gilt sowohl für den Arbeitsmarkt als auch für künf- Finanztransaktionsteuer, Frau Kollegin?)
tige Krisen. Meine Damen und Herren, anstatt den Haushalt struk-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN turell zu verändern, ökologisch schädliche Subventionen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- abzubauen und dadurch nicht nur zu sparen, sondern
KEN) auch zu konsolidieren, damit wir den ökologischen Um-
bau der Wirtschaft hinbekommen, die Atomwende durch
Wir führen diese Debatte angesichts einer tiefen Krise eine Energiewende ersetzen, soziale Teilhabe in
im europäischen Währungsraum. Wir müssen uns be- Deutschland gewährleisten, bessere Innovationen auf
wusst sein, dass wir als größte Volkswirtschaft in Europa den Weg bringen und die Verschuldung in den Griff be-
eine wesentliche Verantwortung tragen. In vielen Län- kommen können, streiten Sie weiterhin in Ihren eigenen
(B) dern Europas müssen jetzt harte Austeritätsprogramme Reihen. (D)
aufgelegt werden. Die Kanzlerin erwartet, dass überall
Schuldenbremsen eingeführt werden. Wie verhält sich (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ach was! Da
Deutschland – bei uns gibt es schließlich eine Schulden- bleiben wir ganz gelassen!)
bremse –, zumindest wenn es nach den Schwarz-Gelben Diese Herausforderungen sind anscheinend zu groß für
geht? Man leistet sich abwegige Debatten über Steuer- Sie. Ich kann nur sagen: Wir nehmen diese anspruchs-
senkungen. volle Aufgabe an Ihrer statt gerne an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke schön.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein Blick in das Grundgesetz genügt. Mit einer Steuer- sowie bei Abgeordneten der SPD)
senkung würden Sie gegen den Geist der Schulden-
bremse verstoßen;
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Florian Toncar [FDP]: Wo steht denn das?) Für die Unionsfraktion hat der Kollege Barthle das
Wort.
denn Steuersenkungen haben strukturelle Belastungen
und keine Entlastungen zur Folge.
Norbert Barthle (CDU/CSU):
(Florian Toncar [FDP]: Können Sie einmal Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
sagen, wo ich das finde?) Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Hinz, da Sie
Wissen Sie, meine Damen und Herren von der FDP gerade wiederholt die Einführung einer Finanztrans-
– in Ihrem Zustand ist Ihnen sowieso schon fast nicht aktionsteuer eingefordert und den Bundesfinanzminister
mehr zu helfen –, und die Bundeskanzlerin dazu aufgefordert haben, soll-
ten Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass beide
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) weder im Kreis der G 20 noch auf europäischer Ebene
Richtlinienkompetenz haben.
in der Bundesrepublik Deutschland gibt es zunehmend
eine Debatte über Steuergerechtigkeit, über die Frage, (Lachen der Abg. Priska Hinz [Herborn]
wie man Vermögende an der Finanzierung der Infra- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jürgen
struktur und der Gemeingüter in Deutschland beteiligen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar
kann, und Sie predigen immer noch Steuersenkungen. keine Kompetenz! – Dr. Frank-Walter
Da kann man nichts mehr von Ihnen halten. Steinmeier [SPD]: Auch nicht im Kabinett!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14371
Norbert Barthle
(A) Sie sollten ihnen nicht absprechen, dass sie alles getan Zunächst geht es darum, Wohlstand und Wachstum ins- (C)
haben, um diese Steuer durchzusetzen. Aber die anderen gesamt zu steigern; denn nur das, was erwirtschaftet
Länder müssen mitmachen. Auch das sollte man in den wurde, kann verteilt werden. Wir müssen uns immer
Reihen der Opposition zur Kenntnis nehmen. wieder vor Augen führen: Nur das, was erwirtschaftet
wird, kann verteilt werden. In diesem Satz steckt eine
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ganz einfache Weisheit, aber er ist ein ganz wesentlicher
NEN]: Es würde ja reichen, wenn sie im Kabi- Leitgedanke nicht nur für uns auf nationaler Ebene, son-
nett die Richtlinienkompetenz hätten!) dern auch für den gesamten Euro-Raum und die Be-
Da meine Vorredner, insbesondere der Bundesfinanz- kämpfung der Schuldenkrise in diesem Bereich.
minister, die Daten und Fakten im Hinblick auf den Stabilität ist unser Leitgedanke. Zur Stabilität gehört
Haushalt schon hinlänglich dargelegt haben, will ich Solidität. Wir brauchen das belastbare Fundament einer
mich eher auf die Grundüberlegungen, mit denen wir in nachhaltigen öffentlichen Finanzpolitik als Vorausset-
die weiteren Beratungen gehen, konzentrieren. Die Fest- zung für eine stabile und dynamische Wirtschaft. Diese
stellung, dass wir uns bei diesen Beratungen derzeit in Handlungsmaxime war schon immer der Markenkern
unruhigem Fahrwasser befinden, ist sicherlich richtig. christlich-liberaler Haushalts- und Finanzpolitik. Dabei
Die vergangenen Jahre waren von der globalen Finanz- bleiben wir auch.
und Wirtschaftskrise, die ein erhebliches Ausmaß hatte,
überschattet. Deutschland steht heute wirtschaftlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zwar besser da, als je erwartet, aber überwunden ist diese Lassen Sie mich den Blick ein kleines Stück zurück-
Krise noch nicht. Das zeigen die aktuellen Spannungen werfen. Die unionsgeführte Große Koalition war vor
auf den Finanzmärkten ganz deutlich. dem Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2008 so weit,
(Bettina Hagedorn [SPD]: Nur der Haushalt zu sagen: Bereits 2011 erreichen wir einen ausgegliche-
zeigt es nicht!) nen Haushalt. Nach der damaligen Planung wäre es in
diesem Jahr so weit gewesen. Aber die Finanz- und
Hinzu kommt – der Finanzminister hat darauf hinge- Wirtschaftskrise kam dazwischen und hat diesen Plan
wiesen – eine Staatsschuldenkrise gerade in den wirt- durchkreuzt. Wir mussten Neuverschuldungen in vorher
schaftlichen Kraftzentren dieser Welt – USA, Japan, ungeahnter Höhe in Kauf nehmen. Die Steinbrück-
Europa –, die eigentlich dafür zuständig sind, Wachstum Schulden in Höhe von 86 Milliarden Euro sind bereits
zu generieren. Gott sei Dank steht unsere Verschuldung angesprochen worden.
nicht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Im
Gegenteil, deutsche Staatsanleihen besitzen auf den Das Resultat: Der bisherige Negativrekord bei der
Nettoneuverschuldung aus den 90er-Jahren wurde im
(B) Finanzmärkten höchstes Ansehen. Auch das ist ein Be- (D)
weis für die solide Politik, die diese Koalition macht. Jahre 2010 mit einer Nettoneuverschuldung von 44 Mil-
liarden Euro deutlich überschritten. Das ist unbestritten
Aufgrund der starken Verflechtung der Finanzmärkte so. Wir haben alles dafür zu tun, dass sich dieser Nega-
können wir diese internationale Entwicklung aber nicht tivrekord nicht wiederholt. Es ist dem Zukunftspaket
ausblenden. Deshalb stellt sich die Frage: Wie geht es dieser Bundesregierung, der gesamtwirtschaftlichen Ent-
weiter? Wir spüren, dass etwas aus den Fugen geraten wicklung, aber auch der klugen Politik dieser christlich-
ist. Wir ahnen: Europa braucht Veränderungen. Ich liberalen Koalition zu verdanken, dass dieser Schulden-
schließe mich der Aussage des Finanzministers an: Ent- rekord in diesem Jahr nicht nochmals überschritten wird;
weder wir entwickeln uns auf europäischer Ebene wei-
ter, ober wir fallen zurück. Wir sind dafür, dass wir uns (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/
weiterentwickeln, und setzen uns deshalb für mehr Ab- CSU])
stimmung in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen denn statt der ursprünglich angesetzten Nettokreditauf-
ein. Die Menschen erwarten von uns, von der Politik, nahme in Höhe von 48 Milliarden Euro werden wir am
Antworten. Wir müssen sie liefern, bevor sich Resigna- Ende des Jahres bei etwa 30 Milliarden Euro landen. Das
tion breitmacht oder es gar zu einer Flucht in einfache ist ein großer Erfolg dieser Regierung.
Antworten kommt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir haben ein Konzept, das Konzept der sozialen
Marktwirtschaft, das uns genau die Orientierung gibt, Die vom Finanzminister für das nächste Jahr geplante
auf die wir uns besinnen müssen. Der Kern der sozialen Neuverschuldung liegt zwar rund 13 Milliarden Euro un-
Marktwirtschaft ist die Freiheit des Einzelnen: die Frei- ter dem ursprünglichen Finanzplan – auch das ist Aus-
heit des Unternehmers, des Arbeitnehmers, des Verbrau- weis dieser konsequenten Konsolidierungspolitik –, ist
chers, aber eben nicht unbegrenzte und absolute Freiheit, allerdings immer noch doppelt so hoch wie im Vorkri-
sondern immer Freiheit in Verantwortung für das Ge- senjahr 2008. Das heißt, wir bewegen uns noch immer in
meinwohl. Genau darum geht es. einem Bereich, in dem wir nicht sagen können: Unsere
Haushalte sind auf Dauer stabil. Vielmehr müssen wir
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Konsolidierung nach wie vor konsequent im Blick
neten der FDP) behalten. Wir sind hier auf dem richtigen Weg und dür-
fen uns nicht beirren lassen.
Es geht zunächst darum, den Wohlstand unseres Lan-
des zu mehren und zu ermöglichen, dass möglichst viele (Bettina Hagedorn [SPD]: Ein bisschen mehr
daran teilhaben. Dabei ist aber die Reihenfolge wichtig. Ehrgeiz wäre nicht verkehrt!)
14372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Norbert Barthle
(A) – Nein, wir haben genügend Ehrgeiz, aber man muss Höhe von 1 Milliarde Euro zu verzeichnen sind, gibt (C)
auch zur Kenntnis nehmen, liebe Frau Kollegin, dass wir man munter neues Geld aus, anstatt sofort einen ausge-
in diesen Jahren auch erhebliche Belastungen schultern glichenen Haushalt vorzulegen, was möglich wäre.
müssen, die wir im Haushalt bereits teilweise abbilden.
An dieser Stelle rate ich Ihnen: Reden Sie mit den
Der Ausstieg aus der Kernenergie war und ist richtig, Leuten in Ihren eigenen Reihen, und bekehren Sie dieje-
aber der Weg hin zu mehr erneuerbaren Energien ist nigen Länder, in denen die SPD mitregiert oder regiert,
nicht ohne einen zumindest vorübergehenden Mehrauf- dazu, bereits jetzt mit der Einhaltung der Schulden-
wand zu schaffen. 2 Milliarden Euro pro Jahr hat der bremse zu beginnen.
Finanzminister in diesem Zusammenhang als Größen-
ordnung genannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Außerdem schlummern aufgrund der Euro-Stabilisie- Lassen Sie mich auf unsere Haushaltsberatungen zu-
rung immer noch erhebliche Risiken in unseren Haushal- rückkommen. Ich danke dem Bundesfinanzminister und
ten. Auch die Bundeswehrreform wurde angesprochen. der Bundesregierung für die wirklich gute Vorlage, die
Liebe Kollegen von der Opposition, wenn man die Bun- wir als Ausgangspunkt dieser Beratungen bekommen
deswehr neu aufstellt, muss man ihr schon die Möglich- haben.
keit geben, sich entsprechend auszustatten. Eine Verrin- Die im Regierungsentwurf vorgesehene Nettokredit-
gerung von 1 Milliarde Euro bei den Sparauflagen ist aufnahme von rund 27 Milliarden Euro im Jahr 2012
hier Fakt. wollen wir, wenn es die konjunkturelle Entwicklung zu-
Auch die Finanztransaktionsteuer habe ich angespro- lässt, noch unterschreiten. Allerdings sage ich an dieser
chen. Im Übrigen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Stelle ganz bewusst: Allzu viel dürfen wir auch dort
wir aufgrund des demografischen Wandels natürlich nicht erwarten. Die weltweite Entwicklung habe ich ja
auch zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme schon angesprochen. Wir sind gut beraten, wenn wir uns
erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen. nach wie vor auf der vorsichtigen Seite bewegen.

Dennoch gilt – darauf wurde mehrfach abgehoben –: Dennoch werden wir alle Einzelpläne kritisch durch-
Diese Koalition hat nicht nur den Willen, sondern auch forsten, nach Einsparmöglichkeiten suchen und even-
die Kraft, die Schuldenbremse dauerhaft einzuhalten. tuell die Subventionen in den Blick nehmen. Ich erwarte
Diese schreibt uns die Verfassung vor, und wir setzen sie gerne die Vorschläge der Opposition,
um; denn auch in diesem Haushalt ist deutlich erkenn- (Klaus Brandner [SPD]: Ja!)
bar: Wir liegen rund 15,5 Milliarden Euro unter der in-
folge der Schuldenbremse maximal zulässigen struktu- sofern sie nicht gleich wieder mit Mehrausgaben ver-
knüpft sind, sondern es sich um echte Einsparvorschläge
(B) rellen Neuverschuldung. Das kann man nachrechnen. (D)
Lieber Kollege Carsten Schneider, wenn Sie dies tun, handelt; das ist Voraussetzung. Denn für den Fall, dass
werden Sie auf das Ergebnis kommen: 15,5 Milliarden sich innerhalb unserer Beratungen Spielräume ergeben
sollten, sind wir, diese Koalition, fest entschlossen, diese
Euro unter der zulässigen strukturellen Neuverschuldung
Spielräume zur Absenkung der Nettokreditaufnahme zu
im Haushalt 2012. – Das ist ein klarer Beweis für den
nutzen,
Willen, die Schuldenbremse auch einzuhalten.
(Zuruf von der SPD: Zur Steuersenkung!)
Ich freue mich, dass unsere europäischen Partnerlän-
der inzwischen diese Schuldenregel übernehmen. Spa- um damit unseren erfolgreichen Kurs weiterzuführen.
nien wurde bereits genannt. Umso bedauerlicher ist das,
was sich in unserem eigenen Lande abspielt. Nordrhein- (Zuruf von der SPD: Dazu werden wir noch
Westfalen wurde schon angesprochen, Herr Poß. Sie te- etwas sagen!)
lefonieren gerade – hoffentlich mit Frau Kraft, um sie Es gibt Schwerpunkte, die wir nach wie vor positiv
auf den richtigen Weg zurückzuführen. ausgestalten wollen, beispielsweise den Bereich Bildung
und Forschung. Dort stehen knapp 13 Milliarden Euro
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
mehr zur Verfügung. Das ist eine Steigerung um fast
der FDP)
10 Prozent. Daran wird deutlich, dass wir in dieser Ko-
Außerdem schaue ich nach Baden-Württemberg. alition Investitionen in Bildung und Forschung als die
Liebe Freunde von der Opposition, insbesondere der Zukunftsinvestitionen betrachten. Deshalb wollen wir
SPD, diesen Bereich auch weiter stärken.
(Sören Bartol [SPD]: Das Trauma sitzt tief!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Christian Lange Wenn es dann noch möglich ist, weitere Akzentset-
hat nach seiner eigenen Aussage den Koalitionsvertrag zungen vorzunehmen, würde ich eine deutliche Stärkung
in Baden-Württemberg maßgeblich mitgestaltet. Dieser der Infrastruktur für wünschenswert halten sowie eine
Koalitionsvertrag sieht vor, dass das Land Baden- weitere Umsteuerung weg von den konsumtiven Ausga-
Württemberg 2020 die Schuldenbremse einhalten will. ben als sinnvoll erachten. Die Spielräume für entspre-
Später geht es auch nicht; das ist in der Regelung zur chende Korrekturen gilt es in den kommenden Beratun-
Schuldenbremse in unserer Verfassung vorgeschrieben. gen auszuloten. Dies gilt natürlich auch für alle anderen
Bis dahin sollen alle Spielräume zur Verringerung der Entlastungen wie zum Beispiel Steuerentlastungen, die
Verschuldung ausgeschöpft werden. Obwohl im Land aber im Hinblick auf den Haushalt 2012 ohnehin noch
Baden-Württemberg in diesem Jahr Mehreinnahmen in nicht relevant sind.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14373
Norbert Barthle
(A) Stabilität ist, wie ich gesagt habe, die Leitidee all un- Ich habe vorhin die Deutsche Bundesbank angespro- (C)
serer Beratungen in den kommenden Tagen und Wochen chen. Mit Verlaub, es geht nicht nur um die Deutsche
bis zum Abschluss der Haushaltsberatungen. Stabilität Bundesbank, sondern auch um den Bundesrechnungshof
soll das Markenzeichen dieser Koalition sein. und den Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirt-
schaftlichen Lage. Alle drei plus die SPD sind der Auf-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Daran
fassung, dass Sie die Schuldenbremse nicht so einhalten,
müsst ihr aber noch arbeiten!)
wie wir sie im Bundestag beschlossen haben.
In diesem Sinne wünsche ich uns konstruktive Bera-
(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]:
tungen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Doch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Das tun Sie eben nicht. Deswegen sind Sie kein Vor-
bild für Europa, wenn Sie so wie hier in Deutschland in
Vizepräsidentin Petra Pau: den ersten Jahren der Anwendung die Schuldenbremse
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Schneider verletzen. Wenn andere europäische Länder das machen
das Wort. würden, dann würden Sie ihnen verbal die Ohren lang-
(Beifall bei der SPD) ziehen.
(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Wir
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): sind doch selbst darunter! Das ist schlicht ge-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! logen!)
Die Situation in Europa und in Deutschland ist, was die Warum tun Sie das nicht? Sie liegen allein im Jahr
wirtschaftliche und finanzielle Situation betrifft, fragil. 2012 5 Milliarden Euro über dem, was maximal zulässig
Wir erleben Unsicherheiten an den Finanzmärkten wie wäre. Ich will Ihnen auch sagen, wo sie geblieben sind.
den Absturz des DAX in den vergangenen Tagen und die
Ausschläge bei den italienischen Staatsanleihen. Das Wir sind uns völlig einig, dass die konjunkturelle
zeigen auch Umfragen zu dem Thema, worin die deut- Lage exzellent ist. Wir Sozialdemokraten sind die Letz-
sche Bevölkerung ihr größtes Problem und ihre größte ten, die sich darüber ärgern würden. Wir freuen uns.
Sorge sieht. Das sind nicht mehr wie früher die Arbeits- (Otto Fricke [FDP]: Das haben wir aber bisher
losigkeit oder andere Punkte, sondern es ist die Stabilität kein einziges Mal gehört!)
der Währung und der Staatsfinanzen. Das muss uns für
die Arbeit an diesem Haushalt 2012 und der mittelfristi- Denn, mit Verlaub, wir haben einen kleinen Anteil da-
gen Finanzplanung Mahnung und Leitplanke sein. ran. Wir freuen uns mit den Deutschen, die zusätzliche
(B) Arbeitsplätze bekommen, und mit den Unternehmen, die (D)
Herr Minister Schäuble, bei Ihrer Einbringungsrede Aufträge haben und Steuern zahlen. Darüber sind wir
hatte ich den Eindruck, dass sie eher an Ihre Koalition froh.
gerichtet war als an die deutsche Bevölkerung oder diese
Parlamentsopposition. Denn die Zitate von Herrn (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber Sie stänkern
Dahrendorf in Bezug auf die Verschuldung, das struktu- den ganzen Tag herum!)
relle Defizit und die Verwendung von konjunkturellen
Das ist aber nicht Ihr Verdienst, Herr Kollege Wissing.
Mehreinnahmen schienen mir sehr stark in Richtung
FDP und auch an Teile der CDU/CSU zu gehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ha- Es ist vielmehr das Verdienst der fleißigen Menschen in
ben die auch so verstanden! – Gegenruf des Deutschland.
Abg. Joachim Poß [SPD]: Nein, das haben die
Gegenüber dem letzten Finanzplan zeigt die aktuelle
nicht verstanden!)
Lage, dass es eine konjunkturelle Verbesserung gibt:
Denn nicht erwähnt haben Sie, dass Sie mit dem Kabi- 14,5 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen und 5 Mil-
nettsbeschluss zum Haushalt ein Schreiben der drei Par- liarden Euro weniger Ausgaben für den Arbeitsmarkt.
teivorsitzenden vorgelegt haben – zwei davon saßen, Das macht knapp 20 Milliarden Euro.
glaube ich, auch mit am Kabinettstisch –, in dem zur
Sie senken die Neuverschuldung aber nicht um
Kenntnis gegeben wurde, dass Sie noch in diesem
20 Milliarden, sondern nur um 13 Milliarden. Wo sind
Herbst über Steuersenkungen entscheiden wollen.
diese 7 Milliarden Euro geblieben?
(Otto Fricke [FDP]: Ja! Das hat er doch
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernd
gesagt!)
Scheelen [SPD]: Das wollen wir wissen!)
– Er hat aber nicht gesagt, wie er es finanzieren will. Die
Ich höre nichts.
entscheidende Frage ist: Hält der Haushalt 2012 die von
Ihnen hochgehaltene Schuldenbremse ein oder nicht? (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Finanztrans-
aktionsteuer, Kernbrennstoffsteuer!)
(Otto Fricke [FDP]: Um 10 Milliarden Euro!)
– Aha. Damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Ihren
Dabei haben wir ganz entschieden einen Dissens.
Maßnahmen, die wir schon immer als Luft und Wolken,
(Otto Fricke [FDP]: 10 Milliarden Euro als Wolkenkuckucksheim kritisiert haben. In Ihren vor
drunter!) einem Jahr präsentierten Meseberg-Beschlüssen haben
14374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Carsten Schneider (Erfurt)


(A) Sie mit großem Auftritt Einsparungen in Höhe von Kollege Barthle, Sie waren im Haushaltsausschuss, als (C)
80 Milliarden Euro angekündigt. Die Hälfte ist übrigge- ich den Punkt betreffend die 50 Milliarden Euro erwähnt
blieben. Es werden nur 40 Milliarden Euro eingespart. habe. In der Anhörung hatte die Bundesbank dies darge-
stellt, und ich habe es mir zu eigen gemacht. Sie haben
Wo werden diese 40 Milliarden Euro eingespart? Sie gesagt: Wir lösen das Problem. – In der Schlussberatung
haben einzig und allein bei den sozial Schwächsten zu- war davon nichts mehr zu hören. Sie wissen, dass Sie
gelangt. über eine Kriegskasse von 50 Milliarden Euro verfügen,
(Beifall bei der SPD) also noch Pfeile im Köcher haben, und diese Kriegs-
kasse erhalten Sie sich. Das aber ist das Gegenteil von
Das sind die Maßnahmen, die durchgegangen sind. Alle solider Finanzpolitik und von Transparenz, die Sie sich
anderen Maßnahmen, die Sie beschlossen hatten, sind heute hier bescheinigen.
weggefallen.
(Beifall bei der SPD)
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das stimmt
nicht!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Deswegen fehlt Ihnen das Geld, lieber Kollege Barthle. Kollege Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage
Deswegen machen Sie zu hohe Schulden in der konjunk- des Kollegen Fricke?
turell besten Zeit, die wir jemals in Deutschland gesehen
haben, mit den höchsten Steuereinnahmen, die es in Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
Deutschland jemals gab, und dem besten Wachstum. Der Gern.
Höhepunkt war zuletzt 2008. Wir liegen 2012 deutlich
höher als 2008. Trotzdem betreiben Sie die dritthöchste
Neuverschuldung, die es jemals gegeben hat. Meine Da- Otto Fricke (FDP):
men und Herren, das ist kein Ruhmesblatt, das ist ein Herr Kollege Schneider, wir alle hier im Parlament
Armutszeugnis. wissen, dass Sie seit zwei Jahren darauf herumreiten,
dass man für die Schuldenbremse, die Sie selber be-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlossen haben, die aber anscheinend Ihrer Meinung
DIE GRÜNEN) nach nicht präzise genug formuliert war, eine andere In-
terpretation findet. Ich stimme Ihnen zu: Wenn es um
Herr Minister Schäuble, ich habe mir den Bundes-
Berechnungen geht, deren Grundlagen nicht genau defi-
bankbericht vom Mai 2011 extra herausgesucht. Der
niert sind, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich
Bundesbankpräsident, Herr Weidmann, ist im Kabinett
gehe davon aus, dass auch hinter Ihrer Intention ein gu-
anders aufgetreten. Er hat es aber nicht öffentlich ge-
(B) macht, obwohl ich ihn darum gebeten habe. Er tat es ter Wille steckt. Deswegen frage ich Sie: Wie hoch hätte (D)
die Neuverschuldung im Jahr 2011 nach Ihrem Modell
nicht, warum auch immer. Es geht in dem Bundesbank-
sein dürfen, und wie hoch darf sie im Jahr 2012 sein,
bericht um einen Sicherheitsabstand, von dem Sie, Herr
wenn Sie das so genau wissen?
Kollege Barthle, immer sagen, dass Sie seine maximale
Höhe nicht ausschöpfen würden.
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) Herr Kollege Fricke, im Jahr 2012 muss sie nach un-
– Das stimmt. – Aber Sie haben die maximale Höhe zu serer Berechnung zwischen 21,5 Milliarden Euro und
hoch angesetzt. Das ist das Problem. Ich zitiere nun die 22 Milliarden Euro liegen. Nach Ihrer Berechnung liegt
Bundesbank: sie bei 27 Milliarden Euro im Jahre 2012.

Ein solcher Sicherheitsabstand sollte aber nicht da- (Otto Fricke [FDP]: Wir haben das noch nicht
durch geschaffen werden, dass die Obergrenze beschlossen!)
durch eine problematische Auslegung gedehnt Ich komme gleich zu unseren Vorstellungen im Einzel-
wird. Gerade dies scheint allerdings angelegt zu nen. Im Rahmen der Haushaltsberatungen werden wir
sein, da in den derzeitigen Planungen als Ausgangs- Ihnen klipp und klar unsere Vorschläge vorlegen, um die
punkt der Obergrenze für den strukturellen Verschuldung in dieser Größenordnung abzubauen. Es
Defizitabbaupfad von 2011 bis 2016 – entgegen der ist richtig, was Herr Minister Schäuble sagte. In der ers-
Intention der Schuldenbremse – ein veralteter und ten Anwendungsphase der Schuldenbremse schreiben
deutlich überhöhter Schätzwert für das strukturelle Sie die Geschichte für die nächsten Jahrzehnte. Diese
Defizit des Jahres 2010 verwendet wird. Hierdurch Schuldenbremse haben die meisten hier im Parlament
– Achtung! – beschlossen. Sie dehnen jetzt den Interpretationsspiel-
raum in dem entscheidenden Punkt des Kontrollkontos
ergeben sich zusätzliche Verschuldungsspielräume aus und bunkern 50 Milliarden Euro.
von kumuliert rund 50 Mrd €.
(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Wir
(Beifall bei der SPD – Sören Bartol [SPD]: nutzen sie doch nicht!)
Hört! Hört!)
– Herr Kollege Schäuble, dann legen Sie einen entspre-
Wir haben hier im Juni einen Gesetzentwurf zur har- chenden Gesetzentwurf vor, der vorsieht, dass Sie den
ten Auslegung der Bestimmungen über die Schulden- Spielraum nicht nutzen. – Ich habe im Haushaltsaus-
bremse vorgelegt. Sie haben dem nicht zugestimmt. Herr schuss dem Staatssekretär exakt die Frage gestellt, ob
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14375
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) der Betrag genutzt wird oder nicht. Wenn er nicht ge- sprochen. Wir bieten Ihnen an, auf unser Angebot einzu- (C)
nutzt wird, dann können Sie es hier erklären und das gehen. Man sollte nicht einseitig Verschuldung betreiben
rechtlich absichern. Genau das aber tun Sie nicht. oder bei den sozial Schwächsten kürzen.
(Otto Fricke [FDP]: Wir haben es im Aus- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
schuss gesagt!) Ich komme zum Schluss. Sie haben eine neue Euro-
– Verbale Äußerungen sind etwas anderes als rechtlich Expertin; sie ist leider schon gegangen. Sie hat sehr
abgesicherte Festlegungen. – Sie haben den Spielraum, abenteuerliche Vorstellungen, was Gold und andere
ob Sie ihn nutzen oder nicht. Das haben Sie im Haus- Dinge betrifft. Ich bin der Meinung, Frau von der Leyen
haltsausschuss zugegeben. Ich behaupte: Sie werden ihn sollte sich lieber um diejenigen kümmern, für die sie
nutzen, weil Sie Ihren Steuersenkungs- und Entstaatli- Verantwortung trägt.
chungsfantasien auf den letzten Drücker nachgeben wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den, auch um der FDP etwas entgegenzukommen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie stiftet nur Verwirrung. Verantwortung trägt sie vor
allen Dingen für die Langzeitarbeitslosen. Mit Blick auf
Das sagen wir die ganze Zeit. die Ausgaben will ich klar sagen: Das, was Sie im Be-
(Otto Fricke [FDP]: Sie behaupten: Wir reich der beruflichen Weiterbildung und Qualifikation
lügen!) kürzen, fehlt, um diejenigen in den Arbeitsmarkt zu inte-
grieren, die auf dem gespaltenen Arbeitsmarkt keine
Ich glaube, das wird so geschehen, weil Sie alle Verspre- Chance haben. Wer zulässt, dass stattdessen Fachkräfte
chen letztendlich brechen. aus dem Ausland geholt werden, der versündigt sich an
Ich habe bereits vorhin gesagt, dass das Thema den hiesigen Arbeitslosen, und das werden wir nicht mit-
Staatsfinanzen in der Bevölkerung wahrscheinlich viel machen.
bedeutender als früher ist. Wir, die SPD, haben uns ent- Vielen Dank.
schlossen – Sie haben uns das vorher nicht geglaubt –, in
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den nächsten Jahren einen sehr strikten, konsequenten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Weg zu gehen; wir sehen den Abbau der Neuverschul-
dung, die Konsolidierung des Staatshaushalts als einen
unserer Hauptpunkte. Deswegen hat der Parteivorstand Vizepräsidentin Petra Pau:
der SPD gestern ein Programm für die Jahre bis 2016 be- Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Wissing das
(B) schlossen, das nur zwei Schwerpunkte beinhaltet: ers- Wort. (D)
tens den Abbau der Staatsverschuldung – was wir pla- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nen, ist härter und ehrgeiziger als das, was Sie vorlegen der CDU/CSU)
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ehrgeiziges Ziel!)
Dr. Volker Wissing (FDP):
– und zweitens die Stärkung des Bereichs Bildung. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) Herr Kollege Schneider, ich habe Ihnen sehr aufmerk-
sam zugehört. Eines fand ich bemerkenswert und auch
Wir wollen etwas für die Flanke tun, die Sie – entweder entlarvend: Sie haben die ganze Zeit von Zahlen geredet
die CDU allein oder nur die FDP – ignorieren. All die und angeregt, größere Verschuldungsspielräume zu nut-
Krisen, mit denen wir es jetzt zu tun haben – Staatsfinan- zen. Als wir Ihnen vorgehalten haben, dass das mit dem
zierungskrisen, Neuverschuldung –, haben ihre Ursache Haushalt gar nicht in Einklang zu bringen ist, sagten Sie:
in den extremen Spekulationen auf den Finanzmärkten. Ich behaupte, Sie werden das tun. Ich finde, wenn sich
Infolgedessen mussten erst Banken und müssen jetzt ein Oppositionspolitiker hier zehn Minuten lang mit sei-
Länder gerettet werden. nen eigenen Behauptungen anstatt mit den konkreten
Zahlen, die die Regierung vorlegt, auseinandersetzt,
(Otto Fricke [FDP]: Der Grund ist die dann müssen die Regierung und die Koalition einen ver-
Verschuldung!) dammt guten Haushaltsentwurf eingebracht haben.
Die Vermögenden, diejenigen, die über ein hohes Ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
kommen verfügen, haben von diesen Rettungen enorm der CDU/CSU)
profitiert; denn nur sie konnten auch etwas verlieren. Es
wurde somit auch ein Beitrag zur Stabilität ihrer Ein- Insofern danke ich Ihnen dafür, dass Sie uns hier diesen
kommen geleistet. Die Reichen müssen nun einen Bei- entlarvenden Beleg erbracht haben.
trag zur Krisenbewältigung leisten. Deswegen schlagen Wenn man sich mit Ihren finanzpolitischen Konzep-
wir vor, dass die oberen 4 Prozent der einkommensteuer- ten auseinandersetzt, dann merkt man schnell: Es gibt ei-
pflichtigen Haushalte in Deutschland einem höheren nen großen Konsens zwischen den Sozialdemokraten
Steuersatz unterliegen. Das ist einer von vielen unserer und den Grünen. Was sie verbindet, ist das, was sie
Vorschläge. schon in der Vergangenheit verbunden hat: Steuererhö-
hungen.
Außerdem wollen wir einen Vorschlag zum Subven-
tionsabbau machen; wir haben das schon detailliert be- (Bettina Hagedorn [SPD]: Für 4 Prozent!)
14376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Volker Wissing


(A) Angesichts ihres Finanzkonzepts, das sie gezielt vorge- zialdemokratischer Finanzpolitik war. Sie haben dem (C)
legt haben – auch um vor dieser Haushaltsdebatte Auf- Auseinanderdriften der Gesellschaft nicht entgegenge-
merksamkeit in der Öffentlichkeit zu erhalten –, entbehrt wirkt, sondern Sie haben taten- und ideenlos zugesehen.
es nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet dieje- Sie haben durch ständige Mehrbelastungen der Mitte den
nige Partei, die den europäischen Stabilitäts- und Wachs- Prozess auch noch beschleunigt und wollen die Men-
tumspakt ausgehebelt hat, heute treuherzig erklärt, dass schen jetzt glauben machen, dass die SPD in den letzten
– ich zitiere – Euro-Länder, die ihre öffentliche Ver- elf Jahren keinerlei Verantwortung getragen hätte. Sie
schuldung nicht mehr im Griff haben, konsequente Kon- haben weder unter Rot-Grün noch unter Schwarz-Rot
solidierungsprogramme beschließen und durchsetzen das erreicht, was Sie heute groß ankündigen, und es wird
müssen. Ihnen auch beim nächsten Mal nicht gelingen.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wollen sie nicht mehr hören!) NEN]: Sagen Sie doch mal was zur FDP!)
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Sie solche Wir werden dafür sorgen, dass Sie auch beim nächs-
Sätze von sich geben. ten Mal keine Regierungsverantwortung haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
Sie haben den Menschen jahrzehntelang eingeredet, chen bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Der
man müsse mehr Schulden machen, um Wachstum zu kann ja vor Kraft kaum laufen!)
schaffen. Über alle Warnungen der bürgerlichen Parteien
Sie stellen sich hier hin und sagen, Sie wollen alle
haben Sie sich hinweggesetzt. Wo immer Sie Regie-
Einkommen höher besteuern. Wenn die Leute trotzdem
rungsverantwortung hatten, haben Sie diesen Weg einge-
noch etwas zurücklegen, dann wollen Sie sie durch er-
schlagen. Jetzt wollen Sie noch die Kurve kriegen; Sie
höhte Kapitalertragsteuern zur Kasse bitten. In Ihrem
wollen auf der Seite der anderen sein und spielen plötz-
Papier sind Sie auch noch so dreist, Steuererhöhungen
lich die Haushaltssanierer. Das lassen wir Ihnen nicht
damit zu legitimieren, dass Sie darauf verweisen, dass
durchgehen, und das glaubt Ihnen auch keiner in
ohnehin nur noch 40 Prozent der Haushalte Einkommen-
Deutschland.
steuer zahlen. Ist es denn ein Beitrag zu mehr sozialer
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gerechtigkeit, wenn Sie den 40 Prozent, die den Karren
ziehen, immer noch mehr auf die Schultern laden?
Meine Damen und Herren, hätte die damalige rot-
grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Joschka Fischer, anstatt den Stabilitäts- und Wachstums-
(B)
pakt aufzuweichen, ein konsequentes Konsolidierungs- Das, meine Damen und Herren, ist Zynismus einer (D)
programm beschlossen und durchgesetzt, wäre Europa Partei, die in Wahrheit kein finanzpolitisches Konzept
die Staatsverschuldungskrise in dieser Härte erspart ge- mehr hat.
blieben. (Joachim Poß [SPD]: 5 Prozent!)
Der Gipfel unsolider Finanzpolitik war das, was die
Wenn sich ein Herr Schneider hier hinstellt und sagt, der
Grünen gemacht haben. In der Föderalismuskommission
Aufschwung sei das Verdienst der fleißigen Menschen in
haben sie sich in die Büsche geschlagen und haben der
Deutschland, dann kann ich nur sagen: Passen Sie doch
Schuldenbremse im Grundgesetz nicht zugestimmt. Das,
Ihr Steuerkonzept entsprechend an, und verweigern Sie
fand ich, war ein starkes Stück. Das zeigt, wie wenig vo-
sich nicht dem Abbau der kalten Progression.
rausschauend Sie in der Finanz- und Haushaltspolitik
sind. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Beschlie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ßen Sie das erst mal! Wo ist Ihr Vorschlag? –
Joachim Poß [SPD]: Wo ist denn euer Vor-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in finanzpolitischer schlag?)
Hinsicht war Rot-Grün ein Unglücksfall für ganz
Europa. Sie sind doch längst keine Arbeitnehmerpartei mehr:
weil Sie auf die Steuermehreinnahmen bei unteren und
(Dagmar Ziegler [SPD]: Das sagt der mittleren Einkommen spekulieren. Sie machen keine
Richtige!) Konsolidierungspolitik, sondern können nur Ausgaben-
Keine deutsche Regierung lag in der Finanzpolitik so da- politik machen. Deswegen wollen Sie den kleinen und
neben wie die Regierung Schröder/Fischer. mittleren Einkommensbeziehern in die Tasche greifen.
Sie verraten die Arbeitnehmerschaft in Deutschland.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
NEN]: Wann kommen Sie zur FDP, Herr Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Oi!)
Wissing?)
Hinter all dem steckt doch in Wahrheit eines: Sie su-
Wenn Sie von den Sozialdemokraten heute konstatieren, chen sich bequeme Wege, um das Sparen zu umgehen.
dass in den letzten Jahrzehnten die Reichen reicher und Wo immer Rot-Grün regiert, sehen wir Schuldenhaus-
die Armen ärmer geworden sind, dann sollten Sie auch halte: in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in
hinzufügen, dass das letzte Jahrzehnt ein Jahrzehnt so- Baden-Württemberg.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14377
Dr. Volker Wissing
(A) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Hessen, vorgelegte und heute eingebrachte Haushaltsentwurf für (C)
Niedersachsen!) 2012 ist Ausdruck soliden Wirtschaftens, solider Haus-
haltspolitik und auch Ausdruck eines verantwortungs-
Es wurde hier schon angesprochen: Rot-grüne Regierun-
vollen Umgangs mit dem Geld, das uns die Bürger über
gen sind die Schuldenmacherregierungen in diesem
die Steuern zur Verfügung stellen.
Land. Deswegen dürfen Sie keine Verantwortung für die
öffentlichen Haushalte haben. Wir bewältigen – darauf ist eingangs auch vom
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Finanzminister hingewiesen worden – mit diesem Bun-
deshaushalt und sicherlich auch mit weiteren die finan-
Das Finanzkonzept, das die Grünen vorlegen, ist ziellen Folgen der schweren Wirtschafts- und Finanz-
nichts anderes als ein ungedeckter Scheck. Jede Menge krise, mit denen wir seit 2008 zu kämpfen haben. Es
Unsinn steckt in Ihrem Finanzkonzept. stellt sich heraus, dass die Maßnahmen, die wir seiner-
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeit auch unter schwierigen Bedingungen beschließen
NEN]: Da müssen Sie ja selber lachen!) mussten, goldrichtig waren. Sie haben dazu beigetragen,
dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes
Eine Finanztransaktionsteuer wird eingefordert, die an- bewahrt werden konnte, dass Arbeitsplätze in einem sehr
geblich 12 Milliarden Euro Einnahmen bringen soll. In viel größeren Umfang als anderswo erhalten bzw. dann
Ihrem Finanztableau wird sie dann gar nicht mehr er- sehr viel schneller wieder aufgebaut werden konnten.
wähnt, weil Sie selber nicht daran glauben. Sie haben es Noch vor einem Jahr – darauf ist eben hingewiesen wor-
ja auch nicht hingekriegt, als Sie mit der SPD regiert ha- den – hatten viele befürchtet, dass sich die Zahl der Ar-
ben; da gab es keine Finanztransaktionsteuer. Sie sehen beitslosen auf über 5 Millionen erhöhen könnte. Jetzt
ja, dass man es international nicht durchsetzen kann. liegt die Zahl der Arbeitslosen bei unter 3 Millionen.
(Zuruf von Bündnis 90/Die Grünen: Wer Seit 2006 ist die Zahl der versicherungspflichtig Be-
blockiert das denn?) schäftigten um 2,5 Millionen angestiegen. Hierbei han-
Wenn es eben nicht geht, dann werden wir nicht so delt es sich nicht nur um eine Zahl aus der Statistik, son-
dumm sein und den Finanzplatz Deutschland schwä- dern diese besagt, dass 2,5 Millionen Menschen mehr
chen. Wir machen immer noch Politik für dieses Land, am Wirtschaften und am Erfolg dieses Landes teilhaben
für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutsch- können, sich selber verwirklichen und einbringen kön-
land und nicht für andere Finanzplätze. nen, weniger Zukunftssorgen haben müssen und hoch-
wertige Mitglieder unserer Arbeitswelt sind.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Joachim Poß [SPD]: Ein Meister der Unehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
lichkeit!) Der Arbeitsmarkt bietet insbesondere auch unserer
Meine Damen und Herren, wenn man sich fragt, wa- jungen Generation hervorragende Chancen. Schauen wir
rum die Arbeitslosigkeit unter Rot-Grün bei 5 Millionen einmal in andere Länder der Europäischen Union: Ich
lag, während sie unter Union und FDP inzwischen auf denke, dass viele junge Menschen zum Beispiel in Spa-
unter 3 Millionen gesunken ist; wenn man wissen will, nien froh wären, wenn sie solche Chancen am Arbeits-
warum SPD und Grüne den Stabilitäts- und Wachstums- markt hätten, wie man sie Gott sei Dank in vielen Teilen
pakt aufgeweicht haben, während Union und FDP zu- unseres Landes – ich weiß, dass es auch in unserem
sammen das Defizit auf 0,6 Prozent drücken konnten, Land noch Gegenden gibt, wo sich die Situation etwas
dann findet man die Antwort, wenn man Ihre tollen schwieriger darstellt – vorfindet.
finanzpolitischen Konzepte durchliest. Sie bieten näm-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen
lich nichts Neues, sondern nur aufgewärmten Klassen-
uns über eine außerordentlich gute wirtschaftliche Ent-
kampf mit einem Schuss Leistungsfeindlichkeit und ei-
wicklung freuen, die im Jahr 2010 begonnen und sich im
ner gehörigen Prise Neidgesellschaft.
ersten Halbjahr 2011 massiv fortgesetzt hat. Sie ist unter
Vielen Dank. anderem auch Folge der Maßnahmen, die wir beschlos-
sen haben. Natürlich erwirtschaften in erster Linie tüch-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tige Unternehmer und fleißige Mitarbeiter das Brutto-
der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordne-
inlandsprodukt. Davon leben wir alle, damit müssen wir
ten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
auskommen, unseren Wohlstand und auch unsere sozia-
Joachim Poß [SPD]: Das Wort hat noch ge-
len Sicherungssysteme finanzieren.
fehlt!)
Es gibt jetzt Anzeichen einer konjunkturellen Eintrü-
Vizepräsidentin Petra Pau: bung. Auch darauf müssen wir reagieren und dafür Vor-
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege sorge treffen. Die höheren Steuereinnahmen nutzen wir
Kalb für die Unionsfraktion. nicht etwa, um neue Ausgabenprogramme aufzulegen,
sondern um die Neuverschuldung schneller abzubauen,
(Beifall bei der CDU/CSU) als es uns zunächst möglich erschien. Das wird voraus-
sichtlich schon beim Haushaltsvollzug 2011 möglich
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): sein. Wir Haushälter haben den Ehrgeiz, nach der Steu-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten erschätzung im November alles noch einmal genau zu
Damen und Herren! Dieser vom Bundesfinanzminister überprüfen und zu schauen, wie weit wir bei der Festle-
14378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bartholomäus Kalb
(A) gung der Nettokreditaufnahme tatsächlich gehen kön- nahmesituation auch die Haushalte der Länder und (C)
nen. Es ist ferner Vorsorge dafür getroffen, dass die Kommunen deutlich profitiert haben. Wir haben uns vor
Haushaltsrisiken, die zweifellos bestehen, abgefedert anderthalb Jahren den Kopf zerbrochen – es sind Maß-
werden können. nahmen ergriffen worden, auf die ich jetzt nicht mehr
eingehen kann –, wie wir die Finanzkraft und die Leis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tungsfähigkeit insbesondere der Kommunen stärken
Ich war schon etwas erstaunt, sowohl über die Rede können, was im Übrigen auch zulasten des Bundeshaus-
von Herrn Poß als auch über die von unserem Kollegen halts geschehen ist. Hier hat sich die Situation erfreuli-
Carsten Schneider. Letzterer sagte, wir seien nicht ehr- cherweise sehr entspannt.
geizig genug, was die Rückführung der Neuverschul-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dung betrifft, forderte aber im selben Atemzug wesent-
neten der FDP)
lich höhere Sozialausgaben ein. Ich kann nur sagen – es
ist von einem anderen Redner schon erwähnt worden –: Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutsch-
Wenn mehr als 50 Prozent des Bundeshaushalts für so- land leistet mit dem Bundeshaushalt für 2012, wie er uns
ziale Sicherung aufgewendet werden, dann zeigt das, jetzt im Entwurf vorliegt, einen ganz entscheidenden
dass diese Bundesrepublik Deutschland fürwahr sehr so- Beitrag zur Stabilitätskultur in Europa. Gerade in diesen
zial ist und ihrer sozialen Verpflichtung nachkommt. Tagen erwarten die Menschen in Deutschland und in
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Europa von uns vor allem, dass solide gewirtschaftet
Bettina Hagedorn [SPD]) wird, dass verantwortungsbewusst mit den Steuergeldern
umgegangen wird und dass dafür Sorge getragen wird,
Für die gesetzliche Rentenversicherung und die gesetzli- dass unsere Währung, der Euro, stabil gehalten werden
che Krankenversicherung wenden wir annähernd kann.
100 Milliarden Euro, knapp ein Drittel des Bundeshaus-
halts, auf; das kann sich sehen lassen. Ich kenne kein an- Herzlichen Dank.
deres Land, das diese beiden Sicherungssysteme in die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sem Umfang aus Steuermitteln stützt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf eine an- Vizepräsidentin Petra Pau:
dere Aufgabe, die wir zu bewältigen haben, ist schon Wir beginnen nun mit dem Geschäftsbereich des
hingewiesen worden: Die demografische Entwicklung Bundesministeriums des Innern, Einzelplan 06.
schreitet massiv voran. In wenigen Jahren wird es rund
11 bis 12 Millionen weniger erwerbsfähige Personen ge- Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Hans-
(B) ben, die aber mehr Lasten tragen müssen, damit wir un- Peter Friedrich. (D)
seren Wohlstand finanzieren und die Sicherheit unserer
sozialen Systeme aufrechterhalten können. Deswegen ist
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
es so wichtig, dass wir alles tun, um besser und leis-
nern:
tungsfähiger zu werden. Dazu gehören die Bereiche Bil-
dung und Forschung, aber ebenso eine leistungsfähige Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Infrastruktur, von den Verkehrsnetzen bis zu den Kom- Herren! Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. Sep-
munikationsnetzen. Auch das ist Zukunftsvorsorge im tember 2001 ist der islamistische Terror nach wie vor
besten Sinne des Wortes. eine reale Bedrohung für Deutschland, für Europa und
für die freie Welt. Es gilt aber auch: Terror und Angst ha-
Deswegen werden wir uns, auch in den anstehenden ben nicht das letzte Wort. Unsere Werte, unsere freiheit-
Beratungen, bemühen, eventuelle Spielräume daraufhin lich-demokratische Grundordnung, unsere freiheitlich-
abzuklopfen, inwieweit wir hier nachtarieren können offene Gesellschaft und unser Rechtsstaat sind stärker.
oder müssen. Unser besonderes Augenmerk werden wir
der Frage widmen, wie unsere Investitionsquote verbes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sert werden kann. Ebenso werden wir unser Augenmerk
In den vergangenen zehn Jahren seit 9/11 konnten un-
auf die Frage richten, wie wir Substanzverzehr bei unse-
sere Sicherheitsbehörden mehrere ernstzunehmende An-
rer Infrastruktur vermeiden können.
schlagsversuche verhindern. Dies gelang ihnen aufgrund
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ihrer Professionalität, aber auch aufgrund der engen Ko-
operation mit unseren ausländischen Partnerbehörden.
Ich habe vorhin von den höheren Steuereinnahmen Aber es gilt auch: Hundertprozentige Sicherheit kann es
gesprochen. Sie haben nicht nur dem Bund gutgetan. nicht geben, wie im Übrigen der tödliche Anschlag vom
Wenn man sich die Äußerungen der Länder vergegen- 2. März am Frankfurter Flughafen gezeigt hat. Unsere
wärtigt, hat man manchmal den Eindruck, sie seien der Sicherheitsbehörden geben jeden Tag ihr Bestes, um von
Meinung, dass jede Maßnahme, die Geld kostet, zum den Bürgern unseres Landes Schaden abzuwenden. Da-
Beispiel die Beseitigung der kalten Progression, aus- für verdienen sie gerade an dieser Stelle den Dank und
schließlich vom Bund getragen werden sollte, während den Respekt dieses Hauses.
die bessere Einnahmesituation in den letzten Monaten
und Jahren vor allen Dingen den Ländern zugutekom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
men sollte. Ich denke, dass von der verbesserten kon- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
junkturellen Situation und der dadurch verbesserten Ein- GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14379
Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
(A) Nur in Sicherheit können die Menschen nach den sollten wir nicht vergessen, denen unser Augenmerk zu (C)
Werten unseres Grundgesetzes in Freiheit leben. Sicher- schenken, die unsere Entscheidungen vollziehen und in
heit ist Grundlage von Freiheit und Demokratie. Sicher- die Tat umsetzen sollen. Wir dürfen nicht vergessen,
heit herzustellen, ist die Kernaufgabe eines jeden Ge- dass eine verlässliche Verwaltung Stabilitätsfaktor und
meinwesens. Das Bundesministerium des Innern steht in Voraussetzung für Wirtschaft und Gemeinwesen glei-
besonderer Verantwortung, den Feinden der Demokratie, chermaßen ist. Das Bewusstsein, an der Gestaltung des
der Kriminalität, der Gewalt, dem Terrorismus und dem Gemeinwesens mitzuwirken, trägt zum hohen Arbeits-
Extremismus entschlossen zu begegnen. Deutschland ist ethos in unserem öffentlichen Dienst bei. Die Beamten
und bleibt eine wehrhafte Demokratie. und auch die Angestellten des öffentlichen Dienstes ins-
gesamt verdienen unsere Wertschätzung.
Die Bedrohung ist vielfältig. Die Anschlagsversuche
mit Paketbomben aus dem Jemen im vergangenen Okto- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ber haben deutlich gemacht, dass sich die Terroristen Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
den neuen Sicherheitsstandards der Passagier- und Ge- Weihnachtsgeld!)
päckkontrollen bei Flugreisen angepasst und ihren Fokus
Wir müssen darauf achten, dass der öffentliche Dienst
jetzt auf die Luftfracht verlagert haben. Die Bundes-
auch in Zukunft attraktiv bleibt. Dazu ist es notwendig,
regierung hat reagiert und einen Arbeitsstab „Luftfracht-
dass wir den Angestellten und Beamten Perspektiven er-
sicherheit“ eingerichtet. Der Maßnahmenkatalog, der er-
öffnen, also Aufstiegsmöglichkeiten und finanzielle
arbeitet wurde, wird in die Tat umgesetzt. Diese
Ausstattung bieten. Dies gilt gerade im Bereich der Si-
Umsetzung bedeutet auch einen deutlichen Aufgabenzu-
cherheitsbehörden.
wachs für unsere Bundespolizei, verbunden mit erhebli-
chen Personalaufstockungen. Das Fach- und Personalbe- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
darfskonzept wurde vom Haushaltsausschuss gebilligt. Und auch für das Weihnachtsgeld!)
Ich bedanke mich dafür ausdrücklich. Der hierzu ge-
fasste Beschluss ist aber nur ein erster Schritt für die Die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden müssen sich
Einleitung der notwendigen Maßnahmen. Ich hoffe sehr, immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen,
dass wir bei den Beratungen dieses Thema gemeinsam sich weiterqualifizieren und mit neuen technologischen
angehen. Mitteln und Methoden Schritt halten. Es handelt sich
hierbei wirklich um eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit.
Die Gefährdungslage ist weiterhin auf einem hohen
Niveau. Allerdings ändern sich die Bedrohungsmodali- Bei der Terrorismusabwehr spielt die Kriminalitätsbe-
täten. Es ist erforderlich, die staatlichen Instrumente zur kämpfung im Cyberraum, also in der Gesamtheit aller
verfügbaren Netze weltweit, eine zentrale Rolle. Wie die
(B) Bekämpfung des internationalen Terrorismus immer Anschläge vom Frankfurter Flughafen und von Norwe- (D)
wieder den wandelnden Bedrohungen anzupassen. Dazu
sind die Anti-Terror-Gesetze ein wesentliches Instru- gen in erschreckender Weise belegen, spielt das Internet
ment. Die Bundesregierung hat am 17. August den Ge- bei der Radikalisierung von Einzeltätern eine wichtige
setzentwurf zur Verlängerung der nachrichtendienstli- Rolle. Es ist für unsere Sicherheitsbehörden wichtig,
chen Befugnisse um vier Jahre beschlossen. dass sie das Internet auf entsprechende Inhalte sichten
und auswerten können. Im Bereich des islamistischen
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Terrorismus wird dies durch das Gemeinsame Inter-
Ein rot-grünes Gesetz!) netzentrum in Berlin bereits jetzt erfolgreich praktiziert.
Es geht dabei nicht darum, dass der Staat pauschal im- Die Schattenseiten der Internetnutzung werden aller-
mer mehr Eingriffsbefugnisse bekommt, sondern darum, dings nicht nur beim Terrorismus sichtbar. Täglich
dass wir mit Augenmaß den Sicherheitsbehörden das für werden weltweit circa 21 000 Webseiten mit Schadpro-
ihre Arbeit Notwendige ermöglichen. Verlängert wurde grammen infiziert. Sicherheit im Cyberraum zu gewähr-
deswegen nur die Gültigkeitsdauer derjenigen Instru- leisten, ist eine der großen gemeinsamen Herausforde-
mente, die sich in der Praxis als erforderlich, notwendig rungen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich
und unabdingbar erwiesen haben. Ich hoffe sehr, dass denke, es sollte auch der Schwerpunkt unserer Aufmerk-
auch für den Gesetzentwurf zur Verlängerung der Anti- samkeit in der Innenpolitik der nächsten Jahre werden.
Terror-Gesetze Ihre Unterstützung im parlamentarischen
Verfahren gesichert ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Auch unsere Sicherheitsstrukturen müssen den He-
rausforderungen sich wandelnder Kriminalität und terro- Die Bundesregierung hat diese Herausforderung
ristischer Bedrohung angepasst werden. Die geplante durch den Beschluss der Cyber-Sicherheitsstrategie an-
gemeinsame Ausbildung von Bundespolizei und Bun- genommen. Einer der Kernpunkte dieser Strategie ist der
deskriminalamt dient dazu, Ressourcen zu bündeln und Aufbau des Nationalen Cyber-Abwehrzentrums beim
Synergien zu nutzen. Sie ist ein Beitrag dazu, die Sicher- BSI in Bonn. Es ist seit dem 1. April 2011 online, und
heitsarchitektur in Deutschland effizienter und effektiver wir sind dabei, dieses Cyber-Sicherheitszentrum funk-
zu gestalten. tionsfähig zu machen. Es ist eine Informationsdreh-
scheibe zwischen den Sicherheitsbehörden und dient der
Zu einer funktionierenden Demokratie gehört immer besseren Koordinierung von Schutz- und Abwehrmaß-
auch eine gut funktionierende Verwaltung. Gerade in nahmen gegen IT-Sicherheitsvorfälle. Es wird auch eine
Zeiten von Strukturanpassungen und Sparbemühungen Möglichkeit bieten, entsprechende in der Wirtschaft vor-
14380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich


(A) handene Kompetenzen zu nutzen und sie mit dem öffent- den letzten Wochen und Monaten das Stichwort Schen- (C)
lichen Bereich zu vernetzen. gen eine große Rolle. Schengen ist zu einem Synonym
für Reisefreiheit in Europa und für das Zusammenwach-
Zur notwenigen und operativen Stärkung des Bundes-
sen Europas geworden. Deswegen wollen wir, dass Kon-
amtes einschließlich des Aufbaus des Cyber-Abwehr- trollen im Schengen-Raum nur auf der Grundlage ver-
zentrums sind für das kommende Jahr 10 Millionen Euro bindlicher rechtlicher Vorschriften möglich sind.
zusätzlich vorgesehen. Wir intensivieren den Schutz kri-
tischer Infrastrukturen. Denn es ist wichtig, dass wir das, Ich sage aber auch: Ich bin dagegen, dass wir Kompe-
was für unsere tägliche Daseinsvorsorge notwendig ist, tenzen im Sicherheitsbereich auf die Europäische Union
auch in der Zukunft funktionsfähig erhalten. Die Ge- neu übertragen. Ein Staat – und somit auch unser Staat –
währleistung der Sicherheit im Cyberraum und der hat als Kernaufgabe die Sicherstellung der Sicherheit
Schutz der kritischen Infrastruktur sind zu einer existen- seiner Bürger. Dazu muss er die notwendigen rechtli-
ziellen Frage des 21. Jahrhunderts geworden. Sie erfor- chen Grundlagen und Instrumente behalten; er kann sie
dern ein hohes Engagement. Das muss uns unsere Si- nicht abgeben.
cherheit wert sein. Ich füge hinzu: Dafür benötigen wir
entsprechende Finanzmittel, auch wenn Finanzmittel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
insgesamt knapp sind. neten der FDP)

Wenn ich über knappe Finanzmittel rede, dann geht es Wir sind uns einig, dass wir in diesem Land einen
auch um die Frage, wie wir mehr Menschen dazu brin- Fachkräftemangel haben, dem wir begegnen müssen.
gen können, etwas zum Gemeinwesen beizutragen. Da- Wir sollten in erster Linie auf unser eigenes Potenzial
mit komme ich zu unserem Technischen Hilfswerk. setzen: auf das der deutschen Arbeitskräfte und der Men-
Ohne die Mitwirkung von unzähligen ehrenamtlichen schen in Deutschland; aber auch auf das Potenzial, das
Helfern wäre die Sicherheitsvorsorge im Bereich unserer wir in Europa zur Verfügung haben.
lebensnotwendigen Infrastrukturen nicht zu leisten. Wir sind uns in der Bundesregierung darüber einig,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass auch Hochqualifizierten aus Drittstaaten die Zu-
wanderung möglich gemacht werden muss. Deswegen
Wir müssen kritische Infrastrukturen vor IT-Angriffen werden wir die Hochqualifiziertenrichtlinie der EU, die
schützen. Aber Unwetter, Erdbeben oder Hochwasserka- sogenannte Blue Card, rasch umsetzen und damit diesem
tastrophen können Auswirkungen von ähnlich verhee- Bedürfnis Rechnung tragen, ohne zu übersehen, dass es
rendem Ausmaß haben. Hier sind das Technische Hilfs- schon heute eine Fülle von Möglichkeiten gibt, fleißige
werk und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und und tüchtige Arbeitskräfte, die wir in Deutschland brau-
Katastrophenhilfe verlässliche Partner. Sie sind zudem chen, in unser Land zu holen.
(B) (D)
das Aushängeschild Deutschlands in der Welt – jetzt in
Äthiopien, vor einem Jahr in Pakistan oder auch in Haiti. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Ich glaube, wir haben allen Grund, den Menschen, die GRÜNEN]: Na ja!)
sich dort ehrenamtlich engagieren, dankbar zu sein und Wenn es um die Aktivierung inländischer Fachkräfte
alles dafür zu tun, dass die Nachwuchsgewinnung auch geht, dann muss uns insbesondere die Familienpolitik
nach Abschaffung der Wehrpflicht entsprechend vonstat- am Herzen liegen. Zur Familienpolitik gehört auch, dass
tengehen kann. Ich begrüße es deswegen sehr, dass für unsere Mütter und Väter ihre Familie und ihre Kinder si-
den Bereich des THW eine Ausnahmeregelung von der cher und geschützt wissen können. Deswegen dürfen wir
haushaltsgesetzlichen pauschalen Stelleneinsparung ge- nicht tatenlos und schulterzuckend daneben stehen,
schaffen werden konnte. wenn Kinderwagen angezündet werden oder Autos bren-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen – auch in unserer Hauptstadt –, sondern wir müssen
eingreifen.
Wenn wir über das Ehrenamt reden, dann muss es
zum Prinzip erklärt werden, dass ehrenamtliche Tätig- Ich freue mich, dass wir über die Parteigrenzen hin-
keit in der Gesellschaft nicht nur Wertschätzung erfährt, weg – auch über die Grenzen der Gebietskörperschaften
sondern dass dadurch auch konkret das Fortkommen der hinweg, Bund und Land gleichermaßen – gehandelt ha-
jungen Menschen befördert wird. Ich denke dabei an die ben und dass hier in Berlin Bundespolizei und Berliner
Verbesserung des beruflichen Fortkommens durch die Polizei bei der Bekämpfung zusammengearbeitet haben.
Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen oder an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die bevorzugte Vergabe von Praktikumsplätzen. All das
muss auf den Weg gebracht werden, um den jungen Ich sage aber auch: Wir helfen als Bund gerne, aber
Menschen zu signalisieren: Ihr werdet gebraucht. Eure wir können die Strukturversäumnisse, die in einigen
Hilfe und eure Bereitschaft, euch für dieses Land einzu- Bundesländern sichtbar werden, langfristig natürlich
bringen, werden gebraucht. Vonseiten der Gesellschaft nicht ausgleichen. Deswegen ist es dringend notwendig,
sind wir dann bereit, euch zu unterstützen und Anerken- sich darüber klar zu werden, dass Sicherheit ein Grund-
nung zu zollen. bedürfnis ist. Das muss man sich in allen Bereichen
deutlich machen und dem Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, Sicherheit herzustellen, ist
auch eine Kernaufgabe der Europäischen Union. Wir tei- Ich denke, dass dieser Haushaltsentwurf zum Ersten
len einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicher- den klassischen Aufgaben des Innenministeriums ge-
heit und des Rechts. In diesem Zusammenhang spielte in recht wird, zum Zweiten den neuen Herausforderungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14381
Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
(A) – Stichwort: Internet – gerecht wird und zum Dritten die kritisieren, dass Sie entgegen allen Aussagen von Sach- (C)
richtigen Stellschrauben setzt, die für den Zusammenhalt verständigen die Ehebestandszeit im Aufenthaltsgesetz
unseres Gemeinwesens wichtig sind. von zwei auf drei Jahre erhöht haben. Ihr Argument, da-
mit Schein- und Zwangsehen besser aufdecken zu kön-
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne wünsche
nen, ist nicht belegbar. Sie haben mit diesem Gesetz die
ich für die nächsten Wochen und Monate gute Beratun-
Zeit im „Gefängnis Zwangsehe“ und die Gewalt in der
gen dieses Entwurfs.
Ehe um ein Jahr verlängert, zulasten der betroffenen
Vielen Dank. Frauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Demokratieförderung, Extremismusbekämpfung und
politische Bildung sind für uns Kernaufgaben der Innen-
Vizepräsidentin Petra Pau: politik.
Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD) Dabei kommt der Bundeszentrale für politische Bildung
eine Schlüsselrolle zu. Sie streichen Mittel für die Bun-
Gabriele Fograscher (SPD): deszentrale für politische Bildung. Im Bereich der politi-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- schen Bildungsarbeit kürzen Sie die Mittel um fast
legen! Herr Bundesinnenminister, Sie haben über die Si- 3 Millionen Euro; das ist ein fataler Fehler.
cherheitslage in Deutschland gesprochen, über Gefähr- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dungen und Bedrohungen durch den internationalen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Terrorismus. Sie haben ausgeblendet bzw. kein Wort GRÜNEN)
dazu gesagt, dass es auch andere Bedrohungslagen gibt:
organisierte Kriminalität und Alltagskriminalität. Sie ha- Gerade die Bereitstellung von Angeboten zur politischen
ben hier Ihrer Wertschätzung für den öffentlichen Dienst Bildung von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachse-
und das Ehrenamt Ausdruck verliehen; aber all das bil- nen und bildungsfernen Schichten sowie die geistig-poli-
det sich in Ihrem Haushaltsentwurf überhaupt nicht ab. tische Auseinandersetzung mit dem Extremismus sind
für die Vermittlung demokratischer Werte und die Stär-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef kung unserer Demokratie unverzichtbar. Deshalb unter-
Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stützen wir die Forderung des Kuratoriums der Bundes-
NEN]) zentrale, keine Kürzungen vorzunehmen. Wie reagieren
(B) Es ist wahr, dass der Einzelplan 06 von hohen Perso- Sie darauf? Ich zitiere aus einem Schreiben: (D)
nalausgaben geprägt ist; aber für Investitionen bleiben Die Aufgaben der BpB sind ausschließlich freiwil-
immerhin noch 9,8 Prozent des Gesamthaushalts von lige Leistungen, die nicht auf gesetzlichen Ver-
rund 5,5 Milliarden Euro. Damit könnte man durchaus pflichtungen beruhen.
Akzente setzen. Doch bei Ihnen, sehr geehrter Herr Bun-
desinnenminister, und bei den Koalitionsfraktionen sind Das ist für uns nicht akzeptabel.
solche Akzente nicht erkennbar. Sie haben keinen innen- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan
politischen Kompass, Sie haben keine Agenda, Sie ha-
Liebich [DIE LINKE] – Dr. Günter Krings
ben kein Arbeitsprogramm. [CDU/CSU]: Man wird doch darauf hinweisen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dürfen!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie setzen einen weiteren groben Fehler fort: Das
Schon Ihr Amtsantritt war ein klassischer Fehlstart. „Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extre-
Wenige Wochen im Amt, brüskieren Sie die muslimi- mismus und Gewalt“ wurde in die Bundeszentrale für
schen Gruppen in Deutschland mit Aussagen wie „Der politische Bildung eingegliedert. Damit gefährden Sie
Islam gehört nicht zu Deutschland“. Ihre Forderung an die Stellung des Bündnisses als Bindeglied zwischen Zi-
die Islamkonferenz, eine Sicherheitspartnerschaft einzu- vilgesellschaft und Staat und als Ansprechpartner für
gehen, wird von vielen als Aufforderung zum Denun- zivilgesellschaftliche Gruppen, die ehrenamtlich arbei-
ziantentum aufgefasst. So beginnt man keinen Dialog. ten.
Sie haben viel Porzellan zerschlagen, und ich sehe nicht,
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ist die Bun-
dass bzw. wie Sie das kitten wollen.
deszentrale doch nicht so gut? Das ist inkonse-
Wir erkennen an, dass Sie bei den Integrationskursen quent!)
vorankommen wollen, was Differenzierung, Zielgrup-
Dies ist vor dem Hintergrund des Wiedereinzugs der
pen und Qualität betrifft. Doch die Qualität der Kurse
NPD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern
hängt entscheidend von der Qualität der Lehrer ab und
umso unverständlicher.
somit auch von ihrer Bezahlung. Wir werden uns nicht
damit abfinden, dass es immer noch Vergütungen von (Beifall bei der SPD)
unter 18 Euro pro Stunde gibt.
Auch im Bereich des Katastrophenschutzes schwä-
Im Bereich des Ausländerrechts schaffen Sie es, ein chen Sie das Ehrenamt. Im Haushaltsentwurf für 2012
gutes Vorhaben in ein schlechtes Gesetz zu pressen. Wir werden die Mittel für das Bundesamt für Bevölkerungs-
14382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Gabriele Fograscher
(A) schutz und Katastrophenhilfe um insgesamt 2,3 Millio- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich habe (C)
nen Euro gekürzt, und das bei einem Aufgabenzuwachs, schon 40 Jahre! Da dürfen Sie nicht von „dürf-
zum Beispiel durch das neu geschaffene Cyber-Abwehr- tig“ sprechen!)
zentrum. Die Kürzungen der Mittel für den Erwerb von
Sie ist geprägt von Meinungsverschiedenheiten und
Fahrzeugen für die Feuerwehren und Sanitätsorganisa-
Streitereien zwischen dem Bundesinnenministerium und
tionen belaufen sich seit dem Haushalt 2010 auf insge-
dem Bundesjustizministerium. Die Regierungsfraktio-
samt 3,7 Millionen Euro. Dies ist genau das Gegenteil
nen CDU/CSU und FDP blockieren sich bei allen wich-
der von der Bundesregierung stets betonten Förderung
tigen Fragen der inneren Sicherheit. Darauf wird Kol-
des Ehrenamts und ignoriert die Folgen des Wegfalls der
lege Hartmann noch eingehen. Sie treten auf der Stelle,
Wehrpflicht für die Hilfsorganisationen völlig.
und Sie werden den innenpolitischen Herausforderungen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef – das zeigt der vorliegende Haushaltsentwurf – nicht ge-
Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- recht.
NEN])
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Memet
Herr Friedrich, Sie sind Verfassungsminister. Wie ge- Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
hen Sie eigentlich mit den Entscheidungen des Bundes-
verfassungsgerichts zum Wahlrecht um? Bisher war es Vizepräsidentin Petra Pau:
gute Tradition in diesem Hause, Wahlrechtsfragen mit Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff für die FDP-
breiter Mehrheit zu beschließen. Doch beim Koalitions- Fraktion.
entwurf wird und kann das nicht so sein. Wie die gest-
rige Anhörung im Innenausschuss des Bundestages (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gezeigt hat, ist Ihr Entwurf ein Überhangsicherungsge- der CDU/CSU)
setzentwurf und wird nach unserer Auffassung den Vor-
gaben des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser
(Zuruf von der FDP: Absurd!)
Woche jährt sich zum zehnten Mal der Anschlag auf das
Kein guter Stil ist es auch, dass ein Papier mit Modell- World Trade Center in New York. Der in der Folge aus-
rechnungen aus Ihrem Haus erst am Tag der Anhörung gerufene Krieg gegen den Terror hat einschneidende Än-
verteilt wird. derungen der Sicherheitsgesetzgebung unter Rot-Grün
zur Folge gehabt und gesellschaftliche Debatten ent-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ihre Rech- facht. Die Anschläge haben Ängste in der Bevölkerung
nung haben wir noch gar nicht bekommen! gegenüber Zuwanderung und gegenüber dem Islam ge- (D)
(B) Ihre Rechnung haben wir bis heute nicht!) weckt. Aber alle müssen sich darüber im Klaren sein:
Es wäre ein Armutszeugnis für die Bundesregierung und Seit vielen Generationen leben muslimische Zuwanderer
die sie tragenden Fraktionen, wenn das Bundesverfas- in Deutschland. Nicht der Islam, nicht irgendeine Reli-
sungsgericht Ihren Entwurf wieder kassierte oder per gion und nicht die Zuwanderung, sondern die ideologi-
einstweiliger Anordnung ein Wahlrecht vorgeben sche Verblendung Einzelner ist die Ursache von Terror.
müsste. Für die Koalition steht der Zusammenhalt der durch
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir lösen das Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaft im Mit-
Problem, Sie nicht einmal im Ansatz!) telpunkt.
Ihre Unfähigkeit, innerhalb der Koalition zu Lösun- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
gen zu kommen, zeigt sich auch beim Datenschutz. Sie Deutschland braucht im eigenen wirtschaftlichen und
kündigen an, eine Stiftung „Datenschutz“ zu gründen demografischen Interesse gut ausgebildete Zuwanderer.
und gesetzliche Regelungen zum Beschäftigtendaten- Wir unterstützen den Bundesinnenminister an dieser
schutz zu erlassen, aber Sie liefern nichts. Auch als Stelle eindeutig: Die gesteuerte Zuwanderung von Fach-
Sportminister haben Sie keine Erfolge vorzuweisen. kräften schafft nachhaltig Arbeitsplätze in Deutschland.
Durch die halbherzige Unterstützung der Bewerbung
Münchens für die Olympischen Winterspiele 2018 ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ben Sie und die Bundesregierung eine großartige Chance der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜND-
verspielt. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangt mal an!)

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aus Sicht der FDP müssen die Betroffenen selbst im
der FDP – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Mittelpunkt stehen. Wir stellen uns den Herausforderun-
Das ist niedlich!) gen der Integration. Wir halten es nicht für unzumutbar,
Deutsch zu lernen und das Rechtssystem zu kennen. Wir
Bei den Maßnahmen zur Dopingbekämpfung schreiben halten Zuwanderer nicht für bemitleidenswerte und un-
Sie die Haushaltszahlen der letzten Jahre fort. Die fähige Menschen, denen nur mit Nachsicht oder Sozial-
NADA unterstützen Sie nur halbherzig. hilfe begegnet werden kann. Integration braucht positi-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) ves Denken – man muss den Menschen etwas zutrauen –,
nicht aber die Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden
Die Halbzeitbilanz dieser Bundesregierung im Be- Mitleids und des Verzichts auf Integrationsanforderun-
reich der Innenpolitik ist mehr als dürftig. gen. Wir werden noch weiter gehen, um Integrationsleis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14383
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) tungen zu unterstützen und zu honorieren. Fördern und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Fordern gehören zusammen. der CDU/CSU)
Sicherheit ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Si-
cherheit ist ein globales Zukunftsthema und wird – ob Vizepräsidentin Petra Pau:
im Netz oder real – für eine vorausschauende Innenpoli- Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
tik immer wichtiger. Innenpolitik kann nur erfolgreich Die Linke.
sein, wenn sie als gemeinsames Anliegen der Gesell-
(Beifall bei der LINKEN)
schaft verstanden wird, nicht als Gegeneinander von
Staat und Bürgern, sondern als Miteinander. Innenpolitik
ist Gesellschaftspolitik. Nicht Angst darf die Triebfeder Jan Korte (DIE LINKE):
unseres Handels sein; Zuversicht muss die Triebfeder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sein. Wir reden über den Einzelplan 06. Es geht um rund
5,5 Milliarden Euro. Ein wesentlicher Teil davon betrifft
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die innere Sicherheit. Deswegen möchte ich damit be-
der CDU/CSU)
ginnen.
Eine reife demokratische Gesellschaft ist verantwort-
lich für die Normen und Werte, die sie lebt und vertei- Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass sich die
digt. Diese Aufgabe kann nicht einfach an Polizei und fürchterlichen Anschläge von New York zum zehnten
Sicherheitskräfte delegiert werden. Die Werte eines de- Mal jähren. Ich will kurz daran erinnern, was seit diesem
mokratischen Rechtsstaates müssen von allen täglich Anschlag in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich
selbstbewusst verteidigt werden. Ein beeindruckendes der inneren Sicherheit verabschiedet wurde. Ich erinnere
Beispiel für vorbildliches Verhalten ist Norwegen. Frei- an das Terrorismusbekämpfungsgesetz, an die Auswei-
heit, Demokratie, Toleranz, Mitverantwortung und tung der Videoüberwachung, an den biometrischen
rechtsstaatliche Prinzipien müssen in den Köpfen veran- Reisepass, an die Antiterrordatei, an das Terrorismus-
kert werden und nicht nur in Paragrafen. Innere Sicher- bekämpfungsergänzungsgesetz, an das Fluggastdatenab-
heit erfordert eine Politik, in der Freiheit und Sicherheit kommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, an
in eine dauerhaft akzeptierte Balance gebracht werden, die Vorratsdatenspeicherung, an den Polizeidrohnenein-
sodass auch ein Amokschütze oder ein Terrorist diese satz, an das SWIFT-Abkommen und vieles andere mehr.
Balance nicht erschüttern kann. Einen wesentlichen Bei- Das war nur ein kleiner Überblick.
trag kann die Prävention vor Ort, zum Beispiel in Schu- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ein bisschen
len, leisten. langsamer! Das kann man sich ja gar nicht
(B) merken!) (D)
Die Sicherheitsbehörden müssen ihre Rolle als An-
sprechpartner für die Ängste und Sorgen der Bürger zu- Erst wenn wir uns das in der Gesamtschau anschauen,
rückerhalten. Deshalb muss die Motivation der Beamten können wir feststellen, dass der Weg in den präventiven
gefördert werden. Diesbezüglich ist die Koalition auf Überwachungsstaat fortgesetzt wird. Auch der Einzel-
dem richtigen Weg. Doppelarbeit und Doppelstrukturen plan 06 weist – trotz oder wegen der FDP; so genau weiß
sind wenig effektiv. Deshalb wollen wir Liberalen die man das nicht – genau in diese Richtung. Deswegen
Organisationsstruktur der Sicherheitsbehörden weiter- werden wir diesen Haushalt – das kann ich Ihnen vorab
entwickeln. Der Militärische Abschirmdienst ist ver- sagen – ablehnen.
zichtbar. Der Zoll ist eine Sicherheitsbehörde. Der ehe-
malige Innen- und jetzige Finanzminister weiß das (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck
sicherlich. [CDU/CSU]: Das ist überraschend!)
Auch zum Schutz der Bevölkerung brauchen wir neue Es ist schon daran erinnert worden, dass es auch um
Wege – an Lösungen orientiert, nicht zuerst an Zustän- die Sicherheit der Menschen im Alltag geht. Die Alltags-
digkeiten. Die Tatsache, dass das THW eine Sicherheits- sicherheit auf den Märkten und Plätzen in diesem Land
behörde ist, geht insbesondere auf die Initiative der wird nicht dadurch gewährleistet, dass wir wider besse-
FDP-Fraktion zurück. res Wissen eine Vorratsdatenspeicherung einführen. Sie
wird auch nicht durch die Onlinedurchsuchung verbes-
Störungen unserer Infrastruktur oder Flutkatastrophen sert, sondern beispielsweise dadurch, dass die Kontakt-
machen nicht vor Ländergrenzen halt. Wir brauchen ein beamten – in Ostdeutschland sind das die Abschnittsbe-
neues, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem, gemein- vollmächtigten – ansprechbar sind, wenn die Menschen
sam aufgebaut von Bund und Ländern. Denkbar wäre Probleme und Alltagssorgen haben. Das wäre der rich-
deshalb die Einsetzung eines Inspekteurs für den Bevöl- tige Weg. Dafür steht die Linke.
kerungsschutz.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP)
Ich habe einige Punkte, die im Bereich der inneren Si-
Freiheit und Sicherheit mit menschlichem Gesicht in
cherheit beschlossen worden sind, angeführt. Wir haben,
einer Gesellschaft des Miteinanders, das ist unser Leit-
da wir konstruktiv sind und miteinander ins Gespräch
bild angesichts der innenpolitischen Herausforderungen
kommen wollen, einmal nachgefragt, ob das etwas ge-
der nächsten Jahre.
bracht hat, ob wir all diese Gesetze überhaupt brauchen.
Vielen Dank. Ich möchte drei Beispiele anführen.
14384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Jan Korte
(A) Erstens. Die Onlinedurchsuchung war in der letzten Uns wurde eine Kehrtwende in der Sicherheitspolitik (C)
Legislaturperiode ein Thema, das die Menschen sehr be- versprochen. Nun einigen Sie sich, wobei man hier
wegt hat. 2010 haben wir die Bundesregierung gefragt: schlecht von einer Einigung sprechen kann. Sie beugen
Wie viele Onlinedurchsuchungen haben Sie eigentlich sich dem Diktat der CDU/CSU und verlängern die Gel-
durchgeführt? Die Antwort der Bundesregierung ist sehr tungsdauer all dieser überflüssigen Sicherheitsgesetze,
interessant: Keine einzige. Wir haben ein Jahr später er- nur damit Sie Ihre abenteuerliche und irrwitzige Steuer-
neut nachgefragt. politik durchsetzen können. Dafür opfern Sie den letzten
Was sagt Ihr Haus? Minister Friedrich sagt: Das kön- Punkt, in dem Sie Glaubwürdigkeit haben. Von Ihnen ist
nen wir aus Geheimhaltungsgründen nicht mehr sagen. – wirklich in keinem Politikfeld etwas Sinnvolles übrig
So geht man bei solch relevanten Grundrechtseingriffen geblieben; das kann man heute konstatieren.
nicht mit dem Parlament um. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja
(Beifall bei der LINKEN) Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es ist unglaublich, wie stumpf man im Umgang mit dem Eine Umkehr ist geboten. Wir müssen auf vernünfti-
Parlament sein kann. Es ist doch Aufgabe des Parla- ges Personal setzen. Wir müssen der Privatisierung von
ments, solche Befugnisse zu kontrollieren. Sicherheit ein Ende setzen, und Sie werden auf unseren
energischen Widerstand stoßen, wenn Sie ernsthaft Söld-
Das zweite Beispiel: Wir haben viel über den elektro- nertruppen aufbauen lassen wollen, um Piraten zu jagen.
nischen Entgeltnachtweis diskutiert. Er wurde zum Ab- Das ist der völlig falsche Weg. Wir brauchen topfitte Be-
bau der Bürokratie mit großem Brimborium eingeführt. amte und für sie eine bessere Bezahlung, eine bessere
Das Gegenteil ist richtig. Die FDP merkte, dass ihre Ausbildung und bessere Arbeitszeiten. Das wäre der
Klientel das auch nicht toll fand. Langer Rede kurzer richtige Weg, um wirklich Sicherheit zu schaffen.
Sinn: Das ganze Projekt wurde beerdigt. Hätten Sie auf
die Opposition gehört, hätte man Millionen sparen kön- (Beifall bei der LINKEN)
nen. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass Sie Projekte Ich will zu einem anderen Punkt kommen: Nach die-
initiieren, die wir überhaupt nicht brauchen. sem Haushaltsentwurf soll es 6 Millionen Euro mehr für
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Integrationskurse geben. Das klingt erst einmal sinnvoll
DIE GRÜNEN) und schlau. Wenn man aber näher hinguckt, dann stellt
man fest, dass das nicht einmal ansatzweise ausreichend
Das dritte Beispiel: Die Debatte über den Körperscan- ist, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Sehen
ner wurde in der Presse und hier im Parlament mit Sie sich einmal die Beschäftigungssituation der Lehr-
mordsmäßigem Brimborium geführt. Er sollte nicht der kräfte in den Integrationskursen an. Reden Sie mit den
(B) absolute, aber ein großer Schritt für mehr Luftsicherheit (D)
Leuten, die dort mit sehr viel Engagement tätig sind.
werden. Ihr Vorgänger, Herr de Maizière, ist selbst durch Diese Leute müssen zum Teil aufstocken, sie müssen zu-
diesen Körperscanner gegangen; wir erinnern uns daran. sätzlich Hartz IV kassieren, weil sie aufgrund der prekä-
Was ist das Ergebnis? Sie haben getestet und getestet ren Beschäftigung in den Integrationskursen nicht ver-
und vor allem gezahlt und gezahlt. Das Ergebnis ist, dass nünftig leben können. Das kann nicht sein. Deshalb sagt
die Dinger abgebaut und im Labor wieder aufgebaut die Linke zusammen mit der Gewerkschaft Erziehung
werden. Das ist eine unseriöse Politik im Bereich der in- und Wissenschaft zu Recht: Wir brauchen, um konkret
neren Sicherheit, um das klar zu sagen.
zu werden, ein Mindesthonorar von 30 Euro pro Unter-
(Beifall bei der LINKEN – Hartfrid Wolff [Rems- richtseinheit, weil dort zum großen Teil Selbstständige
Murr] [FDP]: Da kennen Sie sich aus!) tätig sind, die sich selbst versichern müssen. Das wäre
verantwortungsvoll, um diese Tätigkeit, die mit viel
All dies ist nur ein kleiner Ausschnitt. Man bräuchte Engagement ausgeübt wird, zu honorieren. Es ist eine
die Redezeit eines ganzen Nachmittags, um das Schei- einzige Katastrophe, wie Sie prekäre Beschäftigung in
tern all dieser Großprojekte darzustellen. einem solchen Feld organisieren. Hier ist eine Umkehr
(Zuruf von der FDP: Nein, das reicht schon notwendig.
jetzt!) (Beifall bei der LINKEN)
Das Ergebnis ist: Es funktioniert nicht, es wird nicht Zu Ihren Mittelkürzungen im Bereich der politischen
gebraucht, und es wird Geld verbraucht. Man müsste Bildung um 3 Millionen Euro ist einiges gesagt worden.
jetzt die Schlussfolgerung ziehen und sagen: Die ganzen Das Gegenteil wäre richtig, gerade wenn wir uns das
elektronischen Großprojekte, die in die Grundrechte und Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern im Bereich
den Datenschutz eingreifen, werden auf Eis gelegt. Aus
des Rechtsextremismus angucken. Hier bräuchte man
der Mitte des Parlaments heraus könnte man mit unab-
mehr Geld für die politische Bildung. Wo wir gerade bei
hängigen Rechtsanwälten und mit Bürgerrechtlern eine
der Bildung sind: Frau Steinbach hat Polen vor einiger
wirkliche Evaluierung der Frage vornehmen, ob wir all
diese Maßnahmen brauchen, ob sie etwas bringen. Dazu Zeit eine gewisse Mitschuld am Kriegsbeginn 1939 gege-
sind Sie aber nicht bereit. ben. Das bedeutet für die Linke ganz eindeutig: Wir brau-
chen bedeutend mehr Geld für die politische Bildung und
In diesem Zusammenhang ist die FDP interessant. weniger Geld für den Bund der Vertriebenen. Das wäre
die richtige Antwort, die wir hier geben müssten.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die ist
immer interessant!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14385
Jan Korte
(A) Zum Abschluss meiner Rede noch eine vielleicht in- Es waren sogar noch 3 Prozent zu viel für eine Partei, die (C)
teressante Neuigkeit für die Koalitionsfraktionen: Das solche Positionen vertritt. Das möchte ich klar sagen.
BMI ist auch für Ostdeutschland zuständig. Das ist Ih-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg.
nen offensichtlich noch nicht aufgefallen. Deswegen
Gisela Piltz [FDP])
möchte ich heute daran erinnern. Ich möchte auch daran
erinnern, dass der Beauftragte der Bundesregierung für Ich fasse zusammen: Frau Piltz – Sie rufen gerade so
die neuen Bundesländer, Staatssekretär Bergner, bisher schön dazwischen –, die FDP hat keine Kehrtwende der
bundesweit vor allem dadurch aufgefallen ist, dass er Sicherheitspolitik erreicht; der Raubbau an den Bürger-
überhaupt noch nicht aufgefallen ist. Es ist die denkbar rechten geht weiter. Eine wirkliche Evaluierung findet
schlechteste Konstellation, wenn ein CSU-geführtes nicht statt. Zu Ostdeutschland fällt Ihnen gar nichts ein.
Ministerium für Ostdeutschland zuständig ist. Das muss Das ist vielleicht sogar besser; denn wenn Sie etwas ma-
dringend geändert werden. Das ist eine einzige Zumu- chen, ist es meistens das Falsche. Vielleicht sagen Sie
tung. dazu lieber weiterhin nichts und überlassen es der Lin-
ken, sich um die Belange Ostdeutschlands zu kümmern.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/ (Beifall bei der LINKEN – Hartfrid Wolff [Rems-
CSU]: Dr. Bergner ist ein sehr guter Mann! Murr] [FDP]: Armes Deutschland!)
Das möchte ich hier festhalten!)
Ich möchte noch etwas mit Blick auf den Rechtsextre-
Sie, Minister Friedrich, haben keinen Satz zur Situa- mismus sagen. Herr Innenminister, es ist unfassbar, dass
tion in Ostdeutschland gesagt. Dort wurde viel erreicht; Sie ausgerechnet die engagiertesten Demokratinnen und
das ist richtig. Bei der Kinderbetreuung und auch bei al- Demokraten in diesem Land Demokratieerklärungen un-
ternativen Energien ist dort vieles vorbildlich, aber nach terschreiben lassen. Das ist absurd und eine Frechheit.
wie vor liegt die Arbeitslosenquote im Westen bei 6 Pro- Vielleicht wäre es jetzt eine vernünftige Geste, diese Re-
zent und im Osten bei über 10 Prozent. Das ist die Reali- gelung endlich zurückzunehmen und diesen Menschen
tät. Sie sagen dazu nichts. Von Ihnen kommt auch kein Anerkennung für ihre tägliche Arbeit für eine lebendige
Hinweis darauf, dass man bezüglich der Lohnschere Zivilgesellschaft zu geben. Das wäre angemessen.
zwischen Ost und West etwas tun müsste. Nach wie vor
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
beträgt der Stundenlohn in Ostdeutschland nur 75 Pro-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zent des Westniveaus. Das ist doch nicht hinnehmbar.
Es ist weiterhin Druck nötig. Ich hoffe, dass nächstes
(Beifall bei der LINKEN) Wochenende viele an der Demo „Freiheit statt Angst“
(B) Was sagen Sie dazu? Haben Sie einen Plan, das zu än- teilnehmen, um gegen diese Bundesregierung, (D)
dern? Den haben Sie offenbar nicht. (Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE
Die Bundesregierung sagt auch zu diesem Bereich LINKE])
überhaupt nichts. Sie sagen nichts zum Lohnniveau in gegen diese falsche Politik, die Sie machen, zu protestie-
Ostdeutschland. Sie sagen nichts dazu, dass die Hunger- ren. Die Linke steht für den demokratischen Rechtsstaat,
löhne von heute, die es insbesondere in Ostdeutschland für den Sozialstaat und vor allem für aufmüpfige Bürger,
gibt, die Armutsrenten von morgen sein werden. Auch also für all das, für das Sie nicht stehen.
das interessiert Sie offenbar überhaupt nicht. Da muss
erst die Linke kommen und Sie daran erinnern. Sie sagen Schönen Dank.
keinen Satz zu dieser Thematik. Das ist ein Skandal. Der (Beifall bei der LINKEN)
Ostbeauftragte hat sich gleich in die letzte Reihe gesetzt.
Das kann doch wirklich nicht wahr sein.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frak-
In dem Zusammenhang, Herr Kollege Bergner, wäre tion Bündnis 90/Die Grünen.
es zum Beispiel angebracht, in Sachsen-Anhalt dafür zu
kämpfen – in Berlin und Brandenburg ist es auf Druck Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
der Linken gelungen –, für ältere Langzeitarbeitslose ei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
nen öffentlichen Beschäftigungssektor zu schaffen. Liebe Kollegen! Die Ereignisse des 11. September 2001
wurden schon angesprochen. Ich denke, diese Ereignisse
(Beifall bei der LINKEN) sind vielleicht die einzigen, bei denen jeder und jede in
Sozialversicherungspflichtige menschenwürdige Arbeit diesem Raum sich erinnert, wo und wann er davon er-
für Langzeitarbeitslose ist die richtige Antwort. Dazu fahren hat, wer ihm was gesagt hat und was ihm als Ers-
könnten Sie doch einmal etwas sagen. tes dabei durch den Kopf gegangen ist. Es waren absolut
einschneidende Ereignisse, für jeden individuell, aber
(Gisela Piltz [FDP]: Der Rest der Republik auch für die Welt insgesamt.
zahlt dafür!)
Mit diesen Anschlägen ist der islamistische Terror in
Dass die FDP für solche Personen nichts übrig hat, wis- den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt. Zweifels-
sen wir. Was die Menschen davon halten, wurde gerade ohne mussten und müssen unsere Sicherheitsbehörden
eindrucksvoll in Mecklenburg-Vorpommern bewiesen. und unsere Sicherheitsvorkehrungen angepasst und auf
14386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Katja Dörner
(A) die Bedrohungen durch den internationalen und den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und (C)
transnational agierenden Terrorismus ausgerichtet wer- bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der
den. Ich möchte daran erinnern, dass das schon unter SPD – Patrick Döring [FDP]: Die größten Kriti-
Rot-Grün eingerichtete Terrorabwehrzentrum einen ganz ker der Elche waren früher selber welche! –
wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat und dazu leistet, Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist
dass es in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht mal wieder typisch grün-rote Politik!)
zu Anschlägen gekommen ist.
Wenn dies den Innenminister nicht beeindruckt, weil es
Die Verbesserung der Sicherheit, das Schließen von eine Oppositionsabgeordnete sagt, dann möchte ich Ih-
tatsächlichen Sicherheitslücken und eine ordentliche nen das Bischofswort zu genau diesem Thema, das ges-
Evaluierung bestehender Gesetze sind angesichts neuer tern veröffentlicht worden ist, ans Herz legen.
Herausforderungen permanente Aufgaben. Diesen Auf- Dieser Sommer war überschattet von den schreckli-
gaben stellen wir uns gemeinsam. Der Innenminister hat chen Ereignissen in Norwegen. Die Anschläge dort ha-
bereits darauf hingewiesen: Der Haushaltsausschuss hat ben uns ganz dramatisch vor Augen geführt, dass es für
in der Woche vor der Sommerpause die notwendigen derartige Wahnsinnstaten auch ganz andere ideologische
Stellen entsperrt, um die Sicherheit in der Luftfracht zu Motive geben kann als die von al-Qaida. Als ich im Juni
verbessern. dieses Jahres mit der Kinderkommission des Deutschen
Klar ist aber: Die Gefahren für die innere Sicherheit Bundestags in Oslo war, bin ich bei einem Abendtermin
dürfen uns keineswegs dazu verleiten, Grund- und Bür- mit einer Abgeordneten der sogenannten Fortschrittspar-
gerrechte einfach so über Bord zu werfen. Die Politik tei, einer ganz netten Dame in einem adretten Kostüm,
der inneren Sicherheit muss die Bürgerinnen und Bürger ins Gespräch gekommen.
doppelt schützen: vor Anschlägen, aber auch vor über- (Patrick Döring [FDP]: Dafür sind Sie da! Das
flüssigen, unverhältnismäßigen und diskriminierenden gehört zur Politik!)
Überwachungsmaßnahmen.
Sie erzählte mir, dass es mit den Muslimen in Norwegen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN große Probleme gebe. Sie sagte, dass es dort zu viele
und bei der LINKEN) Ausländer gibt und dass nur noch die Muslime Kinder
bekommen, die Norweger aber nicht. Es war eine Art
Im vergangenen Monat wurde nicht nur die Geltungs- „Norwegen schafft sich ab“, nur ohne Buch.
dauer der Befugnisse, die sich aus dem Terrorismusbe-
kämpfungsergänzungsgesetz ergeben, verlängert, son- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
dern die Befugnisse wurden sogar verschärft, und das GRÜNEN]: Und ohne Sarrazin!)
(B) ohne eine ordentliche Prüfung, ob Bürgerrechte unzuläs- (D)
– Und ohne Sarrazin; das stimmt.
sig eingeschränkt wurden. Die FDP hat im Vorfeld zwar
wieder die Backen aufgeblasen, gepfiffen; aber, wie man (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Und was
so schön sagt, geliefert wurde natürlich nicht. Aber das wollen Sie uns jetzt damit sagen?)
wundert uns schon lange nicht mehr.
Im Juni lag die Fortschrittspartei in Norwegen in Umfra-
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt! – gen bei mehr als 20 Prozent. Nach den Anschlägen hat
Gisela Piltz [FDP]: Was haben Sie denn in Ih- die Vorsitzende der Fortschrittspartei natürlich jeden Zu-
rer Regierungszeit bei diesem Thema ge- sammenhang zwischen dem Programm ihrer Partei und
macht?) dem, was passiert ist, ganz weit von sich gewiesen.

Mit 9/11 hat sich auch das Leben der Muslime in In der Zeit standen die erschreckenden, aber, wie ich
Deutschland gravierend verändert. Viele unbescholtene finde, völlig richtigen Sätze – ich zitiere mit Erlaubnis
Bürgerinnen und Bürger fühlten und fühlen sich unter der Präsidentin –:
Generalverdacht gestellt. Was Rasterfahndung, Schleier- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dafür brau-
fahndung chen Sie keine Erlaubnis mehr! Die Geschäfts-
ordnung wurde schon vor langer Zeit geän-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Aha!
dert!)
Wer hat das denn eingeführt? – Gegenruf des
Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Anders Breivik kam nicht aus dem Nichts. Er mag
GRÜNEN]: Ja, ja! Wir haben es aber auch ein Einzeltäter gewesen sein, das wird sich noch he-
wieder abgeschafft!) rausstellen, aber sicher ist schon jetzt: Er war kein
Einzeldenker.
und die Existenz des Eingebürgertenregisters im Hin-
blick auf das Gefühl, heimisch und integriert zu sein, Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch vor diesem
aber auch im Hinblick darauf, ob man sich integrieren Hintergrund wäre es gut gewesen, wenn wir von unse-
will, für jeden Einzelnen, also höchst individuell, bedeu- rem Innenminister heute den Satz gehört hätten, dass der
tet, darüber sollte jeder einmal genau nachdenken, vor Islam ganz selbstverständlich zu Deutschland gehört.
allem weil klar ist, dass die pauschale Einschätzung von
Vielen Dank.
Ausländerinnen und Ausländern, von Menschen mit Mi-
grationshintergrund und insbesondere von Muslimen als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Sicherheitsrisiko faktisch falsch ist. bei der SPD und der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14387

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Katja Kipping [DIE LINKE]: Denn die CDU- (C)
Der Kollege Dr. Günter Krings hat für die Unions- Länder können es nicht!)
fraktion das Wort. Dem rot-roten Senat ist es wichtiger, dass sie Namens-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schilder tragen, als dass sie angemessen ausgestattet
sind. Das ist das Gegenteil unserer Sicherheitspolitik.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jan
Korte [DIE LINKE]: Es ist gut, dass Sie nie
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
mehr regieren werden in Berlin! Das ist eine
Herren! Der heute vorliegende Entwurf des Bundeshaus-
gute Nachricht!)
halts 2012 für das Innenressort ist ein klares Bekenntnis
zur inneren Sicherheit in unserem Land. Er ist ein klares Neben der richtigen Ausstattung für die Polizei brau-
Bekenntnis der christlich-liberalen Koalition zu diesem chen unsere Polizeikräfte natürlich auch angemessene
Thema, dem Kernthema des Staates. Ich bedanke mich und verantwortungsvoll genutzte Befugnisse. Das ist ge-
gerade bei dem Innenminister für die hervorragende Vor- rade im letzten Jahrzehnt angesichts neuer terroristischer
bereitung dieses Entwurfs. Herausforderungen deutlich geworden. Eben wurde es
mehrfach erwähnt: Am kommenden Sonntag begehen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir den zehnten Jahrestag des grausamen Massenmordes
Die klare und wichtige Schwerpunktsetzung auf in- vom 11. September 2001. Ich finde, es ist an dieser
nere Sicherheit sehen wir am augenfälligsten daran, dass Stelle der Ort, auch einmal darauf hinzuweisen, dass un-
fast die Hälfte dieses Etats der Bundespolizei zugute- ter den 3 000 Toten – das geht in der Gesamtzahl fast un-
kommt. Wir sehen es daran, dass wir trotz Sparnotwen- ter – damals auch immerhin elf Deutsche waren und dass
digkeiten, die wir alle nicht bestreiten wollen, im Ent- wir insgesamt in den letzten zehn Jahren als zivile Opfer
wurf das Niveau von 2011 gehalten haben. Ja, wir haben des islamistischen Terrors den Tod von über 40 deut-
sogar einen leichten Aufwuchs bei der Bundespolizei schen Mitbürgern zu beklagen haben.
und beim Bundesamt für Sicherheit in der Informations- Wir müssen auch nach zehn Jahren weiter wachsam
technik zu verzeichnen. bleiben, nicht nur, aber eben auch gegenüber der Gefahr
des islamistischen internationalen Terrors, der nicht nur
Seit 2006, seit CDU- oder CSU-Minister Verantwor-
uns in Deutschland und in der westlichen Welt bedroht,
tung im Innenressort tragen, gibt es einen kontinuierli-
sondern auch eine große Bedrohung in allen Teilen der
chen Aufwuchs um insgesamt etwa 400 Millionen Euro
Welt ist, gerade auch im asiatischen Raum. Aus diesem
in diesem wichtigen Bereich. Das ist ein gutes und star-
Grunde ist es wichtig, dass die Polizei wachsam ist. Aber
(B) kes Signal für die innere Sicherheit in unserem Land. (D)
wir brauchen verstärkt auch – das haben wir gesehen –
(Beifall bei der CDU/CSU) nachrichtendienstliche Erkenntnisse. Ohne diese geht es
nicht. Es geht nicht mit einer Omnipräsenz der Polizei,
Die von mir genannte Bundespolizei und ihre ent- sondern wir sind darauf angewiesen, nachrichtendienst-
scheidende Bedeutung sieht man nicht nur im Bereich liche Erkenntnisse mit europäischen, auch transatlanti-
der Grenzkontrollen und der immer stärker und notwen- schen Partnern vertrauensvoll auszutauschen. Deswe-
diger werdenden Auslandsverwendung. Wir sehen das gen reagieren wir so allergisch darauf, wenn man jede
auch immer stärker bei der Unterstützung der Landespo- dieser notwendigen Kooperationsmaßnahmen gleich un-
lizei. Wir stellen es besonders stark und besonders klar ter Generalverdacht stellt. Ohne diese Kooperation hätte
hier in Berlin fest, wo es eben leider der Berliner Polizei es in Deutschland wahrscheinlich weitere Anschläge ge-
nicht gelungen ist, Gewalt- und Vandalismusexzesse der geben. Deshalb ist dieser Austausch wichtig und not-
vergangenen Wochen alleine zu stoppen. Erst durch die wendig.
Bundespolizei konnten hier effektive Abschreckungs-
und Aufklärungswirkungen erzielt werden. Dafür herzli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
chen Dank! neten der FDP – Dr. Konstantin von Notz
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neralverdacht haben Sie ansonsten nicht sol-
che Probleme!)
Ich will aber eines klipp und klar sagen: Das liegt in
keinem Falle am mangelnden Engagement der Berliner Die schreckliche Bluttat von Norwegen – auch das
Polizisten. Ganz im Gegenteil: Das sind motivierte und will ich erwähnen – hat gezeigt: Selbst vermeintliche
hoch engagierte Kollegen. Sie werden aber seit zehn Jah- Einzeltäter sind über die Landesgrenzen hinaus vernetzt
ren vom rot-roten Senat im Stich gelassen. Ihnen werden und müssen international bekämpft werden.
Stellen gekürzt. In den letzten zehn Jahren sind in Berlin Sicherheit ist aber nicht nur in der sichtbaren Welt
unter SPD-Verantwortung 4 000 Stellen gekürzt worden. wichtig, sondern auch im digitalen Raum. Das Internet
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Sagen Sie, wie ist Mittel zur Begehung von Straftaten: von feigen Ver-
viele Stellen Sachsen gekürzt hat bei der Poli- leumdungen durch meistens anonyme Verleumder, die
zei!) Existenzen zerstören können, über den Diebstahl geisti-
gen Eigentums bis hin zum Identitätsdiebstahl. Jede Mi-
Sie sind Opfer einer sogenannten Deeskalationsstrategie, nute wurden in Deutschland zwei Identitäten gestohlen
die auf die Knochen der Polizisten geht. und werden damit Betrugstaten begangen.
14388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Günter Krings


(A) In diesem Bereich verzeichnen wir einen Anstieg der Das gilt auch für das Schengener Grenzkontrollre- (C)
Kriminalität um 8 Prozent. Schon das ist alarmierend. gime. Die Schengener Regeln müssen effektiver ausge-
Zusätzlich gibt es klare Hinweise darauf, dass sich da- staltet und durchgesetzt werden. Ich bin sehr froh, dass
hinter ein noch viel größeres Dunkelfeld verbirgt. dazu jetzt endlich Kommissionsvorschläge auf dem
Tisch liegen. Diese Vorschläge müssen wir eingehend
Zum anderen ist das Internet aber auch ein immer be- prüfen.
liebteres Ziel von Angriffen, viele davon aus dem Aus-
land. Insgesamt haben wir pro Jahr etwa 1 800 Hacker- Persönlich sage ich aber: Zumindest einen Schritt
angriffe. halte ich für richtig, nämlich den Vorschlag, dass auch
unangemeldete Inspektionen der Grenzkontrollen durch
Außerdem wird das Internet immer mehr – das ist es Frontex erfolgen können sollen. Denn wir brauchen
schon zunehmend geworden – zu einer lebenswichtigen – ich wiederhole es – eine klare Durchsetzung der beste-
Infrastruktur. Natürlich hat der Staat auch eine Verant- henden Regeln. Und je besser wir die Grenzen kontrol-
wortung zum Schutz dieser Infrastruktur. Diesen staatli- lieren und je mehr wir auf andere Staaten vertrauen kön-
chen Schutzauftrag nehmen wir in dieser Bundesregie- nen, desto gelassener können wir es dann vielleicht auch
rung und in dieser Koalition ernst. Deshalb wurde in sehen, wenn neue Staaten in den Schengenraum hinein-
diesem Jahr das Nationale Cyber-Abwehrzentrum ge- kommen wollen.
gründet. Wir müssen auch weitere Kompetenzen im
Sinne von Sachkunde aufbauen, um mit der Entwicklung Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Satz zum
Schritt zu halten. Deswegen ist es richtig, dass es beim Thema Wahlrecht, weil Frau Fograscher es in der Mitte
BSI an dieser Stelle zu einem gewissen Aufwuchs ihrer Rede angesprochen hat, obwohl es mit Haushalt ei-
kommt. gentlich nicht viel zu tun hat.

Mit Terrorismusbekämpfung und Internetkriminalität (Gabriele Fograscher [SPD]: Aber mit Ihnen
habe ich bereits zwei Beispiele für die europäische hat es zu tun!)
Dimension der Innenpolitik angesprochen. Wichtig Frau Fograscher, es geht in meinem Feld aber um Zah-
bleibt aber trotz allem – das hat der Minister sehr richtig len. Das war wahrscheinlich auch der Bezug.
gesagt – eine saubere Abgrenzung zwischen nationalen
und europäischen Zuständigkeiten. Wir haben gestern die Anhörung aufmerksam ver-
folgt. Die meisten von Ihnen konnten nicht da sein. Ich
Die Asylpolitik ist für uns ein zentrales Beispiel da- nenne Ihnen noch einmal das Ergebnis: Der Entwurf der
für, was in nationaler Verantwortung bleiben muss – SPD ist mit Abstand am schlechtesten bewertet worden.
jedenfalls fairerweise so lange, wie es durch unter-
(B) schiedliche Sozialpolitiken in verschiedenen Staaten der (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ganz (D)
Europäischen Union sehr unterschiedliche Migrations- eindeutig!)
anreize gibt. Wir haben als Koalition einen Vorschlag vorgelegt,
den man nicht mögen muss, der aber das verfassungs-
Deswegen sehen wir aktuelle Kommissionsvor-
rechtlich vorgegebene Problem löst.
schläge für ein gemeinsames europäisches Asylsystem
sehr kritisch; denn im Ergebnis würden sie genau das Da es so ist, hoffe ich darauf, dass die SPD als die
Gegenteil von Gemeinsamkeit und europäischer Verein- einzige politische Kraft im Hause, die keinen verfas-
heitlichung schaffen. Wenn zum Beispiel laut Kommis- sungstauglichen Vorschlag gemacht hat, sondern mit ih-
sionsvorstellungen vorgesehen werden soll, dass ein rem Vorschlag das verfassungsrechtliche Problem nicht
Asylbewerber gerichtlich erstreiten darf, in welchem einmal im Ansatz löst,
Land sein Asylverfahren durchgeführt werden soll, ist
das nichts anderes als ein Schlag ins Gesicht der Idee des (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist ja
europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des nichts Neues!)
Rechts; denn dadurch wird die dauerhafte Unterschrei- vielleicht auf unseren Vorschlag, auf den sich immerhin
tung und Missachtung der Mindeststandards im Asylver- schon drei Parteien im Bundestag verständigt haben, ein-
fahren in einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen schwenken kann. Ich hoffe jedenfalls auf gute Gesprä-
Union gerade zementiert. Genau das können wir nicht che.
hinnehmen. Wir brauchen im Asylrecht nicht immer
neue Regeln, sondern endlich die europaweite Befol- Kennzeichen christlich-demokratischer und christ-
gung der bestehenden Regeln. lich-liberaler Innenpolitik ist der soziale Zusammenhalt.
Deswegen ist für uns neben den Sicherheitsthemen auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wichtig, dass wir im BMI federführend das Thema des
neten der FDP) demografischen Wandels in den nächsten Jahren anpa-
cken. Wir erwarten hier einen Demografiebericht, und
Das gilt aus meiner Sicht auch ganz generell in der die Bundesregierung wird eine Demografiestrategie vor-
Europäischen Union. Die neuen und auch die alten Pro-
legen. Das ist Teil des sozialen Zusammenhalts.
bleme der Europäischen Union werden wir nicht durch
immer mehr Rechtsetzung lösen können. Vielmehr brau- Teil des sozialen Zusammenhalts in der Innenpolitik
chen wir endlich mehr Rechtdurchsetzung, also Durch- ist ferner, dass wir Generationengerechtigkeit ernst neh-
setzung der Regeln, die wir schon längst beschlossen ha- men. Deswegen haben wir bei allen wichtigen Aufgaben
ben. heute auch einen sparsamen Haushalt zu beraten. Aus
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14389
Dr. Günter Krings
(A) diesem Grunde ist der vorliegende Vorschlag gut. Ich den, aber nicht klar gesagt, dass es ein großer politischer, (C)
freue mich auf die Beratungen. organisatorischer und polizeilicher Fehler war, was Ihr
Vorgänger damals angestellt hatte?
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD – Josef Philip Winkler
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hört ja gar
nicht zu!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann für die Es gibt in der Tat einen großen Diskussionsbedarf bei
SPD-Fraktion. unseren Sicherheitsbehörden. Aber warum reden Sie
nicht zunächst über eine Aufgabenkritik? Warum sagen
(Beifall bei der SPD) Sie kein Wort darüber, dass die Burn-out-Quote bei der
Bundespolizei himmelschreiend hoch ist? Warum reden
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Sie von Wertschätzung, kürzen aber ohne Not das Weih-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nachtsgeld weiter? Das ist die wahre Politik, die Sie be-
Herren! Lieber Herr Krings, zum Thema Wahlrecht will treiben. Alles andere ist Rhetorik.
ich Ihnen doch direkt auch eine Antwort geben. Wissen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sie, Hochmut kommt vor dem Fall. Wer es über drei
Jahre hinweg nicht schafft, die Vorgaben des Verfas- Ihr Vorgänger im Amt hat an die Stelle der inneren Si-
sungsgerichts umzusetzen, der sollte mit anderen in den cherheit die sogenannte öffentliche Sicherheit stellen
Dialog kommen, statt sie verächtlich zu behandeln. Sie wollen. Sei’s drum: So oder so, ob als innere oder öffent-
werden uns noch sehr brauchen, Herr Krings. liche Sicherheit betitelt, ist es das Kerngeschäft des Bun-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem desinnenministers. Aber warum betreiben Sie dieses
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Kerngeschäft nicht, sondern schwadronieren über
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1 000 mögliche Terroristen in Deutschland? Woher ha-
Dann sehen wir uns in Karlsruhe!) ben Sie diese Zahl? Sicherlich nicht vom Bundeskrimi-
nalamt oder von den Diensten. Sie arbeiten nämlich se-
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, man muss riös.
nicht ans Rednerpult treten wie Franz Josef Strauß selig,
mit großer Rhetorik und rotem Kopf. Aber so leiden- Mit welchem Ziel werfen Sie solche Zahlen in die
schaftslos, wie Sie sie gehalten haben, muss eine Ein- Diskussion? Was wollen Sie daraus ableiten? Ich kann es
bringungsrede wahrhaftig nicht sein, sehr geehrter Herr nicht erkennen, und ich glaube, auch das geneigte Publi-
Bundesinnenminister. kum nicht, ebenso wenig wie die Bild-Zeitung, in der Sie
(B) das kundtun zu müssen meinten. (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Eigentlich käme es darauf an, an die solide Politik der
inneren Sicherheit, wie sie unter Rot-Grün begonnen
Das ist aber in gewisser Weise symptomatisch. Denn und in der Großen Koalition fortgesetzt wurde, weiter
es gab Zeiten, als es für einen Konservativen etwas wie anzuknüpfen.
ein hoher Ritterschlag war, Bundesinnenminister zu wer-
den. Jetzt war es aber so, dass sich das Karussell wild (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein, bitte nicht!
drehte, aber keiner wollte und einer musste. Das war Um Gottes willen!)
Hans-Peter Friedrich. Dementsprechend füllt er sein Das bedeutet, dass viele Themen gefälligst vorangetra-
Amt auch aus. gen werden müssen.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist (Zuruf der Abg. Gisela Piltz [FDP])
aber billig!)
– Wo es ernst wird und Handeln gefordert ist, liebe Frau
Denn in dieser Bundesregierung ist die Innenpolitik auf Piltz, da ist völlig Fehlanzeige.
den Hund gekommen. Sie nehmen das Themenfeld nicht
ernst. (Gisela Piltz [FDP]: Das sehen wir anders!)
(Beifall bei der SPD) An dieser Stelle sei das Lieblingsthema Vorratsdaten-
speicherung genannt. Auf der einen Seite steht die FDP,
Spätestens seit dem Wechsel von Thomas de Maizière die sofort den Orwell’schen Überwachungsstaat wittert
in das Amt des Bundesverteidigungsministers sind kei- und die Bürgerrechte vernichtet sieht, wenn man damit
nerlei Richtung und Orientierung mehr erkennbar. An vorangeht. Auf der anderen Seite steht die Union, die
Bundesminister de Maizière als Minister des Innern erin- ständig fordert, es müsse schneller gehen und sie müsse
nert vor allem die verunglückte Organisationsreform der tiefer gehen. Entschieden wird aber nichts. Alles, was
Sicherheitsbehörden, die Sie als eine Ihrer ersten Amts- wir erleben, ist Streit auf offener Bühne. Das ist keine
handlungen wieder kassieren mussten bzw. durften. Es gute Politik der inneren Sicherheit.
wurde eine Kommission eingesetzt, die die bewährte
Sicherheitsarchitektur Deutschlands ohne Not infrage (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
stellt. Hinterher will es keiner gewesen sein.
Das lässt sich fortsetzen. Das Stichwort Sicherheit bei
Warum haben Sie so viele anerkennende Worte in der Luftfracht haben Sie dankenswerterweise wenigstens
Richtung Bundeskriminalamt und Bundespolizei gefun- erwähnt. Aber die offenkundigen Lücken beim Fracht-
14390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Michael Hartmann (Wackernheim)


(A) verkehr in Passagiermaschinen sehen wir noch nicht ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
schlossen. Oder sind sie inzwischen geschlossen wor- der CDU/CSU)
den, Herr Minister? Stattdessen tobt weiterhin ein Streit
zwischen dem Finanzministerium, dem Verkehrsminis-
Florian Toncar (FDP):
terium und dem Innenministerium darüber, wo die Kom-
petenzen liegen sollen. Ich sage es Ihnen: Die Kompe- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
tenzen müssen bei der Bundespolizei liegen. Dort gen! Wir diskutieren, wenn wir über die innere Sicher-
gehören sie hin und nirgendwo anders, Herr Minister. heit sprechen, darüber, wie wir unseren Bürgern Freiheit
gewährleisten und wie wir sie schützen können. Dazu
Stichwort Piraterie. Es wird darüber schwadroniert gehört natürlich auch, dass sie frei sind von Bedrohun-
und fabuliert, man müsse das Waffenrecht ändern. Es gen ihrer körperlichen Gesundheit oder ihres Eigentums.
wird darüber geredet, dass private Sicherheitsdienste zu- Dabei geht es nicht darum, dass man sich im politischen
künftig eine Kernaufgabe des Staates erfüllen sollen. Es Wettbewerb mit immer neuen Vorschlägen für immer
wird darüber geredet, die Polizei solle in den Einsatz, schärfere Gesetze überbietet, die letzten Endes nur eine
und es wird darüber geredet, die Bundeswehr solle in symbolische Wirkung haben. Es geht vielmehr um sinn-
den Einsatz. Nur, gehandelt wird nicht – und das bei ei- volle Gesetze, die tauglich und verhältnismäßig sind und
nem Kernthema der inneren Sicherheit, Herr Minister. die nicht stärker in die Freiheit der Bürger eingreifen, als
es nötig ist. Wenn man solche Gesetze hat, ist es nötig,
(Beifall bei der SPD)
dass sie vollzogen werden. Zu einem guten Vollzug ge-
Es geht so weiter beim Thema organisierte Kriminali- hört eine ausreichende Zahl von Mitarbeitern in den Si-
tät. Das ist ein Schwerpunkt, und darüber war verdammt cherheitsbehörden, die motiviert sind, gerne ihren Dienst
wenig zu hören. Wie ist das eigentlich mit der Kontrolle tun und auch gut ausgestattet sind. Genau dieser Aspekt
der Drogenwege nach Deutschland? Wie verhält es sich ist es, der beim Haushalt eine Rolle spielt.
eigentlich mit dem großen Thema der Geldwäsche?
Ich will aber auf das Thema der Sicherheitsgesetze
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da ist der eingehen. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz ist von
Bundesfinanzminister zuständig! Zoll!) dieser Bundesregierung evaluiert worden. Die Evalua-
tion hat erstmals ernsthaft stattgefunden. Sie hat dazu
Was ist mit der Mafia, die ihr Unwesen bei uns treibt? geführt, dass etliche Befugnisse als überflüssig erkannt
Was ist mit der Technik, die wir brauchen, und dem Per- und deswegen gestrichen worden sind. Das muss man
sonal? Darüber äußert sich die Koalition unklar. festhalten. Wir machen das, was nötig ist, aber was
Last, but not least – auch das kann ich Ihnen nicht er- nichts bringt oder unverhältnismäßig ist, wird gestri-
(B) sparen –: Die Bundespolizei, die in Saudi Arabien sozu- chen. So stellen wir uns Innenpolitik vor. (D)
sagen als Handlanger von EADS unterwegs ist, handelt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
auf einer fehlenden Rechtsgrundlage; denn – das bewegt
der CDU/CSU)
sich am Rande des Verfassungsbruchs – der Vertrag, der
abgeschlossen wurde, wurde niemals durch das deutsche Wir haben in der Koalition Einigung darüber erzielt,
Parlament ratifiziert. Legen Sie ihn schnellstens vor, und dass wir beim Kampf gegen das Verbrechen der Kin-
sagen Sie uns bitte, was wirklich in Saudi Arabien pas- derpornografie im Internet dem Grundsatz „Löschen
siert, sehr geehrter Herr Minister. statt Sperren“ folgen, weil nur dadurch eine nachhaltige
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wirkung erzielt und das Problem an der Wurzel gepackt
DIE GRÜNEN) wird. Ich glaube, dass wir hier eine ausgesprochen prak-
tikable und sinnvolle Lösung gefunden haben. Insofern
Herr Minister, wer wie Sie – jetzt zitiere ich Sie – kann keine Rede davon sein, Herr Kollege Korte, dass
klare Kante ohne viel Radau als seine Devise als Bun- ein Raubbau an Bürgerrechten stattfindet. Sie haben
desinnenminister bezeichnet, der muss ein geordnetes auch nicht anhand von Beispielen belegt, dass Bürger-
Regieren gewährleisten, ganz im Sinne staatskonservati- rechte eingeschränkt worden sind.
ver Tugenden. Das muss er zu seiner Maxime machen.
Davon ist allerdings nichts zu hören und nichts zu sehen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Doch! Ich habe Ihnen
Stattdessen kommt einem das Ganze vor wie die Ge- eine ganze Liste vorgelesen!)
schichte vom Münchner im Himmel: Er sitzt da, er trinkt
Ich will Ihnen eines deutlich sagen: Es fällt mir aus-
seine Maß, und der Innenminister wartet auf die göttli-
gesprochen schwer, mir solche Reden von Ihnen anzuhö-
chen Ratschläge. Die werden ausbleiben, Sie müssen es
ren. In Ihrer Partei gibt es Leute, die sitzen bleiben,
selbst machen, Herr Minister.
wenn am 13. August der Maueropfer gedacht wird, und
(Beifall bei der SPD – Dr. Günter Krings Ihre Parteiführung schickt Ergebenheitsadressen an den
[CDU/CSU]: Schwaches Ende einer schwa- Diktator in Kuba, der die Menschenrechte jeden Tag mit
chen Rede!) Füßen tritt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jan
Vizepräsidentin Petra Pau: Korte [DIE LINKE]: Schauen Sie mal, was
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Florian Toncar sich in Ihrer eigenen Truppe abspielt, dann
das Wort. kehren Sie einmal vor Ihrer eigenen Tür!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14391
Florian Toncar
(A) Sparen Sie sich einfach Ihre Reden und schauen Sie, Ich schlage vor, dass wir uns überlegen, wie man ei- (C)
dass Sie Ihren eigenen Laden in Ordnung bringen. nerseits eine effizientere Architektur schafft, wie man
dadurch Geld einspart, dass man Doppelstrukturen ab-
Ich komme zum Thema Ressourcen. Wir brauchen baut, und wie man andererseits das eingesparte Geld
Sicherheitsbehörden, die gut ausgestattet sind. Wir müs- nutzt, um zu schauen, wie man Beschäftigung attraktiver
sen feststellen, dass es im Vollzug keine Stelleneinspa- macht, wie man für mehr Leistungsgerechtigkeit sorgt
rungen gibt. Wir sparen beim Personal, aber nicht beim und wie man zeigt: Es lohnt sich, eine ganze Beamten-
Vollzug von innerer Sicherheit. laufbahn beispielsweise bei der Polizei zu absolvieren,
etwa weil Beförderungen in Aussicht stehen. Das alles
Im Übrigen hat es unsere Koalition im letzten Jahr ge-
sind Dinge, die heute nicht gewährleistet sind. Dem ent-
schafft, dafür zu sorgen – es ist lange Zeit versucht wor-
gegenzuwirken, darum müssen wir uns kümmern. Wenn
den und nicht gelungen –, dass das Technische Hilfs-
wir es schaffen, bei der Effizienz der Sicherheitsbehör-
werk – es hat eine ganz wichtige Aufgabe für den
den besser zu werden, dann haben wir auch die Ressour-
Bevölkerungsschutz – im Haushaltsgesetz als Sicher-
cen, mehr in die Qualität und in die Motivation des Per-
heitsbehörde anerkannt worden ist. Die Folge ist, dass
sonals zu investieren. Daran sollten wir bei diesem
auch dort zukünftig keine Stelleneinsparungen vorgese-
Haushalt jetzt und in Zukunft arbeiten.
hen sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Das ist etwas, was für den Bevölkerungsschutz in Vizepräsidentin Petra Pau:
Deutschland ebenfalls ein wichtiger Fortschritt ist. Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sicherheitsbehörden müssen natürlich auch effizient
arbeiten. Doppelstrukturen und doppelte Aufgabenwahr-
nehmungen sind fragwürdig. Sie müssen weg. Sie behin- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE
dern nicht nur eine gute Arbeit für die innere Sicherheit, GRÜNEN):
sondern sie sind den Bürgern in Zeiten knapper Kassen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
schlicht und ergreifend nicht zuzumuten. Herren! Herr Kollege Toncar, es ist Ihnen gelungen, über
Sicherheitsgesetze viele Minuten zu reden und – wie
(Beifall bei der FDP) viele Ihrer Vorrednerinnen und Vorredner – kein Wort
zur Vorratsdatenspeicherung, einem ganz zentralen
(B) Herr Minister, deswegen ist es gut, dass Ihr Vorgänger Thema, zu sagen. Zum Glück spricht gleich der Kollege (D)
eine Diskussion darüber angestoßen hat. Übrigens habe Uhl; er wird das bestimmt anders machen.
auch ich die Idee, dass man ausgerechnet die Bundes-
polizei und das BKA zusammenlegt, nicht für nahelie- (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Mit Sicher-
gend gehalten. Die Diskussion darüber, wo es in der Si- heit! Erraten!)
cherheit doppelte Strukturen gibt, ist aber wichtig. Ich Die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung hängt
möchte Sie ausdrücklich ermuntern, dass Sie diese Dis- dieser Koalition wie ein schwerer Stein um den Hals. Er
kussion fortsetzen. Wir sollten darüber reden, was beim nimmt Ihnen die Luft zum Atmen und zum Handeln.
Zoll und bei der Bundespolizei oder beim Zollkriminal- Diesen Stein haben Sie sich selbst umgehängt – die
amt und beim Bundeskriminalamt zusammengelegt wer- Union, indem sie trotz des Bundesverfassungsgerichts-
den kann. Wir schulden unseren Bürgern, dass wir urteils unbelehrbar und verbohrt an diesem Bruch mit
darauf hinwirken, dass unsere Sicherheitsbehörden effi- unserer Rechtsdogmatik festhält; Sie, liebe Kolleginnen
zient aufgestellt sind und dass zwei Stellen letzten Endes und Kollegen der FDP, so unterstützenswert Ihr Kampf
nicht sehr ähnliche Aufgaben übernehmen. gegen die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich auch
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der ist, haben dieses Trauerspiel mitzuverantworten, weil Ih-
CDU/CSU) rer Fraktion im Kern die Senkung der Hotelsteuer wich-
tiger ist als der Schutz der Bürgerrechte.
Wenn es uns gelingt, genau dafür zu sorgen – dazu (Lachen bei der FDP – Beifall beim BÜND-
möchte ich Sie ermuntern, Herr Minister –, dann können NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
wir die Effizienzreserven im Haushalt für die Lösung ei- ten der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/
nes wichtigen Problems nutzen, das uns in allen Haus- CSU]: Herr Kollege, das ist ja selbst unter Ih-
halten, im Haushalt des Bundesministeriums des Innern rem Niveau!)
aber im besonderen Maße in den nächsten zehn Jahren
begegnen wird: Wie schaffen wir es, dass wir genug qua- Die Innenpolitik dieses Landes liegt seit zwei Jahren
lifiziertes und motiviertes Personal für den öffentlichen in Ihrer Verantwortung, und sie liegt brach. Ihre Bilanz
Dienst, gerade für Sicherheitsbehörden, gewinnen? Die- ist fatal. Was wollte die FDP nicht alles zurückholen!
ses Problem hat sich lange aufgebaut, und es wird eine Nichts ist passiert. Im Bereich des Datenschutzes kann
gewisse Zeit brauchen, um es zu lösen. Der demografi- die Koalition nicht eine einzige erfolgreich realisierte
sche Wandel und der Arbeitsmarkt werden uns in den Initiative vorweisen. Nur Hiobsbotschaften bei Ihren
nächsten Jahren vor riesige Probleme stellen, um die wir vermeintlichen Prestigeobjekten De-Mail und N-Perso,
uns kümmern müssen. und 22 Millionen deutsche Facebook-Nutzer werden da-
14392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Konstantin von Notz


(A) tenschutzrechtlich noch immer alleingelassen. Die Ver- Döring [FDP]: Der politische Schaden von (C)
braucherschutzministerin boykottiert das Netzwerk, und brennenden Autos ist größer!)
die schwarz-gelbe Koalition, Herr Minister, boykottiert
dessen Polizei- und Sicherheitsbehörden sehr viel erfolg-
ein versprochenes Rote-Linie-Gesetz und jeglichen Ge-
reicher arbeiten, als Sie von CDU und CSU das offenbar
staltungsanspruch.
wahrhaben wollen.
Das ist die wahrlich tragische Bilanz nach zwei Jah-
Noch ein Wort in Richtung SPD zum Thema Vorrats-
ren, vor allem für die selbsternannte Bürgerrechtspartei
datenspeicherung. Wenn selbst in Ihrem progressivsten
FDP. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, die
Gremium – das will ich jetzt einmal so nennen –, dem
schwierige Koalition mit der CDU, die dauerhafte Gars-
Gesprächskreis „Netzpolitik“, nicht mehr über das Ob,
tigkeit der CSU und die Ignoranz der eigenen Fraktions-
sondern nur noch über das Wie der Vorratsdatenspeiche-
führung für die Bedeutung der Innen- und Rechtspolitik,
rung verhandelt wird, ist auch das ein Armutszeugnis.
jetzt kommt auch noch der Kollege Wolff und schreibt
ein Papier, das den letzten verbliebenen kleinen Kern Ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
res bürgerrechtlichen Selbstverständnisses entsorgt. und bei der LINKEN – Hartfrid Wolff [Rems-
Murr] [FDP]: Das ist doch nichts Neues!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das Papier
sollten Sie einmal lesen!) Die Vorratsdatenspeicherung ist keine Frage des poli-
tischen Verdealens von Monatsfristen. Wer hier heute
Wenn Sie mich jetzt so kritisch angucken – Herr keine klare Linie zieht, der muss morgen zusehen, wie
Wolff, ich habe es gelesen –, dann kann ich nur sagen: die letzten Dämme brechen. Die wichtige Demonstration
Wie man sich bettet, so liegt man. Wenn Sie solche frak- für Bürgerrechte „Freiheit statt Angst“ – das ist schon
tionsinternen Diskussionen jetzt führen, dann hat Ihnen angesprochen worden –, die am Wochenende stattfinden
die CSU gerade noch gefehlt. soll, wollen Sie als SPD unterstützen. Gleichzeitig strei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Sie hier für eine Vorratsdatenspeicherung. Das geht
sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD.
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union
– Herr Grindel, ich komme jetzt zu Ihnen –, darf ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
nach der Lektüre Ihres jüngsten Beschlusses mit dem Ti- bei der FDP und der LINKEN – Josef Philip
tel „Für mehr Sicherheit in unseren Großstädten – null Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Toleranz gegenüber Gewalt und Vandalismus“ Schizophren ist das!)

(B) (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Schluss zu ELENA. Da passt das Verhalten ins- (D)
gesamt hier im Haus nicht zusammen. Was die Koalition
sagen, die Innenpolitik dieses Landes ist ein zu wichtiger da unter dem Beifall der SPD – wenn ich das noch einmal
und zu verfassungsrelevanter Bereich, als dass man sie in Erinnerung rufen darf – abgeliefert hat, ist mehr als
Ihrem Populismus überlassen darf. peinlich. Zwei Jahre lang Verzögerungstaktik, heimliche
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beerdigung in der ersten Woche der Sommerpause –
Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie auch et- (Zuruf von der FDP: Peinlich!)
was Eigenes?)
peinlich. Statt unserem Antrag zu Beginn dieser Legisla-
Sicherlich gibt es ein Anschlagsrisiko in Deutschland, turperiode einfach zuzustimmen, haben Sie sinnwid-
das wir Grüne sehr ernst nehmen. Natürlich sind gefähr- rigste Abwehrkämpfe, schöngefärbte Reden – ich sage
liche Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen in Berlin, nur: die schöne Helena –, datenschutzrechtlich hochpro-
Hamburg und anderswo Straftaten, denen man entschie- blematische Verfahrensweisen und millionenschwere
den begegnen muss. Wer aber so tut, als ob man in Kosten für die Wirtschaft und die öffentliche Hand zu
Deutschland an keiner Ecke stehen kann, ohne gleich verantworten. Das alles ist wahrlich kein Ruhmesblatt.
von einem Terroristen, Linksextremen oder Jugendli-
chen überfallen zu werden, der zeichnet bewusst ein Es ist Halbzeit für die schwarz-gelbe Koalition, Zeit
Zerrbild von der Sicherheitslage in diesem Land, das ei- für ein innenpolitisches Zwischenzeugnis: Die Verset-
nes der sichersten Länder auf der Erde ist. zung ist bei einer solchen Bilanz nicht gefährdet, sie ist
schlicht ausgeschlossen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Unverantwortlich!) Ganz herzlichen Dank.

Sie tun das, um bei den anstehenden Landtagswahlen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
– das war Ihrer Rede, Herr Kollege Krings, gerade deut- Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Du soll-
lich anzumerken – ein bis zwei Prozentpünktchen dazu- test mehr von meinem Papier lesen, dann ver-
zugewinnen. Ich sage Ihnen, der politische Schaden, den stündest du mehr davon!)
Sie mit solchen Reden und Papieren anrichten, ist ganz
erheblich; denn Sie untergraben das Vertrauen der Men- Vizepräsidentin Petra Pau:
schen in unserem Rechtsstaat, Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl spricht nun für die
Unionsfraktion.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN – Patrick (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14393

(A) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr (C)
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und vernünftiges Gesetz!)
Kollegen! Dieser Haushaltsentwurf setzt die richtigen
Es ist lobenswert, dass wir es geschafft haben, einen ent-
Schwerpunkte. Mit 3,72 Milliarden Euro für die innere
sprechenden Gesetzentwurf einzubringen. Wenn Sie den
Sicherheit, also zwei Dritteln des Haushalts des BMI,
Entwurf haben, können Sie ihn kritisieren und sagen,
sind die Schwerpunkte dort gesetzt, wo sie hingehören;
was Sie besser machen wollen.
denn die furchtbaren Terroranschläge in den USA, die
sich jetzt zum zehnten Mal jähren, waren in der Tat ein Wir haben erkannt, dass wir in einer neuen Welt ange-
Fanal für die gesamte westliche Welt. Danach hat es eine kommen sind – der Minister hat es schon angespro-
Serie von Anschlägen gegeben. Auch in Deutschland chen –: Fragen der IT-Sicherheit werden zum zentralen
gab es versuchte und erfolgte Anschläge, die uns zeigen, Feld der Sicherheitspolitik, für den Staat, für die Wirtschaft,
dass die terroristische Bedrohung nach wie vor besteht. für alle Bürger. Wir alle sind abhängig vom Internet, ob wir
Herr Kollege Hartmann, es ist doch ziemlich müßig, es nutzen oder nicht – völlig egal. Wasserversorgung,
jetzt darüber zu rechten, wie viele Gefährder wir im Energieversorgung, Verkehrs- und Sicherheitssysteme,
Land haben. Geld- und Warenverkehr – ganze Wirtschaftszweige
können über das Internet lahmgelegt werden. Deshalb
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: haben wir das Nationale Cyber-Abwehr-Zentrum ge-
Sagen Sie das mal dem Minister!) schaffen. Das sind, zugegeben, erst Anfänge, aber es
wird Weiterentwicklungen geben müssen, um auch auf
Sie haben übrigens den Minister falsch zitiert. Er hat nie-
diesem Gebiet trotz der zunehmenden Vernetzung Si-
mals gesagt, es seien 1 000 Gefährder. Vielmehr haben
cherheit im Staat zu organisieren. In den nächsten Jahren
wir, wie Fachleute schätzen, etwas mehr als 200 Gefähr-
wird das ein ganz zentraler Punkt der Sicherheitspolitik
der und daneben eine gewaltbereite terroristische Szene,
sein.
die sehr viel größer ist.
Damit sind wir beim Punkt. Der Staat hat die Auf- Wir haben es mit einer Verwirrung der Geister zu tun.
gabe, seine Bürger vor diesen Menschen, vor diesen Ter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
roristen zu schützen. Wenn er diese Aufgabe ernst sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
nimmt, muss er taugliche nachrichtendienstliche Instru- KEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
mente haben, mit denen er alles Mögliche aus der Szene DIE GRÜNEN]: Das denke ich schon die
in Erfahrung bringen kann, um dagegen rechtzeitig vor ganze Zeit!)
einem möglichen Terroranschlag, also während der Vor-
bereitung eines solchen Anschlages, einschreiten zu – Das trifft auf einen Teil von Ihnen, nicht auf alle, zu. –
(B)
können. Das ist die einzige Chance, die der Staat hat. Es gibt Menschen, die fordern, dass der Staat für Recht (D)
und Ordnung sowie Sicherheit sorgen und die entspre-
(Beifall bei der CDU/CSU) chenden Grundrechte in der realen Welt durchsetzen
Wenn der Terrorist mit der Bombe losmarschiert ist, hat soll, und die gleichzeitig sagen, in der virtuellen Welt
der Staat keine Chance mehr, seine Aufgabe wahrzuneh- – diese ist längst auch ein Teil der realen Welt geworden –
men. Er braucht also vorgelagerte Instrumente, die im (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)
Vorfeld wirken. Das Terrorismusbekämpfungsergän-
zungsgesetz, das wir gemeinsam mit der SPD verab- seien Eingriffe des Staates nicht zulässig.
schiedet haben und das am 14. Januar ausläuft, stellt (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
diese zur Verfügung. Wir geben zu, dass wir spät dran GRÜNEN]: Das sagt wer? – Jerzy Montag
sind, aber wir schaffen es noch rechtzeitig vor dem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Mensch
14. Januar, seine Geltungsdauer zu verlängern. Das Ka- sagt so etwas!)
binett hat dieses Gesetz verabschiedet, und wir werden
in den nächsten Wochen in erster Lesung darüber bera- Das ist Zensur. Das ist die Verwirrung der Geister, von
ten. der ich rede. Wir werden uns mit diesem Thema sehr
grundsätzlich befassen müssen. Gerade in diesen Tagen
Nächstes Thema, die Visawarndatei. Sie erinnern gibt es ganz sonderbare Bekenntnisse zur Anonymität im
sich: Joschka Fischer, der übrigens in seinen Pressever- Netz.
lautbarungen wieder merkwürdig lärmig wird, hat mas-
senhaften, hunderttausendfachen Missbrauch von Visa (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
zugelassen. GRÜNEN]: Genau!)
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird so getan, als wäre es ein Grundrecht des Men-
Milliardenfachen! – Josef Philip Winkler schen, im Netz, im Internet, anonym seine Meinung ver-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, er hat sie künden zu können, weil er nur so ungefährdet am demo-
alle selbst geholt!) kratischen Meinungsbildungsprozess in unserem Lande
teilnehmen könnte.
– Hunderttausendfachen. – Daraufhin gab es einen Un-
tersuchungsausschuss, dem vorzusitzen ich die Ehre (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
hatte. Nachdem wir es leider in der Großen Koalition GRÜNEN]: Das hat doch Dorothee Bär mit
nicht geschafft hatten, ein Visawarndateigesetz zu schaf- unterschrieben, Ihre stellvertretende General-
fen, sind wir jetzt zusammen mit der FDP so weit. sekretärin!)
14394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Hans-Peter Uhl


(A) Nein sagen wir. Wir sehen es als eine Errungenschaft des dere nehmen will, wenn er Mehrheiten organisieren will, (C)
Rechtsstaates an, dass jeder frei seine Meinung äußern dann soll er sich als Person zu erkennen geben.
kann und dieser Staat dafür sorgt, dass Meinungsfreiheit
bis in den letzten Winkel gilt und wir keine Anonymität (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Der Notz
brauchen, weil wir kein totalitärer Staat sind. geht vermummt an den Stammtisch!)

(Beifall bei der CDU/CSU) Das ist auch der Kern des Vermummungsverbotes im
Demonstrationsrecht.
Vizepräsident Eduard Oswald: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unse- GRÜNEN]: Jetzt fangen Sie auch noch an!)
res Kollegen von Notz?
Wir wollen, dass man in diesem Land frei demonstrieren
kann und niemand einen Nachteil dadurch erleidet. Aber
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): wir wollen nicht, dass Menschen sich vermummen und
Selbstverständlich. glauben, auf diese Weise Druck auf andere ausüben zu
können.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall bei der CDU/CSU)
Bitte schön.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege, gestatten Sie zu dem Thema der bayeri-
Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Im Zusammenhang schen Wirtshäuser noch eine Zwischenfrage unseres
Kollegen Volker Beck?
mit der Anonymität im Netz können wir uns vielleicht
darauf einigen, dass das Netz Teil des öffentlichen
Raums ist. Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Der hat aber keine Ahnung von bayerischen Wirts-
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja!)
häusern.
Würden Sie mir zustimmen, dass es vor dem Hinter-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
grund der Kontrolle von Diskussionen sinnvoll wäre,
dass Leute, die in einem bayerischen Wirtshaus am
Stammtisch zusammenkommen, um über Politik frei zu Vizepräsident Eduard Oswald:
reden, am Eingang ihren Personalausweis vorlegen, Das wird sich bei der Fragestellung zeigen. – Das
(B) Wort hat der Kollege Volker Beck. (D)
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
damit dann jedes Wort unter ihrem Namen dokumentiert Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
werden kann? Denn genau das entspräche der Anmelde- Herr Kollege Uhl, Sie haben vollkommen recht: Ich
pflicht für Internetforen, die Sie fordern. bin Wahlkreisabgeordneter aus Köln und nicht aus Mün-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – chen. Deshalb war ich gerade sehr besorgt bei dem Ge-
Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Alles, was danken, dass Sie vielleicht die kulturellen Gewohnheiten
hinkt, ist ein Vergleich!) Bayerns auf unsere Region übertragen wollen. Wie Sie
wissen, haben wir Karneval, und zwar nicht nur an ei-
nem Dienstag im Jahr, sondern das ist eine längere Ses-
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
sion. Gemeinhin verkleiden sich der Kölner und die Köl-
Gestatten Sie, Herr Kollege von Notz, Ihr Beispiel
nerin im Karneval und bemalen sich zuweilen auch das
mit dem Vorlegen des Personalausweises am Eingang
Gesicht. In der Regel geschieht das bislang ohne Na-
des Wirtshauses in Bayern als einen wirren Vergleich ab-
mensschilder. Die Leute sind also nicht rückverfolgbar;
zutun.
sie sind nicht deanonymisierbar. Planen Sie für den Köl-
(Patrick Döring [FDP]: Da kennt er sich nicht ner Karneval eine entsprechende rechtliche Regelung,
so aus! Das darf man ihm nicht übelnehmen! wie Sie sie für das Internet diskutieren? Müssen wir da-
Er sieht nicht aus wie ein passionierter Stamm- mit rechnen, dass die Närrinnen und Narren in Zukunft
tischbesucher!) mit Namensschildern herumlaufen müssen?
Er ist deswegen wirr, weil es hier um etwas völlig ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
res geht. An bayerischen Stammtischen wird völlig frei Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Motten-
und offen geredet. kiste!)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Anonym! – Jerzy Montag Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sogar in Bay- Das ist eine sehr bedeutsame Frage, Herr Kollege
ern anonym!) Beck. Wir planen gar nichts.
Wir bestehen darauf, dass jeder in diesem Land sagen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
kann, was er will. Wenn er am politischen Meinungsbil- GRÜNEN]: Sie planen nichts! Das ist eine
dungsprozess teilnehmen will, wenn er Einfluss auf an- gute Aussage!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14395
Dr. Hans-Peter Uhl
(A) – Auf dem Gebiet bestimmt nicht. Sie können das ganze – Das haben wir zusammen mit den Damen und Herren (C)
Jahr über Karneval feiern. Das tun Sie manchmal auch. aus der SPD gemacht. Wir bekennen uns dazu und wer-
den an dem Gesetz weiter arbeiten.
Ich empfehle Ihnen aber, die Entstehungsgeschichte
des Karnevals und auch der Fasnacht nachzulesen. Es ist (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
hochinteressant, welche Rolle und welche Ventilfunk- GRÜNEN]: Jetzt macht es mal besser!)
tion der Karneval in früheren Jahren hatte, als wir noch
keine freiheitliche Grundordnung wie heute hatten. Da Zum Schluss möchte ich noch zwei Punkte anspre-
hatte das Vermummen tatsächlich einen Grund, nämlich chen, die mir sehr wichtig sind: Piraterie und Integration.
dass die Obrigkeit nicht erfuhr, wer welche Meinung äu- Wir werden uns, so hoffe ich, darin einig sein, dass
ßert. wir das Problem der Piraterie nicht lösen, indem wir un-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE sere Handelsschiffe mithilfe von Polizisten und Soldaten
GRÜNEN]: Und Sie meinen, das brauchen wir schützen. Das schaffen wir nicht. Wir müssen für diesen
jetzt nicht mehr? Wir verzichten darauf nicht Zweck private Sicherheitsdienste zulassen. Das Gewalt-
in Köln! Das verspreche ich Ihnen!) monopol des Staates reduziert sich in diesem Fall auf die
Kontrolle und Überwachung solcher Dienste,
Das ist gerade der Punkt, von dem ich hier rede. Wir ha-
ben es in einem jahrhundertelangen Kampf geschafft, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
eine freiheitliche Gesellschaftsordnung zu erreichen. Bei GRÜNEN]: Mit Kriegswaffen?)
uns herrscht Gedankenfreiheit. Die Gedanken sind frei, das heißt auf den Zertifizierungsvorgang. Damit ist si-
selbst Ihre, Herr Beck. chergestellt, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mein letzter Punkt – damit komme ich zum Ende,
Herr Präsident – ist das Thema Integration. Ich glaube,
„Die Gedanken sind frei … kein Mensch kann sie wis-
die Bilder aus England haben uns gezeigt, dass wir
sen, kein Jäger erschießen … wir bleiben dabei: Die Ge-
schwere Fehler machen würden, wenn wir in unserer In-
danken sind frei.“
tegrationspolitik – wir finanzieren Integrationskurse mit
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE mehr als 200 Millionen Euro – nachlassen würden. Ent-
GRÜNEN]: Ich sage nur: Ein dreifaches Kölle scheidend ist: Auf der einen Seite muss es Repression
Alaaf!) geben, und auf der anderen Seite muss es für Menschen,
die zu uns gekommen sind, Hilfe geben, damit sie sich
Man kann sie äußern, auf der Straße, in Versammlungen, eingliedern und integrieren und damit Bestandteil dieser
(B) überall. Deswegen brauchen wir keine Anonymität. Wir Gesellschaft werden können. Das ist unsere Aufgabe. Da (D)
wollen, dass jeder ein klares Bekenntnis abgeben kann. sind wir auf einem guten Weg.
Niemand hat dadurch einen Nachteil, auch nicht im In-
ternet. Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Jetzt will ich – Herrn von Notz zuliebe – noch kurz
auf die Vorratsdatenspeicherung eingehen. Sie haben
viel falsches Zeug erzählt, Herr von Notz; das ist nicht Vizepräsident Eduard Oswald:
das erste Mal. Sie müssen einfach zwei Dinge zur Vielen Dank, Kollege Uhl. – Für die Fraktion der So-
Kenntnis nehmen: Erstens. Die Europäische Union hat zialdemokraten spricht jetzt unsere Kollegin Dagmar
zu Recht darauf Wert gelegt, dass auch wir in Deutsch- Ziegler. Bitte schön, Frau Kollegin Ziegler.
land einer Mindestspeicherpflicht nachkommen. Zwei- (Beifall bei der SPD)
tens. Sie haben fälschlicherweise behauptet, dass hier
Verfassungswidrigkeit im Spiel sei. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat gesagt – dies ist, wenn ich es richtig in Dagmar Ziegler (SPD):
Erinnerung habe, im Urteil unter Randnummer 208 Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr verehrten
nachzulesen; Siegfried Kauder weiß es sicherlich aus- Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Friedrich ist
wendig –, seit Anfang März dieses Jahres im Amt. Bis zu diesem
Zeitpunkt hatte er mit den Herausforderungen Ost-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE deutschlands und den Anliegen der neuen Bundesländer
GRÜNEN]: Das Gericht hat Ihr Gesetz für nichts zu tun – danach auch nicht. Leider hat man auch
verfassungswidrig erklärt!) heute, ein halbes Jahr später, den Eindruck, der Herr
dass diese Vorratsdatenspeicherung dem Grunde nach Minister wisse mit dem Osten so recht nichts anzufan-
verfassungsgemäß ist. Nur der Straftatenkatalog als gen. Als Bundesminister ist ihm aber die Koordinierung
Grundlage dafür, in welchen Fällen man die Daten abru- der Politik für Ostdeutschland übertragen. Der Beauf-
fen kann, und die Art der Speicherung waren nicht kor- tragte der Bundesregierung für die neuen Länder unter-
rekt. Das ist nachbesserungsbedürftig. steht ihm. Das sage ich in Richtung Koalition, weil Sie
vielleicht gar nicht wissen – Sie haben nämlich kein
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wort darüber verloren –, dass diese Aufgabe dort veror-
NEN]: Das haben Sie gemacht!) tet ist.
14396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dagmar Ziegler
(A) Die systematische Benachteiligung der neuen Länder losen allerdings weitaus stärker durch. Begreift die (C)
geht unter Herrn Minister Friedrich ungehindert weiter. Bundesregierung das? Nein.
Es ist kein Wunder, dass auch er als zuständiger Minister
(Gisela Piltz [FDP]: Wie wäre es denn mal,
in seiner Rede kein einziges Wort über die neuen Länder
wenn Sie sich zur Innenpolitik äußern?)
verloren hat. Die aktuell und nur noch vorübergehend im
Amt befindliche Bundesregierung interessiert sich eben Wer so drastisch und pauschal streicht und keinerlei
nicht für Ostdeutschland. Umgekehrt – das ist das trau- Rücksicht auf Landstriche nimmt, in denen die Arbeits-
rige Ergebnis – interessieren sich immer weniger Men- losigkeit unabhängig von der Konjunktur höher ist als
schen in Ostdeutschland für die Politik von Schwarz- anderswo – das gilt für Ost und West, Nord und Süd –,
Gelb, wie die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpom- der betreibt eine unverantwortliche und unsoziale Poli-
mern bestätigt hat. tik. Die Bundesarbeitsministerin ignoriert das. Was das
in volkswirtschaftlicher Hinsicht bedeutet – zum Bei-
Mein Fazit aus dem, was Sie vorgelegt haben, lautet: spiel geringe Kaufkraft sowie Schwächung der Investi-
Diese Bundesregierung kann es einfach nicht. Es gibt tionskraft der Kommunen –, wissen Sie offensichtlich
keine Gesamtstrategie, kein abgestimmtes Vorgehen, nicht.
keine Idee, was das Entwickeln gleichwertiger Lebens-
bedingungen in Deutschland betrifft. Kollege Korte hat Ein ganz anderes Thema ist die Binnenschifffahrt.
bereits einiges dazu gesagt. Ich will noch einige wenige Eine mutlose Politik schlägt gern heimlich dort zu, wo
Beispiele anfügen. die Bild-Zeitung nicht hinschaut; denn sie interessiert
sich eben nicht für die Binnenschifffahrt. Vielleicht aber
Die Herausforderung des demografischen Wandels kommt das noch, und zwar dann, wenn die Truppe der
und die Frage, wie die Politik eine schleichende Entvöl- FDP anlässlich ihres nächsten Bundesparteitages be-
kerung ganzer Landstriche verhindern will, sind mit ei- quem in einem Gummiboot Platz findet und die Elbe ab-
nem möglichen Landarztgesetz freilich nur angerissen. wärts schippert. Die Bundesregierung haut nämlich bei
Soziologen können heute schon in vielen Gegenden im der Binnenschifffahrt „zufällig“ nur bei Wasserstraßen in
Osten besichtigen, wie in Zukunft viele andere ländliche Ostdeutschland zu
Gegenden Westdeutschlands von Landflucht, hoher Ar-
(Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)
beitslosigkeit und kultureller Verödung bedroht sein
werden, falls es nicht gelingt, vor Ort eine funktionie- und degradiert sie zu Restwasserstraßen. Dies wird un-
rende Infrastruktur zu erhalten mit einer regionalen absehbare Folgen für die Unterhaltung, die Schiffbarkeit
Wirtschaft und wohnortnahen Arbeitsplätzen, mit le- und die Hafennutzung nach sich ziehen. Das alles ist
benswerten Dörfern und Mittelzentren, mit sanierten volkswirtschaftlicher Unsinn. Sie tun es trotzdem.
(B) Städten und bezahlbarem Wohnraum. (D)
Mein letztes Beispiel betrifft den Städtebau. Vergli-
Im Unterschied zum Minister habe ich bis zur Som- chen mit dem Jahr 2009 rasieren Sie die Städtebauförde-
merpause die neuen Länder bereist und in Erfurt, rung um 28 Prozent. Schon das dritte Jahr in Folge pla-
Schmalkalden, Genthin, Leipzig und Stralsund mit Bür- nen Sie massive Kürzungen bei der Städtebaupolitik.
gerinnen und Bürgern, mit Mittelständlern, mit Hoch- Das wird für die lokale Wirtschaft und die Arbeitsplätze
schulvertretern und Lokalpolitikern gesprochen. einschneidende Folgen haben. Besonders hart trifft es
das Programm „Soziale Stadt“. Hier wollen Sie mehr als
Vom demografischen Wandel braucht man dort nie- 60 Prozent der Mittel streichen. Das heißt, dass jedes
mandem etwas zu erzählen. Die Menschen dort sind zweite Projekt ins Wasser fällt. Beim Stadtumbau Ost
hochsensibilisiert und aktiviert. Fachkräftemangel ist al- müssen fast 40 Prozent aller Projekte daran glauben. Bei
lerorts ein Thema. Ein Konzept der Bundesregierung? – den Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen leisten
Fehlanzeige! Sie wirklich Radikales: Mehr als 70 Prozent der Bundes-
mittel werden ersatzlos gestrichen.
In der Rubrik „Arbeit und Soziales“ wickelt die Bun-
desarbeitsministerin die Bundesagentur für Arbeit im Damit aber nicht genug: Schwarz-Gelb ist entschlos-
Alleingang ab. Keiner merkt es. Auch dies trifft die länd- sen, die sich gut entfaltende Bauwirtschaft und das örtli-
lich geprägten Regionen mit überdurchschnittlich hoher che Handwerk im Osten vollends abzuwürgen. Auch
Arbeitslosigkeit besonders hart. In meinem Wahlkreis im hierbei handelt es sich um volkswirtschaftlichen Unsinn.
nordwestlichen Brandenburg werden die Mittel für die (Patrick Döring [FDP]: Richtiger Quatsch! –
Arbeitsmarktpolitik um ein Drittel zusammengestrichen. Gisela Piltz [FDP]: Das machen Sie schon!)
Bei den Jobcentern vor Ort fehlt das Geld für Weiterbil-
dungen, Qualifizierungen, Umschulungen und öffentlich Weil Sie sich von einer aktiv gestaltenden Stadtpolitik
geförderte Beschäftigung. des Bundes nicht nur quantitativ, sondern leider Gottes
auch qualitativ verabschieden, schaden Sie dem sozialen
Bundesweit haben die unsozialen Kürzungen im so- Zusammenhalt. Merken Sie das? Nein. Weiterhin strei-
genannten Sparpaket der Bundesregierung – Anrech- chen Sie das erfolgreiche Programm „Perspektiven ge-
nung des Elterngeldes, Wegfall der Zuschüsse zur Ren- gen die Abwanderung Ost“ im Kinder- und Jugendplan.
tenversicherung bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern Das Programm leistet gute Arbeit; darin waren wir uns
oder die Umwandlung von Pflicht- in Ermessensleistun- alle jedenfalls bislang einig. Die Mittel dafür werden al-
gen – ganz gravierende Auswirkungen. Im Osten schla- lerdings von 500 000 Euro auf 0 Euro gekürzt. Antwor-
gen sie aufgrund der höheren Anzahl an Langzeitarbeits- ten dazu? Nein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14397
Dagmar Ziegler
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Westteil Ihre Anträge anschaue – zum Beispiel zum Einsatz von (C)
Deutschlands, all das steht auch den Menschen in Ihren Pfefferspray –, dann muss ich mir ernsthaft die Frage
Wahlkreisen bevor. Der Osten ist nur der Probelauf für nach Ihrer Haltung stellen. Entweder Sie sind für den
eine volkswirtschaftlich unsinnige, sozial unausgewo- Rechtsstaat, dann sind Sie aber auch für eine rechtsstaat-
gene und menschenverachtende Politik der Regierung lich aufgestellte Polizei, oder Sie eiern so herum. Am
von Schwarz-Gelb, die es einfach nicht kann. Ende müssen Sie sich entscheiden. Das können Sie aber
nicht, weil Sie es nicht wollen.
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]:
Noch leben wir in einer Marktwirtschaft!) (Jan Korte [DIE LINKE]: Dann müssen Sie
Wir wollen vernünftige Perspektiven, und zwar für die mal demonstrieren gehen!)
Menschen in Ost und West, in Nord und Süd und vor al- Das ist keine konsequente Haltung, sondern ein Rum-
lem für die strukturschwachen Regionen in ganz eiern.
Deutschland.
Zum TBEG ist bereits viel gesagt worden. Ich kann
Vielen Dank. nur noch einmal darauf hinweisen: Es ist eine rot-grüne
(Beifall bei der SPD) Erfindung.
(Zuruf von der FDP: Das stimmt! – Jan Korte
Vizepräsident Eduard Oswald: [DIE LINKE]: Das ist das erste Richtige!)
Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Ziegler. – Jetzt
spricht für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Gisela Dann ist seine Geltungsdauer von Schwarz-Rot ohne
Piltz. Bitte schön, Frau Kollegin Piltz. jede Prüfung und ohne jede Änderung einfach so verlän-
gert worden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Erweitert worden!)
Gisela Piltz (FDP): Ich weiß, Sie erinnern sich nicht gerne daran, aber so ist
Werte Kolleginnen und Kollegen! Bei der ein oder an- es gewesen.
deren Rede könnte man glauben, wir hätten heute schon
den 11. November 2011. Es ist bereits von anderen gesagt worden, Frau
Fograscher: Ihre wirklich konsequente Haltung zur Vor-
(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, bei den FDP- ratsdatenspeicherung ist schon beeindruckend. Da ste-
Reden!) hen Kollegen im Deutschen Bundestag und weinen fast
(B)
Da beginnt der Karneval. Heute ist aber erst der 6. Sep- Krokodilstränen wegen der Telefonerfassung in Dres- (D)
tember 2011. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Präsident, den, während Ihre Landesinnenminister gleichzeitig sa-
im Namen des gesamten Hauses zu Ihrem heutigen Ge- gen: Vorratsdatenspeicherung? Am besten noch länger
burtstag gratulieren. Herzlichen Glückwunsch! und am besten für alles! – Das ist wirklich konsequent,
was Sie hier liefern.
(Beifall)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Es ist interessant, zu hören, was hier so alles gesagt Gabriele Fograscher [SPD]: Was sagen Sie
wird. Wenn ich Frau Fograscher und Herrn Korte glau- denn?)
ben darf,
Herr Kollege Hartmann, der Burn-out bei der Polizei
(Jan Korte [DIE LINKE]: Können Sie!)
ist sicher ein ernstes Thema, gar keine Frage. Aber viel-
dann haben wir auf Bundesebene auf einmal eine Zu- leicht sollten wir uns alle – und ich meine wirklich alle –
ständigkeit für Alltagskriminalität. Dafür ist der Bund gemeinsam fragen, ob das nicht auch daran liegt, dass
mit der Bundespolizei aber gar nicht zuständig. Es ist vor allem in den SPD-regierten Ländern Polizeistellen
aber schön, dass Sie sich heute entsprechend geäußert abgeschafft worden sind
haben. Dann wissen wir nämlich, wohin Sie wirklich
wollen. (Zuruf von der FDP: Aber massiv!)

Herr Korte, ein Wort zur Glaubwürdigkeit der Linken und dass als Folge dessen die Bundespolizei mehr leisten
– Sie blasen sich hier ja immer so auf –: Die Große Ko- muss, zum Beispiel bei den Ermittlungen im Zusammen-
alition in Brandenburg hat einst die Verschärfung des hang mit brennenden Autos in Berlin oder an der Grenze
Polizeigesetzes beschlossen. Aber seitdem Sie dort mit- in Brandenburg. Das ist eine Frage, mit der wir uns
regieren, haben Sie nichts von dieser Verschärfung rück- ernsthaft auseinandersetzen sollten, aber nicht in der
gängig gemacht. So ist es um Ihre Glaubwürdigkeit be- Weise, wie Sie das hier ansatzweise dargelegt haben.
stellt. Da sollten Sie sich fragen, ob Sie sich nicht erst Das wäre konsequent.
einmal an Ihre eigene Nase fassen müssen, bevor Sie an- Hinsichtlich der Innenpolitik beweisen wir jetzt seit
deren etwas vorwerfen. zwei Jahren eine konsequente Haltung. Freiheit und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sicherheit passen zusammen. Die Haushaltskonsolidie-
rung steht dazu nicht in Widerspruch.
Von Berlin möchte ich gar nicht groß reden. Hierzu
hat der Kollege Krings bereits alles gesagt. Wenn ich mir (Jan Korte [DIE LINKE]: Bei SWIFT!)
14398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Gisela Piltz
(A) Wir haben ELENA – darüber wurde schon gespro- Bereich des Innenministeriums. Herr Minister Friedrich, (C)
chen; auch das ist eine rot-grüne Erfindung – abge- Sie haben das erste Mal einen Haushalt eingebracht. Im
schafft. Ich finde, Sie könnten uns auch einmal dafür lo- vorigen Jahr haben Sie noch den Haushalt Ihres Vorgän-
ben, dass wir etwas tun, und sollten nicht schon wieder gers verwaltet. Das, was wir bis jetzt lesen können, zeigt
nachtreten. auf, dass Sie den vernünftigen Kurs, den Ihr Vorgänger
beschritten hat, fortsetzen werden.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Weil es so spät kam!) Herr Kollege Hartmann, ich sage es an dieser Stelle
ganz deutlich: Uns geht es nicht darum, Klamauk zu ma-
Wir haben außerdem beim Bundesdatenschutzbeauftrag-
chen. Vielmehr messen wir unseren Innenminister nach-
ten nicht gespart. Das ist mehr, als die SPD je erreicht
her an den Taten. So wird man erstens feststellen: Das,
hat. Die Stiftung Datenschutz wird kommen, keine
was der Innenminister in seiner bisherigen Amtszeit ge-
Sorge.
macht hat, lässt sich sehen. Zweitens wird man abschlie-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE ßend feststellen können, dass wir uns auch hier deutlich
GRÜNEN]: Wann? Noch in dieser Wahl- weiterentwickelt haben. Es geht nicht darum, hier nur
periode?) Klamauk zu machen.
Auch das ist mehr, als Sie in Ihrer Regierungszeit je zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
träumen gewagt haben.
Mein Dank geht insbesondere an die Mitarbeiter der
Weil meine Redezeit gleich zu Ende ist, kurz noch Ministerien, des Finanzministeriums und des Innen-
zwei Punkte. ministeriums, die diesen Haushalt mit vorbereitet haben;
das ist immer eine Sisyphusarbeit. Ich kann es Ihnen als
Herr von Notz, zur Vorratsdatenspeicherung: Ihre
Haushälter nicht ersparen, in den nächsten Wochen, bis
grünen Kollegen in Baden-Württemberg haben, obwohl
zur Bereinigungssitzung, öfter auf diese Mitarbeiter zu-
sie gar nicht zuständig sind, im Koalitionsvertrag verein-
rückzugreifen, damit wir dann den Haushalt verabschie-
bart, die Regelung betreffend die Vorratsdatenspeiche-
den können.
rung nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts um-
zusetzen. Das ist wirklich konsequent, was Sie hier Die christlich-liberale Koalition setzt die Konsolidie-
gemacht haben. So sind wir alle, aber Sie im Besonde- rung des Haushalts auf Gesamtebene fort. Das schließt
ren. Sie machen in den Ländern etwas anderes, als Sie aber nicht aus, dass wir den Gesamthaushalt für den Be-
hier großartig verkünden. Das funktioniert nicht. reich des Innenministeriums um 65 Millionen Euro erhö-
hen. Das entspricht einem Anstieg des Sollansatzes um
Eine Anmerkung zum Sport. Wir haben im Sportbe-
1,9 Prozent; das lässt sich sicherlich sehen. Der Anstieg
(B) reich nicht gekürzt. Ob man zum Thema Olympia so (D)
verdeutlicht letztendlich, wie wichtig uns der Bereich
sprechen sollte, wie Sie es getan haben, Frau Fograscher,
des Innenministeriums mit seinen nachgeordneten Be-
müssen Sie wissen. Ich fand es wirklich unangemessen.
hörden ist. Knapp 5,5 Milliarden Euro für den Einzel-
Abschließend noch ein paar Zahlen, weil wir in den plan 06, das ist sicherlich nicht in allen Bereichen eine
Haushaltsberatungen sind. Es ergibt sich für 2012 eine Goldrandlösung, wohl aber ein solider Haushaltsansatz.
Steigerung der Ausgaben um 4,4 Millionen Euro gegen-
Es gilt, Schwerpunkte zu setzen; das ist eben in der
über dem Jahr 2009,
Debatte schon deutlich gemacht worden. Im Bereich der
(Zuruf von der CDU: Sehr wahr, sehr wahr!) inneren Sicherheit verwenden wir allein 3,7 Milliarden
Euro, also zwei Drittel dieses Haushalts, direkt, um die
also dem letzten Jahr vor Übernahme der Verantwortung
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu schützen, ih-
durch die christlich-liberale Bundesregierung. Das
nen Sicherheit zu geben. Herr Korte, das kann ich mir
macht ein Plus von 1,87 Prozent. Ich finde, das kann sich
nicht verkneifen: Unsere Auffassung vom Rechtsstaat ist
in Zeiten der Haushaltskonsolidierung sehen lassen. Wir
sicherlich eine andere als Ihre;
arbeiten daran, unsere Politik für Freiheit und Sicherheit
sowie die Haushaltskonsolidierung konsequent fortzu- (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja!)
setzen. Das ist unser Markenzeichen, und das können Sie
uns nicht kaputtreden. aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der
Bevölkerung Ihren Weg sicherlich nicht mitgehen wird.
Vielen Dank.
Es ist aufgrund der Ereignisse der letzten Monate
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dringend notwendig, über das eine oder andere Thema
zu diskutieren. Die Cyberkriminalität ist eben schon an-
Vizepräsident Eduard Oswald: gesprochen worden. Sie betrifft nicht nur Behörden oder
Vielen Dank, Frau Kollegin Piltz. – Jetzt spricht für einzelne Firmen, sondern auch den Bürger. Wir sind
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Jürgen durch organisierte Kriminalität gefährdet. Der Minister
Herrmann. Bitte schön, Kollege Jürgen Herrmann. hat es eben deutlich gesagt: Auch die Gefahr des interna-
tionalen Terrorismus ist in Deutschland weiterhin zuge-
gen.
Jürgen Herrmann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Meine Damen und Herren, das, was viele Menschen
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutie- draußen bewegt, sind die täglichen Schlagzeilen über
ren heute das erste Mal über den Haushalt 2012 für den brutale und völlig unmotivierte Übergriffe von Schlä-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14399
Jürgen Herrmann
(A) gern auf unbeteiligte Personen, zum Beispiel in U-Bah- Stellen werden für den operativen Bereich frei, zum Bei- (C)
nen. Ich glaube, mittlerweile sind wir an einem Punkt spiel für die Übernahme bahnpolizeilicher Aufgaben.
angekommen, an dem wir verstärkt eine harte Bestra-
Es kommen auch neue Bereiche hinzu. Die Luft-
fung derjenigen fordern und auch durchsetzen müssen,
frachtsicherheit ist ein großes Thema, das wir im letzten
die für diese Straftaten verantwortlich sind. Das sind
Jahr über die Parteigrenzen hinweg aufgearbeitet haben.
keine Kavaliersdelikte, keine Jugendsünden, sondern
Das ist auch richtig so. Der Start war etwas zäh – das
Delikte wie versuchter Mord oder Totschlag, die geahn-
muss man ehrlicherweise zugeben –, es handelte sich um
det werden müssen.
ein ganz neues Konstrukt unter der Beteiligung mehrerer
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ministerien – das war nicht ganz einfach –, aber wir hat-
der FDP) ten Vorgaben der EU umzusetzen.
Ich kann es mir einfach nicht verkneifen, ein Thema (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
anzusprechen, das hier eben für Aufregung gesorgt hat: GRÜNEN]: Das war ein Fehlstart!)
die Delikte im Zusammenhang mit dem Abfackeln von Zwischenzeitlich hat der Haushaltsausschuss
Autos in Berlin. In diesem Jahr sind in Berlin bereits 330 Planstellen freigegeben, davon 250 Planstellen im
mehr als 500 Autos abgebrannt. Das Ganze hat mit links Einzelplan 06. Die Arbeitsorganisation ist für die Aufga-
motivierten Straftaten angefangen, die nur die Zerstö- ben gerüstet. Wir werden uns im Laufe des Jahres noch
rung zum Ziel hatten. Mittlerweile ist es – das sage ich darüber unterhalten müssen, wie es im Bereich Personal-
hier ganz bewusst – aufgrund der Nachlässigkeit der und Sachausstattung weitergeht. Wo wir noch Synergie-
Berliner Polizeiführung und der Politik dazu gekommen, effekte zwischen Zoll und Polizei erreichen können,
dass viele Nachahmer auf den Zug aufgesprungen sind werden wir sie sicherlich nutzen.
und immer mehr Autos brennen.
Zwei Anmerkungen habe ich noch, die mich persön-
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das glaubt Ihnen lich als Polizeibeamten betreffen. Beförderungen im Po-
doch kein Mensch! – Volker Beck [Köln] lizeibereich werden immer nach Leistung und Befähi-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie gung ausgesprochen. Bei der Bundespolizei sind wir
mir mal Ihre Kausalitätskette erklären?) zurzeit an einem Punkt angelangt, an dem es mit Beför-
Die Berliner Polizei und insbesondere die politische derungen teilweise recht schwierig wird. Das wurde über
Führung wären gut beraten, endlich die Führungsquere- die Parteigrenzen hinaus anerkannt. Im Bereich der Poli-
len, die bei der Besetzung des Postens des Polizeipräsi- zeiobermeister – Besoldungsgruppe A 8 – gibt es einen
denten auftreten, zu beenden und nicht nur auf die Stra- erheblichen Stau bei den Beförderungen nach A 9. Ich
sage an dieser Stelle noch einmal: Es ist für mich nicht (D)
(B) tegie der Deeskalation und der Verharmlosung zu setzen,
sondern konsequent gegen die Straftäter vorzugehen. nachvollziehbar, dass ein Beamter nach 40 Dienstjahren
auf Streife, wo er hervorragende Arbeit geleistet hat, mit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und A 8 in Pension geht. Wir werden uns über Parteigrenzen
der FDP) hinweg – das ist bereits von den Haushältern signalisiert
worden – darüber unterhalten müssen, wie wir diesen
Ich kann es daher gut verstehen, dass Innensenator Missstand beheben.
Körting die Bundespolizei zu Hilfe ruft. Mittlerweile
setzen wir 360 Bundespolizisten bei der Verfolgung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Straftäter ein. Es ist ein riesiges Problem, diesen Um- der FDP)
stand zu erklären, wenn man bedenkt, wie viele Stellen Ich danke den Gewerkschaften dafür, dass sie in diesem
bei der Berliner Polizei abgebaut wurden. Aber der Bund Fall sogar bereit waren, die Leistungszulage sozusagen
ist ständig bereit – Herr Innenminister, dafür bin ich Ih- zur Verfügung zu stellen. Wir haben in diesem Bereich
nen dankbar –, den Ländern zur Seite zu stehen, wenn es rechtliche Probleme, die wir nicht so schnell aufarbeiten
darum geht, die Dinge aufzuarbeiten. Das kostet Geld. können, aber wir arbeiten an einer Lösung.
Jährlich werden circa 750 Bundespolizisten zur Unter-
stützung der Länderpolizeien abgestellt. Mein letzter Satz geht an einen lieben Kollegen. Ich
bin froh, dass er heute wieder hier ist. Lieber Peter
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Danckert, nach deiner Krankheit bin ich heilfroh, dass
NEN]: Wir zahlen das doch!) du wieder zurück bist. Du hast heute hier noch nicht als
– Ja, Sie zahlen dafür. Das sollten Sie Ihrem Innensena- Hauptberichterstatter zum Einzelplan 06 gesprochen. Ich
tor einmal vorrechnen. Das sind pro Woche Kosten in bin aber der festen Überzeugung, dass du bei der nächs-
Höhe von 250 000 Euro, im Monat sind das 1 Million ten Haushaltsdebatte deine Rede halten wirst. Ich und
Euro. Für dieses Geld könnte man wieder einige Stellen auch die Kollegen, denke ich, wünschen dir alles Gute,
schaffen. Das sollten Sie sich auf die Fahnen schreiben. und wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit.
Wir geben auch noch zusätzlich 12 Millionen Euro für (Beifall)
die Sachausstattung der Länderpolizeien aus.
Die Umstrukturierung der Bundespolizei schreitet Vizepräsident Eduard Oswald:
weiter voran. Wir orientieren uns daran, was notwendig Vielen Dank. – Alle guten Wünsche gehen an den
ist. Dort, wo Aufgaben wegfallen, tragen wir dem Rech- Kollegen Dr. Peter Danckert. Wir wünschen alles Gute
nung. Ich nenne den Wegfall von Grenzkontrollen. Die und vor allem Gesundheit.
14400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundes- (Burkhard Lischka [SPD]: Gemeinsam ist mal (C)
ministeriums des Innern. Weitere Wortmeldungen liegen etwas Neues! – Dr. Konstantin von Notz
zu diesem Einzelplan nicht vor. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gemeinsam
einsam!)
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Justiz, Einzelplan 07. Wir werden das nicht eins zu eins fortsetzen, was die
Marschroute früherer Koalitionen war, sondern fragen,
Ich gehe nach der Rednerliste vor, die mir vorliegt.
was die Gesetze gebracht haben und wie wir sie zu be-
Als Erstes hat sich gemeldet unsere Bundesministerin,
werten haben. Dies geschieht mit dem Ziel – das steht
Frau Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
ausdrücklich im Kabinettsbeschluss –, zu Änderungen
Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
zu kommen.
(Beifall bei der FDP)
Wir lassen uns dabei von einer Aussage Richard von
Weizsäckers leiten. Im Anschluss an die Worte von
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- Herrn Dahrendorf, die der Bundesfinanzminister heute
ministerin der Justiz: Morgen zitiert hat – das war hervorragend –, möchte ich
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die Worte Richard von Weizsäckers anführen, von denen
Kollegen! Die Bilanz der Rechtspolitik dieser Koalition wir uns leiten lassen:
kann sich wirklich sehen lassen: Korrektur des § 160 a
der Strafprozessordnung, Abschaffung der Netzsperren, Die Freiheit ist kein Geschenk, von dem man billig
Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung, Einfüh- leben kann, sondern Chance und Verantwortung.
rung der Verzögerungsrüge gegen überlange Gerichts- In diesem Geiste arbeiten wir konstruktiv und gut zu-
verfahren, Aufhebung des Vorbehalts gegen die UN- sammen. Uns ist nicht das unterlaufen, was Rot-Grün in
Kinderrechtskonvention, Verbesserung des Vormund- Baden-Württemberg bei den Koalitionsverhandlungen
schaftsrechts zur besseren Betreuung von Kindern, In- passiert ist. Dort hat Rot-Grün in voller Überzeugung
solvenzrechtsverfahren, Opferrechtsschutzgesetz mit geschrieben: Jetzt setzen wir gemeinsam das Urteil des
Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist auf Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeiche-
30 Jahre – das liegt zur Beratung vor – und der vor kur- rung um.
zem gefasste Beschluss der Bundesregierung zur Schaf-
fung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie sollen sie das denn machen?)
(Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt haben Sie aber
alles aus der Zitrone herausgeholt, was heraus- Ich erwarte von Ihrer Seite mehr konstruktive Bei-
(B) zuholen war!) träge, wie wir in der EU erfolgreich verhandeln können, (D)
damit am Ende des Evaluierungsprozesses etwas steht,
Das alles sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass diese
das wir hier, im Bundestag, umsetzen können. Die Chan-
Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfrak-
cen, die mit der Evaluierung verbunden sind, sollte man
tionen erfolgreich arbeiten,
im Rahmen gemeinsamer Beratungen nutzen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Lassen Sie mich angesichts der Tatsache, dass die De-
und zwar auf der Grundlage eines Dreiklangs: Grund- batte in dieser Woche von der Frage nach der europäi-
rechte stärken, Rechtsschutz verbessern, Rechte der Bür- schen Integration beherrscht wird, einen Blick auf die
gerinnen und Bürger ausbauen. – lassen Sie mich das so nennen – zunehmende Europäi-
sierung des Rechts werfen; denn wir haben es im Bun-
In dieser Legislaturperiode ist es erstmals gelungen,
destag in vielen rechtspolitischen Auseinandersetzungen
das Stakkato immer neuer Sicherheitsgesetze zu been-
mit europäischen Entwicklungen und Vorgaben zu tun,
den. Wir setzen auf der Grundlage der Gesetze, die noch
die wir umzusetzen haben. Andererseits entsteht eine
von Rot-Grün stammen, –
verantwortungsbewusste und gestalterische Rechtspoli-
(Burkhard Lischka [SPD]: Das waren noch tik gerade dann, wenn wir uns, wie die Bundesregierung
Gesetze!) das in dieser Legislaturperiode macht, in den Beratungen
auf europäischer Ebene, zum Beispiel im Justizrat, als
– jetzt erstmals eine Regierungskommission ein, die sich ganz aktiven Faktor verstehen und dort Entscheidendes
mit einer kritischen Gesamtbetrachtung der Gesetzge- durchsetzen. Das ist insbesondere in den Bereichen not-
bung seit 9/11, also mit der Gesetzgebung der letzten wendig, in denen man in den letzten Jahren in die Sack-
zehn Jahre, befasst. Dazu werden natürlich auch die Si- gasse geraten ist. Wir müssen aus der Sackgasse heraus-
cherheitsgesetze gehören. Das Luftsicherheitsgesetz war kommen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang
ein „Riesenerfolg“ von Rot-Grün. Ich habe immer noch nur die Beschuldigtenrechte als Antwort auf die Einfüh-
die Worte von Herrn Ströbele im Ohr. Er hat gesagt: Wir rung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung justi-
haben dem Gesetz zugestimmt; wir haben das Richtige zieller Entscheidungen nennen.
gewollt, aber wir haben die falsche Formulierung ins
Gesetz genommen. – Das Bundesverfassungsgericht hat Seit dem letzten Jahr haben wir endlich Regelungen
sich an der Formulierung des Gesetzes orientiert und es hinsichtlich der Dolmetscherarbeit und hinsichtlich der
insofern für verfassungswidrig erklärt. Jetzt werden der Belehrungspflichten. Diese wurden dank des Einsatzes
Bundesinnenminister und ich uns gemeinsam mit den der Bundesregierung und unseres Engagements im Jus-
Gesetzen auseinandersetzen. tizrat ausgedehnt. Jetzt geht es aber auch um die Verbes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14401
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) serung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ich hätte (C)
Dazu liegt ein guter Vorschlag der Kommission vor. Ge- Ihnen noch sehr viel als Bilanz vorzutragen, aber meine
rade wenn wir Vertrauen in Europa, in diesen Raum der Redezeit ist begrenzt.
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts schaffen wollen,
müssen wir wissen, dass Vertrauen nur entstehen kann, (Burkhard Lischka [SPD]: Das hätte mich in-
wenn der Bürger seine Rechte in diesem europäischen teressiert!)
Rechtsraum auch wahrnehmen kann. Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Das hat zu ganz konkreten Erfolgen geführt. Die Bun- Vizepräsident Eduard Oswald:
desregierung hat sich auch auf europäischer Ebene mit Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Für die Frak-
Nachdruck dafür eingesetzt, dass in der Richtlinie zum tion der Sozialdemokraten unser Kollege Burkhard
Vorgehen gegen Kindesmissbrauch und Kinderporno- Lischka. Bitte schön, Kollege Lischka.
grafie verpflichtend das Löschen enthalten ist, dass es
aber keine verpflichtende Vorgabe zum Sperren dieser (Beifall bei der SPD)
Inhalte gibt. Darüber haben wir im Zusammenhang mit
dem Zugangserschwerungsgesetz sorgfältig beraten. Das Burkhard Lischka (SPD):
war nicht immer leicht. Letztendlich haben wir uns da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
von verabschiedet, eine Netzinfrastruktur aufzubauen. Ministerin, als Sie vor knapp zwei Jahren zur Bundesjus-
Das ist jetzt auch die Haltung der Europäischen Union. tizministerin ernannt wurden, fanden Sie – fast so wie
jetzt – schnell große Worte. In einem Stern-Interview
(Beifall bei der FDP)
sprachen Sie damals davon, dass von jetzt an ein anderer
Bestimmt wäre es nicht dazu gekommen, wenn sich Geist in der Rechtspolitik herrsche.
diese Bundesregierung nicht gemeinsam mit Nachdruck (Zuruf von der FDP: So ist es!)
dafür eingesetzt hätte.
Sie sagten wörtlich:
(Burkhard Lischka [SPD]: Für welchen Teil
der Bundesregierung reden Sie?) Ich spüre, dass meine Ernennung zur Justizministe-
rin also viele mit Hoffnung erfüllt.
Das gilt aber auch für den Bereich der Verbraucher-
(B) schutzrechte. Hier verhandeln wir natürlich so nach- „Ich bin Löwin. Ich bin kämpferisch“, riefen Sie damals. (D)
drücklich, damit das, was wir jetzt schon national durch
(Beifall bei der FDP – Volker Beck [Köln]
ein Mehr an Aufklärung und Transparenz sowie durch
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie eine Lö-
die Einführung einer Button-Lösung gegen unseriöse
win gestartet, wie ein Bettvorleger gelandet!)
Angebote im Internet einbringen, auch in der Verbrau-
cherschutzrichtlinie der Europäischen Union enthalten Das waren große Worte, aber nach zwei Jahren wis-
sein wird. Weil wir aber den Abschluss der Beratungen sen wir: Das war viel heiße Luft und wenig Substanz.
nicht abwarten wollen, haben wir im Kabinett einen Ge- Baustellen in der Rechtspolitik, wohin man auch schaut!
setzentwurf verabschiedet, der genau diese Button-Re- Manche Baustelle ist nach zwei Jahren zur Dauerbau-
gelung beinhaltet. stelle verkommen, auf der sich nichts tut. Hin und wie-
der tauchen ein paar schwarz- und gelbgekleidete Bauar-
Die Parlamente spielen natürlich in allen Fragen der beiter auf diesen Baustellen auf, aber nicht um fröhlich
europäischen Integration eine sehr große Rolle; denn mit ans Werk zu gehen, sondern um sich zu raufen und zu
Überwindung der Drei-Säulen-Struktur kommt dem EP keilen. Mittendrin ist die Baustellenleiterin Leutheusser-
eine herausragende Bedeutung zu. Ich sage an dieser Schnarrenberger, die den schwarzgekleideten Bauarbei-
Stelle aber auch: Die Bundesregierung hat dank der Un- tern zuruft, sie würden unverantwortliche Stimmung ma-
terstützung des Parlaments durch Stellungnahmen, die chen. Postwendend schallt es von der schwarzen Ko-
der Bundesregierung nicht in jedem Punkt gefallen mö- horte zurück, die Baustellenleiterin sei tatenlos, und den
gen, in den Verhandlungen auf europäischer Ebene vie- staunenden Passanten wird erklärt, die Baustellenleiterin
les besser durchsetzen können. sei inzwischen zum Sicherheitsrisiko auf dieser Bau-
Ich glaube, so ist die Rolle der Parlamente und auch stelle geworden.
des Bundestages zu sehen, nämlich sich sehr früh einzu- Das Versagen dieser schwarz-gelben Bundesregie-
bringen. Wir wollen dies in dem anderen schwierigen rung betrifft nach zwei Jahren alle Politikbereiche unse-
Bereich der Stabilitätsmechanismen erreichen. Das Bun- res Landes, aber die Rechtspolitik ist zum Paradebeispiel
desverfassungsgericht hat diese Rolle bisher immer ge- für das geworden, was dieser Bundesregierung vor allen
stärkt. Wir als Bundesregierung haben gesagt: Nicht nur Dingen fehlt: ein Fundus an Gemeinsamkeiten, ein Plan
die Parlamente sollen eine starke Rolle spielen, sondern und der Wille, Dinge anzupacken und zu gestalten.
auch die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb haben wir die
Grundlagen mit geschaffen, dass es die Europäische (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bürgerinitiative geben kann. Auch das haben wir im Ka- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jens
binett beschlossen. Petermann [DIE LINKE])
14402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Burkhard Lischka
(A) Stattdessen erleben wir seit zwei Jahren immerwähren- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- (C)
den Streit, nervtötende Auseinandersetzungen und Ta- ministerin: Das gibt es wirklich nicht!)
tenlosigkeit, wohin man auch schaut. Das ist die Bilanz
Als das Bundesverfassungsgericht Anfang Mai dieses
von zwei Jahren schwarz-gelber Rechtspolitik hier im
Jahres ein solches Gesamtkonzept anmahnte, kündigten
Land. Das ist die Bilanz von zwei verlorenen Jahren. Es
Sie an, sofort mit den Ländern die gesetzlichen Grundla-
sind zwei verlorene Jahre, beispielsweise für alle, die auf
gen zu schaffen und aufs Tempo drücken zu wollen. Sie
eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspart-
sagten den Ländern jegliche Unterstützung zu. Als die
nerschaften warten.
Länder Sie allerdings baten, sofort eine gemeinsame
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Warten Sie Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, verhallte die-
ab! – Zuruf von der FDP: Quatsch!) ser Ruf zunächst einmal, und Sie reagierten nicht.

Es sind zwei verlorene Jahre für alle, die auf eine verfas- Nach einem Vierteljahr haben Sie dann ohne Rück-
sungskonforme Regelung zur Vorratsdatenspeicherung sprache mit den Ländern wie Kai aus der Kiste ein soge-
warten. Es sind zwei verlorene Jahre für alle, die auf ein nanntes Eckpunktepapier zur Sicherungsverwahrung
modernes Sorgerecht für nichteheliche Väter warten. vorgelegt und waren dann offensichtlich ganz über-
rascht, als es von allen 16 Bundesländern parteiüber-
Seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs greifend Kritik hagelte. Verantwortungslose Stimmungs-
für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts mache haben Sie diese Kritik genannt. Dabei hätte uns
war über ein Jahr lang, bis zum August dieses Jahres, ein koordiniertes Vorgehen von Anfang an, wie von den
folgende Aussage auf der Internetseite des Bundesjustiz- Ländern gefordert, das Hickhack, das wir in diesen Ta-
ministerium eingestellt – ich darf zitieren –: gen erleben, ersparen können, und wir wären im Zeitplan
schon erheblich weiter, Frau Ministerin.
Das Bundesjustizministerium arbeitet an einer ge-
setzlichen Neukonzeption … zum … Sorgerecht … (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
Die intensiven Gespräche mit Rechts- und Fami- ministerin: Nein!)
lienpolitikern der Regierungskoalition werden zü- Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich darf Sie bitten,
gig fortgesetzt. bei diesem Thema in sich zu gehen. Wenn alle Länder
Ich weiß nicht, Frau Ministerin, was Sie unter „zügig“ Ihnen derzeit vorwerfen, Sie hätten noch kein Gesamt-
verstehen. Auf der Internetplattform der FDP ist noch konzept zur Sicherungsverwahrung vorgelegt, dann ist
am heutigen Tag Ihre Ankündigung zu lesen, „in der ers- das keine billige Stimmungsmache, wie Sie meinen, son-
ten Jahreshälfte 2011“ – so wörtlich – einen Gesetzent- dern schlicht und einfach zutreffend. Sie denken in Ih-
rem Eckpunktepapier über zahlreiche Lockerungen und
(B) wurf zum Sorgerecht vorlegen zu wollen. Frau Ministe- (D)
rin, man hat vielleicht einfach nur vergessen, in Ihrem Rechtsmittel, über Freigang, Hafturlaub und sogar Ent-
Amtszimmer einen neuen Jahreskalender aufzuhängen. lassung von Sicherungsverwahrten nach, und Sie haben
recht: Das Bundesverfassungsgericht macht uns hier
(Otto Fricke [FDP]: Die Ministerin macht das Vorgaben, die wir als Gesetzgeber beachten müssen.
schon elektronisch! Anders als Sie!)
(Jörg van Essen [FDP]: Genau so ist es! Es
Ich persönlich glaube das allerdings nicht; denn die wäre schön, wenn Rot-Grün das in Nordrhein-
ganze Sache ist Ihnen offensichtlich inzwischen selber Westfalen auch schon gemacht hätte!)
peinlich. Vor einigen Tagen jedenfalls wurde der Satz
Wer, wie Sie, verpflichtet ist, ein Gesamtkonzept zur
von den zügigen und intensiven Gesprächen von der In-
Sicherungsverwahrung vorzulegen, der kann hier doch
ternetseite des Bundesjustizministeriums gelöscht. Aber
nicht stehen bleiben, sondern muss sich auch mit der
das Löschen auf Internetseiten des Bundesjustizministe-
Frage beschäftigen, was man mit den zahlreichen Siche-
riums, Frau Ministerin, ist noch keine erfolgreiche
rungsverwahrten machen soll, die sich überhaupt nicht
Rechtspolitik.
therapieren lassen wollen und jede Mitwirkung verwei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gern. Da muss der Gesetzgeber doch klarstellen, dass
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Lockerungen oder gar Entlassung nicht in Betracht kom-
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha- men, sonst drohen überraschende und ungerechtfertigte
ben Sie die gelöscht oder gesperrt? – Entlassungen von Gewalt- und Sexualstraftätern. Darauf
Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir haben sie haben die Länder vollkommen zu Recht hingewiesen.
nicht gesperrt!) Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dieser Staat hat nicht
nur eine Verantwortung gegenüber den Sicherungsver-
Deshalb sage ich Ihnen: Machen Sie endlich Ihre Haus- wahrten, die sich in seiner Obhut befinden, sondern auch
aufgaben, und legen Sie dem Deutschen Bundestag zü- gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern und den Op-
gig einen Gesetzentwurf für ein modernes Sorgerecht fern von Gewalt- und Sexualdelikten.
vor! Hunderttausende betroffene Väter, Mütter und Kin-
der warten schon viel zu lange darauf. Frau Ministerin, meine Damen und Herren von Union
und FDP, vergeuden Sie nicht, wie in den letzten zwei
Wir warten übrigens auch, Frau Ministerin, auf ein Jahren, weiter Ihre Energie in vollkommen sinnlosen
Gesamtkonzept zur Sicherungsverwahrung für höchstge- und nervtötenden Auseinandersetzungen, sondern ma-
fährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Auch da haben chen Sie das, wofür Sie als Regierung gewählt wurden:
Sie wertvolle Zeit verstreichen lassen. Packen Sie die Probleme in der Rechtspolitik an, arbei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14403
Burkhard Lischka
(A) ten Sie sie ab, und präsentieren Sie dem Deutschen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei (C)
destag Lösungen, die diesen Problemen gerecht werden! Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ha- Die Stellungnahmen des Rechtsausschusses sind im
ben wir doch längst getan!) Wesentlichen in diesem Unterausschuss, oftmals auch
fraktionsübergreifend, erarbeitet und gemeinsam verab-
Sie haben schon viel zu viel Zeit vertrödelt. Wenn Sie so schiedet worden. Dies zeigt mehr als deutlich – das wird
weitermachen, dann droht auf Ihren Baustellen wirklich in der öffentlichen Diskussion aber leider viel zu wenig
Einsturzgefahr. zur Kenntnis genommen –, dass die Rechtspolitiker des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Deutschen Bundestages mit sehr viel Engagement und
ten der LINKEN – Sabine Leutheusser- fachlichem Einsatz die parlamentarischen Mitwirkungs-
Schnarrenberger, Bundesministerin: Wegsper- rechte in europäischen Fragen wahrnehmen. Meine Da-
ren für immer ist nicht mehr! – Christian men und Herren Kollegen, vielleicht sollten wir uns stär-
Lange [Backnang] [SPD]: Die schlechteste ker dafür einsetzen, dass über diese Stellungnahmen
Regierung aller Zeiten!) auch im Plenum des Bundestages häufiger diskutiert
wird. Die Inhalte wären es allemal wert.
Vizepräsident Eduard Oswald: (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. – Jetzt für LINKEN sowie des Abg. Jerzy Montag
die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Andrea [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Voßhoff. Bitte schön, Frau Kollegin Voßhoff. Eine zweite Vorbemerkung sei mir erlaubt. Da wir im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rahmen der Haushaltsberatungen auch den Etat des
Bundesverfassungsgerichts beraten, darf ich die Gele-
genheit nutzen, vor dem anstehenden 60. Geburtstag des
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): Bundesverfassungsgerichts ein paar Worte dazu zu ver-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber lieren.
Kollege Lischka, Sie brauchen keine Angst vor Einsturz-
gefahr zu haben. Wenn man all das, was Sie zu der Frage (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
aufgelistet haben, was wir noch tun wollen und tun müs- GRÜNEN]: Wie wäre es denn mal mit dem
sen, und all das, was die Ministerin zu der Frage aufge- Befolgen seiner Urteile, zum Beispiel zur
listet hat, was wir schon getan haben, Wahlrechtsreform?)
(Burkhard Lischka [SPD]: Zügig wahrschein- Von 1951 – seitdem besteht das Gericht – bis zum Ende
(B) lich! Zügig und intensiv!) des Jahres 2010 hat sich das Bundesverfassungsgericht (D)
mit über 188 000 Verfahren beschäftigt. 182 000 Verfah-
zusammennimmt, ist das schon der komplette Koali- ren waren Verfassungsbeschwerden der Bürger. Knapp
tionsvertrag. Eine Legislaturperiode dauert vier Jahre. 70 Prozent der Verfahren konnten bereits im ersten Jahr
Warten Sie es ab! Über die Punkte, die Sie angesprochen nach ihrem Eingang abgewickelt, weitere 20 Prozent der
haben, werden wir hier noch miteinander diskutieren. Verfahren innerhalb von zwei Jahren beendet werden.
Diese Zahlen belegen einerseits die hohe Akzeptanz des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gerichts beim Bürger, andererseits aber auch die Effi-
Ich würde die Haushaltsdebatte gerne zu zwei grund- zienz des Gerichts bei der Abarbeitung der Verfahren.
sätzlichen Vorbemerkungen zur Rechtspolitik nutzen;
Noch viel beeindruckender finde ich, welch hohes
das erlauben Sie mir. Die Rechtspolitik – von A wie Ak-
Ansehen sich das Bundesverfassungsgericht in 60 Jahren
tienrecht bis Z wie Zugangserschwerungsgesetz – ist
erarbeitet hat. Es hat von Beginn seiner Arbeit als Hüter
Querschnittspolitik. Neben unseren klassischen Kernfel-
der Verfassung bis heute – auch in diesen Tagen – immer
dern – sie sind in der Rechtspolitik sehr umfangreich – im Spannungsfeld zur Politik gestanden. Nicht minder
gibt es, glaube ich, kaum ein Gesetzgebungsvorhaben wichtig war und ist aber auch, dass das höchste Gericht
dieses Parlaments, bei dem wir nicht mitberatend tätig in der Gesellschaft die notwendige Entscheidungsakzep-
sind. Im Vergleich zum kleinen, feinen Justizhaushalt ist tanz genießt.
die Rechtspolitik ein sehr umfassendes Feld.
Hans Vorländer, Politikwissenschaftler an der Uni
Die Ministerin hat es erwähnt: Auch bedingt durch Dresden, hat in einem lesenswerten Beitrag unter der
den Vertrag von Lissabon ist der Bereich der europäi- Überschrift „Regiert Karlsruhe mit?“ in der Beilage der
schen Gesetzgebung ein stetig wachsendes Themenfeld, Wochenzeitung Das Parlament das Spannungsfeld zwi-
dem wir uns als Parlament stellen. Ich glaube, der schen Bundesverfassungsgericht und Politik, aber auch
Rechtsausschuss gehört zu den wenigen Ausschüssen, den Stellenwert des Gerichts in der Gesellschaft be-
die schon seit Jahren einen Unterausschuss haben, der leuchtet. Er führt aus, wie das Bundesverfassungsgericht
sich ausschließlich mit europäischen Gesetzgebungsvor- von Beginn an immer auch in der Kritik der Politik stand
haben beschäftigt. Wer diesen Unterausschuss kennt und und sich seine Position über die Deutungshoheit über die
weiß, wie umfangreich seine Tagesordnung ist, der darf Verfassung errungen hat.
an dieser Stelle den Kollegen und Kolleginnen aller
Fraktionen für ihre intensive Arbeit in diesem so wichti- Vorländer beschreibt, wie Anfang der 60er-Jahre der
gen Unterausschuss unter Vorsitz meines Unionskolle- damalige Bundeskanzler Adenauer mit dem Projekt ei-
gen Professor Sensburg danken. nes Fernsehsenders auf Bundesebene vor dem Verfas-
14404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Andrea Astrid Voßhoff


(A) sungsgericht scheiterte. Das Bundesverfassungsgericht Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): (C)
stellte fest, dass die Rundfunkgesetzgebung Sache der Ja, gerne.
Länder sei und dem Bund die Gesetzgebungskompetenz
für die Gründung eines Regierungsfernsehens fehle. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Adenauer, so Vorländer, erklärte daraufhin, das Kabinett Auch wenn wir gemeinsam sicherlich die Grundposi-
habe einstimmig beschlossen, dass das Urteil des Bun- tion teilen, dass sich die Verfassungsorgane gegenseitig
desverfassungsgerichts falsch sei. Das Bundesverfas- respektieren sollen, frage ich: Meinen Sie, es könnte bei
sungsgericht versuchte, sich des Angriffs der Exekutive den Terminierungen eine Rolle gespielt haben, dass sich
zu erwehren. Der damalige Präsident, Gebhard Müller,
der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, und die Bun-
hielt fest, dass kein Verfassungsorgan befugt sei, zu be-
desregierung zuweilen nicht um die Urteile des Bundes-
schließen, ein Spruch des Bundesverfassungsgerichts
verfassungsgerichts scheren, wie das beim Thema Wahl-
entspreche nicht dem Verfassungsrecht.
recht der Fall ist?
Im Laufe der Jahre ist es dem Verfassungsgericht in
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist
beeindruckender Weise gelungen, ein hohes Maß an Ver-
falsch, Herr Kollege!)
trauen in der Öffentlichkeit zu erwerben. Das Span-
nungsfeld zur Politik ist geblieben. Das muss auch so Dabei hat es der Bundestag nicht geschafft, innerhalb
sein. Die Aufgabe als Hüter der Verfassung hat das Ver- der dreijährigen Frist ein Gesetz zur Änderung des Bun-
fassungsgericht bis heute in überzeugender Weise erfüllt. deswahlgesetzes mit Mehrheit zu beschließen. Deshalb
Dazu kann man nur gratulieren. denkt sich vielleicht das Bundesverfassungsgericht:
Wenn wir in Karlsruhe denen schnurz sind, dann sind die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Berlin uns auch schnuppe.
Die Haushaltsdebatte in diesem Jahr ist auch so etwas (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wenn es so
wie eine Halbzeitbilanz der Koalition, auch im Bereich wäre, wäre es noch schlimmer!)
der Rechtspolitik.
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Beck, ich traue dem Bundesverfas-
Frau Kollegin Voßhoff, gestatten Sie eine Zwischen- sungsgericht eine so niedere Denkweise, wie Sie sie ge-
frage unseres Kollegen Jörg van Essen? rade insinuieren, einfach nicht zu.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): der FDP)
(B) Gerne. (D)
Zur Halbzeitbilanz der Rechtspolitik der christlich-li-
beralen Koalition hat die Ministerin schon Ausführun-
Jörg van Essen (FDP):
gen gemacht und dargelegt, was wir abgearbeitet haben
Liebe Frau Kollegin Voßhoff, nachdem Sie, wie ich bzw. was zurzeit sozusagen im Rohr ist. Ich will noch
finde, das Bundesverfassungsgericht zu Recht besonders die Reform des Mietrechts nennen, zu der uns mittler-
gelobt haben, frage ich: Teilen Sie meine Auffassung, weile ein Referentenentwurf vorliegt. Das ist neben dem
dass es eine gute Zusammenarbeit zwischen den Verfas- klassischen Kernfeld Mietrecht etwas, das für uns beson-
sungsorganen geben sollte und deshalb auch das Bun- ders wichtig ist, um die Energiewende in Deutschland
desverfassungsgericht bei Terminierungen auf seit lan- wirklich festzumachen. Sie haben bei Ihrem Beschluss
gem feststehende Termine des Bundestages Rücksicht zum Atomausstieg schlicht und ergreifend vergessen,
nehmen sollte? Das Budgetrecht ist das Königsrecht des sich um die Fragen der erneuerbaren Energien in allen
Parlaments und die Debatte zum Haushalt der Bundes- Bereichen zu kümmern. Wir haben die Reform des Miet-
kanzlerin in jedem Jahr eine der Sternstunden des Parla- rechts mit in Angriff genommen, um eben auch im Ge-
ments. Teilen Sie meine Auffassung, dass man das bei bäudebereich Energieeffizienz einziehen zu lassen.
der Verkündung von wichtigen Urteilen berücksichtigen
sollte? Wir wissen, dass der Gebäudebereich für 40 Prozent
des deutschen Energieverbrauches und ein Drittel der
CO2-Emissionen verantwortlich ist. Wir wollen deshalb
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
mit der Reform des Mietrechts Energieeffizienz bei der
Herr Kollege, ich teile diese Auffassung zu 100 Pro- Gebäudesanierung stärken und nach vorne bringen.
zent und gehe noch einen Schritt weiter. Der Festakt zum
60-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts Das Insolvenzrecht ist bereits angesprochen worden.
findet wiederum in einer Sitzungswoche und dann auch Dabei sind wir kurz vor dem Abschluss und haben, wie
noch an einem Mittwoch statt, an dem der Rechtsaus- ich finde, nicht nur ein gutes Gesetz auf den Weg ge-
schuss tagt. Auch das finde ich sehr bedauerlich. Viel- bracht. Es wird im Bereich der Wirtschaftsordnung, um
leicht könnten wir das irgendwann einmal entsprechend die sich die Rechtspolitik auch kümmert, sehr weit rei-
kommunizieren, damit sich das ändert. chende und tragende Möglichkeiten zur Sanierung von
Unternehmen in Deutschland schaffen.
Vizepräsident Eduard Oswald: Eine weitere wichtige Wegmarke unserer Rechtspoli-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen- tik ist der bessere Schutz der Bürger vor Straftaten und
frage, nämlich unseres Kollegen Volker Beck? der Opferschutz. Ich erlaube mir an dieser Stelle, erneut
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14405
Andrea Astrid Voßhoff
(A) zu erwähnen, dass wir die Verbesserungen für die Opfer Interessanterweise hat das Bundesverfassungsgericht (C)
des SED-Regimes im Strafrechtlichen Rehabilitierungs- – da schaue ich insbesondere Sie an, Herr Kollege
gesetz mittlerweile verabschiedet haben. Es ist in- Montag – dem Therapieunterbringungsgesetz in beein-
zwischen in Kraft getreten. Wir haben nicht nur die An- druckender Weise seinen Platz in den Regelungen der
tragsfristen verlängert, sondern auch den Bezug der Sicherungsverwahrung zugewiesen.
Opferpension für die Betroffenen verbessert. Ich freue
mich sehr, wenn ich immer wieder Zuschriften von Bür- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gern bekomme, die aufgrund dieser Verbesserung jetzt in NEN]: Ja, leider!)
den Genuss der Opferpension gekommen sind, was vor-
Es war immer ein Anliegen der Union, die Lücken, die
her nicht der Fall war.
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte durch
Es ist wichtig und notwendig, auch in einer Haus- seine Urteile in diesem Zusammenhang geschaffen hatte
haltsdebatte zur Rechtspolitik – nicht nur, weil wir feder- – gefährlichste Straftäter mussten freigelassen werden –,
führend zuständig sind – immer wieder darauf hinzuwei- im Rahmen der Neustrukturierung der Sicherungsver-
sen und damit an das kommunistische Unrechtssystem wahrung zu schließen. Dadurch ist das Therapieunter-
zu erinnern. Nicht zuletzt ist dies auch aufgrund des bringungsgesetz zustande gekommen.
heute schon erwähnten Verhaltens der Linken in der jün-
Sie haben immer sinngemäß gesagt, das Gesetz habe
geren Zeit erforderlich. Die Danksagungen für den Mau-
nur eine geringe Halbwertszeit und werde gekippt wer-
erbau und die kritiklosen und unterwürfigen Huldigun-
den. Nein, Herr Montag, das Bundesverfassungsgericht
gen anlässlich des Geburtstags von Fidel Castro zeigen
hat es anders gesehen. Es hat nämlich den Ansatz, den
eines deutlich, meine Damen und Herren von den Lin-
wir als Union und dann die christlich-liberale Koalition
ken: Sie haben aus der Vergangenheit schlicht nichts ge-
immer wieder verfolgt haben, aufgegriffen: dass es die
lernt.
Möglichkeit geben muss, Straftäter, die höchst gefähr-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich sind, auch weiterhin in Sicherungsverwahrung zu
behalten. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht
Wir haben das Thema „Widerstandshandlungen ge- strengste Vorgaben daran gestellt. Den Grundsatz des
gen Polizeibeamte“ aufgegriffen und die Rechte und den Therapieunterbringungsgesetzes hat es in diesem Zu-
Schutz von Polizei und Feuerwehr sowie von Angehöri- sammenhang aber durchaus bestätigt. Das finde ich
gen der Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes wichtig, meine Damen und Herren.
gestärkt. Dass die Linken und die Grünen diesen Gesetz-
entwurf abgelehnt haben, war nicht anders zu erwarten. Es ist es aber genauso wichtig – da haben Sie natür-
lich recht, Herr Kollege Lischka; das ist etwas, was die
(B) Dass die SPD sich nur zu einer Enthaltung durchringen Große Koalition jetzt mit Vorrang wird betreiben müs- (D)
konnte, enttäuscht. Wir – die christlich-liberale Koali-
tion sagt das ganz deutlich – werden uns immer dafür sen –
einsetzen, dass diejenigen, die uns schützen, selbst auch
(Burkhard Lischka [SPD]: Die Große Koali-
adäquat geschützt werden.
tion? Sie haben gesagt: Große Koalition! –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war
ein Freud’scher Versprecher – oder eine
Meine Damen und Herren, die Sicherungsverwahrung Wunschvorstellung!)
ist bereits angesprochen worden. Die Umsetzung des
entsprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts – nein, die christlich-liberale Koalition –,
ist für uns von besonderem Gewicht. Natürlich hat uns
(Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt kommt die
das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil auch
Ernüchterung!)
eine schwere inhaltliche Vorgabe gesetzt; das ist gar
keine Frage. Dabei geht es aber nicht, wie man aus den dass wir noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur
Reihen der Opposition hört, darum, Kritik an der Koali- Neuregelung der Sicherungsverwahrung vorlegen.
tion zu üben. Das Bundesverfassungsgericht hat unseren
Reformansatz nämlich nicht gekippt. Das Gesetzgebungsvorhaben zur Stärkung der Rechte
der Opfer sexuellen Missbrauchs ist bereits erwähnt wor-
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- den; darauf brauche ich nicht weiter einzugehen. Dabei
ministerin: So ist es!) handelt es sich um ein sehr wichtiges Gesetzgebungsvor-
haben. Über die Frage der Verlängerung strafrechtlicher
Das Bundesverfassungsgericht hat die Normen der Si-
Verjährungsfristen haben wir nicht abschließend beraten,
cherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt, weil
weil sich der Runde Tisch noch mit dieser Thematik be-
das Abstandsgebot zwischen Strafvollzug und Siche-
schäftigt. Deshalb ist erst einmal die Verlängerung der zi-
rungsverwahrung nicht gewahrt wurde.
vilrechtlichen Verjährungsfristen darin enthalten. Wir
(Burkhard Lischka [SPD]: Aber sprechen Sie werden auch in der Frage der strafrechtlichen Verjäh-
einmal mit Ihren Landesministern!) rungsfristen den Abschluss der Arbeit des Runden Ti-
sches abwarten. Aus Sicht der Union ist es nämlich wenig
Es hat aber die materiell-rechtlichen Vorgaben zur pri- sinnvoll, nur die zivilrechtlichen Verjährungsfristen an-
mären und zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, zuheben. Dies muss dann auch für die strafrechtlichen
die wir neu gesetzt haben, nicht beanstandet. Verjährungsfristen gelten.
14406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Andrea Astrid Voßhoff


(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – men. So hat sich aber die Handschrift der Union mit dem (C)
Burkhard Lischka [SPD]: Da haben wir auch Aspekt der Justizkosteneinsparung und Verfahrensbe-
schon einen Vorschlag gemacht!) schleunigung gegen den von der FDP hochgehaltenen
Rechtsstaat durchgesetzt. Sie haben sich bei diesem
Meine Damen und Herren, abschließend darf ich Fol- Thema offensichtlich ins Lenkrad greifen lassen und
gendes sagen: Der Aufgabenkatalog der christlich-libe- sind dadurch ein wenig von der Straße abgekommen.
ralen Koalition ist anspruchsvoll und umfangreich.
(Beifall bei der LINKEN)
(Burkhard Lischka [SPD]: Er wird immer
größer!) Denn die Kompromisslösung, die Sie gefunden haben,
lässt auch weiterhin einen Spielraum für schnelle abwei-
Wir haben noch genügend Themen, um die zweite Halb- sende Beschlüsse zu.
zeit der Koalition gemeinsam zu gestalten.
Die Zulässigkeit der Revision zum Bundesgerichtshof
Vielen Dank. ist auch zukünftig davon abhängig, dass die betroffenen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bürgerinnen und Bürger um mehr als 20 000 Euro strei-
ten. Leidtragende sind noch immer vor allem die Betrof-
fenen, die Ansprüche wegen Gesundheitsschädigung
Vizepräsident Eduard Oswald:
geltend machen. Die Fälle sind Ihnen, liebe Kolleginnen
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt spricht für die
und Kollegen, die wir regelmäßig im Rechtsausschuss
Fraktion Die Linke unser Kollege Jens Petermann. Bitte
zusammensitzen, hinlänglich bekannt. Die kommen bei
schön, Kollege Jens Petermann.
der vorgesehenen Regelung leider wieder unter die Rä-
(Beifall bei der LINKEN) der. Hier hat der Gesetzentwurf nichts verändert.
Zweites Beispiel. Große Probleme bereits beim Aus-
Jens Petermann (DIE LINKE): parken haben Sie mit dem Gesetzentwurf zur Förderung
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine der Mediation. Europäisches Parlament und Europäi-
sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin scher Rat verpflichteten den deutschen Gesetzgeber, für
Leutheusser-Schnarrenberger, ich finde es bemerkens- grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Han-
wert, dass Sie den konservativen Kräften der Regie- delssachen den Zugang zur Mediation zu fördern. Die
rungskoalition doch noch hier und da so lange und uner- Frist zur Umsetzung endete bereits am 20. Mai dieses
müdlich die Stirn geboten haben, und wünsche Ihnen, Jahres. Die von der Koalition eingebrachte Drucksache
dass Sie auch in Zukunft Ihre liberalen Positionen vertei- ist indes so schlecht, dass Ihnen selbst die eigenen Fach-
digen können und dem innerparteilichen Druck, aber leute in den Regierungsfraktionen die Gefolgschaft ver-
(B) auch dem Druck in der Koalition standhalten können. (D)
weigerten und auf die Bremse getreten sind. Ich finde,
Ob Sie dazu die Kraft haben, wird sich schon bei den völlig zu Recht.
nächsten Themen zeigen, beispielsweise – es ist heute
schon genannt worden – beim Thema der Vorratsdaten- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
speicherung. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
(Zuruf von der LINKEN: Hat sie nicht!)
Mit dieser Drucksache sollen nämlich Richtlinienvorga-
Für die unmittelbare Arbeit Ihres Ministeriums steht ben umgesetzt werden, die es interessanterweise gar
Ihnen ein Budget von circa 67 Millionen Euro zur Verfü- nicht gibt.
gung. Ihre 569 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben
wichtige Aufgaben bei der Vorbereitung, Änderung und Im Ergebnis setzt der Entwurf nichts wirklich um,
Aufhebung von Gesetzen und Verordnungen zu erfüllen. sondern schreibt bestenfalls die bestehende unübersicht-
liche Praxis fest. Auch hier zeigt sich die Koalition übri-
Man könnte Ihr Ministerium mit der recht großen An- gens wieder von ihrer „sozialen Seite“. Denn so „un-
zahl an hervorragend ausgebildeten Mitarbeiterinnen wichtige“ Dinge wie Mediationskostenhilfe oder
und Mitarbeitern mit einem gut ausgestatteten Mittel- Chancengleichheit haben Sie überhaupt nicht berück-
klassewagen vergleichen, dessen Fahrerin allerdings auf- sichtigt. Genauso wenig haben Sie an die Qualifikation
grund falscher politischer Koordinaten Probleme mit der der Mediatoren gedacht. Offenbar geht es der Union nur
Navigation hat. Dementsprechend wissen Sie gelegent- darum, das übliche, öffentlich zugängliche Gerichtsver-
lich nicht, wo es langgeht und wohin Sie wirklich wol- fahren zugunsten einer vermeintlich kostengünstigeren
len. Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, dass Sie Alternative zu beschneiden. Falls Sie, Frau Ministerin,
Schlangenlinien fahren und auch mal die eine oder an- die Parklücke vielleicht doch noch wider Erwarten und
dere rote Ampel übersehen. mit einigen Beulen verlassen können, sollten Sie aufpas-
sen, dass die Fahrt nicht in der nächsten Sackgasse en-
Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern.
det.
Erstes Beispiel: der Gesetzentwurf zur Änderung des
(Beifall bei der LINKEN)
§ 522 Zivilprozessordnung. Die Möglichkeit zur Beru-
fungszurückweisung durch einen unanfechtbaren Be- Drittes Beispiel. Startschwierigkeiten und Probleme,
schluss des Gerichts gehört meines Erachtens gänzlich den Zündschlüssel zu finden, bestehen offensichtlich
gestrichen. Es hätte Sinn gemacht, die Forderungen der auch bei der Streichung des § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinar-
Fachleute, aber auch die der Opposition ernst zu neh- ordnung. Sie erlauben es damit dem Verteidigungsminis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14407
Jens Petermann
(A) ter, sich in die Besetzung des Wehrdisziplinarsenates folgt. Hier sitzt offensichtlich die Union wieder am län- (C)
beim Bundesverwaltungsgericht einzumischen. Wenn geren Hebel.
die Bundesregierung auf die Geschäftsverteilung eines
oberen Bundesgerichtes Einfluss nimmt, so ist dies nicht Seit der Einbringung – diese erfolgte im Dezember
nur in meinen Augen ein klarer Verstoß gegen das Gebot 2010 – und der öffentlichen Anhörung im Januar 2011
der Gewaltenteilung. Als Sie, Frau Ministerin, noch ein- ist nämlich nichts geschehen, vermutlich deshalb, weil
fache Abgeordnete waren, haben auch Sie diese Praxis sich die von der Koalition benannten Sachverständigen
völlig zu Recht kritisiert. gegen Ihren Gesetzentwurf ausgesprochen und auf ent-
stehende Strafbarkeitslücken hingewiesen haben. Frau
Meine Fraktion hat das Thema dankenswerterweise Ministerin, nehmen Sie hier das Steuer wieder selbst in
aufgegriffen und einen Gesetzentwurf zur Änderung die- die Hand und lassen Sie sich nicht vom Koalitionspart-
ser Praxis vorgelegt. Anstatt diese Initiative aufzuneh- ner ausbremsen.
men, haben Sie sich leider fahruntauglich gezeigt und
die weiße Flagge gehisst. Sie haben ein ureigenes Jus- Regierungshandeln im Allgemeinen, aber auch die
tizthema an den Verteidigungsausschuss abgeschoben. Gesetzesvorlagen müssen stets den Verfassungsgrund-
Das finde ich sehr traurig. Es ist unseres Erachtens drin- sätzen genügen. Das ist Ihnen in der Vergangenheit lei-
gend geboten, dass Sie endlich unserer Initiative beitre- der nicht durchgängig gelungen. Die Bürgerinnen und
ten und dafür sorgen, dass der auch von Ihnen zu Recht Bürger, die Wählerinnen und Wähler erwarten völlig zu
beklagte verfassungswidrige Zustand beendet wird. Recht ein verfassungskonformes Handeln. In der Praxis
sind jedoch zu viele Korrekturen durch das Bundesver-
(Beifall bei der LINKEN) fassungsgericht erforderlich gewesen. Aufgrund dieser
Bringen Sie also den Motor zum Laufen. Wenn Sie Arbeitsweise, geprägt durch eine Reihe von verfassungs-
dann noch in die richtige Richtung fahren, können auch rechtlich bedenklichen Gesetzentwürfen, machen Sie
wir einem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf zustim- dem Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite unnö-
men. tig zusätzliche Arbeit. Das führt im Übrigen zu längeren
Verfahrenslaufzeiten. Auf der anderen Seite hat das aber
Ich habe noch ein weiteres Beispiel für Sie. Dass die auch solch abstruse Forderungen zur Folge, wie sie der
Fahrt nicht immer in die richtige Richtung geht, zeigt Präsident des Bundesverfassungsgerichts jüngst äu-
das Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung. ßerte. Er forderte nämlich eine Querulantengebühr von
Es ist schon angesprochen worden. Hier haben Sie bis zu 5 000 Euro, wenn das Gericht missbräuchlich von
gleich mehrere rote Ampeln übersehen und sind wieder den Bürgerinnen und Bürgern angerufen wird. Ich frage
direkt in den Leitplanken des Bundesverfassungsgerichts Sie aber: Was bleibt denn den Bürgerinnen und Bürgern
(B) gelandet. Das ist bedauerlich, aber wir müssen es leider sonst übrig? Sie nehmen doch letztlich nur ein elementa- (D)
feststellen. Erst muss Ihnen der Europäische Gerichtshof res Bürgerrecht wahr, nämlich Grundrechtsverletzungen
für Menschenrechte sagen, dass die deutschen Regelun- zu rügen.
gen zur Sicherungsverwahrung gegen die Europäische
Menschenrechtskonvention verstoßen, dann haben Sie (Beifall bei der LINKEN)
ein bisschen Flickschusterei betrieben, und nicht einmal
ein halbes Jahr später bescheinigt Ihnen das Bundesver- Die vielen verabschiedeten verfassungswidrigen Ge-
fassungsgericht die Unvereinbarkeit Ihres Systems mit setze sind unter anderem eine Ursache dafür, dass das
dem Grundgesetz. Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Politik ra-
pide sinkt. Das haben wir leider auch letztes Wochen-
Die dringend notwendige Expertenkommission aus ende feststellen müssen. Wir haben dafür Lösungsan-
Kriminologen, Psychiatern, Vollzugspraktikern, Staats- sätze. Hören Sie ausnahmsweise einmal auf die
anwälten und Richtern haben Sie immer noch nicht ein- Vorschläge der Opposition, wie zum Beispiel beim Ge-
gesetzt. Bei der gesetzten Übergangsfrist, die am 31. De- setzentwurf zu § 522 der Zivilprozessordnung. Rot-Grün
zember dieses Jahres endet, ist zu befürchten, dass Sie hat einen damals begangenen Fehler eingestanden, doch
wieder einmal verspätet ankommen. Erhöhen Sie also Ihnen fehlt leider die Größe, das aufzugreifen und die
das Tempo und passen Sie auf, dass dieser Gesetzent- von vielen Fachleuten angezweifelte Reform zu revidie-
wurf nicht wieder zu einer Geisterfahrt wird. ren.
(Beifall bei der LINKEN) Geben Sie, Frau Ministerin, endlich die richtigen Ko-
ordinaten ein. Dann wird auch Ihr gut ausgestatteter Mit-
Aus Ihrem Haus kommt auch der Entwurf zur Stär- telklassewagen, um bei diesem Bild zu bleiben, viel-
kung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht. leicht sein Ziel erreichen und noch viele Kilometer
Mit diesem Entwurf fahren Sie, wenn man so will, seit laufen. Wenn Sie diese Wende, von der hier schon die
geraumer Zeit im Kreis. Die vorgeschlagene Regelung Rede war, verpassen, werden Ihnen die Wählerinnen und
ist nicht nur halbherzig; nebenbei ist sie auch noch Aus-
Wähler bei der nächsten Wahl in zwei Jahren, falls Sie es
druck eines faulen Kompromisses zwischen der ver-
überhaupt schaffen, bis dahin über die Runden zu kom-
meintlichen Bürgerrechtspartei FDP und den Law-and-
men, ganz bestimmt das Steuer entziehen.
Order-Parteien der Union. Abgesehen davon, dass dieser
eigentlich in die richtige Richtung gehende Gesetzent- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
wurf einen Schutz der Presse nur begrenzt gewährleistet,
scheint es so, als würde das Vorhaben nicht weiter ver- (Beifall bei der LINKEN)
14408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: das Schlimmste ist: Sie haben der Öffentlichkeit und den (C)
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht für Polizeibeamten vorgegaukelt, dass sich durch diese Än-
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Jerzy derung die Sicherheit in Deutschland, insbesondere für
Montag. Bitte schön, Kollege Montag. die Beamten, auch nur um ein Jota verbessern werde.
Was Sie in diesem Punkt gemacht haben, ist nichts ande-
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): res als Symbolpolitik.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ehrte Frau Bundesjustizministerin, Sie haben letztes Jahr und bei der SPD)
im Spiegel ein großes Interview gegeben. Sie haben sich
in diesem Interview mit dem Satz „Ich nerve für den Ja, Frau Ministerin, Sie haben in dieser Sache etwas ge-
Rechtsstaat“ zitieren lassen. Das war eine nette Anleihe nervt; aber Sie haben sich nicht durchsetzen können.
an so lockere Sprüche wie „Ich trinke für den Frieden“.
Ein zweites Beispiel dafür ist die Reform der Si-
(Heiterkeit) cherungsverwahrung; sie ist hier schon mehrfach
angesprochen worden. Eigentlich ist sie ein Feld für
Es stellt sich schon die Frage, ob es die Aufgabe einer rechtsstaatlich und menschenrechtlich gesonnene Bun-
Bundesjustizministerin ist, für den Rechtsstaat zu ner- desjustizministerinnen. Die letzte schwarz-gelbe Koali-
ven, oder ob es nicht vielmehr Aufgabe der Bundesjus- tion hat im Januar 1998 die fragwürdige Rückwirkung in
tizministerin ist, sich für den Rechtsstaat einzusetzen, der Sicherungsverwahrung beschlossen. Insbesondere
ihn zu erhalten und zu gestalten. diese Änderung der schwarz-gelben Regierung vom Ja-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nuar 1998 hat dazu geführt, dass Jahre später der Euro-
sowie bei Abgeordneten der SPD) päische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach die
Bundesrepublik Deutschland verurteilt hat, weil es sich
Viel interessanter ist die Frage, wen Sie mit Ihrer um eine menschenrechtswidrige Formulierung handelt.
Politik eigentlich glauben nerven zu müssen. Ich kann
Ihnen versichern: Die Opposition nerven Sie – meistens – (Jörg van Essen [FDP]: Und Sie haben das in
mit Ihren grundsätzlichen Positionen zur Rechtsstaat- sieben Jahren nicht ändern können? Was haben
lichkeit in Deutschland nicht. Sie denn an der Sicherungsverwahrung geän-
dert in Ihrer Regierungszeit?)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der SPD) Sie haben im letzten Jahr angekündigt, eine generelle
Reform der Sicherungsverwahrung durchzuführen. Eine
Wir haben Belege zuhauf, dass Sie fortlaufend Ihren solche Reform haben Sie Ende des letzten Jahres vorge- (D)
(B) Koalitionspartner von der Union nerven
legt, und einige Monate später haben Sie beim Bundes-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Müssen!) verfassungsgericht in Karlsruhe einen Scherbenhaufen
kassiert. Ich kann Ihnen sagen, mit welcher Geisteshal-
und dass auch in der Rechtspolitik in der sogenannten tung das zu tun hat: Der Kollege Stephan Mayer von der
schwarz-gelben Koalition Zwietracht und Niedertracht CSU hat in der Haushaltsdebatte am 16. September
herrschen. 2010, also vor ungefähr einem Jahr, zu diesem Punkt ge-
Ein erstes Beispiel dafür sei die Verunstaltung des sagt: Ziel der Reform muss es sein, eine Regelung zu
§ 113 StGB, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. schaffen, die absolut gewährleistet, dass keine Gefahren
Dazu hat der Kollege Stadler, Staatssekretär im Justiz- für die öffentliche Sicherheit mehr bestehen. Sie, Frau
ministerium, am 29. April letzten Jahres gesagt: Ministerin, haben in dem angesprochenen Spiegel-Inter-
view gesagt: „Absolute Sicherheit gibt es nicht.“ Ich
Die Strafrahmen füge hinzu: Wir dürfen das auch nicht wollen; denn wer
– bei Gewalt gegen Polizeibeamte – absolute Sicherheit anstrebt, zerstört die rechtsstaatliche
Ordnung, die wir haben.
sind ausreichend, die Gerichte können sie aus-
schöpfen … (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Sie selber, Frau Ministerin, haben am 23. Juni dieses KEN)
Jahres in der FAZ gesagt, neues Strafrecht sei oft nicht
mehr als Symbolpolitik. Der Wunsch nach ständiger Frau Ministerin, Sie haben einen falschen Partner. Sie
Ausdehnung des Strafrechts blende aus, dass das Straf- nerven ihn, aber Sie setzen sich nicht durch.
recht kein Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher
Das Gleiche gilt für die Reform des Wahlrechts. Drei
Probleme sei.
Jahre lang haben Sie es zugelassen, dass keine Regelung
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- zustande gekommen ist. Das Gleiche gilt für die Be-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – kämpfung der Korruption und die Abgeordnetenbeste-
Mechthild Dyckmans [FDP]: Sehr richtig!) chung. Das Gleiche gilt für die Pressefreiheit. Da fordert
jetzt der sehr verehrte Kollege Kauder, Vorsitzender des
Einige Tage später, am 7. Juli 2011, haben Sie in rei- Rechtsausschusses, Journalisten unter Strafe zu stellen.
ner Symbolpolitik § 113 StGB im Anwendungsbereich
und im Strafrahmen erweitert und das rechtssystemati- Frau Ministerin, zum Schluss. Die Halbzeitbilanz ha-
sche Verhältnis zur Nötigung völlig zerrüttet. Aber was ben Sie so beschrieben: „Die Arbeit des BMJ wird vom
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14409
Jerzy Montag
(A) Einsatz für die Verfassung und von der Sorge um die den europäischen Gedanken vertiefen und weiterbringen (C)
Rechtsstaatlichkeit in Deutschland geprägt.“ wollen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.
Ihr Koalitionspartner sagt über Sie – Zitat –: Im Übrigen finde ich, dass Sie zur Halbzeit eine sehr
beachtliche Leistungsbilanz vorgelegt haben. Deswegen
Die Justizministerin schützt durch ihre ideologische finde ich die Kritik, Herr Kollege Lischka, die Sie ange-
Blockadehaltung Pädophile und Terroristen und bracht haben, nicht berechtigt. Wir haben auch zu sehr
wird damit selber zu einem Sicherheitsrisiko in un- schwierigen Punkten, über die wir alle im Parlament ge-
serem Land. stritten haben, Ergebnisse vorlegen können, so etwa
Das hören Sie von Ihrem Koalitionspartner. Die zweite beim Thema Internetsperren und auch beim Thema Si-
Formulierung lautet, Sie seien „eine personifizierte cherungsverwahrung; Kollege Montag, Sie haben es an-
gesprochen. In diesem Zusammenhang will ich darauf
Schutzlücke im deutschen Sicherheitssystem“.
hinweisen, dass der Teil, der vom Bundesverfassungsge-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE richt in Karlsruhe als verfassungswidrig aufgehoben
GRÜNEN]: Das muss Liebe sein!) worden ist, im Januar 1998 nicht von uns eingefügt wor-
den ist,
Eine größere persönliche Beleidigung und einen
schwerer wiegenden Vorwurf gegen eine Bundesjustiz- (Jörg van Essen [FDP]: Genau so ist es!)
ministerin kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Des- sondern dass sich jener Teil, der eine nachträgliche An-
wegen lautet unsere Bilanz zur Halbzeit: Die Rechtspoli- ordnung im JGG einführte, als nicht verfassungsfest er-
tik ist unter Schwarz-Grün wiesen hat. Deswegen finde ich, dass diese Kritik hier
(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: nicht verfangen kann.
Schwarz-Grün? – Heiterkeit bei der CDU/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann
[DIE LINKE]: Freud’scher Versprecher!) Wir haben uns, glaube ich, in sehr vielen schwierigen
Punkten verdient gemacht, was die Beachtung der ver-
– Schwarz-Gelb! – in einem jämmerlichen Zustand. Ihre fassungsmäßigen Ordnung angeht, so etwa bei dem
Koalition ist auch in der Rechtspolitik in der Sache am schon angesprochenen Terrorbekämpfungsgesetz. Nicht
Ende. Sie kleben nur noch an der Macht, weil Sie Neu- wir, sondern andere haben sich ein ums andere Mal in
wahlen fürchten. Das ist vielleicht auch einer der Gründe Karlsruhe eine blutige Nase geholt.
dafür, warum Sie noch keinen Gesetzentwurf zur Re- Aber ich spreche heute in einer neuen Funktion, weni-
form des Wahlrechts vorgelegt haben. ger als Rechtspolitiker, sondern mehr als Berichterstatter
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Haushaltsausschuss für den Bereich Justiz. Deswe- (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg van gen ein paar allgemeine Vorbemerkungen. Es ist ein
Essen [FDP]: Schwarz-Grün hätte man nicht kleiner, aber feiner Etat von weniger als einer halben
besser beschreiben können!) Milliarde Euro, der sehr deckungsstark ist. Mehr als
90 Prozent der Ausgaben werden durch eigene Einnah-
men vom Ministerium erwirtschaftet, ein großer Teil da-
Vizepräsident Eduard Oswald: von stammt aus Gebühren des Deutschen Patent- und
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die Markenamtes. Dazu möchte ich deswegen nachher auch
Fraktion der FDP unser Kollege Stephan Thomae. Bitte noch ein paar Ausführungen machen.
schön, Kollege Thomae.
Es ist ein klassischer Verwaltungshaushalt, stark
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten durch Personalausgaben geprägt. Es gibt im Bereich des
der CDU/CSU) BMJ wenige Programme und Projekte, die man schieben
oder herunterfahren könnte, um dadurch Geld einzuspa-
Stephan Thomae (FDP): ren. Der Anteil der Personalkosten an diesem Haushalt,
wodurch er sehr stark geprägt wird, beträgt 78 Prozent.
Vielen Dank. – Herr Präsident, auch von mir, sozusa-
Deswegen treffen Einsparungen in diesem Bereich die
gen vom Allgäu nach Augsburg, die besten Glückwün-
Operabilität des Ministeriums sehr stark. Personalkosten
sche zum heutigen Geburtstag. Das wollte ich zunächst sind auch kaum steuerbar, wenn die Justiz ohne Quali-
vorwegschicken. tätsverluste weiterarbeiten soll. Die Gerichte müssen ei-
Frau Minister, Sie haben in Ihrer Rede einige Ausfüh- nen Justizgewährungsanspruch erfüllen, der General-
rungen zur europäischen Rechtspolitik gemacht. Ich bin bundesanwalt hat eine Strafverfolgungspflicht, das
Ihnen dafür ganz besonders dankbar, weil wir in diesen Patent- und Markenamt und das Bundesamt für Justiz
Tagen Europa immer nur als Sorgenkind, als Krisenfall sind antragsgesteuert. Deswegen würden fortdauernde
wahrnehmen. Es ist, glaube ich, wichtig, deutlich zu ma- Einsparungen in diesem Etat an der Qualität der Aufga-
chen, dass wir auch in diesen schweren Tagen, benerfüllung rühren. Das ist anders als bei den meisten
anderen Ressorts und stellt damit einen schwierigen
(Burkhard Lischka [SPD]: Für die FDP sind Punkt beim Justizressort dar.
das schwere Tage!)
Ich habe gesagt, dass ich etwas zum Deutschen Pa-
in denen der europäische Gedanke sehr unter Beschuss tent- und Markenamt sagen möchte. Es ist das Verdienst
ist und jeden Tag im Kreuzfeuer steht, weiterhin eine vor allem dieser Münchner Behörde, dass der Anteil der
Vision von Europa haben und auch in der Rechtspolitik Einnahmen die Ausgaben des Ressorts zu einem großen
14410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Stephan Thomae
(A) Teil zu decken vermag. In diesem Jahr erreichen wir den Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
Rekordwert von 90 Prozent; im Vorjahr betrug die De- Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die
ckungsquote noch 84 Prozent. Auch aus wirtschaftspoli- Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
tischen Erwägungen ist also eine angemessene Stellen- Dr. Edgar Franke. Bitte schön, Kollege Dr. Edgar
ausstattung gerade dieser Behörde geboten. Zugleich ist Franke.
es aber auch ein großes Anliegen der Wirtschaft – Stich-
wort Innovationsförderung –, wenn Patent- und Marken- (Beifall bei der SPD)
anträge schnell bearbeitet werden und auch Widersprü-
che nicht ewig liegen bleiben. In diesem Zusammenhang Dr. Edgar Franke (SPD):
bringt die Implementierung der elektronischen Schutz- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
rechtsakte ELSA einen großen Fortschritt für das Patent- gen! Frau Justizministerin! Mein geschätzter Kollege
und Markenamt mit sich. Ich werde demnächst dorthin Burkhard Lischka hat eine politische Einschätzung Ihrer
reisen, um mir dieses Projekt anzuschauen und persön- Arbeit vorgenommen. Diese Einschätzung möchte ich
lich vorführen zu lassen. um drei Punkte ergänzen.
Ein weiterer Aspekt – hier schaue ich den Kollegen
Herr Petermann, mich hat ein bisschen gewundert,
Buschmann an – ist die Deutsche Stiftung für internatio-
dass Sie von der Linken die Justizministerin so gelobt
nale rechtliche Zusammenarbeit, IRZ, in der der Kollege
haben. Da habe ich ein bisschen gestaunt.
Buschmann ja auch Mitglied ist. Es handelt sich um eine
Gründung des früheren Justizministers Klaus Kinkel; die (Burkhard Lischka [SPD]: Navi-Fehler!)
Stiftung war als Antwort auf die Umbrüche in Mittel-
und Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion ge- Erster Punkt. Der Justizhaushalt ist ja relativ klein.
dacht. Diese Stiftung sollte bei der Entwicklung rechts- Ich möchte, Frau Justizministerin, mit einem vorder-
staatlicher Strukturen in diesen Ländern Pate stehen. Der gründig banalen Thema anfangen, das uns aber sehr be-
Etat für diese Stiftung lag 2010 bei 4 Millionen Euro; er wegt und zu dem ich sehr viele Anfragen bekommen
soll jetzt ein bisschen heruntergefahren werden. Ich bin habe, fast schon Hilferufe. Es geht um das Abmahnungs-
allerdings der Meinung, dass wir hier keinen weiteren unwesen aufgrund des Urheberrechts und des Gesetzes
Rückgang in Kauf nehmen sollten, weil gerade vor dem gegen den unlauteren Wettbewerb. Die Gründe für Ab-
Hintergrund der neuen Entwicklungen in Nordafrika und mahnungen sind zwar vielfältig; aber in der letzten Zeit,
ihrer Begleitung dieser Stiftung möglicherweise ganz besonders im letzten halben Jahr, sind vor allem im Zu-
neue, interessante Aufgaben zuwachsen können. sammenhang mit Tauschnetzwerken – Peer-to-Peer-
Netzwerke heißt das, habe ich mir erklären lassen –
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten große Anwaltskanzleien zugange, die Bürger in einem
(B) der CDU/CSU) sehr großen Umfang abmahnen. Das ist ein Thema, bei (D)
Eine Schlussbemerkung möchte ich mir erlauben dem dringender Handlungsbedarf besteht. Warum? Es
– ich meine, dann auch in der Zeit zu bleiben –: Das Jus- geht dabei um viel Geld. 500 Euro sind keine Seltenheit,
tizressort ist ein Verfassungsressort. Im Justizressort ist manchmal sind es auch mehrere Tausend Euro. Vielfach
die Hütung und Hegung der Rechtsstaatlichkeit angesie- trifft es kleine Unternehmen oder wirtschaftlich schwa-
delt. Die Justizministerin wird ja manchmal, wie wir che Leute, die sich nicht wehren können. Sie lassen sich
heute schon vernommen haben, für ihre Hartleibigkeit durch die Drohkulissen, die aufgebaut werden, sehr oft
angegriffen; sie wird aber auch oft für ihre Standfestig- einschüchtern und zahlen. Auch wenn wir jetzt in der
keit gelobt. Haushaltsberatung sind, ist das ein wichtiges Thema,
weil es viele Menschen betrifft, auch dadurch, dass Kin-
Eines will ich aber an dieser Stelle abschließend fest-
der den Computer oft mitbenutzen.
halten: Man kann an vielen Dingen herumexperimentie-
ren, der Rechtsstaat ist allerdings kein gutes Objekt, um (Beifall bei der SPD)
öfter mal was Neues zu probieren. Manches Prinzip ist
schwer zu erklären. Selbst wenn es manchmal so aus- Der zweite Punkt ist die Insolvenzrechtsreform, die Ih-
sieht, als stünden die Rechte eines Angeklagten höher nen – das haben Sie mehrmals gesagt, Frau Ministerin –
als die Rechte eines Opfers, ist es unsere Aufgabe als am Herzen liegt. Es gibt eine Diskussion darüber, das
Rechtspolitiker – ich spreche jetzt wieder als Rechtspoli- Planverfahren zu ändern. Diese Diskussion geht in die
tiker –, zu sagen: Nein, dem ist nicht so. richtige Richtung; das muss man ganz klar sagen. Aus
meiner und aus unserer Sicht soll sich hier ein Mentali-
Wir Rechtspolitiker sollten den Rechtsstaat erklären tätswandel vollziehen. In Deutschland ist es leider so,
und verteidigen. Leserbriefe drücken oft die Stimmungs- dass ein Insolvenzverfahren immer als Makel gesehen
lagen in der Bevölkerung sehr spontan, sehr impulsiv und aufgrund dieser Tatsache viel zu spät ein Antrag auf
aus. Wir jedoch sollten immer deutlich machen: Der Insolvenz gestellt wird. Hier müssen wir als Gesetzgeber
Rechtsstaat ist uns Deutschen nicht einfach so vor die handeln. Wir brauchen eine stärkere Eigenverwaltung
Füße gefallen. Bis er die heutige Gestalt erreicht hat, ist und ein zügiges Gesetzesverfahren.
in diesem Land, ist in Europa, ist in der Welt sehr viel
Blut vergossen worden. Deshalb sollten wir den Rechts- In der zweiten Stufe ist eine Reform der Verbraucher-
staat sehr, sehr sorgsam bewahren. insolvenz notwendig. Darauf warten wir allerdings noch.
Sie hatten versprochen, da tätig zu werden, und zwar
Vielen Dank.
schnell. Da besteht Handlungsbedarf. Sie haben mehr-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mals angedeutet, dass wir die Wohlverhaltensphase von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14411
Dr. Edgar Franke
(A) sechs Jahren auf drei Jahre verkürzen. Ich glaube, über seiten der Verwaltung entstehen. So verhält es sich auch (C)
diese Verkürzung muss noch diskutiert werden. Ob sie in der großen Politik. Ich glaube, dass die Justizministe-
sinnvoll ist, muss sich noch zeigen, auch im Sinne des rin auch in diesem Bereich eine politische Verantwor-
Gläubigerschutzes. tung hat. Sie selbst bezeichnet sich als jemand, der poli-
tisch denkt.
Der dritte Punkt, der mir wichtig ist, ist die Regelung
der Abgeordnetenbestechung. Es gibt eine Regelung in Es besteht aber folgendes Problem – das ist der kriti-
§ 108 e Strafgesetzbuch. Diese entspricht aber eindeutig sche Punkt; insofern sind Ihre Zwischenfrage, Herr Kol-
nicht den internationalen Anforderungen. Das hat Trans- lege Kauder, und auch das, was Herr van Essen gesagt
parency International mehrmals festgestellt. Wir sind, hat, berechtigt –: Wenn ein Staatsanwalt ein strafrechtli-
Frau Ministerin, in diesem Bereich leider noch nicht tä- ches Ermittlungsverfahren aufgrund eines Anfangsver-
tig geworden. Wenn man schaut, wer in Europa die UN- dachts konstruiert und darüber etwas in der Presse steht,
Konvention ratifiziert hat, stellt man fest, dass das fast ist die Reputation des Abgeordneten unter Umständen
alle Länder sind, schon beeinträchtigt. Über dieses Problem muss man si-
cherlich fairerweise diskutieren, Herr van Essen.
(Jörg van Essen [FDP]: Vor allen Dingen Ita-
lien ist da sehr vorbildlich! Das ist ein großes (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
Beispiel für uns!)
Ich sage es noch einmal, Herr Kauder: Da alle wichti-
außer Irland, Island, Kosovo, der Tschechischen Repu- gen Länder in Europa sagen, sie wollen die UN-Konven-
blik und uns. tion ratifizieren und die Abgeordnetenbestechung klar
(Jörg van Essen [FDP]: Weil die ein anderes definieren, halte ich es für falsch, dass wir in Deutsch-
Immunitätsrecht haben!) land in § 108 e StGB eine eher wachsweiche Regelung
haben.
– Herr van Essen, Sie sind Oberstaatsanwalt. Sie wissen
natürlich, dass Staatsanwälte in Deutschland teilweise Vizepräsident Eduard Oswald:
übermotiviert reagieren. Es gibt sicherlich auch Staats-
anwälte, die, wie man im Fall Kachelmann gesehen hat, Vielen Dank. – Es gibt den Wunsch nach weiteren
einfach blind loslegen. Gleichwohl brauchen wir Trans- Zwischenfragen. Gestatten Sie zunächst eine Zwischen-
parenz und Akzeptanz von Politik. Politik darf nicht frage des Kollegen Jerzy Montag, Herr Kollege
käuflich sein, Herr von Essen. Dr. Franke?

(Jörg van Essen [FDP]: Da sind wir uns einig!) Dr. Edgar Franke (SPD):
(B) Es darf auch nicht der Anschein erweckt werden, dass Ja. (D)
Politik käuflich ist. Angesichts der Tatsache, dass alle
Länder in Europa diese UN-Konvention unterschrieben Vizepräsident Eduard Oswald:
haben, müssen auch wir Deutsche dies tun. Das sind wir
unserem internationalen Ansehen schuldig. Bitte schön, Kollege Montag.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
DIE GRÜNEN)
Danke, Herr Kollege. – Ich habe mich zu Wort gemel-
det, weil ich zu Ihren letzten Ausführungen etwas sagen
Vizepräsident Eduard Oswald: wollte. Da ich aber eine Frage stellen muss,
Herr Kollege Dr. Franke, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage unseres Kollegen Kauder? (Jörg van Essen [FDP]: Muss nicht! Es geht
auch eine Zwischenbemerkung!)
Dr. Edgar Franke (SPD): frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu neh-
Ja. men, dass eine frühere Bundesjustizministerin, die Vor-
gängerin der jetzigen, in ihrem Haus einen Gesetzent-
Vizepräsident Eduard Oswald: wurf zu diesem Thema hat erstellen lassen und dass
Bitte schön, Kollege Kauder. dieses Hohe Haus daraufhin gesagt hat, es möchte keine
Vorgaben des Justizministeriums in dieser Sache. Die
Parlamentarier haben weiterhin gesagt: Wenn überhaupt
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ ein solcher Gesetzentwurf nötig ist – Herr van Essen ist
CSU): dagegen, ich bin dafür –, dann machen wir ihn selber.
Herr Kollege, sind Sie nicht auch der Meinung, dass
das Parlament und nicht die Frau Justizministerin das Das war eigentlich bisher immer Position der SPD-
Thema Abgeordnetenbestechung behandeln müsste? Bundestagsfraktion. In allen Reden zu diesem Thema
hat Ihre Fraktion versprochen, dazu etwas vorzulegen.
Bisher haben Sie aber immer noch nichts vorgelegt. Ich
Dr. Edgar Franke (SPD):
frage Sie: Wann machen Sie das endlich?
Sehr geehrter Herr Kauder, die Exekutive, also auch
die Frau Ministerin, kann Vorlagen erstellen. Ich war (Otto Fricke [FDP]: Eine sehr berechtigte
lange Zeit Bürgermeister und weiß, wie Vorlagen von- Frage!)
14412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

(A) Dr. Edgar Franke (SPD): chen ein Anfangsverdacht beraten und bejaht wurde. (C)
Sehr verehrter Herr Montag, Sie sind schon ein biss- Schließlich wurde dann ein strafrechtliches Ermittlungs-
chen länger als ich in diesem Parlament. Ich bin jetzt verfahren eröffnet, welches später wieder eingestellt
zwei Jahre dabei. Daher bin ich für jeden Hinweis dank- wurde. Es ist ein Unterschied, Herr Ströbele, ob davon
bar. Mir ging es darum, Folgendes herauszustellen: Über ein Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, oder eine
diesen Haushalt diskutieren wir politisch. Er ist so klein, Privatperson betroffen ist. Es macht wirklich einen Un-
dass es nicht so sehr um Zahlen, sondern hauptsächlich terschied.
um Politik geht, Herr Montag. In diesem Zusammen-
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
hang habe ich drei Punkte genannt, die der SPD wichtig
sind. Herr Kauder hat eben versucht, mich mit seiner – Herr van Essen, ich gebe Ihnen darin recht, dass das
Frage aufs Glatteis zu führen. Das habe ich schon mitbe- ein problematischer Punkt ist. Man muss daher genau
kommen. aufpassen.
Lieber Herr Montag, lassen Sie mich noch Folgendes (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sagen – vielleicht können Sie noch so lange stehen blei- NEN]: Das gilt dann aber auch für Ärzte und
ben –: Aus meiner Sicht ist es so, dass sich die Justiz- Rechtsanwälte!)
ministerin aufgrund ihres Selbstverständnisses politisch
zu diesem Thema äußern kann. Vor diesem Hintergrund Herr Ströbele, ich sehe es so, dass ein Handlungsbedarf
kann man einen Bezug herstellen. Ich denke, wir sollten besteht – mit oder ohne Justizministerin. Der § 108 e
bei anderer Gelegenheit noch einmal darüber diskutie- StGB muss anders, besser und klarer formuliert werden.
ren. Er muss verhältnismäßig sein. Im Grunde genommen
muss auch die besondere Stellung der Abgeordneten be-
rücksichtigt werden. Nur so werden wir zu einem guten
Vizepräsident Eduard Oswald: Ergebnis kommen. Da Sie gefragt haben, wie lange es
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar noch dauert: Ich hoffe, dass wir bald ein Ergebnis be-
des Kollegen Ströbele? – Bitte schön, Herr Kollege kommen. Wenn ich meine Fraktion da richtig verstanden
Ströbele. habe, werden wir bald tätig. Denn das ist aus unserer
Sicht politisch wichtig.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
GRÜNEN):
NEN]: Wir laden Sie ein! – Wolfgang Wieland
Herr Kollege, dass das für Sie und Ihre Fraktion eine [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben wir
solch wichtige Frage ist, kann ich voll verstehen. Ich bin ja was gelernt!)
(B) auch seit vielen Jahren hinterher, dass es endlich zu einer (D)
gesetzlichen Regelung kommt. Im Anschluss an das, – Ob wir etwas gelernt haben, weiß ich nicht. Ich kann
was Sie gerade dem Kollegen Montag gesagt haben, nur sagen, dass ich es vernünftig finde.
möchte ich Sie aber Folgendes fragen: Warum haben Sie
nicht längst ehemalige Vorschläge, die unter anderem (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
von der SPD-Fraktion formuliert worden sind, vorge- GRÜNEN]: Ich empfehle den grünen Ent-
legt? Meinetwegen hätte auch die eine oder andere Än- wurf! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ich
derung vorgenommen werden können. Wie lange sollen empfehle den der Linken!)
wir da noch warten? Abschließend möchte ich noch einen Punkt erwäh-
Daran anschließend möchte ich noch auf Folgendes nen. Es handelt sich um die Erweiterung des Grundge-
eingehen: Sie haben vorhin auf die Frage des Kollegen setzes durch die Bestimmung neuer Staatsziele. Das ist
Kauder geantwortet, dass es für den betroffenen Abge- eine Diskussion, die in den vergangenen Legislaturperio-
ordneten ein großes Problem sein könnte, wenn ein den hier im Haus bereits geführt wurde. Sowohl von der
Staatsanwalt – so haben Sie sich ausgedrückt – einen FDP-Fraktion als auch von anderen Fraktionen ist da-
Vorwurf bzw. eine Anklage konstruiert. Dem schließe rüber diskutiert worden, neue Staatsziele in das Grund-
ich mich an. Das kann tatsächlich ein großes Problem gesetz aufzunehmen. Das fängt bei den Kinderrechten an
werden. Stellt es aber nicht auch für einen großen Teil und geht bis hin zur Generationengerechtigkeit. Man
der Bürger bzw. für 99 Prozent der Bürgerinnen und kann sicherlich darüber diskutieren, auch Kultur und
Bürger ein großes Problem dar, wenn ein Staatsanwalt Sport aufzunehmen, wie die SPD das fordert. Man sollte
eine Anklage gegen sie konstruiert? Warum machen Sie damit aber sehr vorsichtig sein
einen Unterschied zwischen einem Abgeordneten und (Jörg van Essen [FDP]: So ist es! Völlig
der normalen Bevölkerung, die durch einen Verdacht, richtig!)
der sich möglicherweise nicht bestätigt, ebenfalls betrof-
fen ist und dadurch Nachteile hat? – das ist mir persönlich sehr wichtig –; denn wenn man
den Art. 20 Grundgesetz erweitert und neue Staatsziel-
bestimmungen aufnimmt, könnten die wirklich wichti-
Dr. Edgar Franke (SPD):
gen Prinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip und das So-
Lieber Herr Ströbele, jeder hat seinen Erfahrungshori- zialstaatsprinzip unter Umständen relativiert werden.
zont, den er durch seine Arbeit erworben hat. Ich war
früher Bürgermeister und kenne sehr viele Verfahren, bei (Jörg van Essen [FDP]: Herr Kollege, Sie
denen gegen Leute der Exekutive aufgrund banaler Sa- sprechen mir aus dem Herzen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14413
Dr. Edgar Franke
(A) Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir noch kräfte rund um die Uhr kann auf Dauer keine Alternative (C)
einmal darüber sprechen. Die FDP ist dafür, neue Staats- zu einer sicheren Unterbringung darstellen.
ziele ins Grundgesetz aufzunehmen.
Das gilt auch für die elektronische Aufenthaltsüber-
(Jörg van Essen [FDP]: Ich nicht!) wachung. Die elektronische Fußfessel sollte ein zusätzli-
cher Baustein unserer Sicherheitsarchitektur sein und der
Man muss schauen, welche Ziele man einbezieht und Justiz zur Verfügung gestellt werden. In Bayern hat die
welche wirklich wichtig sind. Erprobung dieses Instruments begonnen. Es muss uns
(Jörg van Essen [FDP]: Uns Rechtspolitikern aber bewusst sein: Elektronische Fußfesseln können
sprechen Sie aus dem Herzen!) Rückfalltäter nicht davon abhalten, erneut Straftaten zu
begehen. Deshalb bleibt die Sicherungsverwahrung als
Wir haben über verschiedene Themen, zum Beispiel Ultima Ratio der Justiz unerlässlich.
über Europa, gesprochen und überlegt, wie man sie ver-
fassungsrechtlich untermauern könnte. Das wird hier im Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach
Hause sicherlich noch zu diskutieren sein. einem freiheitsorientierten und therapiegerichteten Ge-
samtkonzept bestätigt den Weg, den wir mit dem Thera-
Frau Ministerin, es gibt auf jeden Fall viel zu tun. Ich pie- und Unterbringungsgesetz bereits eingeschlagen ha-
habe ein paar kleine Baustellen genannt und nicht die ben. Auch auf Länderebene gibt es im Strafvollzug eine
großen politischen Probleme angesprochen. Aber gerade Sozialtherapie für Gewalt- und Sexualstraftäter, bei de-
Bereiche wie das UWG oder das Urheberrecht sind mir nen eine Sicherungsverwahrung in Betracht kommt.
persönlich sehr wichtig. Viele Kollegen werden bestäti-
gen, dass das UWG und das Urheberrecht Themen von Das sogenannte Abstandsgebot, nach dem die Siche-
hoher Aktualität sind. rungsverwahrten strikt getrennt von den Strafgefangenen
unterzubringen sind, kann allerdings nicht von heute auf
Sie haben nicht mehr viel Zeit, nur noch bis maximal morgen realisiert werden. Deshalb ist es wichtig, die
2013. Sie müssen sich also beeilen, Frau Ministerin; bundespolitischen Weichen schnellstmöglich zu stellen,
denn dann sind wir Sozis wahrscheinlich wieder dran. damit auf Länderebene noch ausreichend Zeit für eine
In diesem Sinne recht herzlichen Dank. entsprechende Umsetzung bleibt.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Warten wir erst mal ab!) der SPD)
Die Länder werden nicht umhinkommen, bestehende
Vizepräsident Eduard Oswald: Einrichtungen kostspielig umzubauen oder dort, wo das
(B) Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist nicht möglich ist, vollkommen neue Unterbringungs- (D)
der Kollege Thomas Silberhorn für die Fraktion der möglichkeiten zu schaffen. Das wird die Haushalte si-
CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn. cherlich zusätzlich belasten, aber das muss uns die Si-
cherheit der Bevölkerung wert sein. Der Schutz von
(Beifall bei der CDU/CSU) Menschenleben darf nicht an Sparzwängen scheitern.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Meine sehr verehrten Damen und Herren, besonders
Herren! Nach den Entscheidungen des Europäischen Ge- in Ballungsräumen mit ihren sozialen Brennpunkten
richtshofes für Menschenrechte und des Bundesverfas- nimmt die Schwere der Straftaten, die Jugendliche und
sungsgerichts läuft die Frist zur notwendigen Neurege- junge Erwachsene begehen, eklatant zu. Was bestür-
lung der Sicherungsverwahrung bis 31. Mai 2013. zende Nachrichten über einzelne Vorfälle bereits vermu-
ten lassen, wird mittlerweile durch diverse Studien be-
Das stellt den Bund, vor allem aber die Länder, vor
stätigt: dass wir es nämlich mit wachsender Brutalität
eine gewaltige Aufgabe, die nur gelingen kann, wenn
und einer immer weiter sinkenden Hemmschwelle zu tun
alle Beteiligten gemeinsam an einem Strang ziehen.
haben.
(Burkhard Lischka [SPD]: So ist es! In die
In der Praxis der Strafverfolgung liegen oft mehrere
gleiche Richtung!)
Monate zwischen der Begehung der Tat und der staatli-
Klar ist, dass wir bei allen Überlegungen den Vorrang chen Sanktion. Mit zunehmendem Zeitablauf wird der
des Opferschutzes nicht aus den Augen verlieren dürfen. Zusammenhang zwischen Tat und Strafe immer abstrak-
Die Bevölkerung muss auch in Zukunft vor schwersten ter. Der erzieherische Charakter des Jugendstrafrechts
Straftätern geschützt werden. wird dadurch zunichte gemacht. Gerade bei Jugendli-
chen müssen wir wieder stärker darauf achten, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Straftaten schnell Konsequenzen haben. Die Sanktion
Es ist kaum vermittelbar, akut rückfallgefährdete muss der Tat auf dem Fuße folgen.
Schwerstkriminelle in die Freiheit zu entlassen. Die (Beifall bei der CDU/CSU)
Möglichkeit einer dauerhaften Sicherheitsunterbringung,
die natürlich den Anforderungen des Bundesverfas- Ein gelungenes Beispiel dafür ist das sogenannte
sungsgerichts an Vollzug und Therapie genügen muss, Bamberger Modell. Die Staatsanwaltschaft Bamberg hat
ist nicht ersetzbar. Eine Überwachung durch Polizei- im Juni 2010 die beschleunigte Variante des vereinfach-
14414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Thomas Silberhorn
(A) ten Jugendverfahrens eingeführt. Jugendstaatsanwälte, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (C)
Jugendrichter, Polizei und Jugendgerichtshilfe haben GRÜNEN]: Die Rechtspflege liegt brach in
sich auf besonders straffe Verfahrensabläufe verständigt. diesem Lande, oder was?)
Das Ergebnis: Jugendliche stehen spätestens vier Wo- Deswegen müssen Verbindungsdaten zur Aufklärung
chen nach der Straftat vor dem Jugendrichter. Nach mitt- schwerster Straftaten gespeichert werden. Man kann sich
lerweile einjähriger Erprobung gilt das Bamberger Mo- darüber streiten, wie lange gespeichert werden soll. Es
dell als ein großer Erfolg. Ich freue mich, dass dieses besteht aber kein Zweifel daran, dass gespeichert werden
Vorzeigeprojekt aus meinem Wahlkreis bundesweit An- muss.
erkennung und Nachahmung erfährt. Eine schnelle
Sanktion ist ein wichtiger Warnschuss, um kriminelle (Beifall bei der CDU/CSU)
Karrieren möglichst früh zu verhindern.
(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag Vizepräsident Eduard Oswald:
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Es gibt auch keinen Zweifel daran, dass der Kollege
das erfunden, Herr Kollege?) Jerzy Montag jetzt eine Zwischenfrage stellen will. Er
darf Sie sicher stellen, Herr Kollege?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Richtlinie
über die Vorratsspeicherung von Daten hat uns die Euro-
päische Union einen klaren Handlungsauftrag erteilt. Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Ich freue mich über dieses Interesse. Aber, Herr Kol-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE lege Montag, wir kennen uns aus dieser Diskussion zu
GRÜNEN]: Das wird ja gerade überarbeitet!)
lange, sodass ich mir durch Ihre Zwischenfrage nicht un-
Auch bei der anstehenden Revision der Richtlinie wird bedingt Aufklärung erhoffe. Deswegen bitte ich um Ver-
sich diese Zielsetzung nicht ändern. ständnis, dass ich noch einen Punkt nenne und dann
meine Rede beende.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das wissen Sie schon?) (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Oh! – Jerzy Montag [BÜND-
Allerdings ist der Begriff „Vorratsdatenspeicherung“,
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt aber
der die öffentliche Diskussion bestimmt, zumindest
wirklich kleinlich und feige!)
missverständlich. Es entsteht der Eindruck, als würden
in Big-Brother-Manier Daten Unschuldiger auf Vorrat Wir haben den Entwurf eines Mediationsgesetzes im
gespeichert April in erster Lesung beraten. Er hat im Grundsatz
(B)
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- breite Zustimmung gefunden. Es bestand aber auch weit- (D)
NEN) gehende Einigkeit darüber, dass einige Einzelfragen
noch geklärt werden müssen. Wir sind derzeit dabei,
und ohne jeden konkreten Anlass ausgewertet. diese Details zu besprechen und den Gesetzentwurf ent-
sprechend zu überarbeiten. Es konnte bereits eine Eini-
(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gung über Mindeststandards für die Qualifikation der
NEN]: Es ist doch so! – Dr. Konstantin von
Mediatoren erzielt werden. Ich bin davon überzeugt,
Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau
dass am Ende der Beratungen ein Gesetz stehen wird,
so ist es! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE
das die gerichtliche wie die außergerichtliche Mediation
GRÜNEN]: Das ist die Realität!)
stärkt und auf eine solide rechtliche Grundlage stellt.
Darum geht es gerade nicht. Im Gegenteil: Der Zugriff
auf diese Daten hat Ausnahmecharakter (Beifall der Abg. Andrea Astrid Voßhoff
[CDU/CSU])
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der Zugriff schon, aber nicht die Spei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU, CSU und
cherung!) FDP arbeiten in der Rechtspolitik erfolgreich zusam-
men. Eine Reihe rechtspolitischer Aufgaben liegt aller-
und muss klaren Schranken unterworfen sein. Das müs- dings noch vor uns. Ich nenne nur das Sorgerecht für
sen wir unseren Bürgern begreiflich machen. Deswegen nichteheliche Väter, den dritten Korb der Urheberrechts-
plädiere ich dafür, besser von Mindestspeicherfristen zu reform oder das Leistungsschutzrecht für Verlage. Wir
sprechen. werden uns weiterhin intensiv in die Rechtspolitik der
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäischen Union einbringen, so wie wir das bei der
sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Europäischen Privatgesellschaft und beim Europäischen
Vertragsrecht praktizieren. Die Arbeit wird uns also in
Dieses Instrument ist ein wichtiges Hilfsmittel, um der zweiten Hälfte der Legislaturperiode nicht ausgehen.
schwersten Straftätern auf die Spur zu kommen; wir re-
den von Kinderschändern, Mördern und Terroristen. Ich danke allen, die zum betont sachlichen Stil und ei-
ner effizienten Arbeitsweise im Rechtsausschuss beitra-
Meine Damen und Herren, ohne die Auswertung von gen.
Telekommunikationsdaten ist es für die Ermittlungsbe-
hörden nahezu unmöglich, Täter zu ermitteln, Mittäter, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Gleichgesinnte oder Hintermänner zu identifizieren. neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14415

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Thomas Silberhorn (CDU/CSU): (C)


Vielen Dank, Kollege Silberhorn. – Jetzt hat das Wort Herr Kollege Montag, auch ich schätze Sie persönlich
zu einer Kurzintervention der Kollege Jerzy Montag. sehr. Gleichwohl hat sich meine Befürchtung bestätigt,
dass Ihre Kurzintervention zu keinem wesentlichen Er-
kenntnisgewinn beiträgt.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zur Sicherungsverwahrung. Ich ziehe die Menschen-
Danke, Herr Präsident. – Herr Kollege Silberhorn,
rechte von Straftätern nicht in Zweifel.
nachdem Sie die Zwischenfrage nicht erlaubt haben,
habe ich mir erlaubt, zum Mittel der Kurzintervention zu (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
greifen. NEN]: Das ist schön!)
Ich schätze Sie außerordentlich als Europapolitiker. Ich habe aber zum Ausdruck gebracht und betone aus-
Heute haben Sie ins Metier des Strafrechts gegriffen. Ir- drücklich, dass uns in der politischen Diskussion der
gendwie war ich etwas verwundert über das, was Sie da Schutz der Opfer wichtiger ist als der Schutz der Täter.
gesagt haben, zum Beispiel über Ihre Formulierung zur Der Schutz der Täter ist uns nicht unwichtig, aber die
Sicherheitsverwahrung, die so sehr an die Äußerung Ih- Gewichtungen müssen stimmen. Deswegen dürfen wir
res Kollegen von der CSU vor einem Jahr erinnert, die in der Debatte über die Sicherungsverwahrung den
ich in meiner Rede schon zitiert habe: Schutz der Opfer nicht aus den Augen verlieren.

Wir brauchen eine absolute Sicherheit. – Das sagte (Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Mayer vor einem Jahr zum Thema Sicherungsver- Zu den Mindestspeicherfristen für Daten. Wir haben
wahrung. Sie haben gesagt, die Sicherung müsse Vor- klare Erkenntnisse unserer Sicherheitsbehörden, dass sie
rang haben. Die Frage ist: Vorrang vor was? Die Regeln dieses Instrument brauchen. Uns wurde erklärt: Viele
der Sicherungsverwahrung sind wegen Verstoßes gegen Straftaten hätten nicht aufgeklärt werden können, wenn
Menschenrechte und Verfassungsrechte von Bürgern man nicht auf Daten hätte zurückgreifen können, die ge-
aufgehoben worden. Gegenüber diesen Menschenrech- speichert worden sind, die man im eigenen Zuständig-
ten und Verfassungsrechten kann es keinen anderen Vor- keitsbereich aber nicht bekommt. Deswegen müssen
rang geben. Wir müssen Sicherheit und Freiheit gemein- diese Ermittlungsmethoden auch unseren Behörden zu-
sam denken: die Sicherheit der Menschen vor den gänglich gemacht werden.
schweren Straftätern, aber auch die Rechte der Siche-
rungsverwahrten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE
(B) Ich halte Ihnen Folgendes vor: Sie und Ihre Kollegen GRÜNEN]: Was sagen Sie zur Position der (D)
aus der Fraktion sagen, die Vorratsdatenspeicherung sei Ministerin?)
notwendig, weil es erhebliche Sicherheitslücken gebe
und die Sicherheitsbehörden in Deutschland ohne die Vizepräsident Eduard Oswald:
Vorratsspeicherung nicht mehr agieren könnten. Wir ha- Wir fahren in der Rednerliste fort. Ich darf nun das
ben auf der Homepage des Bundesjustizministeriums Wort Frau Kollegin Ingrid Hönlinger für die Fraktion
unter dem Datum 18. Mai 2011 einen Text der Bundes- Bündnis 90/Die Grünen geben. Bitte schön, Frau Kolle-
justizministerin mit dem Titel „Liberale Rechtspolitik in gin, Sie haben das Wort.
Verantwortung – eine Zwischenbilanz“ gefunden. Da-
raus will ich einige Sätze zitieren:
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bei der Vorratsdatenspeicherung zeigt die Praxis Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
nach der Entscheidung des Bundesverfassungsge- Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Heute treffen
richts, dass keine nennenswerten Sicherheitslücken wir uns zum ersten Mal nach der Sommerpause im Ple-
entstanden sind. Heute gilt die Rechtslage, die vor num. Leider muss ich feststellen, dass die Bundesregie-
dem Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung be- rung die Zeit nicht genutzt hat, um ihre Hausaufgaben zu
stand. Und heute zeigt sich, dass Deutschland ohne machen. Es gibt höchstrichterliche Urteile aus Straßburg
Vorratsdatenspeicherung kein unsicheres Land ist. und Karlsruhe, die in der deutschen Gesetzgebung Ver-
Der Einwand der vermeintlichen Sicherheitslücken stöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
wird durch Wiederholung nicht besser. und gegen das Grundgesetz festgestellt haben. Was
macht die Bundesregierung? Praktisch nichts!
Ich will Ihnen mit den Worten Ihrer Bundesjustizmi-
nisterin sagen: Ihre falschen Behauptungen werden Zum Thema Whistleblower, zu Deutsch: Hinweisge-
durch Wiederholung tatsächlich nicht besser. ber. Das Aufdecken von Missständen in Unternehmen
und Institutionen ist von großer gesamtgesellschaftlicher
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bedeutung. Ich denke an die kritikwürdigen Zustände im
Pflegebereich oder an Steuerhinterziehung in Millionen-
höhe. Oft hat nur ein begrenzter Personenkreis Zugang
Vizepräsident Eduard Oswald: zu diesen Institutionen und Einblick in die Zustände.
Vielen Dank. – Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Menschen, die solche Skandale publik machen, genießen
Thomas Silberhorn. Bitte schön, Kollege Thomas oftmals gesellschaftliche Anerkennung, am Arbeitsplatz
Silberhorn. aber wird ihnen gekündigt oder sie werden gemobbt und
14416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Ingrid Hönlinger
(A) kündigen dann selbst. Diese mutigen Menschen müssen Dabei gibt es doch inzwischen für Partner, die sich nicht (C)
wir schützen, und zwar sowohl durch das Arbeitsrecht verstehen, ein neues Verfahren: die Mediation.
als auch durch das Beamtenrecht. Das honoriert die
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Leistung der Hinweisgeber und ermutigt andere Mit-
Macht das bitte nicht bei denen!)
arbeiter, ebenfalls Missstände anzuprangern.
Vielleicht sollten Sie es einmal mit Mediation versu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank.
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Heiner Geißler! – Heiterkeit beim
Natürlich darf ein Mitarbeiter nicht jede Kleinigkeit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der
nach außen tragen, was viele befürchten. Eine Regelung SPD)
für das Whistleblowing muss ausgewogen sein. Sie muss
Zumindest haben Sie jetzt die Chance, ein gutes Me-
die Interessen der Arbeitgeberseite, aber natürlich auch
diationsgesetz auf den Weg zu bringen. Ziel des Geset-
die Interessen der Arbeitnehmerseite und der Öffentlich-
zes sollte es sein, neben der gerichtlichen Streitentschei-
keit berücksichtigen. Eine solche Regelung ist möglich. dung als gleichrangiges Verfahren die Mediation als
Die Bundesregierung hat diesbezüglich nicht gehan- Mittel der Konfliktlösung zu etablieren. Elementar ist
delt, und das, obwohl sie sich bereits auf dem G-20-Gip- dabei die Qualitätssicherung der Mediation. Dazu gab es
fel im letzten Jahr vollmundig zum Schutz von in den vergangenen Monaten und Jahren verschiedene
Whistleblowern bekannt hat. Nun hat auch noch der Gespräche, Anhörungen und Publikationen. Beteiligt
waren alle mediationsrelevanten Akteure: Anwalts-, No-
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Deutsch-
tars- und Richterverbände, Einzelexperten, Vertreter der
land in dieser Frage wegen Verletzung der Meinungsfrei-
Privatwirtschaft und die Mediationsverbände, die seit
heit verurteilt. Diese Regierung muss das endlich aner-
mehr als 30 Jahren auf hohem Niveau Tausende Media-
kennen, und sie muss aktiv werden; denn wenn wir nicht torinnen und Mediatoren aus- und fortbilden. Alle diese
handeln, provozieren wir die nächste Verurteilung durch Ressourcen könnten in einer selbstverwalteten Einrich-
den Europäischen Gerichtshof. Ich denke, die Regierung tung zusammengefasst werden, zum Beispiel in Form
muss diesen Schandfleck auf unserer demokratischen einer Stiftung. In diese wäre das Justizministerium
Weste schnellstmöglich entfernen. selbstverständlich eingebunden. Die Vorteile einer sol-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Einrichtung sind überzeugend: Sie kann einen bun-
desweit einheitlichen Qualitätsstandard gewährleisten;
und bei der SPD)
die Mediation kann sich in ihren Tätigkeitsfeldern wei-
(B) Auch auf einem anderen Rechtsgebiet hat der Euro- terentwickeln; die Justiz kann guten Gewissens Streit- (D)
päische Gerichtshof für Menschenrechte eine Entschei- fälle an die Mediatoren weitergeben und wird dadurch
dung gefällt; das wurde schon angesprochen. Im Dezem- nachhaltig entlastet. Das erfolgreiche Güterichtermodell
ber 2009 hat der Gerichtshof die deutsche Regelung zum wird nicht tangiert.
Sorgerecht für Väter, die nicht mit der Mutter ihres Kin-
des verheiratet sind, für konventionswidrig erklärt. Da- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
raufhin hat auch das Bundesverfassungsgericht festge- Frau Kollegin.
stellt, dass die Regelung gegen das Grundgesetz
verstößt. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir Grüne haben bereits im Oktober 2010, also we- Im Gegenteil: Es findet eine klare Aufgabenteilung
nige Monate nach der Entscheidung des Bundesverfas- statt: Im Gericht die Güterichterschaft, außerhalb des
sungsgerichts vom Juli 2010, einen Antrag zum Sorge- Gerichts die freie Mediation.
recht in den Bundestag eingebracht. Er sieht ein
niedrigschwelliges Antragsverfahren beim Jugendamt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
vor. Was macht die Bundesregierung? Sie hat das Thema Frau Kollegin!
zwar erfreulicherweise auf dem Schirm, was Kollege
Silberhorn gesagt hat, aber sie macht praktisch nichts. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dabei besteht auf diesem Gebiet ein erheblicher rechts- Ich komme gleich zum Schluss. – Die Einsparpoten-
politischer Handlungsbedarf. Wir leben in einer Zeit, in ziale hinsichtlich Zeit und Finanzen könnten von den
der Väter und Mütter gleichgestellt werden wollen und Gerichten optimal ausgeschöpft werden. Auch eine
endlich auch sollten, meine Damen und Herren. gleichwertige Mediationskostenhilfe würde sich rech-
nen. Dann würden wir auch der Überschrift des Gesetz-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entwurfes gerecht, die lautet: „Entwurf eines Gesetzes
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der
KEN) außergerichtlichen Konfliktbeilegung“.
Die schwarz-gelbe Koalition ist seit zwei Jahren nicht Vielen Dank.
in der Lage, sich mit sich selbst zu verständigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zwei sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
lange Jahre!) KEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14417

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Worum geht es im Kern? Es geht im Kern darum, (C)
Der Kollege Professor Dr. Patrick Sensburg hat das dass ein Stellenbesetzungsverfahren nicht vollzogen
Wort für die CDU/CSU-Fraktion. wurde und nicht zu dem Ergebnis geführt hat, das Herr
Beck sich gewünscht hätte. Jetzt werden Tausende von
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Euro ausgegeben, und es wird ein Urteil des Bundesver-
waltungsgerichts in Leipzig nicht akzeptiert. Wenn Sie
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): heute die Zeitungen aufschlagen, dann lesen Sie: Durch
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe diesen Rechtsstreit wurden bereits über 100 000 Euro
Kolleginnen und Kollegen, bei aller Kritik, die vonseiten verbraten. Jetzt ist es auch noch so, dass der Justizminis-
der Opposition am Haushalt gekommen ist, sage ich: ter in Rheinland-Pfalz, der übrigens ein Kollege von Ih-
Herr Kollege Petermann, Ihr Bild eines gehobenen Mit- nen von der SPD ist, einen Anwalt beschäftigt, um das
telklassewagens war eher eine elfminütige Geisterfahrt Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht vollziehen
ohne großen inhaltlichen Bezug zum Etat des Justiz- zu müssen.
ministeriums. Ich hatte fast den Eindruck, der Kollege
Ernst hätte die Rede geschrieben. Er hat ein bisschen (Burkhard Lischka [SPD]: Sie machen die Jus-
mehr Erfahrung mit Autos der gehobenen Klasse. Ich tizministerin doch auch nicht für die Konkur-
muss sagen: Das war inhaltlich schwach. rentenklage vor dem BGH zuständig!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist keine gute Rechtspolitik.
der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]:
Er hat die Ministerin gelobt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Zurufe von der SPD)
Bei aller Kritik, die an diesem Entwurf geübt worden
ist, muss man eigentlich sagen: Das ist ein exzellenter Herr Kollege, ich kann nur sagen: Hier ist es anders.
Haushaltsentwurf. Wenn man sich die Zahlen anschaut, Der Etat der Bundesjustizministerin ist eine solide Basis.
dann sieht man, dass er ein Volumen von 491 Millionen Der Kollege Thomae hat es eben im Zusammenhang mit
Euro und eine Deckungsquote von 90 Prozent hat. dem Deutschen Patent- und Markenamt angesprochen.
Ich möchte noch einmal erwähnen, dass das Bundesamt
(Burkhard Lischka [SPD]: Das ist exzellent? Da für Justiz Mehreinnahmen von rund 20 Millionen Euro
kann die Justizministerin aber nichts zu!) hat. Das sichert uns eine solide Arbeit im Bereich der
– Ich komme gleich zur SPD. – Das ist eine Steigerung Justiz.
um 5 Prozent. Letztes Jahr hatten wir noch eine De- Wir werden noch über den Einzelposten der General-
ckungsquote von 85 Prozent. Ich würde mir wünschen, bundesanwaltschaft diskutieren müssen. Die Kürzung (D)
(B) dass dies dem einen oder anderen SPD-Justizminister
um 1 Million Euro wird in den nächsten Tagen und Wo-
gelingt. chen sicherlich noch zu diskutieren sein. Die General-
Ich nenne das Beispiel Nordrhein-Westfalen. Herr bundesanwaltschaft hat im Bereich der Terrorismusbe-
Kutschaty packt am Anfang 70 Millionen Euro mehr in kämpfung gute Arbeit geleistet. Sie hat beispielsweise
den Haushalt des Justizministeriums in Nordrhein-West- auch bei Ermittlungen im Zusammenhang mit den Vor-
falen. Ich glaube nicht, dass das eine solide Haushalts- fällen am Kunduz-Fluss gute Arbeit geleitet. Wir müssen
führung ist. darüber diskutieren, ob diese Reduktion wirklich not-
wendig ist. Ich glaube, sie ist nicht notwendig. Es wäre
(Burkhard Lischka [SPD]: Da haben Sie den ein falsches Zeichen, den Posten im Bereich der Gene-
Strafvollzug! Da gibt es wenig Einnahmen, ralbundesanwaltschaft zu reduzieren.
das wissen Sie!)
Gute Rechtspolitik bemisst sich nicht nur anhand der
– Das ist nicht der Strafvollzug. Der Etat für Maßnah- Einnahmen und Ausgaben, sondern sie bemisst sich an-
men im Rahmen eines Übergangsmanagements für ehe- hand der geleisteten Arbeit. Herr Kollege Lischka, Sie
malige Strafgefangene wurde um 1,2 Millionen Euro haben sich eben darüber beschwert, dass nichts geleistet
aufgestockt. Ferner gibt es Maßnahmen im Rahmen der worden sei. Die Kollegin Voßhoff hat einige Punkte an-
Drogenprogramme. Gerade bei Herrn Kutschaty sehen geführt. Herr Kollege Lischka, wenn es Sie noch interes-
wir Mehrausgaben über Mehrausgaben. In Nordrhein- siert, dann würde ich gern zwei Punkte ergänzen: Den-
Westfalen geht bereits der Ruf um, dass Herr Kutschaty ken Sie an den Schutz der Berufsgeheimnisträger nach
Rechtspolitik eigentlich nur in Bezug auf Geld machen § 160 a StPO. Hier haben wir den absoluten Schutz zu
kann. Wenn es um Inhalte geht, dann gelingt ihm dies Recht auf alle Rechtsanwälte ausgedehnt. Er gilt nicht
nicht. nur für Strafverteidiger. Es war der richtige Ansatz, zu
Wenn wir ein bisschen weiter in das Land Rheinland- sagen: Auf die Fälle, in denen sich das Verteidigerman-
Pfalz schauen, dann sehen wir, was der Kollege Beck bei dat schon aus dem Rechtsanwaltsmandat ergeben kann,
der Zusammenlegung des OLG Koblenz mit dem OLG dehnen wir den absoluten Schutz aus. Für alle anderen
Zweibrücken macht. Ich kann nur sagen: Es ist keine so- freien Berufe gilt der relative Schutz, der bis auf wenige
lide Rechtspolitik, wenn man die Gerichte von den Bür- Ausnahmefälle dem absoluten Schutz gleichkommt. Das
gern entfernt. war eine richtige Entscheidung der Rechtspolitik.
(Burkhard Lischka [SPD]: Das nennen Sie Denken Sie auch an den Bereich der Zwangsverheira-
sonst effektive Strukturen!) tung und die Schaffung des § 237 StGB. Auch dazu kann
14418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) man nicht sagen, das sei bloße Symbolpolitik, wie Sie, ohne eine kritische Betrachtung der Rechtspolitiker be- (C)
Herr Kollege Montag, eben angeführt haben. sprochen und gelöst werden. Auch dafür bedarf es si-
cherlich der einen oder anderen neuen Stelle.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nur! Nur! Das stand schon alles im Ge- Ich glaube, dass die christlich-liberale Koalition in ih-
setz!) rer Rechtspolitik die Akzente richtig setzt, dass sie sehr
ausgewogen, wie es die Justizministerin eben gesagt hat,
Zwangsverheiratung ist – Sie haben ja eben die Men- auf der einen Seite den Ausgleich der Rechte der Bürge-
schenrechte angeführt – eine eklatante Menschenrechts- rinnen und Bürger sieht und auf der anderen Seite auch
verletzung. Von daher war es ein richtiger Ansatz, § 237 den Schutz der Bürger durch eine effiziente Justiz. Dafür
so auszugestalten, wie wir es gemacht haben. ist dieser Etat Voraussetzung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich freue mich auf die Diskussionen über diesen Etat
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in den nächsten Wochen und danke Ihnen herzlich für
Sie haben nicht mehr als eine neue Nummer die Aufmerksamkeit.
gemacht!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Die Mediation ist von Ihnen, Frau Hönlinger, zu neten der FDP)
Recht angesprochen worden als ein Projekt, das wir an-
packen und auch demnächst abschließen werden. Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
muss allen Berichterstattern aus den Fraktionen danken,
Die Kollegin Dr. Eva Högl hat jetzt das Wort für die
die sehr konstruktiv zusammengearbeitet und den Ent-
SPD-Fraktion.
wurf mitgestaltet haben, sodass nach meiner Meinung
durch das Gesetz eine Win-win-Situation entstehen (Beifall bei der SPD)
kann, in der wir die außergerichtliche Mediation stärken,
aber die gerichtsinterne Mediation nicht verhindern wol- Dr. Eva Högl (SPD):
len. Hier ist uns etwas Gutes gelungen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, ob eine Bundesstiftung „Mediation“ Ich komme zu einem ganz anderen Ergebnis, wie diese
der richtige Ansatz ist; das können wir in den nächsten Rechtspolitik zu bewerten ist.
Wochen ausdiskutieren. Ein Verfahren wie die Media- (Zuruf von der FDP: Wie kann das sein?)
tion mit mehr Bürokratie gestalten zu wollen, ist ein An-
satz, über den man zweimal nachdenken muss. Trotzdem Das ist nicht verwunderlich. Wer den Rednerinnen und
(B) sind die Verhandlungen über den Gesetzentwurf zur Me- Rednern genau zugehört hat, kommt zu dem Ergebnis, (D)
diation sehr konstruktiv gewesen. Ich danke insbeson- zu dem ich komme, nämlich dass in der Rechtspolitik
dere der Ministerin und Staatssekretär Dr. Stadler, dass das gilt, was für die gesamte Bundesregierung gilt: keine
wir konstruktiv zusammenarbeiten konnten. Insbeson- Ideen, keine Kraft, die Herausforderungen anzunehmen.
dere bei den Standards, die im ersten Entwurf noch nicht Das hat diese Debatte mehr als deutlich gezeigt.
geregelt waren, sind wir weitergekommen. Ohne eine
Regelung der Standards wird die Mediation auf Dauer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
keinen Erfolg haben. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Als Resümee kann man sagen, dass der Haushaltsent-
Es wurde vorhin gesagt – wir haben alle ein bisschen
wurf sicherlich die Grundstruktur für eine gute Justiz-
geschmunzelt, als Herr Montag das erwähnt hat –, dass
politik legt. An wenigen Stellen wird es Nachbesserun-
Sie, Frau Ministerin, für den Rechtsstaat nerven. Ich will
gen geben müssen; darüber können wir in den nächsten
Ihnen ganz offen sagen, was mich nervt. Mich nerven
Wochen sicherlich sprechen. Ich glaube, wir müssen vor
die ideologischen Streitigkeiten in der Rechtspolitik.
allem über einen personellen Aufwuchs im Bereich der
Das nervt mich sehr: ideologische Streitigkeiten statt
internationalen Zusammenarbeit diskutieren. Den An-
sachliche Diskussionen. Wir in der Rechtspolitik, gerade
satz kann man sicherlich mittragen, man muss aber auch
diejenigen, die dort engagiert sind und Mitglied des Aus-
bedenken, dass auch wir uns im Parlament sicherlich mit
schusses und Unterausschusses sind, haben die Chance,
weiteren Aufgaben im Rahmen der Internationalisierung
fachlich, sachlich, konzentriert, solide und dort, wo es
werden befassen müssen. Daher muss man darüber
notwendig ist, bisweilen geräuschlos Rechtspolitik zu
nachdenken, ob nicht auch unsere Ausschüsse weiterer
gestalten. Das ist unsere Aufgabe. Aber das darf man
personeller Unterstützung bedürfen.
bitte nicht verwechseln, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ich kann den Haushalt des BMJ nachvollziehen, Frau Ministerin, mit Untätigkeit; denn Untätigkeit ist
möchte aber jetzt schon anmerken, dass auch auf uns etwas anderes. Wir haben an vielen Stellen – meine Kol-
durch Europa, durch die internationale Zusammenarbeit legen haben sie aufgeführt – Handlungsbedarf identifi-
viele Aufgaben zukommen. Dafür sind wir personell ziert. Wir haben aber nicht festgestellt, dass die Bundes-
nicht hinreichend ausgestattet. Ich unterstütze die Initia- regierung und die Koalitionsfraktionen hier engagiert
tive von Siegfried Kauder und Dr. Michael Meister, den genug vorangehen.
Rechtsausschuss einzubeziehen, wenn beispielsweise (Beifall bei der SPD)
über Haushalts- und Finanzfragen mit Blick auf Europa
diskutiert wird. Es darf nicht sein, dass diese Fragen Auch ich muss vielleicht noch einmal nerven.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14419
Dr. Eva Högl
(A) (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das sind (Marco Buschmann [FDP]: Wie bitte? Sie blockie- (C)
wir doch gewohnt!) ren doch alles, was man dafür tun kann!)
Ich will ein Thema, das uns allen am Herzen liegt, unbe- Wir alle wollen die energetische Gebäudesanierung; sie
dingt ansprechen: die Vorratsdatenspeicherung. Man ist gut für die Umwelt und für die Mieterinnen und Mie-
kann sie auch „Mindestdatenspeicherung“ nennen, Herr ter. Sie allerdings verfolgen den Ansatz, die Förderung
Silberhorn; auch wir haben sie in unserem Papier so ge- der energetischen Gebäudesanierung zu streichen. Sie
nannt. Die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung ist tun also genau das Gegenteil. Frau Ministerin, Sie wol-
ein Symbol für die Unfähigkeit der Bundesregierung, len die Kosten für die energetische Gebäudesanierung
Vorschläge zu machen und Regelungen zu treffen. Bei von den Vermietern auf die Mieterinnen und Mieter ver-
diesem Thema geht es um eine ganz grundsätzliche lagern.
Frage. Es geht um die Balance zwischen dem Schutz von (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist ja
Bürgerrechten und Datenschutz und der Bekämpfung überhaupt nicht wahr!)
von Straftaten und Kriminalität sowie der Gewährleis-
tung der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Es han- Das ist genau der falsche Schritt.
delt sich hierbei nicht um ein Spezialthema oder ein Insi- (Beifall bei der SPD – Dr. Jan-Marco Luczak
derthema, sondern es geht um die Frage, wie wir die [CDU/CSU]: Das Klimaschutzgesetz in Berlin
Rechtspolitik gestalten. Frau Ministerin, dieses Thema ist doch von Rot-Rot abgesetzt worden!)
dürfen wir im Deutschen Bundestag nicht aussitzen.
Wir können Ihnen schon jetzt versprechen: Wenn die
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Sie entsprechenden Pläne auf den Tisch gelegt werden und
sind doch vor dem Bundesverfassungsgericht wir im Bundestag darüber diskutieren, dann wird sich
gescheitert!) die SPD jeglichen Ideen widersetzen, die zur Folge hät-
Wir haben die besten Voraussetzungen. Es gibt ein ten, dass die Kosten einseitig auf die Mieterinnen und
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sonnenklar Mieter abgewälzt werden. Das hat mit sozialem Miet-
ist. Man muss es im Grunde genommen nur abschreiben. recht nichts zu tun.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wer profi-
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach ja?
tiert denn dann davon? – Marco Buschmann
Wenn das alles so klar war, warum hat das Ge-
[FDP]: Wer zahlt denn dann weniger Heizkos-
richt dann Ihre Regelung so einfach vom Tisch
ten?)
gewischt? Warum haben Sie denn damals kein
verfassungskonformes Gesetz gemacht? Er- An dieser Stelle sind wir sehr engagiert.
(B) klären Sie uns das doch mal!) (D)
Frau Ministerin, ich komme zu dem Ergebnis, dass
Daran haben auch wir uns bei der Erarbeitung unseres die Bilanz alles andere als gut ist. Wir haben in dieser
Papiers, das wir vorgelegt haben, orientiert. anderthalbstündigen Debatte an vielen Stellen Hand-
lungsbedarf identifiziert. Wir als SPD würden Sie an der
Sehr wichtig ist mir die europäische Ebene. Wir dür- einen oder anderen Stelle gerne unterstützen. Wir for-
fen dieses Thema auch auf europäischer Ebene nicht dern Sie aber auch auf, engagiert und kämpferisch zu
aussitzen; ich habe das schon mehrfach gesagt. sein.
(Marco Buschmann [FDP]: Frau Högl, das al- Ich möchte Sie persönlich bitten, sich bei einem
les kommt doch noch! Warten Sie mal ab!) Thema, bei dem wir Sie als Rechtspolitikerin brauchen,
anders zu positionieren als bisher und uns zu unterstüt-
Wir können nur dann auf europäischer Ebene gestalten,
zen. Beim Thema „Frauen in Führungspositionen“ brau-
wenn wir eigene Vorschläge machen. Wir als SPD po-
chen wir Sie, Frau Ministerin. Bitte stehen Sie nicht län-
chen so sehr darauf, dass Vorschläge auf den Tisch des
ger auf der Seite derjenigen, die gegen Quotierungen
Hauses gelegt werden, über die wir dann diskutieren
und gesetzliche Vorschriften sind. Wir brauchen auch im
können, damit wir auch in Europa sprachfähig sind. Frau
Ministerin, wir haben Vorschläge vorgelegt, die Sie sich Parlament – das ist nämlich eine Regelung, die das Par-
lament treffen muss – wortgewaltige Unterstützerinnen.
anschauen können. Die SPD hat sich also positioniert,
Dies ist eine rechtspolitische Frage. Wir haben dazu be-
und zwar, wie ich finde, nicht schlecht.
reits Vorschläge vorgelegt, und wir werden weitere Vor-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schläge erarbeiten. Wir brauchen dringend eine Quotie-
rung im Hinblick auf Vorstände und Aufsichtsräte, damit
Als Bundestagsabgeordnete aus Berlin möchte ich auf endlich, endlich, endlich mehr Frauen in Führungsposi-
ein weiteres Thema zu sprechen kommen: auf das Miet- tionen kommen. Hier besteht die Chance, dass Deutsch-
recht. Sie haben im Koalitionsvertrag formuliert, das land einen riesengroßen Fortschritt macht. Ich fände es
Mietrecht auf seine Ausgewogenheit hin zu überprüfen sehr schön, wenn Sie, Frau Ministerin, dabei an unserer
und seinen sozialen Charakter zu wahren. Seite wären.
(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: So ist Herzlichen Dank.
es!)
(Beifall bei der SPD – Andrea Astrid Voßhoff
Davon merken wir bei Ihren Vorschlägen überhaupt [CDU/CSU]: Fangen Sie damit doch mal in
nichts. Wir stellen das Gegenteil fest. der SPD an!)
14420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nationale rechtliche Zusammenarbeit, kurz IRZ. Es geht (C)
Der Kollege Alexander Funk hat jetzt für die CDU/ dabei um eine wirksame Beratungshilfe beim Aufbau
CSU-Fraktion das Wort. von Demokratie und Marktwirtschaft bzw., wenn man so
will, um einen Export unserer rechtsstaatlichen Prinzi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pien.

Alexander Funk (CDU/CSU): Wenn man die Veränderungen gerade auf dem afrika-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nischen Kontinent betrachtet, die friedlichen Revolutio-
Kollegen! Der Justizetat steht traditionell im Schatten nen in Tunesien und in Ägypten, die Vertreibung des li-
anderer Haushalte. Dies gilt insbesondere bei der ersten byschen Diktators Gaddafi, dann wird schnell deutlich,
Lesung, zumal wir alle wissen, dass auch dieser Haus- dass diese Revolutionen nur dann die ersehnte Freiheit
halt, was seine Details betrifft, keineswegs so verab- und Demokratie zur Folge haben können, wenn diesen
schiedet werden wird, wie er heute eingebracht worden Ländern beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen ge-
ist. Gerade dies bietet aber die Möglichkeit, in den kom- holfen wird.
menden Wochen noch Fragen zu klären und auf Ände- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
rungen hinzuwirken. der FDP)
Über die Eckdaten ist bereits genug gesagt worden. Das gilt auch für weitere Länder, die an der Schwelle
Ich greife daher einige Punkte auf, die mir besonders am des Wechsels von der Diktatur zur Demokratie stehen.
Herzen liegen. Zunächst einmal ist aber generell zu be- Ich appelliere daher an alle Kolleginnen und Kollegen,
grüßen, dass der Einzelplan 07 auch im Haushaltsjahr die Arbeit gerade der IRZ-Stiftung zu fördern.
2012 zu den sparsamsten Etatentwürfen zählt und mit
rund 90 Prozent die höchste Deckungsquote aufweist. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Dies ist allerdings der Tatsache geschuldet, dass das Wir würden damit ein wichtiges Zeichen für all diejeni-
Deutsche Patent- und Markenamt kräftig zur Finanzie- gen setzen, die für Freiheit und Demokratie auf die
rung des Etats beiträgt. Circa 303 Millionen Euro sollen Straße gegangen sind und ihr Leben aufs Spiel gesetzt
im kommenden Jahr vom DPMA in München nach Ber- haben. Wir wollen in vielen Bereichen gern Weltmeister
lin fließen. sein – warum nicht auch beim Export von Rechtsstaat-
Das ist erfreulich, darf aber nicht dazu führen, diese lichkeit?
Einnahmen als sichere Bank zu betrachten. Ich halte es Aufklärungsbedarf sehe ich beim Personaletat. Es ist
für außerordentlich wichtig, das DPMA weiter zu stär- eine Binsenweisheit, dass auch der Etat 2012 unter dem
ken, denn es dient nicht in erster Linie der Finanzierung absoluten Gebot der Sparsamkeit stehen muss. Wenn al-
(B) des Justizetats, sondern es dient vor allem der Sicherung (D)
lerdings im Zusammenhang mit – ich zitiere – „umfang-
der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. reichen Berichtspflichten nach den Lissabon-Begleitge-
2010 konnte das DPMA 32 069 Patentanträge beschei- setzen“ sechs hochdotierte Stellen für internationale
den. Das ist eine stattliche Zahl, doch stehen ihr 36 841 Aufgaben neu geschaffen werden sollen, dann meine
Prüfanträge gegenüber. ich, dass die Unabweisbarkeit dieser Forderung erst
Es ist daher erfreulich und war unbedingt erforder- noch nachgewiesen werden muss. Schließlich werden
lich, dass die vorgeschriebene Einsparung von 41 Plan- diese Stellen den Justizetat auf Dauer belasten. Ange-
stellen durch 50 neue Stellen für den Sondertatbestand sichts des im Justizministerium ohnehin vorhandenen ju-
„Innovationsförderung“ abgemildert werden konnte. ristischen Sachverstandes sollten hier alle Möglichkeiten
Man mag hier von einer Überkompensation sprechen, der Kompensation geprüft werden, bevor dieser Forde-
doch halte ich sie in diesem Zusammenhang für erfor- rung entsprochen wird. Insofern, Kollege Sensburg, sehe
derlich, vor allem vor dem Hintergrund, dass das DPMA ich das als Haushälter etwas kritischer. Aber darüber
eigentlich einen zusätzlichen Personalbedarf von können wir in den nächsten Wochen alle gemeinsam dis-
250 Stellen hat, und zwar nur, um den Antragsstau abzu- kutieren.
bauen. Das sind Stellen, die sich nicht nur selbst finan- Kritisch sehe ich in diesem Zusammenhang einerseits
zieren, sondern auch vielfältigen Gewinn für unsere die geplante teure Stellenvermehrung, andererseits eine
Wirtschaft abwerfen würden. für mich zweifelhafte Einsparung von 1,4 Millionen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Euro beim Etat des Generalbundesanwalts. Bei diesem
Etat sind zwar Haushaltsreste vorhanden. Auf der ande-
Deutschland ist bekanntlich ein Blaupausenland. Un- ren Seite hat der Generalbundesanwalt angesichts terro-
ser Kapital ist der Ideen- und Erfindungsreichtum unse- ristischer Gefährdungen einen bedeutsamen Aufgaben-
rer Menschen und unserer Wirtschaft, vor allem der mit- zuwachs bekommen. Sicherheit darf nicht auf dem Altar
telständischen. Damit dieses Kapital in unseren Händen der sonst gebotenen Sparsamkeit geopfert werden.
bleibt, braucht es das DPMA, und dieses wiederum
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
braucht unsere Unterstützung.
Lassen Sie mich noch den Titel „Härteleistungen für
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Opfer extremistischer Übergriffe“ erwähnen. Im Regie-
neten der FDP)
rungsentwurf wird die Erhöhung des Ansatzes um
Ein anderer Titel, der mir am Herzen liegt, betrifft die 700 000 Euro auf 1 Million Euro zurückgenommen – auf
finanzielle Ausstattung der Deutschen Stiftung für inter- nunmehr 500 000 Euro. Das erscheint auf den ersten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14421
Alexander Funk
(A) Blick gerechtfertigt; denn die Zahl der Anträge ist stark nicht nur Haushaltszahlen, aber auch Haushaltszahlen. (C)
zurückgegangen, und aus dem Fonds sind keinerlei Mit- Diese Zahlen sagen auf jeden Fall etwas aus.
tel abgeflossen. Im Gegenteil: Aus Vollstreckungen hat
es sogar Einnahmen in Höhe von 77 000 Euro gegeben. Eine Zahl, die in der letzten Woche veröffentlicht
wurde, hat mich wirklich gefreut. Nach einer Umfrage
Nun könnte man aus dieser Entwicklung schließen, von TNS Infratest unterstützen nämlich 94 Prozent der
dass es in unserem Land keinerlei Opfer extremistischer Bürgerinnen und Bürger den Ausbau der erneuerbaren
Straftaten mehr gibt. Dem ist aber nicht so. Weiterhin Energien.
werden Menschen Opfer sowohl links- wie auch rechts-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
extremistischer Gewalttäter.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Wie also ist es zu erklären, dass der Härtefonds nicht Sören Bartol [SPD]: Die haben Sie lange ge-
in Anspruch genommen wird? Eine Absicht des Gesetz- nug ignoriert!)
gebers kann wohl getrost ausgeschlossen werden. Eine
– Wir dürfen uns darüber freuen. Das finde ich gut. Ich
Ursache könnte die fehlende Bekanntheit dieses Fonds
wollte Sie von der Opposition erst später einladen, sich
sein. Im vergangenen Jahr hat der Kollege Schurer von
darüber zu freuen. Ihre Freude ist aber schon ausgebro-
der SPD die Anregung gegeben, gerade die Opferver-
chen. Das finden wir alle gut.
bände über diese unbürokratische Hilfe zu informieren.
Wir werden uns in diesem Jahr genau anschauen müs- 65 Prozent sind auch bereit, in ihrer Nachbarschaft
sen, was in dieser Richtung bisher getan wurde oder ob Ökostromanlagen zu akzeptieren. Das ist wichtig; denn
eventuell auch die Richtlinie überarbeitet werden muss. irgendwann wird der Umbau natürlich auch konkret, und
Der Opferfonds ist zu wichtig, als dass ihm lediglich neben vielen Vorteilen gibt es Betroffenheiten und viel-
eine Alibifunktion zukommen darf. leicht auch Nachteile.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Ulrich Kelber [SPD]: Ist denn Ihr CDU-Lan-
bei Abgeordneten der SPD) desverband endlich für die neue Windenergie-
anlagenverordnung?)
Ich bin davon überzeugt, dass die Fachleute im Bun-
desministerium der Justiz alles darangesetzt haben, uns 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher sa-
einen nachvollziehbaren, ehrlichen Haushaltsentwurf gen: Wir finden die EEG-Umlage okay; wir sehen ein,
vorzulegen. dass wir sie bezahlen müssen, oder wären sogar bereit,
noch etwas mehr zu bezahlen. – Meine Damen und Her-
Ich hoffe sehr, dass wir bis zur zweiten und dritten ren, das heißt: Die Bürgerinnen und Bürger unterstützen
Lesung in den Gesprächen mit den Experten des Justiz- dieses Projekt. Sie machen mit. Sie wollen es und brin- (D)
(B) ministeriums und im Rahmen der Berichterstatterrunden
gen unser Land in Bewegung. – Das sind sehr erfreuli-
noch die eine oder andere Möglichkeit finden, Steuer- che Zahlen.
mittel einzusparen oder zielführender einzusetzen – ge-
mäß dem eben erwähnten Motto, dass kein Gesetzent- Lassen Sie mich noch eine andere Zahl nennen. Wäh-
wurf dieses Haus so verlässt, wie er hineingekommen rend der ganzen Debatte um die Energiewende haben
ist. wir immer wieder richtigerweise gesagt, dass der Anteil
der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung
Vielen Dank. 17 Prozent beträgt. Diese Zahl stammt allerdings aus
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem letzten Jahr. Wenn wir nun das erste Halbjahr 2011
bilanzieren, können wir feststellen, dass es nicht mehr
17 Prozent sind, sondern inzwischen – Stand: erstes
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Halbjahr 2011 – 20,8 Prozent. Somit ist der Anteil der
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereiches und erneuerbaren Energien um 14 Prozent gewachsen.
kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
heit, Einzelplan 16. Man hätte viel mehr machen können, Herr
Röttgen!)
Als Erstem gebe ich das Wort dem Bundesminister
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Zum Umwelthaushalt. Die Umweltschutzausgaben
Dr. Norbert Röttgen – der bitte ganz langsam ans Red- steigen im Haushalt 2012 um 900 Millionen – das sind
nerpult kommt, damit im Plenum noch die Plätze ge- erneut 14 Prozent – auf 7,4 Milliarden Euro. Daran hat
wechselt werden können. die energetische Gebäudesanierung einen großen Anteil:
Die Mittel steigen von 936 Millionen auf 1,5 Milliarden
Euro pro Jahr bis 2014.
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit: (Ulrich Kelber [SPD]: Das war ja auch vorher
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte von Ihnen zusammengestrichen worden!)
Frau Präsidentin, vielen Dank für den Hinweis, mich Man könnte noch mehr Zahlen auflisten, aber ich will es
langsam hierhin zu bewegen. Ich glaube, jetzt darf die dabei bewenden lassen.
Debatte zum Umwelthaushalt aber auch beginnen. –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese Das alles sind erfreuliche Zahlen. Es zeigt: Im Land
Haushaltsdebatte mit einigen Zahlen eröffnen. Es sind sind die Signale angekommen. Das ist das Projekt der
14422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) Regierung. Es ist aber nicht nur das Projekt der Regie- es eine Chance gibt, im Vermittlungsausschuss zu einem (C)
rung, sondern es ist das Projekt Deutschlands. Das ist ei- Ergebnis zu kommen, dann werden wir diese Chance er-
gentlich das Schönste und Beste, was man sagen kann, greifen. Wir brauchen dafür aber auch die Zustimmung
gerade in der Energiepolitik. der Länder. Ich fordere sie dazu auf, dies zu tun.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) der FDP)
Es ist das Projekt der Menschen in unserem Land, die es Aber auch viele andere müssen sich darauf einstellen.
sich zu eigen gemacht haben. Die Energieversorgungsunternehmen müssen jetzt in-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vestieren. Wir brauchen Investitionen in Gaskraftwerke,
Das war aber nicht die Bundesregierung!) und wir brauchen Akzeptanz für die Leitungen. Die
Stromproduzenten im Bereich erneuerbare Energien
– Doch. In dieser Konsequenz und mit den Erfolgen ist müssen sich auf mehr Markt und auf die Verbraucher
es das Projekt auch der Bundesregierung. Auch das ist einstellen. Wir brauchen den Netzausbau. All das ist
ein Teil der Wahrheit. Ich glaube, wir können auch jetzt notwendig. Speichertechnologien, moderne und in-
wechselseitig anerkennen, meine Damen und Herren, telligente Netze und intelligente Zähler: All das geht
dass es diese Regierung ist, dass es die Länder sind, dass jetzt in einem großen Gemeinschaftswerk los.
es Kommunen sind, dass es Energiegenossenschaften
sind, dass es eben das Land ist, das vorangeht. Das ist Wir werden als Bundesregierung dafür ein Projektma-
auch gut. Daran muss man auch nicht herummäkeln, nagement begründen; denn es geht darum, das Ganze
sondern man kann sich darüber freuen. konkret umzusetzen. Wir werden die Expertise und die
Erfahrung des Marktes, der Betroffenen, der Kommu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nen, der Länder und der Kraftwerksbauer annehmen und
der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist fast einbinden, um dieses Projekt zu einem Erfolgsprojekt
Westerwelle-Manier!) für unser Land zu machen. Das ist unser Ehrgeiz, den
Ich möchte aber vor allen Dingen sagen, dass die wir nun mit der Ausführung des von uns beschlossenen
Energiewende, die wir beschlossen haben, mit dem Be- Energiekonzeptes beweisen werden.
schluss im Deutschen Bundestag und auch im Bundesrat Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen, dem ich
nicht vollendet ist und angesichts all der Debatten, die große Bedeutung beimesse: die Fortführung des Konsen-
wir geführt haben, nicht hinter uns liegt. Die Ener- ses in einer Frage, bei der schon fast alle die Möglichkeit
giewende liegt vielmehr vor uns. Es geht darum, sie jetzt eines Konsenses aufgegeben hatten, nämlich bei der
zu machen. Das ist eigentlich das entscheidende Signal. Endlagersuche und -bestimmung. Hier strebe ich einen (D)
(B)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nationalen Konsens an. Das ist Teil des Energiekonsen-
Dann machen Sie sie doch mal!) ses, den wir beschlossen haben. Jetzt geht es darum,
auch das zu realisieren.
Wir haben sie möglich gemacht, und jetzt wird es
auch geschehen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Dann machen Sie doch eine ergebnisoffene
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Suche! Sie können doch nicht in Gorleben
Warum tun Sie denn nichts?) Fakten schaffen!)
Natürlich muss es auch in der Politik geschehen. Auch Wir sind als Regierung entschlossen, dies zu tun. Es
dort sind weitere Veränderungen möglich. Aber es bleibt geht um den Konsens in der Verantwortung, ein Endla-
ein Gemeinschaftsprojekt. Wir werden das auch tun. ger für hochradioaktive Abfälle in Deutschland zu su-
Um ein Beispiel zu nennen: Wir werden die großen chen. Keine Generation hat das Recht, Kernenergie zur
Potenziale der erneuerbaren Energien, nachdem wir das Stromproduktion zu nutzen und die Abfälle unbehandelt
im Strommarkt ermöglicht haben, auch im Wärmemarkt der nächsten Generation zu hinterlassen. Es ist unsere
erschließen. Darum werden wir im nächsten Jahr ein Generation in der Verantwortung, einer Verantwortung,
grundlegend novelliertes Erneuerbare-Energien-Wärme- der sich alle zu unterwerfen haben.
gesetz vorlegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der FDP)
Da bin ich mal gespannt!)
Darum sollten wir miteinander – das betone ich – da-
Ich habe eben den Erfolg der energetischen Gebäude- ran arbeiten, einen Konsens der heute Handelnden über
sanierung beschrieben. Seit 2006 sind 2,5 Millionen die Generationenverantwortung zu erzielen. Wir können
Wohnungen neu errichtet oder saniert worden. Das und müssen ihn erreichen. Ich schlage darum vor, dass
bringt eine CO2-Einsparung von 5 Millionen Tonnen, es wir die Suche nach einem Konsens auf eine eigene son-
schafft Arbeitsplätze und Wertschöpfung in unserem dergesetzliche Grundlage stellen und nicht versuchen,
Land. Ich appelliere auch an dieser Stelle an den Bun- uns wie bislang im Rahmen des Atomgesetzes zu bewe-
desrat, dass die Bundesländer noch einmal darüber nach- gen. Vielmehr brauchen wir eine eigene gesetzliche
denken, unser Angebot anzunehmen, jetzt auch in die Grundlage, weil ein besonderes Gesetz mit einer beson-
steuerliche Förderung der Gebäudesanierung einzustei- deren Zweckbestimmung die Möglichkeit bietet, diesem
gen. Das brauchen wir, und das tut dem Land gut. Wenn Konsens Ausdruck zu verleihen. Ich schlage vor, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14423
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) die Endlagersuche in einem partizipatorisch gestalteten offene Umgang mit der Erforschung auch von Risiken (C)
Verfahren vor sich geht, das alle einbindet, aber damit – Risikoforschung – ist die Bedingung, die Vertrauen
auch Verantwortung begründet. Auch das ist ein Teil der schafft, eine Bedingung für gesellschaftliche Akzeptanz
Wahrheit. Ich schlage vor, dass wir anhand von wissen- und dafür, dass wir ein technologisch führendes Land
schaftlichen Kriterien ermitteln und am Ende im Bun- bleiben. Auch das ist eine Aufgabe der Umweltpolitik,
destag entscheiden. der wir uns in einem gesonderten Dialog im Hinblick auf
die Risikoforschung zu den Nanotechnologien, zu ihrem
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Potenzial und ihrer Anwendung, stellen.
NEN]: Dann können Sie Gorleben erst mal
streichen!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sehr richtig! Hoffentlich wird es
Am Ende dieses eigenen Verfahrens wird die Ent-
was!)
scheidung von uns allen gefordert. Ich lade Sie aus-
drücklich ein, daran mitzuwirken. Die Bundesregierung – Er freut mich, wenn auch Sie dem zustimmen.
wird alle Bundesländer, die ja teilweise einen Meinungs-
wechsel und Verantwortungsbereitschaft bekundet ha- Abschließend möchte ich auf ein Wachstum einge-
ben, einladen und zu Gesprächen bitten. hen, das mit Klimaschutz und Naturschutz im Einklang
steht. Wir tragen zum Klimaschutz bei – wir versuchen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es – durch den Ausbau der erneuerbaren Energien. Es ist,
glaube ich, die wichtigste Motivation und es dient der
Umweltpolitik ist Wachstumspolitik. Umweltpolitik
Akzeptanz in der Bevölkerung, einen Beitrag zum Kli-
steht nicht im Gegensatz zu Wachstum. Vielmehr ist die
maschutz zu leisten.
Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen Bedin-
gung und treibende Kraft von richtig verstandenem (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wachstum, einem Wachstum, das Lebensmöglichkeiten Warum machen Sie kein Klimaschutzgesetz?)
auch der nächsten Generationen erhält und erweitert.
Darum wird diese konkrete Wachstumsstrategie mit dem – Wenn Sie es noch nicht mitbekommen haben sollten:
Kreislaufwirtschaftsgesetz in diesem Jahr von uns weiter Wir machen ganz viele Klimaschutzgesetze.
ausgefüllt werden. Wir werden eine grundlegende Über- (Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn
arbeitung vornehmen, die die Ziele der Abfallvermei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu viel kann
dung und der Wiederverwertung, des Recyclings, ganz auch zu wenig sein!)
nach vorne rückt. Darum hat die Bundesregierung be-
schlossen, ein nationales Ressourceneffizienzprogramm Außerdem schaffen wir ein Ressourceneffizienzpro-
gramm. Wie kann man all das nicht sehen?
(B) vorzulegen. Wir werden es tun, um den strategischen (D)
Rahmen und konkrete Schritte festzulegen. Wir werden Wir setzen uns international für Klimaschutz ein. Wir
weiterhin die Sektoren, in denen sich dieses Wachstum haben hier in Berlin vor einigen Monaten einen erfolg-
vollziehen soll, definieren. Das ist Ausdruck dessen, reichen Petersberger Klimadialog II geführt, und wir
dass wir konzeptionell und konkret ökonomische versuchen, zu helfen, dass die südafrikanische Präsident-
Wachstumsnotwendigkeiten und ökologische Überle- schaft erfolgreich sein wird.
benserfordernisse miteinander verbinden.
Natürlich sehen wir hier die Rolle Europas – nicht die
Ich möchte ein anderes Feld nennen, wo bereits deut- des Vorreiters, aber die des Herausforderers. Darum
lich ist, dass Umweltpolitik in diesem weiten Verständ- muss Europa auch in der Klimapolitik zusammenstehen.
nis eine Querschnittspolitik ist und eine Zukunftsper- Wenn Europa das nicht tut, dann wird es marginalisiert.
spektive für das Land bietet. Das ist der Umgang mit Das gilt auch in einem so wichtigen Feld wie dem der
neuen Technologien; ich möchte hier insbesondere den Emissionspolitik bzw. der Klimapolitik. Darum sind wir
Umgang mit den Nanotechnologien nennen. Der Sach- hier im eigenen Interesse und im Interesse der nächsten
verständigenrat für Umweltfragen hat in der letzten Wo- Generationen Vorreiter. Die Umsetzung der Emissions-
che der Bundesregierung das dicke Gutachten zu den handelsrichtlinie ist ein Erfolg. Sie wird auf neue Indus-
Nanotechnologien überreicht. Wir haben darüber inten- triesektoren ausgeweitet und ist zugleich industrie-
siv diskutiert. Nanotechnologie ist ein Beispiel dafür, freundlich. Gleichzeitig wird die Menge der zulässigen
dass neue Technologien faszinierende Möglichkeiten er- Emissionen immer weiter reduziert.
öffnen, Möglichkeiten des Erkenntniszuwachses, aber
auch der wirtschaftlichen Anwendung. Gleichzeitig er- Zu diesem weiten Verständnis von Umweltpolitik und
geben sich beim Betreten dieser faszinierenden Welt auch von Wachstumspolitik gehört eine engagierte Na-
neue Risiken, die wir zum Zeitpunkt der Anwendung turschutzpolitik. Ich möchte kurz die Konferenz „Bonn
zum Teil noch gar nicht kennen. Wirtschaftliche, techni- Challenge“ erwähnen; diese erfolgreiche Initiative zur
sche Machbarkeit und das Wissen darum, welche Risi- Waldpolitik hat in der letzten Woche stattgefunden. Wir
ken wir damit begründen und vielleicht auch hervorru- in Deutschland verfolgen eine eigene Waldstrategie. In
fen, klaffen durchaus auseinander. Die Schlussfolgerung Deutschland wächst der Wald, und zwar um 3 500 Hek-
daraus darf aber nicht sein, dass wir neue Technologien tar pro Jahr. Damit sind wir sehr erfolgreich. Aber welt-
tabuisieren und Ängste schüren. Aber die Schlussfolge- weit werden jedes Jahr 13 Millionen Hektar Wald gero-
rung darf auch nicht sein, dass wir so tun, als gäbe es det. Das ist weder wirtschaftlich vernünftig, noch ist es
diese Risiken gar nicht und als gäbe es nur die Chancen. generationenverantwortlich. Darum hat diese Initiative
Ein richtiges Verständnis von Chancen und Risiken, der das Ziel – wir verfolgen es mit anderen zusammen; es
14424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) wird von Unternehmen und von führenden Politikern an- Es wird als ein Symbol einer der schlechtesten Bun- (C)
derer Länder unterstützt –, bis 2020 150 Millionen Hek- desregierungen, die Deutschland je gesehen hat, in die
tar wieder aufzuforsten. Das ist ein konkretes Zukunfts- Geschichte eingehen. All das, was Sie noch vor einem
projekt. Ich freue mich, dass unser Land an dieser Stelle Jahr hier als große Zukunft proklamiert haben, ist mitt-
führend ist – ich glaube, darüber gibt es einen gewissen lerweile Makulatur.
Konsens –, eine Waldstrategie national und international
Ein Jahr später sagen Sie: Es muss sich sehr viel än-
durchzusetzen. Auch Naturschutz zählt immer noch zum
dern. – Ein Jahr später sind es dann plötzlich die Erneu-
Kern von Umweltpolitik. Daran halten wir fest.
erbaren. Sie haben zwei Jahre mit Ihrer Politik dazu bei-
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: getragen, dass es bei den Erneuerbaren stockte. Wo
Schön, dass Sie das mal gesagt haben!) könnten wir heute stehen, wenn Sie da weitergemacht
hätten, wo Rot-Grün aufgehört hat?
Ich glaube, dass Umweltpolitik insgesamt einen gu-
ten, vielleicht einen neuen Stellenwert hat und das Land (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
positiv nach vorne bringt. Ich hoffe sehr auf Ihre Unter- DIE GRÜNEN)
stützung auch für diesen Bundeshaushalt. Mehr noch: Sie haben zehn Jahre lang dazu beigetra-
Herzlichen Dank. gen, dass immer wieder gemutmaßt werden konnte:
Wenn Schwarz-Gelb an die Regierung kommt, dann dre-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen die das sowieso. – Das hat dazu geführt, dass Eon
Ihnen vertraut hat und gerade nicht in Innovationen, ge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rade nicht in Erneuerbare investiert hat. Insofern haben
Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wort Sie zehn Jahre lang gegen Innovationen in diesem Land
für die SPD-Fraktion. gearbeitet.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Dr. Matthias Miersch (SPD): Sie haben in dieser Rede vor einem Jahr weiter gesagt
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – ich zitiere –:
Herr Minister Röttgen, da war er wieder, der „doppelte Zusätzlich gibt es noch die Beiträge der Kernener-
Röttgen“: viele salbungsvolle Worte, viel Pathos, aber giewirtschaft, die insgesamt einen zweistelligen
wenig Substanz. Das ist ein Markenzeichen Ihrer bishe- Milliardenbetrag ausmachen. Wir werden ab 2013
rigen Regierungszeit als Bundesumweltminister. für den Bereich Klima- und Energiepolitik rund
(B) (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 3 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung haben.
DIE GRÜNEN) Das war noch nie da und ist ein Erfolg, von dem
alle profitieren werden.
Herr Minister, ich hätte von Ihnen ein bisschen De-
mut erwartet. Was haben Sie hier im Verlauf eines Jahres Nach einem Jahr ist dieses Finanzierungskonzept
für eine Kehrtwende hingelegt! Ein bisschen Demut ge- – wir haben es Ihnen übrigens gesagt – wie ein Karten-
genüber all denen, die trotz Ihrer Politik in Erneuerbare haus zusammengebrochen, Herr Bundesumweltminis-
investiert haben, die vor Ort, auf kommunaler Ebene, für ter. Sie haben sich mit den vier Großen ins Bett gelegt,
Klimaschutz gefochten haben, hätte Ihnen gut angestan- und jetzt haben Sie die Quittung: Nichts ist finanziert.
den. Sie haben hier ein Wolkenkuckucksheim aufgebaut.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)

Vor einem Jahr sagten Sie an dieser Stelle beim Ein- Und schlimmer: Sie wiederholen diese Geschichte;
bringen des Haushalts – ich darf zitieren –: denn mit Ihrem großartigen Fonds machen Sie gleich
den nächsten Fehler. Sie binden ihn an den Emissions-
Dieses Energiekonzept ist das anspruchsvollste, handel und versehen ihn mit einem Finanzierungsvorbe-
konsequenteste, umfassendste Energie- und Um- halt. Das heißt, über allen Maßnahmen, die Sie da
weltkonzept, was es in Deutschland je gegeben hat, hineinschreiben, schwebt ein Damoklesschwert. Ich ver-
und es ist weltweit einmalig. spreche Ihnen jetzt schon: Alle Annahmen, die Sie da
hineingeschrieben haben, werden nicht eintreten. Sie ha-
Mit diesem Zitat wollten Sie die Laufzeitverlänge-
ben keine Verbindlichkeit, Sie haben keine Verlässlich-
rung begründen. Ich sage Ihnen: Ja, es ist sicher weltweit
keit mit diesem Haushalt geschaffen.
einmalig, wie innerhalb eines Jahres ein solches Konzept
über den Haufen geworfen werden konnte. Das, glaube (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ich, ist eine Kehrtwende, die alles andere als zukunftsfä- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf
hige Politik gewesen ist. Ihr Energiekonzept war das in- von der FDP: Was ist die Alternative der
novationsfeindlichste und schlechteste, das es in SPD?)
Deutschland je gegeben hat.
Das Schlimmste, was Sie in diesen zwei Jahren ange-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richtet haben, ist die Schaffung einer großen Unsicher-
DIE GRÜNEN) heit. Gerade im Bereich der Erneuerbaren, gerade im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14425
Dr. Matthias Miersch
(A) Bereich der Effizienztechnologie geht es um Investi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
tionssicherheit. Reden Sie mit den Leuten, die Block- DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP)
heizkraftwerke hergestellt haben bzw. herstellen! Reden
Ich wünsche mir, dass wir in die Beratungen der nächs-
Sie mit den Modulherstellern im Bereich der Photovol-
ten Wochen ein bisschen mehr von diesen Überlegungen
taik! Sie sagen Ihnen alle, das, was Sie zwei Jahre lang
gemacht haben, hat sie in dem Ausbau behindert. Das einbeziehen und damit für etwas mehr Substanz sorgen.
Das wünsche ich mir.
müssen Sie ändern. Sie haben es in diesem Projekt aber
nicht geändert, weil Sie das Marktanreizprogramm, die Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Gebäudesanierung, alles unter einen Finanzierungsvor-
behalt stellen. Das ist schädlich für dieses Land. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Schlimm ist nicht nur, dass Sie national eine große
Verunsicherung herbeigeführt haben, sondern auch, dass Stephan Thomae hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
Sie vor allen Dingen international dem Ansehen der tion.
deutschen Klimaschutzpolitik geschadet haben. Sie ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ben uns auf unsere Anfrage hin schwarz auf weiß mitge- der CDU/CSU)
teilt, dass Sie nicht beabsichtigen, ein Klimaschutzgesetz
in den Deutschen Bundestag einzubringen. Daran wird
Stephan Thomae (FDP):
deutlich, dass allein markige Worte und gute Sprüche Ihr
Markenzeichen sind. Immer dann, wenn es verbindlich Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
werden soll, wenn es kontrollierbar sein soll, rudern Sie Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundes-
zurück und legen nichts vor. ministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit ist im Vergleich zum Gesamtvolumen des Bundes-
Das, was Sie sich auf internationaler Ebene in den haushaltes ein kleiner Fisch mit einem Umfang von
letzten zwei Jahren geleistet haben, hat dem Ansehen der 1,5 Milliarden Euro; das entspricht ungefähr 0,5 Prozent
Bundesrepublik Deutschland gerade im Bereich des in- des Bundeshaushaltsvolumens. Gleichwohl spiegelt sich
ternationalen Klimaschutzes massiv geschadet. Insofern in diesem Ressort eine der dramatischsten Entwicklun-
glaube ich, Herr Bundesminister Röttgen, wäre es gut gen der letzten zwölf Monate wider: die Diskussion um
gewesen, wenn Sie die Finanzierung für die zugesagten die Zukunft der Energieversorgung.
Fast-Start-Mittel in diesen Haushalt endlich fundiert be- Als Berichterstatter für diesen Einzelplan will ich ganz
legt eingestellt hätten und nicht durch Herumrechnerei, kurz ein paar allgemeine Daten vorausschicken und daran (D)
(B)
Gegenrechnerei das Gegenteil gemacht hätten. Es ist
deutlich machen, dass wir trotz der hohen Herausforde-
kein Schritt zur Vertrauensbildung, was Sie in diesem rungen, die die Aufgaben an uns stellen, auch hier die
Haushalt im Bereich des internationalen Klimaschutzes Haushaltskonsolidierung nicht hintanstellen. 2011 sind
anstellen.
für den Haushalt des BMU über 1,6 Milliarden Euro ver-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anschlagt. Wir wollen diesen Haushalt im nächsten Jahr
DIE GRÜNEN) um 42 Millionen Euro – das sind ungefähr 2,6 Prozent –
auf unter 1,6 Milliarden Euro zurückführen, nämlich auf
Ein Wort zum Schluss. Ich glaube, dass wir als Um- 1,5931 Milliarden Euro. Trotz der hohen Herausforderun-
weltpolitiker bei der Haushaltsdiskussion eine große gen wird also auch hier am Konsolidierungsziel festge-
Verantwortung haben; denn es geht darum, die Philoso- halten.
phie der Haushaltsberatung einmal völlig anders zu be-
trachten. Wir können im Bereich der Umweltpolitik Zur Struktur des Haushaltes. Er gliedert sich in einen
nicht von einem Jahr zum anderen denken. Wie wäre es Stammhaushalt, in dem die typischen Verwaltungskosten
eigentlich gewesen, wenn der volkswirtschaftliche Scha- des Ministeriums angesiedelt sind, einen Programm-
den, der sich in Japan durch die Katastrophe von Fuku- haushalt, in dem die Mittel für Programme und Projekte
shima augenblicklich einstellt, der volkswirtschaftliche zu finden sind, und in den Haushalt für den Endlagerbe-
Schaden durch den Super-GAU, in irgendeiner Form reich. Dieses große Thema macht ungefähr ein Drittel
haushalterisch Beachtung gefunden hätte? des Haushaltes aus. Dem Ministerium sind drei Behör-
den nachgeordnet: das Umweltbundesamt in Dessau, das
Wie wäre es, wenn wir im Rahmen dieser Haushalts- Bundesamt für Naturschutz in Bonn und das Bundesamt
planberatungen die Folgeschäden des Klimawandels, für Strahlenschutz in Salzgitter.
von denen wir durch Sir Nicholas Stern wissen, in ir- Anhand der Programme und Projekte kann man er-
gendeiner Form berücksichtigen würden? Wir würden, kennen, dass Umweltschutz ein Querschnittsthema ist.
glaube ich, zu ganz anderen Maßnahmen kommen müs- Umweltschutz ist nicht nur in diesem Einzelplan ange-
sen, siedelt, sondern auch in vielen anderen Einzelplänen des
(Otto Fricke [FDP]: Wie denn?) Bundeshaushaltes finden sich Ausgaben für den Um-
weltschutz wieder: Im Bereich des Bundesministeriums
weil letztlich jede entsprechende Investition, die wir für Wirtschaft sind zum Beispiel für die Förderung ratio-
heute tätigen, weitaus höhere Folgekosten vermeiden neller und sparsamer Energienutzung 443 Millionen
hilft. Euro etatisiert; im Bereich des Bundesministeriums für
14426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Stephan Thomae
(A) wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist (C)
für Umweltschutzprojekte und nachhaltige Entwicklung die Verbesserung der steuerlichen Abschreibungen für
1,4 Milliarden Euro etatisiert; im Bereich des Bundes- CO2-Sanierungsmaßnahmen. Ich halte es für einen gro-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ßen Fehler, dass dieses Vorhaben auch mit Unterstützung
werden für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm rot-grün regierter Bundesländern im Bundesrat gestoppt
2 Milliarden Euro veranschlagt; im Bundesfinanzminis- worden ist.
terium sind für die Altlastensanierung in den Braunkoh-
lebergbaugebieten der ehemaligen DDR 246 Millionen (Josef Göppel [CDU/CSU]: Da hat er recht!)
Euro vorgesehen, und – das ist das letzte Beispiel – im Ich hoffe, dass wir im Vermittlungsausschuss zu einem
Bundesministerium für Bildung und Forschung stehen Ergebnis kommen werden und dass wir nicht feststellen
für Grundlagenforschung zum Umweltschutz 869 Mil- müssen, dass Anspruch und Wirklichkeit rot-grüner Kli-
lionen Euro zur Verfügung. mapolitik in dieser Frage auseinanderklaffen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Könnten Sie das mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
den 2 Milliarden für die Gebäudesanierung neten der FDP)
mal aufschlüsseln? Findet außer Ihnen nie-
mand im Haushalt!) Ich möchte das Thema Energie- und Klimafonds an-
sprechen. Ich glaube, es ist ein wirkliches Verdienst,
Das zeigt, dass diese Regierung in vielen Ressorts Aus- dass wir hier das größte Sondervermögen in diesem Be-
gaben für den Umweltschutz veranschlagt, nicht nur im reich geschaffen haben. Der Fonds soll zunächst mit
Bereich des Bundesministeriums für Umwelt, Natur- 780 Millionen Euro ausgestattet werden. Es ist bisher
schutz und Reaktorsicherheit. das größte Programm für erneuerbare Energien, Gebäu-
desanierung, Elektromobilität. Die Mehrerlöse, die wir
Ein Wort zum Thema Energiewende – dazu werden aus der Versteigerung von CO2-Emissionsrechten erzie-
wir später noch mehr hören; ich will das Thema nur ein len, sollen künftig zu 100 Prozent dem EKF zufließen,
wenig anreißen –: Die letzten zwölf Monate sind ja so um die Mittel für Förderprogramme in diesem Bereich
dramatisch gewesen wie selten eine Zeit vorher. Wir hat- im EKF zu bündeln. Das ist eine wichtige Aufgabe.
ten nicht nur das Thema Griechenland und Euro, die
Entwicklungen in Nordafrika, insbesondere in Tunesien (Beifall bei der FDP)
und Libyen, sowie in Syrien, sondern wir hatten auch Ein paar Worte zum Naturschutz. Im Jahr 2011 wurde
das Thema Fukushima und Japan, das eine Kaskade von ein Bundesprogramm für biologische Vielfalt aufgelegt.
außergewöhnlichen Ereignissen nach sich gezogen hat. Das zeigt, dass wir auch dem Naturschutz große Bedeu-
(B) Es gibt Spötter, die behaupten, dass kein Land unter dem tung beimessen. Trotz schwieriger Haushaltslage wollen (D)
Atomunfall in Japan so gelitten habe wie Deutschland, wir dieses Programm auch 2012 fortführen und mit zu-
aber die Sache ist zu ernst zum Witzereißen. sätzlichen 15 Millionen Euro ausstatten. Damit sind die
Ausgaben für konkrete Naturschutzprojekte dieser Re-
(Josef Göppel [CDU/CSU]: So war es! –
gierung fast doppelt so hoch wie unter der Ägide des
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ehemaligen SPD-Umweltministers Sigmar Gabriel.
Mit so etwas sollte man auch keine Witze ma-
chen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vor einem Jahr, als ich noch nicht Berichterstatter
war, stand die Aussprache zu diesem Einzelplan unter Abschließend will ich deutlich machen, dass wir, trotz
dem Vorzeichen der Laufzeitverlängerung. Heute hat die gestiegener Aufgaben in diesem Bereich, an der Haus-
Bundesregierung ein völlig neues Energiekonzept. Man haltskonsolidierung festhalten. Wir fahren die Nettokre-
kann, glaube ich, festhalten, dass aus dem Ausstiegsbe- ditaufnahme deutlich zurück, verfolgen konsequent und
schluss von einst nunmehr ein Umstiegsbeschluss ge- sogar schneller, als von früheren Regierungen geplant,
worden ist. Wir alle haben lernen müssen, dass es den Abbaupfad und werden die Maastricht-Kriterien und
schwierig ist, die drei Ziele Klimaneutralität, Versor- die Anforderungen der Schuldenbremse einhalten.
gungssicherheit und Preisstabilität unter einen Hut zu
Wir sind keine Ausgabenpolitiker, die mit dem Füll-
bringen. Das ist, auch haushalterisch, eine schwierige
horn durchs Land ziehen und überall Wohltaten vertei-
Aufgabe, der wir alle uns anzunehmen haben.
len. Wir wollen konsolidieren, aber auch reformieren,
Jetzt jedenfalls ist die Diskussion darüber in Gang ge- und zwar beides gleichzeitig. Das ist die Aufgabe dieser
kommen, die Ziele in eine Balance zu bringen und sie Regierung.
gleichermaßen zu erreichen. Gerade für uns als FDP war Ich danke Ihnen.
in dieser Regierung wichtig, dass wir die Brennelemen-
testeuer erhalten. Wie richtig das gewesen ist, zeigt sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
daran, dass wir schon 2012 für die Sanierung der Asse
weitere 20 Millionen Euro benötigen werden. Es ist auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
deswegen richtig, dass wir diese Kosten auch der Wirt- Michael Leutert hat jetzt das Wort für die Fraktion
schaft auferlegen, weil 88 Prozent der radioaktiven Ab- Die Linke.
fälle, die in der Asse lagern, von den Energieversor-
gungsunternehmen stammen. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14427

(A) Michael Leutert (DIE LINKE): baupotenzial im Bereich erneuerbarer Energien“ hat. Sie (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schreiben, dass Sie zur Erschließung dieser Potenziale
Herr Minister Röttgen, Sie haben hier heute wieder den „gesetzlichen und planungsrechtlichen Rahmen ver-
schön gesprochen und viel angekündigt. Allerdings, bessern“ wollen. Sie haben eine Initiative angekündigt,
denke ich, lohnt ein Blick zurück. Wir haben vor einem „um gemeinsam mit den Ländern und Kommunen die
Jahr hier im Plenum über das sogenannte Energiekon- Raumordnungspläne mit dem Ziel weiterzuentwickeln,
zept der Bundesregierung debattiert, vorgelegt vom dass ausreichende Flächen für neue Windenergiegebiete
Wirtschaftsministerium, damals noch unter dem Kolle- ausgewiesen werden“. Außerdem wollten Sie im „Bau-
gen Brüderle, und von Ihrem Haus, dem Umweltministe- und Planungsrecht erforderliche … Regelungen zur Ab-
rium. Dieses Energiekonzept sollte die Basis für das lau- sicherung des Repowering treffen“. Sie wollten also al-
fende Jahr sein, also auch für den noch gültigen les tun, damit die Windkraft gestärkt wird.
Haushalt. Mich interessiert nun, ob dieses Konzept bei
Ich möchte Ihnen einmal darstellen, wie Ihr Projekt in
den Bürgerinnen und Bürgern, wie Sie es in Ihrer Rede
der Bevölkerung ankommt. Letzte Woche war ich im
so schön formuliert haben, angekommen ist.
Erzgebirge und war dort Gast bei der Firma Windkraft
In diesem Papier steht gleich auf der ersten Seite – ich Unger in Pfaffroda; ich lade Sie gerne ein, mit mir ein-
zitiere –: mal da hinzufahren. Es ist ein kleines ostdeutsches Un-
ternehmen, das seit der Wende kontinuierlich in einen
Mit dem Energiekonzept formuliert die Bundesre-
Windpark investiert hat. Mittlerweile sind es 60 Millio-
gierung Leitlinien für eine umweltschonende, zu-
nen Euro. Heute ist es der effektivste Windpark, den wir
verlässige und bezahlbare Energieversorgung …
in Sachsen haben. Seit einiger Zeit tobt dort eine erbit-
Jetzt weiß ich nicht, Herr Bundesminister, wo Sie Ih- terte Auseinandersetzung, weil eine andere Firma, die
ren Sommerurlaub verbracht haben. Ich bin in Deutsch- Wingas, eine Tochterfirma von Gazprom, mitten durch
land unterwegs gewesen und habe nur Klagen gehört, den Windpark eine Erdgastrasse verlegt hat. Sie können
und zwar besonders an den Tankstellen. Dabei ging es hinfahren und es sich anschauen: Diese Trasse geht mit-
um ein Projekt von Ihnen, nämlich den Anteil von Bio- ten durch den Windpark und nimmt ungefähr 15 Hektar
komponenten in Kraftstoffen zu erhöhen, in der Bevöl- der Fläche des Windparks, der in einem Vorranggebiet
kerung besser bekannt unter dem Namen „E 10 – die Ab- liegt, in Anspruch. Es wäre überhaupt kein Problem ge-
zocke an der Tankstelle“. Zur Erinnerung: Die Politik wesen, diese Trasse um den Windpark herumzuführen.
hat festgelegt – so ist es auch mit einem eigenen Kapitel
in Ihrem Konzept unterlegt –, dass ein Biokraftstoffge- Dieses Problem hat auch den Bundestag beschäftigt.
misch verkauft werden soll. Die ökologischen Bedenken Es stand nämlich auf der Tagesordnung des Petitionsaus-
(B) dagegen möchte ich jetzt nicht anführen. Die Politik hat schusses. Der Petitionsausschuss hat gesagt, er hoffe, (D)
weiterhin eine Verkaufsquote festgelegt. Außerdem dass es zu einer anderen Trassenführung kommt.
wurde beschlossen, dass Strafzahlungen fällig werden, Nun ist die Frage, wie sich die Ministerien, die dieses
wenn diese Quote nicht erfüllt wird. Die Mineralölkon- Energiekonzept vorgelegt haben, in dieser Sache verhal-
zerne bieten dieses Gemisch nun preiswerter an, indem ten. Es gibt zum Beispiel eine Stellungnahme aus Ihrem
sie den Normalsprit teurer machen. Nachdem die Quote Haus, in der komplett der Standpunkt von Wingas einge-
nicht erfüllt worden ist, wollen die Konzerne die Straf- nommen wird. Unter anderem heißt es darin:
zahlungen an die Kunden weitergeben. Was macht die
Politik in diesem Verantwortungsbereich? Sie schaut zu. Für eine Existenzbedrohung durch planfestgestellte
Herr Minister Röttgen, die Bürgerinnen und Bürger be- Gasleitungen besteht kein Anhaltspunkt.
klagen sich zu Recht an den Tankstellen und empfinden Außerdem wurde noch darauf verwiesen, dass der
zu Recht als äußerst ungerecht, was hier veranstaltet Bund keine Möglichkeiten habe, auf die Entscheidung in
wird. Sie wissen so gut wie jeder andere hier im Hause, Sachsen Einfluss zu nehmen. Dies sah der Staatssekretär
dass der ökologische Wandel nur mit den Menschen und Jochen Homann aus dem Wirtschaftsministerium offen-
nicht gegen die Menschen gemacht werden kann. Sie le- sichtlich ganz anders. Er hat sich nämlich mit einem
gen es auch in Ihrem Konzept dar – ich möchte es noch Brief an seine zuständigen Kollegen in den Ländern ge-
einmal in Erinnerung rufen –: wandt:
Der Umbau zu einer nachhaltigen Energieversor- Sehr geehrte Herren, ich erlaube mir, Sie wegen ei-
gung … können nur gelingen, wenn die künftige nes in Ihrem Zuständigkeitsbereich anhängigen Ge-
Energiepolitik für die Bürgerinnen und Bürger ver- nehmigungsverfahrens anzusprechen. Für die Gas-
ständlich und nachvollziehbar ist. leitung OPAL sind bei Ihren nachgeordneten
Offensichtlich ist dies bei diesem Projekt nicht der Fall. Behörden derzeit die Planfeststellungsverfahren an-
Sozial ist es ebenfalls nicht. Ich kann Ihnen also nur hängig.
empfehlen, den Hinweisen Ihres Koalitionspartners zu
Dann wird darauf verwiesen, wie wichtig dies für
folgen und dieses Projekt zu beenden.
Deutschland und Europa ist. Weiter heißt es:
(Beifall bei der LINKEN)
Ich bitte Sie, diese Erwägungsgründe bei dem Plan-
Ein weiterer Punkt Ihres Energiekonzeptes ist der feststellungsverfahren mit zu berücksichtigen. Un-
Ausbau der Windenergie. Sie schreiben in Ihrem Kon- abhängig davon ist für den Antragsteller, die OPAL
zept, dass die Windenergie „das wirtschaftlichste Aus- NEL Transport GmbH, eine zeitnahe Entscheidung
14428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Michael Leutert
(A) der zuständigen Behörden von entscheidender Be- Kernpunkt der Energiewende ist bei Ihnen die Kohle- (C)
deutung. Ich möchte Sie bitten, sich entsprechend kraftwerksförderung. Obwohl Kohlekraftwerke Klima-
dafür einzusetzen. killer schlechthin sind, können Kraftwerksbetreiber bis
2016 mit millionenschweren Subventionen für Neubau-
Herr Minister Röttgen, wenn ich mir diese zwei Bei-
ten rechnen. Diese Subventionen nun ausgerechnet aus
spiele anschaue, dann kann ich nur sagen: Ihre Umwelt-
dem Energie- und Klimafonds zu finanzieren, ist eine
politik ist angekommen, allerdings ist sie auch geschei-
echte Attacke auf die Energiewende.
tert. Worte und Taten stimmen hier nicht überein. Das
weiß inzwischen jeder in diesem Land. Ich kann Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nur noch einmal sagen: Der ökologische Umbau wird sowie bei Abgeordneten der SPD)
nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gelin-
Das belegt: Nach dem alten Irrtum Atomkraft kommt
gen. Er wird nur gelingen, wenn er für alle sozial ver-
nun der vorsintflutliche Irrtum Kohlekraft. Sie als Bun-
träglich ist.
desregierung zementieren damit nicht nur die alten Ener-
gieerzeugungsstrukturen, sondern behindern auch den
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: notwendigen und konsequenten Ausbau der erneuerba-
Herr Kollege. ren Energien. Wir wissen: Kohlekraftwerke passen we-
gen ihrer mangelnden Flexibilität gar nicht in ein Zu-
Michael Leutert (DIE LINKE): kunftskonzept, das zentrale Strukturen mit dezentralen
Das sind die Kriterien der Linken. Daran muss sich regionalen Strukturen verbindet.
der Haushalt orientieren, und daran werden wir Sie mes-
Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen
sen.
kommen. Letztes Jahr an dieser Stelle hat Herr Röttgen
Vielen Dank. eine Effizienzrevolution bzw. einen Transformationspro-
zess zu einer ressourceneffizienten, energieeffizienten
(Beifall bei der LINKEN)
und CO2-sparsameren Wirtschafts- und Lebensweise an-
gekündigt. Jetzt, Herr Minister, lassen Sie zu, dass Wirt-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schaftsminister Rösler die Energieeffizienzrichtlinie der
Dorothea Steiner hat jetzt das Wort für Bündnis 90/ EU blockiert. Da frage ich Sie: Warum legen Sie sich
Die Grünen. nicht einmal mit diesem energiepolitischen Leichtmatro-
sen im Wirtschaftsministerium an und setzen Ihre An-
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kündigungen zur Energieeffizienz auch im Kabinett
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schöne durch?
(B) Worte haben wir gerade von Herrn Umweltminister (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Röttgen gehört. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der FDP: Das ändert sich jetzt Auch der Klimaschutz ist bei Ihnen ins Hintertreffen
aber!) geraten. 162 Millionen Euro für die Internationale Kli-
So ganz vergesslich sind wir aber nicht. Letztes Jahr um maschutzinitiative, IKI, und für den internationalen Kli-
diese Zeit hat uns der Umweltminister nach der Laufzeit- maschutz sind exakt 7,5 Millionen Euro mehr als im Jahr
verlängerung noch das Hohelied von der Brückentech- 2011. Das ist nicht das, was wir brauchen, um den Kli-
nologie Atomkraft gesungen und gleichzeitig eine Ener- maschutz wirksam voranzubringen. Sie alle wissen: Die
gierevolution propagiert. Wie wir wissen, ist die Lage ist ernst bis dramatisch. Wir erinnern uns, dass das
Brückentechnologie inzwischen abgestürzt. Wir, das Jahr 2010 global gesehen das wärmste Jahr war.
Parlament, haben mit überwältigender Mehrheit be- Ich möchte Sie an noch etwas erinnern. Wir haben Ih-
schlossen, aus der Atomkraft auszusteigen. Wir alle wis- nen vorgerechnet, dass man 650 Millionen Euro für den
sen: Wir können das schaffen, aber nur mit einem ambi- Klimaschutz erwirtschaften kann, indem man ökolo-
tionierten Ausbau der erneuerbaren Energien. gisch schädliche Subventionen abbaut. Ich nenne nur
Ich stelle fest – das richtet sich an die Koalitionäre zwei Beispiele: Durch eine Kerosinbesteuerung könnte
und an Herrn Röttgen –: Ihr diesjähriges Energiekonzept man im Inland 680 Millionen Euro jährlich erwirtschaf-
für den ambitionierten Ausbau der erneuerbaren Ener- ten. Außerdem könnte man endlich die Abschaffung des
gien ist genau das gleiche wie im letzten Jahr, das noch Dienstwagenprivilegs angehen. Das würde 1,2 Milliar-
die Atomkraft und die Laufzeitverlängerung umfasste. den Euro bringen. Ich frage Sie: Wo sind die Steuergel-
Kein My mehr an Windkraft, kein Ziel, die Solarenergie der von Spritschluckern besser angelegt als im Klima-
auszubauen – über die effiziente Nutzung von Biomasse schutz?
für Strom und Wärme finde ich auch nichts. Hier haben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie nichts auf den Weg gebracht. Das Marktanreizpro-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Maria
gramm, das Sie endlich in den Haushalt aufgenommen
Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja, Frau Steiner, das
haben, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich kann Ih-
machen Sie doch mal!)
nen nur sagen: Eine echte Energiewende sieht anders
aus. – Ja, gerne.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich komme zu meinem letzten Punkt. Sie haben uns
sowie bei Abgeordneten der SPD) zum Dialog über die Endlagerung des Atommülls einge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14429
Dorothea Steiner
(A) laden. Gorleben soll ja ergebnisoffen erkundet werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
2010 hatten Sie dafür im Haushalt 46 Millionen Euro neten der FDP)
vorgesehen; auch das war schon überdimensioniert. Sie
steigern das aber noch: 2012 und in den Folgejahren Ulrich Petzold (CDU/CSU):
wollen Sie für 73 bzw. 76 Millionen Euro jährlich erkun-
den. Da drängt sich der Verdacht auf, dass hier Fakten Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr ge-
geschaffen werden. Wir finden es sehr bemerkenswert, ehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-
dass hier ein Atomfilz auflebt, wie wir ihn von früher legen! Herr Dr. Miersch, Sie haben ein bisschen Demut
kennen. Die Eignungsprognose für Gorleben soll 2013 verlangt. Eine Frage: Warum haben wir in den letzten
abgegeben werden. Für die vorbereitende Sicherheits- Wochen mehr als 20 Prozent Energieerzeugung aus den
analyse – 2,6 Millionen Euro – erhält der gescheiterte erneuerbaren Energien erreicht? Ich glaube, es ist eine
Vattenfall-Manager Bruno Thomauske den Auftrag. Da große Leistung, die wir hier vollbracht haben.
sage ich nur: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt im Hin- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
blick auf das zu erwartende Ergebnis der Eignungspro- NEN]: Was? Die Bürgerinnen und Bürger!)
gnose.
Ein bisschen Freude wenigstens an dieser Stelle wäre
Noch ein Wort zum Dialog, Herr Röttgen: 4,7 Millio- schon angebracht.
nen Euro ist Ihnen der Dialog mit den Bürgerinnen und
Bürgern des Wendlands wert. Im Wendland wird dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dialog nur „Dialüg“ genannt. neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Mit der Laufzeitverlängerung
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wäre es anders kommen!)
Zu Recht!)
Sie setzen dieses Geld im Titel „Öffentlichkeitsarbeit für Ich glaube, dass man an dieser Stelle etwas vernünftiger
Endlager“ an. Ich schlage Ihnen vor – das ist auch ein miteinander debattieren sollte.
guter Vorschlag für die Endlagerdiskussion –: Stecken Frau Steiner, Sie sprachen es eben an: Wir haben in
Sie dieses Geld doch lieber gleich in die alternative er- diesem Haushalt im Endlagerbereich einen Minderbe-
gebnisoffene Standortsuche; dann können Sie über darf von 35 Millionen Euro. Man sollte jetzt die Kirche
8 Millionen Euro im Jahr dafür einsetzen. Das Geld ist im Dorf lassen und vielleicht zunächst über den Haushalt
dann nicht zum Fenster hinausgeworfen wie beim Gorle- sprechen; denn darüber habe ich bisher noch nicht so
ben-Dialog. sehr viel gehört.
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
NEN]: Das nehmen Sie aus dem Energie- und
Klimafonds! Das stimmt nicht!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Die Mitglieder des Umweltausschusses von der CDU/
CSU sehen weitaus kritischer, dass der Programmhaus-
halt um 21,7 Millionen Euro – bei einer Gesamtabsen-
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kung des Einzelplans 16 um 2,6 Prozent – abgesenkt
Ich komme zum Schluss. – Der NDR hat in Nieder- werden soll. Man sollte jedoch aus dieser unbefriedigen-
sachsen im Mai dieses Jahres Menschen zum Problem den Situation nun nicht den Untergang des Abendlandes
der Atommüllendlagerung befragt. 11 Prozent der Be- machen. Als ich von der Absenkung im Umwelthaushalt
fragten waren dafür, dass Alternativstandorte nur unter- um 2,6 Prozent hörte, fiel mir recht schnell der Haushalt
sucht werden, wenn Gorleben ungeeignet ist. 84 Prozent 2005 ein. Auch im Jahr 2005 sind die Mittel des Um-
der Befragten hingegen sind der Meinung, dass parallel welthaushalts um 2,6 Prozent gesenkt worden. Wir soll-
Alternativstandorte untersucht werden sollten. ten deshalb heute vernünftig über den Haushalt debattie-
ren, Argumente austauschen und aufeinander eingehen;
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dann haben wir sehr viel mehr erreicht.
Frau Kollegin!
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie
können ja mal damit anfangen!)
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Meinung sind wir auch. Ich appelliere an die Wir alle wissen, dass die Umweltausgaben im Einzel-
Bundeskanzlerin und an Herrn Röttgen, konsequent zu plan 16 nicht die ganze Wahrheit sind. Ein Großteil der
sein und in diesem Jahr endlich mit einer ernstgemeinten Umweltausgaben der Bundesregierung versteckt sich in
Endlagersuche anzufangen. anderen Einzelplänen. Insgesamt sind im Bundeshaus-
halt 2012 7,4 Milliarden Euro für den Umweltschutz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN veranschlagt. 2011 waren es nur 6,5 Milliarden Euro und
und bei der SPD) 2010 unter Herrn Finanzminister Steinbrück 6,3 Milliar-
den Euro. So weit die Zahlen. Dazu kommen noch etwa
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 5 Milliarden Euro aus dem ERP-Sondervermögen, von
Der Kollege Ulrich Petzold hat das Wort für die CDU/ der KfW und aus dem Energie- und Klimafonds, die
CSU-Fraktion. nicht im Bundeshaushalt verankert sind.
14430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Ulrich Petzold
(A) Im Einzelnen: Es entspricht durchaus unserer Inten- Eine weitere Unsitte der letzten Jahre war der Ersatz (C)
tion, wenn eine Umschichtung von der Förderung von von Beschäftigungen auf Dauerstellen durch befristete
Einzelmaßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien Beschäftigungsverhältnisse. Auch hier wieder das UBA
im Titel 686 24 erfolgt, und zwar mit jeweils 10 Millio- als Beispiel: Von den 1 549 dort beschäftigten Mitarbei-
nen Euro hin zu Forschungs- und Entwicklungsaufgaben terinnen und Mitarbeitern haben 423 nur einen Zeitver-
sowie hin zu Investitionszuschüssen für erneuerbare trag. Abgesehen davon, dass ein solcher Zeitvertrag für
Energien im gleichen Kapitel. die Lebensplanung junger Menschen nicht förderlich ist
und wir schon aus diesem Grund etwas machen sollten,
Das Problem bei den erneuerbaren Energien ist nicht muss ich sagen, dass die Befristungsgründe, die teil-
eine weitere Steigerung ihrer Produktion – sie kommt –, weise in den Arbeitsverträgen stehen, in arbeitsrechtli-
sondern die grundsätzliche Frage der Speicherung der cher Hinsicht eine ganz wacklige Angelegenheit sind.
erzeugten Energie und die Wiedererlangung von Spit-
zenplätzen bei diesen Technologien. Um zum Beispiel (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
die deutsche Photovoltaikindustrie mittel- und langfris- LINKE])
tig zu sichern, unternimmt die Bundesregierung An-
Die Befristungen, insbesondere die Kettenbefristungen
strengungen, indem sie die Innovationsallianz der Unter-
bei gleichbleibenden Arbeitsaufgaben, wirken sich nega-
nehmen ausbaut und unterstützt. Damit hat das BMU
tiv aus. Letztendlich kommen uns die befristeten Stellen
einen wesentlichen Anteil an der Forschungsförderung.
teurer, als wenn wir dort Dauerstellen einrichten würden.
Forschung ist ein Schwerpunkt dieses Haushalts. So ist
Im Rahmen unserer Haushaltsberatungen sollten wir zu-
der Titel „Forschung, Untersuchungen und Ähnliches“
mindest erste Schritte unternehmen, um der Befristungs-
im Bereich des Umweltschutzes unter Minister Röttgen
unsitte zu begegnen.
innerhalb der letzten beiden Jahre um mehr als ein Drit-
tel angewachsen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ein wichtiges Anliegen unserer Umweltarbeitsgruppe
Nachdem ich seit Jahren immer wieder darauf hin- nach dem Auslaufen der Bonus-Malus-Regelung bei der
weise, dass die Personalsituation beim BMU und bei den Durchsetzung des Dieselrußpartikelfilters im Straßen-
nachgeordneten Behörden unbefriedigend ist, bringt die- verkehr ist die Wiedereinführung der Förderung der Fil-
ser Haushalt endlich eine gewisse Verbesserung. Bereits ternachrüstung. Wir haben in den letzten Wochen schon
im vorigen Haushalt war damit begonnen worden, die intensive und vernünftige Gespräche darüber geführt.
Planstellen der oftmals seit mehreren Jahren vom UBA, Ich glaube, dass wir hier im Rahmen des Haushaltes
BfN und BfS in das Ministerium abgeordneten Mitarbei- durchaus etwas auf den Weg bringen können, das unse- (D)
(B) ter auch haushalterisch wirklich im Ministerium anzusie-
ren Interessen als Umweltschützer gerecht wird. Wir
deln. Dies wird nun mit 32 weiteren Planstellen fortge- wissen, dass Sie, Herr Bundesminister, uns bei diesen
setzt. Das verstehe ich unter Haushaltswahrheit und Gesprächen unterstützen. Wir freuen uns auf die weite-
-klarheit. Ich bin Minister Röttgen dankbar, dass er hier ren Gespräche und hoffen auf guten Erfolg.
mit den Taschenspielertricks seiner Vorgänger aufhört.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wenn allerdings 20 Beschäftigte durch Teilzeitbeschäfti- neten der FDP)
gungen mit einem Stellenvolumen von 18,25 Stellen in
das Ministerium versetzt werden und dem UBA 20 volle
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Stellen gestrichen werden, so ist das zu kritisieren, Herr
Minister. Die Kollegin Dr. Bärbel Kofler hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Ein weiteres Problem im Personalbesatz ist die Zu-
(Beifall bei der SPD)
weisung neuer Aufgaben, ohne diese ausreichend durch
Stellenzuweisungen zu untersetzen. Erlauben Sie mir, als
Beispiel für meine Ausführungen die Konsequenzen zu Dr. Bärbel Kofler (SPD):
beleuchten, die die forcierte Umsetzung der Ener- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
giewende für das Umweltbundesamt in Dessau hat: Die gen! Herr Minister, ich finde es spannend, dass Sie am
von uns unmittelbar vor der Sommerpause beschlosse- Anfang dieser Debatte Umfragen über die Einschätzung
nen Gesetze spiegeln sich bis jetzt längst noch nicht aus- der Bevölkerung zum Thema erneuerbare Energien zi-
reichend in der dortigen Stellenplanung wider. Stauun- tiert haben. Wir freuen uns alle, dass die Bevölkerung
gen und Stockungen zum Beispiel bei der Analyse der den erneuerbaren Energien einen hohen Stellenwert bei-
wirtschaftlichen Auswirkungen der Energiewende oder misst. Aber ich hätte gerade von einem Minister erwar-
der Etablierung von Informationsinstrumenten zum Mo- tet, dass sich dieser Stellenwert in Ihrem Haushaltsplan,
nitoring und zur besseren Politiksteuerung sind abseh- dem Einzelplan 16, wiederfindet. Genau das tut er nicht.
bar. Es besteht die Gefahr, dass uns das Sparen in diesem
(Beifall bei der SPD)
Bereich der Energiewende viel kosten wird. Ich begrüße
es daher, dass es zu dem Angebot kommt, zusätzliche Es ist viel über andere Einzelpläne und den Fonds ge-
Fachkräfte mit ihren Stellen aus dem Bundesverteidi- sprochen worden. Dazu werde ich auch noch einiges sa-
gungsministerium in das UBA umzusetzen. gen. Aber man muss feststellen: Im Einzelplan 16 sinken
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14431
Dr. Bärbel Kofler
(A) die Mittel für den Bereich erneuerbarer Energien um liarde Euro, die uns für die CO2-Gebäudesanierung zur (C)
15 Millionen Euro. Das ist eine Tatsache. Das spiegelt Verfügung steht. Was ist in diesem Jahr mit den 500 Mil-
nicht den Wunsch der Bevölkerung wider, den Sie ge- lionen Euro passiert? Nicht ein einziger Euro ist dafür
rade selber angesprochen haben. eingesetzt worden. Das ist die Wahrheit.
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Es geht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nicht um Schönheitskonkurrenz, sondern um DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Hört!
praktische Politik!) Hört! So viel zum Thema Haushaltswahrheit
und -klarheit!)
Sie versuchen, mit dem von Ihnen oft ins Spiel ge-
brachten Energie- und Klimafonds die epochale Ener- So kann man mit diesem Thema, das für die Energiewende
giewende, wie Sie sie im letzten Jahr bezeichnet haben, von großer Bedeutung sein wird, nicht umgehen. Die
voranzubringen. Hier werden hohe Ansprüche formu- Frage ist: Wie können wir den gesamten Wärmesektor so
liert, aber sie sind nicht mit einer soliden Finanzierung finanzieren, dass wir tatsächlich zu Effizienzgewinnen
unterlegt; denn wie es auf der Einnahmeseite aussieht, bei der Wärmeversorgung gelangen und damit zu Einspa-
ist mehr als fraglich. Der Bundesrat stellt fest, dass die rungen, die der Bevölkerung zugutekommen?
zu erwartenden Versteigerungserlöse voraussichtlich Vonseiten der Regierungsfraktionen wurden die
nicht ausreichen werden, um den Mehrbedarf im Ener- 1,5 Milliarden Euro, die für das Jahr 2012 vorgesehen
gie- und Klimabereich zu finanzieren. Man kann argu- sind, angesprochen. Werfen wir einen Blick in den Wirt-
mentieren: Na ja, das sagt der Bundesrat. Deshalb schaftsplan. Im Förderprogramm 2012 sind 5 Millionen
möchte ich einen Verband zitieren, dessen Hauptge- Euro vorgesehen. Im Förderprogramm 2011 waren es
schäftsführerin der Union gut bekannt ist. Der Bundes- 60 Millionen Euro. So bringt man die energetische Ge-
verband der Energie- und Wasserwirtschaft mit Frau bäudesanierung nicht voran.
Hildegard Müller an seiner Spitze führt zu diesem Fonds
(Beifall bei der SPD)
aus:
Das, was Sie im Rahmen des Einzelplans 16 machen,
Wenn die Bundesregierung beabsichtigt, bereitet uns wirklich große Sorgen. Schauen wir uns an,
– speziell auf die CO2-Gebäudesanierung abzielend – was bei den Marktanreizprogrammen, bei den
MAP-Mitteln, passiert. Auch diese Mittel wurden in den
die CO2-Gebäudesanierung ab 2012 in Höhe von letzten Jahren kontinuierlich gekürzt. Das gilt auch für
1,5 Mrd. Euro p. a. ausschließlich aus dem Energie- diesen Haushalt, obwohl Sie sich rühmen, den Bereich
und Klimafonds zu finanzieren, dann ist dies aus- der erneuerbaren Energien zu fördern und voranzubrin-
drücklich abzulehnen. gen. Die MAP-Mittel im Einzelplan 16 werden gekürzt.
(B)
Jetzt kommt es: Durch den Fonds kommen dann 100 Millionen Euro (D)
wieder hinzu.
Eine Konsolidierung des Bundeshaushalts zulasten
des Energie- und Klimafonds verringert das Poten- (Michael Kauch [FDP]: Und was ist die
Summe? Das ist mehr als vorher!)
zial des Fonds zur Erfüllung seines eigentlichen
Zwecks weiter! Passiert dadurch wirklich etwas, oder schieben wir nur
wieder eine virtuelle Bugwelle in Form von Haushalts-
Das kommt nicht aus dem Willy-Brandt-Haus; das
mitteln, die nur auf dem Papier bestehen, vor uns her, die
kommt von einem Verband, dessen Hauptgeschäftsfüh- nicht zur Problemlösung beiträgt, weil die Mittel nicht
rerin gerade Unionskreisen sehr nahe steht. bei den Leuten ankommen und somit nichts Reelles im
Wenn man die tolle Finanzierung der CO2-Gebäude- Land produziert wird?
sanierung genau analysiert, die Sie im letzten Jahr in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mittelpunkt gestellt haben, dann fragt man sich, was
2011 passiert ist. Vor über zwei Jahren hatten wir ein Ich denke, dass den Marktanreizprogrammen eine
CO2-Gebäudesanierungsprogramm mit einer Größen- wesentlich größere Bedeutung beigemessen werden
ordnung von 2,2 Milliarden Euro. muss, weil sie neben dem anerkannten ökologischen
Nutzen auch große Potenziale zur Hebung von Steuer-
(Michael Kauch [FDP]: Mit Taschenspieler- aufkommen beinhalten, worüber hier viel gesprochen
tricks!) wurde. Das wird deutlich, wenn Sie sich vor Augen füh-
Das ist auf 1,5 Milliarden Euro abgesenkt worden. ren, dass durch 1 Euro Fördermittel 8 Euro Umsatz ge-
neriert werden – diese Zahl ist nicht von mir, sondern
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vom Ifo-Institut –, was wiederum Einnahmemöglichkei-
Genau!) ten für den Staatshaushalt mit sich bringt, durch Steuern
und Sozialversicherungsabgaben. Ich erinnere an die Ar-
Dann kam das Jahr 2011. Sie wollten die Mittel zuerst beitsplätze, die dadurch im Handwerk geschaffen wer-
auf gut 400 Millionen Euro kürzen. Dann kam der Auf- den können. Wenn man sich das genau anschaut, wird
schrei von der Bevölkerung, vom betroffenen Hand- klar, dass diese Programme aus ökologischen, aber auch
werk, von Investoren, von allen, die auf diesem Gebiet aus ökonomischen Gründen vorangetrieben werden
tätig sind, weil erkannt wurde: Das ist ökologischer und müssen. Genau hier passiert aber nichts.
ökonomischer Blödsinn. Was ist passiert? Nun kommt
der Haushaltstrick. Man hat 500 Millionen Euro aus dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Fonds genommen und gesagt: Es ist ja doch fast 1 Mil- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
14432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Bärbel Kofler


(A) Wenn so getan wird, als würde gerade beim Klima- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
schutz etwas getan, kann einem wirklich schlecht wer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
den. Im Einzelplan 16 sind für den Klimaschutz
120 Millionen Euro vorgesehen. Entsprechende Mit- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
telansätze waren übrigens auch in früheren Haushalts- Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
entwürfen vorhanden, zum Beispiel 2008 und 2009.
Diese Mittel werden im Grünbuch frech – ich möchte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
das wirklich „frech“ nennen – als Fast-Start-Mittel be- der CDU/CSU)
zeichnet. Auf der Klimakonferenz im Jahr 2009 in
Kopenhagen wurden Fast-Start-Mittel in Höhe von Michael Kauch (FDP):
1,26 Milliarden Euro zugesagt. Diese Mittel, die zum Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Op-
Teil schon vorher im Haushalt eingestellt waren, also gar position hat in dieser Umweltdebatte das schlechteste
keine Fast-Start-Mittel sein können, werden nun frech Bild seit langem abgeliefert. Das, was von der Opposi-
als solche bezeichnet, umetikettiert und als Mittel für tion hier vorgetragen wurde, war entweder ein Blick zu-
den internationalen Klimaschutz ausgewiesen. rück auf Dinge, die längst Geschichte sind, oder man
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE jammerte darüber, dass man nicht genug Geld ausgibt.
GRÜNEN]: Alles nur Buchungstricks!) Natürlich gibt es Risiken, auch hinsichtlich der Preise
für die CO2-Zertifikate, weil davon das Volumen des
Ich denke, die Zahlen von Oxfam sind deutlich: 88 Pro- Energie- und Klimafonds abhängig ist. Aber was ist Ih-
zent der in diesen Bereich geflossenen Mittel wurden auf rer Ansicht nach bitte die Alternative? Lautet Ihre Alter-
anderen Konferenzen längst zugesagt und lediglich um- native mehr Geld für den Bundeshaushalt? Dann müssen
etikettiert. Bestes Beispiel ist die UN-Artenschutzkonfe- Sie das sagen. Sie müssen mir dann erklären, warum sich
renz von 2008. Die dort zugesagten Mittel für den Wald- Herr Kuhn heute Morgen hier hinstellt und sagt, es
schutz wurden auf der Konferenz in Kopenhagen noch müsse noch viel mehr gespart werden als das, was von
einmal verkauft. der Bundesregierung eingespart wird. Die Fachpolitiker
(Ulrich Kelber [SPD]: 88 Prozent, Herr von Rot und Grün im Bereich Umwelt bringen nur For-
Röttgen! Den Ärmsten der Armen weggenom- derungen nach Mehrausgaben, nach weniger Konsoli-
men!) dierung und nach mehr Schulden. Das ist die Politik, die
Sie hier vortragen.
Schauen wir uns an, was in dem Fonds enthalten ist.
Der Einzelplan wies 70 Millionen Euro für den interna- (Beifall bei der FDP – Dorothea Steiner
tionalen Klimaschutz in einem Extratitel aus. Dieser Ti- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben
(B) tel wurde gestrichen. Was enthält der Fonds jetzt? nicht zugehört! – Ulrich Kelber [SPD]: Sub- (D)
42,5 Millionen Euro, die auf BMU und BMZ verteilt ventionsabbau!)
wurden: BMU 45 Prozent und BMZ 55 Prozent. Das ist Das ist nicht das, was Sie in den großen Reden erzählen,
ein toller Beitrag zum internationalen Klimaschutz, den wenn Sie sagen, man müsse die Haushalte konsolidieren.
Sie mit diesem Haushalt leisten. Die internationalen Ver- Die Wahrheit ist, dass das Ihre Politik ist.
pflichtungen, die wir eingegangen sind, werden dadurch
in keiner Weise erfüllt. Diesen Verpflichtungen werden (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir so nicht gerecht. NEN]: Milliarden von Subventionen ab-
bauen!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Ihre Politik baut auf mehr Schulden, nicht auf weni-
ger Schulden. Das ist auch kein Wunder; denn es war
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ihre Regierung mit Herrn Trittin als Minister und Herrn
Frau Kollegin, Sie sind am Ende Ihrer Rede? Steinmeier als Kanzleramtsminister, die 2004 dafür ge-
sorgt hat, dass die Maastricht-Kriterien in den Müll ge-
schmissen wurden.
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Ich denke, der Haushaltsentwurf und ein Blick auf die (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Einzelpläne machen deutlich – und dabei ist es egal, ob Das ist Vergangenheit! Sie reden über die Ver-
es um den Bereich Umwelt oder Verkehr oder die eierle- gangenheit!)
gende Wollmilchsau, also den Energie- und Klimafonds,
Mit dieser unsoliden Politik hat die Finanzkrise begon-
geht –, dass man weder die Energiewende finanziert
nen.
noch den Herausforderungen des Klimawandels ordent-
lich begegnet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Ulrich Kelber [SPD]: In den drei Jahren mit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den höchsten Schulden in Deutschland hat die
Frau Kollegin! FDP mitregiert! Das sind drei Jahre mit Re-
kordverschuldung! – Christian Lange [Back-
nang] [SPD]: Da spricht der Richtige!)
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Es tut mir leid, aber dieser Haushaltsentwurf ist ein Deswegen sollte Frau Kofler mit der Volksverdum-
weiterer Beleg dafür, dass Sie es nicht können. mung hier nicht weitermachen, wenn sie uns erzählen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14433
Michael Kauch
(A) möchte: 2009, als die SPD regierte, hatte man 2,2 Mil- Förderung der Gebäudesanierung im Bundesrat abge- (C)
liarden Euro für das Gebäudesanierungsprogramm. lehnt.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist längst (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ausgegeben!) Worüber reden Sie eigentlich? Kommen Sie
zur Sache!)
Mit welchem Taschenspielertrick hat Ihr Minister das
damals gemacht? Die Große Koalition hatte beschlos- Das zeigt: Klimaschutz ist Ihnen im Wesentlichen nichts
sen, dreimal 1,5 Milliarden Euro für die Gebäudesanie- wert. Sie gestalten nur Ordnungsrecht. Sie sind nicht be-
rung bereitzustellen, dann sollte Schluss sein. Im Wahl- reit, auch nur einen müden Euro aus dem eigenen Landes-
jahr 2009 kam dann diese Idee auf: Geben wir doch das etat auszugeben. Sie wollen immer nur Geld vom Bund.
Geld aus den Jahren 2010 und 2011 schon im laufenden Die Länder, die rot und grün regiert sind, wollen keinen
Jahr aus, damit ich Bauminister mich hinstellen und das Beitrag leisten.
Manna unter das Volk streuen kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Ulrich Kelber [SPD]: Gebäudesanierung Manna Der Umweltminister hat es deutlich gemacht: Nach-
für das Volk? Das ist interessant!) dem wir erfolgreich ein neues Erneuerbare-Energien-
Das hat er sich so gedacht. Das ist unsolide Politik. Sie Gesetz durchgesetzt haben, werden wir auch eine Lö-
rühmen sich noch dafür und sagen, Sie hätten 2,2 Mil- sung für erneuerbare Wärme finden. Es bestehen riesige
liarden Euro ausgegeben. Sie müssten sich für diese Potenziale für erneuerbare Energien. Ökoheizungen sind
Taschenspielertricks schämen, die Sie in Ihrer Regie- in Deutschland noch nicht am Ende ihres Potenzials. Da
rungszeit angewendet haben. reicht es eben nicht, nur Steuergelder hineinzugeben,
sondern da müssen wir das tun, was im Koalitionsver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) trag angelegt ist, nämlich ein haushaltsunabhängiges In-
strument schaffen, das die gesicherte und dauerhafte
Sie müssen sich noch für etwas anderes schämen. Finanzierung eines Anreizes möglich macht, so wie es
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die FDP vor der Wahl versprochen hat.
NEN]: Wer genau?) Wir werden neben dem Thema Energie auch einige
Sie können sich nicht hinstellen und von dieser Regie- andere Themen angehen müssen. Ich nenne beispiels-
rung immer mehr Mittel für die Gebäudesanierung ver- weise das Thema umweltfreundliche Förderung von un-
langen, Mittel für eine Gebäudesanierung, die notwendig konventionellem Erdgas. Hier werden wir Lösungen für
ist, weil die Bürger Energiekosten in einer Höhe zahlen, die Frage, wie wir diese Möglichkeit der Versorgungs-
(B)
die dazu führt, dass die zweite Miete ein immer wesent- sicherheit mit Grundwasserschutz verbinden, finden (D)
licherer Bestandteil der Wohnkosten wird, und die wich- müssen. Der Grundwasserschutz muss hier Priorität ha-
tig ist, weil wir Energie und CO2 einsparen müssen. ben. Deshalb muss die Umweltverträglichkeitsprüfung
in diesem Bereich ausgeweitet werden.
Sie stellen sich hin und fordern von uns, hier mehr zu
Wir müssen im Bereich der Partikelfilterförderung
tun. Diese Koalition beschließt dann: Wir finanzieren
– das hat Kollege Petzold gesagt – insbesondere bei den
das Gebäudesanierungsprogramm dauerhaft und nicht
leichten Nutzfahrzeugen vorankommen. Ich sage für die
nur für drei Jahre, wie es die SPD beschlossen hatte. Wir
FDP aber auch ganz klar: Wer neue Förderprogramme
machen eine gesicherte Finanzierung mit einem Pro-
will, muss eine Gegenfinanzierung liefern. Das ist solide
grammvolumen von 1,5 Milliarden Euro, und wir be-
Haushaltspolitik.
schließen eine steuerliche Förderung der Gebäudesanie-
rung. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist kein neues
Förderprogramm!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Wo ist das denn
gesichert?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Auch Ihre Fachpolitiker haben uns immer gesagt: In Herr Kauch.
den 90er-Jahren, als der Steuervorteil abgeschafft wurde,
hat sich die Sanierungsquote halbiert. Daraus haben wir
Michael Kauch (FDP):
gelernt. Wenn wir die Sanierung von Gebäuden wirklich
wollen, und zwar gerade von Privatleuten und nicht nur Dafür stehen wir als FDP-Bundestagsfraktion, aber
von den großen Wohnungsbaugesellschaften, dann muss auch als Koalition hier im Deutschen Bundestag.
man in diesem Bereich steuerlich fördern. Das hat diese Vielen Dank.
Regierung, diese Koalition im Bundestag, beschlossen.
Es waren Sie, die Roten und die Grünen im Bundesrat, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die das verhindert haben. der CDU/CSU)

Der grüne Umweltminister in Nordrhein-Westfalen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


stellt sich groß hin und sagt: Ich mache ein Klimaschutz- Eva Bulling-Schröter hat jetzt das Wort für die Frak-
gesetz, das ist alles ganz toll. Sobald die nordrhein-west- tion Die Linke.
fälische Landesregierung aber auch nur ein paar müde
Euro an Steuerausfällen befürchtet, wird die steuerliche (Beifall bei der LINKEN)
14434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

(A) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): eine soziale Zeitbombe ist. Nach und nach werden nun (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! neue und in der Zukunft verschärfte Wärmeschutzver-
Sie von der Koalition stellen wiederum eine ganze ordnungen von Eigentümern umgesetzt. Das ist erst ein-
Menge Geld zur Verfügung, nicht etwa um Betriebe zu mal gut – ganz klar –, auch wenn die Sanierungsraten
motivieren, ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren, sondern noch viel zu niedrig sind; da sind wir uns einig. Wie das
um den internationalen Kohlenstoffmarkt auszubauen. alles finanziert werden soll, ist aber nach wie vor weitge-
Wir haben hier schon öfters über diese Kohlenstoff- hend unklar. Kurzfristig wären 2 Milliarden Euro und
märkte gesprochen. Ich kann nur wiederholen: Seitdem mittelfristig bis zu 5 Milliarden Euro öffentlicher Mittel
klar wurde, dass europaweit krisenbedingt nicht so viel pro Jahr notwendig, um die Sanierungen sozial abzufe-
produziert wird und 1,4 Milliarden Emissionsberechti- dern. Wir finden jedoch nur rund 840 Millionen Euro im
gungen überschüssig am Markt sind, sinkt der Preis der Bundeshaushalt und im Energie- und Klimafonds; mehr
Zertifikate unaufhaltsam, und zwar auf gegenwärtig haben wir nicht gefunden. Das ist natürlich eindeutig zu
mickrige 12 Euro je Tonne CO2. Bei diesem Preis dürf- wenig; hier schließe ich mich Ihnen an. Ich sage Ihnen:
ten sich aber Klimaschutzinvestitionen für die meisten Sie sind verantwortlich, wenn die Mieten nach den Sa-
Unternehmen kaum lohnen. nierungen rasant ansteigen, und das werden sie. Gerade
für viele Bezieher unterer Einkommen und langjährige
Sehen wir von den erneuerbaren Energien ab, treten Mieter wird dies quasi Entmietung bedeuten. Dagegen
Sie bezüglich des technologischen Einstiegs in eine koh- müssen wir uns wehren. Die Leute müssen sich das noch
lenstoffarme Wirtschaft auf der Stelle. Wir haben nichts leisten können.
anderes als ein Mitschwimmen der CO2-Emissionen mit
dem jeweiligen Wirtschaftswachstum, aber keinen tat- (Beifall bei der LINKEN)
sächlichen Strukturwandel in der Industrie. Fast alle
Statt für die Armen ist aber Geld für die energieinten-
Anreize für die Energiewende kommen aus dem Erneu-
sive Industrie da. Die größeren Unternehmen verdienen
erbare-Energien-Gesetz und dem erkämpften Atomaus-
bereits aufgrund der Ermäßigungsregelungen des Erneu-
stieg. Der zur Wunderwaffe erklärte Emissionshandel
erbare-Energien-Gesetzes in Millionenhöhe. Schließlich
spielt dagegen momentan kaum noch eine Rolle. Im letz-
bringt ihnen die Preissenkung an der Strombörse infolge
ten Jahr sind die CO2-Emissionen wieder gestiegen. In-
nicht mehr benötigter teurer fossiler Kraftwerke mehr,
dustrie- und Energiewirtschaft Deutschlands haben Zer-
als sie an EEG-Umlage zu zahlen haben. Künftig sollen
tifikate hinzugekauft, auch aus dem Ausland. Diese sind
sie noch 500 Millionen Euro aus dem Energie- und Kli-
im globalen Süden, also vor allem in Entwicklungslän-
mafonds erhalten. Zudem sind sie fast vollständig von
dern, besonders billig; denn hier handelt es sich vielfach
der Ökosteuer befreit und müssen auch kaum CO2-Zerti-
um Dumpingzertifikate, deren ökologische Wirksamkeit
(B) nach wie vor infrage steht. fikate ersteigern. Ich sage Ihnen, meine Damen und Her- (D)
ren von der Koalition: Das ist Lobbypolitik auf Kosten
Nach jahrelangem Tauziehen auf UN-Ebene sind die der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und der Strom-
HFC-23-Billigzertifikate – es handelt sich dabei um Ab- kunden.
fallprodukte von Kältemitteln – immer noch nicht vom
Markt. RWE und Co haben sich damit reichlich einge- Wir brauchen das Geld natürlich auch für etwas ande-
deckt und können sie noch bis 2012 nutzen. Ich halte das res: um Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen im
für einen Skandal. globalen Süden vernünftig zu finanzieren.

(Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Sogar Kohlekraftwerke kann man neuerdings im globa- Frau Kollegin.
len Süden bauen und sich anschließend dafür Klima-
schutzgutschriften für zu Hause ausstellen lassen. Das Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
halte ich für umweltpolitischen Irrsinn. Es gibt internationale Verpflichtungen, die wir bedie-
(Beifall bei der LINKEN) nen müssen. Diese Mittel dürfen nicht auf das 0,7-Pro-
zent-Millenniumsziel angerechnet werden.
Das Hauptanliegen des Umweltministeriums in dieser
Frage scheint aber laut Haushaltsentwurf zu sein, die bi-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
lateralen Rahmenbedingungen für den CDM-Mechanis-
mus mit Konferenzen in Nordafrika, zu denen die deut- Frau Kollegin.
sche Industrie mitgeschleppt wird, mit Workshops in
China oder Indien und dergleichen mehr zu verbessern. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Ich finde, wenn man CDM schon nicht verbieten kann, Ich sage Ihnen: Sie machen eine Haushaltspolitik mit
sollten Deutschland und die EU lieber mehr Geld darauf doppeltem Boden. Wir werden diesem Haushalt so nicht
verwenden, den Umweltnutzen dieser Produkte zu prü- zustimmen.
fen, als den faulen Mechanismus weiter zu pushen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Im Inland besteht die vielleicht größte Herausforde- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
rung nach dem Energiesektor in der energetischen Ge- Undine Kurth hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
bäudesanierung, aus unserer Sicht auch deshalb, weil das Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14435

(A) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit … und im (C)
GRÜNEN): Bundesamt für Naturschutz … gegeben sein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr gut! Das Problem wurde offensichtlich erkannt.
Herr Minister! Liebe Gäste auf den Rängen! Vorhin hat Weiter unten heißt es:
der Kollege Franke in der Debatte gesagt, es gehe um
Politik, nicht um Zahlen. Dazu kann ich nur sagen: Irr- Aufgrund der bereits … erbrachten Stellenkürzun-
tum! Zahlen sind Politik. Hier legen wir die großen Li- gen und eines gleichzeitig wachsenden Aufgaben-
nien fest: Was ist grundsätzlich wichtig? Wofür wollen bestandes sind die personellen Ressourcen sowohl
wir Geld ausgeben? Wofür wollen wir kein Geld ausge- im BMU als auch im BfN äußerst knapp.
ben? Herr Minister, wir Grünen meinen, hier gibt es
nicht nur erfreuliche Zahlen. Das möchte ich an zwei Offensichtlich ist auch das eine realistische Einschät-
Beispielen aus dem Bereich Naturschutz belegen. Wir zung. Daher ist es verblüffend, dass auf der nächsten
sind nämlich der Meinung, dass der Naturschutz in einer Seite steht, dass ab 2011 zwölf Stellen abzubauen sind.
Debatte über den Haushalt des Umweltministeriums (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht nur beiläufig vorkommen sollte. NEN]: Das ist ja unglaublich!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wenn man im BfN richtig nachfragt, dann erfährt
bei der SPD und der LINKEN) man, dass im Zeitraum 2011 und 2012 16 Stellen einen
kw-Vermerk haben, was keine Nachbesetzung beim
Punkt eins: Energiewende. Dieses Thema ist heute
Ausscheiden eines Mitarbeiters bedeutet. In der Zeit von
schon oft angesprochen worden. Gut, dass sie getragen
2010 bis 2014 tragen gar 30 Stellen einen kw-Vermerk.
wird. Gut, dass auch bei Ihnen angekommen ist, dass die
Da kann es wohl wirklich nicht als Durchbruch angese-
Atombrücke in die Zukunft nicht trägt und dass Sie sa-
hen werden, wenn im BfN 3 Stellen im höheren Dienst
gen: Wir müssen die Energiewende jetzt einleiten. – Da-
geschaffen werden, um alle Aufgaben, die mit Offshore-
mit sind wir sehr einverstanden. Wir hätten es gerne frü-
Anlagen zu tun haben, zu erfüllen. Wenn man dann noch
her gehabt, aber okay.
weiß, dass momentan 70 Anträge bearbeitet werden
Wer das will, der muss sich eingestehen, dass auch müssen, dann kann ich nur sagen: Herr Schäuble hat
Konflikte zu bewältigen sind, nämlich Interessenkon- heute früh ganz offensichtlich einen Irrtum begangen,
flikte. Ich nenne nur die Beispiele Umnutzung von Wäl- als er sagte, mit diesem Haushalt seien die Voraussetzun-
dern und Monokulturen beim Anbau von Energiepflan- gen geschaffen, die energiepolitischen Entscheidungen
zen; der Begriff der Vermaisung der Landschaft ist Ihnen vom Juni umzusetzen. – Nichts da! Mit diesen Entschei-
allen sicher bekannt. Wir wissen, dass auch die Wind- dungen werden wir sie nicht umsetzen, es sei denn, wir
(B) energienutzung, offshore wie onshore, durchaus Probleme opfern den Naturschutz. (D)
mit sich bringt. Wir wollen unbedingt den beschleunigten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausbau von Energietrassen. Richtig! Aber um diese Kon-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
flikte bewältigen und wirklich gute Lösungen anbieten zu
können, braucht es zwei Dinge: Wir brauchen eine inhalt- Punkt zwei: Biodiversitätsschutz. Auch hier gilt: Wir
liche Grundlage für die Entscheidungen, und wir brau- haben eine Menge internationaler Verpflichtungen. Wir
chen eine Verfahrensbeschleunigung. Wir wollen die wissen, was zu leisten ist. 2010 ist das Ziel verfehlt wor-
Energiewende doch, wie ich denke, im gewünschten den. Wir haben einen strategischen Plan bis 2020, aber
Tempo durchführen. Wenn wir das schaffen wollen, dann leider kein Personal, um diese Aufgaben umzusetzen. Da
brauchen wir noch etwas: Verwaltungspersonal. nützt es überhaupt nichts, dass es ein Bundesprogramm
„Biologische Vielfalt“, ausgestattet mit 15 Millionen
Herr Kauch – Sie reden gerade mit dem Minister –,
Euro, gibt, wenn niemand da ist, der die Aufgaben erle-
Sie betonen immer: Beschleunigung geht nur mit mehr
digen kann. Sie heißen Biotopverbund, Schutzgebiets-
Personal, sonst kommt man bei Verwaltungsverfahren
management, Gewässerschutz und Meeresschutz. All
nicht voran. Weil wir ahnen, dass da vielleicht ein Pro-
diese Dinge müssen personell begleitet werden.
blem liegen könnte, und weil wir wissen wollten, wie die
Situation wirklich aussieht, haben wir eine Kleine An- Wenn man dann sieht, was in diesem Haushalt ent-
frage an das Umweltministerium gestellt unter der Über- schieden wird, dann kann man daraus nur zwei Schlüsse
schrift: Personelle Situation im Bereich Naturschutz im ziehen: Entweder hat man keine Ahnung davon, was ge-
BMU. macht werden muss, oder man nimmt das Ziel nicht
ernst. Es gibt nur diese beiden Varianten.
Sie erlauben, dass ich zitiere. Die Antwort der Bun-
desregierung hat eine interessante Vorbemerkung: (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Bitte mal zuhören, Herr Minister! –
Die Bundesregierung misst der Aufgabe, den Aus- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
bau der erneuerbaren Energien möglichst naturver- Naturschutz ist ja nicht so wichtig!)
träglich zu gestalten, die öffentliche Akzeptanz für
die Energiewende zu fördern und die Anliegen des Deshalb sagen wir: Der Anteil des Haushaltes des
Klima- und Naturschutzes zu harmonisieren, einen Umweltministeriums beträgt – das haben wir gehört –
hohen Stellenwert zu. Dementsprechend müssen genau 0,5 Prozent vom Gesamthaushalt der Bundesrepu-
zur Erfüllung dieser Aufgabe fachlich-personelle blik. Das ist nicht gerade überbordend. Von diesen
Voraussetzungen im Bundesministerium für Um- 0,5 Prozent stehen nur 5,7 Prozent für den Naturschutz
14436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Undine Kurth (Quedlinburg)


(A) zur Verfügung, also 50 Millionen Euro. Auch da muss Das ist deutlich weniger als das, was wir erreicht haben. (C)
man sagen: Das ist nicht gerade eine gewaltige Summe. Mir geht es auch gar nicht um die Frage, wer denn ver-
Wenn man es ernst meint, dass Naturschutz für uns exis- antwortlich ist oder wer das bewegt hat,
tenziell ist und dass wir für den Naturschutz mehr tun
(Ulrich Kelber [SPD]: Wissen Sie, wie viel
müssen, dann müssen Sie selber in diesem Haushalt et-
Frau Merkel als Umweltministerin vorher ge-
was ändern. Wenn Sie es nicht tun werden, werden wir
nannt hatte?)
auf jeden Fall dafür sorgen und entsprechende Anträge
stellen. sondern darum, einfach einmal festzustellen, dass wir an
dieser Stelle erfreulich weit gekommen sind.
Es geht nicht darum, Manna vom Himmel fallen zu
lassen – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
ruf von der FDP: Wir sind die wahren Grü-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen!)
Frau Kollegin. Dass das aber nicht durch das Wenn und Aber mit
Vermaisung und anderen Themen sowie den entspre-
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE chenden Einschränkungen geht, wie es Frau Kurth ge-
GRÜNEN): rade wieder angeführt hat, muss uns allen doch auch klar
– sondern es geht darum, Aufgaben zu erfüllen, die sein.
wir alle als wichtig ansehen. Deshalb glauben wir: Das Nun dürfen Sie mir abnehmen, dass ich nicht zu den
hier ist nicht das Thema für das Wort zum Sonntag, zu Feinden erneuerbarer Energien gehöre, sondern eher zu
dem Sie manchmal neigen, Herr Röttgen, denen, die dieses Thema immer wieder deutlich unter-
stützen.
(Sören Bartol [SPD]: Er hört ja gar nicht zu!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sondern es geht um unsere Lebensgrundlagen. Das ist ja etwas ganz Neues!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich muss aber auch immer wieder ein bisschen Was-
und bei der SPD) ser in diesen Wein gießen. Momentan sind wir bei Diffe-
renzkosten von 3,5 Cent. Und wir alle wissen, dass wir
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Förderung erneuerbarer Energien eben nicht über un-
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für seren Staatshaushalt finanzieren, sondern über das Um-
die CDU/CSU-Fraktion. lagesystem dafür Sorge getragen haben, dass die Ver-
(B) braucherinnen und Verbraucher die Zeche für diese (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ganze Geschichte zahlen. Gerade deshalb haben wir eine
Verantwortung, hier sehr wohl aufzupassen, dass dieses
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Thema nicht zu teuer wird.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
alle haben erlebt, dass die Umweltpolitik von der Ener- GRÜNEN]: Bei Atom und Kohle zahlt man
giepolitik dominiert wird. Das war Kern vieler Reden. die Zeche über die Steuern!)
Ich hätte mir gewünscht, dass die Feststellung von Bun-
desumweltminister Röttgen, dass wir in diesem Jahr bei Man kann doch das eine tun, ohne das andere zu las-
den erneuerbaren Energien die 20-Prozent-Marke über- sen. Man kann doch die erneuerbaren Energien voran-
schritten haben, mit einem gemeinschaftlichen Applaus bringen, wie es diese Bundesregierung tut, und gleich-
bedacht wird und dass sich alle darüber freuen. zeitig aufpassen, dass es nicht zu teuer wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sie sind an dieser Stelle so empfindlich, weil Sie ge-
Stephan Thomae [FDP]: Das können wir jetzt nau wissen, dass Sie bei der Solarförderung zu früh an-
nachholen! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- gefangen haben. Sie haben nämlich versucht, das Thema
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn der so tut, als schon in den Markt zu bringen, als es noch ein Thema
sei das sein Verdienst!) von Forschung und Entwicklung war. Es ist der Sockel,
den wir seitdem vor uns herschieben, der das Thema So-
Stattdessen kamen hier reflexartig Unkenrufe: Wir lar immer wieder in die Schlagzeilen und immer wieder
könnten sehr viel weiter sein. in Verruf bringt.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (Sören Bartol [SPD]: Wo wären wir denn
GRÜNEN]: Ist ja auch nicht das Verdienst von jetzt?)
Herrn Röttgen!)
Jetzt haben wir die Problematik, dass wir alles dafür
Liebe Freunde von den Grünen, Ihr damaliger Umwelt- tun müssen, damit dieses Thema nicht an der falschen
minister Trittin hat im Jahr 2002 für das Jahr 2010 Stelle abgebrochen wird, weil es zu teuer wird, zum Bei-
12,5 Prozent vorhergesagt. spiel durch einen festen Deckel.
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ach ja! Und den Rest haben Sie ge- NEN]: Sie killen gerade die deutsche Solarin-
macht, oder was?) dustrie!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14437
Dr. Georg Nüßlein
(A) Wir sorgen weiter dafür, dass es sich im entscheidenden Dazu sagt jemand: (C)
Moment weiterentwickeln kann.
Dieses Projekt zerstört die Landschaft, belästigt die
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürger während der langen Bauphase mit Lärm und
Toller Freund der Erneuerbaren!) Dreck, und es gefährdet den Tourismus und die Kli-
niken vor Ort.
Das wissen Sie. Darum schreien Sie so laut. Sie wissen
sehr präzise, dass wir hier ein hohes Maß an Altlasten Wer hat das gesagt? Eine gewisse Ruth Cremer-Ricken,
mitschleppen. Vorsitzende des Grünen-Kreisverbands Waldshut, die
übrigens 2009 Bundestagskandidatin für die Grünen
Sie haben auch mitbekommen, dass der Ausbau in war.
diesem Jahr wieder so hoch sein wird, dass die automati-
sche Degression heftig zuschlägt. Davon müssen wir Das ist Ihr Problem und Ihre Politik: in der Theorie
ausgehen. Darauf muss man aus meiner Sicht alle, die an dafür, in der Praxis vor Ort dagegen. Ich bitte Sie drin-
diesem Thema beteiligt sind, vorbereiten. gend, damit aufzuhören.
Nach unserer festen Überzeugung muss sichergestellt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
werden, und zwar zeitnah, dass der Strom, der auf dem Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Dach produziert wird, erst einmal von dem Betreffenden Sie sind eine harte Nuss!)
ohne Subventionen selber genutzt und dass erst dann Ich darf noch jemand anderen zitieren, der auch in der
Strom eingespeist wird – und nicht umgekehrt, so wie es grünen Partei ist. Winfried Kretschmann hat in einem In-
momentan immer noch läuft, dass man den teuren Solar- terview gesagt:
strom einspeist und dann den billigen Strom vom Kraft-
werk kauft. Wir sind prinzipiell für Pumpspeicherkraftwerke.
Aber in einem dichtbesiedelten Industrieland, wie
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es Baden-Württemberg nun einmal ist, müssen wir
Die haben doch denselben Preis!) davon ausgehen, dass solche Infrastrukturprojekte
Das kann nicht die Lösung sein. Dorthin müssen wir generell auf örtlichen Widerstand treffen, weil sie
möglichst schnell kommen. in die lokale Umwelt eingreifen. Deshalb ist Wider-
stand vor Ort erst mal ganz normal.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die Preise sind doch gar nicht mehr unter- Ja, was denn nun? Ich erwarte, wie Sie vermutlich auch,
schiedlich! Sie leben hinter dem Mond!) von einem Ministerpräsidenten, der für erneuerbare
Energien und Energiewende steht,
(B) Das ist ein Interesse, das wir gemeinsam verfolgen soll- (D)
ten. (Sören Bartol [SPD]: Das Trauma sitzt tief!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass er klipp und klar Position bezieht und sagt: Das
muss sein. Das wollen wir umsetzen. Das müssen wir
Sie wissen auch sehr genau, dass wir in einem hohen voranbringen.
Ausmaß das Thema „Speicherung und Netze“ voran-
bringen müssen, und zwar möglichst schnell. Davon ist leider Gottes nichts zu merken.

Frau Kollegin Kurth hat gerade von Verfahrensbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
schleunigung, Personalbedarf und ähnlichen Dingen ge- der FDP)
sprochen. Als Erstes brauchen wir an dieser Stelle ein- Aber zu Ihrer Beruhigung: Sie stehen, was das Thema
mal ein bisschen mehr Ehrlichkeit von Ihrer Seite und Scheinheiligkeit angeht, nicht an der Spitze.
ein bisschen mehr Unterstützung für das Thema. Sie dür-
fen nicht theoretisch von 100 Prozent Erneuerbaren spre- (Sören Bartol [SPD]: Rein in das Atom, raus
chen, wenn Sie sich praktisch an jeder Bürgerinitiative aus dem Atom! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
gegen ein Pumpspeicherkraftwerk oder was auch immer DIE GRÜNEN]: Nein, da sind Sie
beteiligen. – Jetzt sagen Sie, das sei selbstverständlich. vorneweg! – Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/
Ich persönlich halte es auch für selbstverständlich, dass DIE GRÜNEN]: Ach! Ich dachte, Sie meinen
es so ist. die FDP!)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Der WWF und der BUND haben sich 2010 ihre Klagen
der FDP) gegen die Ostsee-Gaspipeline für 10 Millionen Euro ab-
kaufen lassen. Wenn man einem Bericht des NDR glau-
Die Realität sieht aber anders aus. ben darf, haben sie ihre Klagen für 10 Millionen Euro
zurückgezogen. Das ist hoch spannend.
Schauen wir uns nur einmal das Pumpspeicherkraft-
werk Atdorf im Südschwarzwald an. Der Baubeginn ist (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
für das Jahr 2014 geplant. 2018 soll das größte geplante Es geht um den Haushalt, Herr Nüßlein!)
Pumpspeicherkraftwerk in der Bundesrepublik dann fer-
tig sein. – Ich weiß, dass Ihnen das peinlich ist und es Ihnen lie-
ber wäre, wenn ich nur über den Haushalt reden würde.
(Ulrich Kelber [SPD]: Da flüchten selbst die Aber es geht auch darum – deswegen führe ich das an –,
Zuhörer von den Rängen!) dass wir, wie Sie vorhin gesagt haben, zu wenig Personal
14438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) hätten und mehr Geld ausgeben müssten; dann wären zes für eine bundesweite ergebnisoffene Suche unter (C)
alle unsere Probleme in diesem Bereich gelöst, und wir Einschluss von Gorleben vorgelegt: abgelehnt durch den
kämen schneller voran. Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer Norbert
Röttgen. Das ist das Faktum in dieser Frage.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nicht alle, aber ein paar!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nein, geben Sie erst einmal den politischen Wider-
stand vor Ort auf! Dann kommen wir ein ganzes Stück Die Unterlagen sind noch vorhanden, Herr Kollege
schneller voran, wenn Sie die Projekte positiv begleiten. Röttgen. Wir können sie gerne vorlegen, wenn Sie sich
nicht mehr daran erinnern.
Das ist ein frommer Wunsch von mir an Sie. Ich weiß,
dass Sie ihn nicht erfüllen werden. Sie haben im Oktober 2010 von dieser Stelle aus die
Laufzeitverlängerung bis 2040 als Revolution verkauft,
Vielen Dank.
nicht etwa in einer nüchternen Rede, sondern wie üblich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mit Pathos und weit ausholenden Armbewegungen. Im
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- März 2011 wollte er uns dann weismachen, dass er
NEN]: War das peinlich!) schon damals gegen seinen eigenen Vorschlag gewesen
ist, und im Juni 2011 hat er auch von diesem Pult aus mit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: einem Fingerzeig zur Opposition gesagt, dort säßen die
Ulrich Kelber hat das Wort für die SPD-Fraktion. Parteien, die sich nicht um den Einstieg in die erneuerba-
ren Energien gekümmert hätten.
(Beifall bei der SPD)
Kurzer Faktencheck: Bei der Abstimmung über das
Erneuerbare-Energien-Gesetz im Jahr 2000 ist im Proto-
Ulrich Kelber (SPD):
koll die Gegenstimme von Dr. Norbert Röttgen ver-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
merkt. Bei der Abstimmung über die erste Novelle 2004
Herren! Die deutschen Medien wie Süddeutsche Zei-
steht im Protokoll: Gegenstimme von Dr. Norbert
tung, Stern, Spiegel, Die Welt und die Frankfurter Allge-
Röttgen. Das heißt, Sie haben gegen die Gesetze, mit de-
meine Zeitung sind sich in diesem Sommer in ihrer Ein-
nen die erneuerbaren Energien eingeführt worden sind
schätzung der schwarz-gelben Bundesregierung
und die den 20-Prozent-Anteil im ersten Halbjahr 2011
ziemlich einig: „Aufhören!“, „Die können es nicht“ und
ermöglicht haben, gestimmt, aber es sollen wieder an-
„schlechteste Regierung seit Gründung der Bundesrepu-
dere schuld gewesen sein. Sie waren angeblich nicht da-
blik“.
runter. Es muss ein anderer Dr. Norbert Röttgen gewesen
(B) (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sein, der so abgestimmt hat.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Das sind keine Werturteile der Opposition, sondern der DIE GRÜNEN)
führenden Medien der Bundesrepublik.
Wie die gesamte Bundesregierung lebt auch dieser
Weil ich gerade das Grinsen in den Reihen der CDU/ Umweltminister von der Substanz der Vorgängerregie-
CSU sehe: Sie meinen damit nicht nur die FDP und die rungen. Er sonnt sich im Glanz der Erfolge der Vorgän-
FDP-Minister. Sie meinen auch Minister wie Bundesum- gerregierungen – die CDU/CSU hat immerhin zu einer
weltminister Norbert Röttgen. Er orientiert sich auch zu- der Vorgängerregierungen gehört –, trägt aber selbst
nehmend an der FDP. Zumindest in seinem Umgang mit nichts zur Zukunftssicherung bei. Er lobt sich dafür, dass
Irrungen und Wirrungen erinnert er mich zunehmend an die erneuerbaren Energien einen Anteil von 20 Prozent
Außenminister Guido Westerwelle und dessen Umgang ausmachen. Wann sind denn die Anlagen, die im ersten
mit der Libyen-Politik. Halbjahr 2011 über 20 Prozent Anteil an der Stromer-
zeugung haben, geplant und gebaut worden: im ersten
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Halbjahr 2011? Reicht das nicht in die Zeit der Vorgän-
Das ist aber gemein!)
gerregierungen zurück, die noch ein klares Förderkon-
Rechthaberei statt Linie, grün reden statt grün han- zept und ein klares energiepolitisches Konzept hatten?
deln: Das kennzeichnet die Politik im Umweltministe-
(Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP])
rium. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich ma-
chen. Was tut denn dieser Umweltminister? Der Kollege
Nüßlein hat einem der Vorgänger vorgeworfen, er habe
Wir haben in dieser Debatte einen Umweltminister er-
nur einen Anteil der erneuerbaren Energien von
lebt, der der Opposition den Vorwurf gemacht hat, sie
12,5 Prozent für 2010 angestrebt. Ich kenne noch eine
hätte sich nicht an der Suche nach einem atomaren End-
Vorgängerin, nämlich Angela Merkel, die für 2010 einen
lager beteiligt oder dieses nicht haben wollen, und er sei
Anteil von lediglich 10 Prozent haben wollte. Das kön-
jetzt derjenige, der sich darum kümmert. Kurze Fakten-
nen Sie in einem Buch von ihr aus dem Jahre 1997 nach-
überprüfung: Dieser Bundesumweltminister war in den
lesen.
Jahren 2005 bis 2009 Erster Parlamentarischer Ge-
schäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die- Wie geht denn der Umweltminister mit der neuen
sem Koalitionspartner hat die SPD in den Jahren 2006, Marktsituation und der größeren Konkurrenz aus ande-
2008 und 2009 den Vorschlag eines Endlagersuchgeset- ren Ländern um? In den letzten zwei Jahren, als wir den
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Ulrich Kelber
(A) Ausbau der erneuerbaren Energien hätten beschleunigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
müssen, hatten wir ein Hin und Her an energiepoliti- neten der FDP)
schen Beschlüssen, was dazu geführt hat, dass niemand
mehr in Deutschland investiert hat, weder in konventio- Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU):
nelle Kraftwerke noch in Anlagen zur Erzeugung erneu- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
erbarer Energien. Das zeigt, dass Sie von der Substanz legen! Lieber Kollege Kelber, ich wollte eigentlich et-
leben, aber selbst nichts zum Ausbau der erneuerbaren
was zum Haushalt sagen. Aber Ihr Kollege Miersch hat
Energien beitragen.
vorhin sprachliche Anleihen beim Eiskunstlauf gemacht
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und meinte, er könne damit den Bundesminister anrüh-
DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ ren. Das, was ich mir gerade angehört habe, nenne ich
CSU) einmal – ich weiß nicht, wie man das bei Ihnen bezeich-
nen würde – den „rückwärts eingesprungenen verkorks-
Ich komme zum Klimaschutz. Eine Zahl, die gerade ten Kelber“.
gefallen ist, will ich wiederholen. 88 Prozent der Mittel,
die der Bundesminister für neue Zusagen im internatio- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
nalen Klimaschutz und die Hilfe für die Ärmsten der Ar- der FDP)
men vorgesehen haben will, sind umetikettiert worden.
Das war doch keine Haushaltsrede! Was soll das?
Deutschland wird allmählich weltbekannt dafür, dass es
seine Versprechen im Bereich des internationalen Klima- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nicht nur
schutzes und in der internationalen Entwicklungszusam- die Regierung ist schlecht, auch die Regie-
menarbeit reihenweise bricht. Sie, Herr Dr. Röttgen, sind rungsfraktionen sind schlecht! Unglaublich!)
dabei.
Ich möchte kurz etwas zum Haushalt sagen. Das Ge-
(Beifall bei der SPD) samtvolumen des Umwelthaushalts für 2012 beträgt
rund 1,6 Milliarden Euro. Meine Kollegen Stephan
Ein weiteres Thema ist die Energieeffizienz. Sie wol- Thomae und Ulrich Petzold haben gerade die Struktur-
len sich beim geplanten Energieeffizienzgesetz nur am
veränderungen dargestellt. Wirklich neu ist, dass das
Durchschnitt der Europäischen Union orientieren. Es soll
Bundesumweltministerium bei Bedarf auf Mittel des
nur das, was die Europäische Union vorschreibt, eins zu
Energie- und Klimafonds zugreifen kann. Das sollten
eins umgesetzt werden. Auf eine Anfrage der SPD haben
Sie geantwortet, Sie wollten kein Klimaschutzgesetz mit Sie begrüßen, wenn Sie für den Umweltschutz etwas er-
verbindlichen Klimaschutzzielen vorlegen. Ich halte das reichen wollen.
für ein Armutszeugnis. Stattdessen erzählen Sie uns, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) der Ansatz für die Gebäudesanierung um fast 50 Prozent der FDP) (D)
gesteigert wurde. Sich mit sich selbst zu vergleichen, ist
einfach, aber zu sagen, dass Sie vorher den Ansatz der Dieses Sondervermögen ist ein ganz wichtiger Baustein
Vorgängerregierung um 70 Prozent gekürzt haben, hätte der Energiewende, die hier im Haus beschlossen worden
zur Ehrlichkeit gehört. ist. Für erhebliche Investitions- und Forschungsmaßnah-
men stehen im nächsten Jahr 780 Millionen Euro zusätz-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich aus dem Fonds bereit. Davon kann das Umweltmi-
DIE GRÜNEN) nisterium 235 Millionen Euro bewirtschaften. Das ist ein
Noch nie hat es so wenig Initiativen aus einem Bun- erheblicher Betrag.
desumweltministerium gegeben wie jetzt, nicht unter Sie haben vorhin gesagt, Sie zweifelten die Zukunft
Wallmann, nicht unter Töpfer, nicht unter Merkel, nicht an. Das kann man ruhig machen; man sollte aber nicht
unter Trittin und nicht unter Gabriel. Das hängt auch da- übersehen, dass die mittelfristige Finanzplanung für
mit zusammen, dass in diesem Haus eine Atmosphäre 2013 und für die Folgejahre jeweils Mittel von über
und eine Kultur des Misstrauens gepflegt wird. Sachver- 3 Milliarden Euro vorsieht. Also kann man feststellen,
stand in den Abteilungen wird nicht abgefragt. Eine dass es hier zu der gewünschten Verstetigung kommt.
kleine Gruppe entwirft, und die Entwürfe, die aus dem
Stab kommen, werden noch nicht einmal mit den Fach- Der Umweltminister betont immer wieder: Die Ener-
leuten abgesprochen. Teilweise erfahren die Fachleute giefrage ist die zentrale Frage der industriellen, der wirt-
von den Ergebnissen erstmals aus den Medien. Deswe- schaftlichen Entwicklung unseres Landes. – Der Zugriff
gen ein kleiner Aufruf vonseiten der Opposition, Herr auf dieses Sondervermögen bedeutet eine Sicherstellung
Minister: Verbringen Sie etwas weniger Zeit in der Pres- der Mittel. Zwei meiner Vorredner haben versucht, ein
seabteilung, etwas weniger Zeit bei den Redeschreibern, bisschen Polemik in die Debatte hineinzubringen. So et-
dafür etwas mehr Zeit in Ihren Fachabteilungen! Dann was führt eher zu Verunsicherung als zur Sicherung von
klappt es auch mit der Umweltpolitik. Mitteln zur Bewältigung künftiger Aufgaben im Um-
weltschutzbereich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Verunsichert
haben Sie durch Ihren Zickzackkurs!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich möchte kurz auf Einzelheiten eingehen. 16 Millio-
Der Kollege Bernhard Schulte-Drüggelte hat jetzt das nen Euro stehen für Forschung und Entwicklung im
Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Bereich der erneuerbaren Energien zur Verfügung. Zu-
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Bernhard Schulte-Drüggelte
(A) sätzlich fließen 200 Millionen Euro in die Nationale Kli- ger für schwachradioaktive Stoffe fertigzustellen. Das (C)
maschutzinitiative. Das ist viel Geld. finde ich gut.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Auch für hochradioaktive Stoffe muss ein Endlager
der FDP) gefunden werden. Es ist richtig, dass ergebnisoffen ge-
sucht wird.
Zur Nationalen Klimaschutzinitiative zählt unter ande-
rem das Marktanreizprogramm, für das 100 Millionen (Ulrich Kelber [SPD]: Aber das machen Sie
Euro mehr bereitgestellt werden. gerade nicht!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Nach vorheriger – Ich sage hier doch nur meine Meinung. – Es ist richtig,
Kürzung!) dass weiterhin ergebnisoffen gesucht wird, um festzu-
stellen, ob Gorleben als Endlager geeignet ist. Es ist
Frau Kofler hat vorhin gesagt, dieses Geld komme bei richtig, dass nach internationalen Standards geprüft
den Menschen nicht an. Wahr ist: Es kommt bei den wird. Es ist auch richtig, dass dadurch eine Prognose
Menschen an. Alle, die sich mit diesem Thema befasst durch das Umweltministerium ermöglicht wird. Deshalb
haben, wissen, dass damit sehr viele kleine Projekte fi- – der Bundesumweltminister hat gerade erläutert, wie
nanziert werden. Das ist ein großer Vorteil. das Verfahren weitergehen soll – sind im Haushalt zu-
Die Internationale Klimaschutzinitiative – zurzeit sätzliche Mittel für die weitere Erkundung von anderen
sind dafür 120 Millionen Euro veranschlagt – wird um Standorten
fast 20 Millionen Euro, also deutlich verstärkt. (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich glaube, all das sind wichtige Maßnahmen. NEN]: Nein, die sind für Gorleben!)
Vorhin ist bereits angesprochen worden: Umwelt- in Höhe von 2,5 Millionen eingesetzt.
schutz ist eine Querschnittsaufgabe; er fällt in den Zu- (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ständigkeitsbereich von vielen Ministerien. Ich will sie NEN]: 3,5!)
nicht alle nennen. Insgesamt sind für Umweltschutzaus-
gaben 7,4 Milliarden Euro veranschlagt. Das ist knapp Die Mittel sind von 1 Million um 2,5 Millionen auf
1 Milliarde Euro mehr als für 2011. Das zeigt doch, dass 3,5 Millionen Euro erhöht worden. Das ist ein Zeichen
diese Regierung und diese Koalition es mit ihrem Ein- dafür, dass weiter ergebnisoffen erkundet werden soll.
satz für die erneuerbaren Energien ernst meinen. Das ist auch vernünftig so.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD – Dorothea Steiner
neten der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür kann
(B) man nur ein paar Karten kaufen!) (D)
Ich komme noch einmal auf das Marktanreizpro-
gramm zu sprechen. 2012 werden dafür 380 Millionen – Die Zahlen stimmen auf jeden Fall.
Euro zur Verfügung stehen, 30 Millionen Euro mehr, als
Ich möchte noch etwas zur Öffentlichkeitsarbeit sa-
bei der Haushaltsplanung 2011 vorgesehen wurde. Jetzt
gen. Die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums
ist also die Verstetigung – in den letzten Jahren ist immer
ist neu strukturiert und transparenter. Der Haushalt sieht
wieder Verlässlichkeit für die Menschen gefordert wor-
deutlich höhere Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit
den – erreicht. Ich finde, in diesem Haushalt kommt eine
vor. Das beruht zwar zum großen Teil auf Umschichtun-
positive Entwicklung zum Ausdruck.
gen in anderen Bereichen. Aber ich halte es für wichtig,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass die Bürger an den einzelnen Endlagerstandorten
neten der FDP) wirklich informiert werden und dass sie sich ein Bild da-
von machen können, wie die nukleare Entsorgung funk-
Einzelheiten wie thermische Solaranlagen, Anlagen zur tioniert. Ich finde, die Regierung ist auch in der Pflicht,
Verbrennung fester Biomasse, innovative Technologien auf die Menschen zuzugehen und ihre Politik besser zu
zur Wärme- und Kälteerzeugung sind positive Ergeb- erklären. Das macht das Umweltministerium. Das Um-
nisse einer solchen Planung. weltministerium ist hier auf einem sehr guten Weg.
Zum Einzelplan 16 gehören die Mittel zur Deckung der Danke schön.
Kosten der Endlagerung radioaktiver Stoffe. Ich möchte
auch dazu etwas sagen. Schacht Konrad wird seit 2007 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
umgerüstet. In dem ehemaligen Eisenerzbergwerk sollen
schwachradioaktive Abfälle eingelagert werden. Mittler- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
weile hat die Landesregierung Niedersachsen Genehmi- Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
gungen für obertägige Bauten erteilt. Vielleicht könnte das
Ganze etwas schneller vonstattengehen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Mittwoch, den 7. September 2011,
Wenn man die Fertigstellungszeiträume für Konrad 9 Uhr, ein.
sieht und die einzelnen Haushalte vergleicht, dann stellt
man fest, dass der Fertigstellungszeitpunkt immer wie- Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonne-
der um ein Jahr nach hinten verschoben wird. Deshalb nen Einsichten.
will ich auch kein Wort dazu sagen, wann es fertig sein Die Sitzung ist geschlossen.
soll. Aber für das nächste Jahr sind über 200 Millionen
Euro dafür vorgesehen, den Schacht Konrad als Endla- (Schluss: 18.12 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 6. September 2011 14441

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Ahrendt, Christian FDP 06.09.2011 Lambrecht, Christine SPD 06.09.2011

Behrens, Herbert DIE LINKE 06.09.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 06.09.2011

Bockhahn, Steffen DIE LINKE 06.09.2011 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 06.09.2011
DIE GRÜNEN
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 06.09.2011
Land), Axel E. von der Marwitz, Hans- CDU/CSU 06.09.2011
Georg
Gerdes, Michael SPD 06.09.2011
Nink, Manfred SPD 06.09.2011
Holmeier, Karl CDU/CSU 06.09.2011
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 06.09.2011
Hunko, Andrej DIE LINKE 06.09.2011*
Schreiner, Ottmar SPD 06.09.2011
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 06.09.2011
Schwabe, Frank SPD 06.09.2011
Koch, Harald DIE LINKE 06.09.2011
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 06.09.2011
Kramme, Anette SPD 06.09.2011

Krestel, Holger FDP 06.09.2011 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
(B) lung des Europarates (D)
Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ 06.09.2011
DIE GRÜNEN
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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