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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
126. Sitzung
Inhalt:
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 14791 C Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14794 B
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14791 D Cajus Caesar (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14794 C
Beginn und Laufzeit des bundesweiten Stand der Erarbeitung eines neuen Investi-
Feldversuchs mit Gigalinern tionsrahmenplans (IRP) für die Verkehrs-
infrastruktur des Bundes
Antwort
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Antwort
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14799 A Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14804 C
Zusatzfragen
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14799 A Zusatzfragen
Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14799 D Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14804 C
Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14805 A
Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14805 B
Mündliche Frage 8
Florian Pronold (SPD)
Mündliche Frage 14
Gründe für die Nichtteilnahme Hessens am Hans-Joachim Hacker (SPD)
Feldversuch mit Gigalinern
Im gültigen Investitionsrahmenplan veran-
Antwort kerte und wegen fehlender finanzieller
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Mittel des Bundes nicht begonnene Bau-
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14800 A projekte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 III
Antwort Zusatzfragen
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14810 A
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14805 C Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14810 C
Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14810 D
Zusatzfragen
Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14805 C
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 27
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14806 A
Gustav Herzog (SPD)
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14806 C
Verbesserungsbedarf der Situation der
deutschen Binnenschifffahrt im europäi-
Mündliche Frage 15 schen Wettbewerb
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD)
Antwort
Nutzungsausfälle der Großschleusen in Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
Brunsbüttel und Kiel-Holtenau seit 2008 BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14811 C
Antwort Zusatzfragen
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14811 D
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14806 D Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14812 A
Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14812 D
Zusatzfragen Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14812 D
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 14807 A Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14813 A
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14807 C Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14813 B
Werner Schieder (Weiden) (SPD) . . . . . . . . . . 14830 A Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14855 A
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14831 A
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14856 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14832 C
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/
Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14833 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14856 C
Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14834 D Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14856 D
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14835 D Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14857 D
Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14837 A Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14859 A
Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . 14860 B
Tagesordnungspunkt 3:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 5:
schusses für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- Erste Beratung des von den Abgeordneten
geordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, Katja
Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Dörner, weiteren Abgeordneten und der Frak-
Fraktion DIE LINKE: Fachkräfteprogramm tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
– Bildung und Erziehung – unverzüglich brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
auf den Weg bringen führung des Rechts auf Eheschließung für
(Drucksachen 17/2019, 17/7007) . . . . . . . . . . 14838 A Personen gleichen Geschlechts
(Drucksache 17/6343) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14861 A
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 14838 B
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 14840 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14861 B
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14843 A Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14864 D
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14865 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14844 B Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14866 C
Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14845 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14868 B
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14846 D
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14869 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14847 D
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14869 B
Tagesordnungspunkt 4:
Tagesordnungspunkt 6:
Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und
Beschwerden an den Deutschen Bundestag a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des und Jugend
Deutschen Bundestages im Jahr 2010
(Drucksache 17/6250) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14849 A – zu dem Antrag der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus
Kersten Steinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14849 B Weinberg (Hamburg), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/
Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14851 A CSU sowie der Abgeordneten Miriam
Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14852 D
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und
Siegfried Kauder (Villingen- der Fraktion der FDP: Faire Teilhabe-
Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14853 A chancen von Anfang an – Frühkind-
liche Betreuung und Bildung för-
Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14854 B dern
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
– zu dem Antrag der Abgeordneten berg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Caren Marks, Petra Crone, Petra der SPD: Für eine bessere Bildungssitua-
Ernstberger, weiterer Abgeordneter tion weltweit
und der Fraktion der SPD: Frühkind- (Drucksache 17/6484) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14878 D
liche Bildung und Betreuung verbes-
sern – Für Chancengleichheit und Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14879 A
Inklusion von Anfang an Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14880 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14882 A
Britta Haßelmann, Katja Dörner, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . . 14883 A
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: – Rechtsanspruch auf Kinder- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/
betreuung realisieren – Kostenkal- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14884 B
kulation für Kinderbetreuung
überprüfen
– zu der Unterrichtung durch die Bun- Tagesordnungspunkt 8:
desregierung: Bericht der Bundesre- Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
gierung über den Stand des Ausbaus und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrich-
für ein bedarfsgerechtes Angebot an tung eines Weltmädchentages der Verein-
Kindertagesbetreuung für Kinder ten Nationen
unter drei Jahren für das Berichts- (Drucksache 17/7021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14885 B
jahr 2008
– zu der Unterrichtung durch die Bun- Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . 14885 B
desregierung: Bericht der Bundesre- Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 14886 C
gierung über den Stand des Ausbaus
für ein bedarfsgerechtes Angebot an Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14887 D
Kindertagesbetreuung für Kinder
unter drei Jahren für das Berichts- Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14889 A
jahr 2009 (Erster Zwischenbericht Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
zur Evaluation des Kinderförde- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14890 A
rungsgesetzes)
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14890 D
(Drucksachen 17/3663, 17/1973, 17/1778,
16/12268, 17/591 Nr. 1.7, 17/2621, 17/4249) 14870 C Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14891 A
Bericht der Bundesregierung über den Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 14891 B
Stand des Ausbaus für ein bedarfsge-
rechtes Angebot an Kindertagesbetreu-
ung für Kinder unter drei Jahren für
das Berichtsjahr 2010 (Zweiter Zwi- Tagesordnungspunkt 9:
schenbericht zur Evaluation des Kin- Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit,
derförderungsgesetzes) Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weite-
(Drucksache 17/5900) . . . . . . . . . . . . . . . . 14870 C rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14870 D Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende
und Geduldete
Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14872 A (Drucksache 17/5912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14892 B
Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14873 C
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 14874 A Tagesordnungspunkt 10:
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14875 A der Beteiligung bewaffneter deutscher
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 14875 D Streitkräfte an der von den Vereinten Na-
tionen geführten Friedensmission in
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14877 C Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der
Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011
Tagesordnungspunkt 7: (Drucksache 17/6987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14892 C
Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler,
Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidel- in Verbindung mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 VII
Tagesordnungspunkt 18:
Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge,
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Katrin Kunert, Matthias W. Birkwald, weite-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
geordneten Günter Gloser, Dr. Rolf LINKE: Erforderliche Bewilligungen von
Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeord- Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen gewähr-
neter und der Fraktion der SPD: Den Nahost- leisten
Friedensbemühungen neuen Schwung ver- (Drucksache 17/6493) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14906 C
leihen Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14906 C
(Drucksachen 17/6298, 17/7057) . . . . . . . . . . 14899 D
Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14907 C
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14899 D
Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . . 14908 C
Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14909 B
Tagesordnungspunkt 12:
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 14910 A
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Errichtung einer Visa-Warndatei und zur DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14910 D
Änderung des Aufenthaltsgesetzes
(Drucksache 17/6643) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14901 A
Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
Tagesordnungspunkt 20:
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset-
Antrag der Abgeordneten Hans-Christian zes zur Änderung des Vierten Buches So-
Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), Volker zialgesetzbuch und anderer Gesetze
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 17/6764) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14911 D
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Tagesordnungspunkt 21:
Tagesordnungspunkt 23: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrach-
Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott,
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
Dr. Valerie Wilms, Omid Nouripour, weiterer
tokoll vom 27. Oktober 2010 zur Ände-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
rung des Abkommens vom 11. August
DIE GRÜNEN: Abkommen zum Schutz der
1971 zwischen der Bundesrepublik
Arktis unverzüglich auf den Weg bringen –
Deutschland und der Schweizerischen
Internationale Zusammenarbeit zum Eidgenossenschaft zur Vermeidung der
Schutz der Arktis Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der
(Drucksache 17/6499) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14917 D Steuern vom Einkommen und vom Ver-
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14918 A mögen
(Drucksache 17/6257) . . . . . . . . . . . . . . . 14934 B
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14918 D
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14920 B des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14921 A kommen vom 30. März 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ Irland zur Vermeidung der Doppelbe-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14921 D steuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Ver-
Tagesordnungspunkt 19: mögen
(Drucksache 17/6258) . . . . . . . . . . . . . . . 14934 C
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über – Zweite Beratung und Schlussabstimmung
die Besetzung der großen Straf- und Ju- des von der Bundesregierung eingebrach-
gendkammern in der Hauptverhandlung ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
(Drucksache 17/6905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14922 C kommen vom 18. Februar 2011 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14922 C und der Republik Zypern zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung und zur
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14923 C Verhinderung der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14924 C
kommen und vom Vermögen
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14925 A (Drucksache 17/6259) . . . . . . . . . . . . . . . 14934 C
Anlage 3
Anlage 8
Mündliche Fragen 1 und 2
Christian Lange (Backnang) (SPD) Mündliche Fragen 17 und 18
Gefährdete Verkehrsprojekte in Baden- Franz Thönnes (SPD)
Württemberg in den Entwürfen des Vorlage eines Förderantrags „Anpassung
BMVBS für den Investitionsrahmenplan; der Oststrecke des Nord-Ostsee-Kanals“
genereller Stopp für Neubauprojekte im Rahmen der transeuropäischen Netze
Antwort Antwort
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14949 D
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14950 D
Anlage 4
Anlage 9
Mündliche Frage 5
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 21
DIE GRÜNEN) Gabriele Hiller-Ohm (SPD)
Konsequenzen eines Ausstiegs Griechen- Mittel für Um-, Aus- und Neubaumaßnah-
lands aus der Euro-Zone aus verkehrspoli- men am Nord-Ostsee-Kanal im Bundes-
tischer Sicht haushalt 2012
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Antwort Antwort
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14951 A BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14952 A
Anlage 10 Anlage 15
Mündliche Frage 22
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) Mündliche Fragen 42 und 43
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
Etwaige Erhöhung der Gebühren und Ab- DIE GRÜNEN)
gaben für die Schifffahrt am Nord-Ostsee-
Kanal Ausschreibungen und Schaffung von Ar-
beitsplätzen beim „Helios“-Solarprojekt
Antwort
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Antwort
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14951 B Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14952 B
Anlage 11
Mündliche Frage 23 Anlage 16
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD)
Mündliche Fragen 44 und 45
EU-Mittel für die Ertüchtigung des Nord- Dirk Becker (SPD)
Ostsee-Kanals
Antwort Forschungsaktivitäten zur Entwicklung
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär von Biokraftstoffen der zweiten und drit-
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14951 C ten Generation sowie Folgen der Insolvenz
der Firma CHOREN Industries GmbH
Antwort
Anlage 12 Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin
Mündliche Fragen 24 und 25 BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14952 C
Bettina Hagedorn (SPD)
Investitionskonzept für die Modernisie-
rung der Verkehrsinfrastruktur des Quer- Anlage 17
verkehrs am Nord-Ostsee-Kanal; Ein-
schränkung des Fährverkehrs Mündliche Frage 46
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD)
Antwort
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Aufteilung der erhöhten Mittel im Bundes-
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14951 C haushalt 2012 für die Förderung der
„Naturwissenschaftlichen Grundlagenfor-
schung“
Anlage 13
Antwort
Mündliche Frage 34 Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14953 A
Kostenberechnungen der Deutschen Bahn
AG für die Alternative zur Bündelungs-
trasse im Rheintal und Konsequenzen für Anlage 18
die Bundesregierung
Mündliche Fragen 47 und 48
Antwort
Ulla Burchardt (SPD)
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14951 D Verwendung der zusätzlichen Mittel in der
Position „Wettbewerbsfähigkeit des Wis-
senschafts- und Innovationssystems“ sowie
Anlage 14 Kürzung der Projektfördermittel für den
Mündliche Frage 35 Bereich „Elektroniksysteme“ im Bundes-
Heinz Paula (SPD) haushalt 2012
Gewährleistung der Elektrifizierung der Antwort
Bahnstrecke München–Memmingen–Lin- Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
dau bis 2017 BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14953 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 XI
Anlage 19 Anlage 24
Mündliche Frage 49 Mündliche Frage 55
Michael Gerdes (SPD) Dagmar Ziegler (SPD)
Stand der Verhandlungen zu den Großpro- Konkrete Projekte für den im Finanzplan
jekten XFEL und FAIR ab 2013 geplanten Aufwuchs in der berufli-
chen Bildung
Antwort
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär Antwort
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14953 C Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14955 D
Anlage 20
Anlage 25
Mündliche Frage 50
Michael Gerdes (SPD) Mündliche Frage 56
Swen Schulz (Spandau) (SPD)
Streichung der Förderung für kleine und
mittlere Unternehmen im Rahmen von Vorkehrungen im Finanzplan 2013 bis
„KMU-innovativ“ 2015 beim Hochschulpakt zur Ausfinanzie-
rung bei wachsender Anzahl von Studien-
Antwort anfängern
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14954 A Antwort
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14955 D
Anlage 21
Mündliche Frage 51 Anlage 26
Klaus Hagemann (SPD)
Mündliche Frage 57
Minderabflüsse aus dem Haushaltstitel Swen Schulz (Spandau) (SPD)
„Überregionale Forschungsförderung im
Hochschulbereich“ seit 2007 Auswirkungen des niedrigeren Titelansat-
zes im Haushalt 2012 bei der Förderung
Antwort des Studenten- und Wissenschaftleraustau-
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär sches des DAAD
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14954 B
Antwort
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
Anlage 22 BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14956 A
Anlage 36
Anlage 32
Mündliche Frage 71
Mündliche Fragen 65 und 66 Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD)
Dr. Sascha Raabe (SPD)
Garantie der vollen Fördermittel für die
Finanztransaktionsteuer als Tagesord- Energieforschung aus dem Energie- und
nungspunkt bei der Jahrestagung von IFW Klimafonds für 2012
und Weltbank; Auswirkungen einer sol-
chen Steuer auf Entwicklungs- und Schwel- Antwort
lenländer und Verwendung des Aufkom- Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär
mens für Armutsbekämpfung BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14959 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 XIII
Anlage 37 Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
Mündliche Frage 72 AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14960 C
Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Veröffentlichung von Unternehmensnamen Anlage 42
durch die zu gründende Schlichtungsstelle
Energie bei Entscheidungen mit allgemei- Mündliche Frage 77
Dr. Rolf Mützenich (SPD)
nen Verbraucherinteressen
Beitritt der westlichen Balkanstaaten zur
Antwort
EU
Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14959 D Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14960 D
Anlage 38
Mündliche Frage 73 Anlage 43
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Mündliche Frage 78
Dr. Rolf Mützenich (SPD)
Verpflichtung der Energieversorger auf
jährliche Energieeinsparungen von Berücksichtigung einer EU-Beitrittsper-
1,5 Prozent im Rahmen der Energieeffi- spektive für die Partnerstaaten der Euro-
zienzrichtlinie päischen Nachbarschaftspolitik in der Er-
klärung für den geplanten Gipfel zur
Antwort Östlichen Partnerschaft
Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14960 A Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14961 A
Anlage 39
Mündliche Frage 74 Anlage 44
Heike Hänsel (DIE LINKE)
Mündliche Fragen 79 und 80
Mögliche Aussetzung des Panzergeschäfts Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
mit Saudi-Arabien DIE GRÜNEN)
Antwort Kontrolle und Einsatz der Afghan Local
Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär Police
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14960 A Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14961 B
Anlage 40
Mündliche Frage 75
Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Anlage 45
DIE GRÜNEN) Mündliche Frage 81
Stand der Planungen von im Februar 2011 Andrej Hunko (DIE LINKE)
angekündigten Bildungsprogrammen zur Kosten des anstehenden Papstbesuches
Unterstützung des arabischen Frühlings
Antwort
Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin
Cornelia Pieper, Staatsministerin AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14961 D
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14960 B
Anlage 46
Anlage 41
Mündliche Frage 82
Mündliche Frage 76 Inge Höger (DIE LINKE)
Katja Keul (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Beteiligung deutscher Staatsbürger an der
Ausbildung der Special Security Force
Verlängerung und Neuausgestaltung des durch die Sicherheitsfirma R2 in den Ver-
Mandats für die Operation Atalanta einigten Arabischen Emiraten
XIV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Antwort Anlage 51
Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14962 B Mündliche Frage 87
Ulrike Gottschalck (SPD)
Einführung einer bundeseinheitlichen
Anlage 47 Luftfrachtsicherheitsgebühr
Antwort
Mündliche Frage 83
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14963 D
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention im Bereich der Bilateralen Zusam-
menarbeit zwischen Deutschland und der Anlage 52
Russischen Föderation in den Jahren 2012
Mündliche Frage 88
und 2013
Inge Höger (DIE LINKE)
Antwort Aufgaben des in Abu Dhabi stationierten
Cornelia Pieper, Staatsministerin BKA-Verbindungsbeamten und gegebe-
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14962 B nenfalls weiterer in den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten eingesetzter Beamten des
BKA oder anderer Bundesbehörden
Anlage 48 Antwort
Mündliche Frage 84 Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14964 A
Anlage 50
Anlage 55
Mündliche Frage 86
Ulrike Gottschalck (SPD) Mündliche Frage 91
Klaus Hagemann (SPD)
Termin für den Einsatz ausgereifter Kör-
perscanner auf den Flughäfen Regelungen zur Parlamentsbeteiligung bei
der Griechenland-Hilfe und dem soge-
Antwort nannten Euro-Rettungsschirm in den Mit-
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär gliedsländern der Europäischen Finanzsta-
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14963 C bilisierungsfazilität
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 XV
Antwort Anlage 60
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14965 A Mündliche Frage 97
Anton Schaaf (SPD)
Überlegungen zu Änderungen der Zurech-
Anlage 56 nungszeit bei der Erwerbsminderungsrente
Antwort
Mündliche Frage 92 Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14966 B
Durchführung eines Datenabgleichs zwi-
schen Umsatzsteuer-Voranmeldung und
Anlage 61
zusammenfassender Meldung
Mündliche Frage 98
Antwort Anton Schaaf (SPD)
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14965 B Prinzip der Leistungsgerechtigkeit bei Auf-
stockungen durch die sogenannte Zu-
schussrente
Anlage 57 Antwort
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
Mündliche Frage 93 BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14966 C
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE)
Anlage 65 Anlage 70
Mündliche Frage 103 Mündliche Frage 108
Katja Mast (SPD) Josip Juratovic (SPD)
Zuschussrente als individualisierte Leis- Verzicht des BMAS auf die Verankerung
tung und unabhängig vom Einkommen ei- des Erwerbsminderungsschutzes in der be-
nes Partners trieblichen und der geförderten privaten
Altersvorsorge
Antwort
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Antwort
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14967 C Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14968 D
Anlage 66
Anlage 71
Mündliche Frage 104
Katja Mast (SPD) Mündliche Frage 109
Josip Juratovic (SPD)
Erfüllungskriterien für die Anspruchs-
voraussetzung der Wartezeit in der zusätz- Unterstützung von Modellen für Teilalters-
lichen Altersvorsorge renten ab dem vollendeten 60. Lebensjahr
im Rahmen des „Regierungsdialog(s) Rente“
Antwort
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Antwort
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14967 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14969 A
Anlage 67
Anlage 72
Mündliche Frage 105
Mündliche Frage 110
Anette Kramme (SPD)
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE)
Beteiligung der Bundestagsfraktionen am
Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosig-
„Regierungsdialog Rente“
keit bei über 50-Jährigen
Antwort Antwort
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14968 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14969 B
Anlage 68 Anlage 73
Mündliche Frage 106 Mündliche Frage 111
Anette Kramme (SPD) Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE)
Aussage von Bundesministerin Dr. Ursula Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarkt-
von der Leyen zur Verlängerung der Rente politik angesichts sich verfestigender Lang-
nach Mindestentgeltpunkten zeitarbeitslosigkeit
Antwort Antwort
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14968 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14969 D
Anlage 69 Anlage 74
Mündliche Frage 107 Mündliche Frage 112
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Steffen-Claudio Lemme (SPD)
Auswirkung der Verlängerung der Zurech- Bilanz der Bundesregierung zum Mindest-
nungszeit bei Erwerbsminderungsrenten lohn in der Pflegebranche
Antwort Antwort
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14968 C BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14970 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 XVII
Anlage 75 Antwort
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
Mündliche Frage 113
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14971 B
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Etwaige Mittelkürzung in der zweiten Anlage 80
Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik
Antwort Mündliche Frage 119
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE)
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14970 C Förderung des einheimischen Anbaues von
Eiweißfutterpflanzen durch den Freistaat
Bayern als Vorbild für den Bund
Anlage 76
Antwort
Mündliche Frage 114
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
Harald Ebner (BÜNDNIS 90/
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14971 C
DIE GRÜNEN)
Verlust der Artenvielfalt in der Agrarland-
schaft und Vorschläge der EU-Kommission Anlage 81
zum Greening der ersten Säule der Ge-
meinsamen Agrarpolitik Mündliche Frage 120
Antwort Ulla Jelpke (DIE LINKE)
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär Regelungen in den Richtlinien für die
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14970 C Durchführung der Informationsarbeit be-
züglich der Zugangsbeschränkung zu Waf-
fen für Minderjährige
Anlage 77
Antwort
Mündliche Fragen 115 und 116
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14971 D
DIE GRÜNEN)
Deutsche Ablehnung von Vorschlägen der
Europäischen Kommission zur Reform der Anlage 82
Gemeinsamen Agrarpolitik, insbesondere
zum sogenannten Greening Mündliche Fragen 121 und 122
Antwort Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE)
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär Neuregelung des Zugangs von Kindern zu
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14970 D Waffen und Gerät der Bundeswehr im
Rahmen öffentlicher Veranstaltungen in
der Richtlinie des BMVg zur Durchfüh-
Anlage 78 rung der Informationsarbeit der Bundes-
Mündliche Frage 117 wehr
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Antwort
DIE GRÜNEN)
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär
Ausgestaltung der Direktzahlungen an BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14972 B
Landwirte
Antwort
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär Anlage 83
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14971 B
Mündliche Frage 123
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)
Anlage 79 Überstellung von Gefangenen in Haftan-
Mündliche Frage 118 stalten durch deutsche ISAF-Soldaten in
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Afghanistan seit 2001
Gutschriften für Agrarbetriebe bei Ver- Antwort
meidung von Methan- und CO2-Emmissio- Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär
nen als klimapolitisches Instrument BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14972 C
XVIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) (C)
Redetext
126. Sitzung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit- weit erforderlich, abgewichen werden.
zung ist eröffnet. Die Tagesordnungspunkte 13 und 16 werden abge-
Interfraktionell ist verabredet worden, die verbun- setzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Op-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- positionsfraktionen rücken entsprechend vor. – Damit
geführten Punkte zu erweitern: sind Sie einverstanden. Ich sehe und höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Geordnete Insolvenz – Die Haltung der Bun-
desregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
(B) ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- binettssitzung mitgeteilt: Waldstrategie 2020 – Inter- (D)
nationales Jahr der Wälder 2011.
gierung
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesminis-
der Bundeswehr an der Friedensmission der terium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
Vereinten Nationen in Sudan (UNMIS) schutz, Herr Dr. Gerd Müller.
– Drucksache 17/7000 –
Überweisungsvorschlag:
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
Auswärtiger Ausschuss (f) ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Rechtsausschuss cherschutz:
Verteidigungsausschuss Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Werte Gäste auf der Tribüne! Halten Sie den Atem an –
Entwicklung (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Lieber
Haushaltsausschuss
nicht! Das ist ungesund!)
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und atmen Sie weiter. Den Atem zu kontrollieren und
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
frische Luft in die Lungen aufzunehmen, ist etwas, was
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
man etwa 20 000 bis 30 000 Mal im Jahr macht. Das
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, wei- Sauerstoffvorkommen in der Luft und somit das Überle-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
ben von Mensch, Tier und Umwelt werden von unseren
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Wäldern in der Welt gesichert. Sie sorgen aber nicht nur
Schwung verleihen für den lebensnotwendigen Sauerstoff. Auch viele an-
dere wichtige Faktoren wie beispielsweise das Wasser
– Drucksachen 17/6298, 17/7057 – und der Klimaschutz hängen mit dem Erhalt unserer
Wälder weltweit eng zusammen. Ich möchte Ihnen das
Berichterstattung: an einer Zahl verdeutlichen: 20 Prozent des weltweiten
Abgeordnete Joachim Hörster Ausstoßes des Klimagases CO2 gelangen durch Brandro-
Günter Gloser dung in die Atmosphäre.
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke Die VN hat das Internationale Jahr des Waldes ausge-
Kerstin Müller (Köln) rufen. Die Bundesregierung hat sich daher heute in der
14790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- trägt 60 Prozent; bei der Wärmegewinnung aus erneuer- (C)
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- baren Energien beträgt der Anteil des Holzes 66 Prozent,
cherschutz: bei der Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien
Herr Kollege, wir haben in Deutschland 2 Millionen 12 Prozent.
Privatwaldbesitzer sowie 8 000 Staatsforstbetriebe bei
Die Waldstrategie hat das Ziel, das Gleichgewicht
Bund, Ländern und Kommunen; vielfach sind es sehr
zwischen der Ökonomie, Wertschöpfung aus dem Wald
kleine Betriebe. Der Wald hat eine herausragende Be-
durch die Pflege, und der Ökologie in vielfältigster
deutung. Ich möchte dabei auch die Bereiche Schutz-
Weise herzustellen. Ich möchte an der Stelle betonen,
wald und Bergwald nennen, die in der Region, aus der
dass wir dieses Ziel im engen Schulterschluss mit dem
ich komme, von Bedeutung sind. Ich habe selber einen
Bundesumweltministerium verabschiedet haben.
kleinen Waldbesitz und weiß, wie mühsam das ist. Das
ist das eine.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das andere ist die wirtschaftliche Nutzung. Wir haben Frau Happach-Kasan.
die Holzvorräte in Deutschland seit 1960 durch nachhal-
tige Forstwirtschaft verdoppelt. Der häufig erhobene
Vorwurf, die Forstwirte gingen nur in den Wald, um Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
kurzfristigen Nutzen daraus zu ziehen, trifft absolut Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre Einführung.
nicht zu. Forstwirte denken langfristig, nicht in Jahres- Ich bin sehr froh, dass sich die Bundesregierung ent-
kreisen, sondern auf 30 oder 50 Jahre bezogen. Nachhal- schlossen hat, im Jahr der Wälder eine Waldstrategie zu
tigkeit wird in Deutschland umgesetzt. Sie zeigt sich in verabschieden. Sie hat damit viel Kompetenz bewiesen.
vielfacher Weise. Auch der Waldzustand hat sich im ver-
Wald ist die natürliche Vegetation in Deutschland.
gangenen Jahr weiter verbessert. Er kann selbstverständ-
Das bedeutet, dass wir eine besondere Verantwortung für
lich noch besser werden; aber er hat sich weiter verbes-
den Wald haben. Dieser kommen wir nach. Das Bundes-
sert, dank der Forstwirte in der Republik.
amt für Naturschutz zeigt auf, dass die Zahl der gefähr-
deten Arten im Wald geringer ist als in allen anderen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Biotopen.
Frau Behm.
Holz ist der wichtigste nachwachsende Rohstoff. Des-
wegen stelle ich eine ganz grundlegende Frage: In wel-
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cher Weise will die Bundesregierung im Rahmen ihrer
Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Bericht. Sie Waldstrategie dafür sorgen, dass Holz in dem für die ver-
(B) haben erwähnt, dass der Holzvorrat in den letzten Jahren schiedenen Verwendungen benötigten Umfang zur Ver- (D)
um 700 Millionen Kubikmeter gestiegen ist; das ist fügung steht – ich denke an Nadelholz für die Papierher-
durchaus erfreulich. Sie lassen aber auch nicht uner- stellung oder Eiche für die Möbelherstellung – und
wähnt, dass die Ansprüche an den Wald und damit auch gleichzeitig die Biodiversität bewahrt wird? Welche
an das Holz gestiegen sind, dass mehr nachgefragt wird. konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung,
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass ernstzu- und in welcher Weise werden insbesondere die Besitzer
nehmende Experten für 2020 und die folgenden Jahre kleiner Waldstücke, die über Holzreserven verfügen,
eine Holzlücke von 30 Millionen Kubikmetern pro Jahr eingebunden?
prognostizieren. Das ist, bezogen auf die Menge, die
überhaupt nachhaltig produziert werden kann, ein wirk-
lich beträchtlicher Anteil. Sie haben jetzt in Ihrem Vor- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
trag gesagt, dass die Waldstrategie die Ansprüche an den ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Wald und seine nachhaltige Leistungsfähigkeit in Ein- cherschutz:
klang bringen muss. Ich frage Sie: Welche Konsequen- Frau Kollegin, die Besitzer kleiner Waldstücke und
zen und Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung die Privatwaldbesitzer liegen uns sehr am Herzen. Die
in der Waldstrategie daraus für die Energiepolitik? Vererbung von kleinen Waldstücken bedeutet ein gewis-
ses Problem. Wir wollen insbesondere die forstwirt-
schaftlichen Vereinigungen stärken. Ich rufe die Klein-
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
waldbesitzer auf – sie gehören häufig zur städtischen
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Bevölkerung und haben von der Mutter oder Oma ein
cherschutz:
Stück Wald geerbt –, mit Waldpflegevereinbarungen an
Ich betone noch einmal, dass das Prinzip der Nachhal- die Waldbesitzervereinigungen heranzutreten.
tigkeit bedeutet: Schützen durch Nützen. Die Forstwirt-
schaft nutzt den Wald auf vielfältige Weise. Wenn wir Mit der Waldstrategie reagieren wir auf dieses Pro-
beispielsweise unsere ehrgeizigen Ziele bei der Steige- blem. Wir haben verschiedene Handlungsfelder festge-
rung des Anteils der erneuerbaren Energien erreichen legt. Ich nenne das Handlungsfeld „Rohstoffsicherung
wollen, kommt dem Holz als Träger der Biomasse he- und Effizienz“. Es geht dabei um den Waldbau. Das
rausragende Bedeutung zu. Ich will es einmal an ein paar heißt, die Waldfläche soll erhalten bleiben. Es geht um
Zahlen verdeutlichen: Schon derzeit trägt Holz als die Verbesserung der Wertschöpfung. Ich nenne Ihnen
NaWaRo mit einem Anteil von 35 Prozent grundlegend die Zahlen: 1,2 Millionen Beschäftigte im Cluster Holz-
zur Gewinnung erneuerbarer Energien bei. Der Anteil und Forstwirtschaft und ein Umsatz von 170 Milliarden
des Holzes an erneuerbaren Energien aus Biomasse be- Euro. Das ist also kein Randthema der Gesellschaft. Es
14792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- (D)
(B)
Der Kollege Holzenkamp. ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz:
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Zum Wald gehören natürlich das Wild und damit auch
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär der Jäger und die Jagd. Es gibt keinen Konflikt zwischen
Müller, vielen Dank für den Bericht und für Ihr persönli- Wald- und Forstwirtschaft und Jagd bzw. Jäger. Hier gibt
ches Engagement für den Wald in Deutschland und da- es regionale Unterschiede. Ich nenne einmal das Stich-
mit auch für die vielen Waldbesitzer. Sie haben gerade wort „Brandenburg“. Dort gibt es aktuell eine Diskus-
von dem Wirtschaftsfaktor Holz und Wald gesprochen. sion darüber, ob zu wenig gejagt wird, was zu einem
Wie kann man die Wirtschaftskraft und die Wettbe- starken Verbiss und weniger Aufwuchs führt. An ande-
werbsfähigkeit dieses Bereichs erhalten bzw. stärken? ren Stellen im Lande wird die Klage geführt, es werde zu
Was tut die Bundesregierung dafür? Welche Rolle spielt viel gejagt. Das können und werden wir nicht national
in diesem Zusammenhang die Forschung? regeln. Dazu gibt es Jagdgesetze, Landesgesetze und
Kreisbehörden, die das im Einvernehmen zwischen
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
Holz- und Forstwirtschaft, Jagdgenossen und Jägern
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- sehr erfolgreich festlegen. Wir stellen deutschlandweit
cherschutz: eine nachhaltige Jagdausübung fest.
Vielen Dank. Ich danke auch dem Deutschen Forst-
wirtschaftsrat, insbesondere dem Kollegen Schirmbeck Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
– er ist anwesend –, der wesentliche Vorschläge dazu Herr Gerig.
eingebracht hat.
Das Maßnahmenbündel macht deutlich, dass die For- Alois Gerig (CDU/CSU):
schungsförderung einen hohen Stellenwert hat. Im Zuge Sehr geehrter Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ih-
des Umbaus unserer Wälder unter dem Aspekt der Kli- ren Bericht. Ich freue mich, dass wir mit der Novellie-
matauglichkeit gibt es viele Fragen, die wir angehen rung des Waldgesetzes in 2010 und mit der baldigen
müssen. Die Fachleute wissen, was damit gemeint ist. Verabschiedung der Waldstrategie in 2011 zwei ganz
Ich nenne das Stichwort „Waldklimafonds“. Mit dem wichtige Marksteine zum Wohle unserer Wälder setzen.
Bundesumweltministerium kamen wir überein, einen Meine einfache Frage lautet: Welche Strategien verfolgt
Haushaltsansatz von 35 Millionen Euro jährlich festzule- die Bundesregierung konkret zur Anpassung unserer
gen – wir hätten uns mehr vorstellen können –, wobei Wälder an den Klimawandel?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14793
(A) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Flächenstilllegungen an. Ich weise aber darauf hin: Im (C)
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- neuesten Indikatorenbericht der Bundesregierung zur na-
cherschutz: tionalen Strategie zur biologischen Vielfalt wird festge-
Wir werden die vorhandenen Mittel aus dem Waldkli- stellt, dass wir mit einem Indikatorwert von 81 Prozent
mafonds vor allem in die Forschung investieren, um wei- den höchsten Teilindikator haben. Das heißt, Nachhaltig-
tere Probleme zu lösen. Eine zentrale Frage ist: Was ist keit wird in hohem Maße umgesetzt.
der optimale Waldbestand, welche Mischung aus Laub-
und Nadelwald sollte es an welchem Standort geben? Ich Schon heute stehen sage und schreibe 75 Prozent der
kann zu meiner Freude feststellen, dass es durch die hohe Waldfläche unter Schutz. Der Anteil der Naturschutzge-
fachliche und forstliche Praxis, die vor Ort praktiziert biete der durch die FFH-Richtlinie und Natura 2000 ge-
wird, in den vergangenen 30 Jahren zu einem natürlichen schützten Gebiete und nach Bundesnaturschutzgesetz
Umbau weg von diesen reinen Monokulturen, zum Bei- etc. geschützten Biotope beträgt 23 Prozent. Zudem sind
spiel mit Fichten oder Tannen, hin zu einer Mischbewal- 120 000 Hektar Bannwald ausgewiesen, die nun bundes-
dung gekommen ist. Wir haben heute – insgesamt gibt es einheitlich kartiert und aufgenommen werden sollen.
11,1 Millionen Hektar Wald – einen Mischwaldanteil von Wir gehen davon aus, dass die 5 Prozent, von denen die
70 Prozent und einen Laubbaumanteil von 40 Prozent. Rede ist, längst erreicht sind. Es wird keine pauschale
Wir unterstützen die Länder, aber auch die Kommunen Ausweisung einer Schutzgebietszone in Höhe von 5 Pro-
bei der Forschung zu der Frage, wie wir dieses Verhältnis zent geben.
in Zukunft optimal auf die jeweilige Region bezogen wei-
terentwickeln.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kelber, bitte.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Maisch, bitte.
Ulrich Kelber (SPD):
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, wir freuen uns, dass Sie die Wald-
Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf die strategie nach drei Jahren vorgelegt haben. Der Praxis-
EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie. Im Kapitel zum Schutz check ist allerdings etwas ernüchternd. Wenn man sich
von Boden und Wasserhaushalt in der Waldstrategie steht § 11 des Bundeswaldgesetzes anschaut, stellt man fest,
ja deutlich, dass die Bundesregierung eine solche Richt- dass zum Schutz des Waldes genau zwei Punkte festge-
linie ablehnt. Wir sind für eine solche Richtlinie. Deshalb legt sind: Kahlgeschlagene Flächen sollen in angemesse-
frage ich Sie: Wie wird die Ablehnung dieser Richtlinie ner Frist wieder aufgeforstet werden, wenn keine andere
(B) forstpolitisch begründet? Nutzung genehmigt wird, und die Kulturgeschichte des (D)
Waldes soll berücksichtigt werden. Ist die Bundesregie-
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- rung jetzt bereit, die gute fachliche Praxis, die Sie gerade
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- erwähnt haben, ins Bundeswaldgesetz aufzunehmen und
cherschutz: damit ökologische und soziale Mindeststandards gesetz-
Das wird EU-politisch so begründet: Die EU soll sich lich festzulegen?
um die Fragen kümmern, für die sie die Rechtszustän-
digkeit hat. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz:
Für den Boden im Forst gilt das nicht. Wir haben das Bundeswaldgesetz im vergangenen
Jahr novelliert. Es steht keine weitere Novellierung des
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bundeswaldgesetzes an. Es besteht aus ökologischer
Herr Schirmbeck, bitte. Sicht und auf der Basis der von mir vorgetragenen Er-
kenntnisse kein Anlass, an der guten fachlichen Praxis in
Georg Schirmbeck (CDU/CSU): den Ländern zu zweifeln. Auch ihre Umsetzung und ihre
Herr Staatssekretär, Sie haben aus meiner Sicht richti- Kontrolle sind gewährleistet.
gerweise ausgeführt, dass der deutsche Wald, was Quan-
tität und Qualität betrifft, in den vergangenen Jahrzehn- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ten erheblich gewachsen ist. Es hat also eine sehr
Herr Fischer, bitte.
positive Entwicklung stattgefunden. Da wir uns im Zeit-
alter der Biomasse befinden, frage ich Sie: Strebt die
Bundesregierung pauschale Flächenstilllegungen an? Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):
Herr Staatssekretär, in der Vergangenheit galt der
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Grundsatz „Wald und Wild“. Meine Frage: Wird dieser
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Grundsatz durch die Waldstrategie verdrängt, oder wird
cherschutz: er beibehalten? Besteht das Risiko, dass der Grundsatz
Ich habe mir die entsprechenden Unterlagen noch ein- „Wald vor Wild“ in den Ländern wieder verstärkt zum
mal genau angeschaut. Wir streben keine pauschalen Tragen kommt?
14794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Herr Caesar, bitte.
cherschutz:
„Wald und Wild“ ist ein tragfähiger Grundsatz, an Cajus Caesar (CDU/CSU):
dem wir festhalten. Eines unserer Handlungsfelder be-
Herr Staatssekretär, Sie haben eben zu Recht formu-
steht darin, für Aufklärung und Information zu sorgen
liert, dass es auf eine nachhaltige Bewirtschaftung an-
und zu verhindern, dass Feindbilder in die Gesellschaft
kommt. Sind Sie der Auffassung, dass dem durch die
getragen werden. Die Jägerinnen und Jäger in Deutsch-
Waldstrategie Rechnung getragen wird, und zwar vor
land leisten herausragende Arbeit. Sie leisten auch einen
dem Hintergrund, dass aufgrund der umweltfreundlichen
Beitrag zum Schutz und zur Erhaltung des Ökosystems
Erzeugung dieses Rohstoffes und der energetischen Ver-
Wald. Das funktioniert in den allermeisten Fällen in her-
wertung zusätzliche Anforderungen an den Wald gestellt
vorragender Zusammenarbeit und im Zusammenspiel
werden?
mit den Forstwirten. Wir fordern alle Beteiligten auf,
auch in Zukunft gemeinsam für die Erhaltung des Öko- Gerade mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wollen
systems Wald und für den Schutz von Natur und Tieren wir bestimmte Ziele erreichen, um der Bedeutung des
einzutreten. Klimaschutzes und natürlich auch der erneuerbaren
Energien Rechnung zu tragen. Was besagt also die Wald-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: strategie hinsichtlich der Tatsache, dass auch dem ener-
Herr Süßmair. getischen Bedarf Beachtung geschenkt werden muss?
Das würde bedeuten, dass man in der Lage ist, dort ent-
sprechend ausreichende Holzmassen bereitstellen zu
Alexander Süßmair (DIE LINKE): können.
Herr Staatssekretär, meine Frage knüpft an die eben
erwähnte Stilllegung von Waldflächen an. Sie haben ge- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
sagt, es soll keine pauschalen Stilllegungen geben, und ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
die bestehenden Flächen genannt. Mich würde interes- cherschutz:
sieren: Was plant die Regierung für den Fall, dass zum
Beispiel private Waldbesitzer im Rahmen der Biodiver- Ich habe den Istzustand genannt. Holz spielt eine he-
sitätsstrategie Flächen stilllegen? Wird der finanzielle rausragende Rolle. Wenn wir die Bioenergieziele, die
Ausfall ersetzt? Werden Entschädigungen gezahlt? Zur- sich die Bundesregierung gesetzt hat, erreichen wollen,
zeit ist in den Bundesländern leider die Tendenz zu be- wird Holz eine weiter steigende Bedeutung haben müs-
obachten, dass vor allem Staatsforste stillgelegte Flä- sen – auch unter dem Gesichtspunkt des aktiven Klima-
(B) chen bzw. ökologische Vorrangflächen zur Verfügung schutzes. (D)
stellen, mit der Folge, dass diese Einnahmen den öffent- Der Wald speichert ja nicht nur CO2 und gibt Sauer-
lichen Haushalten fehlen. stoff ab – das sind seine herausragenden Funktionen –,
sondern durch die stoffliche und energetische Nutzung
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ist der Kohlenstoff gebunden. Er wird nicht in die Atmo-
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- sphäre abgegeben. Es gibt also viele Gründe dafür, den
cherschutz: Bereich Holz sowohl für die energetische als auch für
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir bereits die stoffliche Nutzung – als Baustoff für den Hausbau
75 Prozent des deutschen Waldes als Sondergebiete bzw. und somit als Alternative zu Beton – weiter zu stärken.
als Schutzgebiete ausgewiesen haben und dass es jetzt In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen
keine Notwendigkeit gibt, darüber hinaus mit gesetzli- Punkt kurz ansprechen: Wir haben nicht nur national ein
chen Regelungen zu agieren. Zertifizierungssystem, das der Deutsche Forstwirt-
Ich darf Sie noch auf eine interessante Studie des schaftsrat begründet hat – die Forstwirte haben dies ein
Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hinweisen; denn Stück weit freiwillig entwickelt –, sondern wir sind da-
mit Ihrer Frage wird ja suggeriert, stillgelegte Waldflä- neben intensiv dabei, solche Regeln auch international
chen seien ökologisch wertvoller als genutzte Wälder. umzusetzen.
Dem wird durch die Ergebnisse der Wissenschaftler in
der Studie widersprochen. Sie sagen: Die Biodiversität Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wird durch wirtschaftlich genutzte Wälder nicht mehr Herr Ebner, bitte.
oder nur sehr wenig mehr als durch absolut nicht ge-
nutzte, verrottende Wälder beeinträchtigt. Ich kann Ih-
Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nen das am Beispiel der Käfer- und Vogelarten darstel-
len: Während es im Naturwald 451 Käferarten und Herr Staatssekretär, Sie haben soeben die wichtige
30 Vogelarten gibt, sind es im Wirtschaftswald 423 Kä- volkswirtschaftliche Bedeutung der Holzwirtschaft er-
ferarten und 32 Vogelarten. wähnt. Der Waldumbau weg von Nadelholzmonokultu-
ren hin zu Mischwäldern wird angesichts des Klimawan-
Wir haben das in einem Monitoring ganz genau wis- dels auch von der Bundesregierung – so haben Sie das
senschaftlich untersucht. Deshalb sind wir nicht für eine vorhin auch ausgeführt – wenn nicht als alternativlos, so
weitere gesetzliche Festlegung einer 5-Prozent-Schutz- doch als Ziel angesehen. Gleichzeitig ist die Holzwirt-
zone. schaft in weiten Teilen des Landes nicht auf die Verwer-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14795
Harald Ebner
(A) tung von Laubholz, sondern überwiegend auf die Ver- positiv herausgestellt. Die ökologischen und wirtschaft- (C)
wertung von Nadelholz eingestellt. lichen Themen sind zu einer Gesamtstrategie zusam-
mengewachsen, wie es in einer funktionierenden Bun-
Daher lautet meine Frage: Welche Strategie verfolgt desregierung vielleicht beispielgebend sein könnte.
die Bundesregierung, um holzwirtschaftlich und insbe-
sondere auch forschungspolitisch auf diese Herausforde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris
rung reagieren zu können? Das Thema Baustoffverwen- Gleicke [SPD]: Wir stellen fest: Auf der Re-
dung haben Sie ja schon angesprochen. gierungsbank wird gelacht!)
Danke.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Frau Behm.
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz:
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich habe die Zahlen genannt: 70 Prozent Mischwälder
mit einem Anteil von 40 Prozent Laubbäumen. In die- Es ist schön, dass ich noch einmal das Wort be-
sem Zusammenhang nenne ich auch die Themen Auf- komme. – Der Kollege Fischer hat die Jagd angespro-
wuchs und Buche. Außerdem verzeichnen wir einen Zu- chen. In Ihrer Strategie stellen Sie selbst nun fest, dass
wachs bei 80-jährigen Wäldern. Dies zeigt, dass durch sich die Jagdausübung in Deutschland ändern muss, da-
die fachliche forstwirtschaftliche Praxis in den Ländern mit es möglich ist, dass sich Wälder überall in Deutsch-
und vor Ort eine Nachhaltigkeit beim Umbau unseres land ohne kostenaufwendige Einzäunung, die für die
deutschen Waldes erreicht wird, sodass der Klimaschutz Waldbesitzer wirklich ein Problem ist, naturverjüngen.
erhöht werden kann. Mit dieser positiven Entwicklung Da frage ich mich ganz besorgt, warum Sie nicht die
sind wir sehr zufrieden. Die Holzwirtschaft muss sich, Schlussfolgerung ziehen, das Jagdrecht, also den rechtli-
was die Verarbeitung betrifft, sicherlich ein Stück weit chen Rahmen, zu ändern; denn schließlich ist es der
darauf einstellen. Ich sehe derzeit keine Notwendigkeit, rechtliche Rahmen, mit dem dafür gesorgt werden soll,
dass vonseiten der Bundesregierung hier der Holzwirt- dass wir in allen Teilen Deutschlands waldgerechte
schaft Hilfen geboten werden. Wilddichten haben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
Frau Crone, bitte. ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz:
(B)
Petra Crone (SPD): Frau Kollegin Behm, ich bin Herrn Fischer sehr dank- (D)
bar dafür, dass er dieses Ehrenamt übernommen hat und
Herr Staatssekretär, Sie haben sich am Anfang unter
diese Grundsätze in den Deutschen Jagdschutzverband
anderem für die Zusammenarbeit mit den Waldbesitzern
hineinträgt. Den bundesgesetzlichen Rahmen für die
bedankt. Schon zu Beginn des Jahres wurde ein Entwurf
Jagd in Deutschland bilden das Bundesjagdgesetz, die
präsentiert, der dann aber zurückgezogen werden
Bundesjagdzeitenverordnung sowie die Bundeswild-
musste, weil von den Naturschutzverbänden, Umwelt-
schutzverordnung.
verbänden und auch Forstverbänden sehr viel Kritik ge-
übt wurde. Man hatte nicht den Eindruck, dass da sehr Nun sage ich Ihnen Folgendes aus der Praxis: Vor ein
viel Partizipation vorhanden war. Wie sehen Sie das? paar Wochen, mittags um 12 Uhr, war ich zu Hause, lag
Wie sehen Sie den Informationsfluss zwischen dem Um- auf der Terrasse und sah, wie ein Fuchs vorbeiging. Stel-
weltministerium und dem BMELV? len Sie sich das einmal vor!
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was für
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- eine Überraschung!)
cherschutz: Er machte sich an meinem Kompost zu schaffen und
Bundesminister Röttgen und Bundesministerin Aigner schlich sich dann wieder davon.
haben diese Waldstrategie im Einvernehmen beschlos-
sen. Auf fachlicher Ebene gab es vorher einen zweijähri- Das verdeutlicht das Problem. Wir haben beispiels-
gen Informationsaustausch; das ist selbstverständlich. weise in meiner Region das Problem der Fuchsbejagung;
Die Fachkompetenz aller Ressorts wird hier eingebracht. denn viele Jäger sagen: Das mache ich nicht, weil es sich
nicht mehr lohnt. – Viele meinen noch immer, dass mit
Meine Kollegin Staatssekretärin Heinen haben wir der Jagd etwas verdient wird. Vielmehr müssen wir den
leider an das Bundesumweltministerium abgeben müs- Jägern dankbar sein, dass sie für diesen notwendigen
sen. Ausgleich sorgen.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie hat aber
sehr gut mitgearbeitet!) Die Abschusszahlen für Wild – das ist wichtig – wer-
den jeweils vor Ort, also regional, festgelegt. Es wäre
Damit ist der Einfluss unseres Hauses und die Kompe- Unsinn, wenn wir in Berlin oder auf Landesebene festle-
tenz dort in diesen Fragen gewachsen. Dies hat sich in gen würden, was in der Region wie in welchem Ausmaß
der Abstimmung und in der Zusammenarbeit als sehr bejagt werden muss.
14796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: reits praktiziert und auch vor der Sommerpause verabre- (C)
Wir bedanken uns beim Herrn Staatssekretär aus- det haben, dass jeweils nach einer Minute bei Fragen
drücklich für den Einblick in das Leben eines Staatsse- und Antworten ein Signal ertönt. Ich bitte Sie, schon im
kretärs. Vorfeld darauf zu achten, dass Sie Ihre Redezeit nicht
überziehen.
(Heiterkeit und Beifall)
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische
cherschutz: Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Ich lebe halt naturnah. Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Christian Lange
werden schriftlich beantwortet.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das ist wunderbar. – Herr Rief hat noch eine Frage. Wir kommen zur Frage 3 der Abgeordneten Ute
Kumpf:
Josef Rief (CDU/CSU): Wie ist der aktuelle Sachstand zum Ausbau der 27 Ne-
ckarschleusen, und gehört dieser Ausbau, wie er von der letz-
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, es ist heute schon ten Bundesregierung im Investitionsrahmenplan 2006 bis
verschiedentlich angesprochen worden: Das Wissen um 2010 zugesichert wurde, nach wie vor trotz der neuen Katego-
die Zusammenhänge im Wald und um den Wald herum risierung dieses Streckenabschnittes südlich von Heilbronn
ist bei der ländlichen Bevölkerung teilweise noch vor- durch die Bundesregierung als Ergänzungs- und Nebennetz zu
den prioritären Investitionsprojekten?
handen, bei der städtischen entsprechend weniger. Wel-
chen Beitrag kann die Waldstrategie leisten, um hier ein- Herr Staatssekretär.
fach Abhilfe zu schaffen?
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Frau Präsidentin, die Antwort lautet: Mit erforderli-
cherschutz: chen vorbereitenden Instandsetzungsmaßnahmen an den
Wir führen in diesem Jahr mit vielen Partnern im Schleusenanlagen wurde begonnen. Zurzeit laufen Vor-
Rahmen des Waldkulturerbes 6 000 Veranstaltungen untersuchungen und Planungen zur Grundinstandset-
durch. Das darf aber kein einmaliges Strohfeuer sein, zung bzw. zur Verlängerung von Schleusenkammern,
sondern der Wald gehört als Unterrichtsfach in die Schu- zum Bau von Fischaufstiegsanlagen sowie zum Ausbau
(B) len. Kinder und Jugendliche müssen den Naturraum und zur Sicherung von Liegestellen und Vorhäfen. (D)
Wald erleben. Auch manchem Abgeordneten würde es
guttun, Für die zu verlängernden Schleusenkammern sollen
die Planungen bis zum Jahr 2012 so weit vorangebracht
(Beifall des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/ werden, dass anschließend mit dem Bau begonnen wer-
CSU]) den kann. Die Reihenfolge der Maßnahmen wird anhand
wenn er am Sonntag keine Presseerklärungen abgeben, zustandsbedingter verkehrlicher und planerischer Krite-
sondern im Wald spazieren gehen würde. rien festgelegt. Hierbei sollen unter Berücksichtigung
der verkehrlichen Auslastung der einzelnen Streckenab-
(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Sehr gut! Wir ma- schnitte die Maßnahmen zur Schleusenverlängerung,
chen einen Termin mit dem Staatssekretär!) flussaufwärts betrachtet bis Heilbronn, prioritär voran-
Frische Luft schafft freie und gute Gedanken. getrieben werden, um möglichst frühzeitig den Hafen
Heilbronn mit 135 Meter langen Schiffen erreichen zu
Vielen Dank. können. Zugleich soll im Abschnitt Heilbronn–Plochin-
gen jeweils eine der beiden Zwillingskammern instand
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gesetzt werden, damit die Schifffahrt auch in diesem Ab-
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. schnitt den Neckar weiterhin sicher und leicht verkehren
kann.
Weitere Fragen zur heutigen Kabinettssitzung und
auch andere Fragen an die Bundesregierung liegen uns Der Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 stellt, wie
nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Tagesord- der Name besagt, einen Rahmenplan für die in diesem
nungspunktes. Zeitraum vorgesehenen Infrastrukturinvestitionen dar.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Dabei wurde im Hinblick auf eine mögliche zeitliche
Verzögerung bei einzelnen Projekten bewusst eine Pla-
Fragestunde nungsreserve einkalkuliert. Keinesfalls kann und konnte
zu irgendeinem Zeitpunkt aus dem Investitionsrahmen-
– Drucksachen 17/6994, 17/7019 –
plan eine Realisierungszusage in einem festgelegten
Die dringliche Frage 1 des Kollegen Thierse wird Zeitraum abgeleitet werden.
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen auf Drucksache 17/6994. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Auch hier wollen wir es so halten, wie wir das eben be- Frau Kumpf, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14797
(A) Ute Kumpf (SPD): gibt und in welchem Rahmen uns der Deutsche Bundes- (C)
Herr Staatssekretär, erst einmal herzlichen Dank da- tag, also Sie als Haushaltsgesetzgeber, die finanziellen
für, dass mit Ihrer Antwort ein bisschen mehr Licht ins Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um die Maßnahmen
Dunkel gebracht wurde. Trotzdem gibt es noch einige baulich umzusetzen. Das alles wird nur dann funktionie-
offene Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte. ren, wenn wir einen ausreichend großen Verkehrsetat be-
kommen.
Haben Sie auch schon mit der baden-württembergi-
schen Landesregierung Kontakt aufgenommen, um die- Da ich nicht über hellseherische Fähigkeiten verfüge,
sen Zeitplan und die Zeitschiene entsprechend zu erläu- kann ich Ihnen schlecht darüber Auskunft geben, wann
tern und darüber zu diskutieren? Haben Sie Ihr Wissen, wir genau damit beginnen werden. Ich habe gesagt, dass
das Sie uns heute präsentiert haben, auch an den Ober- wir anstreben, zumindest im Planungsbereich bis zum
bürgermeister der Stadt Stuttgart und an die Region wei- Jahr 2012 fertigzuwerden. Ich denke, dass wir uns dann
tergegeben, die Sie dringend gebeten haben, bei diesen auf Grundlage der zur Verfügung gestellten Haushalts-
Ausbauplänen zu bleiben? Es geht also nicht nur um die mittel mit der Realisierung befassen müssen.
Renovierung, sondern auch um den Ausbau und die Ver-
längerung der Schleusen. Haben Sie diesen Sachstand an Wir haben ein großes Interesse daran, den Verkehr,
die entsprechenden Stellen weitergegeben? der jetzt noch über die Straße läuft, möglichst auf andere
Verkehrsträger zu verlagern. Das ist eine sinnvolle Poli-
tik. Denn wir werden in den nächsten Jahren einen ge-
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- waltigen Anstieg des Güterverkehrs erleben. Wir haben
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: ein eigenes Interesse daran, einen Teil dieses Verkehrs
Geschätzte Frau Kollegin, wir sind in ständigem Kon- über den Neckar zu bewältigen.
takt mit allen Landesregierungen,
(Ute Kumpf [SPD]: Das scheint nicht so!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
selbstverständlich auch mit der in Baden-Württemberg. Es gibt eine Nachfrage der Kollegin Roth zu dieser
Wie Sie wissen, sind wir gerade dabei, einen neuen In- Frage.
vestitionsrahmenplan zu erarbeiten. Auch in diesem Zu-
sammenhang wird die Landesregierung von Baden- Karin Roth (Esslingen) (SPD):
Württemberg beteiligt werden. Verehrter Herr Staatssekretär Mücke, bei den 27 Neckar-
schleusen geht es um ein großes Thema, was Investition
Wir haben schon seit dem Jahr 2007 mit der Landes- und Planung betrifft. Daher haben wir in der Großen Ko-
regierung in Baden-Württemberg einen intensiven Aus- alition ein besonderes Amt eingerichtet, das unter ande-
(B) tausch über den Ausbau. Ich bin mir sicher, dass die von rem diese Planung vorbereitet. Das ist Ihnen bekannt. (D)
Ihnen geforderte Informationsweitergabe an die jeweili-
gen kommunalen Verantwortungsträger in bewährter In Ihrer Antwort sind Sie auf die Planungen bis Heil-
Weise erfolgen wird. bronn eingegangen. Das sollte auch in dem vorgesehenen
Zeitraum erfolgen. Darüber hinaus waren auch die Pla-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nungen der Baumaßnahmen von Heilbronn bis Plochin-
Ist der Eindruck richtig, dass Sie eine zweite Nach- gen eingetaktet. Sie haben in diesem Zusammenhang ei-
frage haben, Frau Kumpf? – Bitte schön. nen interessanten Satz gesagt, nämlich dass die oberhalb
von Heilbronn notwendigen Sanierungsmaßnahmen er-
folgen. Das hört sich zwar gut an, ist aber zu wenig.
Ute Kumpf (SPD): Denn die Beschlussfassung sieht klar vor, neben der Sa-
Genau, ich habe eine zweite Nachfrage und muss nierung auch gleichzeitig den Ausbau für Schiffe von
noch einmal insistieren. Denn ich muss die Briefe beant- 135 Metern Länge zu erreichen. Sind Sie in der Lage,
worten, die mir geschrieben werden, aber eigentlich an mir heute zu bestätigen, dass Sie auch das planen, oder
Sie gerichtet sein müssten. ist nur die Sanierung vorgesehen?
In der Großen Koalition ist verabredet worden, die
Sanierung und Verlängerung innerhalb von zehn Jahren Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
zu bewerkstelligen. Das ist schon ein relativ langer Zeit- ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
raum, und wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie Frau Kollegin, das kann ich Ihnen heute nicht sagen.
das noch weiter strecken. Das heißt, dass die ersten
Schiffe von 135 Metern Länge wahrscheinlich nicht erst (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Wie schön!)
2021, sondern erst 2025 den Neckar passieren können, Denn wir sind, wie Sie wissen, mitten in einer WSV-Re-
woraus sich eine Belastung für den Straßengüterverkehr form. Wir nehmen gerade eine Netzkategorisierung vor,
ergibt. Wie ist das, was Sie gesagt haben, genau zu inter- und zwar auf Anforderung des Haushaltsausschusses des
pretieren? Vielleicht können Sie das konkret sagen. Deutschen Bundestages. Zunächst einmal sind die Er-
gebnisse dieser Reform der Wasser- und Schifffahrtsver-
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- waltung und der damit verbundenen Netzkategorisierung
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: abzuwarten. Aus dieser Netzkategorisierung ergibt sich
Das kann ich leider nicht, weil ich natürlich nicht vor- dann, ob wir in Neubaumaßnahmen investieren können
hersehen kann, wie die einzelnen Planungsverfahren oder ob wir zunächst in den Erhalt der bestehenden In-
ausgehen werden, ob es möglicherweise Klagen dagegen frastruktur investieren.
14798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Ziel der Bundesregierung ist es, der innovativen Elek- Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich leider kein konkrete-
tromobilitätstechnologie in Deutschland branchenüber- res Datum als den Herbst nennen. Da Sie wissen, wann
greifend und branchenverknüpfend in konstruktiver Zu- der Herbst endet, können Sie abschätzen, wann spätes-
sammenarbeit mit den Bundesländern Schaufenster zu tens eine Entscheidung fallen wird bzw. die Partner in
bieten. Die deutsche Technologiekompetenz soll in etwa der Region wissen, bis zu welchem Zeitpunkt sie sich
drei bis fünf Großprojekten demonstriert werden, damit bewerben können.
die Öffentlichkeit die Elektromobilität erleben und buch- Wir gehen davon aus, dass in der Fachjury natürlich
stäblich erfahren kann. Vor allem die Offenheit neuen Vertreter der Industrie, aber auch der Wissenschaft sein
Technologien gegenüber soll in diesen Schaufenstern ak- werden. Ich habe Ihnen vorhin erläutert, dass es nicht
tiv unterstützt werden. nur um technische Aspekte geht, sondern auch um Fra- (D)
(B)
In den Schaufenstern können Mobilitätskonzepte so- gen des Ordnungsrechts. Das alles soll dort erprobt wer-
wie ordnungspolitische Rahmenbedingungen erprobt den. Deshalb wäre es sicher ein falscher Ansatz, aus-
werden. Durch die erfolgreiche und sichtbare Demon- schließlich auf die Industrie zu setzen. Die Fachjury
wird insofern breit aufgestellt sein. Ich kann jetzt
stration sollen Impulse für die internationale Nachfrage
schlecht vorhersagen, ob auch Frauen dabei sein werden.
generiert werden, was auch den Gedanken der Leitanbie-
Ich wünsche mir das jedenfalls. Ich werde Sie rechtzeitig
terschaft für Elektromobilität fördern soll. In den Schau-
über die Zusammensetzung der Fachjury schriftlich in-
fenstern werden die gewonnenen Erkenntnisse und Er-
formieren, wenn Sie das wünschen.
fahrungen aus den im Rahmen des Konjunkturpakets II
der Bundesregierung initiierten Programmen zur Förde-
rung der Elektromobilität, also aus den Modellregionen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
und Modellprojekten, die Ende 2011 auslaufen, weiter- Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Bitte schön.
entwickelt.
Ute Kumpf (SPD):
Die Bekanntmachung zur Förderung von Forschung
und Entwicklung der „Schaufenster Elektromobilität“ Ich möchte nachfragen: Die Schaufenster sind hof-
fentlich so gedacht, dass sie an den Modellregionen an-
wird im Herbst 2011 herausgegeben. Nach einer Bewer-
setzen und dass keine Projektruinen in den Modellregio-
bungsfrist von zehn Wochen wird für Interessenten nach
nen zurückbleiben. Nach ersten Informationen, die uns
jetziger Planung im Winter eine Fachjury tagen. Sie er-
erreichten, war nur von einem Schaufenster die Rede,
stellt eine Rangfolge der ausgewählten Projekte und
und zwar in Berlin. Dann wurde die Region Stuttgart er-
schlägt diese den Bundesministerien BMVBS, BMWi, wähnt. Vielleicht gibt es noch ein Schaufenster in Bay-
BMU und BMBF zu deren abschließenden Entscheidung ern. Wie hoch ist die Zahl der Schaufenster? Sind auch
der Auszuwählenden vor. Die Bundesregierung, vertre- ländliche Räume und grenzüberschreitende Aspekte be-
ten durch diese vier beteiligten Bundesministerien, ent- rücksichtigt?
scheidet auf Basis der eingereichten und bewerteten
Konzepte unabhängig, unter Berücksichtigung der Aus-
wahlvorschläge. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Wir planen, wie ich vorhin schon erwähnt habe, mit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: drei bis fünf Schaufenstern. Über grenzüberschreitende
Frau Kumpf, eine Nachfrage. Zusammenarbeit ist noch nicht entschieden worden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14799
(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Warum hat die Bundesregierung den Herbst, in dem sie (C)
Die Frage 5 des Abgeordneten Volker Beck und die loslegen will, sozusagen noch kürzer gemacht und die
Frage 6 der Abgeordneten Silvia Schmidt werden Anhörungsfrist um zwei Wochen verlängert?
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Pronold auf: Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Wann wird die Bundesregierung den bundesweiten Feld-
versuch mit Gigalinern im Jahr 2011 mit welcher Laufzeit Es ist generell eine gute Übung, dass wir uns und den
starten? Bundesländern die Zeit geben, um dieses anerkannter-
maßen schwierige Problem vernünftig abzuwägen. Des-
Herr Staatssekretär, bitte. halb ist, so glaube ich, eine zusätzliche Frist von zwei
Wochen zur Stellungnahme für die Bundesländer kein
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Nachteil, sondern ein Vorteil. Ich glaube, dass das ange-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: sichts der von uns vorgesehenen Zeit von fünf Jahren für
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, aufgrund der diesen Versuch kein Zeitraum ist, der das Voranbringen
Vielzahl der eingegangenen ausführlichen Stellungnah- des Projekts wesentlich beeinträchtigen wird. Wir gehen
men der Verbände und der Verlängerung der Stellung- davon aus, dass diese zwei Wochen dazu genutzt wur-
nahmefrist für die Bundesländer bis zum 16. September den, dass die Bundesländer ihre Stellungnahmen uns de-
2011 kann eine Aussage zum genauen Starttermin des taillierter zur Kenntnis geben konnten. Es ist sicher in ih-
Feldversuchs mit langen Lkw zum jetzigen Zeitpunkt rem Interesse, dass das in vernünftiger Weise erfolgt.
noch nicht getroffen werden. Der Feldversuch soll je-
(Florian Pronold [SPD]: Vielleicht sollten Sie
doch noch in diesem Herbst starten. Er soll auf eine
sie beteiligen, nicht anhören!)
Laufzeit von fünf Jahren ausgelegt sein.
– Eine Anhörung ist eine Form der Beteiligung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Pronold, Sie haben eine Nachfrage? – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte sehr. Eine Nachfrage des Abgeordneten Burkert. Bitte
schön.
Florian Pronold (SPD):
Mich würde interessieren, ob das Rechtsgutachten, Martin Burkert (SPD):
das von dem renommierten Professor Battis ist und das Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf den (D)
(B) die Allianz pro Schiene vorgelegt hat, Auswirkungen auf
Feldversuch. Können Sie bestätigen, dass das Bundes-
die Überlegung der Bundesregierung hat. Wenn ja, in land Hessen aus dem Feldversuch ausgestiegen ist? Ist
welcher Form? Wie bewerten Sie vor allem die recht- Ihnen bekannt, dass die großen Speditionsfirmen in
lichen Ausführungen, die besagen, dass der Bundestag Deutschland – ich nenne beispielsweise Kühne + Nagel,
und die Bundesländer bei dieser Frage zwingend zu be- aber auch andere – kundgetan haben, dass dann, wenn
teiligen sind, was von der Bundesregierung bislang un- Hessen nicht mehr bei dem Feldversuch mitmacht und
terlassen worden ist? auch Gefahrgut in den Gigalinern nicht transportiert
werden darf, der Feldversuch obsolet und völlig über-
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- flüssig ist?
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Wir kennen das Gutachten von Professor Dr. Battis Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
und gehen davon aus, dass Professor Battis hier einen ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
eigenständigen Regelungsgehalt einiger Vorschriften der
Diese Frage ist ähnlich wie die Frage 8 des Kollegen
Ausnahmeverordnung annimmt. Diese Auffassung teilen
Pronold gelagert. Uns ist ein Ausstieg des Bundeslandes
wir nicht. Wir gehen davon aus, dass es sich vielmehr
Hessen aus dem Feldversuch bisher nicht bekannt. Wir
um Bedingungen und Auflagen zu den Ausnahmetat-
haben gelesen, was dazu in der Presse zu finden war.
beständen handelt und deshalb eine Eigenständigkeit der
Aber richtig ist, dass es seitens des hessischen Verkehrs-
Regelung, wie sie Professor Battis ansieht, nicht gege-
ministers noch offene Fragen gegeben hat. Durch eine
ben ist.
entsprechende Anpassung in der Begründung der Aus-
nahmeverordnung konnte eine Lösung gefunden wer-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den. Deshalb gehen wir davon aus, dass das Bundesland
Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage? – Bitte Hessen am Feldversuch teilnehmen wird.
schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Florian Pronold (SPD): Dann sind wir jetzt bei der Frage 8 von Herrn
Ich habe die Nachfrage, worin denn die Verlängerung Pronold:
der Frist, die Sie angesprochen haben, begründet liegt. Was sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Gründe
Hat das etwas mit dem Rechtsgutachten zu tun? Hat das des Bundeslandes Hessen, sich nicht an dem bundesweiten
etwas mit dem Verhalten einiger Bundesländer zu tun? Feldversuch mit Gigalinern in Deutschland zu beteiligen?
14800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- suchs vorzunehmen, um dann möglicherweise weitere (C)
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: verkehrspolitische Schlüsse zu ziehen. Jetzt kommt es
Das ist dieselbe Antwort: Uns ist ein Ausstieg des uns darauf an, den Versuch ausnahmsweise möglich zu
Bundeslandes Hessen nicht bekannt. machen, und ich glaube, dass das auch der richtige Weg
ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt noch einmal der Kollege Burkert.
Florian Pronold (SPD):
Unabhängig von der Situation des Landes Hessen gibt Martin Burkert (SPD):
es aus vielen Bundesländern Widerstand, insbesondere Herr Staatssekretär, nachdem bekannt ist, dass bei den
aus Baden-Württemberg, das sich auch zurückgezogen Bahnübergängen in Deutschland für die langen Lkw die
hat. Wie bewertet die Bundesregierung diesen massiven Vertaktungen geändert werden müssen und das Millio-
Widerstand, und hält sie es bei einem solchen Thema für nenbeträge kostet, ist meine Frage: Ist das im Feldver-
sachlich geboten, mit einer Ausnahmeverordnung zu such schon berücksichtigt? Sind darin Bahnübergänge
agieren? mit Schranken enthalten? Wenn ja, wer trägt die Kosten?
Ist man mit der Deutschen Bahn schon zu einer Einigung
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- darüber gekommen?
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein verkehrspoli- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
tisch umstrittenes Thema von den Bundesländern sehr ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
unterschiedlich bewertet wird. Sie selber kennen die Ge- Wir gehen davon aus, dass die langen Lkw auf spe-
schichte der langen Lkw, die mit sehr unterschiedlichen ziell definierten Strecken unterwegs sein werden. Das
Bezeichnungen versehen worden sind, sehr gut. Es läuft sind natürlich in allererster Linie Autobahnen und damit
darüber schon sehr lange eine verkehrspolitische Diskus- kreuzungsfreie Strecken. Es geht uns ausdrücklich nicht
sion. Deshalb ist es für die Bundesregierung geradezu darum, dass die langen Lkw auf Kreis- oder Landesstra-
zwangsläufig, dass es einzelne Bundesländer gibt, die ßen fahren dürfen, auf denen es üblicherweise Bahn-
sich dazu anders verhalten, eine andere Position einneh- übergänge gibt. Uns geht es vor allem um den Verkehr
men. Das respektieren wir selbstverständlich. Aber das von Güterverkehrszentrum zu Güterverkehrszentrum
heißt nicht, dass wir für einen Versuch nicht eine Aus- über leistungsfähige Bundesstraßen.
nahme von der gültigen Verordnung zulassen können.
(B) Wir sehen ja, dass in einigen europäischen Ländern diese Über eine konkrete Absprache mit der Deutschen (D)
langen Lkw zugelassen sind. Deutschland ist ein großes Bahn AG kann ich Ihnen heute nichts berichten.
Transitland. Es ist aus meiner Sicht auch durchaus zuläs-
sig, dass wir uns angesichts steigender Frachtzahlen, an- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gesichts von Prognosen, die einen 70-prozentigen Zu- Noch eine Nachfrage. Bitte schön.
wachs des Güterverkehrs vorhersagen, auch Gedanken
darüber machen, wie wir diesen Güterverkehr mit ande- Kirsten Lühmann (SPD):
ren Mobilitätskonzepten bewältigen können.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, es gehe hauptsächlich
um Autobahnen und nicht um nachgeordnete Straßen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn es Ihnen hauptsächlich um Autobahnen geht, frage
Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte ich mich: Warum sind denn auf der Liste, die in dem von
schön. Ihnen verteilten Papier enthalten ist, sehr viele Straßen
aus dem nachgeordneten Bereich bis hin zu Kreisstraßen
Florian Pronold (SPD): verzeichnet?
Dann will ich deutlicher nachfragen. Warum gehen
Sie angesichts der Umstrittenheit dieses Themas in der Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Verkehrswelt und in der Öffentlichkeit über eine Aus- ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
nahmeverordnung? Trauen Sie Ihren eigenen Argumen- Es ist ganz klar, dass der größte Teil der benutzten
ten nicht zu, zu überzeugen, sodass Sie Bundestag und Straßen Bundesautobahnen sein werden. Ich habe nicht
Bundesrat bei dieser Frage ganz normal beteiligen könn- davon gesprochen, dass ausschließlich diese benutzt
ten? werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in dem einen
oder anderen Fall auch nachgeordnete Straßen benutzt
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- werden. Jedenfalls werden nur solche Straßen benutzt
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: werden dürfen, die einen solchen baulichen Zustand ha-
Ich glaube, dass die Ausnahmeverordnung das rich- ben – das wird uns von der Auftragsverwaltung, also von
tige Instrument für einen Versuch ist. Es wird ein Feld- den Bundesländern, mitgeteilt –, dass die Straßenprofile
versuch und keine Regelanwendung sein. Deshalb ist die mit den Dimensionen langer Lkw harmonieren. Sie wis-
von uns vorgesehene Regelung über eine Ausnahmever- sen, dass lange Lkw beispielsweise andere Schleppkur-
ordnung in der Tat der richtige Weg. Wir wollen die fünf ven haben und sie deshalb bestimmte Kurven, Kreisver-
Jahre nutzen, eine ergebnisoffene Evaluierung des Ver- kehre und Kreuzungsbauwerke nicht benutzen können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14801
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(A) Wir vertrauen ganz darauf, dass die Bundesländer mit Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- (C)
uns zusammenarbeiten und uns Straßen benennen, damit ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
trotz des Einsatzes langer Lkw flüssiger Verkehr mög- Nein.
lich sein wird.
Michael Groß (SPD):
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gibt es nicht. – Ich habe eine zweite Frage. Sie haben
Frau Gottschalck. ja die Vignette nicht ausgeschlossen. Erhoffen Sie sich
von der Einführung einer Vignette eine Lenkungswir-
Ulrike Gottschalck (SPD): kung bezogen auf das Verkehrsaufkommen und vor allen
Dingen eine ökologische Wirkung?
Herr Staatssekretär Mücke, können Sie ausschließen,
dass Bahnschranken betroffen sein werden?
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Da niemand konkret über die Einführung einer Vig-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
nette nachdenkt, sondern nur allgemeine politische Dis-
Das kann ich nicht ausschließen, weil ich nicht die kussionen über eine mögliche Nutzerfinanzierung ge-
ganze Liste der Straßen vor mir habe und damit auch führt werden, liegen solche Zahlen selbstverständlich
keine Auflistung der möglicherweise betroffenen Eisen- nicht vor.
bahnkreuzungen. Das kann ich Ihnen aber sehr gerne
nachliefern.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Pronold, bitte.
Ulrike Gottschalck (SPD):
Das wäre schön. Danke.
Florian Pronold (SPD):
Jenseits von dem, was der Verkehrsminister hier er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: klärt, gibt es ja auch viel in den Zeitungen zu lesen. Da-
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Beckmeyer her würde mich interessieren, ob Sie für die Bundesre-
werden schriftlich beantwortet. gierung oder für das Verkehrsministerium sprechen, was
die Pkw-Maut angeht, und wie ich damit umgehen soll,
Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Groß:
dass die Kanzlerin eine solche klar ablehnt, der Herr
Ist für den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent- Verkehrsminister aber die unterschiedlichsten Aussagen
wicklung und das dazugehörige Haus die Einführung einer
(B)
Vignette oder einer anders ausgestalteten Art der Maut-
hier im Plenum bisher dazu gemacht hat. Was gilt denn (D)
einnahme für Pkw eine Alternative, wenn es wie zu erwarten nun: Wird es eine Pkw-Maut geben oder nicht?
keine Haushaltsmittelerhöhung für den Verkehrsetat gibt, um
das Defizit von 2,5 Milliarden Euro auszugleichen?
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Ich vertrete den Bundesminister für Verkehr, Bau und
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Stadtentwicklung gerade hier in dieser Fragestunde, um
Lieber Herr Kollege Groß, Herr Bundesminister diese Frage zu beantworten.
Dr. Ramsauer hat zuletzt in der Haushaltsdebatte des
Deutschen Bundestages vom 9. September 2011 zum Des Weiteren hatte ich Ihnen gerade erläutert, dass es
Einzelplan 12 bekräftigt, dass zielgerichtete Budgeterhö- eine allgemeine politische Diskussion über das Thema
hungen für das Bundesministerium für Verkehr, Bau und „Einführung einer Pkw-Maut“ gibt. Wenn man sich poli-
Stadtentwicklung notwendig sind. Ich möchte Sie auf tisch entscheidet, diesem Gedanken nahezutreten, würde
das Plenarprotokoll 17/125 verweisen. Da die Einfüh- eine Umsetzung, gleich welchen Modells – Vignette,
rung einer jeglichen nutzerorientierten Abgabe entspre- streckenabhängige Maut oder wie auch immer –, min-
chende Umsetzungszeit benötigen würde, könnte diese destens einen Zeitraum von drei Jahren erfordern, also
Alternative jedoch nicht zur kurzfristigen Schließung der über diese Legislaturperiode hinaus dauern. Die Frau
Finanzierungslücke im Bundesfernstraßenbau beitragen. Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt, dass sie die Ein-
führung einer Pkw-Maut in dieser Legislaturperiode aus-
(Michael Groß [SPD]: Ich habe eine Nach- schließt. Deshalb handelt es sich um eine Diskussion, die
frage!) sich vor allen Dingen auf den Zeitraum nach dieser Le-
gislaturperiode bezieht.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des
Herr Groß, eine Nachfrage. Bitte schön. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Florian
Pronold [SPD]: Aha! Eine sehr schöne Ant-
Michael Groß (SPD): wort! – Ulrike Gottschalck [SPD]: Da sind wir
Vielen Dank. – Herr Mücke, ich frage Sie: Gibt es einmal gespannt!)
schon Erkenntnisse, wie hoch bei der Einführung einer
Vignette die Kosten für Anschaffung und jährliche Erhe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
bung wären? Herr Herzog.
14802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Gustav Herzog (SPD): Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- (C)
Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Hinweis, ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
dass wir das dann in der nächsten Legislaturperiode ent- Lieber Herr Kollege Hacker, ich muss Sie sehr enttäu-
sprechend zu bearbeiten haben. schen. Es gibt leider kein fertiges Mautkonzept. Auch
wenn Sie oder einer Ihrer Kollegen noch 20-mal nach-
fragen, bleibt es dabei: Es ist leider nicht existent.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ich habe nach
Überlegungen gefragt!)
Das habe ich nicht gesagt.
Ich kann Ihnen weder etwas zu möglichen Aus-
gleichsmaßnahmen für Autofahrer im ländlichen Raum
Gustav Herzog (SPD):
noch etwas zu anderen damit im Zusammenhang stehen-
Nachdem Sie uns nicht sagen konnten, was es kostet den Fragen sagen, da es bisher kein konkretes Konzept
und welche Einnahmen erzielt werden, jetzt die Frage an dazu gibt. Es gibt eine allgemeine politische Diskussion
den Vertreter des Verkehrsministers bzw. der Bundes- über die Einführung einer Nutzerfinanzierung, bezogen
regierung: Erwarten Sie denn von einer Vignette eine auf die Bundesstraßen, auch für den Pkw-Bereich –
bessere ökologische Lenkungswirkung als von der bis- mehr nicht.
herigen Kfz-Steuer?
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Herr Burkert, bitte.
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Ich glaube, dass man da zu sehr unterschiedlichen Er- Martin Burkert (SPD):
gebnissen kommen kann. Es kommt sehr darauf an, auf Herr Staatssekretär, wenn man Sie richtig verstehen
welche Art und Weise eine solche Pkw-Maut erhoben will, müsste man sagen: Sie reden darüber, aber ohne
werden würde. Ob es technische Lösungen dazu über- Plan; so könnte man es auch übersetzen. Würden Sie uns
haupt schon gibt, ist höchst zweifelhaft. Es gibt in den und den Zuhörerinnen und Zuhörern sagen, wie viele
allgemeinen politischen Diskussionen Überlegungen, ausländische Pkw von einer solchen Maut betroffen wä-
das ähnlich zu gestalten wie bei der jetzt in Deutschland ren?
erhobenen Lkw-Maut. Ich glaube, dass man hier zu-
nächst einmal die allgemeine politische Diskussion und Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
(B) die Entscheidung dazu abwarten sollte. Dann muss man ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: (D)
sich alle Fragen, die daraus entstehen, nämlich ob es eine Dazu gibt es unterschiedliche Schätzungen. Ich will
ökologische Lenkungswirkung gäbe oder nicht, neu stel- mich hier auf keine Zahl festlegen. Ich kenne Zahlen von
len. Aber zunächst einmal geht es hier um eine allge- 5 bis 8 Prozent. Aber das sind alles Schätzungen, die
meine politische Diskussion über das Thema „Nutzer- man im Moment nur wenig konkret vornehmen kann,
finanzierung im Straßenbau“. Hier sind alle Aspekte mit weil wir dazu keine Zählstellen oder ähnliche Erfas-
zu betrachten, natürlich die Systemkosten, so wie wir sie sungsmöglichkeiten haben. Das wäre also im Bereich
bei der Lkw-Maut schon kennen. Ich kann Ihnen nur sa- der Schätzung, und es ist immer noch eine rein spekula-
gen: Das ist eine Diskussion, die noch sehr lange dauern tive Frage, ob es jemals eine Pkw-Maut geben wird. Wir
wird. Sie wird keinesfalls in dieser Legislaturperiode befinden uns im Stadium einer allgemeinen politischen
eine Rolle spielen. Diskussion zum Thema Nutzerfinanzierung.
(A) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- (C)
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich kann Ihr Inte- Es gibt keine Anweisung.
resse sehr gut verstehen. Dass es im Bundesministerium
(Florian Pronold [SPD]: Das Denken muss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung keine Denkver-
nicht angewiesen werden!)
bote gibt, ist doch etwas sehr Gutes. Ich finde es gut,
dass da allgemein verkehrspolitisch nachgedacht werden
kann, Kirsten Lühmann (SPD):
Dann sagt der Minister die Unwahrheit?
(Iris Gleicke [SPD]: Es kommt bloß offen-
sichtlich zu keinem Ergebnis!)
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
genauso wie Sie und sehr viele Interessenverbände es ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
machen. Die Logistiker, der ADAC, sehr viele Men- Selbstverständlich hat der Minister völlig recht, wenn
schen in diesem Land machen sich Gedanken darüber, er sagt, dass es keine Denkverbote gibt. Aber wenn der
wie wir möglicherweise eine Nutzerfinanzierung gestal- Denkprozess noch nicht abgeschlossen ist, dann kann Ih-
ten können. Ob dadurch ein zusätzliches Aufkommen im nen schlechterdings nichts vorgelegt werden. So einfach
Verkehrshaushalt entsteht oder ob dies aufkommensneu- ist die Welt.
tral ist, wie viele ausländische Fahrzeuge davon betrof-
fen wären – all das sind allgemeine politische Fragen, (Kirsten Lühmann [SPD]: Also haben Sie
über die jeder diskutieren kann. nichts gemacht! – Gegenruf des Abg. Dr.
Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist profes-
(Florian Pronold [SPD]: Meine Frage war, was sionelles Arbeiten: Erst denken, dann reden!
nach eineinhalb Jahren Nachdenken herausge- Bei euch ist es umgekehrt! Ihr würdet einfach
kommen ist!) veröffentlichen!)
Ich kann Ihnen nur so viel sagen:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Florian Pronold [SPD]: Haben Sie jetzt nach- Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Groß auf:
gedacht oder nicht?)
Kann das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
Es gibt kein Konzept im Bundesministerium für Verkehr, entwicklung die Berichte der Süddeutschen Zeitung bestäti-
Bau und Stadtentwicklung, das Ihnen vorzulegen wäre. gen, in denen dargestellt wird, dass im Zusammenhang mit
dem Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 mehrere Projekte,
(Florian Pronold [SPD]: Dass Sie mir kein wie der für den Wirtschaftsraum Nordrhein-Westfalen hoch-
Konzept vorlegen, ist mir klar! Meine Frage: wichtige Rhein-Ruhr-Express, RRX, nicht aus dem Vorgän-
(B) (D)
gerplan übernommen werden?
Gibt es einen Denkprozess, auch wenn Sie es
mir nicht vorlegen wollen?)
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Deshalb kann ich Ihnen leider auf diese Frage keine Ant- ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
wort geben. Sie werden von uns kein Konzept bekom- Lieber Herr Kollege Groß, ich kann Ihnen darüber re-
men. lativ wenig Auskunft geben, weil es keinen neuen Inves-
titionsrahmenplan 2011 bis 2015 gibt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Frau Lühmann, bitte. NEN]: Gibt es irgendetwas, woran Sie arbei-
ten?)
Kirsten Lühmann (SPD):
Eigentlich wollte ich eine ähnliche Frage stellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Groß, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte schön.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Michael Groß (SPD):
Das habe ich mir gedacht.
Können Sie mir dann erklären, warum in der Presse
deutlich und definitiv beschrieben wurde, dass der RRX
Kirsten Lühmann (SPD): – eines der wichtigsten Projekte im Ruhrgebiet, um die
Ihre Antwort bringt mich aber zu einer anderen Fra- Mobilität der Menschen dort zu verbessern – bis 2015
ge. – Der Minister hat mehrfach – nicht nur vor einein- nicht finanziert werden wird?
halb Jahren – in der Presse dargestellt, dass er seinem
Haus den Auftrag gegeben hat, über die Einführung ei-
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ner Pkw-Maut nachzudenken und ihm das Ergebnis vor-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
zulegen. Sie sagen jetzt, Sie können uns das Ergebnis
Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich gehe davon
dieser Überlegungen nicht darlegen. Stimmen Sie mir
aus, dass die Grundlage für all das, was innerhalb und
zu, dass Sie den Anweisungen Ihres Ministers nicht ge-
außerhalb des Verkehrsausschusses öffentlich diskutiert
folgt sind?
wird, ein Arbeitspapier ist, das nicht abgestimmt worden
(Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] ist, und zwar weder mit der Leitung des Hauses noch mit
[FDP]) den Bundesländern, die zwingend zu beteiligen sind.
14804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
der von Ihnen dargelegten Situation, dass es, wenn man Anders als im Fernstraßenbau haben wir im Bereich
allein Ihre Zahlen für 2008 bis 2010 und das erste Halb- der Bundeswasserstraßen keine Auftragsverwaltung der
jahr 2011 nimmt, einen drastischen Zuwachs an Stunden Bundesländer; hier besteht eine eigene Zuständigkeit des
gibt, an denen die Schleusen nicht zugänglich waren? Bundes. Deshalb erfolgt eine Information der Landesre-
gierung, aber keine verwaltungstechnische Abstimmung.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir sehen den Bedarf an einer umfassenden, mehr-
jährigen Grundinstandsetzung, einer Sanierung. Wir Wir kommen zur Frage 16 des Kollegen Rossmann:
werden die dazu vorliegenden Vorplanungen in den Wie bewertet die Bundesregierung den baulichen und be-
nächsten Wochen aktualisieren und mögliche Varianten, trieblichen Zustand der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und
Kiel-Holtenau?
sowohl mit als auch ohne den vorlaufenden Neubau ei-
ner fünften Schleusenkammer, prüfen. Dies gilt im wei-
teren Verlauf auch für die großen Schleusenkammern in Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Kiel-Holtenau. ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
In den letzten Wochen waren beide großen Schleusen-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kammern in Brunsbüttel wechselseitig von technischen
Herr Rossmann, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte Störungen betroffen. Die dafür ursächlichen Schäden an
schön. den Führungsschienen der Schleusentore werden derzeit
schnellstmöglich repariert. Die großen Schleusenkam-
(B) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): mern in Brunsbüttel bedürfen darüber hinaus aufgrund (D)
ihres Alters – ich erwähnte es schon – einer umfassen-
Weil Sie es so darstellen, dass Sie jetzt prüfen, möchte
den, mehrjährigen Grundinstandsetzung. Die hierzu vor-
ich nachfragen: Wie kann es angehen, dass ein Staats-
handenen Vorplanungen werden in den nächsten Wo-
sekretär Ihres Hauses, Klaus-Dieter Scheurle, im Lande
chen aktualisiert; mögliche Varianten werden geprüft.
erklärt hat, dass es nicht sinnvoll und notwendig ist, im
Bundeshaushalt 2012 Investitionsmittel für den Bau
einer fünften Schleusenkammer zur Verfügung zu stel- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
len? Der Aufwuchs bei den Stunden der nicht störungs- Herr Rossmann, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
freien Zugänglichkeit zeigt doch deutlich, dass in Zu-
kunft durchaus die Situation auftreten kann, dass die
beiden vorhandenen großen Schleusenkammern parallel Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
ausfallen. Der Kanal wäre dann dicht, sofern es keine Herr Staatssekretär, ist es richtig, dass es in Bezug auf
dritte Schleusenkammer gäbe, über die man große den Neubau einer dritten großen Schleusenkammer eine
Schiffe durch den Kanal in Brunsbüttel leiten könnte. Planfeststellung gibt? Weshalb gehen Sie in Ihren Ant-
worten nicht auf die Möglichkeit ein, auf Grundlage der
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Planfeststellung für eine zusätzliche Schleusenkammer
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: in eine Investitionsfinanzierung einzutreten?
In der jetzigen Situation sind notwendige Notrepara-
turen aus den aktuellen Haushaltsmitteln zu bestreiten. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Ich will darauf verweisen, dass wir uns im Stadium der ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Vorplanung für mögliche Sanierungsmaßnahmen an die- Das Problem ist, dass wir hier eine wirtschaftliche
sen Schleusen befinden. Solange wir keine Ausfüh- Lösung finden müssen. Es ist durchaus denkbar, dass die
rungsplanung haben, macht ein Einplanen im Bundes- vorhandenen Vorplanungen eine nicht so wirtschaftliche
haushalt, also die Zurverfügungstellung von Mitteln, Lösung vorsehen. Es muss uns möglich sein, preiswer-
keinen Sinn. Bevor das, was gebaut werden soll, umge- tere Alternativen zu prüfen. Ich habe Ihnen schon erläu-
setzt werden kann, muss es zunächst eine Planung ge- tert, dass der Verkehrshaushalt dramatisch unterfinan-
ben. ziert ist; das ist kein Geheimnis. Deshalb suchen wir
nach möglichst wirtschaftlichen Lösungen, um hier
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: einen Schleusenbau bzw. die Sanierung eines Schleusen-
Herr Rix, bitte. baus voranzutreiben.
14808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Rix auf: (C)
Herr Rossmann, Sie haben eine weitere Nachfrage. Wie ist der Stand der aktuellen Planungen für die Ertüchti-
Bitte sehr. gung der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau,
und wie begründet die Bundesregierung die Verzögerungen
gegenüber den ursprünglichen Zeitplänen?
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Haben Sie Verständnis dafür, dass parteiübergreifend Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
alle politischen Gremien im Norden Deutschlands, in ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Schleswig-Holstein und in Hamburg, ebenso wie die Die Fragen 19 und 20 werden wegen ihres Sachzu-
Wirtschaft und die Menschen in der Region erwarten, sammenhangs gemeinsam beantwortet.
dass die Bundesregierung die Sicherheit und nicht die
Wirtschaftlichkeit als oberstes Kriterium bei der Bewer-
tung dieser Frage heranzieht? Mit welcher Expertise sind Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie ausgestattet? Glauben Sie, dass Ihre aktuellen Pla- Dann rufe ich auch die Frage 20 des Kollegen Rix
nungen, mit denen Sie marode Schleusen notdürftig auf:
sichermachen wollen, dem Kriterium einer dauerhaften Aus welchen Gründen favorisiert das Bundesministerium
Sicherheit im Betrieb gerecht werden? für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nach Medienberichten
„eine kleine Lösung“, wonach anstelle des geplanten und
planfestgestellten Neubaus einer dritten Großschleuse die ur-
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- sprünglich ab 2014 geplante Grundinstandsetzung der beiden
vorhandenen großen Schleusenkammern vorgezogen werden
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: soll (vgl. NDR vom 19. August 2011)?
Ich bin sicher, dass die Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung nur Sanierungen vornimmt, die den Sicherheits-
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
anforderungen genügen. Alles andere wäre ja auch grob
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
fahrlässig. Wir gehen davon aus, dass das die richtige
Die Spielräume für Investitionen in Wasserstraßen
Reaktion ist. Ich habe aber viel Verständnis dafür, dass
werden durch die Finanzierungsmöglichkeiten des Bun-
der Zustand der Schleusen in den norddeutschen Bun-
deshaushalts im Rahmen der dringend notwendigen
desländern, insbesondere in Schleswig-Holstein, große
Haushaltskonsolidierung begrenzt. Da demnach auf
Besorgnis hervorruft. Deshalb wird die Bundesregierung
absehbare Zeit nur ein kleiner Teil der erwogenen hoch-
die Vorplanungen überprüfen. Wir wollen, dass dieses
wirtschaftlichen Projekte in vertretbaren Zeiträumen
Problem gelöst wird. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass
realisiert werden kann, müssen konsequent sparsame
wir eine mehrjährige Sanierung dieser Schleusen anstre-
Lösungen gesucht werden.
ben. Das ist ein klares Signal an die Region, dass wir
(B) (D)
dieses Thema sehr ernst nehmen. Dieses Thema ist nicht Die großen Schleusenkammern in Brunsbüttel bedür-
nur für dieses Bundesland entscheidend, sondern für die fen aufgrund ihres Alters einer umfassenden und mehr-
gesamte Seeverkehrswirtschaft im Norden Deutschlands jährigen Grundinstandsetzung. Vor dem oben genannten
von enormer Bedeutung. Hintergrund werden in den nächsten Wochen die vorhan-
denen Vorplanungen aktualisiert und mögliche Varianten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sowohl mit als auch ohne vorlaufenden Neubau einer
Herr Kollege Rix hat eine Nachfrage. fünften Schleusenkammer geprüft. Erst nach Vorlage der
Ergebnisse dieser Prüfung können hierzu weitere Aussa-
gen getroffen werden.
Sönke Rix (SPD):
Wie sehen die Zeitplanungen genau aus? Habe ich Sie Für den Neubau einer dritten großen Schleuse in
richtig verstanden, dass Sie von dem Vorhaben abgegan- Brunsbüttel besteht vollziehbares Baurecht. Für die
gen sind, dort eine dritte Schleuse zu bauen? Schleusengruppe in Kiel-Holtenau wird derzeit ein In-
standsetzungskonzept erarbeitet.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Sie haben eine Nachfrage, Herr Rix.
Nein, ich habe Ihnen gesagt, dass wir zurzeit die Vor-
planungen überprüfen und mögliche Varianten erarbei-
ten. Das kann bedeuten, dass diese Schleusenkammer Sönke Rix (SPD):
gebaut wird. Es kann aber auch sein, dass wir zu anderen Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Situation an den
Ergebnissen kommen. Ich darf Sie bitten, diese Überprü- Schleusen bekannt ist. Deshalb frage ich nach Ihrem
fung abzuwarten. Wir werden Sie selbstverständlich, wie politischen Willen. Sind Sie bereit, wenn die benötigten
Sie das gewohnt sind, vollständig informieren. Mittel zur Verfügung gestellt werden können, eine dritte
Schleuse zu bauen?
(Lachen bei der SPD – Sönke Rix [SPD]: Das
ist das Problem!) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der politische Wille ist hier nicht entscheidend. Ent-
Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Thönnes scheidend ist, dass wir mit den Haushaltsmitteln sparsam
werden schriftlich beantwortet. und wirtschaftlich umgehen müssen. Ich habe erläutert,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14809
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(A) dass der Verkehrshaushalt unterfinanziert ist, und zwar Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): (C)
seit vielen Jahren. Wir haben eine Erblast übernommen. Um es etwas anschaulicher zu machen: Die Dauer
einer Sanierung der Großschleusen wird von den Fach-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
leuten auf zwei bis zweieinhalb Jahre geschätzt, die
Der Zustand der Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal ist ja Dauer des Neubaus einer dritten Großschleuse auf fünf
nicht erst seit Kurzem so schlecht. Daran möchte ich Sie und mehr Jahre. Aktuell wird in den Schleusen Hartholz
gern erinnern. eingebaut, damit sich die Schleusentore überhaupt noch
bewegen lassen. Können Sie uns vor diesem Hinter-
grund die Zeitachse für den großen Bypass über die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dritte Schleuse, also die Kapazitätserweiterung, für die
Herr Rix, Sie haben eine weitere Nachfrage. Sie ha- Sanierung der beiden Großkammern und für die aktuel-
ben, wenn Sie möchten, danach noch zwei weitere Mög- len notdürftigen Maßnahmen darstellen? Es ist doch ei-
lichkeiten zur Nachfrage, weil beide Fragen gleichzeitig gentlich logisch, dass man, weil es um Sicherheit geht,
beantwortet wurden. keine Maßnahmen ergreifen darf, bei denen nicht ausge-
schlossen ist, dass es am Ende zu einer Totalblockade
Sönke Rix (SPD): kommen könnte. Von daher stelle ich die Frage: Welche
Das kommt auf die Antworten an; so fair will ich sein. Rolle spielt für Sie die Sicherheit in dem Gesamtkonzept
mit diesen drei möglichen Maßnahmen?
Ich stelle noch einmal die Frage, die ich vorhin bereits
gestellt habe. Auch wenn die Landesregierung bei der
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Planung von Wasserstraßen nicht direkt zu beteiligen ist,
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
sondern nur informiert wird, gehe ich davon aus, dass
Sie einen intensiven Kontakt mit der Landesregierung Für uns geht es bei diesen Notmaßnahmen – ich
pflegen. Mich würde interessieren, ob Forderungen der kenne das Problem mit den Holzbalken – zunächst ein-
Landesregierung bei Ihnen aufgelaufen sind und wie mal darum, die Schleusentore gängig zu halten, damit
diese lauten. die Schleusen überhaupt arbeiten können und der sichere
Fluss des Verkehrs sichergestellt wird. Bei der Frage
nach den Varianten, Sanierung oder Neubau, muss ich
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Sie auf das verweisen, was ich vorhin gesagt habe. Wir
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: überprüfen dies im Moment. Ich darf Sie bitten, diese
Wir wissen, dass die Landesregierung Wert darauf Überprüfung abzuwarten. Wir werden Sie rechtzeitig
legt, dass diese Schleusen möglichst zügig und vollstän- darüber informieren, für welche der beiden Lösungen
(B) dig instand gesetzt werden. Wir kennen die Forderung wir uns entschieden haben. Dabei spielen die Aspekte (D)
aus der Region, aber wir müssen uns an das Wirtschaft- Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs genauso eine
lichkeitsgebot halten. Deshalb versuchen wir, gemein- Rolle wie die Wirtschaftlichkeit.
sam mit dem Land zu Lösungen zu kommen, die vor Ort
akzeptiert werden können. Aber zunächst einmal ist für Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
uns wichtig, dass wir für die Wasserstraßenverwaltung in
eigener Verantwortung tätig sind, und das wird auch Herr Rossmann kann keine weitere Nachfrage stellen,
künftig so sein. weil er nicht der ursprüngliche Fragesteller ist.
Die Frage 21 der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Hans-Peter
Herr Rix hat noch eine weitere Frage. Bartels sowie die Fragen 24 und 25 der Kollegin Bettina
Hagedorn werden schriftlich beantwortet.
Sönke Rix (SPD): Wir kommen zur Frage 26 des Kollegen Gustav
Sie haben nun zum wiederholten Male die Wirtschaft- Herzog:
lichkeit an erste Stelle gestellt. Ich möchte Sie fragen, an Kann die Bundesregierung den Standort und den Personal-
welcher Stelle die Sicherheit bei Ihnen steht. stand des Wasser- und Schifffahrtsamtes Hannoversch Mün-
den zusichern?
(A) Gustav Herzog (SPD): tig Fragen formulieren kann, sollte lieber den (C)
Herr Staatssekretär, es freut mich, dass Sie so viel Mund halten!)
Respekt vor dem Haushaltsgesetzgeber haben. Vielleicht
– Ich korrigiere die Kollegin ja nur ungern, aber ich
kann sich die Bundesregierung aber doch dazu aufraffen,
finde, das ist die pure Wahrheit, und das muss hier ge-
den Vorschlag zu machen, dies entsprechend fortzuset-
sagt werden. Das ist also die Schleuse Kleinmachnow.
zen, und das auch in die Entwürfe, die dem Parlament
vorgelegt werden, hineinzuschreiben. Der Ausbau dieser Schleuse war ursprünglich vorge-
sehen. Wir haben diesen Planfeststellungsbeschluss
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- nicht vollzogen, weil wir einen erheblichen Druck aus
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: der Region und den Zweifel gespürt haben, dass dieses
Wie Sie wissen, befinden wir uns im Status der Haus- Projekt so einfach umsetzbar wäre.
haltskonsolidierung. Die gesamte Bundesregierung Die Frau Kollegin Behm lächelt mich die ganze Zeit
– alle Häuser – muss dazu beitragen, dass wir eines Ta- interessiert an. Sie ist beispielsweise eine der Kollegin-
ges einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen kön- nen, die massiv gegen den Ausbau dieser Schleuse zu
nen. Das heißt, dass wir alle unter erheblichen Spar- Felde gezogen sind.
zwängen stehen und vieles Wünschenswerte gerne im
Verkehrshaushalt vorfinden würden, das wir im Moment (Gustav Herzog [SPD]: Die hat eine andere
nicht ausreichend finanzieren können. Ganz klar ist Meinung als wir! Hören Sie in dieser Frage
nämlich, dass wir uns als Gesamtstaat nicht übernehmen nicht auf die Grünen!)
können; denn wir sehen ja an einigen europäischen Part-
Zum Bedarf dieser Schleuse gibt es durchaus sehr unter-
nerländern, wohin es führen kann, wenn man sich zu
schiedliche Einschätzungen. Bundesminister Peter
sehr verschuldet.
Ramsauer hat entschieden, dass dieser Planfeststellungs-
beschluss zunächst nicht vollzogen wird.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Lühmann. Ich glaube, dass wir im Sinne einer Priorisierung von
Maßnahmen, gerade bei den Bundeswasserstraßen, die-
jenigen Maßnahmen umsetzen sollten, die ganz beson-
Kirsten Lühmann (SPD): ders hochwirtschaftlich sind.
Herr Staatssekretär, es geht jetzt einmal nicht um die
Zukunft, sondern um die Vergangenheit, nämlich um die
Schleuse Kleinmanchow. Es gibt einen Planfeststel- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich erteile Herrn Burkert zur nächsten Nachfrage das (D)
(B) lungsbeschluss aus dem Jahr 2002. Die Bundesregierung
hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage – Druck- Wort.
sache 17/511 – festgestellt, dass der Ersatz der Schleuse
Kleinmalchow aufgrund ihres Zustandes zwingend er- Martin Burkert (SPD):
forderlich ist und dass das nichts mit irgendwelchen Ver- Herr Staatssekretär, wie kommt es eigentlich, dass
kehrszahlen zu tun hat. Binnenschiffe auf dem deutschen Binnenwasserstraßen-
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Es netz unter maltesischer Flagge fahren, obwohl wir keine
gibt kleine Machos, aber weder eine Schleuse Binnenwasserstraße erdacht haben und, soweit ich weiß,
Kleinmanchow noch eine Schleuse Kleinmal- noch keine Wasserstraße Deutschland und Malta verbin-
chow!) det?
Ich frage Sie, warum Sie diesen Planfeststellungsbe- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
schluss im Dezember 2010 zurückgenommen haben, ob- ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
wohl Sie in der Antwort auf die Kleine Anfrage gesagt
haben, dass der Ersatz zwingend erforderlich ist. Diese Frage kann ich Ihnen so aus dem Hut nicht be-
antworten. Ich nehme sie aber gerne mit und werde Ih-
nen gerne eine Antwort zukommen lassen.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: (Martin Burkert [SPD]: Darauf sind wir sehr
Frau Kollegin, ich gehe davon aus, dass Sie nicht die gespannt!)
Schleuse Kleinmalchow und auch nicht die Schleuse
Kleinmanchow, sondern die Schleuse Kleinmachnow Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
meinen. Frau Gottschalk.
(Florian Pronold [SPD]: Wenigstens wissen
Sie heute irgendetwas!) Ulrike Gottschalck (SPD):
– Wie bitte? Herr Staatssekretär, unter welchen Tarifbedingungen
arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bin-
(Florian Pronold [SPD]: Wenigstens wissen nenschifffahrtsunternehmen – damit meine ich die
Sie heute irgendetwas! Das ist auch schon ein- Schwarze und die Weiße Flotte – mit Sitz in Deutschland
mal etwas! – Gegenruf des Abg. Dr. Martin im Vergleich zu Unternehmen mit Sitz im europäischen
Lindner [Berlin] [FDP]: Wer nicht einmal rich- Ausland? Welche Maßnahmen unternimmt die Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14813
Ulrike Gottschalck
(A) regierung gegen Dumpinglöhne in der Binnenschiff- weisen Reduzierung des Schienenbonus, und wann wird das (C)
fahrt? Ziel erreicht, ihn ganz abzuschaffen?
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Die Binnenschifffahrt ist wie jeder andere Wirt- Frau Kollegin, die Antwort auf Ihre Frage lautet: Der
schaftszweig vollständig frei, mit den Tarifpartnern ge- Koalitionsvertrag sieht vor, den Schienenbonus schritt-
meinsam einen Tarifvertrag auszuhandeln. Die Bundes- weise zu reduzieren mit dem Ziel, ihn ganz abzuschaf-
regierung wird sich in die Findung von Tarifen ganz fen. Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an,
sicher nicht einmischen. Das liegt nämlich nicht in unse- differenzierte Aspekte der Lärmcharakteristik, der kon-
rer Zuständigkeit. kreten schutzbedürftigen Situation und der Wirkung auf
den Menschen zu betrachten und auch die finanziellen
Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Pronold, bitte schön. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung erarbeitet derzeit den Entwurf einer Ände-
rungsverordnung zur 16. BImSchV, der voraussichtlich
Florian Pronold (SPD):
bis Ende 2011 vorgelegt wird und danach innerhalb der
Auch mir geht es um die Binnenschifffahrt und die Bundesregierung abzustimmen ist.
Fahrgastschifffahrt. Zum 31. Dezember läuft die gel-
tende Regelung zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz
aus. Ist denn daran gedacht, das fortzusetzen? Ergän- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zend: Was ist, wenn Übernachtungsmöglichkeiten auf Sie haben eine Nachfrage, bitte schön.
dem Schiff sind, werden sie dann wie Hotels bewertet?
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
(Lachen bei der SPD)
Herr Staatssekretär, könnten Sie uns schon die Eck-
punkte dieses Entwurfs mitteilen? Die Hälfte der Legis-
Jan Mücke (FDP): laturperiode ist schließlich schon vorbei.
Es läuft noch eine Diskussion darüber, die vor allen
Dingen von den Finanzpolitikern zu entscheiden ist. Das (Hans-Joachim Otto, Staatssekretär: Sie sind
Bundesverkehrsministerium wird dazu keine Stellung aber ungeduldig!)
nehmen.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
(B) (Gustav Herzog [SPD]: Das ist interessant!) ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: (D)
Sie sind in der Tat sehr ungeduldig. Dieses Projekt be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: findet sich noch in der Erarbeitung. Ich darf Sie bitten,
Noch eine Nachfrage, Frau Kressl. Bitte schön. sich bis zum Ende des Jahres 2011 zu gedulden.
(Florian Pronold [SPD]: Also im Herbst wie-
Nicolette Kressl (SPD): der!)
Herr Staatssekretär, mich würde interessieren, wie Sie
die Aussage bewerten, die wir heute von der Bundes- Dann werden wir Ihnen einen Entwurf vorlegen.
regierung im Finanzausschuss gehört haben, dass die Ich möchte eine ähnliche Situation wie beim Investi-
Bundesregierung keinen Vorschlag zur Verlängerung des tionsrahmenplan vermeiden, bei dem in der Öffentlich-
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorlegen will. keit über sehr vieles spekuliert wird, obwohl es noch kei-
(Gustav Herzog [SPD]: Hört! Hört! – Florian nen fertigen Investitionsrahmenplan gibt. Ich möchte
Pronold [SPD]: Teilt das Bundesverkehrs- vermeiden, dass uns bei der schrittweisen Reduzierung
ministerium das?) des Schienenbonus ein ähnliches Schicksal ereilt.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Das sind unterschiedliche Regelungskreise; denn der Die Bundesregierung beantwortet die Frage wie folgt:
Schienenbonus bezieht sich auf neu zu bauende Ver- Ziel der Bundesregierung ist es, zum Erreichen der Um-
kehrsinfrastrukturen im Schienenbereich, während das welt- und Klimaschutzziele sowie zur Entlastung der
Trassenpreissystem auf allen Trassen Anwendung findet, Straße die Verlagerung auf Schiene und Wasserstraße zu
insbesondere auf den heute schon vorhandenen. Deshalb fördern, wo immer dies sinnvoll ist. Die Bundesregie-
gibt es keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Re- rung geht davon aus, dass die von ihr vorgesehenen in-
gelungskreisen. Sie ergänzen sich gegenseitig und sollen vestitions- und ordnungspolitischen Maßnahmen zur
dazu führen, dass es im Eisenbahnverkehr insgesamt zu Stärkung des Schienenverkehrs eine Verlagerung von
geringeren Lärmbelastungen kommt. Sehr viele Men- Güterverkehren auf die Schiene ermöglichen werden.
schen in unserem Land sind von Eisenbahnlärm betrof-
fen, wodurch insbesondere die Akzeptanz des Güterver- Vizepräsident Eduard Oswald:
kehrs sinkt. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, Herr Burkert, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
diese Akzeptanz zu erhöhen. Dazu sind beide Instru-
mente sehr wichtig.
Martin Burkert (SPD):
Meine erste Nachfrage lautet: Welche Neu- und Aus-
Vizepräsident Eduard Oswald: baumaßnahmen werden konkret in den nächsten fünf
Frau Kollegin, haben Sie noch eine Nachfrage? – Jahren für das steigende Güterverkehrsaufkommen an
Nein. Dann stellt der Kollege Herzog eine Frage. Bitte den deutschen Nord- und Ostseehäfen durch die Bundes-
schön, Kollege Herzog. regierung realisiert?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14815
(A) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Jahren bis zum Vorliegen eines Planfeststellungsbe- (C)
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: schlusses rechnen.
Das ist eine versteckte Nachfrage nach dem Investi- Wir werden versuchen, die Maßnahmen auch im Dia-
tionsrahmenplan. Ich habe dazu vorhin bereits ausführ- log mit der Region schnell umzusetzen. Das ist nicht
lich Auskunft gegeben. Zu konkreten Projekten des ganz einfach, wie Sie wissen, weil sehr viele Bürgerin-
künftigen Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 kann nen und Bürger beispielsweise wegen der Lärmbelas-
ich Ihnen aufgrund des Arbeitsstands heute leider keine tung, die bereits angesprochen wurde, diese Strecke kri-
Auskunft geben. tisch hinterfragen. Gleichwohl ist für uns der Ausbau der
Rheintalbahn von enormer volkswirtschaftlicher Bedeu-
Vizepräsident Eduard Oswald: tung. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, dass
Sie haben eine weitere Frage, diesmal keine ver- wir ihren Ausbau gemeinsam mit der Region hinbekom-
steckte, sondern eine direkte. men.
Aber was den Investitionsrahmenplan anbetrifft, gilt
Martin Burkert (SPD): das, was ich vorhin gesagt habe. Ich bitte um Verständnis
Ich habe immer direkte Fragen. – Wie sieht die Bun- dafür, dass ich zu einzelnen Projekten aus dem Investi-
desregierung den Abfluss der Güter aus der Schweiz tionsrahmenplan heute keine Auskunft geben kann. Bitte
nach Fertigstellung des Tunnelsystems und des Gott- gedulden Sie sich, bis dieser vorliegt.
hardtunnels auf deutscher Seite im Jahr 2019? Werden
dafür Vorbereitungen getroffen? Wie sehen die Pläne für Vizepräsident Eduard Oswald:
den Brenner Basistunnel auf der österreichischen Seite Eine weitere Nachfrage, bitte.
aus?
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Herr Staatssekretär Mücke, es gibt aber auch an der
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Rheintalbahn baureife Projekte wie den Rastatter Tun-
Wir werden hierzu im Investitionsrahmenplan Aussa- nel. Wann wird mit dem Bau begonnen? Denn die
gen treffen. Sie wissen, dass das für uns ebenso wie die Rheintalbahn hat eine wichtige volkswirtschaftliche Be-
Rheintalbahn oder auch die Fehmarnbelt-Querung eines deutung, wie Sie gerade gesagt haben. Dieser Tunnel hat
der sehr wichtigen internationalen Schienenverkehrsvor- schon mehrere Jahre die Baureife.
haben ist. Das alles sind internationale Projekte. Zum
einzelnen Sachstand, was die Planung und Umsetzung Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- (D)
(B) angeht, würde ich Ihnen gerne schriftlich Informationen
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
nachliefern. Dazu kann ich heute keine Aussage treffen. Wir wer-
den die Priorisierung der Projekte im IRP vornehmen
Vizepräsident Eduard Oswald: und Sie im Anschluss an die Erarbeitung des IRP da-
Vielen Dank. – Sie haben noch eine Nachfrage, Frau rüber informieren, welches Projekt wann umgesetzt
Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Bitte schön. wird.
(B) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir, da die (D)
Bundesregierung jetzt festgestellt hat, dass die Kosten
Meine Nachfrage lautet: Wie würden Sie die Zu- schon deutlich gesunken sind, eine weitere Liberalisie-
stände auf einem Bahnhof bezeichnen, der in Teilen rung gar nicht mehr benötigen?
weiträumig abgesperrt ist, auf dem Bauarbeiten stattfin-
den und von dem aus Durchbrüche zum Beispiel zur
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
Bayrischen Straße geschaffen werden, wenn Sie das ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
nicht als Baustelle bezeichnen wollen? Dieser Auffassung bin ich nicht. Ich kann Ihnen zu
möglichen Absichten der Kommission oder von Herrn
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Kallas keine Auskunft geben. Das Prinzip, dass ständig
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: auch diese Fragen überprüft werden sollen, kann ich nur
Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Es handelt sich um bestätigen. Möglicherweise gibt es auch noch Wirt-
die Erneuerung einiger weniger, noch nicht sanierter schaftlichkeitsreserven. Wir werden abwarten, welchen
Entwurf uns die Kommission vorlegen wird. Die Bun-
Bahnsteige. Alle anderen sind schon saniert. Das Ge-
desregierung kann dazu noch keine Position beziehen,
bäude ist in einem hervorragenden Zustand. Ich bin si-
weil wir den Entwurf noch nicht kennen.
cher, dass wir auch diese zweite Baustufe noch umsetzen
werden. Die Frage ist nur, zu welchem Zeitpunkt das
passieren wird. Das ist eine Frage, die erst nach den noch Vizepräsident Eduard Oswald:
zu erfolgenden Abstimmungen über den Investitionsrah- Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.
menplan beantwortet werden kann.
Kirsten Lühmann (SPD):
Eigentlich müsste die Bundesregierung eine Meinung
Vizepräsident Eduard Oswald:
dazu haben, ob sie eine Veränderung für nötig befindet
Vielen Dank. – Ich komme jetzt zur Frage 37 unserer oder nicht. Aber ich nehme zur Kenntnis, dass die Bun-
Kollegin Kirsten Lühmann: desregierung die nicht hat.
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu Plänen der Dann versuche ich es einmal andersherum. Bei der of-
Europäischen Kommission, im Oktober 2011 einen Entwurf fenen Konsultation – ich hoffe, dass die Bundesregie-
zur Neuformulierung der Richtlinie zur Marktöffnung der Ab-
fertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft im rung die verfolgt hat – haben verschiedene Akteure fest-
Rahmen eines Flughafenpaketes vorlegen zu wollen, und wie gestellt, dass es aufgrund der Liberalisierung angezeigt
plant die Bundesregierung hierauf zu reagieren? ist, in der geänderten Richtlinie auch die Arbeitsbedin-
14820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Kirsten Lühmann
(A) gungen festzulegen. Wie steht die Bundesregierung zu Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
diesem Ansinnen, sollte sie das zur Kenntnis genommen Noch eine Nachfrage? – Bitte.
und sich da schon eine Meinung gebildet haben, was
schön wäre? Kirsten Lühmann (SPD):
Ich versuche es noch einmal; ich bin ja hartnäckig. Ist
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- die Regierung im Lichte der Feststellung der Gewerk-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: schaften, dass es schon nach der letzten Liberalisierung
Wir kennen die Kritik, dass die Liberalisierung der 1996 zu einer deutlichen Verringerung der Sozialstan-
Bodenabfertigungsdienste zu Lohndumping und ähnli- dards gekommen ist, insbesondere zu einer Erhöhung des
chen Schwierigkeiten geführt haben soll. Wir können Umfangs der Zeitarbeit und der Zahl befristeter Arbeits-
das nur eingeschränkt nachvollziehen. Ich glaube, dass verträge aufgrund von häufig wechselnden Anbietern, der
die Vereinbarung von Sozialstandards die Sozialpartner Meinung, dass man zum Beispiel die Möglichkeiten aus
klären sollten. Wir werden dennoch vorurteilsfrei und Art. 18 und 19 der Richtlinie, nämlich innerstaatlich Vor-
offen prüfen, was uns die EU-Kommission zu dieser schriften zum Schutz der Beschäftigten zu erlassen, nut-
Frage vorlegen wird. zen sollte?
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Wir haben noch keine Position dazu erarbeitet. Zu- Einen entsprechenden Vorschlag kenne ich nicht. Wir
nächst warten wir den Kommissionsvorschlag ab. werden das prüfen. Ich hielte es für sehr ungewöhnlich,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14821
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(A) wenn das Usus werden sollte. Es kommt immer auf die die Wälder-Weltinitiative vorgenommen. Es stellen sich (C)
Ursache einer Verspätung an. Ich glaube nicht, dass da- folgende Fragen: Weiß man, in welchem Eigentum sich
für der Lokführer haftbar gemacht werden kann. diese 2 Milliarden Hektar befinden? Wird es möglich
sein, den Zugang zu den 150 Millionen Hektar zu ge-
Vizepräsident Eduard Oswald: währleisten, um die Aufforstung durchzuführen?
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Sie werden es nicht
glauben, aber wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- sicherheit:
cherheit. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Die Zahl 2 Milliarden Hektar hat man erst in jüngster
Heinen-Esser steht zur Beantwortung der Fragen zur Zeit errechnet. Man konnte durch neue Methoden berech-
Verfügung. nen, wie viel Waldfläche tatsächlich zur Wiederauffors-
tung bzw. zur Wiederherstellung zur Verfügung steht. Die
Frau Kollegin Vogt ist nicht anwesend. Mit ihren Fra- 150 Millionen Hektar sind teilweise in Landesbesitz. So
gen 39 und 40 wird verfahren, wie in der Geschäftsord- wird beispielsweise das Land Ruanda den Wiederaufbau
nung vorgesehen. seiner Wälder auf insgesamt 2,6 Millionen Hektar unter-
Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Cornelia Behm stützen.
auf:
In welcher Form wird die Bundesregierung die im Rah- Vizepräsident Eduard Oswald:
men der Waldkonferenz „Bonn Challenge“ am 2. September Eine weitere Nachfrage?
2011 unter anderem vom Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, angekün-
digte Wälder-Weltinitiative, die in den Jahren 2011 bis 2020 Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
weltweit 150 Millionen Hektar Wald wieder aufbauen will, fi-
nanziell und organisatorisch unterstützen?
Man weiß also noch nicht im Detail, in welchem Ei-
gentum diese Flächen sind.
Frau Staatssekretärin, bitte.
Einige Fragen sind allerdings noch offen – wahr-
scheinlich sind sie noch im Diskussionsprozess –: Wie
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim
wird die Aufforstung finanziert? Will die Wälder-Welt-
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
initiative Unternehmen gewinnen, die das Vorhaben fi-
sicherheit:
nanzieren? Wird die Wälder-Weltinitiative selber Mittel
Sie fragen nach der Konferenz „Bonn Challenge“, die
zur Finanzierung aufbringen? Man hat errechnet, dass
(B) vor kurzer Zeit in Bonn stattgefunden hat. Es handelt (D)
die geplante Aufforstung weltweit Gewinne in Höhe von
sich um einen Austausch verschiedener Akteure über
85 Millionen Dollar pro Jahr abwerfen könnte. Wer wird
Möglichkeiten, Länder auf der Grundlage bestehender
die Gewinne letzten Endes einstreichen?
Prozesse beim Wiederaufbau von Wäldern und Land-
schaften zu unterstützen und dadurch Synergien zwi-
schen dem Erhalt der Biodiversität und dem Klima- Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim
schutz zu nutzen. „Bonn Challenge“ – vorher gab es eine Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
Konferenz in London, die mich persönlich sehr beein- cherheit:
druckt hat – soll ein Bindeglied zwischen dem Klima- Was das Gewinneeinstreichen angeht: So weit sind
schutzprozess und dem Biodiversitätsprozess sein, et- wir noch lange nicht. Das ist ein sehr langer Prozess. Es
was, was dringend notwendig ist. geht zunächst einmal darum, die ersten Schritte zu ma-
chen. Sie haben zu Recht angesprochen: Wie wird das
Im Rahmen unserer Internationalen Klimaschutzini-
Ganze finanziert? Es gibt auch privatwirtschaftliche Ini-
tiative unterstützen wir viele Länder bei der Umsetzung
tiativen, bei der „Bonn Challenge“ beispielsweise eine
wichtiger Maßnahmen im Bereich Waldschutz und beim
Initiative eines Wirtschaftsverbandes. Das Unternehmen
Wiederaufbau von Waldökosystemen. Wie wir die
Airbus hat sich engagiert. Es wollen sich also verschie-
„Bonn Challenge“ weiterhin finanziell und organisato-
dene private Initiativen am Wiederaufbau der Wälder
risch unterstützen können, wird zurzeit geprüft. Das
beteiligen. Darüber hinaus prüfen wir – das habe ich als
kann beispielsweise auch im Rahmen der internationalen
Antwort auf die erste Frage bereits gesagt –, inwieweit
Klimaschutzprojekte erfolgen. Wie das aussehen kann,
wir solche Initiativen unterstützen können. Denn der
wollen wir in Kürze entscheiden.
Wiederaufbau der Wälder ist Kernstück unserer gesam-
ten Klimaschutzpolitik.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen herzlichen Dank.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Ich finde, es ist Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie sind
eine hervorragende und auch wichtige Initiative, die einverstanden, keinen neuen Fragenkomplex mehr auf-
weltweit auf den Weg gebracht wurde. Die Rede ist da- zurufen, sodass wir jetzt am Ende dieser Fragestunde
von, dass etwa 2 Milliarden Hektar Waldfläche aufge- sind. Alle weiteren Fragen werden schriftlich beantwor-
forstet werden könnten. 150 Millionen Hektar hat sich tet.
14822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Norbert Barthle
(A) betreffenden Ländern etwas ändert, daran arbeiten wir, Joachim Poß (SPD): (C)
insbesondere mit dem jetzt aufzustellenden neuen Ret- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
tungsschirm, mit den erweiterten Möglichkeiten der Herr Kollege Barthle, Sie können einem nun wirklich
EFSF, der neuen Finanzmarktstabilisierungsfazilität. leidtun, weil hier Sie zum wiederholten Male Ausputzer
Diese soll in der Lage sein, vorausschauend helfen zu sein und eine Ablenkungsrede halten müssen. Denn ma-
können in den Fällen, in denen Ansteckungsgefahren chen wir uns nichts vor: Bei aller Leichtigkeit Ihrer For-
von einem Lande ausgehen, wovon womöglich die ge- mulierungen ist das, was wir in der letzten Woche erlebt
samte Europäische Union, insbesondere aber der Euro, haben, ein verdammt ernster Vorgang, der von Ihrer Re-
betroffen wäre. gierung, vom Vizekanzler, ausgegangen ist. Es ist wirk-
lich kein Grund, Witzchen zu machen; denn die europäi-
Wir entwickeln jetzt gerade ein Programm, um in Fäl- schen und internationalen Reaktionen – Sie können es in
len, in denen Ansteckungsgefahren drohen, prophylak- den internationalen Medien nachvollziehen – sind ein-
tisch einwirken zu können. Wir machen ein Programm, fach erschreckend: Die Menschen sind entsetzt. Sie fra-
das dafür sorgt, dass die mit den Rettungsmaßnahmen gen: Was ist mit der Regierung des wirtschaftsstärksten
verbundene Konditionalität, also die Auflagen, die ein Landes Europas los, wo doch – so wurde es in einer Zei-
Land erhält – ein Land, dem geholfen wird, muss selbst tung formuliert – die ganzen Hoffnungen sozusagen auf
tätig werden, sich verändern, sich neu aufstellen und den Schultern von Frau Merkel ruhen? Das ist der Vor-
wettbewerbsfähig werden –, wirksam werden kann. Die gang, um den es hier geht. Sie werden Ihrer Verantwor-
Konditionalität wird erst durch das Instrumentarium, das tung – Sie wurden gewählt, um sie wahrzunehmen – in
wir jetzt entwickeln, wirksam. Es lohnt sich viel mehr, keiner Weise gerecht; das ist das Erschreckende.
darüber zu sprechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem DIE GRÜNEN)
Hause haben in dieser Woche eine wichtige Aufgabe zu Wir sehen eine total zerstrittene Bundesregierung mit
erfüllen: Wir haben zu regeln, wie der Rettungsmecha- grenzenlosem Misstrauen untereinander, die offen ge-
nismus und die parlamentarischen Beteiligungsrechte geneinander arbeitet,
künftig ausgestaltet sein sollen. Diese Aufgaben betref-
fen das ganze Hohe Haus in besonderem Maße. Es lohnt (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr selektive
sich, dafür den Gehirnschmalz einzusetzen, sich zusam- Wahrnehmung!)
menzusetzen, miteinander zu streiten und zu ringen – das einen Vizekanzler, der zum wiederholten Male in einer
tun wir gerade auch im Haushaltsausschuss intensiv –, um zentralen Frage der deutschen Politik offen eine andere
eine Lösung zu finden. Da ist der Klamauk, den Sie hier Position als die Bundeskanzlerin und der fachlich zu-
(B) veranstalten, ausgesprochen kontraproduktiv; denn er ständige Bundesfinanzminister einnimmt. Frau Merkels (D)
lenkt von den eigentlichen Themen ab. Appelle in Richtung Rösler und FDP verhallen ohne
Wirkung. Wolfgang Schäuble kann sich nur noch in Sar-
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE kasmus flüchten; ich kann das nachvollziehen. Wir se-
GRÜNEN]: Wir machen doch keinen Kla- hen eine Bundesregierung und eine Regierungskoalition
mauk! Das macht die FDP! Sie schauen in die in Chaos und Auflösung; das ist der Tatbestand, mit dem
falsche Richtung!) wir es zu tun haben.
Sie produzieren Klamauk dort, wo wir ihn nicht gebrau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen können. Das ist eine Tendenz, die dem Thema nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
angemessen ist – im Gegenteil.
Nebenbei tritt Frau Merkels Machtverfall immer offe-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ner zutage. Das heißt, die Regierung des wirtschafts-
Sprechen Sie einmal mit Herrn Schäuble!) stärksten europäischen Landes legt sich in der Staats-
schuldenkrise selbst lahm. Gerade jetzt ist doch die volle
Sie machen aus einem wirklich ernsten europäischen Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung gefragt.
Thema, das man mit großer Seriosität behandeln muss, Die Probleme sind so groß, dass sie schon bei voller
ein Klamaukthema. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen Handlungsfähigkeit kaum zu bewältigen sind. Es fehlt
zu müssen. an Überzeugungsarbeit. Wie will denn diese Regierung
bei dem Durcheinander, das sie produziert, Überzeu-
Danke. gungsarbeit leisten? Wir alle, Vertreter aller Fraktionen,
wissen doch, wie schwer es ist, diese Überzeugungsar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – beit zu leisten.
Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sagen Sie das mal der FDP!) Wir alle wissen es: Die Befindlichkeiten der eigenen
Partei sollten mit den Äußerungen von Herrn Rösler be-
dient werden. Rösler ging es von Anfang an um die Sta-
Vizepräsident Eduard Oswald: bilisierung der FDP. Das ist misslungen. Es ging ihm um
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für Signale in eine bestimmte Richtung, nicht um die Stabi-
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege lisierung des Euro. Wie auch immer er seine Äußerun-
Joachim Poß. gen begründen mag: Er nahm billigend die Verunsiche-
rung der Märkte und derjenigen in Kauf, die sich aktuell
(Beifall bei der SPD) um Lösungen der Probleme bemühen; das ist der Tatbe-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14825
Joachim Poß
(A) stand. Das ist nicht tolerabel bei jemandem, der in der Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
Regierungsverantwortung steht. Er gehört da gar nicht Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
hin. Herr Rösler hat sich als total überfordert gezeigt; die Fraktion der FDP unser Kollege Christian Lindner.
das muss man einmal sagen. Damit ist er nicht der Ein- Bitte schön, Kollege Christian Lindner.
zige in dieser Regierung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg]
DIE GRÜNEN) [SPD]: Der übt sich jetzt in Demut!)
Die Kanzlerin sagte zu Recht, jeder müsse seine Worte
„vorsichtig wägen“, richtet aber nichts aus, und im Christian Lindner (FDP):
Schatten von Herrn Rösler und der FDP schwimmt eine
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
immer nervöser werdende CSU.
Der Bundeswirtschaftsminister hat vor der Berlin-Wahl
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hier eine Position bezogen, und er wird auch nach der Berlin-
ist niemand nervös von uns! Was bilden Sie Wahl diese Position weiter vertreten, weil er aus staats-
sich eigentlich ein? Lächerlich!) politischer Verantwortung heraus argumentiert hat und
nicht mit Rücksicht auf parteipolitischen Interessen.
Aus ihren Reihen kommen Äußerungen, die in ebensol-
cher Weise unverantwortlich sind. Das, was Herr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Seehofer abliefert, müssen Herr Waigel und andere, die der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang]
man nun wirklich als überzeugte Europäer bezeichnen [SPD]: Unverantwortlich ist das! Unverant-
kann, voller Ingrimm betrachten. Das, was von der CSU wortlich! So ruinieren Sie die Wirtschaft!)
zu hören ist, hat nichts mehr mit europäischer Tradition
zu tun. Herr Poß, ausgerechnet Sie erheben den Vorwurf des
Populismus und der Parteitaktik. Ausgerechnet die So-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da zialdemokraten, die die erfolgreiche Agenda 2010 aus
klatscht noch nicht einmal die eigene Frak- blankem Opportunismus rückabwickeln wollen,
tion!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Unterm Strich – Herr Trittin hat das angedeutet –: Das
CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]:
ganze Gerede über mögliche Alternativen zu den existie-
1,8!)
renden und erweiterten Rettungsschirmen und die Si-
gnale, die damit gesetzt wurden, können uns noch sehr ausgerechnet die SPD, deren Vorsitzender die fleischge-
teuer zu stehen kommen. Wenn das ökonomisch wenigs- wordene Pirouette ist,
(B) tens Sinn machen würde; das Gegenteil ist aber der Fall: (D)
Auch ökonomisch schaden Sie. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: 1,8! Das
nennt man auch Splitterpartei! Splitterpartei in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unserer Regierung! Unglaublich!)
DIE GRÜNEN)
ausgerechnet die SPD, die sich drei Tage vor der nord-
Das war nicht nur an einem Tag zu beobachten. Herr
rhein-westfälischen Landtagswahl beim ersten Grie-
Rösler hat zum Beispiel nicht erklärt, was er mit seiner
chenland-Rettungspaket enthalten hat, ausgerechnet
Äußerung zur „geordneten Insolvenz“ gemeint hat. Die
diese SPD wirft uns Populismus vor. Von Ihnen brau-
Folgen, die mit einem solchen Vorgehen verbunden wä-
chen wir uns den Vorwurf wirklich nicht gefallen zu las-
ren, müssten von ihm einmal beschrieben werden. In den
Medien werden solche Szenarien beschrieben. Das Er- sen!
gebnis ist: Mit seinen Beiträgen macht sich der FDP- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Vorsitzende und Vizekanzler mit jenen in der FDP, der Christian Lange [Backnang] [SPD]: Splitter-
CDU und der CSU gemein, denen die ganze Richtung partei! – Katrin Göring-Eckardt [BÜND-
der Euro-Stabilisierung nicht passt. Das gilt leider auch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein hilfloser Ver-
für einige deutsche Ökonomen, die, wie Sie, viel zu such! Herr Lindner, ein kleines bisschen
leichtfertig und abgehoben mit Begriffen wie „Insol- Selbstkritik!)
venz“ und „Austritt aus dem Euro“ umgehen, ohne deren
Implikationen und Konsequenzen auszuleuchten. Im Übrigen ist das alles nur ein Trick – das gilt auch
für die Argumentation von Herrn Trittin –, um von der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auseinandersetzung in der Sache abzulenken. Deshalb
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erheben Sie den Vorwurf der Parteitaktik und des Popu-
Im Unterschied zu Herrn Rösler tragen diese Ökonomen lismus.
aber keine politische Verantwortung.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Rösler hat in den letzten Wochen wirklich ein- NEN]: 1,8 Dezibel zu laut!)
drucksvoll bewiesen, wie überfordert er mit dieser Auf-
gabe ist. Er sollte sich überlegen, ob er sich selbst und – Regen Sie sich doch nicht so auf.
seiner Partei nicht möglicherweise einen Gefallen damit (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tut, wenn er sich aus dieser Aufgabe zurückzieht.
NEN]: Ich denke, Sie wollen Demut produzie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]: Ist das Demut?)
14826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Christian Lindner
(A) Europa ist – das ist, glaube ich, unsere gemeinsame Sie haben nichts gelernt. Sie haben im nationalstaatli- (C)
Überzeugung – die Garantie für Frieden und Wohlstand chen Rahmen, in Deutschland, nichts gelernt; denn keine
auf diesem Kontinent. Die Idee der europäischen Inte- Regierungskonstellation in den Ländern bekommt so
gration ist liberal; es ist die Idee der Freiheit des Arbei- viele Ohrfeigen wegen zu hoher Verschuldung von Ver-
tens, des Lebens, des Handelns und des Wirtschaftens fassungsgerichten und von Rechnungshöfen wie die Zu-
auf unserem gemeinsamen Kontinent. Die Währungs- sammenarbeit von Roten und Grünen. Sie haben auch
union ist eine Errungenschaft, von der Deutschland pro- auf europäischer Ebene nichts gelernt; denn Sie setzen
fitiert. Für uns Liberale ist die europäische Integration sich für Euro-Bonds ein. Damit wollen Sie nichts ande-
im Übrigen auch das politische Erbe von Walter Scheel, res als die Vergemeinschaftung von Schulden. Eine
Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel. Deshalb Schuldenkrise löst man aber nicht, indem man das Ver-
werden wir sie mit Entschiedenheit verteidigen. schulden noch günstiger macht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang]
[SPD]: Davon merkt man nur nichts! – Jürgen [SPD]: Mit Demut hat das nichts zu tun! –
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wenden sich mit Grausen von Ihnen ab!) Demut geht anders!)
Europa ist aber gegenwärtig in einer Krise, und nur Was wir brauchen, ist eine Stabilitätskultur in Europa.
wenn man die Krise analysiert, kann man die richtigen
Schlüsse ziehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der SPD: Ziehen Sie Ihre eigenen!) Zu einer Zeit, als die europäische Linke – klatschen Sie
nicht zu früh – in Europa noch schuldenfinanzierte Kon-
Die Ursachen bzw. Verursacher der Krise sitzen hier im junkturprogramme gefordert hat, haben wir auf Stabilität
Raum; gesetzt. Jetzt sehen wir, dass in Spanien eine nationale
Schuldenbremse in die Verfassung aufgenommen wird.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann
man wohl sagen! Schauen Sie zu Ihren eige- (Joachim Poß [SPD]: Sie haben gegen die
nen Leuten! Da sitzt die 1,8-Prozent-Splitter- Konjunkturpakete gestimmt!)
partei!)
Auch das ist ein Erfolg der deutschen Außen- und Euro-
sie sitzen in Ihren Reihen. Sie haben seinerzeit unter der papolitik. Sie wollen Schulden importieren, wir wollen
Regierung Schröder/Fischer die Maastricht-Kriterien ge- Stabilität exportieren.
(B) brochen (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
Wir brauchen eine Wirtschaftsverfassung, die auf kla-
und das dann auf europäischer Ebene auch noch zum ren Regeln basiert und Stabilität befördert. Lassen Sie es
Programm erklärt. uns klar sagen: Es geht auch um geordnete staatliche In-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Auch das ist solvenzverfahren, wenn sie im Extremfall erforderlich
wahr!) sind. Der Bundeswirtschaftsminister hat damit eine Not-
wendigkeit ausgesprochen. Er hat damit das klare Signal
Sie haben hier im Jahre 2004 einen Antrag verabschie- an all diejenigen, die Nothilfe beanspruchen, gesendet,
det, in dem zu lesen ist – ich zitiere –, der Stabilitätspakt dass das Prinzip von Leistung und Gegenleistung nicht
sei „zu starr auf die kurzfristige Einhaltung quantitativer gebrochen werden kann. Er hat dafür von den 16 führen-
Vorgaben ausgerichtet“. den Ökonomen in Deutschland Unterstützung erfahren,
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
GRÜNEN]: Stimmt auch!) Nur nicht von der Bundeskanzlerin!)
Das war die Einladung, Europa zu einer Schuldenunion unter ihnen die Chefberater von Wolfgang Schäuble,
zu machen. ehemals von Peer Steinbrück. Er hat eine verantwortli-
che Position bezogen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war
Nachdem Sie uns einen Scherbenhaufen hinterlassen
verantwortungslos!)
haben, stören Sie jetzt auch noch die Aufräumarbeiten.
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Das war eine Notwendigkeit. Der Bundeswirtschafts-
GRÜNEN]: Sie hatten uns Demut verspro- minister hat damit einen Auftrag des Deutschen Bundes-
chen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE tages vom Oktober 2010 angenommen. Ein Minister, der
GRÜNEN]: Demut kann er einfach nicht!) sich an Beschlüsse des Deutschen Bundestages hält,
sollte von Ihnen nicht kritisiert, sondern unterstützt wer-
Das Ergebnis ist heute zu sehen. Ihre Antworten auf die den. Das ist zumindest unser Verständnis von Parlamen-
Schuldenkrise sind neue Schulden, europäische Gemein- tarismus.
schaftsschulden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Euro-Bonds!) der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14827
Christian Lindner
(A) DIE GRÜNEN]: Herr Lindner schreibt Demut Es ist geplant, im Oktober dieses Jahres die nächste (C)
mit „ä“!) Kredittranche freizugeben. Vor allem will man das
„großartige“ sogenannte Gläubigerbeteiligungsprogramm
Vizepräsident Eduard Oswald: starten,
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist un- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie wollen doch
sere Kollegin Sahra Wagenknecht. Bitte schön, Frau nur die deutschen Sparer schröpfen!)
Kollegin Sahra Wagenknecht.
das in Wirklichkeit eine Gläubigersanierung und keine
(Beifall bei der LINKEN) Gläubigerbeteiligung zur Folge haben wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch kein Zufall, dass der Masterplan dafür aus
Fangen wir einmal mit dem Positiven an. Ich denke, in der Giftküche des internationalen Bankenverbandes un-
einem Punkt hat Herr Rösler tatsächlich recht: Griechen- ter Vorsitz von Herrn Ackermann stammt.
land ist pleite. Anderthalb Jahre nach Beginn der Ret-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
tung sind die Staatsschulden Griechenlands – trotz an-
geblicher Rettungsmilliarden – höher als zuvor, Wenn man dieses Programm ohne Rücksicht auf Ver-
luste durchzieht, dann heißt das, dass die Kosten eines
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wegen linker
künftigen Zahlungsausfalls Griechenlands vollständig
Politik!)
vom Steuerzahler in Europa zu tragen sind und dass die
während die Wirtschaft unter den drakonischen Sparpro- Finanzmafia keinen Euro beisteuern muss.
grammen regelrecht kollabiert ist.
(Beifall bei der LINKEN)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist wie in
Es gibt kein Rettungsprogramm für den Euro. Was es
der DDR!)
gibt, ist ein Rettungsprogramm für die Finanzmafia. In
Das ist die Situation. Wenn man sich die Lage in Grie- deren Taschen wird am Ende jeder einzelne Euro, der im
chenland ansieht, dann wird völlig klar: Was diesem Rahmen der Hilfskredite freigegeben wird, landen. Das
Land diktiert wurde, war kein Hilfs-, sondern ein Killer- ist das Problem.
programm. Das ist das Grundproblem.
Ich verstehe völlig, dass Leute wie Ackermann ein
(Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle großes Interesse daran haben, diese staatliche Milliar-
[CDU/CSU]: Vom Sparen haben die Linken denpipeline flüssig zu halten; das ist völlig nachvollzieh-
(B) noch nie etwas gehalten!) bar. Aber eine Bundesregierung, die sich zum willenlo- (D)
sen Erfüllungsgehilfen solcher Interessengruppen macht,
Unter solchen Konditionen ist die Wahrscheinlichkeit,
hat offensichtlich ihren Amtseid vergessen.
dass Griechenland seine Schulden zurückzahlen kann,
natürlich noch geringer als vorher. Das weiß die Kanzle- (Beifall bei der LINKEN)
rin. Das weiß auch Herr Schäuble. Das weiß im Grunde
Man muss aber auch feststellen: Eine Opposition, die sie
jeder, der sich mit dieser Materie einigermaßen intensiv
dabei unterstützt, wie SPD und Grüne es tun, ist ein Ar-
befasst hat. Mindestens so verantwortungslos wie wahl-
mutszeugnis für die Demokratie.
taktisch motiviertes Insolvenzgerede ist die offensichtli-
che Bereitschaft der Bundesregierung, die Kosten einer Warum reden eigentlich alle immer nur über Schul-
absehbaren Griechenland-Pleite bis zum letzten Euro den? Nicht nur die Schulden sind in den letzten Jahren
dem Steuerzahler aufzubürden. Das ist der Kern, um den eskaliert, sondern auch die Vermögen, und zwar beides
es geht. aus dem gleichen Grunde: langfristig wegen des europa-
weiten Steuerdumpings und kurzfristig wegen der Ban-
(Beifall bei der LINKEN)
kenrettung. Die Schulden der Staaten sind die Vermögen
Die Frage ist doch längst nicht mehr, ob Griechenland der reichen Leute. Die Linke fordert eine europaweite
zahlungsunfähig wird. Die einzige Frage, um die es noch kräftige Vermögensabgabe zur Reduzierung der Schul-
geht, ist, wann Griechenland zahlungsunfähig wird. Das den. Das wäre der richtige Weg; drakonische Sparpro-
ist die 100-Milliarden-Euro-Frage. Je später der Schul- gramme, die immer die Falschen treffen, sind es nicht.
denschnitt kommt, umso teurer wird er für die Steuer-
(Beifall bei der LINKEN)
zahler und umso billiger wird er für die Banken, Hedge-
fonds und Spekulanten. Das ist der Kern des Problems. Wer einer isolierten Insolvenz Griechenlands das
Wort redet, der muss natürlich auch die Konsequenzen
(Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle
bedenken; der Dominoeffekt ist bereits angesprochen
[CDU/CSU]: Eigenartige Theorie!)
worden. Das spricht nicht gegen einen Schuldenschnitt.
Heute würde ein 50-prozentiger Schuldenschnitt den Das spricht gegen das heutige absurde System, in dem
deutschen Staat bzw. den Bund etwa 14 Milliarden Euro eine Handvoll Investmentbanker und einige Quartalsirre
kosten, die deutschen Banken und Versicherungen aber in den Ratingagenturen, die mit ihren chronisch falschen
nur 6 Milliarden Euro. Diese Relation hätte vor andert- Bewertungen schon für den letzten großen Finanzcrash
halb Jahren noch ganz anders ausgesehen. wesentlich mitverantwortlich waren,
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!)
14828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sahra Wagenknecht
(A) darüber entscheiden, wie groß die Spielräume, die Staa- Schuldenkrise in der Euro-Zone überwinden und die (C)
ten haben, sind. Das ist, wie gesagt, ein völlig absurdes Euro-Zone als Ganze stärken können.
System.
Die letzten Tagen haben verdeutlicht: Die Lage an
(Beifall bei der LINKEN) den Märkten für Staatsanleihen ist nach wie vor ange-
spannt. Dazu haben zuletzt und vor allem die Unsicher-
Die gleiche Zockerbande, die die eskalierende Staats-
heiten bezüglich der Umsetzung des Anpassungspro-
verschuldung letztlich mit auf dem Gewissen hat,
gramms für Griechenland, die Diskussion um die
schwingt sich jetzt zum Richter auf und diktiert den
italienischen Sparbeschlüsse und die Herabstufung der
Staaten die Konditionen. Ein solches System treibt nicht
italienischen Bonität durch eine Ratingagentur beigetra-
nur immer mehr Länder in den Bankrott, sondern führt
gen. Hinzu kommen – das muss uns ein bisschen aufrüt-
auch – das ist schon geschehen – zum Bankrott der De-
teln – eine globale Abschwächung der Konjunkturdyna-
mokratie in Europa. Wer Demokratie will, der muss die
mik und die damit verbundene Sorge um den Erfolg des
Staaten endlich vom Diktat der Finanzmärkte befreien,
Konsolidierungskurses. In der vergangenen Woche hat
(Beifall bei der LINKEN) die EU-Kommission eine neue Schätzung für die wirt-
schaftliche Entwicklung vorgelegt. Danach wird in die-
indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, sich über sem Halbjahr eine deutliche Abschwächung der kon-
eine öffentliche Bank direkt bei der EZB zu niedrigen junkturellen Entwicklung zu beobachten sein. Natürlich
Zinsen Geld zu beschaffen. Wer Demokratie will, der stellen wir uns vor diesem Hintergrund die Frage, ob es
sollte sich endlich auch darauf besinnen, dass die Regie- Griechenland schaffen kann, die enormen Anpassungs-
rung nicht in erster Linie von Ackermännern gewählt anstrengungen zu erbringen, die dieses Land nach dem
wurde, sondern von der großen Mehrheit der Bevölke- strukturellen Umbruch wird leisten müssen.
rung in diesem Land. Andernfalls – das muss ich Ihnen
sagen – verdienen Sie alle in Zukunft bundesweit solche Derzeit wird die Umsetzung der Programmvorgaben
Wahlergebnisse, wie sie die FDP in Berlin gerade ver- durch die Troika in Griechenland geprüft. Das Ergebnis
dientermaßen eingefahren hat. der Prüfung ist die Grundlage, auf der die Fortsetzung
des Hilfsprogramms für Griechenland auch hier im
Ich danke Ihnen.
Deutschen Bundestag zu diskutieren sein wird. Die
(Beifall bei der LINKEN) Troika hatte ihre Überprüfung am 2. September unter-
brochen. Ein wesentlicher Grund war, dass Griechenland
Vizepräsident Eduard Oswald: Zeit brauchte, um Maßnahmen vorzulegen, mit denen
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für Abweichungen bei der Realisierung der Programmziele
(B) die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär ausgeglichen werden können. (D)
Steffen Kampeter. Ohne weitere Maßnahmen würde das Staatsdefizit in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Griechenland in diesem Jahr voraussichtlich bis zu 1,5 Pro-
zentpunkte über den vereinbarten Zielwerten liegen.
Dies wollen und werden wir nicht akzeptieren. Die aber-
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun- malige Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwick-
desminister der Finanzen: lung ist aber nur ein Teil des Problems. Der größere Teil
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und resultiert offenbar aus der Wirkung der umgesetzten
Herren! Die derzeitige Herausforderung, vor der Europa Maßnahmen. Die fiskalischen Wirkungen wurden nicht
steht, die währungs- und wirtschaftspolitische Integra- in dem Maße erreicht, wie man es sich versprochen
tion dieses Kontinents, ist eigentlich viel zu groß und hatte. Auch die Privatisierungsfortschritte liegen deut-
viel zu wichtig, als dass sie im parteipolitischen Kla- lich unter den Erwartungen. Griechenland muss und will
mauk untergehen sollte. daher im Rahmen der Aufstellung des Budgets für 2012
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kompensierende Maßnahmen ergreifen.
Was wir heute von Herrn Trittin vorgetragen bekommen Ein positives Ergebnis der Überprüfung durch die
haben, war eigentlich nur eine Illustration seines neuen Troika – es ist mir wichtig, das festzustellen – ist die un-
Selbstbewusstseins, nachdem er gegen Frau Künast ob- abweisbare Voraussetzung für die Auszahlung der sechs-
siegt hat. Dies hat er uns hier mit dem ihm eigenen fle- ten Tranche in Höhe von 8 Milliarden Euro im Rahmen
gelhaften und machohaften Auftreten vorgeführt, das des hier im Deutschen Bundestag schon mehrfach disku-
manche an ihm schätzen. Daneben haben wir vulgär- tierten ersten Hilfspakets. Deutschland wird darauf be-
marxistische Analysen derjenigen gehört, die gerade in stehen, dass Griechenland die Vereinbarungen und die
Berlin aus der Regierung geflogen sind. Europa ist aber Auflagen des Anpassungsprogramms einhält. Das ist die
viel zu wichtig und die Aufgaben sind viel zu ernst, als klare Botschaft, die heute von hier ausgehen muss.
dass wir sie in parteipolitischer Polemik untergehen las-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sen sollten. der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich sage dies ganz bewusst vor dem Hintergrund von
Was sind die Dinge, um die es geht? Es geht ganz Stimmen aus der SPD und von den Grünen, die offenbar
dringlich und vordergründig um die Lage in Griechen- der Meinung sind, man müsse die Zügel lockern, um die
land, und übergeordnet stellt sich die Frage, wie wir die griechische Wirtschaft mit noch mehr Schulden wieder
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14829
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
(A) ein Stück weit zu dopen. Schuldendoping hat ausgedient. bleibt und alle Mitgliedstaaten in der Euro-Zone ver- (C)
Griechenland hat erst einmal keine Konjunkturkrise. pflichtet sind, ihre Haushalte tragfähig zu gestalten. Dies
Aber das System ist wirtschaftlich in Schwierigkeiten sind die beiden Konzeptelemente, die wichtig sind:
und kann nur durch die Umsetzung massiver strukturel- Handlungsfähigkeit auf der einen Seite und glaubwür-
ler Konsolidierungsmaßnahmen wieder auf einen tragfä- dige Konsolidierungspolitik auf der anderen Seite.
higen Wachstumskurs zurückgeführt werden.
Was die Handlungsfähigkeit angeht, beraten wir ge-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mit rade in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages die
Gläubigerbeteiligung!) notwendige Ertüchtigung der Stabilisierungsfazilität. Ich
bin sicher und zuversichtlich, dass wir das in der nächs-
Nur so ist es gegenüber den europäischen Steuerzahlern ten Woche mit breiter parlamentarischer Mehrheit zu ei-
verantwortbar, die Risiken für einen Ausfall eines Teils nem guten Abschluss führen werden.
der griechischen Staatsschulden auf die europäische
Ebene und damit auch auf uns zu verlagern, wie wir es in (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dem aktuellen Hilfsprogramm getan haben. NEN]: Aber nicht mit der Mehrheit der Koali-
tion!)
Ich betone ebenso klar: Die eigentliche und letztliche
Entscheidung über Erfolg und Misserfolg liegt bei den – Um das einmal deutlich zu machen, weil gerade ein
Griechen selbst. Mit dem Beitritt zum Euro sind große Zwischenruf gemacht wurde: Wenn wir diese Fazilität
wirtschaftliche Verbesserungen verbunden gewesen. zum Europäischen Stabilitätsmechanismus ausbauen,
Aber ein stabiler Euro setzt eine solide und nachhaltige dann werden wir Ihnen auch eine Regelung vorlegen, die
Finanzpolitik voraus. Eine gemeinsame Währung setzt die Beteiligung des privaten Sektors umfassend regelt.
alle Volkswirtschaften unter einen sehr viel strengeren, Dazu gibt es klare Aussagen sowohl auf der Ebene der
auch internationalen Wettbewerb. Mit der Erhebung ei- Staats- und Regierungschefs als auch durch eine Festle-
ner zusätzlichen Immobiliensteuer und weiteren Maß- gung innerhalb der Koalitionsfraktionen. Wir werden die
nahmen hat Griechenland deutlich gemacht, dass es wie- Lasten nicht nur bei den Steuerzahlern abladen, sondern
der auf Kurs kommen will. Im Augenblick kommt es wir werden auch die private Gläubigerbeteiligung – ge-
also auf aktives Handeln in Griechenland an. Wir sollten gen erhebliche Widerstände in ganz Europa – vorantrei-
nicht über den weiteren Fortgang der Hilfe für Griechen- ben.
land spekulieren, bevor die Daten und damit die Ent-
scheidungsgrundlage für uns im Deutschen Bundestag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auf dem Tisch liegen. Das zweite Element ist ebenso wichtig. Wir müssen
Auch sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass in Europa wieder zu glaubwürdigen nationalen Konsoli- (D)
(B)
wir in diesem Sommer ganz wesentliche Schritte zur Lö- dierungspolitiken zurückkommen. Die Reform des Sta-
sung der Staatsschuldenkrise getan haben; denn eines ist bilitätspaktes ist am vergangenen Wochenende bei dem
klar: Den Vertrauensverlust, den wir in der Euro-Zone Treffen der Finanzminister in Breslau einen guten Schritt
und an den Märkten derzeit spüren, werden wir nicht al- vorangekommen. Wir haben den Stabilitätspakt weiter-
lein mit Programmen für Griechenland, Irland und Por- entwickelt; wir haben ihn wieder verschärft und sind
tugal lösen. Im Übrigen geht schon fast verloren, dass über die eigenen Waigel’schen Vorgaben hinausgegan-
die Entwicklung in Irland und Portugal außerordentlich gen. Diese Stabilitätskultur wollen wir von Deutschland
erfreulich ist, weil Fortschritte über den geforderten aus nach Europa exportieren. Auf diesem Weg sind wir
Konsolidierungs- und Programmbeitrag hinaus erzielt durch den Kompromiss von Breslau auch mit dem Euro-
werden. päischen Parlament einen Riesenschritt vorangekom-
men. Die Stabilitätskultur sollte sich nicht nur in Solida-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rität, sondern auch in nationaler glaubwürdiger und
Norbert Barthle [CDU/CSU]: Auch das muss nachhaltiger Finanzpolitik widerspiegeln. Ich glaube,
man einmal sagen!) dass dies richtig und notwendig ist und dass dies weiter-
Es ist schon erstaunlich, dass die Opposition heute hin unsere Unterstützung haben sollte.
verschwiegen hat, wo sie anders als die Regierung han- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
deln würde. Auch eine Vergemeinschaftung der Schul-
den, wie es in den Kreisen der Opposition gefordert wird Dass es an dieser Stelle keinen Beifall der Opposition
– beispielsweise durch Euro-Bonds –, kann zum gegen- gibt, ist mir klar; denn Sie waren es, Rot-Grün war es,
wärtigen Zeitpunkt keinen Beitrag zur Lösung der struk- die den Stabilitätspakt schrottreif geschossen hat. Das
turellen Probleme in den Programmländern leisten und muss man an dieser Stelle vielleicht noch einmal erwäh-
würde den deutschen Bundeshaushalt durch explodie- nen.
rende Zinslasten vor unüberwindbare Herausforderun-
gen stellen. Das kann doch nicht allen Ernstes verant- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wortbare nationale Politik für heute sein. Wir als deutsche Bundesregierung, aber auch als
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag stehen jetzt in der Verantwortung,
die Fehler, an denen wir unter anderen Mehrheitsverhält-
Das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen nissen in der Vergangenheit mitgewirkt haben, ein Stück
Haushalte werden wir nur dann wiederherstellen kön- weit zu korrigieren. Europa muss jetzt wieder Fahrt auf-
nen, wenn klar ist, dass die Euro-Zone handlungsfähig nehmen. Das bedeutet: Konsolidierung und Handlungs-
14830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Wenn die Währungsunion auseinanderbricht – diese Ge- (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
fahr ist keineswegs gebannt –, dann wird diese Bundes- LINKE])
regierung vor allen Europäern einen erheblichen Anteil
an Verantwortung dafür zu tragen haben. Rösler, Seehofer und wie sie alle heißen haben kein
Konzept. Wenn sie eines hätten, dann würden wir es
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) kennen. Sie haben nicht den Hauch eines Konzepts; aber
sie gefallen sich darin, die Insolvenz oder den Austritt
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum sage ich
Griechenlands aus der Währungsunion verbal politisch
das? Alle Vorschläge in den vergangenen anderthalb
herbeizuspekulieren und damit einem billigen Chauvi-
Jahren, die einen Beitrag zur Stabilisierung der Wäh-
nismus in die Hände zu spielen.
rungsunion leisten können, kamen nicht von dieser Bun-
desregierung, sondern von anderen. Sie wurden nicht auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Betreiben dieser Bundesregierung umgesetzt, sondern der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
sie wurden immer erst nach anhaltendem Widerstand GRÜNEN)
dieser Bundesregierung und dieser Koalition verwirk-
licht. Wer das tut, ohne die Folgen zu bedenken, handelt ver-
antwortungslos.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
GRÜNEN) Was tut Herr Lafontaine?)
Ein Konkurs Griechenlands, was immer das sein mag,
Diese Bundesregierung und die Koalition waren – das
oder ein Austritt aus der Währungsunion nähme den
wissen wir im Grunde genommen alle – monatelang ge-
Griechen – das sind 10 Millionen Europäer – für viele
gen einen Rettungsschirm für Griechenland.
Jahre jede vernünftige Lebensperspektive und riskierte
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben sich doch vielleicht sogar bürgerkriegsähnliche Zustände in Grie-
enthalten! Sagen Sie das mal öffentlich!) chenland. Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt: Ei-
nen Konkurs oder Austritt Griechenlands gibt es nicht
Dann waren sie endlich dafür, aber nur für den Fall Grie-
isoliert. Wenn Griechenland fällt, dann brennt das ganze
chenlands. Eine Woche später waren sie dann auch für
europäische Haus.
einen allgemeinen Rettungsschirm, aber nur als befris-
tete Maßnahme. Dann waren sie gegen die Finanztrans- (Zuruf von der FDP: Quatsch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14831
Werner Schieder (Weiden)
(A) Das ist der Ernst der Lage. Deswegen habe ich eingangs dern eine neue Stabilitätsarchitektur. Das ist der richtige (C)
gesagt: Es ist mehr als fatal, dass diese deutsche Bundes- Weg.
regierung nicht fähig ist, an die guten Traditionen deut-
scher Europapolitik anzuknüpfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich danke Ihnen.
Deswegen sagen wir an der richtigen Stelle Nein; wir sa-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Ja zu Europa.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Was Sie den Menschen erzählen, sind alles Irrwege.
Es hilft nichts, den Menschen zu sagen, man könne die
Krise bewältigen, indem man Euro-Bonds einführt. Spä-
Vizepräsident Eduard Oswald: testens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für richts ist doch jedem klar, dass diese Idee von SPD und
die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing. Grünen nicht viel wert ist.
Bitte schön, Kollege Dr. Wissing.
Es hilft auch nichts, wenn man der Öffentlichkeit
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sagt, man müsse jetzt über alles schweigen, was auf eu-
der CDU/CSU) ropäischer Ebene von der Politik entschieden wird. Wir
debattieren nicht über eine Kleinigkeit, sondern über die
Dr. Volker Wissing (FDP): fundamentale Frage: Was ist uns wichtiger, die Bedürf-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nisse der Finanzmärkte oder das offene und ehrliche
Dass Sie, Herr Trittin, hier ein Oppositionstheater auf- Wort in einer freiheitlichen Demokratie?
führen, sei Ihnen zugebilligt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der CDU/CSU)
1,8 Prozent in Berlin, Herr Kollege! – Katrin
Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie glauben, man müsse die freie Rede den Finanzmärk-
NEN]: Demut!) ten unterordnen. Wir glauben, das kommt in einer De-
mokratie nicht in Betracht. Es gibt viele ökonomische
Aber dass Sie der Öffentlichkeit das Märchen von den Gründe, weshalb die Politik schnell handeln und öffent-
Grünen als der Partei der Finanzstabilität in Deutschland lich schweigen sollte. Aber es gibt in einer Demokratie
und Europa erzählen, lassen wir Ihnen nicht durchgehen. auch das Recht auf Transparenz. Die Menschen wollen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wissen, wie sich ihre Regierung die Entwicklung der
(B) der CDU/CSU) Euro-Zone vorstellt. (D)
Als es in Deutschland um die Frage ging, ob der Sta- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bilitäts- und Wachstumspakt eingehalten oder eingeris- NEN]: Ihre Regierung! Man muss ja erst mal
sen wird, waren es die Grünen, die zusammen mit den eine Regierungsposition haben, Herr Wissing!)
Sozialdemokraten die Maastricht-Kriterien verletzt und Wird es eine Transfergemeinschaft, wie es SPD und
den Einstieg in die europäische Schuldenunion eröffnet Grüne wollen, oder wird es eine starke Stabilitätsge-
haben. meinschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wie es die Regierungsfraktionen wollen? Deshalb ist es
der CDU/CSU) nicht nur richtig, sondern es war auch notwendig, dass
der Wirtschaftsminister in einer solchen Situation ord-
Als in diesem Hohen Hause darüber abgestimmt worden nungspolitisch klargestellt hat, wo wir stehen.
ist, ob wir eine Schuldenbremse in unsere Verfassung
aufnehmen, waren es die Grünen, die dazu Nein gesagt (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
haben. Damit lagen Sie wieder falsch; denn die Schul- GRÜNEN]: Herr Rösler hat überhaupt nichts
denbremse ist heute das Modell für ganz Europa. klargestellt, Herr Wissing!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wenn Sie das ernsthaft kritisieren, ordnen Sie die Demo-
der CDU/CSU) kratie den Bedürfnissen der Märkte unter. Wir tun das
nicht.
Europa steht an einem Scheideweg. Die Stabilitätsar-
chitektur ist weitgehend eingestürzt, auch weil Sozialde- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mokraten und Grüne sie massiv verletzt haben. Vor uns der CDU/CSU – Lachen des Abg. Jürgen
liegt kein leichter Weg. Die Welt blickt auf uns und war- Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
tet gespannt, wohin sich Europa entwickelt.
Sie wollen die Probleme lösen, indem Sie die Verant-
Herr Kollege, weil Sie sich darüber lustig gemacht wortung für die Schulden anderer Länder auf unser Land
haben, dass Deutschland an bestimmten Stellen auf eu- verlagern. Das haben Sie der Öffentlichkeit hinreichend
ropäischer Ebene Nein sagt, sage ich Ihnen deutlich: Es deutlich gemacht. Wir wollen das nicht. Deshalb unter-
ist richtig und wichtig, dass Deutschland mit seiner star- stützen wir in der Krise den Weg der Hilfe zur Selbst-
ken Stimme verhindert, dass in Europa der falsche Weg hilfe. Deshalb sagt der Bundesfinanzminister deutlich,
eingeschlagen wird. Weder Transferunion noch Euro- dass Griechenland nur mit weiteren Hilfen rechnen
Bonds sind die Zukunft eines glücklichen Europas, son- kann, wenn es seine Auflagen erfüllt. Deshalb sagt der
14832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Rüdiger Kruse
(A) Sie haben in einer der letzten Debatten sehr richtig ge- (Joachim Poß [SPD]: Die Berechnung des ifo (C)
sagt: Deutschland geht es gut, dieser Regierung nicht. – ist schon zehnmal als falsch überführt worden!
Das widerlegt den Vorwurf des Populismus, den eben Sie müssen mal Informationen aufnehmen!)
der Kollege Sarrazin gemacht hat.
Das geht in Richtung von Populismus, zu erzählen, man
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) habe etwas, was wirkt, und noch nicht einmal die offen-
sichtlichen Nebenwirkungen einzuräumen.
Was ist an der Haltung dieser Regierung populistisch?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die FDP!) Es ist ganz einfach: In Griechenland regnet es massiv
rein.
Gar nichts. Warum? Wenn wir den populistischen Weg
gehen würden, dann würden wir uns hier im Hause unter (Joachim Poß [SPD]: Und Sie sind in Verle-
Umständen Positionen annähern, die vielleicht am genheit! Da fällt Ihnen nichts anderes ein!)
Stammtisch mehrheitsfähig sind. Uns geht es aber da- Wenn das so ist, dann fängt man an, das Haus abzude-
rum, den europäischen Gedanken zu erhalten und wei- cken und den Dachstuhl zu erneuern. Es sieht einen Mo-
terzuentwickeln. ment nicht hübsch aus, aber dann kann man die Substanz
wieder neu aufbauen. Das ist der nächste Schritt, den wir
Sie haben gesagt, wir seien bei den vielen Maßnah-
gehen müssen. Wir müssen gemeinsam mit den anderen
men, die vorgeschlagen worden sind, die Bremser gewe-
europäischen Partnern Programme entwickeln, die,
sen. Ja. Weil es keine Gegenleistung gegeben hätte! Al-
wenn durch die Schritte der Haushaltskonsolidierung die
les, was jetzt beschlossen worden ist, ist früher schon
Grundlagen geschaffen worden sind, einem Land einen
einmal vorgeschlagen worden, aber als Hilfe ohne Ge-
Aufschwung ermöglichen. Wir haben selber gezeigt,
genleistung – nach dem schönen alten sozialdemokra-
dass auch aus ganz schwierigen Situationen heraus ein
tisch-sozialistischen Prinzip: Geht es jemandem
wirtschaftlicher Aufschwung für ein Land, das Kraft und
schlecht, gebe ich ihm Geld. – Das muss nicht unbedingt
Willen hat, möglich ist. Das ist die neue europäische
helfen.
Aufgabe, für die wir jetzt die Grundlage schaffen.
Wir haben jetzt sicherlich bewirkt, dass nicht alle in Wir sind in der günstigen Situation, dass wir die
Griechenland Freudentränen in den Augen haben, wenn Grundlage in der Mitte der Legislatur schaffen. Das
sie von Deutschland reden, aber wir haben induziert, heißt, Sie können noch zwei Jahre herumblödeln, aber
dass in Griechenland Maßnahmen ergriffen werden, wo- Sie werden uns auf diesem Weg nicht aufhalten. In zwei
(B) bei wir alle froh darüber sind, dass wir sie nicht ergreifen Jahren werden wir die Ernte einfahren. (D)
müssen. Wir haben bewirkt, dass Nachbarländer eine
Schuldenbremse nach deutschem Vorbild einbauen, zum Danke.
Glück nach bundesdeutschem Vorbild, nach dem Vor-
bild, das Union und FDP gegeben haben und auch prak- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tizieren, und nicht wie in Nordrhein-Westfalen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Sie müssen doch auch einmal etwas eingestehen.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
Wenn Euro-Bonds so eingeführt worden wären, wie Sie
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt
sie wollten, und wenn es gut ausgegangen wäre, also
Duin. Bitte schön, Kollege Garrelt Duin.
nicht so, wie die Ratingagenturen prognostizieren, dann
– damit haben Sie selbst gerechnet – wären die von (Beifall bei der SPD)
Deutschland zu zahlenden Zinssätze um 2 Prozentpunkte
gestiegen. Das macht 47 Milliarden Euro. Garrelt Duin (SPD):
(Joachim Poß [SPD]: Die Zahl ist doch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Quatsch! Auf welcher Berechnungsgrundlage Kolleginnen und Kollegen! Eine kurze Vorbemerkung in
denn? Auf die 2,1 Billionen Schulden?) Richtung FDP. Herr Lindner und Herr Wissing, wenn
das, was Sie hier heute selbstgefällig aufgeführt haben,
– Das können Sie ja einmal nachrechnen! – Haben Sie Demut sein soll – davon haben Sie am Sonntagabend ge-
schon einmal überlegt, wie Sie diese Zinsmehrkosten in sprochen –, dann ist Ihr Weg nach unten mit Berlin noch
unserem Haushalt heraussparen wollen? lange nicht vorbei; dann geht es weiter, ich füge hinzu:
in die richtige Richtung.
(Joachim Poß [SPD]: Sie erzählen doch nur
Stuss! Sie wissen gar nicht, worüber Sie re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den!) DIE GRÜNEN)
Sie können den Menschen doch nicht nur erzählen, Sie Wie haben Zeitungsredakteure, wie haben Topökono-
hätten ein Allheilmittel, nämlich Euro-Bonds. Ich würde men auf das, was der Vizekanzler und Wirtschaftsminis-
gern über einen Vorschlag von Ihnen reden, wie Sie die ter in seinem Gastbeitrag geäußert hat, reagiert? Sie ha-
zusätzlichen Zinskosten aus dem Haushalt heraussparen ben in Ihren Verteidigungsreden ja mehrfach darauf
wollen. Sie haben natürlich keinen gemacht. Das ist, hingewiesen, dass sich eine Reihe von Fachleuten posi-
finde ich, unehrlich. tiv geäußert hätten. Ich will Ihnen einmal in Erinnerung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14835
Garrelt Duin
(A) rufen, was Herr Hüther gesagt hat, immerhin Direktor Wenn wir uns das Volumen anschauen, das dort gerade (C)
des Instituts der deutschen Wirtschaft: zur Debatte steht oder schon verwirklicht wurde, können
wir uns nur eingestehen, dass wir darüber in Deutsch-
In der gegenwärtigen Situation kann Politik nicht land noch nicht einmal ansatzweise hätten reden können.
öffentlich über alles philosophieren, was einem so Wir müssen aber auch sehen, was dort real geschieht:
einfällt … Die wirtschaftliche Entwicklung verzeichnet ein Minus-
Er sagt zu dem Beitrag von Herrn Rösler, dieser sei un- wachstum, also eine Rezession. Es fing an bei minus
verantwortlich. Das ist genau der Punkt. 1 Prozent und beträgt mittlerweile minus 5 Prozent. Das,
was dort gemacht wird, ist sicherlich notwendig, aber
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das alles verschlimmert die Lage und verbessert sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht. Deswegen brauchen wir begleitende, intelligente
Es ist ja nicht das sozialdemokratische Organ Vor- Maßnahmen.
wärts gewesen, sondern es ist das Handelsblatt gewesen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
das diesen Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
das diesen deutschen Wirtschaftsminister als „Pinocchio
des Tages“ tituliert hat, weil er das Gegenteil von dem Dazu haben Sie aber in Ihren neun Minuten hier kein
erzählt, was er noch vor wenigen Wochen erzählt hat. einziges Wort gesagt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 20 Milliarden Euro hat Griechenland bei der EU nicht
DIE GRÜNEN) abgerufen, weil es die Kofinanzierung nicht hinbekam.
Viele Investitionen finden nicht statt, weil die entspre-
Das ist wirklich sehr dramatisch; denn Europa steht chende Begleitmusik fehlt. Da nützt es nichts, wenn Herr
am Scheideweg. Es steht deswegen am Scheideweg, weil Rösler im Sommer zu einem Gipfel einlädt und dann
es um die Frage geht, ob wir auch in zehn Jahren noch einmal für 24 Stunden mit denen, die er zum Gipfel ein-
eine Wohlstandsregion sind, ob wir auch in zehn Jahren geladen hat, in der übernächsten Woche nach Griechen-
noch Vorbild für andere Regionen in der Welt sein kön- land fährt. Vielmehr muss man auf der europäischen
nen. Vor allen Dingen stellt sich jetzt die Frage, ob die Ebene aufstehen und sich fragen, wie man diesen Län-
Bürgerinnen und Bürger den Institutionen auf europäi- dern, insbesondere Griechenland, helfen kann, damit sie
scher Ebene Vertrauen schenken. Dafür ist es aber not- wieder eine wirtschaftliche Wachstumsperspektive er-
wendig, Folgendes zu beherzigen: Europa gelingt dann, halten. Durch Sparen allein wird das nicht gelingen.
wenn man mit Klarheit und Glaubwürdigkeit die politi-
schen Debatten führt. Dabei muss dann auch gesehen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) werden, dass das deutsche Gewicht in der ganzen Euro- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
päischen Union von entscheidender Bedeutung ist. Aber
Deswegen ist die Diskussion so fatal, die der Wirt-
das, was wir hier seit anderthalb Jahren erleben, ange-
schaftsminister mit seinem Gastbeitrag angestoßen hat.
führt von der Bundeskanzlerin, begleitet von dem ehe-
maligen Vizekanzler, dem Außenminister Westerwelle, Ein letzter Punkt: Der Wirtschaftsminister hat dann ja
und jetzt eben auch durch den Wirtschaftsminister und diesen Pappkameraden „Denkverbot“ aufgebaut. Es gibt
den heutigen Vizekanzler Rösler, ist das Gegenteil von kein Denkverbot, aber es gibt ein Gebot für einen Vize-
Klarheit, ist das Gegenteil von Glaubwürdigkeit. kanzler und einen Wirtschaftsminister, nämlich die Sa-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen, die er sagt, zu Ende zu denken. Das hat er in dieser
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Situation vermissen lassen.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist diese Krise in Herzlichen Dank.
der Euro-Zone auch eine Führungskrise und eine Glaub- (Beifall bei der SPD)
würdigkeitskrise. Die Verantwortung dafür trägt diese
Regierung.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir haben in anderen Debatten hier schon mehrfach Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
festgestellt, dass wir besser durch die Krise gekommen unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege
sind als andere usw. Aber Deutschland, also uns, geht es Dr. Georg Nüßlein.
nur dann in Europa gut, wenn es unseren Nachbarn gut
geht. Davon sind wir abhängig. Wir sind keine Insel der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Glückseligen, und es geht nicht an, dass wir uns nicht
um unsere Partnerinnen und Partner kümmern. Das gilt Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
insbesondere für Griechenland. Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Darf
Herr Kampeter, Sie haben es immer noch nicht ver- man offen über die Staatsinsolvenz Griechenlands nach-
standen: denken? Die Opposition sagt deutlich Nein. Ich frage
mich: Was haben Sie eigentlich dagegen? Gegen das Of-
(Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: fensein können Sie ja vermutlich nicht sein, weil Sie ja
Doch!) immer einfordern, man müsse Politik erklären.
Natürlich sind die Sparmaßnahmen, die Griechenland im (Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Denken
Moment auferlegt werden, unglaubliche Zumutungen. Sie einmal an die Folgen!)
14836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Bettina Kudla
(A) Speziell zu Griechenland wurde im Mai 2010 ein viel für die Bildung geleistet haben: die pädagogischen (C)
Hilfspaket beschlossen. Jetzt gilt es, den Fahrplan dieses Fachkräfte. Es ist richtig und wichtig, diesen Menschen
Programms unaufgeregt umzusetzen. Wir sollten uns zu signalisieren, dass ihre Arbeit für unser Land wertvoll
– das wurde mehrfach erwähnt – auf die Experten der und gut ist.
Troika verlassen. Wir dürfen nicht leichtfertig zu unter-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
schiedlichen Ergebnissen kommen. Das Ergebnis der
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Experten in den nächsten Wochen muss abgewartet und
GRÜNEN)
angehört werden. Dann muss Schritt für Schritt nach
dem ESM-Vertrag verfahren werden. Lassen Sie mich auch einige Sätze zu den aktuellen
Debatten über den Stand der Bildungsrepublik Deutsch-
Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam verantwortungs-
land vor dem Hintergrund der OECD-Berichterstattung
voll mit diesem schwierigen Thema umgehen, und zwar
in der letzten Woche sagen. Ich sage es ganz offen: Ich
im Interesse der Stabilität des Euro und im Interesse des
und viele von uns waren wieder einmal massiv verärgert.
Vertrauens der Bürger in ihre Währung.
Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bildungsbereich weiterhin Herausforderungen. Natür-
lich müssen wir diese Herausforderungen – jeder in sei-
Vizepräsident Eduard Oswald: ner Verantwortung und Kompetenz – angehen. Trotzdem
Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist beendet. ist es ärgerlich, wenn in Berichterstattungen über den
OECD-Bildungsbericht lediglich Äpfel mit Birnen ver-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: glichen werden, gesamte Ausbildungsteile wie die her-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- vorragende duale Ausbildung in Deutschland nahezu
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung ausgeblendet werden, die Erfolge seit 2001 und insbe-
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) sondere seit 2005 völlig unbeachtet bleiben und der poli-
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie tischen und wissenschaftlichen Verantwortung nicht
Hein, Diana Golze, Dr. Petra Sitte, weiterer Ab- nachgekommen wird.
geordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Fachkräfteprogramm – Bildung und Erzie- Empirisch nachweisbar und belegt ist, dass sich das
hung – unverzüglich auf den Weg bringen Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland ver-
– Drucksachen 17/2019, 17/7007 – ändert hat. Ich möchte in der Kürze der Zeit nur zwei
Überschriften als Beispiel für die falsche Berichterstat-
Berichterstattung: tung über den OECD-Bericht zitieren. Da schreibt das
(B) Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg) (D)
Hamburger Abendblatt:
Marianne Schieder (Schwandorf)
Sylvia Canel Schlechte Noten fürs Bildungssystem – Deutsch-
Dr. Rosemarie Hein land hat zu wenig Uniabsolventen und gerät inter-
Priska Hinz (Herborn) national ins Abseits …
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die Rheinische Post schreibt:
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie Deutschland bildet zu wenig kluge Köpfe aus –
sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Eine neue internationale Bildungsstudie der OECD
Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion kommt zu einem miserablen Ergebnis für Deutsch-
der CDU/CSU unser Kollege Marcus Weinberg. – Bitte land: Demnach hat sich hierzulande bei der Ausbil-
schön, Kollege Marcus Weinberg. dung von Top-Leuten in den vergangenen 50 Jahren
kaum etwas getan.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Kollege Gehring, den ich ansonsten sehr schätze,
geht gleich auf solche Behauptungen ein und sagt, das
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):
OECD-Zeugnis enthülle die Bildungsrepublik als
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Schönfärberei und Wunschdenken. Deshalb muss man
Kollegen! Ich mache es zwar selten und ungerne, aber hier einmal zwei oder drei Dinge klarstellen.
für einen Punkt muss man die Fraktion Die Linke einmal
loben: Sie hat für die Kernzeit ein bildungspolitisches (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Thema angemeldet. Das verschafft auch uns zum Ersten Reden Sie doch mal zum Antrag!)
die Möglichkeit, die Themen zu besprechen, die aktuell
– Zu dem Antrag komme ich gleich; meine Ausführun-
wichtig sind, zum Beispiel das Thema der pädagogi-
gen stehen in einem engen Zusammenhang damit. Eine
schen Fachkräfte. Zum Zweiten können wir bei dieser
solche Berichterstattung bedeutet nämlich eine Fehl-
Gelegenheit allgemein über die Bildungsrepublik spre-
interpretation der Ergebnisse der Bildungsberichte, und
chen und den einen oder anderen Punkt im Hinblick auf
das betrifft besonders die pädagogischen Fachkräfte.
den OECD-Bildungsbericht etwas ausführlicher darstel-
len. Zum Dritten – damit komme ich zum wichtigsten Es ist tatsächlich so – das hat der OECD-Bericht be-
Punkt – gilt es, sich gerade unter dem Gesichtspunkt der wiesen –, dass wir in den letzten Jahren im Bildungsbe-
Zukunft der pädagogischen Fachkräfte einmal bei den reich deutlich zugelegt haben. Die Zahl der Studien-
Menschen zu bedanken, die in den letzten Jahren sehr anfänger ist von 26 Prozent auf 46 Prozent gestiegen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14839
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) Viel wichtiger: Die Zahl der Hochschulabsolventen ei- ben? Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob und wie (C)
nes Altersjahrgangs ist von 14 Prozent auf 28 Prozent Sie Ihrer eigenen Verantwortung gerecht geworden sind.
gestiegen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Bei der Frage nach der Beliebtheit des deutschen Sys- neten der FDP)
tems – möglicherweise interessant für junge Menschen,
die überlegen, einen Lehrer- oder Erzieherberuf anzu- Was der Bund aber macht und was er machen kann,
streben – ist Deutschland bei den Studierenden aus dem ist, die Länder zu unterstützen. Ich erinnere an den
Ausland das viertbeliebteste Land und belegt Platz fünf Hochschulpakt I und II, und ich erinnere insbesondere
im Bereich der Promotionsvorhaben. an den Qualitätspakt für Lehre: Das sind 200 Millionen
Euro, die den Ländern jährlich zukommen. Über diese
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Maßnahmen des Bundes werden die Länder entlastet.
Thema!) Sie werden insbesondere deshalb entlastet, weil der
Bund Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen
Ich möchte noch ein Wort zum Thema Jugendarbeits-
anbietet und finanziert, die gerade in diesem Bereich
losigkeit sagen – dann beende ich das gerne, Frau Kolle-
wichtig sind.
gin –:
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Sie In dem Zusammenhang nenne ich beispielsweise das
sollen was zum Fachkräftemangel sagen!) „Haus der kleinen Forscher“ mit dem Schwerpunkt
Naturwissenschaften, die Weiterbildungsinitiative Früh-
Deutschland liegt mit einer Quote von 9,5 Prozent deut- pädagogische Fachkräfte, die mit 5,3 Millionen Euro
lich unter den OECD-Werten mit 20 Prozent und deut- unterstützt wird, die Medienerziehung, BIBER – das
lich hinter den USA mit 17 Prozent. Das sind Erfolge der Netzwerk Frühkindliche Bildung – oder auch die Aus-
letzten Jahre, auf die man einmal stolz zurückblicken weitungen im Rahmen von WiFF im Forschungsbereich.
kann, Das heißt: Der Bund gibt viele Millionen Euro stetig
aufwachsend aus, um Verantwortungsbereiche der Län-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der abzudecken. Das macht er, weil er sich in der Verant-
neten der FDP)
wortung der Bildungsrepublik sieht. Er macht es auch,
bei allen Herausforderungen, die Sie in Ihrem Antrag um die Länder zu entlasten.
entsprechend aufgegriffen haben.
Ich sage aber auch ganz deutlich – die Kolleginnen
Lassen Sie mich hierzu einige Bemerkungen machen. und Kollegen aus den Ländern mögen das im Protokoll
Hier ist zunächst die Bildungsbeteiligung zu nennen, die nachlesen –: Es gibt eine klar geregelte Kompetenzver-
(B) gerade in diesem Bereich massiv zugenommen hat. So teilung. Es ist gut, dass sie klar geregelt ist. Der Bund hat (D)
gibt es bei der Bildungsbeteiligung der unter Dreijähri- in seiner Verantwortung mehr übernommen, aber letzt-
gen eine Zunahme von 7 Prozent; hier wurden in den lich bleibt die Verantwortung bei den Ländern.
letzten drei Jahren 100 000 Plätze geschaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Richtig ist, dass es in den nächsten Jahren einen ver- Helga Daub [FDP])
stärkten Bedarf an pädagogischen Fachkräften – Lehrer,
Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Erzieher – ge- Das, was wir sagen können – –
ben wird. Richtig ist aber auch – und das hat der Bil-
dungsbericht 2010 bewiesen –, dass in diesem Bereich Vizepräsidentin Petra Pau:
42 000 Personen mehr tätig sind. Man muss erneut daran Kollege Weinberg, Sie können leider gar nichts mehr
erinnern – ich weiß, Sie hören es nicht gerne –: Das ist sagen. Sie sind eine Minute über der Zeit.
eine Frage der Kompetenzverteilung in diesem Land.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hätte
Es ist so, dass weiterhin in allererster Linie die Länder uns jetzt gerade interessiert!)
für die Ausbildung von Erziehern und Lehrern zuständig
sind.
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin, ein letzter Satz: Das, was wir in
Da muss man einmal schauen, liebe Kollegen von den Bundesverantwortung übernommen haben, haben wir
Linken, wer wo welche Verantwortung hat. Ich als Ham- gerne übernommen, und wir tragen auch in den nächsten
burger erinnere mich gerne daran – das sage ich ganz of- Jahren dazu bei, dass dieses Thema weiter entsprechend
fen –, dass es vor etwa zwei Jahren eine Riesendiskus- bearbeitet wird.
sion über junge Lehrer gab, die Berlin, wo sie Herzlichen Dank.
ausgebildet worden waren, verlassen haben, um nach
Hamburg zu gehen. Denn ein schwarz regiertes Ham- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
burg hat diesen jungen Menschen eine vernünftige Per-
spektive sowie eine vernünftige Bezahlung und vernünf- Vizepräsidentin Petra Pau:
tige Verträge geboten, während man sie in Berlin nicht Auch das Abdecken der Uhr schützt Sie nicht davor,
angestellt hat. Hier müssen Sie sich als Linke fragen: dass die Uhr weiter vorrückt.
Was haben Sie in der damaligen Regierungsverantwor-
tung dazu beigetragen, dass junge Lehrer in Berlin blei- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
14840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Der Grund liegt nicht in der mangelnden Kenntnis der Da gibt es keine Initiativen seitens des Bundes, um nö-
Zahlen, sondern im Desaster um die Landesbank. Denn tige Diskussionen anzustoßen und rechtzeitig gegenzu-
wer das Geld der Steuerzahler in Österreich oder sonst steuern.
wo versenkt, hat später keines mehr, um zu Hause aus- Ich sprach vom begrüßenswerten Ansatz einer Initia-
reichend Lehrerinnen und Lehrer einstellen zu können. tive seitens des Bundes zur Lehrerbildung. Ich glaube,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dass eine solche Initiative vor allen Dingen deswegen
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) notwendig wäre, weil die Lehrerbildung an vielen Uni-
versitäten – wir alle wissen das – eine eher nachrangige
Selbstverständlich gibt es trotz der Länderhoheit ein Bedeutung hat und aus diesem Grunde alles getan wer-
weites Feld von Möglichkeiten, um als Bund im Kampf den muss, damit ihr ein höherer Stellenwert beigemessen
gegen den Fachkräftemangel im Bereich der Bildung wird.
sinnvoll tätig zu werden. Es wäre an der Zeit, dringend
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nötige Diskussionen anzustoßen und längst überfällige
Annäherungen und Angleichungen bei den Länderakti- Wir können nicht darauf warten, dass sich die Kultus-
vitäten auf den Weg zu bringen. Aber außer vollmundi- ministerkonferenz dieses Themas annimmt; denn man
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14841
Marianne Schieder (Schwandorf)
(A) gewinnt den Eindruck, dass die Unterschiede in der Kul- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
tusministerkonferenz von Jahr zu Jahr größer und nicht Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel für die FDP-
kleiner werden. Deshalb brauchen wir eine Initiative des Fraktion.
Bundes.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Heute muss aber auch erneut festgestellt werden, dass
Schwarz-Gelb den Kommunen und den Ländern zuneh-
Sylvia Canel (FDP):
mend die finanzielle Basis entzieht, die sie brauchen, um
ausreichend Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherin- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
nen und Erzieher beschäftigen und angemessen entloh- liebe Kollegen! Frühkindliche Bildung ist heute unser
nen zu können. Thema. Ich kann nur sagen: Endlich ist das wieder
Thema. Wir sprechen viel zu wenig darüber. Dieses
Wir Sozialdemokraten wollen Bildungspolitik aus ei- Thema ist viel zu wenig in den Köpfen verankert, und
nem Guss, von der Kita bis zur Universität. Wir wollen wir haben es viel zu selten in den Mittelpunkt unseres
Bildung von möglichst hoher Qualität. Wir wollen gute politischen Arbeitens gestellt.
Bildung für alle Kinder und jungen Menschen, und zwar
unabhängig von der Herkunft und unabhängig vom (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das stimmt! –
Geldbeutel ihrer Eltern. Sönke Rix [SPD]: Sagen Sie das einmal Ihrer
Ministerin!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Warum machen wir das eigentlich so? Hier wird doch
Dazu gehört für uns nicht nur, dass Kinder und junge der Grundstein für die individuelle Bildungsbiografie
Menschen kostenlos teilnehmen können, sondern auch, gelegt. Hier, wo individuelle Förderung, Integration und
dass sie von qualifizierten Fachkräften möglichst gut sozialer Ausgleich am allerbesten gelingen, müssen die
und möglichst individuell gefördert werden. Laut einer Besten unterrichten und die besten Rahmenbedingungen
Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der SPD herrschen. Trotzdem haben wir alle es bisher nicht ge-
werden bis 2013 bis zu 40 000 Erzieherinnen und Erzie- schafft, dafür zu sorgen.
her fehlen. Trotz dieser Erkenntnis wird nahezu nichts
getan. Defizite bei der Qualität der Kindertagesstätten, Stun-
denausfälle in den Grundschulen, Probleme bei der Leh-
Wir wissen auch, dass die Anforderungen an die Er- rergewinnung und der Lehrerversorgung sind alltägliche
zieherinnen und Erzieher in Bezug auf Ausbildung und Probleme. Alle, die hier sitzen, können ein Lied davon
Praxis ständig steigen. Wir wissen, dass mittlerweile ein singen; denn alle haben das selber erlebt. Diese Situation
(B) Drittel aller Kinder im Vorschulalter einen Migrations- führt dazu, dass die Eltern unzufrieden, die Kinder zum (D)
hintergrund hat. Wir wissen, dass wir gerade im Bereich Teil frustriert und die Lehrer überlastet sind. Der Fach-
der Sprachförderung vor großen Herausforderungen ste- kräftebedarf in den Kindertagesstätten ist nicht von der
hen, und zwar sowohl, was die Kinder mit Migrations- Hand zu weisen; er ist tatsächlich sehr hoch. Die Situa-
hintergrund betrifft, als auch, was die Kinder betrifft, de- tionsbeschreibung und die Bedarfsprognose in dem An-
ren Muttersprache Deutsch ist. Insgesamt stellt sich trag, über den wir heute hier beraten, ist stichhaltig. Aber
zunehmend die Frage, ob die Ausbildung von Erziehe- leider – das sage ich auch aus persönlichen Gründen –
rinnen und Erziehern nicht als Hochschulausbildung an- sind die Schlüsse die völlig falschen; denn die Länder
gelegt werden sollte und das bisherige Ausbildungssys- sind für die Ausbildung der Pädagogen zuständig. Das
tem umgebaut werden muss, um den steigenden Anfor- heißt, die Länder stehen in der Pflicht. Sie müssen das,
derungen gerecht werden zu können. was vom Grundgesetz als Kernaufgabe formuliert wird,
verantwortungsvoll wahrnehmen. Sie müssen ganz of-
Ein weiteres Problem, das bewältigt werden muss, ist fensichtlich genau in diesem Gebiet, das uns so wichtig
das niedrige Einkommensniveau der Fachkräfte in den ist, nachlegen. Investitionen sind möglich, sie müssen
Kitas und in den anderen erzieherischen Einrichtungen. nur gewollt sein.
Nicht nur Männer werden dadurch davon abgehalten,
sich für entsprechende Berufe zu entscheiden. In beiden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Fällen vermisse ich das Engagement der Bundesregie-
rung. Anders ist die Spannbreite von mehreren Tausend
Euro zwischen den Investitionen der Bundesländer für
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir dringend unter sechsjährige Kinder überhaupt nicht zu erklären.
tragfähige Konzepte brauchen, um den zukünftigen Fach- Schleswig-Holstein investierte 2007 nicht einmal 2 000
kräftebedarf in Kitas und Schulen decken zu können. Euro pro Kind, ein Drittel weniger als Hamburg mit
Dazu muss der Bund endlich einen konkreten Beitrag 3 400 Euro. Ähnlich ist der Unterschied zwischen Bran-
leisten. denburg mit 2 800 Euro und Berlin mit fast 4 200 Euro.
Laut Ländermonitor investieren die alten Bundesländer
Was den Antrag der Fraktion Die Linke betrifft: Wir durchschnittlich viel weniger als die neuen Bundeslän-
werden uns aufgrund der bereits dargelegten Bedenken der. Die Spannbreite der Nettoausgaben für frühkindli-
enthalten. che Bildung und Betreuung in den gesamten Ausgaben
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. öffentlicher Haushalte reicht von 3,1 Prozent in Bremen
bis zu 7 Prozent in Sachsen. Mehr ist möglich. Die Län-
(Beifall bei der SPD) der haben die Verantwortung, in frühkindliche Bildung
14842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sylvia Canel
(A) zu investieren. Aus dieser Verantwortung können wir sie bedenken Sie, dass das vor allem für Lehrer ganz wich- (C)
nicht entlassen. tige Mechanismen sind; denn Lehrer sind meist die ers-
ten Akademiker in ihren Familien.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Die in der vergangenen Woche vorgestellte OECD- der CDU/CSU)
Studie „Bildung auf einen Blick“, die hier schon viel zi-
tiert wurde, bestätigt, dass ausgerechnet in den wichtigs- Diese einmalige und zuvor noch nie unternommene
ten Bildungsbereich, die Zeit vor der Schule und in der Kraftanstrengung darf jedoch nicht dazu führen, dass wir
Grundschule, am wenigsten investiert wird. Ich habe mir dies in den Ländern immer wieder vernachlässigen. Das
einmal herausgesucht, was in der Studie zu den Drei- bis gilt insbesondere mit Blick auf die Kitas. Es muss dort
Sechsjährigen in Deutschland steht. Laut Studie werden investiert werden, wo es am wichtigsten ist.
in Deutschland 6 887 Dollar pro Kind pro Jahr investiert.
Italien – auch aufgrund einer anderen Debatte zurzeit in Die Länder müssen auch besser kooperieren. Es kann
den Köpfen – investiert hingegen 8 187 Dollar. Das doch nicht sein, dass die Lehrerausbildung so zersplittert
möchte ich nur am Rande bemerken. ist, dass in dem einen Bundesland die Lehrerausbildung
aus dem anderen Bundesland nicht anerkennt wird. Ge-
Insgesamt ist es beschämend niedrig. Die Länder ver- nauso wie ein ausgebildeter Jurist oder Arzt in jedem
zetteln sich in ihren Aufgaben. Wir können es nicht wei- Bundesland arbeiten kann, muss auch ein Lehrer in je-
ter dulden, dass nachrangige Politikfelder hochgepäppelt dem Land arbeiten dürfen. Er darf daran in Zukunft nicht
werden und dass der Bund genau da, wo Länder versa- mehr aufgrund von Bildungsmauern und -barrieren ge-
gen, ergänzen und nachsteuern soll. Wo ein Wille ist, ist hindert werden.
auch ein Weg. Es kann nicht sein, dass die Länder jetzt
vom Bund die Mittel einfordern, die sie selber nicht ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zusetzen bereit sind. Gute, verlässliche Rahmenbedingungen sind für er-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) folgreiche Lernprozesse erforderlich. Damit geben wir
den Einrichtungen auch größere Freiheiten, Entschei-
Bundesmittel sind keine Kompensationsmittel. Bun- dungen vor Ort treffen zu können. Wir brauchen einen
desmittel sollen Investitionen und Bildungsausgaben der gemeinsamen und national abgestimmten Rahmen für
Länder sinnvoll ergänzen. Genau das tun wir vom Bund die Bildung, eine regionale Qualitätssicherung und
her. Der Bund investiert schon jetzt tatkräftig. Wir haben selbstständige Bildungseinrichtungen, die gute Ergeb-
bis 2013 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung nisse erzielen können. Wir behindern uns doch selbst,
vorgesehen. Das ist eine bislang unerreichte Summe. Sie wenn die Ländergrenzen weiterhin Bildungsbarrieren
(B) zeigt deutlich, dass diese Koalition eine eindeutige Prio- darstellen und wenn die Länder ihre größten Konkurren- (D)
rität in genau diesem Gebiet gesetzt hat. ten in den anderen Bundesländern statt in anderen Indus-
trienationen sehen. Aufgrund der vorhandenen Bil-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
dungsbürokratie erzielen wir in Deutschland im Moment
Ich denke, wenn wir das im Bund schaffen, schaffen die nicht so gute Ergebnisse, dass wir mit Indien und China
Bundesländer das auch. konkurrieren könnten.
Mit der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische
Fachkräfte unterstützt der Bund die Länder beim Aufbau Vizepräsidentin Petra Pau:
einer Qualifizierungsinitiative für Erzieherinnen und Er- Kollegin Canel, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
zieher. Sie haben hier schon gehört, dass sie nicht gut men.
ausgebildet sind; aber Sie haben vielleicht noch nicht ge-
hört, dass manche so wenig verdienen, dass sie verheira- Sylvia Canel (FDP):
tet sein müssen, weil sie auf das Einkommen des Ehe- Ja, gern.
partners angewiesen sind. Das muss sich ändern; denn es
geht um den wichtigsten Bildungsabschnitt eines jeden
Menschen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Licht, das vor Ihnen aufleuchtet, ist ernst ge-
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Mit meint.
der FDP wird sich das ändern? Aha!)
Der Hochschulpakt läuft weiter und sichert den Aus- Sylvia Canel (FDP):
bau von Studienplatzkapazitäten. Bis zum Jahresende Meine Damen und Herren, berücksichtigen Sie: Dies
2010 wurden statt 90 000 180 000 Studienplätze ge- ist das wichtigste Themenfeld in diesem Bereich. In den
schaffen. Der Qualitätspakt Lehre führt zu einer Verbes- Bundesländern, in denen Sie an der Regierung beteiligt
serung der Studienbedingungen; dort haben wir 2 Mil- sind, können Sie sich selbst dafür einsetzen, dass genau
liarden Euro vorgesehen. hier investiert und das getan wird, was im vorliegenden
Antrag gefordert ist.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind doch
vorzeigbare Ergebnisse!) Danke sehr.
Das BAföG wurde erhöht und das Stipendienprogramm (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
eingeführt. Ich weiß, dass Sie das sehr kritisieren, aber Sönke Rix [SPD]: Wissen Sie eigentlich, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14843
Sylvia Canel
(A) es bald keine Bundesländer mehr gibt, in de- Bayern und Hessen aufgenommen werden, wo es eben- (C)
nen Sie sich dafür einsetzen können?) falls nicht genügend Fachkräfte, aber mehr Geld gibt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aha! Wer regiert
Vizepräsidentin Petra Pau: denn da?)
Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kolle-
gin Hein für die Fraktion Die Linke. Den jüngsten Zahlen zufolge hatten im Jahre 2009
bundesweit etwa 20 Prozent des pädagogischen Perso-
(Beifall bei der LINKEN) nals in Kindereinrichtungen keine pädagogische Ausbil-
dung. Bei den Tagespflegepersonen sah es noch schlech-
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): ter aus: Nur etwa 36 Prozent von ihnen hatten überhaupt
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau eine entsprechende Ausbildung. 160-Stunden-Programme,
Canel, es hilft nichts, wenn wir hier „Schraps hat den Orientierungskurse und Schnellkurse reichen nicht aus,
Hut verloren“ spielen. um in den Kindereinrichtungen die Qualität, die wir er-
reichen wollen, zu sichern. Meine Damen und Herren,
(Beifall bei der LINKEN) der Erziehungsberuf ist doch kein Anlernberuf!
Wir müssen überlegen, welche Verantwortung der Bund (Beifall bei der LINKEN)
tatsächlich hat.
Auch für die noch fehlenden etwa 250 000 Plätze sind
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Hamburg die nötigen Fachkräfte nicht in Sicht. Allein dafür wür-
kennt man das Spiel nicht, Frau Kollegin! – den bis 2013 wenigstens 50 000 Erzieherinnen und Er-
Gegenruf des Abg. Sönke Rix [SPD]: Wir zieher gebraucht. Wenn wir hier nicht etwas tun, dann
spielen das nachher mal zusammen!) läuft dieser gut gemeinte Rechtsanspruch ins Leere, weil
– Das kennt man dort nicht? Ich erkläre es Ihnen nach- sich niemand dafür interessiert, wenn er es nicht bei-
her. spielsweise wegen der Aufnahme einer Arbeit muss. Wir
wollen, dass diese Kindereinrichtungen auch Bildungs-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) programme anbieten. Davon müssen auch die Eltern
überzeugt werden.
Der Bund hat zu Recht im Gesetz festgeschrieben,
dass ab 2013 jedes Kind vom ersten Lebensjahr an einen (Beifall bei der LINKEN)
Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindereinrich-
tung oder in der Kindertagespflege hat. Bundesweit sol- Bei der Behandlung unseres Antrages hat man uns
len insgesamt 750 000 Plätze zur Verfügung gestellt auch hier wieder zugestanden, wir hätten gut recher-
chiert, aber man könne ihm aus grundsätzlichen Erwä-
(B) werden. Zwei Drittel davon hat man bereits geschaffen. (D)
Wir bezweifeln allerdings, dass 750 000 Plätze ausrei- gungen nicht folgen. Das ist zwar richtig, aber es gibt ei-
chen werden. Für eine gute Qualität in Bildung und Be- nen Ausweg. In § 83 SGB VIII, einem Bundesgesetz, ist
treuung, sowohl in Kindereinrichtungen als auch in der festgelegt, dass der Bund „die Tätigkeit der Jugendhilfe
Tagespflege, bedarf es – das ist unstrittig – gut ausgebil- anregen und fördern“ soll, soweit sie von überregionaler
deter pädagogischer Fachkräfte. Das sehen alle in die- Bedeutung ist und die Länder das allein nicht schaffen
sem Haus so, auch die Bundesregierung. können. Ich finde, diesen Passus könnte man auch nut-
zen, um ein Bund-Länder-Programm zu entwickeln.
Die Bundesregierung und dieses Haus haben zwar
den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geschaf- (Beifall bei der LINKEN)
fen, ein Investitionsprogramm aufgelegt und sogar Hil- Ich will auch noch etwas zum zweiten Teil unseres
fen bezüglich der Betriebskosten der Einrichtungen auf Antrages sagen. Damit beziehen wir uns auf die Lehr-
den Weg gebracht. Dass man in solchen Einrichtungen kräftesituation an den Schulen. Auch das ist hier schon
auch Personal braucht, hat die Koalition, haben die Re- gesagt worden. Hier droht nach unserer Auffassung trotz
gierenden aber jedes Mal übersehen. des Schülerrückgangs – im Osten wieder deutlich stärker
(Sönke Rix [SPD]: Oh nein! Wir nicht!) als im Westen – ein dramatischer Lehrermangel. Eigent-
lich gibt es ihn schon, aber er wird sich in allen Ländern
Deswegen haben wir nun dieses Dilemma. noch wesentlich verstärken, weil derzeit fast die Hälfte
der Lehrinnen und Lehrer in den Schulen über 50 Jahre
Der Fachkräftebedarf ist groß. Die Standards bei der
alt ist.
Kinderbetreuung in den Einrichtungen der Länder sind
schon heute unbefriedigend. Insbesondere im Osten ist Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat vor einiger
das leider so. In Sachsen-Anhalt mussten wir den Be- Zeit vorgerechnet, dass mittelfristig ein Bedarf von etwa
treuungsschlüssel in den letzten 20 Jahren, meistens üb- 35 000 Lehrerinnen und Lehrern pro Jahr besteht. Nun
rigens aufgrund von Druck aus dem Westen und auf- hat die Kultusministerkonferenz im Sommer eine neue
grund von Geldmangel, permanent verschlechtern, so- Berechnung vorgelegt. Danach soll es angeblich nur
dass die Bundesregierung ihn heute zu Recht als bedenk- kurzzeitig und punktuell zu Engpässen kommen. Ich
lich einstuft. Zudem werden im Bundesland Sachsen- habe mich gefragt, warum das plötzlich so ist. Die sin-
Anhalt in den nächsten Jahren Tausende Erzieherinnen kende Schülerzahl allein kann der Grund nicht sein. Ich
in den Ruhestand gehen. Für ausreichend Nachwuchs ist bin dann darauf gekommen: Im Westen ist der Übergang
nicht gesorgt. Das liegt auch daran, dass die in Sachsen- zum berühmten G 8, also zum verkürzten Abitur, natür-
Anhalt ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher gern in lich auch ein Sparmodell gewesen, wodurch Stunden
14844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha!) Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Sie haben gerade im
Zusammenhang mit dem KJHG vorgeschlagen, ein
aber verantwortlich, und diese Verantwortung müssen Bund-Länder-Programm aufzulegen. Wenn Sie aber
wir wahrnehmen. schon das KJHG dazu nutzen wollen, dann machen Sie
bitte kein Klein-Klein-Programm, dessen Wirkung nach
Danke schön.
ein, zwei Jahren verflogen ist, sondern dann müssen Sie
(Beifall bei der LINKEN) das machen, was die Grünen vorschlagen, nämlich Qua-
litätskriterien rechtsverbindlich hineinschreiben, sodass
Vizepräsidentin Petra Pau: sich tatsächlich etwas ändern muss. Aber mit einem Pro-
gramm wird sich das Ganze in Schall und Rauch auflö-
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Frak-
sen und folglich keine Wirkung haben.
tion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD –
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie, liebe Kollegin- Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich kann
nen und Kollegen von der Koalition, können hier so Qualitätskriterien nicht in ein Programm
schöne Reden halten, wie Sie wollen, es hilft aber nichts: schreiben!)
Wir haben einen Fachkräftemangel, und zwar in den Als zweites Beispiel nenne ich Ihre Forderung, im
Kindergärten, in den Kinderkrippen und in den Schulen. Hochschulpakt ein Sonderprogramm für mehr Lehramts-
Wir können die Zahlen drehen, wenden, interpretieren studienplätze aufzulegen. Der Hochschulpakt bedarf
und noch einmal neu berechnen: Es ist so, und wir müs- aber bereits schon der Nachbesserung. Wenn wir ihn
sen uns damit auseinandersetzen. Die Linke hat schlicht jetzt mit neuen spezifischen Aufgaben beladen, dann
und einfach recht, wenn sie dies hier feststellt. Es hilft wird das weder die Gesamtsituation an den Hochschulen
nichts, darum herumzuschwadronieren. in irgendeiner Form verbessern, noch wird es eine Wir-
Das ist übrigens überhaupt nicht neu und war lange kung entfalten.
vorhersehbar. Die Argumente dafür liegen offen auf der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hand: Es gibt immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, aber
auch viele Erzieherinnen und Erzieher, die aus Alters- Denn ein Programm, das nur schwer umzusetzen ist,
gründen ausscheiden werden. Wir brauchen weitere An- wird nicht besser, indem man es verschlimmbessert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14845
Ekin Deligöz
(A) Die Knackpunkte, die genannt worden sind, müssen Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
wir in der Tat angehen. Ich nenne zum Beispiel das Ko- Das Wort hat die Kollegin Ewa Klamt für die Unions-
operationsverbot. Ich fand es heute im Bildungsaus- fraktion.
schuss wirklich dramatisch, dass wir auf die Frage, was
getan wird, um ein Kooperationsverbot zu verhindern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von der Ministerin lediglich die Antwort erhalten haben:
Ich muss erst einmal meine eigene Partei von der Ab- Ewa Klamt (CDU/CSU):
schaffung der Hauptschule überzeugen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Ja, wir haben einen Fachkräftemangel. – Die Kol-
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Geben Sie doch legin müsste jetzt eigentlich zuhören, aber sie hat auch
nicht falsche Zitate wieder!) schon bei der Ministerin nicht zugehört, sonst hätte sie
Wir wollen das Bildungssystem in Deutschland verän- sie richtig zitiert.
dern, und die Ministerin ist damit beschäftigt, ihre Partei (Beifall bei der CDU/CSU – Ekin Deligöz
von etwas Selbstverständlichem zu überzeugen. Das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Ich
kann doch nicht die Aufgabe einer Bildungsministerin weiß nicht, ob Sie da waren, aber ich war da!)
für ganz Deutschland sein. Ich bitte Sie! Eigentlich ist es
peinlich, so eine Antwort in einer Ausschusssitzung zu Frau Kollegin, diese Koalition tut hier etwas, was
bekommen. man von Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 nicht ge-
rade behaupten kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Peinlich ist, NEN]: Das Ganztagsschulprogramm war von
dass Sie falsch zitieren!) uns!)
Jetzt komme ich noch zu einem anderen Punkt. Wir Es macht aber Sinn, einmal genau hinzuschauen, wer in
haben eine ganz klare Kompetenz im Bereich der Wei- unserem föderalen System was in diesem Bereich geleis-
terbildung. Hier können wir wirklich etwas machen, an- tet hat und wer noch eine Bringschuld hat.
gefangen beim Erwachsenen-BAföG bis hin zu vernünf- Allein beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat der
tigen Weiterbildungsmöglichkeiten zum Beispiel für Bund einen Finanzierungsbeitrag von 4 Milliarden Euro
Seiteneinsteiger. Warum tun Sie da nichts? Da haben wir geleistet. Offen bleibt die Finanzierung in den Ländern.
eine ganz klare Verantwortung, um tatsächlich etwas zu Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Das stelle nicht
verändern. Aber Sie drücken sich ein wenig davor. Das nur ich fest. Auch der Deutsche Städtetag fordert von
(B) betrifft übrigens nicht nur diesen Bereich, sondern auch den Ländern größere finanzielle Anstrengungen, um den (D)
den Bereich der Fachkräfte. Rechtsanspruch auf Betreuung bis 2013 umzusetzen.
Vor kurzem wurde durch eine Kleine Anfrage der (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
Grünen der Blick auf ein großes Handlungsfeld gelenkt, war aber nicht Ihre Idee!)
nämlich auf die Qualifizierung von Tagespflegeperso-
nen, den sogenannten Tagesmüttern. Wir wissen: Die Rund 6 Milliarden Euro an Investitionskosten sind hier
Menschen, die dort arbeiten, sind oft nicht nur unterbe- von den Ländern noch nicht finanziert.
zahlt, sondern auch fehlqualifiziert. Wenn wir wirklich Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, ich
Bildung und Förderung wollen, wenn wir Tagespflege in gebe Ihnen recht: Bei der Kinderbetreuung geht es nicht
Deutschland tatsächlich etablieren wollen, dann haben allein um Quantität, sondern auch um Qualität. Doch Ihr
wir die Verantwortung, in diesem Bereich für Qualität zu Ansatz geht in die falsche Richtung. Sie verwechseln die
sorgen. Da gibt es Defizite. Auch da hat der Bund eine Zuständigkeiten. Anders als im sozialistischen Einheits-
Zuständigkeit. Teile Ihres Konzepts und Ihrer Gesetze staat
beruhen auf den Tagesmüttern, aber Sie schauen weg.
Das Einzige, was Sie von der Regierung getan haben, (Zuruf von der LINKEN: Oh! Langweilig!)
war, die Tagesmütter durch eine steuerrechtliche Rege- ist es im föderalistischen System der Bundesrepublik
lung noch mehr zu belasten. Damit haben Sie auch die Deutschland – man muss Sie ja immer wieder aufklären,
letzte Tagesmutter vergrault. Das ist Ihre Antwort. Aber weil Sie es anscheinend nicht wissen – aus gutem Grund
das wird nicht reichen. Aufgabe der Länder, mit konkreten Maßnahmen auf den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN regionalen Bedarf zu reagieren.
und bei der SPD) (Sönke Rix [SPD]: Den guten Grund würde
Also: Lassen Sie uns das Problem anpacken, bevor es ich gern einmal hören!)
uns überholt. Wenn Sie wirklich das Beste für unsere Anstatt jedoch in den Ländern, in denen Sie bis vor kur-
Kinder tun wollen, dann müssen Sie mehr tun, als nur zem noch mitregieren konnten – ich nenne nur einmal
schönen Reden halten, dann müssen Sie handeln. Auch Berlin –, diese Probleme zu beheben, rufen Sie jetzt den
die besten Sätze helfen nicht, wenn Ihr Handeln am tat- Bund auf, Ihre bildungspolitischen Negativhinterlassen-
sächlichen Bedarf vorbeigeht. schaften – schauen wir nur einmal in den Grundschulbe-
reich – aufzuräumen. Das ist nicht Aufgabe des Bundes.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU)
14846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Ewa Klamt
(A) Wir, die Koalition, haben mit einer Vielzahl von Pro- Studierende! Doppelte Abiturjahrgänge! Weg- (C)
grammen und einem immensen finanziellen Aufwand fall der Wehrpflicht!)
verbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bil-
dung und Erziehung geschaffen. Etliche Initiativen wur- – Bei diesem Thema sind wir jetzt gerade. Frau
den bereits genannt. Wichtig ist für mich die Initiative Schieder, hören Sie doch einfach einmal zu, auch wenn
„Offensive Frühe Chancen“. Frau Schieder, Sie sind es für Sie schwierig ist. Ich habe Ihnen auch zugehört.
doch auch im Ausschuss. Sie wissen doch ganz genau, Bis zum Jahr 2015 – das ist die zweite Programm-
was wir da beschlossen haben. phase – hat die Bundesregierung 320 000 bis 335 000
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Ich zusätzliche Studienmöglichkeiten zugesichert. Wenn es
weiß, was Rot-Grün auf den Weg gebracht einen größeren Bedarf geben sollte, dann wird auch die-
hat!) ser vom Bund finanziert. Um es noch einmal in aller
Deutlichkeit zu sagen: 600 Millionen Euro erhielten die
Wir haben bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfü- Länder 2011 vom Bund für den Ausbau der Studienan-
gung gestellt, um in Deutschland 4 000 Kitas mit dem gebote. 2012 werden es 1,14 Milliarden Euro sein.
Schwerpunkt Sprache und Integration zu fördern. Ich
sage das, weil Sie die Migrationskinder und die Kinder (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich denke,
von deutschen Eltern, die der deutschen Sprache nicht dafür sind wir nicht zuständig!)
richtig mächtig sind, ansprachen. – Ja, Sie haben recht. 25 Prozent all dieser Kosten finan-
ziert der Bund schon, aber Sie fordern immer noch ein
Vizepräsidentin Petra Pau: bisschen mehr. Sie müssen aber auch einmal da liefern,
Kollegin Klamt, gestatten Sie eine Frage der Kollegin wo Sie in der Verantwortung sind. Da passiert nämlich
Golze? überhaupt nichts.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr.
Ewa Klamt (CDU/CSU):
Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Es geht um
Nein. – Nehmen wir das Aktionsprogramm Kinderta- Lehrerinnen und Lehrer und nicht um Studien-
gespflege. Hier konnte der Anteil der Tagespflegeperso- plätze!)
nen ohne absolvierten Qualifikationskurs auf 14 Prozent
gesenkt und der Anteil der erfolgreichen Abschlüsse im Uns ist aber auch die Qualität der Ausbildung wich-
Jahr 2009 um 16 Prozent gesteigert werden. tig. Der Qualitätspakt Lehre ist schon angesprochen
worden. Auch hierbei gilt – das kann nicht oft genug
(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Was ist
klargestellt werden –: Länder und Hochschulen müssen
denn ein Qualifikationskurs? 160 Stunden!
(B) ihren Beitrag zur Verbesserung von Studium und Lehre (D)
Das ist doch keine berufliche Ausbildung!)
leisten. Auch die Zuständigkeit für die Erzieherinnen
Im Übrigen wird auch die Anerkennung ausländi- und Erzieher liegt bei Ländern und Kommunen. Darum,
scher Bildungsabschlüsse einen wichtigen Beitrag dazu liebe Linke, können wir Ihrem Antrag sicher nicht zu-
leisten, dass auch pädagogische Fachkräfte in der früh- stimmen.
kindlichen Bildung tätig werden können. Auch hier ist
der Bund für die bundesgesetzlich geregelten Berufe be- Danke schön.
reits aktiv geworden. Es liegt erneut an den Ländern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Anerkennungsverfahren und berufsrechtliche Regelun-
gen, wie zum Beispiel für Lehrer und Erzieher, in ihrem
Zuständigkeitsbereich zu ändern. Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Sönke
Richtigerweise stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass Rix.
wir in Zukunft eine große Anzahl von Lehrerinnen und
Lehrern benötigen. Deshalb haben Bundesregierung und (Beifall bei der SPD)
Länder, und zwar nicht erst seit heute, mit dem Hoch-
schulpakt die Voraussetzung für die Aufnahme neuer Sönke Rix (SPD):
Studierender an den Hochschulen geschaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! In fast jeder Rede,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zumindest vonseiten der Regierungskoalition, ist bisher
neten der FDP – Marianne Schieder [Schwan- angeklungen: Wir sind eigentlich gar nicht zuständig
dorf] [SPD]: Kennen Sie die Zahlen?) sind. Dafür sind die Länder zuständig. Wir können nur
ein paar kleine Programme machen. Was soll das ganze
– In der ersten Programmphase – die Zahl lese ich Ihnen Gerede? – Wenn wir mit dieser Einstellung an den Aus-
gerne vor; wir haben sie hier schon einmal gehört – wur- bau der Ganztagsschulen oder der Krippenplätze heran-
den von 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzliche Stu- gegangen wären, dann hätten wir uns in diesem Bereich
dienmöglichkeiten geschaffen – zusätzliche Studienmög- nicht bewegt.
lichkeiten! Das heißt doppelt so viele wie ursprünglich
vereinbart. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
[SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Marianne Schieder [Schwan- Ich finde – das sage ich insbesondere an die Adresse der
dorf] [SPD]: Wir haben aber wesentlich mehr Kollegen der Unionsfraktion –, das hat dieses Thema
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14847
Sönke Rix
(A) nicht verdient. Man kann auch mit den Ländern gemein- Ich habe mich lange gefragt, woran es liegt, dass das (C)
sam Großes bewegen. Das haben Sie bisher versäumt. aufseiten der Regierungskoalition nicht erkannt wird.
Wenn ich mir Ihre Vorschläge genau anschaue – leider
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
ist niemand vom Familienministerium anwesend, ob-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ewa Klamt
wohl Fachkräfte im Krippenbereich ein Thema für die-
[CDU/CSU]: Das machen wir die ganze Zeit
ses Ministerium wäre; offenbar hat man dort anderes zu
mit dem Hochschulpakt!)
tun –, dann vermute ich, dass das am Rollenbild liegt.
Wir haben nicht nur unter Rot-Grün das Ganztags- Nehmen wir als Beispiel das Programm für mehr männ-
schulprogramm auf den Weg gebracht, sondern wir ha- liche Erzieher in Kindertagesstätten. Ihrer Ansicht nach
ben auch in der Großen Koalition das 4-Milliarden- brauchen männliche Arbeitslose – von denen gibt es
Euro-Programm zum Ausbau der Krippenplätze voran- genügend – offenbar noch nicht einmal eine volle Aus-
gebracht, obwohl wir auf Bundesebene eigentlich nicht bildung, sondern nur eine Umschulung bzw. Weiterqua-
die Zuständigkeit dafür hatten. Wir haben uns aber mit lifizierung, um anschließend als Erzieher in Kinderta-
den Ländern zusammengesetzt und gemeinsam in einem gesstätten arbeiten zu können. Dieses Rollenbild führt
ausgetüftelten Verfahren dafür gesorgt, dass wir Geld für dazu, dass der Erzieherberuf noch immer nicht den Stel-
den Ausbau der Krippenplätze in die Hand nehmen lenwert hat, den er eigentlich verdient.
konnten. Sie aber sagen nun, da die nächsten Schritte
In diesem Zusammenhang muss man sich auch Ihr Fa-
folgen sollen: Damit haben wir nichts zu tun; das müs-
milienbild anschauen. Die bayerische Familienministerin
sen die Länder alleine machen. – So geht es nicht.
hat gerade ein Betreuungsgeld in Höhe von 500 Euro ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Tankred fordert. Das Geld, das dafür ausgegeben werden soll,
Schipanski [CDU/CSU]: Wir haben schon eine sollte lieber in den Ausbau von Krippenplätzen und in die
Anschubfinanzierung gemacht!) Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern inves-
tiert werden. Wenn Sie Ihre Rollenbilder nicht verändern,
Dass wir in den Bereich Kindertagesstätten investiert dann verändern Sie auch nichts an der Qualität von Erzie-
haben, war wahrscheinlich schon ein zäher Akt von Frau hung und Bildung. Daran sollten Sie als Erstes arbeiten.
von der Leyen mit Blick auf die CDU/CSU-Fraktion und
insbesondere die CSU-Landesgruppe. Aber wir haben es Herzlichen Dank.
geschafft. Nun fehlen, wie gesagt, die weiteren Schritte.
Der Ausbau stockt quantitativ und qualitativ. Wir brau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen vor allem mehr und besser ausgebildetes Personal. der LINKEN)
Deshalb brauchen wir eine andere Ausbildung der Erzie-
herinnen und Erzieher. Denn die Ansprüche und Anfor- Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) (D)
derungen an frühkindliche Bildung – das haben die letz- Nun hat der Kollege Florian Hahn für die Unionsfrak-
ten Jahre deutlich gezeigt – sind zu Recht gestiegen. tion das Wort.
Der Kindergarten ist nicht mehr das, was er vor 20 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
oder 30 Jahren in einer rein konservativen Ära war, näm-
lich ein Aufbewahrungsort für Kinder, deren Eltern ge- Florian Hahn (CDU/CSU):
rade nicht auf sie aufpassen konnten. Die Kindertages- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
stätte ist inzwischen ein Ort der frühkindlichen Bildung. Kollegen! Der vorliegende Antrag spricht das Problem
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir die Erzieher- der Überalterung der Gesellschaft und – damit einherge-
ausbildung reformieren und vorantreiben und den Erzie- hend – auch des Lehrkörpers an. Dieses Problem haben
herberuf aufwerten. wir schon längst erkannt.
(Beifall bei der SPD)
Die Bundesregierung scheut keinen finanziellen Auf-
Ein Blick auf andere europäische Staaten wie die Be- wand, um verbesserte Rahmenbedingungen in den Be-
neluxstaaten und Skandinavien – Norwegen ist ein gutes reichen Bildung und Erziehung zu schaffen. Das haben
Beispiel – zeigt, welchen Stand der Erzieher oder die Er- meine Vorredner Ewa Klamt, Marcus Weinberg und an-
zieherin dort hat: Er steht ungefähr auf derselben Ebene dere bereits ausführlich dargestellt. Der in der letzten
der beruflichen Hierarchie – wenn man es so sagen Sitzungswoche präsentierte Haushalt des BMBF ist Zei-
kann – wie die Lehrerin oder der Lehrer. In Schleswig- chen genug, dass der Bund seine durch den Föderalis-
Holstein verdient ein Erzieher mit einer Ganztagsstelle mus vorgegebene Verantwortung für die Bildungspolitik
etwa 1 800 Euro netto. Im Vergleich zum Lehrergehalt wahrnimmt. Aber auch für den Bildungsbereich gilt,
ist das eine Katastrophe; denn wir erwarten von den Er- dass all diese finanziellen Leistungen immer im Kontext
zieherinnen und Erziehern mindestens genauso viel wie mit dem finanziell Machbaren gesehen werden müssen.
von den Lehrerinnen und Lehrern. Damit haben die Antragsteller traditionell ein Problem.
Das wissen wir alle, spätestens wenn wir auf die Haus-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) halte schauen, die Sie in den von Ihnen mitregierten
Es bedarf nicht nur einer Initiative der Länder, son- Ländern verantworten.
dern einer Bund-Länder-Initiative, um den Erzieherberuf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
aufzuwerten, und zwar durch eine bessere Bezahlung,
mehr Aufstiegschancen und eventuell durch eine stär- Frühkindliche Bildung, Qualifizierung der Erziehe-
kere Akademisierung dieses Berufsstands. rinnen und Erzieher, Schulen stärken, gehaltvolles Stu-
14848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Florian Hahn
(A) dium sichern – das sind unsere Ziele. Genau so steht es dabei ist die Durchlässigkeit des Systems. In Bayern (C)
im Koalitionsvertrag. Trotz rückläufiger Kinderzahlen schaffen wir übrigens zwei Dinge gleichzeitig: einen aus-
wird nicht weniger, sondern mehr Geld in Bildung ge- geglichenen Haushalt – das schon seit sieben Jahren – und
steckt. Mit Blick auf den vorliegenden Antrag ist festzu- steigende Investitionen in die Bildung unserer Kinder.
halten, dass gerade die Bildungshoheit eine der wesentli-
chen Gestaltungsräume der Länder ist. Der Bund wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
daher die Länder nicht aus ihrer – auch finanziellen –
Verantwortung für das Bildungssystem entlassen. Natürlich werden zukünftig mehr Lehrerinnen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lehrer gebraucht. Die Zahlen der anstehenden Pensio-
nierungen in den nächsten Jahren sind uns bekannt.
Sie müssen selbst entscheiden, welche konkreten Maß-
nahmen sie für ihre Region, für ihr Land brauchen. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Wa-
rum stellen Sie dann nicht ein?)
Ich komme genauso wie Frau Schieder aus Bayern,
und wir in Bayern stehen hinter dem Föderalismusge- Die Hochschulen in Deutschland sind derzeit mit mehr
danken und dem Wettbewerb um die besten Konzepte als 2 Millionen Studienanfängern so attraktiv wie nie zu-
und Ergebnisse unter den Ländern. Das ist Kern unseres vor. Deshalb ist es umso wichtiger für den Beruf des
erfolgreichen föderalen Systems; das wollen wir auch Lehrers, des Pädagogen oder des Erziehers, die dafür be-
nicht antasten. fähigten Studenten zu finden und entsprechend auszubil-
den. Ein Pädagogikstudium muss aus Berufung ergriffen
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das werden und darf nicht nur eine Notlösung darstellen,
sollte Sie nicht daran hindern, junge Lehrer weil sonstige Karrierewege nicht eingeschlagen werden
einzustellen!) können.
– Zu den Lehrern komme ich gleich, Frau Schieder. – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auffällig ist aber, dass im Vergleich immer wieder die
CDU/CSU-geführten Länder in den Rankings, bei PISA Hier geht Qualität über Quantität. Daher geht die For-
oder im Bildungsmonitor, besser abschneiden als die üb- derung der Linken, 10 000 Lehrerinnen und Lehrer zu-
rigen. Bayern hat derzeit – ich komme jetzt zu Ihrem sätzlich pro Jahr zur Verfügung zu stellen, völlig an der
Einwand, Frau Schieder – die höchste Lehrerzahl seit Realität vorbei. Wir brauchen kein neues Fachkräftepro-
über 60 Jahren. Noch nie haben in Bayern so viele Lehr- gramm, sondern eine konsequente Umsetzung der beste-
kräfte – hören Sie zu, Frau Schieder! – an staatlichen henden Programme, Bildungsbündnisse, Bildungsketten
Schulen unterrichtet wie heute. und die Weiterentwicklung des Ausbildungspakts.
(B) (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das bringt (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Oje!) aber keine Lehrerinnen und Lehrer!)
Trotz weiter rückläufiger Schülerzahlen – allein vom Die Länder erhalten für den Ausbau des Lehramts be-
letzten auf dieses Jahr waren es 50 000 Schüler weniger – reits Unterstützung vom Bund aus dem Hochschulpakt.
investiert Bayern in Lehrerstellen. Allein mit dem Dop- Ebenfalls bekommen sie Mittel vom Bund für die Erzie-
pelhaushalt 2011/2012 schafft die Landesregierung herausbildung an Hochschulen.
schulartübergreifend 3 873 neue Lehrerstellen. Das sind Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung mit
im Übrigen netto mehr als 2 000. Schaut man auf das bis ihren Programmen von der frühkindlichen Erziehung
letzten Sonntag rot-rot regierte Berlin, so stellt man fest, über die Betreuung in Kindergärten bis hin zu einer mit
dass Berlins Schulen in den PISA-Studien immer zielsi- den Ländern abgestimmten Bildungspolitik die richtigen
cher auf den unteren Plätzen landen. Weichenstellungen vorgenommen hat. Die Umsetzung
Dass in Berlin „arm, aber sexy“ das generelle Motto liegt allerdings bei den Ländern. Der vorliegende Antrag
von Rot-Rot unter Wowereit war und daraus resultierend ist daher abzulehnen.
die Lehrer mit wesentlich weniger Geld nach Hause ge-
Vielen Dank.
hen als in anderen Bundesländern
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf von der LINKEN)
– hören Sie einmal zu! –, wirkt sich natürlich auf die Vizepräsidentin Petra Pau:
Motivation der Lehrer aus. Hier muss eine neue Regie- Bei aller Kontroverse – eine Übereinstimmung hat
rung in Berlin aufräumen, am besten unter CDU-Beteili- das Präsidium festgestellt: Die Redezeiten wurden von
gung, allen Fraktionen ausgeschöpft.
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ich schließe die Aussprache.
DIE GRÜNEN)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
und richtige Anreize setzen, bevor Sie diese vom Bund
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
fordern.
zung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
Für uns zählen Qualität und individuelle Förderung. „Fachkräfteprogramm – Bildung und Erziehung – unver-
Deshalb halten wir von einem Bildungseinerlei nichts. Je- züglich auf den Weg bringen“. Der Ausschuss empfiehlt
des Talent muss bestmöglich gefördert werden. Wichtig in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7007,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14849
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache Aber keine Angst! Ich will bei weitem keine Eins-zu- (C)
17/2019 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- eins-Übernahme fordern. Aber würde es wirklich scha-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – den, wenn wir uns in jeder Sitzungswoche eine Stunde
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Zeit nähmen, Petitionen im Plenum inhaltlich zu disku-
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Fraktion tieren? Diese eine Stunde könnte manche nachfolgende
Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Frak- Plenardebatte anders und nachdenklicher verlaufen las-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bericht des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Heutzutage stimmen wir im Parlament über soge-
Bitten und Beschwerden an den Deutschen nannte Sammelübersichten ab, die die Beschlussem-
Bundestag pfehlungen des Petitionsausschusses enthalten. Für rund
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des 16 000 bis 18 000 Petitionen im Jahr ist das sicher eine
Deutschen Bundestages im Jahr 2010 zeitsparende Lösung. Aber werden wir damit dem Herz-
stück des Parlamentarismus, dem Art. 17 des Grundge-
– Drucksache 17/6250 – setzes, wirklich gerecht?
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Günter Baumann [CDU/CSU]: Ja!)
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Immer wieder stellen wir fest, dass unsere Bürgerin-
nen und Bürger sehr sensibel auf politische Maßnahmen
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die und Reformen reagieren und sich an das Parlament wen-
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwal- den. Die zahlreichen Briefe und Mails beweisen: Von
tung, die dem Petitionsausschuss das ganze Jahr über zur Politikverdrossenheit und Vertrauensverlust ist da wenig
Seite stehen, aus diesem Anlass herzlich hier begrüßen. zu spüren. Diesem Vertrauensvorschuss könnten wir
(Beifall) noch besser gerecht werden, wenn wir Petitionen auch
im Plenum diskutieren würden.
Die fraktionsübergreifende Begrüßung gibt uns die
Gelegenheit, die notwendigen Umgruppierungen hier im Doch zurück zum Jahresbericht 2010. Im Durch-
Saal so vorzunehmen, dass wir der ersten Rednerin zu- schnitt gingen 66 Zuschriften und Mails pro Werktag
hören können. beim Petitionsausschuss ein. Insgesamt waren es 16 849
Petitionen. 5 780 davon, also mehr als ein Drittel, kamen
(B) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsit- auf elektronischem Weg – und das mit steigender Ten- (D)
zende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten denz. 15 993 Petitionen hat der Ausschuss im vergange-
Steinke. nen Jahr abschließend behandelt, inklusive einiger Über-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- hänge aus dem Vorjahr.
neten der FDP) Seit der Eröffnung der Internetplattform des Petitions-
ausschusses im Jahr 2005 finden unsere Seiten einen
Kersten Steinke (DIE LINKE): ständigen Zuspruch. Täglich wird auf diese rund
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- 150 000-mal zugegriffen, was einer monatlichen Klick-
legen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Aus- rate von über 4 Millionen entspricht. Das größte Inte-
schussdienstes! Meine Damen und Herren! In § 48 der resse bei den Nutzerinnen und Nutzern der Internetseiten
„Geschäftsordnung für die constituirende Nationalver- gilt natürlich den öffentlichen Petitionen. Davon gab es
sammlung“ in der Paulskirche 1848 hieß es – ich zitie- einige im vergangenen Jahr. Erinnern möchte ich an so
re –: erfolgreiche Petitionen wie die gegen die Einführung der
ambulanten Kodierrichtlinien mit fast 500 000 Unter-
Dem Petitions-Ausschusse ist ein bestimmter Tag stützerinnen und Unterstützern oder die gegen die unzu-
in jeder Woche zur Vorlegung seiner Berichte ein- reichende Vergütung der Hebammen mit über 190 000
zuräumen. Erst nach völliger Erledigung dieser Be- Unterzeichnungen. Besonders im Herbst 2010 erhielten
richte kann zur anderweitigen Tagesordnung über- wir viele Petitionen und Unterschriften gegen die Lauf-
gegangen werden. zeitverlängerung der AKW.
Stellen Sie sich nur einmal einen Moment vor, dieser Im Jahr 2010 haben sich 380 831 neue Nutzerinnen
Paragraf wäre in die Geschäftsordnung des Deutschen und Nutzer angemeldet. Sie haben sich aktiv in die Dis-
Bundestages aufgenommen worden! kussion der verschiedenen Themen eingebracht, haben
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Petitionen mitgezeichnet oder kommentiert oder aber ei-
Das wäre gut!) gene Bitten und Beschwerden eingereicht. So weist die
Statistik die unglaubliche Zahl von 1 754 579 Mitzeich-
Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, meine lieben nungen auf. Das ist mehr als eine Verdreifachung im
Kolleginnen und Kollegen? Vergleich zum Vorjahr und, ich denke, sehr beachtlich.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP Im Jahr 2010 tagte der Petitionsausschuss viermal öf-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fentlich. Diese Sitzungen wurden im Parlamentskanal
14850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Kersten Steinke
(A) und im Internet live übertragen. In den vier Sitzungen Ein großer Anteil entfiel auf Vorschläge zur Ände- (C)
wurden zehn Petitionen beraten. Die Themen waren un- rung des Wahlrechts und zur Einführung von Volksent-
ter anderem die Sperrung von Internetseiten, das bedin- scheiden. Eine Reihe von Petitionen gab es auch zur Än-
gungslose Grundeinkommen, der Verzicht auf weitere derung des Grundgesetzes, zum Beispiel die Forderungen
Privatisierung von Gewässern, eine Reform der GEMA nach Einführung eines Grundrechtes auf Arbeit oder
und die unzureichende Vergütung sowie die hohen Haft- nach Verankerung der Rechte von Kindern.
pflichtprämien für Hebammen. Großen Zuspruch erhielt
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitglie-
auch die Petition, welche die Verankerung eines Grund-
der des Ausschusses machen ihre Entscheidungen nicht
rechts auf berufliche Ausbildung im Grundgesetz zum
nur von den ihnen vorliegenden Akten abhängig, son-
Ziel hatte. Ihr haben sich 77 946 Unterzeichnerinnen und
dern sie verschaffen sich auch vor Ort einen persönli-
Unterzeichner angeschlossen.
chen Eindruck. So ging es bei zwei Ortsterminen um den
Doch wie so oft im Leben finden sich gegenteilige Lärmschutz an Schienenwegen und in einem weiteren
Meinungen zu einem Thema auch in Petitionen. Hier ein Fall um die Forderung nach Schließung eines Luft- und
Beispiel: Eine Sammelpetition zur Verschärfung des Bodenschießplatzes der Bundeswehr.
Waffenrechts fand 15 584 Unterstützerinnen und Unter-
Ich möchte die heutige Debatte dazu nutzen, mich bei
stützer. Andererseits schlossen sich der Forderung nach allen Ausschussmitgliedern zu bedanken, die sich mit
einer Liberalisierung des Waffenrechts 7 386 Mitzeich- viel Engagement in die immer wieder neue und sehr dif-
nerinnen und Mitzeichner an.
ferenzierte Materie der einzelnen Anliegen einarbeiten
Meine Damen und Herren, kommen wir nun zu den müssen. Es sind teilweise sehr tragische Einzelschick-
einzelnen Ressorts und den Themenschwerpunkten: sale, die die Ausschussmitglieder – das darf ich hier si-
cherlich für alle Mitglieder des Petitionsausschusses sa-
Obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Sozia- gen – vor schwerwiegende Entscheidungen stellen.
les den größten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr zu Wenn wir dann gemeinsam den Petenten helfen können,
verzeichnen hatte, nahm es dennoch mit 3 344 Petitionen sind wir auch gemeinsam froh. Wenn wir allerdings trotz
weiterhin den ersten Platz ein. Erneut war die Grund- Ausschöpfens aller Möglichkeiten nicht helfen können,
sicherung für Arbeitsuchende das Hauptthema, gefolgt ist es für alle eine bittere Erfahrung. Die oft sehr ange-
von Eingaben zum Bereich der gesetzlichen Rentenver- regten Diskussionen über die einzelnen Eingaben und
sicherung. die Entscheidungen bezüglich des weiteren Vorgehens
(Zurufe von der LINKEN: Hört! Hört!) führen nicht immer zu einstimmigen Entscheidungen,
aber sie sind dennoch ausschließlich von dem Ziel be-
Das Justizministerium steht mit 2 067 Eingaben an stimmt, das Beste für die Petentinnen und Petenten zu
(B) zweiter Stelle. Themen waren hier beispielsweise das erreichen. (D)
Unterhalts- und Scheidungsrecht, das Sorgerecht bei
nichtehelichen Kindern und das Recht bei Vertragsab- Darüber hinaus möchte ich die Gelegenheit nutzen,
schlüssen über das Internet. Gerade zu diesem Bereich mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
gehen auch immer wieder Schreiben ein, in denen die Petitionsausschussdienstes für ihre fleißige Arbeit zu be-
Revision von gerichtlichen Entscheidungen gefordert danken.
wird. Hier sind dem Ausschuss allerdings die Hände ge- (Beifall im ganzen Hause)
bunden; denn Art. 97 des Grundgesetzes garantiert die
richterliche Unabhängigkeit. Somit liegen gewisse Ent- Sie sorgen dafür, dass mit einer dünnen Personaldecke
scheidungen außerhalb des Einflussbereiches des Peti- bei stetiger Fluktuation auf der Sachbearbeiter- wie auch
tionsausschusses. Referatsleiterebene kontinuierlich die vielen Eingaben
und Akten bearbeitet, Stellungnahmen bewertet, Bericht-
Beim Bundesministerium der Finanzen führen tradi- erstattergespräche, Ortsbesichtigungen und Obleute-
tionell die Eingaben zum Steuerrecht die Liste an. Das gespräche vor- und nachbereitet werden. Das ist nicht
Thema der Einkommensteuer steht nach wie vor an ers- immer einfach, aber sie machen es fast ausnahmslos mit
ter Stelle. Es gab allerdings weniger Eingaben zur Kraft- Bravour. Dafür unseren herzlichen Dank.
fahrzeugsteuer, zum Bereich des Kredit- und Bankenwe-
sens und zum Bereich des Wertpapierhandels. (Beifall im ganzen Hause)
Beim Gesundheitsministerium dominiert das Thema Diesem Dank muss ich aber auch eine kritische An-
„Beiträge zu den gesetzlichen Krankenkassen“, gefolgt merkung anschließen. Daran, dass ich in meiner nun-
von Einwänden zu Leistungen der gesetzlichen Kran- mehr sechsjährigen Amtszeit bereits den dritten Unter-
kenkassen. Gestiegen ist die Zahl der Eingaben zum Be- abteilungsleiter verabschieden musste, habe ich mich
reich des Arzneimittelwesens. fast gewöhnt. Nicht gewöhnen kann und will ich mich
allerdings daran, dass wir als Petitionsausschuss binnen
Auch das Bundesministerium des Innern verzeichnete eines Tages des Unterabteilungsleiters beraubt wurden,
einen Rückgang bei den Eingaben, und zwar von 1 952 der für 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwort-
im Jahr 2009 auf 1 606 im vergangenen Jahr. Das Auf- lich ist, nach einer Woche dann eine Ausschreibung mit
enthalts- und Asylrecht mit rund 280 Eingaben bleibt einer Frist von zwei Wochen erfolgte und wir im güns-
aber weiterhin das Schwerpunktthema, gefolgt von Fra- tigsten Fall nach vier Wochen die Stelle neu besetzt be-
gen zur Versorgung der Beamten oder zu dem neu einge- kommen. Dieses Verfahren zeugt in meinen Augen von
führten elektronischen Personalausweis. wenig Achtung gegenüber der Arbeit des Petitionsaus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14851
Kersten Steinke
(A) schusses und macht mich genauso unzufrieden wie die ren Gebiet gelungen ist, den Unterschied zwischen Ost (C)
jährliche Platzierung der Debatte zum Jahresbericht auf und West abzubauen.
der Tagesordnung des Deutschen Bundestages.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
Danke schön. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN, der SPD, dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP destag ist für jedermann auf direktem Wege zugänglich.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nach Art. 17 Grundgesetz hat jedermann das Recht, sich
mit Bitten und Beschwerden an den Petitionsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau: des Deutschen Bundestages zu wenden. Neben dem
Der Kollege Günter Baumann hat für die Unionsfrak- Wahlrecht und dem individuellen politischen Engage-
tion das Wort. ment, zum Beispiel in Parteien, bietet das Petitionsrecht
die Möglichkeit, sich direkt in die Politik einzubringen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Politische Beteiligung – darauf möchte ich besonderen
Wert legen – ist damit für die Menschen leicht erreich-
Günter Baumann (CDU/CSU): bar. Wenige Mausklicks oder ein einfacher Brief reichen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und aus, um sich zu beteiligen.
Kollegen! Auf die soeben gestellte Frage unserer Vor- Von dieser Beteiligungsmöglichkeit haben 2010
sitzenden, ob wir mit unserem jetzigen Verfahren knapp 17 000 Bürgerinnen und Bürger Gebrauch ge-
Art. 17 Grundgesetz gerecht werden, möchte ich sehr macht. Rechnet man Massenpetitionen, übergebene Un-
gern antworten, und zwar mit einem ganz klaren Ja. Ich terschriftenlisten und die elektronische Unterstützung im
bin der festen Überzeugung, dass wir unserem Auftrag Internet hinzu, stellt man fest, dass sich etwa 1,8 Millio-
gerecht werden. nen Bürgerinnen und Bürger an unserem Petitionswesen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beteiligt haben. Ich denke, das ist ein sehr gutes Ergeb-
nis.
Stellen Sie sich einmal vor, wir antworteten auf indi-
viduelle Probleme und persönliche Anliegen, mit denen Die Zahlen belegen aus meiner Sicht eindrucksvoll:
sich die Bürger an uns wenden, im Rahmen einer Plenar- Erstens. Das Petitionswesen ist in unserem Land be-
debatte. Bei den Sonntagsreden, die hier manchmal ge- kannt und wird von den Bürgerinnen und Bürgern ge-
halten werden, wäre das auf keinen Fall möglich, wobei nutzt.
wir vom Thema Datenschutz überhaupt nicht reden wol-
(B) len. Ich glaube also, dass man das so nicht machen kann. Zweitens. Die Menschen vertrauen uns, wenn es um (D)
Nicht umsonst tagen auch unsere Fachausschüsse in der die Unterstützung bei individuellen Bitten und Be-
Regel nichtöffentlich. schwerden und um die Lösung persönlicher Fragen geht.
Worum es bei der Arbeit im Petitionsausschuss geht Drittens. Wir sind ständig aufgefordert, noch nicht ge-
und welche Erfolge wir erreichen können, lässt sich am löste Probleme in der Politik anzupacken und zu bearbei-
besten anhand eines Beispiels darstellen. Eine Petentin ten.
hat sich 2005 an den Deutschen Bundestag gewandt und
begehrt, dass bei der Anrechnung einer Verletztenrente Nach wie vor kommen, prozentual auf die Einwoh-
aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente nerzahl bezogen, die meisten Petitionen aus den neuen
aus der gesetzlichen Rentenversicherung keine unter- Bundesländern. Auch wenn die Zahlen abnehmen, muss
schiedlichen Freibeträge in Ost und West mehr ange- man sagen: Das Bild des „meckernden Ossis“ ist noch
rechnet werden sollen – ein durchaus vernünftiges An- nicht ganz verblasst, aber es wird zumindest schwächer.
liegen. In der Stellungnahme hat das Ministerium für Das Petitionswesen ist im vereinten Deutschland inzwi-
Arbeit und Soziales dem 2006 zunächst nicht Rechnung schen auf beiden Seiten angekommen.
tragen können. Wir haben als Petitionsausschuss den Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
schluss gefasst, die Petition der Bundesregierung zur Be- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
rücksichtigung zu überweisen. Das ist das höchste Vo- GRÜNEN)
tum, das es gibt. Wir haben die Petition weiter intensiv
verfolgt, haben Schreiben verfasst und Gespräche ge- Es gibt bei Petitionen aber immer noch ganz spezielle
führt. Seit dem 1. Juli 2011 ist das Thema erledigt. Das Ostthemen, zum Beispiel Rentenprobleme oder auch of-
Bundesversorgungsgesetz und andere Vorschriften wur- fene Vermögensfragen.
den geändert. Das heißt, die Freibeträge sind nunmehr in Oft wird gefragt, wie erfolgreich wir sind. Auf diese
Ost und West gleich. Frage möchte ich klipp und klar antworten: 2010 sind
Dieses positive Beispiel zeigt, dass Petitionsarbeit er- 43 Prozent der eingegangenen Petitionen positiv für den
folgreich sein kann, dass es manchmal aber viel Zeit und Petenten ausgegangen. Das ist ein großer Erfolg, auf den
auch Hartnäckigkeit braucht. Wir müssen einfach dran- wir stolz sein können.
bleiben. Dann können wir für die Petentinnen und Peten- (Beifall im ganzen Hause)
ten ein gutes Ergebnis erreichen. Als Abgeordneter aus
den neuen Bundesländern freue ich mich natürlich über An dieser Stelle möchte ich mich, genau wie die Vor-
diese Petition ganz besonders, weil es auf einem weite- sitzende, im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
14852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Günter Baumann
(A) bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Aus- zeitfenster der Lärmschutzmaßnahme wurde außerdem (C)
schussdienstes ganz herzlich für ihre Arbeit bedanken. wesentlich verkürzt. Wir haben also konkret geholfen,
wenn auch nicht sofort gebaut wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und Der größte Lohn für unsere Arbeit war ein Schreiben
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Petenten, in dem zu lesen war – ich darf zitieren –:
Vielen Dank für Ihren Einsatz und Ihre Bemühungen,
Ohne ihre sachliche Vorarbeit wäre eine Bearbeitung dass sich unsere Lage in Bezug auf den Bahnlärm ver-
durch uns nicht möglich. In manchen Fällen muss der bessert, vor allen Dingen, dass Sie sich persönlich von
Ausschussdienst zwar aushalten, dass die Abgeordneten der Wichtigkeit einer Schallschutzmaßnahmen über-
dann doch eine andere Meinung haben als der Aus- zeugt haben.
schussdienst; das gehört aber nun einmal dazu.
Fazit: Wir haben Vertrauen gewonnen, Politikverdros-
Ich möchte mich auch bei meinen Kollegen in der Ar- senheit abgebaut und sind der Lösung des Problems nä-
beitsgruppe der CDU/CSU ganz herzlich bedanken. Wir her gekommen. Diesen erfolgreichen Weg möchten wir
sind eine dufte Truppe. Man merkt: Jedem macht es weiter beschreiten.
Spaß, jeder bringt sich ein. Das Anliegen, den Bürgerin-
nen und Bürgern zu helfen, ist jedem eine Herzenssache. Herzlichen Dank.
Mein herzlicher Dank gilt auch allen Mitgliedern im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Ausschuss, über Fraktionsgrenzen hinweg. Leider musste bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
ich in den letzten Monaten jedoch feststellen, dass die GRÜNEN)
Opposition das Petitionsrecht zunehmend als politische
Plattform nutzt. Das sollte so nicht sein. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Kollegin Sonja Steffen hat für die SPD-Fraktion
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Wort.
NEN]: Wenn überhaupt, dann ist das Gegenteil (Beifall bei der SPD)
der Fall! – Weitere Zurufe von der SPD)
– Kollege Lemme, das muss man schon einmal sagen. – Sonja Steffen (SPD):
Ich habe kein Verständnis für die teilweise eklatant ho- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
hen Voten der Opposition. Durch diese hohen Voten wer- Kollegen! Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
den den Petenten falsche Hoffnungen gemacht. Ich habe des Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Her-
(B) kein Verständnis dafür, dass Sie sehr oft Anträge auf ren! Die meisten von uns Mitgliedern des Petitionsaus- (D)
Darlegung des Votierverhaltens stellen. Das ist nicht schusses können inzwischen auf zwei Jahre Tätigkeit zu-
Sinn der Sache. Bei über 90 Prozent der allein heute früh rückblicken. Vermutlich geht es Ihnen so wie mir: Die
im Ausschuss behandelten Petitionen wurden von den Arbeit in diesem Ausschuss macht viel Freude, weil sie
Oppositionsfraktionen Anträge auf Einzelausweisung konkrete Einzelfälle und Lebensschicksale betrifft. Es
nach 8.2.2 unserer Verfahrensregeln gestellt. Unsere geht um Themen, die mitten aus dem Leben unserer Bür-
Verfahrensgrundsätze sagen eigentlich etwas anderes gerinnen und Bürger kommen. Uns Parlamentariern wird
aus. über die Petitionen der Unmut über bestimmte politische
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Entscheidungen vor Augen geführt. Wir werden auf
NEN]: Dann müssen sie geändert werden!) Missstände in der Verwaltungspraxis und auf Fehler und
Lücken in Gesetzen aufmerksam gemacht. Diese Rück-
– Bringen Sie es ein; dann reden wir darüber. – Das Pe- koppelung ist für uns als Kontrollinstanz gegenüber der
titionsrecht ist nicht für Populismus oder politische Pro- Bundesregierung und als Gesetzgeber von großer Be-
filierung da; das muss man eindeutig sagen. deutung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heute Morgen haben wir im Petitionsausschuss da-
rüber debattiert, ob wir bei Gesetzentwürfen mitberatend
Für uns in der CDU/CSU-Arbeitsgruppe ist ganz klar: tätig werden sollten. In diesem Zusammenhang lag uns
Das Problem des Petenten steht im Mittelpunkt. Wir eine Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vor. Lei-
möchten uns um die ganz konkreten Fälle kümmern und der haben Sie sich, meine Kolleginnen und Kollegen von
sie realistisch bewerten. Wir wollen dem Bürger helfen, der Regierungskoalition, geweigert, ein mitberatendes
soweit dies möglich ist. Der Petitionsausschuss ist kein Votum abzugeben, mit der Begründung, Herr Baumann
Fachausschuss, das muss deutlich gesagt werden. – ich zitiere –: Das hat der Petitionsausschuss noch nie
Ich möchte zum Schluss ein Beispiel aus unserer Ar- gemacht.
beit nennen. Wir hatten vor kurzem einen Ortstermin an (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! – Zu
einer Bahnstrecke in Boizenburg. Dort stand das Thema Recht! – Aus gutem Grund!)
Lärmschutz im Mittelpunkt. Es ging um Wohnhäuser, die
direkt an einer Bahntrasse mit 179 Zugfahrten pro Tag Ich muss Ihnen hier deutlich widersprechen. Gerade
stehen. Das führte natürlich zu einer enormen Lärmbeläs- durch die Einsicht in konkrete Einzelfälle können wir in
tigung. Wir haben dort erreicht, dass die Priorisierungs- bestimmten Bereichen einen wichtigen und kompetenten
kennziffer auf 3,198 erhöht wurde. Das Umsetzungs- Beitrag leisten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14853
Sonja Steffen
(A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Volk. Wir hoffen, dass sie in absehbarer Zeit auch in Ih- (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der ren Köpfen ankommt,
CDU/CSU: Dann tagen wir vier Stunden!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Das Wissen, das wir durch Petitionen gewinnen, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Rückkoppelung zur Bevölkerung darf im parlamentari-
schen Verfahren nicht unberücksichtigt bleiben. damit endlich eine gesetzliche Umsetzung erfolgen
kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Günter Baumann [CDU/ Auch dieser Jahresbericht zeigt wieder, dass die ver-
CSU]: Also alle Gesetze auch in den Petitions- hältnismäßig meisten Petitionen aus den neuen Bundes-
ausschuss überweisen!) ländern kommen. Brandenburg steht hinsichtlich der
Zahl der eingereichten Petitionen auf Platz eins, gefolgt
von allen anderen neuen Bundesländern auf den Rängen
Vizepräsidentin Petra Pau: zwei bis sechs. Den letzten Platz unter den Bundeslän-
Kollegin Steffen, gestatten Sie eine Frage des Kolle- dern nimmt übrigens Baden-Württemberg ein. Spiegelt
gen Kauder? sich in der Zahl der Eingaben aus den einzelnen Bundes-
ländern vielleicht auch die Zufriedenheit der Bürgerin-
Sonja Steffen (SPD): nen und Bürger wider? Ich denke, Herr Baumann, wir
Ja. sind uns einig: Es liegt nicht am meckernden Ossi. Aber
ich glaube, dass wir im Osten besondere, spezifische
Vizepräsidentin Petra Pau: Probleme haben, die bisher nicht gelöst werden konnten.
Bitte. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Da haben wir
in einem Punkt mal die gleiche Meinung!)
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Gerade im Bereich der Ostrenten erreicht uns eine
große Zahl von Petitionen. Sie haben vorhin auf ein Bei-
Frau Kollegin Steffen, würden Sie bitte zur Kenntnis
spiel hingewiesen, das wir lösen konnten. Aber die Pro-
nehmen, dass wir uns nicht verweigert haben, sondern
bleme sind immer noch vielfältig und die gefühlte Unge-
dass wir prüfen lassen werden, ob wir in diesem Fall zu-
rechtigkeit ist hier besonders groß.
ständig sind? Wenn Sie es besser gewusst hätten, hätten
wir gerne mit abgestimmt. Aber wir wussten es alle (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kein
nicht. Wunder!)
(B) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So einfach ist Ich denke, viele von uns sind sich darin einig, dass wir (D)
das!) das nicht einfach so stehen lassen können.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Sonja Steffen (SPD): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Kollege Kauder, ich gebe Ihnen darin recht.
20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen
(Günter Baumann [CDU/CSU]: Sie wussten es Einheit ist ein Unterschied zwischen Ost- und
auch nicht!) Westrenten nicht mehr erklärbar und auch nicht mehr
So war es. Wir lassen die Zuständigkeit prüfen. Aber Sie hinnehmbar. Ich möchte Sie, meine Kolleginnen und
werden mir recht geben, dass Ihr Kollege Baumann Kollegen von der Koalition, wieder einmal an Ihren Ko-
vorab gesagt hat, dass es im Petitionsausschuss nicht üb- alitionsvertrag erinnern. Sie haben dort vereinbart, sich
lich sei, dass wir bei Gesetzentwürfen mitberatend tätig des Themas anzunehmen. Es muss eine gerechte Anglei-
werden können. chung der Renten noch in dieser Legislaturperiode ange-
stoßen werden; das haben Sie formuliert. Im Petitions-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausschuss können wir mit unseren Voten in dieser
DIE GRÜNEN – Günter Baumann [CDU/ Hinsicht einen ersten Schritt tun.
CSU]: So ist es bisher! Eindeutig! Das ist hun-
dertprozentig richtig gewesen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Das Petitionsrecht ist das einzige Mittel der direkten
Beteiligung des Volkes auf der Bundesebene. Wir müs- Ich muss leider ein bisschen auf die Uhr schauen. Ich
sen diesem Recht auch an dieser Stelle die ihm zukom- hatte vor, noch einige Ausführungen zum Bereich Visa-
mende Bedeutung beimessen. vergabepraxis, Aufenthaltsrecht und Asylrecht zu ma-
chen. Aber ich denke, Herr Dr. Ott, Sie werden sich die-
Wir haben heute Morgen außerdem über eine öffentli- ses Themas annehmen. Ich meine, dass wir auf diesem
che Petition mit 1 400 Unterstützerunterschriften bera- Gebiet noch eine Menge tun könnten und tun sollten,
ten, die sich erneut gegen Niedriglöhne und sittenwid- und glaube, dass wir gerade in diesem Bereich mit unse-
rige Gehälter wendete; Sie werden sich erinnern. Uns rer Hartnäckigkeit einen wichtigen Teil zu guten Ent-
erreichen sehr viele Petitionen, die einen gesetzlichen scheidungen beigetragen haben.
und flächendeckenden Mindestlohn fordern. Sie sehen,
meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungs- Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich uns alle lo-
koalition, auch diese Forderung kommt mitten aus dem ben. Es gab Petitionen, bei denen wir alle gemeinsam
14854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sonja Steffen
(A) und fraktionsübergreifend auf Einzelfälle erfolgreich Wichtig ist mir aber, dass jeder Beschluss so gut wie (C)
Einfluss nehmen konnten. Ich möchte mich deshalb an möglich erklärt und so verständlich wie möglich begrün-
dieser Stelle bei allen Ausschusskollegen ausdrücklich det wird.
für die kooperative Zusammenarbeit bedanken.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
(Beifall im ganzen Hause) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE])
Es sind auch und gerade solche schwierigen Einzelfälle
– darauf haben Sie schon hingewiesen, Frau Vorsitzen- Jeder Petent soll merken, dass sein Anliegen verstanden
de –, die uns durch einen erfolgreichen Abschluss für die worden ist. Auch wenn wir dem Anliegen nicht abhelfen
intensive und sehr zeitaufwendige Arbeit im Petitions- können, soll er zumindest verstehen, warum wir nicht
ausschuss belohnen. helfen können. Ich bin von Beruf Tierarzt und damit ei-
Mein besonderer Dank – wir haben das vorhin schon ner der wenigen Nichtjuristen im hochheiligen Petitions-
gehört; die Vorsitzende hat es bereits ausgesprochen, Sie ausschuss. Ich verstehe die vielen Zuschriften von Men-
auch, Herr Baumann, und ich möchte mich anschlie- schen, die ein Papier sehen und das Gefühl haben, sie
ßen – gilt an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mit- bräuchten jemanden, der ihnen das übersetzt.
arbeitern des Ausschussdienstes. Durch ihre hervorra- (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und des
gende und gründliche Arbeit können sie viele Eingaben BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der Bürgerinnen und Bürger bereits im Vorfeld lösen. Sie
nehmen uns eine Menge Arbeit ab und stehen uns immer Ich gebe mir also Mühe. Wenn ich es verstehe, gehe ich
zur Verfügung, wenn es Rückfragen gibt und eine ge- davon aus, dass es auch der Empfänger versteht.
nauere Aufklärung erforderlich ist. Mir fällt aber auf, dass das Wissen darüber, wie unser
Der konkrete Einsatz für die Menschen und ihre An- demokratischer Rechtsstaat, zum Beispiel die Gewalten-
liegen macht den Petitionsausschuss so bedeutend. Ich teilung, funktioniert, manchmal etwas lückenhaft ist. Es
hoffe auch weiterhin auf eine gute Zusammenarbeit und ist Petenten manchmal nicht bewusst, dass der Petitions-
danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ausschuss weder Gerichtsurteile beeinflussen noch Be-
hörden Anweisungen geben kann. Hier gibt es noch viel
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Aufklärungsbedarf. Wir sind dabei, die Öffentlichkeits-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- arbeit des Ausschusses weiter zu verbessern.
geordneten der FDP)
Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass wir 2010
Vizepräsidentin Petra Pau: zehn Petitionen in öffentlicher Sitzung beraten haben.
(B) Als Nächster spricht nun der Kollege Dr. Peter Auch dadurch erhalten wir eine gewisse Aufmerksam- (D)
Röhlinger für die FDP-Fraktion. keit. Etliche Petitionen haben über einen längeren Zeit-
raum mehr als 50 000 Unterstützer gefunden. Der Peti-
(Beifall bei der FDP) tionsausschuss ist dadurch bekannter geworden. Wir
sollten diese Möglichkeiten also durchaus nutzen.
Dr. Peter Röhlinger (FDP): Ich sehe, dass mich die Präsidentin mahnen will, mich
Ich bin es als früherer OB gewohnt, nach einem Kon- kurz zu fassen.
sens zu suchen. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir – so
wie auch heute – einen ganzen Teil der Beschlussvorla-
gen sehr schnell einstimmig beschließen können. Im Vizepräsidentin Petra Pau:
Bundestag ist das sonst durchaus nicht üblich; aber in Die Präsidentin ist schon ganz glücklich, dass die
unserem Ausschuss kommt es mehrheitlich vor. Rednerinnen und Redner das bei diesem Tagesordnungs-
punkt zur Kenntnis nehmen; das ist ein Fortschritt.
Im Übrigen werden einige Petitionen an die zuständi-
gen Ministerien weitergeleitet, und zwar, wenn wir den (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im
Inhalt für so wichtig halten, dass er weiter bearbeitet ganzen Hause – Dr. Hermann Ott [BÜND-
werden sollte, wir jedoch keine Abhilfe leisten können. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind halt besser!)
Petitionen machen uns Abgeordnete darauf aufmerk-
sam, mit welchen Problemen Bürgerinnen und Bürger Dr. Peter Röhlinger (FDP):
manchmal zu kämpfen haben, wo sie Ungerechtigkeiten Ich will noch zwei Gedanken äußern:
erfahren, wo Gesetze unzulänglich sind, wo sie sich über Erstens. Ich freue mich, dass sich nicht nur Bundes-
wuchernde Bürokratie ärgern oder sich von Behörden im bürger an uns wenden können, sondern alle, die in der
Stich gelassen fühlen. In vielen Fällen – auch das muss Bundesrepublik Deutschland zu Hause sind und in unse-
gesagt werden – können wir allerdings nicht helfen. Zum rem Lande leben.
Beispiel entscheidet natürlich nicht der Bundestag da-
rüber, welche Medikamente von der Krankenversiche- Zweitens. Das deutliche Wachstum bei den Onlinepe-
rung bezahlt werden und welche nicht. Die Fristen, die titionen zeigt, dass wir eine neue Generation erreichen.
die Bundesagentur für Arbeit setzt, wenn es zum Bei- Wir brauchen nicht zu fürchten, dass eine Facebook-Ge-
spiel um den Leistungsbezug geht, kann der Deutsche neration die Regierung stürzt. Denn sie kann sich voller
Bundestag nicht in jedem Einzelfall individuell anpas- Vertrauen an uns wenden. Dadurch können wir ein Stück
sen. weit Frust abbauen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14855
Dr. Peter Röhlinger
(A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des Verbraucherschutzes und der Landwirtschaft beziehen, (C)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist sogar um 45 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass die
Menschen Umwelt- und Verbraucherschutz ernst neh-
Ich bedanke mich bei Ihnen herzlich für die Aufmerk- men, und das ist auch gut so.
samkeit, aber zuvörderst bei Ihnen, Frau Steinke, der
Vorsitzenden des Petitionsausschusses, für die nach mei- Aber es gibt natürlich viel Raum für Verbesserungen,
ner Ansicht wohltuende Atmosphäre – ich hoffe, wir viel Raum, um dem Petitionsausschuss mehr Glanz und
können das so fortsetzen – Bedeutung zu verleihen, um an die Anfangsbemerkung
anzuschließen, zum Beispiel durch Verbesserungen in
(Günter Baumann [CDU/CSU]: Na ja!)
Bezug auf die öffentlichen Petitionen. Eine der wichtigs-
und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die ten Fragen ist natürlich: Wie lang sollte die Zeichnungs-
fleißige Unterstützung. frist für die 50 000 Unterschriften sein, die man braucht,
damit eine Petition öffentlich im Ausschuss beraten wird?
(Beifall im ganzen Hause) Im Moment stehen dafür gerade einmal drei Wochen zur
Verfügung. Das ist zu schaffen, wie die Petition zur Inter-
Vizepräsidentin Petra Pau: netsperre und vor ein paar Tagen die Petition zur Vorrats-
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol- datenspeicherung gezeigt haben, aber nur mit einem sehr
lege Dr. Hermann Ott das Wort. gut organisierten Netzwerk im Hintergrund; denn es ist
doch so, dass die Menschen auch im Zeitalter der elektro-
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nischen Kommunikation eine gewisse Zeit brauchen, um
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen! auf öffentliche Anliegen zu reagieren. Es macht deshalb
Liebe Kollegen! Geehrte Mitglieder des Ausschuss- Sinn, diesen Zeitraum zu verlängern. Wir haben acht Wo-
dienstes! Heute Morgen erst hatten wir unsere Sitzung. chen vorgeschlagen. Die Kolleginnen und Kollegen von
So sehr ich mich auch freue, Sie alle hier wiederzusehen, der FDP können sich anscheinend einen ähnlichen Zeit-
muss ich doch sagen: Eigentlich würde ich hier gerne ein raum vorstellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen
paar Leute mehr sehen. Eigentlich müsste das Plenum Sie uns das zusammen machen. Verbessern wir die demo-
jetzt rappelvoll sein, kratische Mitwirkung für alle Menschen in Deutschland.
Ingrid Remmers
(A) Ausschuss ist nach wie vor so lebendig wie kein anderer. (Stephan Thomae [FDP]: Nein, er hat sich sehr (C)
Wir sind schließlich diejenigen, die anhand der oft sehr bemüht!)
umfangreichen Akten einen Eindruck davon bekommen,
welche tatsächlichen Auswirkungen Bundesgesetze in Er kann sich aber sicher sein, dass wir ihn auch in seiner
der Umsetzung haben und welche daraus entstehenden neuen Aufgabe als Gesundheitsminister an die Hebam-
Zustände unhaltbar sind. Ich freue mich immer dann be- men erinnern werden.
sonders, wenn auch die Regierungskoalition ein Einse- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
hen hat und bereit ist, ihren Ministerien mal auf die Füße BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu treten. Anerkennen möchte ich, dass in unseren Be-
richterstattergesprächen fast immer eine sehr konstruk- Besonders hervorheben möchte ich noch eine Peti-
tive Atmosphäre herrscht und oft Lösungen für die Pe- tion, die ich im letzten Jahr als Berichterstatterin vorlie-
tentinnen und Petenten gefunden werden können. gen hatte und die mich sehr berührt hat. Die Petentinnen
und Petenten aus NRW sind sogenannte Kontingent-
Ganz im Gegensatz dazu habe ich mich in der Ver- flüchtlinge, also ehemals sowjetische Staatsbürger jüdi-
gangenheit sehr darüber geärgert, wie in den öffentlichen schen Glaubens. Sie erhalten in Deutschland die Grund-
Ausschusssitzungen manchmal mit den anwesenden Pe- sicherung im Alter.
tentinnen und Petenten umgegangen wird. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, wir alle in diesem Ausschuss soll- Diese Petenten, die noch die Schrecken des Krieges,
ten uns darüber im Klaren sein, dass die Petentinnen und unter anderem im belagerten Leningrad, erleben muss-
Petenten hier ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrneh- ten, bekommen von der russischen Regierung eine
men und einen Anspruch darauf haben, dass über ihre kleine Entschädigungsrente von rund 80 Euro im Monat.
Anliegen sachlich diskutiert wird. Diese Kriegsentschädigung wird ihnen von deutschen
Sozialämtern nun plötzlich auf die Grundsicherung an-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gerechnet. Mit der fadenscheinigen Begründung, man
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- könne im Bescheid ja nicht erkennen, ob es sich tatsäch-
ten der SPD und der FDP) lich um eine Entschädigungszahlung handelt, kürzen So-
zialämter die Grundsicherung um 80 Euro. Menschen
Den Bürgerinnen und Bürgern ist mit reinen Ab- jüdischen Glaubens, die unter dem deutschen Angriffs-
sichtserklärungen nicht geholfen. Solange die Forderun- krieg gelitten haben, werden von deutschen Sozialäm-
gen im Kern nicht erfüllt sind, ist dem Anliegen nicht tern um ihre Kriegsentschädigung gebracht. Dass diese
entsprochen worden. Ein Beispiel dafür ist die Forde- Unterschlagung nicht überall angewandt wird, sondern
rung nach Einführung einer Finanztransaktionsteuer überwiegend in besonders armen Kommunen, macht die
– dafür wurden mehrere Zehntausend Unterschriften ge- Sache nicht wirklich besser. Sie ist und bleibt ein Skan- (D)
(B) sammelt –, auch wenn inzwischen erfreulicherweise et-
dal!
was Bewegung in die Diskussion über diese so wichtige
Frage gekommen ist. Es zeigt sich, dass öffentliche Peti- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
tionen tatsächlich wichtige Anstöße geben und eine neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
wichtige Unterstützung darstellen können. GRÜNEN)
Ein weiteres Beispiel ist die öffentliche Petition der Neben diesen Einzelpetitionen erfreuen sich die öf-
Hebammen, über die ich bereits im letzten Jahr gespro- fentlichen Petitionen im Internet – wir haben es eben
chen habe; sie hatte über 190 000 Unterstützerinnen und mehrfach gehört – mittlerweile einer derartigen Beliebt-
Unterstützer. heit, dass der Ausschuss beschlossen hat, seine Verfah-
rensgrundsätze anzupassen und entsprechend zu verbes-
Die freiberuflichen Hebammen wehren sich noch im- sern.
mer gegen die astronomisch gestiegenen Prämien für die
Berufshaftpflichtversicherung und gegen die viel zu Wir als Linke begrüßen dabei ganz besonders den
niedrige Vergütung ihrer Arbeit durch die Krankenkas- Vorschlag der FDP-Fraktion – wem Lob gebührt, der
sen. Sowohl im Ausschuss als auch durch die anwesen- soll Lob haben –, ab 100 000 Unterstützungsunterschrif-
den Vertreter des Ministeriums wurde Verständnis ge- ten innerhalb von zwei Monaten das Anliegen zum
heuchelt. Passiert ist nichts! Thema einer Bürgerstunde im Plenum zu machen.
(Zuruf von der LINKEN: Traurig!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
Immer mehr freiberuflich tätige Hebammen müssen ten der SPD)
die Betreuung von Hausgeburten aufgeben, ganze Ge-
burtshäuser müssen schließen. Wenn wir hier nicht end- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mit
lich etwas tun, dann ist die Wahlfreiheit für die werden- diesem Vorgehen würde bewiesen, dass die Politik eben
den Mütter künftig eben nicht mehr gewährleistet. nicht taub und blind für die Anliegen von großer gesell-
schaftlicher Relevanz ist.
(Beifall der Abg. Sonja Steffen [SPD])
Auch wenn hier eben die Diskussion darüber entstan-
Der zu der öffentlichen Ausschusssitzung geladene den ist, ob das im Petitionsrecht ursprünglich vorgese-
damalige Staatssekretär Bahr hat diese Problematik im hen war: Wir haben diese Regelung geschaffen, und wir
Zuge seiner Beförderung offensichtlich erfolgreich ver- müssen der Realität, dass die Menschen dieses Instru-
drängt. ment nutzen, jetzt auch ins Auge sehen. Deswegen un-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14859
Ingrid Remmers
(A) terstützen wir als Linke auch den Vorschlag, diese Anlie- Ich habe ihm also Arbeit beschert. (C)
gen anschließend in die Fachausschüsse zu überweisen
und daraus konkrete Anträge und Gesetzentwürfe zu ent- Auch ich würde mir wünschen, Herr Ott, dass die Ar-
wickeln. Ich hoffe sehr, dass diese hervorragende Initia- beit des Ausschusses sowohl nach außen als auch nach
tive – ehrlich: die Linke hätte es kaum besser machen innen, also innerhalb des Parlaments, mehr Gehör findet.
können – von allen Regierungsparteien mitgetragen Ihre Vorschläge werden dazu allerdings nicht beitragen.
wird. Sie wäre ein echter Schritt zu mehr Demokratie in (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
unserem Land. NEN]: Machen Sie doch einmal bessere Vor-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schläge!)
NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich denke, gerade mit der Arbeit, die wir im Petitions-
Zu guter Letzt möchte auch ich mich im Namen mei- ausschuss leisten, können wir die Politikverdrossenheit
ner Fraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Bevölkerung ein Stück weit mildern.
des Ausschussdienstes für ihre engagierte, kompetente
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und zuverlässige Arbeit bedanken.
Herzlichen Dank. So können wir in diesem Ausschuss doch direkt und un-
mittelbar den Bürgern helfen, die ungerecht behandelt
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem wurden oder uns auf eine Gesetzeslücke aufmerksam
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) machen.
Von den knapp 17 000 im letzten Jahr eingereichten
Vizepräsidentin Petra Pau: Petitionen klang so manche Petition, um es vorsichtig zu
Der Kollege Andreas Mattfeldt spricht nun für die formulieren, etwas seltsam. Zahlreiche waren – lassen
Unionsfraktion. Sie mich das durchaus kritisch formulieren – parteipoli-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. tisch ambitioniert und betrafen reine Fachpolitik, die
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) durch die Fraktionen in den Fachausschüssen abgearbei-
tet gehört und nicht in den Petitionsausschuss, der ohne-
hin schon mit großer Arbeit belastet ist.
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der neten der FDP)
Parlamentarische Rat hat das Petitionsrecht 1949 richti-
Ich sage das deshalb, weil eine Vielzahl der Petitionen es
(B) gerweise in die Verfassung geschrieben. Seit 1975 hat (D)
der Petitionsausschuss sogar einen festen Platz im mehr als wert ist, viel Arbeit in sie zu investieren. Diese
Grundgesetz. Nicht viele Ausschüsse in diesem Hohen Zeit darf nicht geklaut werden.
Haus haben Verfassungsrang. Deshalb sage ich deutlich: So haben wir beispielsweise vor einigen Wochen im
Der Petitionsausschuss ist etwas ganz Besonderes. Ausschuss eine Petition beraten, die gefordert hat, dass
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem unsere Soldaten, die im Auslandseinsatz für unser aller
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Sicherheit sorgen, kostenlos mit ihren Familien telefo-
geordneten der LINKEN) nieren können und das Internet kostenfrei benutzen dür-
fen. Nach meinem Dafürhalten sind wir unseren Solda-
Trotz dieser Vorbemerkung muss ich allerdings zuge- tinnen und Soldaten das schuldig. Ich hoffe sehr, dass
ben, dass ich am Anfang skeptisch war, als mir gesagt unser in diesem Fall sehr hohes Votum umgesetzt wird;
wurde, ich solle nicht nur Mitglied im Haushaltsaus- denn das Geld, das wir hier mehr ausgeben, kommt
schuss, sondern auch noch Mitglied im Petitionsaus- wirklich bei den Menschen an. So können wir unseren
schuss sein. Viele dienstältere Kolleginnen und Kollegen Soldatinnen und Soldaten sowie deren Familien ein Si-
sagten mir: Herrje, du Armer. Na ja, Mattfeldt, da musst gnal geben, dass wir ihr Engagement im Auslandsein-
du durch, das mussten andere neue Abgeordnete auch. satz, insbesondere in Afghanistan, würdigen und ihnen
(Günter Baumann [CDU/CSU]: Das war eine den notwendigen Kontakt in die Heimat ermöglichen.
Auszeichnung für dich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich wusste nicht, was mich erwartet. Aber prinzipiell Dieser Fall steht stellvertretend für viele andere Fälle.
war ich schon davon überzeugt, dass das Petitionsrecht Er lässt uns eine positive Bilanz unserer gemeinsamen
ein richtiges, vor allem aber auch ein wichtiges Recht für Arbeit im Petitionsausschuss im Jahr 2010 ziehen und
unsere Bürger ist. zeigt, dass wir konkret den Menschen helfen können.
Gerade in meiner vorangegangenen Tätigkeit als Bür-
Lassen Sie mich als ehemaligen Hauptverwaltungsbe-
germeister habe ich vielen Menschen dort, wo mir per-
amten aber ein wenig Wasser in den Wein gießen; denn
sönlich in meiner Tätigkeit die Hände gebunden waren,
für mich wird die Bilanz ein wenig dadurch getrübt, dass
geraten, sich an den Petitionsausschuss des Deutschen
einige Kolleginnen und Kollegen der Opposition unsere
Bundestages zu wenden.
Verwaltungen auf kommunaler, landes- oder auch bun-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ach du warst despolitischer Ebene bei Petitionen von Bürgern nahezu
das!) unter Generalverdacht stellen.
14860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Andreas Mattfeldt
(A) Meine Kolleginnen und Kollegen, ein wenig mehr ge- dieser Frage eine besondere Verantwortung zu. Wir ha- (C)
sunde Kritik gegenüber einigen Petenten und ein wenig ben die unmittelbare Aufgabe, die Anliegen der Men-
mehr Vertrauen in unsere Verwaltungsmitarbeiter wären schen in die fachpolitischen Debatten einzubringen und
für mich wünschenswert und angebracht. letztlich auch in konkretes politisches Handeln münden
zu lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Masse der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
der Verwaltungsmitarbeiter oder Vollzugsbeamten in GRÜNEN und des Abg. Stephan Thomae
diesem Land eine hervorragende Arbeit leistet und die [FDP])
vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmenbedingungen Jüngst hat mir gegenüber die Vertreterin eines Betrof-
umsetzt. fenenverbandes ihr Unverständnis darüber zum Aus-
Es gibt kaum Nationen, die über eine derart fachlich druck gebracht, dass sich die Fraktionen bei vielen The-
gute wie effektive Mitarbeiterschaft verfügen – das trifft men im Großen und Ganzen einig seien, es aber zu
auch auf die Mitarbeiter des Ausschussdienstes zu – wie keinem gemeinsamen politischen Handeln komme.
wir in Deutschland. Ich denke, das darf und sollte bei al- Auch hier gehen wir im Petitionsausschuss mit gutem
lem Wohlwollen gegenüber Petenten gesagt werden. Beispiel voran. Es freut mich jedes Mal, wenn ein Votum
zu einer Petition über die Fraktionsgrenzen hinweg Zu-
Deshalb mein Rat, liebe Kolleginnen und Kollegen stimmung findet.
von der Opposition: Bitte benutzen Sie die Petitionen
nicht als parteipolitische Spielbälle! Ich denke, dann (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das liegt doch
wird es uns auch weiterhin sehr viel Spaß machen, in nur an euch!)
diesem Ausschuss gemeinsam für die Menschen etwas – Das liegt auch im Besonderen an den Koalitionsfrak-
zu bewegen. tionen, Herr Baumann.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau: Lassen Sie uns doch an der guten Praxis festhalten.
Das Wort hat der Kollege Steffen-Claudio Lemme für Sorgen wir gemeinsam für ein höheres Maß an Öffent-
die SPD-Fraktion. lichkeit unserer gemeinsamen Entscheidungen. Das kann
(B) (Beifall bei der SPD) sich nur positiv auf die Arbeit des Parlaments auswirken. (D)
Gerade weil Petitionen nach wie vor das einzige Instru-
ment direkter Mitgestaltung auf Bundesebene sind, schla-
Steffen-Claudio Lemme (SPD):
gen wir Sozialdemokraten vor, den Weg der Modernisie-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
rung des Petitionsrechts konsequent fortzusetzen.
Kollegen! Ich möchte die Debatte dazu nutzen, um auf
der Grundlage meiner Erfahrungen der letzten zwei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Jahre als Mitglied im Petitionsausschuss zu sagen, wie der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
ich diese Arbeit empfinde. GRÜNEN)
Ich kann sagen, dass der Petitionsausschuss eine Art Ziel muss es sein, die Transparenz der Petitionsver-
Seismograf meiner politischen Arbeit geworden ist, dass fahren weiter zu erhöhen und erweiterte Mitwirkungs-
die Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger rechte, insbesondere mit Blick auf die Beteiligung im
direkt in mein politisches Handeln einfließen. Dies trifft Internet, zu schaffen. Ich bekräftige vor diesem Hinter-
insbesondere natürlich auf die fachpolitische Arbeit im grund die Forderung meiner Fraktion nach deutlich mehr
Gesundheitsausschuss zu. öffentlichen Beratungen des Petitionsausschusses sowie
In den Fachausschüssen bestimmt in der Regel das einer Verlängerung der Zeichnungsfrist von Petitionen
große Ganze unser politisches Handeln. Wir richten un- auf acht Wochen.
sere Positionen und Entscheidungen sehr sachorientiert (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
aus. Symbolisch ist hierfür die Verwendung des Prädi- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
kats „alternativlos“ anzuführen, das im vergangenen Jahr GRÜNEN)
zum Unwort des Jahres gekürt wurde. Seien wir doch
einmal ehrlich: Jeder von uns hat dieses Wort sicherlich Darüber hinaus sollten wir die Möglichkeit schaffen,
mehr als einmal in den Mund genommen. dass Petitionen künftig einfach per E-Mail eingereicht
werden können, und das Recht zur Mitzeichnung von
Hier eben droht Gefahr. Immer wieder ist von Politik- Petitionen sollte auch ohne Registrierung im Onlinepor-
verdrossenheit und von der Realitätsferne der Politik die tal des Deutschen Bundestages möglich sein.
Rede, wird der Vorwurf der Distanz zwischen Bürgerin-
nen und Bürgern und Abgeordneten erhoben. Uns, liebe Ein weiterer Punkt ist uns wichtig. Die Diskussionen
Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses, die von Bürgerinnen und Bürgern im Petitionsforum sollten
wir das tägliche Klein-Klein der Menschen beim Lesen in den Empfehlungen des Ausschussdienstes zwingend
jeder einzelnen Petitionsakte vor uns haben, kommt in Berücksichtigung finden. Letztlich liegt es an den Koali-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14861
Steffen-Claudio Lemme
(A) tionsfraktionen, gemeinsam mit uns das Petitionsrecht war damals ein großer Schritt. Wir waren Vorreiter in (C)
bürgernäher zu gestalten. dieser Entwicklung. Heute haben wir die rote Laterne.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Inzwischen ist die Zeit vorangegangen, und es gibt
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE keinen Grund und keine Akzeptanz mehr in der Gesell-
GRÜNEN – Günter Baumann [CDU/CSU]: schaft für die Benachteiligung und Diskriminierung ho-
Das heißt, jetzt ist es nicht bürgernah?) mosexueller Partnerschaften.
Mir bleibt nur noch, mich für die gute Zusammenar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
beit zu bedanken, insbesondere bei Ihnen, Frau Steinke, bei der SPD und der LINKEN)
weil Sie als Vorsitzende Ihre Arbeit unparteiisch erledi-
gen. Herzlichen Dank auch an den Ausschussdienst. Deshalb schlagen wir vor, bei dem Sonderweg der Le-
benspartnerschaft, der ein historischer Kompromiss mit
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. einer Sozialdemokratie war, die damals noch nicht so
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weit gehen und denken wollte, die Konsequenzen zu zie-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE hen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öff-
GRÜNEN) nen. Denn es gibt keinen Grund für eine weitere Unter-
scheidung. Das würde uns von all den quälenden
Diskussionen entbinden, die auch Sie als FDP in der Ko-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: alition leidvoll mit Ihrem Koalitionspartner führen müs-
Ich schließe die Aussprache. sen: Wie machen wir es beim Adoptionsrecht und beim
Steuerrecht? Nächste Woche reden wir über das Vertrie-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
benengesetz. Es wäre ein Beitrag zur Entbürokratisie-
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker rung und ein massiver Beitrag zur Gleichstellung der
Beck (Köln), Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite- Schwulen und Lesben in unserer Gesellschaft.
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Eheschließung für Personen gleichen Ge- LINKEN)
schlechts Die Frage, ob die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
– Drucksache 17/6343 – geöffnet werden muss, hat bereits 1993 aufgrund der
Aktion Standesamt des Lesben- und Schwulenverbands
Überweisungsvorschlag:
(B) Rechtsausschuss (f)
das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Das Bundes- (D)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verfassungsgericht hat damals gesagt, der Gesetzgeber
sei nicht gezwungen, die Ehe für gleichgeschlechtliche
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Paare zu öffnen, weil die Beschwerdeführer noch keine
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre hinreichenden Anhaltspunkte für einen grundlegenden
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wandel des Eheverständnisses in dem Sinne vorgetragen
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen hätten, dass der Geschlechtsverschiedenheit keine prä-
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das gende Bedeutung mehr zukäme. Sie haben diesen Wan-
Wort. del aber ausdrücklich für möglich gehalten. Ich meine,
dass einige Argumente darauf hindeuten, dass dieser
Wandel inzwischen stattgefunden hat.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf unserer und bei der SPD)
Fraktion zur Einführung des Rechts auf Eheschließung
Die Menschen draußen im Lande sagen: „Was wollt
für Personen gleichen Geschlechts. Warum tun wir das?
ihr denn? Die Homosexuellen können doch heiraten. Ich
Allen Menschen steht die gleiche Würde und der glei- kenne welche, die auf dem Standesamt geheiratet ha-
che Respekt vor ihren Rechten zu: Homosexuellen wie ben.“ Sie unterscheiden nicht zwischen Verpartnerung
Heterosexuellen. Wenn diese Grundannahme richtig ist, und Verheiratung, zwischen Lebenspartnerschaft und
die auch in Art. 3 unserer Verfassung verankert ist, der Ehe, obwohl die Rechte noch unterschiedlich sind, was
die Gleichheit vor dem Gesetz vorsieht, dann gibt es kei- unfair ist und vom Bundesverfassungsgericht hinrei-
nen Grund, für Menschen unterschiedlicher geschlechtli- chend gerügt wurde.
cher Orientierung verschiedene Rechtsinstitute bereitzu-
halten. Die Menschen in unserem Land sind inzwischen
überwiegend für die Öffnung der Ehe. Eine Studie der
Wir haben mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft Friedrich-Ebert-Stiftung ist zu dem Ergebnis gekommen,
damals unter Rot-Grün Neuland betreten. Wir waren das dass 60,3 Prozent der Bevölkerung der Aussage zustim-
erste große Land in Europa, das etwas für die rechtliche men: Es ist gut, Ehen zwischen zwei Frauen bzw. zwei
Anerkennung und Gleichstellung homosexueller Part- Männern zu erlauben. Das heißt, der Einstellungswandel
nerschaften getan hat. Wir sind bis heute noch nicht bei in unserer Gesellschaft ist durch die Lebenspartnerschaft
der vollständigen Gleichstellung angekommen, aber es erheblich vorangeschritten.
14862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Sonja Steffen
(A) Dennoch ist eine Änderung des Gesetzes bislang nicht Ehe und Lebenspartnerschaft sind beide auf Dauer (C)
erfolgt. Auch steuerlich ist eine Gleichstellung der Le- angelegt. Sie begründen eine gegenseitige Einstands-
benspartnerschaft bislang nicht vorhanden. pflicht. Die gesetzlichen Unterhaltspflichten von Ehe-
leuten und Lebenspartnern sind vergleichbar. Die Öff-
Vielleicht können sich einige von Ihnen noch erin- nung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts wird
nern: Bereits bei der Einführung des Lebenspartner- weitere langwierige Prozesse verhindern und zu einer
schaftsgesetzes im Jahr 2001 bedurfte es eines politi- endgültigen Gleichstellung führen. Die gegenwärtige
schen Schachzuges. Es wurden damals nämlich zwei Praxis diskriminiert immer noch Homosexuelle und ist
Teile beschlossen. Der eine Teil war das nicht zustim- aus rechts- und gesellschaftspolitischer Sicht nicht mehr
mungsbedürftige Lebenspartnerschaftsgesetz, und der zeitgemäß.
andere Teil war ein von der Zustimmung des Bundes-
rates abhängiges Ergänzungsgesetz. Das erste regelt das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Zusammenleben der Partner in zivilrechtlicher Hinsicht. DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Das
Das zweite sah damals schon Gleichstellungen im alles wegen der CDU!)
Steuer- und Beamtenrecht vor. Dieses Ergänzungsgesetz Herr Kollege Beck, Sie haben schon die Länder ge-
ist seinerzeit im Bundesrat letztlich am Widerspruch nannt, in denen die Eheschließung von Homosexuellen
Bayerns gescheitert. bereits Normalität ist.
Seitdem sind viele gerichtliche Entscheidungen in (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND-
diesem Zusammenhang ergangen. Herr Beck hat vorhin NIS 90/DIE GRÜNEN])
schon einige genannt. Ich will das gern ergänzen. 2009
hat das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligung – Genau! Ich hätte Ihnen vielleicht die Zeitnot ersparen
der Lebenspartnerschaft bei Betriebsrenten im öffentli- können. Ich belasse es dabei, will an dieser Stelle aber
chen Dienst für verfassungswidrig erklärt. 2010 hat das noch einmal auf Großbritannien hinweisen. Dort gibt es
Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung auch eine konservative Regierung. Selbst diese Regierung hat
auf das Erbschaftsteuerrecht ausgeweitet. Schließlich angekündigt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
haben wir alle im Jahressteuergesetz 2010 die Gleich- noch in der laufenden Legislaturperiode zu öffnen. Da-
stellung von Ehegatten und Lebenspartnern im Erb- mit entscheidet sich übrigens das zwölfte Land Europas
schaftsteuerrecht, im Schenkungsteuerrecht und im für die Öffnung der Ehe.
Grunderwerbsteuerrecht eingeführt. Sie sehen: Die Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass Deutsch-
Rechtsprechung hat uns gezeigt, dass es so, wie es im land damals beim Lebenspartnerschaftsgesetz Vorreiter
Augenblick ist, verfassungsrechtlich schwierig ist. war. Ich denke, wir laufen jetzt Gefahr, dass wir bei die-
(B) sem wichtigen Schritt für Gerechtigkeit und gegen Dis- (D)
Die einkommensteuerrechtliche Gleichstellung von kriminierung hinterherhinken.
Ehe und Lebenspartnerschaft steht immer noch aus. Ehe-
gatten können ihr Einkommen zusammen veranlagen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie können ihre Steuerklasse wählen. Das ermöglicht ih- DIE GRÜNEN)
nen niedrige Steuersätze. Aber Lebenspartner haben die- Unsere Fraktion begrüßt daher den Gesetzentwurf der
ses Recht nicht. Sie können nur nach Steuerklasse I be- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ziel der Öff-
steuert werden. Damit werden sie genauso besteuert wie nung der Ehe für Homosexuelle.
Ledige oder Menschen in nichtehelichen Lebensgemein-
schaften. Begründet wird diese unterschiedliche Be- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
handlung von den Finanzgerichten bis zum heutigen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Tage stets mit dem Verweis auf Art. 6 Abs. 1 Grundge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
setz – Sie haben es vorhin erwähnt –; sie argumentieren,
diese Vorschrift vom besonderen Schutz der Ehe und Fa-
milie erlaube es dem Gesetzgeber, die Ehe gegenüber Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
anderen Formen des Zusammenlebens steuerlich zu pri- Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Frak-
vilegieren. Aber das Grundgesetz gibt das nicht her. tion.
Auch ist das Vorhandensein gemeinsamer Kinder nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
erforderlich, um als Ehepaar den Splittingvorteil in An- der CDU/CSU)
spruch nehmen zu können.
Meine Damen und Herren, diese Ungerechtigkeit ist Stephan Thomae (FDP):
in der heutigen Zeit nicht mehr tragbar. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir beraten einen Gesetzentwurf der Grünen zur
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gleichen Geschlechts. In der Gesetzesbegründung ist zu
lesen, dass ein gewandeltes Verständnis von Ehe und Fa-
Es steht zu erwarten, Frau Granold, dass diese überholte
milie in der Gesellschaft mit tragend für diesen Gesetz-
Auffassung beim Bundesverfassungsgericht keinen Be-
entwurf ist.
stand haben wird. Dort sind einige Verfassungsklagen
anhängig. Wir werden sehen, was bei der Einkommen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
steuer geschieht. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14865
Stephan Thomae
(A) Das sehen auch wir so. Wie soeben zu hören war, zeich- Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Ir- (C)
net auch die Rechtsprechung diesen Weg nach. gendwann wird man sagen – vertrauen Sie darauf –: Die
Sache riecht wie eine Ehe. Sie schmeckt wie eine Ehe.
Ich will einmal wiederholen, was in dieser Legislatur- Sie hört sich an wie eine Ehe. Sie schaut aus wie eine
periode von dieser Regierung in der Sache bereits getan Ehe. Warum soll man nicht auch Ehe dazu sagen?
und erreicht worden ist. Zum einen haben wir beim
Thema Grunderwerbsteuer erreicht, dass die Übertra- Vielen Dank.
gung von Grundstücken unter Lebenspartnern steuerfrei
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
geschieht, so wie das auch unter Eheleuten der Fall ist.
DIE GRÜNEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/
Das ist ein Punkt, bei dem Sie zugestehen werden, dass
CSU]: Weil es keine ist!)
er in dieser Legislaturperiode umgesetzt worden ist.
(Johannes Kahrs [SPD]: Wie haben Sie die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
CDU denn dazu gekriegt?) Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
– Ja, das wüssten Sie gern, wie wir das gemacht haben. Linke.
Ein zweiter Punkt ist das Thema Erbschaftsteuer. Da (Beifall bei der LINKEN)
gelten seit dieser Legislaturperiode für Lebenspartner
wie für Eheleute gleiche Freibeträge. Auch das ist ein Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Punkt, von dem wir sagen können: Das haben wir in die- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
ser bürgerlichen Regierung umgesetzt. dieser Debatte geht es nicht nur um die Öffnung der Ehe
für Lesben und Schwule. Es geht darum, ob alle Men-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Burkhard
schen die gleichen Rechte haben – unabhängig von ihrer
Lischka [SPD]: Und wie geht es jetzt weiter,
sexuellen Orientierung.
Herr Thomae?)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Ein dritter Punkt – Herr Kollege Lischka, ich komme
Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Es ist eben
gleich dazu, wie es weitergeht – ist das Thema Beamten-
nicht alles möglich!)
recht. Da haben wir zwei Punkte umgesetzt. Der eine be-
trifft die Beamtenbesoldung. Für verheiratete und ver- Kardinal Ratzinger sagte 2003, dass die römisch-ka-
partnerte Beamte gilt die gleiche Besoldung. Wir haben tholische Kirche standfest sein müsse und nicht der
bei der Hinterbliebenenversorgung und den Krankenkos- Mode individueller Bedürfnisse nachgeben solle. Dies
ten für Lebenspartner von Beamten eine Verbesserung führe zu einer Diktatur des Relativismus. – Kurz gesagt:
(B) erreichen können. Das sind drei Punkte, bei denen wir in Die Kirche verharrt in ihren Dogmen. (D)
dieser bürgerlichen Regierung Verbesserungen durchge-
setzt haben. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nein, der
Papst hat recht! Hören Sie es sich morgen mal
Jetzt fehlen noch ein paar Dinge; da haben Sie völlig an!)
Recht. Man kommt in solchen Dingen eben nur Schritt
für Schritt voran. Das ist einmal das Thema Einkom- Der Kardinal bezeichnete die Homosexualität als
mensteuer. Hier wollen wir darauf hinarbeiten, dass schwere Verirrung. Politiker – er nannte nur die männli-
Splittingregeln, die für Ehepartner gelten, auch auf Le- che Form –, die Gesetzen zu homosexuellen Lebensge-
benspartner Anwendung finden. Da ist zum anderen das meinschaften zustimmten, würden an einer Legalisie-
Thema, das gerade schon unentspannt diskutiert worden rung des Bösen mitwirken. – Diese Haltung ist völlig
ist, nämlich das Thema Adoptionsrecht. Wie bereits ge- inakzeptabel. Ich weiß nicht, warum die CDU das heute
sagt wurde, ist die Adoption von Stiefkindern möglich. noch so vertritt.
Aber es gibt kein Adoptionsrecht für Paare. Nun, das se- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
hen wir in der FDP etwas entspannter als vielleicht unser BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Patrick
Koalitionspartner. Aber ich sagte schon: Man muss in Sensburg [CDU/CSU]: Hören Sie es sich mor-
solchen Dingen Schritt für Schritt vorangehen. Steter gen an? Sind Sie morgen da?)
Tropfen höhlt den Stein.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabe
(Burkhard Lischka [SPD]: Wollen Sie das? des Staates ist es, die Grundrechte der Bürgerinnen und
Mutig voran! Sie haben nicht mehr viel zu ver- Bürger zu garantieren. Auch in Deutschland war es ein
lieren!) langer Weg bis zur Beseitigung der Strafbarkeit der Ho-
mosexualität und ihrer Entdiskriminierung. Von der völ-
– Wir wollen das. Aber, wie gesagt, man muss sich da
ligen Gleichstellung sind wir aber noch immer weit ent-
auch ein bisschen Zeit geben.
fernt, sowohl was die Gesetzeslage als auch was das
Wir haben in dieser Angelegenheit also bereits Fort- tägliche Leben betrifft.
schritte erzielt. Wir haben uns für die Rechte gleichge-
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Unglei-
schlechtlicher Paare erkennbar eingesetzt, haben Erfolge
ches kann man nicht gleich behandeln!)
erzielen können. Das sollten Sie auch einräumen. Wir
werden beharrlich weiter daran arbeiten. Ich wiederhole: Der § 175 richtete sich gegen schwule Männer. In der
Gutta cavat lapidem, sagt der Allgäuer: Steter Tropfen Bundesrepublik galt dieser Paragraf in der von den Na-
höhlt den Stein. Wir arbeiten weiter an der völligen tionalsozialisten verschärften Fassung bis 1969. Infolge-
14866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Kein Ehepaar wird sich mit einer gleichgeschlechtlichen
GRÜNEN]: Gegen den Widerstand von CDU/ Lebensgemeinschaft gleichsetzen lassen.
CSU!) (Zurufe von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der LINKEN)
Das kann auch niemand leugnen. Aber trotz aller Geset-
zesakrobatik wird in keinem der Gesetze die Ehe sowohl Sie werden ihre Lebensform immer deutlich von der an-
für beide Geschlechter, deren Lebensform unterschieden wissen wollen, ohne
die andere Lebensform zu diskriminieren.
(Burkhard Lischka [SPD]: Noch nicht! Das
scheitert ja an Ihrem Widerstand!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wo leben Sie denn? – Gegenruf des Abg.
Mann und Frau, als auch für die gleichgeschlechtliche Burkhard Lischka [SPD]: In Kleinkleckersdorf
Partnerschaft vorgesehen. Aus allen Gesetzen geht klar in Bayern!)
hervor, dass die Ehe allein Mann und Frau vorbehalten
Es ist einfach ein Unterschied. Wer das nicht sieht, kann
ist.
einem nur noch leidtun.
(Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka (Lachen bei der SPD)
[SPD]: Das ist jetzt wieder ein falscher
Schluss!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das können Sie nachlesen. Genau das Gleiche finden Sie Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Kollegin Dörner?
Wir haben zwei entscheidende Urteile des Bundesver-
fassungsgerichts, einmal das Urteil vom 17. Juli 2002. Norbert Geis (CDU/CSU):
Frau Granold hat es schon zitiert. Ich darf einen weiteren Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Es wird mir
Satz zitieren: hier zu laut geschrien.
Die Ehe ist im Verhältnis zur gleichgeschlechtli- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen Lebensgemeinschaft ein Aliud. NEN]: Sie sind auch nicht gerade leise!)
14868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Norbert Geis
(A) Ein weiterer Punkt, den ich Ihnen noch nennen In meiner realen Welt – das war lange, bevor wir das (C)
wollte: Die Shell-Studie sagt ganz eindeutig, dass drei Gesetz gemacht haben; das war im Jahr 1992, als wir die
Viertel der Jugendlichen sich eine Zukunft wünschen Aktion Standesamt gemacht haben – haben bei uns in
Köln vor dem Rathaus die Leute zusammen mit den
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie wären wohl Schwulen und Lesben gefeiert, die nicht ins Standesamt
gerne Großinquisitor geworden! Wir leben im gehen konnten, um zu heiraten. Die Ehepaare haben ge-
21. Jahrhundert!) sagt: Wir feiern heute unsere Hochzeit, wir trauen uns;
in einer Ehe von Mann und Frau und in einer Familie mit wir wünschen euch, dass ihr das auch bald dürft. – Das
Kindern. Das ist eine ganz klare Aussage der Shell-Stu- ist reale Liberalität in der deutschen Gesellschaft, und
das ist nicht die Enge, die Sie gerade predigen.
die. Drei Viertel der Jugendlichen sagen dies. Wenn dies
aber so ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
kann man nicht behaupten, dass im Bewusstsein der Be- bei der SPD und der LINKEN)
völkerung eine Identität zwischen Ehe und gleichge-
Sie haben den Ansatz dieser parlamentarischen Initiative
schlechtlicher Lebensgemeinschaft entstanden sei.
nicht verstanden. Natürlich ist heute die Lebenspartner-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE schaft ein Aliud gegenüber der Ehe. Das hat auch das
GRÜNEN]: Wenn sie heterosexuell sind, kön- Bundesverfassungsgericht 2001 in seiner Entscheidung
nen sie sich schlecht was anderes wünschen!) gesagt. Dort heißt es: Alle Prüffragen – etwa: Verstößt
das gegen Art. 6? – fallen weg, weil es einen anderen
Der entscheidende Unterschied zwischen Ehe und Normadressatenkreis gibt. Das wollen wir mit dieser Ini-
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft besteht nun tiative ändern.
einmal darin, dass die Ehe für Kinder offen sein muss
und damit die Generationenfolge sichert und dass sie das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Humanvermögen – darunter ist die Daseinskompetenz, bei der SPD und der LINKEN)
die Sozialkompetenz zu verstehen, die eine Gesellschaft Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öff-
zusammenhält – am ehesten weitergeben kann, nämlich nen und Schluss machen mit den Extrawürsten.
nur durch Vater und Mutter im Verhältnis zum Kind.
Herr Geis, Sie sind ja ein geschickter Rhetoriker. Sie
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE haben auch gegen jeden Schritt der rechtlichen Anerken-
GRÜNEN]: Was ist mit denen, die keine Kin- nung der Lebenspartnerschaft gekämpft. Das haben Sie
der haben? Die dürften dann auch nicht heira- heute verschwiegen! Seit den 90er-Jahren waren wir in
ten! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE jeder Fernsehsendung zu diesem Thema. Sie haben stets
GRÜNEN: Was ist mit den Geschiedenen gesagt: Diese rechtliche Anerkennung soll den Homo-
(B) ohne Kinder? – Sonja Steffen [SPD]: Was ist sexuellen nicht zustehen. In diesem Punkt sind Sie ein (D)
mit Alleinerziehenden?) Erzkatholik. Sie behaupten, Sie wollten nicht diskrimi-
nieren; Sie diskriminieren aber ständig.
Dort werden die Regeln weitergegeben, die sich in unse-
rer Kultur entwickelt haben. Deswegen kann die Ehe mit Ich habe den Verdacht, dass Sie inhaltlich gar nicht so
einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft nie weit weg sind von dem Schreiben der Kongregation für
gleichgesetzt werden, nie identifiziert werden. die Glaubenslehre. Ich nenne nur die „Anmerkungen be-
züglich der Gesetzesvorschläge zur Nichtdiskriminie-
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Nehmen Sie zur rung homosexueller Personen“. Dort heißt es, dass
Kenntnis: Die Erde ist keine Scheibe!) „keine Gesetzgebung eingeführt werden dürfe, welche
ein Verhalten schützt, für das niemand ein irgendwie ge-
Deswegen wird die Ehe vom Grundgesetz geschützt, aus artetes Recht in Anspruch nehmen kann“. – Das haben
keinem anderen Grund. Deswegen kann die gleichge- Sie an jedem Punkt so gehalten. Sie haben bei jedem
schlechtliche Lebensgemeinschaft jedenfalls nicht im Schritt verhindert, dass Schwule und Lesben zu ihrem
Sinne des Art. 6 des Grundgesetzes ebenso geschützt Recht kommen, genau so, wie diese Schreiben es Ihnen
werden. aufgeben.
Danke schön. Das steckt letztendlich dahinter. Deshalb sind Sie
auch in diesem Fall dagegen. Wenn Sie ernsthaft sagen,
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/ Sie wollten die Ehe für gleichgeschlechtliche Partner-
CSU: Endlich einer, der Klartext redet!) schaften nicht, dann stellen Sie aber wenigstens – zu-
sammen mit Herrn Kauch und mit dieser christlich-libe-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ralen Koalition, die ja so wunderbar funktioniert
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- (Burkhard Lischka [SPD]: Immer wieder aufs
gen Volker Beck. Neue!)
und sozusagen die Traumvorstellung einer Ehe darstellt –
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): beim Steuerrecht und beim Adoptionsrecht die Lebens-
Ich weiß nicht, Herr Kollege Geis, in welcher Welt partnerschaft gleich. Gönnen Sie doch der FDP mal ei-
Sie leben. nen kleinen politischen Erfolg!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Burkhard Lischka [SPD]: Die können es
bei der SPD und der LINKEN) brauchen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14869
Volker Beck (Köln)
(A) Das wäre gut für die Schwulen und Lesben im Lande. eingetragene Lebenspartner füreinander eingehen – mit (C)
Das mit der Ehe machen wir nach der nächsten Bundes- denen sie im Übrigen auch den Sozialstaat und die So-
tagswahl zusammen mit den Sozialdemokraten. zialkassen entlasten, indem sie füreinander einstehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP, der SPD und dem
und bei der SPD – Burkhard Lischka [SPD]: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Genau!)
Diese Koalition hat die eingetragene Lebenspartner-
Dann wäre das Ganze glaubwürdig. Ansonsten zeigt es schaft in wesentlichen Punkten vorangebracht – Herr
nur, dass Sie es nicht wirklich ernst meinen. Thomae hat das angesprochen –: bei Erbschaftsteuer,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grunderwerbsteuer, BAföG, Beamtenrecht, Richterrecht
und bei der SPD) und Soldatenrecht. In diesen Bereichen hat die Koalition
eine Gleichstellung vorgenommen. Wir sind nicht bei al-
len Punkten von den Gerichten dazu gezwungen gewe-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sen. Im Gegenteil: Wir hatten im Koalitionsvertrag die
Kollege Geis, bitte schön. entsprechende Vereinbarung zu Änderungen im Beam-
tenrecht bereits festgelegt, bevor das entsprechende Ur-
Norbert Geis (CDU/CSU): teil gefällt wurde. Das Lebenspartnerschaftsrecht ist für
Lieber Herr Beck! Sehr verehrter Herr Präsident! Ich uns Teil der Bürgerrechtspolitik. Da gibt es Punkte, die
habe lediglich versucht, darzulegen, weshalb Art. 6 Sie nicht auf die Reihe bekommen haben. Zum Beispiel
Grundgesetz nach der heutigen Fassung und nach dem hat das Kabinett im letzten Monat die Einrichtung der
heutigen Verständnis – auch des Verfassungsgerichts und Bundesstiftung Magnus Hirschfeld beschlossen. Sie ha-
der gesamten Gesetzgebung – nicht die gleichge- ben es zehn Jahre lang versprochen; wir haben es ge-
schlechtliche Lebenspartnerschaft der Ehe gleichstellt. macht. Auch das ist ein Erfolg der christlich-liberalen
Das kann man so nicht machen. Koalition.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass man das allmäh- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Kai
lich durch die Gesetzgebung bewirken kann. Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf
(Burkhard Lischka [SPD]: Das geht schon! bei der Stiftung geheiratet werden? – Josef
Das werden Sie erleben!) Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist die Vergangenheit! Was ist mit
Dann würde eine Verfassungsänderung durch ein einfa- der Zukunft?)
ches Gesetz erfolgen. Wenn Sie wollen, lieber Herr Beck
(B) und meine sehr verehrten Damen und Herren von der Meine Damen und Herren, es gibt Bewegung: Frau (D)
Opposition, dass die gleichgeschlechtliche Lebensge- Winkelmeier-Becker – sie ist hier – hat Anfang August
meinschaft in Art. 6 Grundgesetz hineingeschrieben zusammen mit Frau Fischbach für die Unionsfraktion
wird, dann müssen Sie eine Verfassungsänderung vor- eine Presseerklärung im Zusammenhang mit dieser De-
nehmen. Die ist nach Art. 79 Abs. 2 Grundgesetz nur batte veröffentlicht, in der sehr deutlich gemacht wurde,
möglich mit einer Zweidrittelmehrheit. Die werden Sie dass die Union beim Adoptionsrecht zwar nicht bereit
nicht hinbekommen. ist, unseren Vorstellungen zu folgen, es aber angesichts
gleicher Einstandspflichten sehr wohl gute Gründe gibt,
(Burkhard Lischka [SPD]: Das werden Sie ja beim Splitting bei der Einkommensteuer für eingetra-
erleben!) gene Lebenspartnerschaften voranzukommen. Deshalb
bin ich zuversichtlich, dass es noch in dieser Legislatur-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: periode gelingen wird, an dieser Stelle zu einem guten
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak- Ergebnis zu kommen.
tion.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Johannes
(Beifall bei der FDP – Burkhard Lischka Kahrs [SPD]: Geben Sie diese Presseerklärung
[SPD]: Der andere Partner!) mal Herrn Geis!)
– Frau Fischbach ist stellvertretende Fraktionsvorsit-
Michael Kauch (FDP): zende. Ich denke, die stellvertretende Fraktionsvorsit-
Meine Damen und Herren! Wir können sicherlich zende der Unionsfraktion macht Presseerklärungen nicht
trefflich über die juristischen Fragestellungen streiten. ins Blaue hinein, sondern weil die Union an dieser Stelle
Ich glaube aber, dass in der Bevölkerung eine deutlich eine entsprechende Haltung hat.
entspanntere Situation vorherrscht, als es diese Debatte
suggeriert. Wir werden den Weg der Gleichstellung konsequent
weitergehen, weil wir uns hier auf sicherem, verfas-
Ich bin verpartnert; aber alle meine Freunde sagen: sungsgemäßem Terrain bewegen. Niemand bestreitet,
Ihr seid ja verheiratet, und das ist dein Mann; das ist dass der Staat die Lebenspartnerschaft gleichstellen
nicht dein Lebenspartnerschaftsring, sondern es ist der kann; das zeigen alle Urteile. Deswegen sind wir hier auf
Ehering. – Das ist die Herangehensweise, wie die Bürge- einem sicheren Weg; wir sollten ihn weitergehen.
rinnen und Bürger inzwischen mit diesem Thema umge-
hen. Deshalb müssen wir uns Gedanken machen über Wenn die Lebenspartnerschaft am Ende anders heißt,
angemessene Regelungen angesichts der Pflichten, die dann werde ich mich als Erster freuen. Denn dann muss
14870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Michael Kauch
(A) man nicht bei jeder Personenstandsangabe offenbaren, – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- (C)
welche sexuelle Orientierung man hat; man will das rung
nicht jedem offenbaren, weil es auch mit Nachteilen ver-
bunden sein kann. Insofern ist es durchaus ein Ziel, das Bericht der Bundesregierung über den
zu ändern. Der wesentliche Weg, über den wir dahin Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
kommen, ist die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft; Angebot an Kindertagesbetreuung für Kin-
wir müssen ihn bis zum Ende gehen. der unter drei Jahren für das Berichtsjahr
2009 (Erster Zwischenbericht zur Evalua-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE tion des Kinderförderungsgesetzes)
GRÜNEN]: Dann beeilen Sie sich mal, sonst
erleben Sie das in diesem Leben nicht mehr!) – Drucksachen 17/3663, 17/1973, 17/1778,
16/12268, 17/591 Nr. 1.7, 17/2621, 17/4249 –
Vielen Dank.
Berichterstattung:
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Johannes Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)
Kahrs [SPD]) Caren Marks
Florian Bernschneider
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Heidrun Dittrich
Ich schließe die Aussprache. Katja Dörner
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
fes auf Drucksache 17/6343 an die in der Tagesordnung gierung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu Bericht der Bundesregierung über den Stand
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
ist die Überweisung so beschlossen. an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und b auf: drei Jahren für das Berichtsjahr 2010 (Zwei-
ter Zwischenbericht zur Evaluation des Kin-
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- derförderungsgesetzes)
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) – Drucksache 17/5900 –
Überweisungsvorschlag:
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg (Ham- Ausschuss für Arbeit und Soziales
burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Haushaltsausschuss
(B) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (D)
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Fraktion der FDP keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Faire Teilhabechancen von Anfang an – Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Frühkindliche Betreuung und Bildung för- Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
dern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks,
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abge- Dorothee Bär (CDU/CSU):
ordneter und der Fraktion der SPD Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die
Frühkindliche Bildung und Betreuung ver-
Überweisung des Zweiten Zwischenberichts zur Evalua-
bessern – Für Chancengleichheit und Inklu-
tion des KiföG an den Deutschen Bundestag zum Anlass
sion von Anfang an
genommen, heute erneut über unseren Antrag zu einem
– zu dem Antrag der Abgeordneten Britta gesellschaftspolitisch wichtigen Thema zu debattieren,
Haßelmann, Katja Dörner, Fritz Kuhn, weiterer nämlich über die frühkindliche Bildung im Elternhaus
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ und in Kindertagesstätten als entscheidenden Faktor für
DIE GRÜNEN mehr Chancengerechtigkeit. Wir sind uns in der Koali-
tion einig – wir haben das in unserem Antrag festge-
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung reali-
schrieben –, dass der Grundstein für die Entwicklung
sieren – Kostenkalkulation für Kinderbe-
und Teilhabe an unserer Gesellschaft in der Familie ge-
treuung überprüfen
legt wird.
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
In der Familie erfahren Kinder Zuwendung, Vertrauen
rung
und Geborgenheit und erlernen vor allem ein soziales
Bericht der Bundesregierung über den Miteinander und – das ist ganz entscheidend – bauen
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Bindungen auf. Auch in der Wissenschaft ist es unbe-
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kin- stritten, dass Bindung der Bildung vorausgeht. Die erste
der unter drei Jahren für das Berichtsjahr Bindung eines Kindes ist nun einmal in der Regel die an
2008 seine Eltern. Deswegen ist für Kinder die familiäre Be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14871
Dorothee Bär
(A) treuung der institutionellen mindestens gleichwertig; ich (Beifall der Abg. Helga Daub [FDP]) (C)
glaube sogar, sie ist ihr überlegen.
Der Bund stellt dafür bis 2014 400 Millionen Euro zur
Natürlich verschließen wir unsere Augen nicht davor, Verfügung, um in bis zu 4 000 Einrichtungen, insbeson-
dass manche Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder über- dere in Brennpunkten, zusätzliche Sprachförderung zu
fordert sind. Aber wir wollen als Konsequenz daraus ermöglichen. Wer von uns sich das schon einmal in sei-
nicht dem Staat die Elternrolle zuweisen, sondern mit nem Wahlkreis angeschaut hat, weiß, dass das ein tolles
unserem Antrag klarmachen, dass Eltern in dieser Situa- Programm ist und es hervorragend angenommen wird.
tion niederschwellige Begleitung und Unterstützung Wir können gar nicht oft genug darüber sprechen. Wenn
brauchen; wir wollen sie ihnen gewähren. wir uns die entsprechenden Einrichtungen anschauen,
müssen wir sagen: Das war eine ganz wichtige und sinn-
Kindertagesstätten können eine wichtige Ergänzung
volle Investition.
zum Bildungsort Familie sein. Damit sie das tatsächlich
sein können, brauchen wir aber nicht nur einen Ausbau Wir haben auch noch das Programm „Elternchance ist
in quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativer Kinderchance“. Es bietet in örtlicher Nähe zu diesen Ki-
Hinsicht. Deswegen muss meines Erachtens die Grup- tas haupt- und ehrenamtliche Elternbegleiter. Wenn El-
pengröße in den deutschen Kitas teilweise drastisch re- tern Hilfe suchen, finden sie hier einen Stützpunkt, an
duziert werden. den sie sich wenden können. Da es leider so ist, dass es
(Beifall der Abg. Marcus Weinberg [Hamburg] die Großfamilie, die man von früher kennt, nicht mehr
[CDU/CSU] und Miriam Gruß [FDP] – gibt, dass die Familie nicht mehr unbedingt an einem Ort
Miriam Gruß [FDP]: Wie wir es in Bayern ge- zusammenlebt, dass oft keine Großeltern oder Urgroßel-
macht haben!) tern mehr vorhanden sind, vielleicht nicht einmal Tanten
oder Onkel, haben viele niemanden, dem sie eine einfa-
– Kollegin Gruß sagt gerade zu Recht: „Wie wir es in che Frage stellen können. Sie benötigen daher ein nie-
Bayern gemacht haben!“ Daran können sich andere Bun- derschwelliges Angebot. Deshalb haben wir dieses Pro-
desländer ein Beispiel nehmen. – Qualität hat aber nicht gramm „Elternchance ist Kinderchance“ aufgelegt. Jede
nur etwas mit der Gruppengröße zu tun. Ein anderer Familie, die auf der Suche nach Hilfe ist, soll diese be-
Qualitätsaspekt ist, dass feste Bezugspersonen vorhan- kommen.
den sind. Oft ist es so, dass ein Kind, nachdem es einge-
wöhnt wurde, aufgrund der schlechten Rahmenbedin- Wir haben ein Aktionsprogramm „Kindertages-
gungen in der Kindertagesstätte wechselnde Bezugsper- pflege“, in dem Bund, Länder und Kommunen gemein-
sonen hat. Das liegt zum Teil auch daran, dass sam daran arbeiten, die Qualität der Kindertagespflege
Erzieherinnen vielleicht nur halbtags arbeiten. So muss zu sichern und zu verbessern, das Personalangebot zu er-
(B) sich das Kind ständig dem Stress aussetzen, dass es eine weitern und mehr Transparenz zu gewährleisten. Die El- (D)
neue Bezugsperson hat. Das ist für die unter Dreijähri- tern sind heutzutage extrem kritisch, und zwar zu Recht.
gen natürlich wesentlich schwieriger als für die Kinder- Sie schauen sich genau an, wer sich um die Kinder küm-
gartenkinder über drei Jahren. Der Kitabesuch soll natür- mert, wer für einen Teil des Tages Verantwortung über-
lich kein Stress sein; denn sonst wäre er kontraproduktiv. nimmt. Natürlich möchte man nicht nur wissen, dass das
Kind sauber gehalten wird und etwas zu essen bekommt,
Neben den Kindertageseinrichtungen haben wir die sondern man möchte auch wissen, dass eine Förderung
Kindertagespflege. Das ist der erste Bildungsort außer-
stattfindet und eine Bindung entsteht, ohne die die spä-
halb der Familie und die zweite prägende Station für
tere Bildung gar nicht möglich ist.
eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Als wir vor ziem-
lich genau drei Jahren das Kinderförderungsgesetz im Das sind nur einige wenige Beispiele für das große
Deutschen Bundestag verabschiedet haben, war das der Engagement des Bundes und für das große Engagement,
Startschuss für den Aus- bzw. Aufbau eines bedarfsge- das die christlich-liberale Koalition in dieser Frage an
rechten und qualitativ hochwertigen Betreuungs-, Bil- den Tag legt. Es gibt noch weitere Forderungen an die
dungs- und Erziehungsangebots für die unter Dreijähri- Bundesregierung. Die wird mein Kollege Weinberg vor-
gen. Bei dieser großen Zukunftsaufgabe unterstützt der stellen.
Bund die eigentlich zuständigen Länder und Kommunen
sehr großzügig. Wir beteiligen uns mit 4 Milliarden Euro Wir sind auf einem guten Weg. Ich warne aber davor,
an den Kosten in der Ausbauphase und ab 2014 mit jähr- nur auf die Quantität zu achten. Ich sage das, weil ich
lichen Zuschüssen in Höhe von 770 Millionen Euro an mir sicher bin, dass heute noch einige Kolleginnen und
den Betriebskosten. Das Ganze trägt Früchte. Nachdem Kollegen mit Zahlen um sich schmeißen werden. Für
der Bund seinen zugesagten Beitrag zum Ausbau der Be- uns ist die Qualität von allergrößter Bedeutung.
treuungsplätze geleistet hat, brauchen wir jetzt aber eine
verlässliche Anschlussfinanzierung durch die Länder. Vielen Dank.
Diese ist dringend erforderlich, um den Ausbau weiter
voranzubringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Über diese finanzielle Unterstützung des Krippenaus-
baus hinaus investiert der Bund weiteres Geld in die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
frühkindliche Bildung. Wir haben ein ganz großartiges Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Programm aufgelegt, das Programm Offensive „Frühe
Chancen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“. (Beifall bei der SPD)
14872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Caren Marks (SPD): Vor allem in den alten Bundesländern, wo der Nach- (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen holbedarf besonders groß ist, ist die Betreuungsquote
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst kontinuierlich gestiegen. Dennoch ist der Abstand zwi-
einmal: Frau Ministerin, schön, dass Sie wieder da sind. schen den alten und den neuen Bundesländern immer
Wir von der SPD-Fraktion wünschen Ihnen gutes Gelin- noch sehr groß; es gibt einige ganz besonders gravie-
gen für eine partnerschaftliche Vereinbarkeit von Fami- rende regionale Unterschiede. Eine bundesdurchschnitt-
lie und Beruf; das ist ja für alle nie einfach. liche Betreuungsquote von circa 23 Prozent, wie wir sie
jetzt haben, ist nicht ausreichend. Das macht auch der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jüngste Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderför-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der derungsgesetzes sehr deutlich.
CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, vor
Die aktuelle bildungspolitische Studie der OECD hat diesem Hintergrund und auch angesichts des aktuellen
erneut deutlich gemacht, dass Deutschland mehr in Bil- Zwischenberichts zur Evaluation des Kinderförderungs-
dung investieren muss. Im deutschen Bildungssystem gesetzes ist es unseres Erachtens fatal und in keiner
werden immer noch Kinder aussortiert. Damit muss Weise nachvollziehbar, dass die Regierungskoalition im-
Schluss sein. mer noch an dem unsinnigen Betreuungsgeld festhält.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ist es hinnehmbar, dass Kinder aus Familien mit Migra- Vorgestern kam eine Meldung über den Ticker, dass Frau
tionshintergrund oder aus armen Familien schlechtere Haderthauer statt der bisher diskutierten 150 Euro sogar
Chancen haben? Die Ausgaben für Bildung liegen mit 500 Euro Betreuungsgeld fordert.
4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weit unter dem (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Durchschnitt der OECD-Länder; er liegt bei 5,9 Prozent. NEN]: Hat die zu viel Geld?)
Das macht eine riesige Summe in unserem Haushalt aus.
Heute ist sie bereits ein Stück weit zurückgerudert und
Deutschland hat ganz besonders bei der frühkind- sagte, das solle nicht jetzt sofort so sein, sondern sei eine
lichen Bildung großen Nachholbedarf; auch das wird in Zukunftsvision.
Studien immer wieder deutlich. Kann man die Kanzlerin
noch ernst nehmen, wenn sie von der „Bildungsrepublik (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Deutschland“ spricht? Gute Angebote der frühkind- Zukunftsillusion!)
(B) lichen Bildung, Erziehung und Betreuung, das machen Für uns ist das keine Zukunftsvision. Es würde ungefähr (D)
wir als SPD-Fraktion in unserem Antrag deutlich, sind 6 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Dieses Geld würde
das Fundament für Chancengleichheit, für Teilhabe von beim weiteren Ausbau der frühkindlichen Bildung drin-
Kindern in unserer Gesellschaft. Wir alle wissen, dass gend fehlen.
Versäumnisse im frühkindlichen Alter zu einem späteren
Zeitpunkt gar nicht mehr bzw. nur ganz schlecht aufge- (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ach! Man sollte
holt werden können. von dem Thema auch etwas verstehen!)
(Beifall bei der SPD) Vielleicht erinnern Sie sich, Frau Bär, noch an die
jüngste Mahnung der OECD, die ich eingangs erwähnte.
Gute Krippen und gute Kitas fördern Kinder – ich
nenne die Stichworte: Sprache, Ernährung, Bewegung (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und natürlich auch Sozialverhalten – und geben ihnen Ein weiterer wichtiger Aspekt, den wir in unserem
neben dem Elternhaus wichtige Erfahrungen mit auf den Antrag „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbes-
Weg. Hier lernen Kinder im wahrsten Sinne des Wortes sern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang
spielend, und zwar umfassend. Nach wie vor gibt es in an“ ansprechen, ist der enorme Bedarf an Erzieherinnen
Deutschland zu wenig Krippenplätze, das heißt, zu we- und Erziehern. Nach einer Studie des Deutschen Ju-
nig Bildungsangebote für Kleinkinder und zu wenig Be- gendinstituts fehlen allein in Niedersachsen – das ist das
treuungsangebote für berufstätige Eltern, die diese drin- Bundesland, aus dem ich komme – mehr als 5 000 Fach-
gend brauchen und häufig händeringend danach suchen. kräfte. In anderen Bundesländern ist die Situation ver-
gleichbar. Fachkräfte fehlen überall. Weil der Erzieher-
Rot-Grün hat vor Jahren den Ausbau der frühkind- mangel den Ausbau zu bremsen droht, müssen wir
lichen Bildung – damals noch unter Protest von handeln. Die Gewerkschaften weisen zu Recht darauf
Schwarz-Gelb – auf den Weg gebracht. Da sind wir jetzt
hin, dass dieser Beruf aufgewertet und besser bezahlt
schon durchaus weiter. Der Krippengipfel 2007 hat unter
werden muss. Darüber herrscht grundsätzlich Einigkeit;
Mitwirkung des damaligen Bundesfinanzministers Peer
das war auch heute im Ausschuss der Fall. Nur: Wir dür-
Steinbrück dazu geführt, dass der Bund die Länder mit
fen es nicht beim Benennen der Problematik belassen.
Bundesmitteln dauerhaft unterstützt. Diese Politik, die
Wir müssen auch handeln.
wir damals gemeinsam in der Großen Koalition auf den
Weg gebracht haben, zeigt Erfolge; gar keine Frage. Jahr Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit über einem
für Jahr werden Tausende Plätze neu geschaffen. Das ist Jahr, dass Sie, Frau Schröder, als zuständige Ministerin
gut; das brauchen Kinder und Eltern. den Ausbau der frühkindlichen Bildung auf die Agenda
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14873
Caren Marks
(A) setzen und einen neuen Krippengipfel einberufen, zumal Miriam Gruß (FDP): (C)
auch zahlreiche Expertinnen und Experten davon ausge- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
hen, dass der Bedarf an Krippenplätzen deutlich höher Damen und Herren! Ich darf Wilhelm von Humboldt zi-
ausfällt als bislang angenommen. Insbesondere in städti- tieren. Er hat einst gesagt:
schen Regionen wächst der Bedarf kontinuierlich. Die
angestrebte 35-Prozent-Quote für 2013 wird nicht aus- So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend
reichen. Auch dies haben das Deutsche Jugendinstitut auch der Einfluß der Erziehung sein mag, so sind
und andere Expertinnen und Experten immer wieder doch noch immer wichtiger die Umstände, welche
deutlich gemacht. den Menschen durch das ganze Leben begleiten.
Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag
Wir brauchen ganz dringend eine aktuelle und regio- diese Erziehung allein nicht durchzudringen.
nal differenzierte Analyse des tatsächlichen Bedarfs an
Krippenplätzen. Hier brauchen wir endlich Klarheit und Ja, es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Um-
Transparenz. Erst dann können wir, was die angestrebten stände für Familien zu gewährleisten. In diesem Punkt
Zahlen im Hinblick auf Plätze, Fachkräfte und Finanzie- ist Humboldt ganz aktuell.
rung angeht, gezielt nachsteuern. In einem nächsten (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Schritt brauchen wir einen nationalen Bildungspakt.
Bund und Länder müssen gemeinsam Vereinbarungen Wir wurden vorwurfsvoll gefragt, welche Umstände
treffen, wie sie beispielsweise die Zahl der Ganztags- wir schaffen. Diese schwarz-gelbe Koalition investiert
plätze erhöhen und – auch dies ist angesprochen wor- insgesamt 12 Milliarden Euro mehr in die Bildung. Das
den – die Qualität in Krippen und Kitas steigern wollen; fängt bei der frühkindlichen Bildung an und geht bis zur
das ist ganz dringend erforderlich. Wir brauchen eine Hochschulfinanzierung. In diesem Punkt lassen wir uns
Fachkräfteoffensive, die ihren Namen wirklich verdient. nichts vorwerfen.
Das alles sind keine Kleinigkeiten. Das alles braucht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kraft und Mut aller Beteiligten, und zwar auf allen poli- der CDU/CSU)
tischen Ebenen.
Welche Umstände schaffen wir noch? Klar, im euro-
Wer Familien heute und in Zukunft besser fördern päischen Vergleich könnten wir beim quantitativen und
will, kommt am Ausbau der frühkindlichen Bildung auch beim qualitativen Ausbau besser sein. Dafür haben
nicht vorbei. Es ist deshalb unerlässlich, auch die Ausga- wir im europäischen Vergleich die geringste Jugendar-
ben für frühkindliche Bildung zu steigern. Das Vorha- beitslosigkeit und eine der geringsten Arbeitslosigkeiten
ben, ein Betreuungsgeld einzuführen, sollte die Bundes- insgesamt. Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Situa-
(B) regierung endlich begraben. tion der Familien schaffen wir Umstände, die für ein gu- (D)
tes und gesundes Aufwachsen von Kindern notwendig
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
sind.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kai
Ich kann nicht verstehen, warum sich die Bundesfa- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und
milienministerin unseren Forderungen nicht anschließt. die längsten Warteschleifen und das größte
Diese Woche haben Sie, Frau Ministerin, ein neues Ser- Übergangssystem!)
viceprogramm zur frühkindlichen Entwicklung von Kin-
dern gestartet. Ich sage Ihnen: Solche befristeten Initiati- Die Maßnahmen, die wir hier ergriffen haben, sind eben
ven, die in ein paar Jahren wieder eingestampft werden, nicht befristet.
reichen nicht aus. Ein nationaler Bildungspakt, wie wir
ihn fordern, wäre hingegen eine nachhaltige und not- Ich habe es gesagt: Andere Länder sind uns voraus.
wendige Strategie. Der Monitor Familienleben 2011 bestätigt: 72 Prozent
der Deutschen wünschen sich, dass wir in der Familien-
Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Frau Schröder, es politik vor allen Dingen die Vereinbarkeit von Beruf und
wäre gut, wenn Sie bei diesem wichtigen Thema mit der Familie verbessern. Ja, wir müssen die Quantität stei-
Arbeit beginnen würden. Es hilft den Kindern und den gern, aber hier sind auch die Länder gefordert, ihren Teil
Familien in unserem Land nicht, wenn in Reden die Be- beizutragen; das habe ich in der letzten Rede hier im Ple-
deutung der frühkindlichen Bildung und der besseren num schon gesagt. Baden-Württemberg ist mit nur 57 Pro-
Vereinbarkeit von Familie und Beruf betont wird. Sie zent an abgerufenen Mitteln Schlusslicht; bei Bremen
müssen entsprechend handeln. Ich hoffe, dass dies dem- sind es 65 Prozent und bei Brandenburg und Sachsen 66 Pro-
nächst passieren wird. zent. Wir von Bundesseite tragen unseren Teil bei und
stehen auch in schwierigen Haushaltszeiten dazu, aber
Vielen Dank. auch die Länder müssen hier ihren Beitrag leisten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir investieren auch in die Qualität der Betreuung.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist äußerst wichtig; Frau Bär hat das bereits ange-
sprochen. Dies gilt aufgrund der Herausforderung durch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die vielen Kinder mit Migrationshintergrund gerade für
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. die Sprachförderung. Deswegen ist es ein richtiger An-
satz, mit der Offensive Frühe Chancen insgesamt 4 000
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kitas zu unterstützen und Kinder von klein auf sozial
14874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Miriam Gruß
(A) und sprachlich zu fördern. Diese 400 Millionen Euro Dies geht zulasten der Kommunen, weil genau dort im (C)
sind bestens investiertes Geld; denn wir alle wissen: Was Sommer 2013 die Klagewellen der Eltern aufschlagen
wir in den frühen Jahren investieren, zahlt sich später werden. Nicht im Kanzleramt oder im Familienministe-
tausendfach aus. rium, sondern an den Rathaustüren und bei den Kitalei-
terinnen wird sich der Frust der Eltern entladen. Das ist
Unser Ziel ist ganz klar: Wir möchten es den Familien
ein Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
in den unterschiedlichsten Lebensmodellen ermögli-
chen, sich zu entfalten und ihren Weg zu gehen. Dafür (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
stellen wir die Infrastruktur und die Qualität zur Verfü- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gung – ganz im Sinne Humboldts.
Auf ein weiteres Problem hat das Deutsche Jugendin-
Vielen Dank. stitut im August dieses Jahres in sehr nachdrücklicher
Weise hingewiesen: Die Bundesregierung verabschiedet
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ein Gesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung, ohne
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die dabei zu bedenken, dass man für mehr Kitaplätze natür-
Linke. lich auch mehr Erzieherinnen und Erzieher braucht. Ja,
wir haben zur Kenntnis genommen, dass das Familien-
(Beifall bei der LINKEN) ministerium hier seit dem vergangenen Jahr investiert.
Aber auch Ihr Modellprojekt – wie sollte es anders
Diana Golze (DIE LINKE): sein – „Mehr Männer in Kitas“ wird die Probleme, die
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Sie seit Jahren vor sich herschieben, nicht lösen. Das
Kollegen! „Millionenloch bei Kinderbetreuung“, „Ganz- Geld für dieses Projekt wird in den nächsten Jahren ge-
tagsbetreuung mit Hindernissen“, „Der Krippenplatz als nauso tröpfchenweise verdampfen, wie Sie es auszahlen,
Lottogewinn“, das sind Schlagzeilen aus Tageszeitungen weil Sie die Hinweise der Wissenschaft, der Gewerk-
der letzten 14 Tage. Sie beschreiben knallhart die Situa- schaften und der Opposition seit Jahren ignorieren. Be-
tion knapp zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Rechts- reits 2007 fragte meine Fraktion die Bundesregierung,
anspruches auf einen Kindertagesbetreuungsplatz ab ob sie die Einschätzung der GEW teile, dass der Perso-
dem ersten Lebensjahr. Das ist Alltag, vor allem im Wes- nalbedarf ab 2013 die Zahl der vorhandenen und in Aus-
ten der Bundesrepublik. bildung befindlichen Fachkräfte weit übersteige. Die
Antwort der Bundesregierung damals:
Vor diesem Hintergrund kann man sich bei der Lek-
türe der drei vorliegenden Berichte zum Stand des Aus- Der Bedarf an Fachkräften wäre damit rein rechne- (D)
(B) baus der Kindertagesbetreuung nur verwundert die Au-
risch gedeckt.
gen reiben; denn bei aller positiven Entwicklung beim
Ausbau der Betreuungslandschaft scheint die Bundesre- Das Deutsche Jugendinstitut belegt nun das Gegenteil.
gierung die Realität der Familien mit kleinen Kindern Die Einlösung des Rechtsanspruches droht auch daran
noch immer nicht ernst genug zu nehmen. zu scheitern, dass es nicht genügend qualifiziertes Perso-
nal in den Kindertagesstätten geben wird und dass da-
(Beifall bei der LINKEN) rüber hinaus Tagespflegepersonen in großem Umfang
Sicher, im letzten Bericht der Bundesregierung wurde fehlen.
der Bedarf auf 38 Prozent nach oben korrigiert und sogar
Die Bundesregierung treibt hier ein ganz geschmack-
als erreichbares Ziel beschrieben. Ob das aber für alle
jungen Eltern ausreicht, die in den ersten Lebensjahren loses Spiel auf dem Rücken vor allem der Frauen, die
ihrer Kinder ein Betreuungsangebot brauchen, ist mehr seit Jahren in Kindertagesstätten und in der Tagespflege
als zweifelhaft. für einen Jammerlohn arbeiten. Vielleicht sollte und
muss man das Ministerium und die Ministerin noch öfter
Das Familienministerium zieht seit Jahren statistische daran erinnern, dass eines der Fs im Titel des Ministe-
Hochrechnungen zurate, die die Bevölkerungsentwick- riums für „Frauen“ steht.
lung der nächsten Jahrzehnte abbilden. Mich interessie-
ren aber die Familien vor Ort und ihre Probleme, die Fa- Wir wiederholen unsere Forderungen: Erhöhen Sie
milien, die es direkt betrifft. Wenn laut einer Forsa- den Anteil des Bundes an den Kosten für den Ausbau
Umfrage fast 66 Prozent der Frauen zwischen 18 und der Kindertagesbetreuung! Verständigen Sie sich mit den
40 Jahren ihr Kleinkind außer Haus betreuen lassen wol- Ländern auf ein tragfähiges Konzept zur Aus- und Wei-
len, kann man die Zielstellung des Ministeriums wohl terbildung von pädagogischem Fachpersonal für die
nicht zu Unrecht infrage stellen. Sie planen an den realen frühkindliche Bildung! Helfen Sie den Kommunen da-
Bedarfen vorbei. Dabei besagt selbst die Statistik, die bei, den Beschäftigten in diesem extrem wichtigen Be-
Sie, Frau Dr. Schröder, heranziehen, dass es Ende 2013 reich endlich gerechte Löhne zu zahlen! Lassen Sie die
circa 1,97 Millionen Kinder unter drei Jahren geben Eltern und die Kinder nicht länger im Regen stehen.
wird. Bei angestrebten 750 000 Kitaplätzen dann noch
von einem garantierten Rechtsanspruch zu sprechen, hält Vielen Dank.
meine Fraktion weiterhin für Etikettenschwindel.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
(Beifall bei der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14875
(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nur, dass rund 30 000 Tagespflegepersonen fehlen, um (C)
Das Wort hat nun Katja Dörner für Bündnis 90/Die 2013 die Betreuungsquote von 35 Prozent erfüllen zu
Grünen. können. Vielmehr ist im Gesetz auch fixiert, dass die Ki-
tabetreuung und die Tagespflege gleichwertig nebenei-
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nander stehen sollen, und zwar gleichwertig mit Blick
auf Bildung, Betreuung und Erziehung. Nun ist es aber
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
Fakt, dass rund 35 Prozent der heutigen Tagespflegeper-
liebe Kollegen! Ich komme mir heute Abend ein biss-
sonen keinerlei pädagogische Qualifikation oder eine
chen vor wie bei Dinner for One, wenn der Butler sagt:
Qualifikation haben, die unter dem liegt, was eigentlich
„The same procedure as last year, Miss Sophie.“ Wir dis-
als Standard gelten sollte, nämlich der 160-Stunden-
kutieren den diesjährigen KiföG-Bericht. Die Problem-
Kurs nach dem DJI-Standard. Das ist auf Dauer über-
lagen, die wir schon in den vergangenen Jahren identifi-
haupt nicht akzeptabel. Ich finde es unfair, wenn die
ziert haben, haben sich faktisch nicht verändert. Die
Bundesregierung, wie in der Antwort auf unsere Kleine
Bundesregierung hat sich ihrer nicht angenommen, und
Anfrage, die Verantwortung dafür komplett den Kom-
das, obwohl der Termin des Rechtsanspruchs immer nä-
munen zuweist.
her rückt und der Handlungsbedarf immer dringlicher
wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der Knackpunkt ist die Festlegung auf einen Ausbau sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren. Es ist glas- KEN)
klar, dass 35 Prozent nicht ausreichen werden. Es ist „The same procedure as last year“ ist an Silvester
schon gesagt worden – dies kann ich nur unterstrei- ganz lustig. Angesichts der Herausforderungen im Be-
chen –, dass die Kommunen im Regen stehen bleiben, reich der Kinderbetreuung ist es beim KiföG-Bericht
wenn der Bedarf über die 35 Prozent hinausgeht. Die und bei den Anträgen, die wir heute behandeln, absolut
Bundesregierung lenkt im KiföG-Bericht mit dem Hin- unangemessen und nicht zu verantworten.
weis auf die demografische Entwicklung von diesem
Problem ab. Dazu kann man nur sagen: Achtung, ganz Vielen Dank.
böse Falle! Das DJI belegt nämlich sehr eindrücklich,
dass der Bedarf jährlich um 1 Prozent steigt. Das heißt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
wir müssen davon ausgehen, dass 2013 ein Bedarf von bei der SPD und der LINKEN)
rund 42 Prozent besteht. Auf diese Dynamik müssen wir
uns endlich einstellen. Hier ist aus unserer Sicht der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bund in der Pflicht, seine finanzielle Beteiligung endlich Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/
(B) den realistischen Bedarfszahlen anzupassen. CSU-Fraktion. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der CDU/CSU)
bei der SPD und der LINKEN)
Auch der Qualitätsaspekt bleibt weiterhin unterbe- Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):
lichtet. Wir brauchen dringend einen besseren Personal- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
schlüssel. Wir stellen an die Kitas hohe Anforderungen, Kolleginnen und Kollegen! Vorweg zwei Bemerkungen.
was die frühkindliche Bildung angeht. Damit die Ein- Erste Vorbemerkung. Frau Marks, Sie haben aus dem
richtungen diese hohen Anforderungen und auch die OECD-Bericht richtig zitiert. Es ist tatsächlich so, dass
Hoffnungen, die man zu Recht in sie setzt, überhaupt er- wir in Deutschland für die Primarschulbildung und die
füllen können, brauchen wir einen besseren Personal-
vorschulische frühkindliche Bildung im internationalen
schlüssel. Auch hier bleibt die Bundesregierung jede
Vergleich der OECD zu wenig Geld ausgeben. Sie müs-
Antwort schuldig.
sen aber auch betonen, was ein Parlament, eine Bundes-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- regierung machen sollte. Wir als Fraktion, die die Bun-
SES 90/DIE GRÜNEN) desregierung stützt, haben den Etat im Bereich Bildung
um 54 Prozent im Vergleich zum letzten rot-grünen Etat
Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktio- gesteigert. Das ist eine hervorragende Leistung und
nen mit einem langen Katalog wichtiger und, wie ich
zeigt, dass wir richtigerweise in Bildung investieren.
finde, auch richtiger Forderungen, aber man muss darauf
hinweisen, dass alles unter Finanzierungsvorbehalt ge- (Beifall bei der CDU/CSU)
stellt ist. Im Haushalt werden dafür keine Mittel zur Ver-
fügung gestellt; das ist auch nicht angedacht. Ich möchte Zweite Vorbemerkung. Es geht um die ewige Debatte
es ein bisschen härter formulieren: Ich ärgere mich da- darüber, wo man ideologisch steht, wenn man für oder
rüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Dieser An- gegen den Kitaausbau ist. Unsere Position ist klar: Wir
trag ist aus meiner Sicht reine Makulatur. Damit wird wollen den Familien Entscheidungs- und Wahlfreiheit
den Leuten Sand in die Augen gestreut, weil Aktivitäten ermöglichen. Ihre Position ist eine andere. Bei Ihnen ist
suggeriert werden, die nicht stattfinden. Bei den Kin- es schon so, dass man Ihrem politischen Ansatz der Fa-
dern, den Familien und den Einrichtungen kommt nichts milienpolitik deutlich ein ideologiebehaftetes Gesell-
an. schaftsbild anmerkt.
Ich möchte den Blick noch auf die Kindertagespflege (Caren Marks [SPD]: Es geht um Bildung! Sie
richten. Hier sind die Herausforderungen riesig: nicht haben nichts verstanden!)
14876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Wir sind für den Ausbau der Kindestagesbetreuung, weil Dann kommt ein Punkt, der für uns von entscheiden-
wir Respekt vor den persönlichen und familiären Ent- der Bedeutung ist. Frau Dörner hat unseren Antrag nicht
scheidungen haben. Sie müssen den Familien, denen Sie richtig interpretiert. Es geht nicht nur um die Quantität,
in der Frage des Betreuungsgeldes kritisch gegenüber- sondern um die Qualität von frühkindlicher und vorschu-
stehen, aber auch Antworten darauf geben, wie Sie die lischer Bildung.
Leistung dieser Eltern entsprechend würdigen wollen. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist völlig rich- NEN]: Es geht auch um die Quantität! – Kai
tig. Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei-
des!)
(Caren Marks [SPD]: Vor allem mit der Union
war das damals nicht einfach!) Das bedeutet zum Beispiel auch den qualitativen Ausbau
der Kindertagespflege. Seit dem Start des Aktionspro-
Dazu gab es damals auch das Übereinkommen mit den gramms Kindertagespflege ist das Qualifikationsniveau
Ländern und Kommunen. Was die Vorgabe von 33 Pro- in der Kindertagespflege bereits von 8 auf 22 Prozent an-
zent angeht, die auf dem Barcelona-Gipfel im Jahr 2002 gestiegen. Der Anteil des Personals ohne Qualifizierung
verabredet wurde, glaube ich, dass eine Diskussion, ob hat sich dagegen auf rund 14 Prozent reduziert. Der An-
es 45 oder 55 Prozent sein sollen, uns derzeit sicherlich stieg ist noch zu niedrig und der Anteil des Personals
nicht weiterbringt. Wir sollten uns vielmehr mit der ohne Qualifizierung noch zu hoch, aber die Bundesre-
Frage befassen, wo wir zum jetzigen Zeitpunkt stehen. gierung ist dabei, auch hier die richtigen Maßnahmen zu
treffen.
Die aktuellen Daten des zweiten KiföG-Berichts bele-
gen im Vergleich der Jahre 2008 und 2010, dass wir in Ein Programm wurde bereits erwähnt, nämlich die
weiten Teilen gut vorangekommen sind. Im März 2008 Offensive „Frühe Chancen zur Sprachförderung an Ki-
wurde in den westlichen Ländern noch jedes achte Kind tas“, für die 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt
und in den ostdeutschen Ländern jedes fünfte Kind in ei- werden. Ich kann das, was Kollegin Bär bereits gesagt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14877
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) hat, nur bestätigen. Schauen Sie sich in den Wahlkreisen Nicole Bracht-Bendt (FDP): (C)
an, wie Sprachförderung auch anders entwickelt werden Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
kann! und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung
entscheidet über die Zukunft eines jeden Menschen.
(Caren Marks [SPD]: Was glauben Sie, was Frühkindliche Bildung ist deshalb für mich eine soziale
wir machen!) Frage. In dem Ziel, frühkindliche Bildung zu stärken,
Wir haben heute Morgen im Ausschuss auch sehr in- sind sich alle Fraktionen hier einig. Es gibt allerdings auf
tensiv über die Frage diskutiert und gestritten, welche dem Weg dorthin Unterschiede. Die SPD hat vorrangig
Verantwortung Männern und Jungen zukommt. Ich Kitas im Blick. Auf die Tagespflege gehen Sie in Ihrem
glaube, die Initiative „Mehr Männer in Kitas“ ist vor die- Antrag gar nicht ein. Dabei hat die Tagespflege in den
sem Hintergrund richtig. letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Deshalb ge-
hört sie unbedingt dazu.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zur Bil-
dungsimplikation. Nicht nur das Familienministerium, (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])
sondern auch das Bildungsministerium ist dafür zustän- Ohnehin geht es in allen Ihren Forderungen um Geld.
dig. Ich will im Stakkato nur einige Maßnahmen nennen: Frühkindliche Bildung ist für mich nicht nur eine Sache
„Haus der kleinen Forscher“, die Weiterbildungsinitia- des Geldes und schon gar nicht ausschließlich Sache des
tive Frühpädagogische Fachkräfte, die Medienqualifizie- Staates, sondern immer sind auch die Eltern gefordert.
rung für Erzieherinnen und Erzieher oder das BIBER- Die FDP-Fraktion setzt grundsätzlich darauf, Vielfalt zu
Netzwerk frühkindliche Bildung. Ich glaube, dass die fördern – ich betone: Vielfalt –, aber auch auf Eigenver-
Maßnahmen nur in Abstimmung zwischen Familienmi- antwortung von Kindern und Eltern. Im SPD-Antrag ist
nisterium und Bildungsministerium gestaltet werden zum Beispiel von einem Bildungssoli die Rede. Noch
können. ein Soli? Da machen wir auf keinen Fall mit.
Wir haben in unserem Antrag deutlich die Frage nach Bei der frühkindlichen Bildung hat es seit der Regie-
der Qualität gestellt, Frau Dörner. Aber das können wir rungsübernahme durch die christlich-liberale Koalition
in Teilen nicht alleine machen. Wenn wir Standards für deutliche Fortschritte gegeben. Allein in diesem Jahr in-
Kitas einführen wollen, dann brauchen wir die Länder. vestiert das Bundesbildungsministerium gemeinsam mit
(Caren Marks [SPD]: Richtig! – Dagmar Ziegler dem Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie
[SPD]: Dann holen Sie sie heran!) und Jugend zusätzlich 100 Millionen Euro in die früh-
kindliche Bildung. Der Ausbau der Kinderbetreuung in
Wenn wir Zertifizierungsmaßnahmen wollen, dann brau- Deutschland macht gute Fortschritte. Allein bei mir vor
(B) chen wir die Länder. Wenn wir Eckpunkte oder einen Ort haben wir mittlerweile beim Krippenbau einen An- (D)
Strategiekreis schaffen wollen, um die Qualität zu über- teil von 42 Prozent. Seit dem Inkrafttreten des Kinder-
prüfen, dann müssen wir das gemeinsam mit Kommunen förderungsgesetzes ist das Betreuungsangebot in den Ta-
und Ländern entwickeln. geskindereinrichtungen und in der Kindertagespflege
deutlich größer geworden. Der Bund unterstützt den
(Caren Marks [SPD]: Das habe ich gesagt!) qualitätsorientierten Ausbau der Betreuung maßgeblich,
Das haben wir in unserem Antrag definiert. Denn es und zwar freiwillig; denn für die Kinderbetreuungsinfra-
macht keinen Sinn, nur über den quantitativen Ausbau struktur sind bekanntlich die Länder zuständig.
von Kindertagesbetreuung zu diskutieren; es muss ver- Die Koalition setzt aus zwei Gründen neue Maßstäbe
lässlich und verbindlich – damit komme ich wieder zum bei der frühkindlichen Bildung. Erstens. Wir wollen
OECD-Bericht – auch ein qualitativer Ausbau damit ein- Chancengleichheit für alle Kinder von Anfang an, also
hergehen. allen Kindern gute Startchancen verschaffen. Zweitens.
Was die Bundesregierung leisten kann, hat sie geleis- Wir wollen Väter und Mütter unterstützen, sich ihren
tet. In den nächsten Wochen und Monaten gilt es, diesen Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu
Ausbauprozess intensiv zu begleiten und möglicher- erfüllen. Da ist es ganz wichtig, dass die Eltern sich da-
weise auch Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. rauf verlassen können, dass ihr Kind nicht nur verwahrt,
Ich denke insbesondere an die, die in den Kommunen sondern gut betreut wird. Das Kinderförderungsgesetz
und Ländern Verantwortung übernommen haben. Ich legt deshalb einen Schwerpunkt auf die Verbesserung
glaube, dann haben wir den richtigen Weg eingeschla- der Betreuungsqualität. Frühkindliche Bildung bedeutet
gen. auf der einen Seite Sprach- und Wissensvermittlung.
Nicole Bracht-Bendt
(A) wächst, muss bei der Einschulung die deutsche Sprache empfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis der (C)
beherrschen. Mit der Offensive „Frühe Chancen: genannten Unterrichtungen die Annahme des Antrags
Schwerpunkt-Kitas & Integration“ setzt sich die Bundes- der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
regierung dafür ein, dass jedes Kind von Anfang an faire 17/3663 mit dem Titel „Faire Teilhabechancen von An-
Chancen hat. 4 000 Schwerpunkt-Kitas fördert die Bun- fang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung för-
desregierung seit März dieses Jahres bis zum Ende 2014. dern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Dafür stellt der Bund die beträchtliche Summe von Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
400 Millionen Euro zur Verfügung. empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungs-
fraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak-
Frühkindliche Bildung umfasst aber nicht nur Spra-
tionen angenommen.
che und Integration, sondern auch die Vermittlung von
sozialen Kompetenzen. Hinter diesem hochtrabenden Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
Wort stehen Werte, die heute leider nicht mehr selbstver- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
ständlich sind: Respekt, Toleranz, aber auch Verantwor- Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1973 mit dem Titel
tungsbewusstsein und Verlässlichkeit. Das ist mir ein „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für
wichtiges Anliegen. Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
Die meisten Eltern ermöglichen ihren Kindern gute
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Startbedingungen. Wir dürfen aber nicht ignorieren, dass
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
es immer mehr verunsicherte Eltern gibt, die in der Er-
gen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung
ziehung und bei der Betreuung überfordert sind. Auch
der Grünen angenommen.
hier hat die Koalition vieles auf den Weg gebracht.
Stichworte sind Elternkurse, Familienhebammen, Pro- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
jekte von Stadtteilmüttern, Familienzentren usw. seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 17/1778 mit dem Titel „Rechtsanspruch auf Kinderbe-
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- treuung realisieren – Kostenkalkulation für Kinderbe-
men. treuung überprüfen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
Nicole Bracht-Bendt (FDP):
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken
Unser Antrag hat zum Ziel, bei der frühkindlichen
und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenom-
Bildung weiter voranzukommen. Dazu gehört zum Bei-
(B) spiel die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der men. (D)
Frühpädagogen. Bei allen Zielen setzen wir auf ver- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6 b. Interfrak-
stärkte Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und tionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-
Kommunen in Form des Qualitätsprogramms für früh- che 17/5900 an die in der Tagesordnung aufgeführten
kindliche Bildung, – Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung so
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: beschlossen.
Frau Kollegin, das war ernst gemeint. Sie müssen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
zum Schluss kommen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
(Heiterkeit) Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding
(Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der
Nicole Bracht-Bendt (FDP): Fraktion der SPD
– sofort –, unter Mitwirkung der Kommunen, Kir-
chen, freien Wohlfahrtsverbände und anderer Anbieter in Für eine bessere Bildungssituation weltweit
freier Trägerschaft. – Drucksache 17/6484 –
Ganz herzlichen Dank. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ausschuss für Gesundheit
Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Technikfolgenabschätzung
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Drucksache 17/4249 zu den Unterrichtungen durch die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein be- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
darfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2008 sowie
für das Berichtsjahr 2009 und zu weiteren Vorlagen zur Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Kinderbetreuung. Unter Buchstabe a seiner Beschluss- Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14879
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
DIE GRÜNEN)
Dr. Bärbel Kofler (SPD): Weil es bei diesen Themen manchmal harmonisch zu-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! geht und wir gemeinsame Ansätze haben, möchte ich
Es ist vom Zeitpunkt her sehr passend, dass wir uns nach zwei Punkte herausgreifen, bei denen ich deutliche Un-
der Debatte über Defizite und Versäumnisse in der inner- terschiede sehe oder das Ministerium sehr dringend auf-
deutschen Bildungspolitik mit der Bildung weltweit aus- fordern möchte, bei seiner Strategie nachzubessern.
einandersetzen. Wir als SPD-Fraktion haben einen An-
trag mit dem Titel „Für eine bessere Bildungssituation Der erste entscheidende Punkt ist das Thema „Mäd-
weltweit“ vorgelegt, mit dem wir die Bedeutung des chen und Frauen“. Ich finde es traurig, dass in der Bil-
Themas in den Mittelpunkt stellen und die Notwendig- dungsstrategie, die vom Ministerium vorgelegt wurde,
keit des Handelns unterstreichen möchten. dem Thema „Mädchen und Frauen“ in keiner Weise ad-
äquat Rechnung getragen wird. Unter den zehn Punkten,
Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinaus in eini- die Sie explizit als Handlungsfelder definieren, gibt es
gen Punkten einig. Diese betreffen die Situationsbe- keinen einzigen, der sich mit Frauen und Mädchen be-
schreibung. Fast 70 Millionen Kinder weltweit haben schäftigt.
keinen Zugang zu Schulbildung und keine Möglichkeit,
ihr verbrieftes Menschenrecht auf Bildung wahrzuneh- (Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Das
men. Das ist ein Skandal und eine Schande. Ich glaube, stimmt so nicht!)
diese Einschätzung teilen wir über die Fraktionsgrenzen Das kann so nicht bleiben.
hinaus. Wir sind uns vielleicht auch in einigen anderen
Punkten einig. Handlungsbedarf besteht auf zwei Ebe- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
nen. Ich habe gerade gesagt, dass knapp 70 Millionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kinder noch keinen Zugang zu Schulbildung haben.
Deshalb muss, was die Einschulungszahlen betrifft, ver- Sie hätten heute die Gelegenheit, das zu heilen, indem
stärkt auf der quantitativen Ebene gehandelt werden. Es Sie einfach unserem Antrag zustimmen; denn wir legen
muss aber auch in Qualität investiert werden. Die den Fokus explizit auf das Thema Mädchenbildung, auf
UNESCO legt uns dazu ganz eindeutige Zahlen vor. das Thema Frauenbildung.
Wenn wir nur die universelle Grundbildung sicherstellen Uns ist heute im Ausschuss von Expertinnen noch
wollen – wir sprechen noch gar nicht von großen Quali- einmal sehr deutlich vorgetragen worden: Es gehen welt-
tätssprüngen –, sind 1,9 Millionen Lehrer nötig. Nur weit weniger Mädchen als Jungen zur Schule. Wenn sie
(B) dann haben alle Kinder die Möglichkeit auf einen Zu- zur Schule gehen, gehen sie kürzere Zeit zur Schule, ab- (D)
gang zu Schulbildung. Wir müssen gemeinsam mit unse- solvieren also weniger Schuljahre. 100 Millionen mehr
ren Partnerländern in die Lehrerausbildung, aber auch in Mädchen als Jungen – ich habe es schon erwähnt – sind
die Bezahlung der Lehrer investieren. Nur dann, wenn von Kinderarbeit betroffen. Die Folge davon ist: Die Ar-
die Bezahlung der Lehrer stimmt, werden wir erreichen, mut weltweit ist weiblich. Zu 70 Prozent sind von extre-
dass die Unterrichtszeiten, die in vielen Ländern auf dem mer Armut Frauen betroffen.
Papier stehen, tatsächlich eingehalten werden.
Wenn wir hier mit unserer Bildungsstrategie eingrei-
Es geht um den Zugang zu Lehrmitteln, um Qualität, fen würden, dann – auch das ist uns heute vom Kinder-
um Ausstattung, um Klassenräume. Das sind Punkte, die hilfswerk Plan noch einmal sehr deutlich gemacht wor-
viele Kollegen teilen. Wenn man in den verschiedenen den – hätte das positive Auswirkungen auf die gesamte
Ländern unterwegs ist, sieht man sich oft der Situation Entwicklung der Länder, der Menschen und insbeson-
gegenüber, dass Schüler zu Hundert in einer Klasse sit- dere der Frauen, aber auch auf die ökonomische Situa-
zen, dass sich drei Schüler eine Schulbank teilen, dass tion der Länder. Wir haben gelernt: Sieben Jahre und
Schüler am Boden sitzen. Dabei geht es auch darum, ob mehr Schulbesuch für Mädchen hätte positive Effekte
das, was unterrichtet wird, überhaupt aufgenommen auf die Geburtenrate; sie würde sinken. Die Kindersterb-
werden kann. Das hat viel mit Qualität zu tun. lichkeit würde abnehmen. Das Einkommen der Frauen
Ein entscheidender Punkt für uns ist, den Fokus stär- würde sich ganz deutlich erhöhen. Das Wirtschafts-
ker auf die Frage zu richten: Was verhindert eigentlich, wachstum – darauf legt die FDP immer so großen Wert –
dass viele Kinder in die Schule gehen können? Einen würde um bis zu 3 Prozent steigen, wenn nur 10 Prozent
Punkt möchte ich noch einmal ganz deutlich unterstrei- der Mädchen in den Entwicklungsländern eine Sekun-
chen: Kinderarbeit ist eines der größten Hemmnisse für darschule besuchen würden. Diese Zahlen muss man
den Schulzugang von Jungen und Mädchen, insbeson- sich einmal vor Augen halten und in den Mittelpunkt
dere aber – wir haben es heute im Ausschuss gelernt – stellen. Ich verstehe nicht, dass diesem wesentlichen und
von Mädchen. 100 Millionen mehr Mädchen als Jungen zentralen Punkt in der Strategie keine Aufmerksamkeit
müssen Kinderarbeit leisten und werden deshalb noch geschenkt wird.
einmal explizit benachteiligt, wenn es um den Schulzu- (Beifall bei der SPD)
gang geht. Das Verbot der Kinderarbeit und damit auch
die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen sind ganz Manchmal würden einfache Maßnahmen dazu beitra-
entscheidend, wenn wir an dieser Stelle vorankommen gen, dass mehr Mädchen auch die höheren Klassen besu-
wollen. chen. Ich denke etwa an getrennte Schultoiletten für Jun-
14880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Anette Hübinger
(A) Zum Schluss möchte ich auf ein weiteres Erfordernis Das muss auch Herr Niebel endlich zur Kenntnis neh- (C)
hinweisen. Wir brauchen eine stärkere Analyse der Pro- men. Denn der Entwurf einer Bildungsstrategie des Ent-
bleme, aber auch von Ergebnissen und Erfolgen, um in wicklungsministeriums spricht das Problem von Schul-
der Entwicklungspolitik im Allgemeinen wie auch im und Studiengebühren nicht einmal an.
Bildungsbereich im Besonderen voranzukommen. Auch
das hat die Regierung aufgegriffen. Die vom BMZ ge- (Zuruf von der LINKEN: Genau!)
wählte Form, gemeinsam mit Hilfsorganisationen, Uni- Ich hoffe nicht, dass dies aus irgendwelchen niederen
versitäten, Stiftungen, unabhängigen Experten und allen ideologischen Motiven heraus so ist, nach dem Motto:
an der Thematik Interessierten eine Strategie zu erarbei- Als Koalition sind wir in Deutschland für Studiengebüh-
ten, ist innovativ und bündelt das gesamte Fachwissen. ren; deshalb erteilen wir auch international Gebühren
Ich hoffe, dass viele ihre Ansichten und Meinungen im keine klare Absage. Das wäre verantwortungslos Millio-
Bereich Bildung eingebracht haben, und bin auf die Vor- nen Kindern gegenüber, die ohne Zugang zu Bildung
stellung der Ergebnisse durch das Ministerium gespannt. sind.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ha- (Beifall bei der LINKEN)
ben die Chance meines Erachtens nicht so genutzt, wie
sie hätte genutzt werden können. Ich hoffe aber, dass wir Zweitens. Wir brauchen ein hochwertiges staatliches
in der Bildung auch zukünftig auf einen guten Konsens Schulsystem. In vielen Entwicklungsländern ist das Bil-
kommen, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. dungssystem stark privatisiert. Es gibt eine fast schon
unüberschaubare Anzahl von privaten Trägern. Die Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desregierung will aber laut dem Konzeptentwurf noch
mehr nichtstaatliche Kräfte ins Boot holen. So soll die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kooperation mit der deutschen Privatwirtschaft ausge-
Das Wort hat nunmehr Niema Movassat für die Frak- baut werden.
tion Die Linke. Ich sage Ihnen noch einmal: Bildung ist ein Men-
(Beifall bei der LINKEN) schenrecht. Das Profitinteresse, das Unternehmen natur-
gemäß haben, deckt sich nicht mit dem Erfordernis, allen
Menschen Zugang zu Bildung zu bieten. Bildung darf
Niema Movassat (DIE LINKE): nicht von wirtschaftlichen Interessen abhängen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nel-
son Mandela, der ehemalige Präsident Südafrikas, hat (Beifall bei der LINKEN)
einmal gesagt: Bildung ist eine öffentliche Aufgabe. Darauf sollte sich
(B) die Bundesregierung auch international konzentrieren. (D)
Das größte Problem in der Welt ist Armut in Ver-
bindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür Drittens. Wir brauchen echte Bildungspartnerschaften
sorgen, dass Bildung alle erreicht. mit den Entwicklungsländern statt westlicher Arroganz.
Wo Bildung fehlt, fehlt auch der Ausweg aus Armut, Die Bildungsstrategie des Ministeriums zeugt leider
Hunger und Krankheit. Wie man sich etwa vor HIV nicht von der vielbeschworenen Kommunikation auf
schützen kann, müssen Menschen lernen. Bildung ist da- Augenhöhe. Sie unterstellt, dass viele Länder schlicht
für existenziell. Deshalb ist Bildung ein Menschenrecht. nicht ernsthaft gewillt sind, ihren Bildungssektor selbst
ausreichend zu finanzieren. Das ist nicht nur eine Unver-
Nur ein Kind, das Bildung erhält, hat als Erwachsener schämtheit, sondern in dieser Absolutheit auch einfach
die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Nur durch falsch.
Bildung kann es seine Rechte kennenlernen und geltend
machen. 72 Millionen Kinder in den Entwicklungslän- (Beifall bei der LINKEN)
dern, die heute nicht lesen und schreiben lernen, werden Viertens. Falsch ist es insbesondere deswegen, weil
um diese Chancen betrogen. Das ist ein unhaltbarer Zu- spätestens seit dem UNESCO-Weltbildungsbericht be-
stand. kannt ist, dass mehr Geld gebraucht wird. Rund 16 Mil-
(Beifall bei der LINKEN) liarden US-Dollar fehlen, um das Ziel „Bildung für alle“
durchzusetzen. Für diesen Geldmangel sind auch Sie
Entscheidend für die Bildungschancen von Kindern von der Bundesregierung verantwortlich. Sie haben das
sind aus meiner Sicht vier Punkte. Ziel aufgegeben, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonatio-
naleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit
Erstens brauchen wir Kostenfreiheit. Der vorliegende auszugeben, und dies, obwohl Sie für Bankenrettungen
Antrag der SPD hat den Kern getroffen: gebührenfreier ohne Weiteres jederzeit Milliarden zur Verfügung stel-
Schulbesuch, kostenlose Lernmittel. Ich möchte hinzu-
len. Das ist ein Armutszeugnis für Ihre Entwicklungszu-
fügen: keine Studiengebühren. Die große Mehrheit der sammenarbeit.
Eltern in den Entwicklungsländern kann es sich schlicht
nicht leisten, für den Schulbesuch ihrer Kinder zu bezah- (Beifall bei der LINKEN)
len. Wer sagt, er möchte allen Kindern weltweit die
Chance auf Bildung geben, muss deshalb Ja zur Gebüh- Partnerschaft auf Augenhöhe im Bildungssektor be-
renfreiheit sagen. deutet nicht, den Partnerländern westliche Lernkonzepte
überzustülpen. Stattdessen müssen wir die Experten aus
(Beifall bei der LINKEN) den Ländern selbst befähigen, eigene Konzepte auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14883
Niema Movassat
(A) Grundlage ihrer Bildungstradition zu entwickeln. Dazu Eine große Herausforderung bleibt das Erreichen ei- (C)
braucht es mehr Budgethilfe im Bildungssektor. Wir ha- ner Grundschulbildung für alle Kinder weltweit. Aber
ben das Vertrauen, dass die Partnerländer am besten wis- Sie müssen anerkennen, dass sieben Staaten in Subsa-
sen, wie man das Geld erfolgreich einsetzt. Partnerschaft hara-Afrika das zweite Millennium-Entwicklungsziel
auf Augenhöhe funktioniert nur durch Vertrauen und beinahe erreicht haben. Die Förderung von Sekundar-
nicht durch Unterstellung. schulen ist deshalb unerlässlich. Hier wird noch einiges
zu tun sein.
Danke.
In den nächsten zwei Monaten wird der Bundesminis-
(Beifall bei der LINKEN)
ter die Bildungsstrategie seines Ministeriums vorstellen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf von der FDP: Guter Mann!)
Das Wort hat nun Christiane Ratjen-Damerau für die Der erste Entwurf dieses Strategiepapieres wurde bereits
FDP-Fraktion. im März dieses Jahres veröffentlicht. Alle von Ihnen im
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vorliegenden Antrag gestellten Forderungen finden Sie
im Wesentlichen bereits in diesem Entwurf. An einigen
Stellen geht der Entwurf des Bundesministeriums über
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):
Ihre Forderungen hinaus. So erkennt der Minister, dass
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- es in den Entwicklungsländern einer stärkeren Förde-
ren! Ich freue mich, dass die SPD-Fraktion sich unseren rung der Hochschulbildung bedarf. Außerdem soll die
Koalitionsvertrag, die Arbeit des Bundesministeriums Wirksamkeit der eingesetzten Mittel überprüft und er-
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung höht werden. Beides ist richtig.
und die Arbeit der Regierungskoalition zum Vorbild ge-
nommen hat. Mit Ihrem Antrag für eine bessere Bildung In der rot-grünen Regierung hatte man bewusst ent-
weltweit wiederholen Sie die Arbeit, die wir bereits in schieden, keine Mittel für Projekte in der Hochschulbil-
den letzten zwei Jahren geleistet haben. dung bereitzustellen. Wir unterstützen bereits jetzt die
Panafrikanische Universität als ein Leuchtturmprojekt;
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Schön wär’s!)
andere werden folgen.
Die christlich-liberale Koalition hat die Forderung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nach einer weltweit besseren Bildungssituation aus-
drücklich als einen der Schlüsselsektoren der Entwick- Trotz des Sparzwangs aller Bundesetats sollen die
lungszusammenarbeit im Koalitionsvertrag festgeschrie- Bildungsausgaben für Afrika im Vergleich zum Jahre
(B) ben. 2009 bis zum Jahre 2013 verdoppelt werden. Ebenso (D)
(Beifall bei der FDP) wird die Zahl der Partnerländer mit dem Schwerpunkt
Bildung erhöht. Dies zeigt, welche Bedeutung die christ-
Ausformuliert haben wir in der Regierungskoalition lich-liberale Koalition der weltweiten Bildung zumisst.
diese Forderung des Koalitionsvertrages im Juni letzten
Jahres in dem Antrag „Bildung in Entwicklungs- und Der Minister hat seit Veröffentlichung des Strategie-
Schwellenländern stärken – Bildungsmaßnahmen anpas- papieres in einem transparenten und umfangreichen Pro-
sen und wirksamer gestalten“. Verabschiedet wurde der zess Konsultationen mit allen beteiligten Akteuren
Antrag im November letzten Jahres. Sie hätten bereits zu geführt. Es gab darüber hinaus sechs Dialogveranstal-
diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, unseren For- tungen zur Diskussion des Entwurfes der neuen BMZ-
derungen zuzustimmen. Die Grünen haben sich der Bildungsstrategie.
Stimmen enthalten; SPD und Linke stimmten dagegen. In unserem Ausschuss waren sich die Vertreter aller
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Fraktionen mit den Nichtregierungsorganisationen da-
Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Aus gutem Grund!) rüber einig, dass die Mädchenförderung ein größeres
Gewicht und eine stärkere Betonung erhalten muss. Wir
Mädchenförderung, Förderung der beruflichen Bil- haben dies immer wieder und nachhaltig in unseren Stel-
dung, Ausbau der Sekundarschulen und der weiterfüh- lungnahmen zum Entwurf der Bildungsstrategie deutlich
renden Bildungsangebote, Verbesserung der Qualität der gemacht. Das Ministerium hat bereits Zustimmung dazu
Bildung, Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Interna- signalisiert, die Mädchenförderung in der Bildungsstra-
tionalen Arbeitsorganisation etc.: All diese Forderungen tegie deutlicher hervorzuheben.
finden Sie in unserem Antrag ausgeführt.
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie haben der Grund- und Sekundarbildung eine zen- Na, also! Wunderbar! Prima! – Dr. Bärbel
trale Stellung in Ihrem Antrag eingeräumt. Damit sind Kofler [SPD]: Die Worte höre ich wohl, allein
Sie genau auf der Linie der christlich-liberalen Koali- mir fehlt der Glaube!)
tion. Grundbildung ist und bleibt ein fundamentales An-
liegen für uns. Eine zentrale Frage in den Entwicklungs- Auch wir bekennen uns dazu, dass in erster Linie der
ländern ist jedoch: Was wird den Grundschulabgängern Staat Bildung zur Verfügung stellen muss. Angesichts
als Perspektive geboten? Deshalb haben wir schon vor stark unterfinanzierter Bildungshaushalte in den Ent-
einem Jahr zusätzlich zur Grundbildung vor allem An- wicklungsländern und generell knapper Mittel spielen
strengungen in der Sekundarbildung gefordert. die Leistungen der Nichtregierungsorganisationen, Kir-
14884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Helga Daub
(A) Stelle möchte ich allen ganz herzlich danken, die daran Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten (C)
mitgewirkt haben. völlig unvereinbar sind. Genitalverstümmelungen sind
ein furchtbares Beispiel für eine solche Tradition, die
Einige werden sich natürlich fragen, warum wir einen
Ächtung verdient, Ächtung in aller Konsequenz. Es darf
Weltmädchentag fordern. Es gibt doch schon zu vielen
nicht reichen, dass Staaten dieses grausame Ritual zwar
Themen und Anlässen, die Kinder betreffen, besondere
gesetzlich verbieten, eine Mehrheit der Gesellschaft in
Tage, entsprechende UN-Konventionen und Resolutio-
diesen Staaten es aber duldet, weil es eben Tradition ist.
nen. Wir haben in Deutschland auch eine Kinderkom-
mission, was begrüßenswert und sinnvoll ist. Um dieses und um weitere wichtige Grundlagen wie
Gesundheit und Familienplanung ins Bewusstsein der
Obwohl wir uns Gott sei Dank mittlerweile viel inten-
Menschen zu bringen, fordern wir die Einrichtung eines
siver mit den Rechten und dem Wohlergehen von Kin-
Weltmädchentages der Vereinten Nationen am 22. Sep-
dern beschäftigen, zeigt die Wirklichkeit, dass gerade
tember.
Mädchen und junge Frauen noch stärkerer Beachtung
bedürfen. Wir alle wissen um die gesundheitlichen Probleme
von Mädchen und Frauen in vielen Ländern. Sie bekom-
Zwar sind wir in der sogenannten entwickelten Welt
men zum Beispiel schon sehr früh Kinder, zu einer Zeit,
in den letzten Dezennien schon ein ganzes Stück voran-
in der sie selber noch Kinder sind. Neben allen gesund-
gekommen. Frau Roth, Sie haben gesagt, dass noch viel
heitlichen Problemen, die sich daraus ergeben, kommt
zu tun sei. Das ist richtig. Auch wissen wir, welch wert-
häufig hinzu, dass sie noch nicht einmal ausreichend
volles und letztlich unverzichtbares Potenzial Mädchen
Nahrung für diese Kinder haben. Die Zahl der HIV-In-
und junge Frauen haben und dass sie eine Bereicherung
fektionen bei Mädchen und jungen Frauen ist sehr viel
für die Gesellschaft sind.
höher als bei Jungen und jungen Männern. Deshalb ist
Bei uns ist es noch gar nicht so lange her, dass es hier Aufklärung sehr wichtig. Will man den Teufelskreis
hieß: Mädchen brauchen doch keine höhere Bildung. Sie von Armut durchbrechen, sind Aufklärung, Bildung und
heiraten am Ende ja doch. – In der Regel führte das dann das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen unabding-
geradewegs allenfalls in eine Hauswirtschaftsschule. bar.
Nicht, dass ich das herabwürdigen möchte, aber die hö-
Die Weltbank hat am Montag in Washington ihren
here Bildung blieb den Mädchen dann verschlossen. Ich
diesjährigen Weltentwicklungsbericht veröffentlicht.
denke, dass es auch hier Kolleginnen gibt, die diese Gei-
Der Bericht der Weltbank fasst diese Problematik sehr
steshaltung wie ich noch miterlebt haben. Heute müssen
gut und konkret zusammen, zeigt aber auch Beispiele
wir – jedenfalls bei uns – viel eher aufpassen, dass nicht
und Wege auf, wie sich die Landschaft der Entwick-
kleine Jungen die Bildungsverlierer sind; das aber nur
(B) lungsländer verändern könnte, wenn es mehr Chancen- (D)
am Rande. Unser Antrag bezieht sich auf Mädchen, die
gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit gäbe.
in Gesellschaften leben, die ein völlig anderes Verständ-
nis von der Rolle von Mädchen und jungen Frauen ha- In den Entwicklungsländern „fehlen“ demnach ge-
ben. In aller Regel ist dieses Verständnis traditionell be- schätzte 3,9 Millionen Frauen in jedem Jahr, weil Mäd-
dingt. chen eine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen, weil sie
wegen einer Präferenz für Söhne nie geboren werden
Häufig genug finden wir dieses Verhaltensmuster in
oder später als Mütter im Kindbett sterben. Der Bericht
weniger entwickelten, armen Ländern. Bildung, wenn
nennt noch weitere konkrete Beispiele. Ich möchte nur
überhaupt, kommt in diesen Ländern oft genug nur den
zwei aus der Landwirtschaft ausführen.
Jungen zugute. Im Bildungsbereich haben wir in einigen
Ländern schon gute Fortschritte erzielt. Auch bei dem Wenn Bäuerinnen dieselben Voraussetzungen und
anderen Antrag – dies haben meine Vorrednerinnen Möglichkeiten wie Bauern hätten, könnte die Maisernte
schon gesagt – ist noch viel zu tun. Das werden wir ma- in Malawi um 11 Prozent und in Ghana sogar um 17 Pro-
chen. zent gesteigert werden. Oder: Die UN-Organisation für
Ernährung und Landwirtschaft schätzt, dass die land-
Bildung bedeutet Aufklärung, Wissen und Bewusst-
wirtschaftlichen Erträge in Entwicklungsländern um 2,5
sein, damit die nächsten Generationen von Mädchen mit
bis 4 Prozent wachsen würden, wenn Bäuerinnen densel-
mehr Rechten und unter größerem Schutz vor alltägli-
ben Zugang zu Ressourcen wie Bauern hätten. Diese Zu-
cher Unterdrückung und Gräueltaten aufwachsen kön-
sammenhänge gilt es, bewusst zu machen. Auch deshalb
nen.
fordern wir den Weltmädchentag der Vereinten Natio-
Es darf nicht einfach hingenommen werden, dass nen.
Mädchen zum Beispiel zwangsverheiratet werden, zur
Natürlich wäre es mit der Ausrufung eines solchen
Prostitution gezwungen werden oder sogar – auch davon
Tages allein nicht getan. Wir brauchen Aktionen, und
haben wir eben gehört – verkauft werden. Mädchen ha-
zwar nicht nur bei uns, sondern gerade auch in den Län-
ben genau wie Jungen Rechte und Würde. Sie sind keine
dern, in denen wir diese Traditionen aufbrechen wollen.
Ware.
Das ist auf jeden Fall eine schwere Aufgabe. Aber ein
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD chinesisches Sprichwort lautet: Auch der längste Weg
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beginnt mit einem kleinen Schritt. – Ein Schritt wäre die
Einführung eines Weltmädchentages am 22. September.
Traditionen sind durchaus oft etwas Gutes, Bewah-
renswertes. Es gibt aber Traditionen, die mit unserem Danke.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14889
Helga Daub
(A) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Beifall bei der LINKEN) (C)
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme jetzt zum Weltmädchentag.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach ja!)
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel von der
Prinzipiell unterstützen wir eine solche Initiative. Ich
Fraktion Die Linke.
muss dazusagen: Es wurde von keiner Fraktion erwähnt,
(Beifall bei der LINKEN) dass wir nicht angesprochen wurden, an diesem Antrag
mitzuarbeiten. Wir halten auch das für ein völlig unde-
Heike Hänsel (DIE LINKE): mokratisches Vorgehen. Ich finde, es ist kein Aushänge-
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich schild für die Grünen und die SPD, dass sie ständig bei
möchte aus aktuellem Anlass hier erst einmal meinen einer solchen Ausgrenzung mitmachen.
Protest äußern. Ich komme gerade von einer Demonstra- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So
tion am Brandenburger Tor, wo sich viele Menschen ver- schlimm ist das nicht!)
sammelt haben, die gegen die anstehende Hinrichtung
von Troy Davis demonstrieren. Dieser US-Amerikaner Das ist der erste Punkt.
wird, wenn nichts mehr passiert, in wenigen Stunden, Zweitens. Wir unterstützen im Prinzip die Initiative
um 1 Uhr unserer Zeit, mit einer Giftspritze hingerichtet für einen Weltmädchentag, aber es steht auch sehr viel
werden. Ich finde es einen Skandal, dass es dazu vom Symbolpolitik dahinter. Ich finde diese Kritik berechtigt.
Bundestag leider keinen Protest gab.
Wir haben zum Beispiel heute den Internationalen
Ich frage auch die Bundesregierung, was sie gemacht
Tag des Friedens, den Weltfriedenstag der Vereinten Na-
hat, um sich für das Leben von Troy Davis einzusetzen.
tionen. Wer hat ihn erwähnt, oder wer hat irgendeine Ini-
Ich fordere für unsere Fraktion die sofortige Aussetzung
tiative entwickelt? Das heißt, es handelt sich um Sym-
der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy Davis.
bolpolitik, wenn Politik nicht konkret gestaltet wird, um
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- die Rechte von Mädchen durchzusetzen. Das sind grund-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE legende Menschenrechte.
GRÜNEN)
(Helga Daub [FDP]: Zum Weltmädchentag!)
Für uns ist die Todesstrafe inakzeptabel, egal in wel-
chem Land. Sie ist für uns staatlicher Mord. Wenn wir An diesem Antrag kritisieren wir genau das, was auch
hier von Menschenrechten sprechen – es war gerade viel Sie, Frau Roth und Frau Daub, gemacht haben: Sie he-
(B) von Menschenrechten die Rede –, dann ist es unsere ben sehr stark auf die kulturellen und religiösen Traditio- (D)
Aufgabe als Bundestag, ein starkes Signal zu geben und nen ab, die zur Verletzung von Mädchen- und Frauen-
uns dafür einzusetzen, dass diese Hinrichtung nicht statt- rechten führen. Das stimmt, aber der zugrunde liegende
findet. Der Antrag unserer Fraktion, in dem wir die Aus- Hauptfaktor ist die extreme Armut.
setzung der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Habe ich ge-
Davis gefordert haben, ist leider von allen anderen Frak- sagt!)
tionen abgelehnt worden ist.
Meinen Sie allen Ernstes, Eltern verkaufen gerne ihre
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Pfui! Schä- Kinder? Die extreme Armut zwingt sie dazu. Deswegen
men Sie sich!) müssen wir eine Politik entwickeln, die Armut be-
Weil nur noch wenige Stunden bleiben und momentan kämpft, statt noch mehr Armut zu produzieren.
viele Menschen in vielen Ländern weltweit auf die (Beifall bei der LINKEN)
Straße gehen, um ein letztes Signal gegen die Hinrich-
tung zu setzen, möchte ich aus diesem aktuellen Anlass Für uns sind die sozialen Rechte und ihre Durchset-
auch vom Bundestag ein Signal aussenden: Wir fordern zung elementar, weil sie den Zugang zu Bildung und Ge-
die Begnadigung und Freilassung von Troy Davis, der sundheit ermöglichen und dadurch viele progressive
seit mehr als 20 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt. Prozesse entstehen, die zur Aufklärung und Emanzipa-
tion führen. Diese sozialen Rechte können nur dann um-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
gesetzt werden, wenn es zum Beispiel soziale Siche-
neten der SPD – Manfred Grund [CDU/CSU]:
rungssysteme gibt, sowohl in den Entwicklungsländern
Woher wissen Sie das denn?)
als auch in Europa.
Auch Amnesty International hat den Prozess kritisiert.
Um diesen Kampf geht es. Wir brauchen den Kampf
um die sozialen Rechte weltweit. Sie sind der beste Bei-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trag zur Umsetzung von Frauen- und Mädchenrechten.
Ich bitte Sie aber, jetzt zum Tagesordnungspunkt zu
sprechen. (Beifall bei der LINKEN)
(A) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaftlich positiv wirkt und die Voraussetzung für die (C)
Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Ich Zukunftsfähigkeit ist.
möchte kurz auf Frau Hänsel eingehen, die uns gerade Eine junge Frau, die eine grundlegende Schulausbil-
vorgeworfen hat, dass ihre Fraktion nicht involviert war. dung hat, wird wesentlich später Kinder bekommen. Sie
Der Vorwurf ist auch speziell gegen die Grünen und die wird im Durchschnitt 2,2 Kinder weniger bekommen.
SPD gerichtet worden. Ich möchte ganz klar betonen, Sie trägt zudem durch ein höheres Einkommen und grö-
dass ich sehr wohl einige Mitglieder der Fraktion Die ßere berufliche Freiheiten zum volkswirtschaftlichen
Linke angesprochen und vorgeschlagen habe, den An- Wachstum bei. Dieses Wachstum ist anders zu bewerten
trag gemeinsam zu machen: Wenn wir das machen, dann als das Wachstum, welches üblicherweise zugrunde ge-
finden wir auch einen Weg und eine Lösung. – Darauf legt wird. Wenn ein Land Öl verkauft, schießt das
kam aber keine Reaktion. Deswegen haben wir das dann Wachstum natürlich in die Höhe. Aber in der Regel hat
anders gemacht. die Bevölkerung nichts davon. Wenn Bildungspolitik bei
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Hört! Hört! – Mädchen und Frauen ansetzt, dann verteilt sich das
Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das stimmt doch Wachstum gleichmäßiger; das ist sehr positiv.
nicht!) Warum Frauen Trägerinnen der Politik sind, ist klar.
– Von euch wurde noch nicht einmal ein entsprechender Es ist aber absolut negativ zu bewerten, dass die Weltge-
Versuch unternommen. Das ist natürlich nicht nur Sache meinschaft zwischen 1960 und 2000 dies im Prinzip
der Grünen oder der Sozialdemokraten, sondern auch nicht erkannt hat. Das ist der eigentliche Skandal in der
der Linken. Mehr kann ich dazu nicht sagen. gesamten Entwicklungspolitik. Das ist nicht nur meine
These, sondern auch die der Weltgemeinschaft. Mit den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Millenniumszielen wurde dieses Manko im Prinzip be-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Heike seitigt; denn dort steht die Frauenförderung ganz oben
Hänsel [DIE LINKE]: Ich wurde nicht ange- auf der Agenda. Beim Millenniumsziel 2 geht es um die
sprochen! Welche Abgeordnete von uns hat er besondere Berücksichtigung der Situation der Frauen.
angesprochen?) Die Millenniumsziele 4, 5 und 6, bei denen es um die
Gesundheit geht, beinhalten auch Frauenthemen.
– Darüber reden wir nachher.
Ich möchte zum Schluss noch etwas Positives sagen.
Der Antrag auf Einrichtung eines Weltmädchentages Herrn Niebel stimme ich grundsätzlich nicht zu. Aber
geht auf eine gemeinsame Initiative zurück. Das macht jetzt muss ich ihn loben; Frau Kopp, teilen Sie ihm das
mich so entspannt. Es ist schön, einen Antrag vorliegen bitte mit. Er hat nämlich inzwischen schriftlich zugesagt,
(B) zu haben, dem alle zustimmen können. Frau Weiss hat dass er sich auf UN-Ebene für die Einrichtung eines (D)
die Frage gestellt: Bringt denn ein weiterer Tag noch et- Weltmädchentages verwenden wird. Herzlichen Dank.
was? Es gibt schon so viele Tage, die wir nicht kennen. Ich hoffe, dass er wirklich aktiv dabei ist.
Ist das nicht reine Symbolpolitik? – Ich denke, dass ein
Weltmädchentag durchaus das Potenzial hat, irgendwann Danke schön.
einmal mit dem Internationalen Frauentag verglichen zu
werden. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aber zwischen Mädchen- und Frauenpolitik ist ohnehin und bei der SPD sowie der Abg. Helga Daub
nicht zu trennen. [FDP])
Ein Weltmädchentag hat auf jeden Fall enormes Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Potenzial, gefeiert und zelebriert zu werden. Es wird die Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Möglichkeit bestehen, an einem solchen Tag bestimmte Kollegen Niema Movassat von der Fraktion Die Linke.
Mädchenthemen anzusprechen. Solche Themen haben
Frau Roth, Frau Weiss und Frau Daub ausreichend ange-
sprochen. Ich möchte nicht noch mehr zum Thema Geni- Niema Movassat (DIE LINKE):
talverstümmelung sagen. Dieses Thema kann und wird Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kol-
aufgegriffen werden. Es wird die Köpfe der Menschen legen, eine Richtigstellung sei mir an dieser Stelle ge-
erreichen und in das Bewusstsein dringen. stattet; denn das, was Sie gesagt haben, lieber Herr Kol-
lege Kekeritz, kann man so nicht stehenlassen. Es ist
Der Fokus muss in Zukunft ganz klar darauf gerichtet richtig, dass Sie uns den Vorschlag gemacht haben, einen
sein, dass Frauen- und Mädchenpolitik zusammengehö- eigenen wortgleichen Antrag einzubringen und so CDU/
ren. Die Mädchen müssen schon von klein auf gefördert CSU und FDP dazu zu bringen, für diesen Antrag zu
werden; denn die Frauen sind – das ist mein Lieblings- stimmen. Aber das sind Kinderspiele, an denen wir uns
zitat – die Trägerinnen der Entwicklung. nicht beteiligen wollen. Entweder wir werden in ein sol-
ches Verfahren vernünftig einbezogen oder gar nicht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aber es gibt kein Zwischending.
sowie der Abg. Helga Daub [FDP])
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist schon längst statistisch belegt; noch heute Mor-
gen haben wir darüber diskutiert. Es ist klar belegt, dass Es ist allen hier im Hause bekannt, dass CDU und
Bildung auf den demografischen Faktor und den Lebens- CSU aus einer ideologischen Verbohrtheit heraus es
standard von Familien Einfluss hat, sogar volkswirt- selbst bei solchen Themen ablehnen, gemeinsame An-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14891
Niema Movassat
(A) träge zu stellen. Das ist doch die Realität. Solange das so Was versprechen wir uns davon? Es sind zwei Dinge. (C)
ist und Sie von den Grünen und von der SPD sich auf Zum einen: Wir wollen auf globaler wie auf nationaler
diese Spiele einlassen, wird es keine gemeinsamen Ini- Ebene das Bewusstsein für die Situation von Mädchen,
tiativen des ganzen Hauses geben. Das zeugt letztlich für ihre Rechte und Anliegen, die in vielen Gesellschaf-
von Ihrem mangelnden Selbstbewusstsein. ten keine ausreichende Berücksichtigung finden, schär-
fen. Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass
Danke schön. Mädchen in vielen Ländern ausschließlich aufgrund ih-
(Beifall bei der LINKEN) res Geschlechts diskriminiert werden, dass sie unter Ge-
walt und Unterdrückung leiden. Die Beispiele dafür sind
endlos. Gerade gestern wurde in der Nachrichtensen-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dung Tagesthemen über die Abtreibungspraxis bei weib-
Möchten Sie erwidern, Herr Kekeritz? – Bitte schön. lichen Föten in Indien berichtet. Auch in unserem Land
gibt es viel Leid unter Mädchen und Frauen. Auch das
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dürfen wir nicht vergessen. An all diese Mädchen wollen
Ich bin davon überzeugt – jetzt wisst ihr, mit wem ich wir heute denken.
gesprochen habe –, dass wir bei diesem Thema durchaus Der Weltmädchentag sollte sich aber in meinen Au-
gemeinsam hätten aktiv werden können. Ich hatte ganz gen nicht nur darauf beschränken, auf die Situation der
klar den Eindruck, dass vonseiten der Linken diesbezüg- Mädchen als Opfer aufmerksam zu machen. Nein, ge-
lich nichts kommt. nauso wichtig erscheint mir, dass wir uns an einem sol-
Ich teile grundsätzlich deine Kritik und verstehe dei- chen Tag ebenfalls vergegenwärtigen, dass Mädchen
nen Wunsch, dass ihr vernünftig einbezogen werden auch Hoffnung in vielen Ländern sind. Wir sollten uns
wollt, wenn es dafür gute Argumente gibt. Ich teile die vergegenwärtigen, dass sie Gestalterinnen und Stütze
Kritik auch aufgrund der Erfahrung der Grünen. Ich sind, gerade im gesellschaftlich schwierigen Umfeld, ge-
weiß genau, wie mit den Grünen vor 20, 25 Jahren in rade in von Krisen, Kriegen und Katastrophen heimge-
den Parlamenten umgegangen wurde. Wir haben das da- suchten Ländern. Die Mädchen und jungen Frauen in
mals kritisiert, und ich finde, dass auch heute eine Kritik Afghanistan sind die besten Beispiele dafür, dass der
an dieser Vorgehensweise durchaus berechtigt ist. Weltmädchentag auch zum Mutmachertag für viele wer-
den kann. Damit uns das gelingt, muss dieser neue Tag
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ auch mit Leben erfüllt werden. Dafür tragen viele Ver-
DIE GRÜNEN und der LINKEN) antwortung.
Deutschland kann dabei schon viele Erfolge vorwei-
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sen. Wir betrachten Mädchenpolitik weltweit – das gilt (D)
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt auch für die Gleichstellungspolitik – aus der Lebensver-
hat nun die Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU- laufsperspektive, und mit diesem Ansatz setzen wir
Fraktion das Wort. Standards. Was heißt das? Gleichstellungspolitik aus der
Lebensverlaufsperspektive heißt, dass staatliche und pri-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vate Akteure sich bei allen Maßnahmen, die sie ergrei-
fen, die Frage stellen, welche Auswirkungen diese auf
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Frauen und Männer in ihrem jeweiligen Lebensabschnitt
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und in den Übergängen zwischen den einzelnen Lebens-
Kollegen! Im Frühjahr hatte ich die Gelegenheit, nach phasen haben. Das ist ein ganz moderner Ansatz der
Afghanistan zu reisen, dort mit der Zivilbevölkerung in Gleichstellungspolitik, der seinen Weg mittlerweile in
Kontakt zu kommen und mit vielen Menschen zu spre- die Dokumente und Strategien der Vereinten Nationen
chen. Was mich dort am meisten beeindruckt hat, waren gefunden hat.
die Mädchen. Die Erinnerungen an den Besuch einer Über diesen Rahmen hinaus sind wir anerkannterma-
Schule in Masar-i-Scharif sind das Erste, was mir ein- ßen auf internationaler Ebene sehr aktiv, wenn es um die
fällt, wenn ich an die Begegnungen vor Ort zurück- Rechte von Frauen und Mädchen geht. Beispielgebend
denke. Die Begeisterung, mit der die Mädchen dort in ist etwa das deutsche Engagement bei der Frauenrechts-
den über 40 Grad heißen Zelten saßen, die als Schulraum kommission der Vereinten Nationen. Deutschland nimmt
dienten, die Art und Weise, wie sie von ihren Zukunfts- hier traditionell eine führende Rolle ein. Wir sind Vor-
plänen berichteten, war überwältigend. Ihre Botschaft bild und anerkannter Partner für viele Staaten. Wir brin-
war: Wir wollen lernen, wir wollen unser Leben selbst in gen uns ein mit Inhalten, mit Veranstaltungen, mit Dia-
die Hand nehmen, und wir wollen eines: Wir wollen un- log und Beratung. Viele von Ihnen, liebe Kolleginnen,
ser von Kriegen zerfressenes Land gemeinsam aufbauen, waren auch schon selbst dabei.
in Freundschaft mit anderen Völkern und Nationen. Wir,
die Mädchen und Frauen, sind dabei ganz entscheidend. Zu erwähnen ist auch der Ostseerat, dessen Vorsitz
Deutschland seit wenigen Wochen hat. Hier soll in den
An diese Mädchen wollen wir heute mit unserer De- kommenden Monaten das Thema Menschenhandel eines
batte zum Weltmädchentag der Vereinten Nationen den- der Schwerpunktthemen sein. Die Reihe der Beispiele
ken. Ich freue mich sehr, dass wir dieses in großer Ge- deutschen Engagements in der Welt ließe sich fortsetzen.
schlossenheit mit einem gemeinsamen Antrag tun. Heute
plädiert zumindest der größte Teil des Hauses für einen Auch auf nationaler Ebene können wir Erfolge vor-
Weltmädchentag. weisen. Nur beispielhaft will ich nennen die Verbesse-
14892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Agnes Malczak
(A) che Regelung der noch zahlreichen Streitfragen, insbe- Beitrag zur Stabilisierung des Sudan und der von jahre- (C)
sondere in den Grenzregionen. langen Kriegen und andauernden schweren Gewaltaus-
brüchen geprägten Region zu leisten.
Nach seiner Unabhängigkeitserklärung steht der
Südsudan vor kolossalen Herausforderungen. Es besteht Wenn ich mir noch eine Schlussbemerkung – mit ei-
die Gefahr, dass zwischen den verschiedenen Bevölke- nem Blick zurück – erlauben darf: Heute liegt auch der
rungsgruppen im Süden neue Konflikte ausbrechen. Abschlussbericht zur alten UN-Mission UNMIS vor.
Große Gruppen werden politisch und ökonomisch von Dieser basiert auf einer Regelung des Parlamentsbeteili-
der Regierung marginalisiert. Zudem verbreiten sich gungsgesetzes; sie wird hier zum ersten Mal angewandt.
Kleinwaffen völlig unkontrolliert. Es muss deshalb drin- Das ist gut; das wollen wir loben. Gleichzeitig hätten wir
gend eine Entwaffnung und Demobilisierung durchge- uns ein bisschen mehr selbstkritische Evaluierung ge-
führt werden. wünscht. Wir erinnern die Bundesregierung an dieser
Stelle gerne daran, dass wir ebenso auf einen gründli-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Abschlussbericht zur Operation Enduring Freedom
sowie bei Abgeordneten der SPD) warten.
Der Entwicklungsstand des Landes ist extrem niedrig, Vielen Dank.
die Armut riesengroß. Gleichzeitig gibt es aktuell keine
institutionelle Infrastruktur, die für ein einigermaßen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
funktionierendes Staatswesen, mit dem man diese Pro- sowie bei Abgeordneten der SPD)
bleme angehen könnte, notwendig ist. Es wäre völlig un-
verantwortlich und höchst gefährlich, diesen neuen Staat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
bei all diesen Herausforderungen alleine zu lassen. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
Die Mission der Vereinten Nationen im Südsudan hat das Wort der Kollege Hartwig Fischer von der CDU/
daher den Auftrag, die südsudanesische Regierung bei CSU-Fraktion.
der Friedenskonsolidierung zu unterstützen und Hilfe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
beim Staatsaufbau und bei der wirtschaftlichen Entwick-
lung zu leisten. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen begrüßt, dass sich Deutschland von Anfang Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):
an an dieser Mission beteiligt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung wähle mit diesem Mandat den falschen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weg, hat Kollege Movassat gesagt.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
(B) SPD und der FDP) (Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie haben (D)
zugehört!)
Ich möchte allen Menschen, ob zivil oder in Uniform,
ob im staatlichen Auftrag oder im Rahmen einer Nicht- Die Bundesregierung hat nicht einen eigenen Weg ge-
regierungsorganisation, danken, die sich für Stabilität wählt, sondern wir beteiligen uns an einer Mission, die
und Frieden in dieser schwierigen Situation in dieser Re- auf einem UN-Mandat nach Kap. VII der UN-Charta ba-
gion einsetzen. siert. Diese Mission soll nach der alten UNMIS-Mission
dazu beitragen, dass im 193. Staat Rechtsstaatlichkeit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hergestellt wird und den Menschen dort, die in den ver-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gangenen 25 Jahren keine Perspektive hatten, wieder
SPD und der FDP) eine Perspektive gegeben wird.
Um einen günstigen Rahmen für Versöhnung zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
schaffen, bedarf es eines breiten Ansatzes, der alle Be- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
reiche umfasst: Politik, Sicherheit, wirtschaftliche Ent- GRÜNEN)
wicklung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit allen relevan- Deshalb ist es gut, dass die Kollegin Malczak eben
ten Akteuren. Die militärische Komponente ist ange- noch einmal darauf hingewiesen hat, dass der Ab-
sichts der immer wieder aufflammenden Kämpfe für den schlussbericht zu UNMIS vorliegt. Wer diesen Bericht
Schutz der Zivilbevölkerung ein notwendiger Bestand- gelesen hat, weiß, dass 445 Soldaten und Soldatinnen
teil. Der Schlüssel für eine nachhaltige Stabilisierung eingesetzt waren, dass Polizisten eingesetzt waren, dass
liegt aber im zivilen Engagement. wir ein Programm zur Demobilisierung, zur Entwaff-
nung und zur Reintegration aufgelegt haben. Genau das
Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass sind Friedensmissionen, die den Menschen wieder eine
Deutschland alle zur Verfügung stehenden Kapazitäten Perspektive geben.
nutzt, um die nötige technische, konzeptionelle und fi-
nanzielle Unterstützung für die Friedenskonsolidierung Wir haben den Menschen Zugang gegeben und das
sicherzustellen. UNDP, das OCHA und den UNHCR bei ihren Maßnah-
men für die Menschen unterstützt. Wir haben mit dazu
Ja, es sind große Aufgaben zu bewältigen. Dabei beigetragen, dass 300 000 Menschen aus dem Norden in
müssen wir bescheiden sein und realistische Ziele set- den Süden zurückkehren konnten. Wir haben in den ver-
zen. Wir dürfen nicht immer gleich morgen ein Wunder gangenen Jahren mit dazu beigetragen, dass über
erwarten, aber wir müssen unser Bestes dafür tun, einen 400 000 Flüchtlinge, die für über 20 Jahre aus dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14899
Hartwig Fischer (Göttingen)
(A) Südsudan nach Uganda und nach Kenia gegangen wa- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
ren, zurückgeführt werden konnten. Wir haben in den Ich schließe die Aussprache.
vergangenen Jahren gemeinsam mit einer breiten Basis
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
für das gesorgt, was Sie eben vermisst haben, Herr
den Drucksachen 17/6987 und 17/7000 an die in der Ta-
Movassat. Wir haben mit dafür gesorgt, dass zivile
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Strukturen geschaffen wurden, dass Straßen, Wasserver-
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sorgung und Ähnliches aufgebaut wurden. Das alles ver-
ist die Überweisung so beschlossen.
schweigen Sie.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-
Ich finde es unerträglich, wenn man sich hier als Pazi- punkt 3 auf:
fist aufspielt und versucht, aus ideologischen Gründen
zu ignorieren, dass dort noch mehr Menschen sterben 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
würden, wenn es keinen Militäreinsatz geben würde. richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie sterben Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van
die ganze Zeit schon!) Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Wenn es im Südsudan, wenn es in Darfur nicht diese
Missionen gegeben hätte, wären Hundertausende von Den Staat Palästina anerkennen
Menschen mehr gestorben. – Drucksachen 17/6150, 17/7056 –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Berichterstattung:
neten der FDP) Abgeordnete Joachim Hörster
Günter Gloser
Wir haben kürzlich erlebt, wie Herr Baschir mit sei- Dr. Rainer Stinner
ner Ignoranz verhindert hat, dass im Rahmen von UN- Wolfgang Gehrcke
MISS auch eine Grenzsicherung vorgenommen wird. Kerstin Müller (Köln)
Wenn diese Grenzsicherung möglich wäre, dann wären
wir heute in Süd-Kurdufan in einer anderen Situation. ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Sie haben eben gesagt, dass dort in den letzten Tagen richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
600 und in den letzten Monaten bereits 3 000 Menschen schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
gestorben sind. Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
(B) Im Rahmen von UNMISS können wir jetzt dafür sor- (D)
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
gen, dass dort wieder staatliche Strukturen aufgebaut Schwung verleihen
werden. Wir wollen auch mit dazu beitragen, einen Dia-
log mit dem ehemaligen Zentralstaat Sudan aufzubauen. – Drucksachen 17/6298, 17/7057 –
Die Aufgaben nach Kap. VII der Charta der Vereinten
Berichterstattung:
Nationen bestehen darin, Sicherheit und Bewegungsfrei-
Abgeordnete Joachim Hörster
heit zu gewährleisten, für die Erlangung der Unabhän- Günter Gloser
gigkeit zu sorgen und den Schutz der eigenen Bevölke- Dr. Rainer Stinner
rung sicherzustellen. Wir helfen außerdem bei der Wolfgang Gehrcke
Herstellung rechtsstaatlicher Strukturen. Kerstin Müller (Köln)
Präsident Salva Kiir hat gegenüber der internationa- Als Debattenzeit war eine halbe Stunde vereinbart. Es
len Gemeinschaft angekündigt, nicht nur staatliche Insti- hat sich aber nur ein Kollege zu Wort gemeldet. Die üb-
tutionen aufbauen, sondern auch die Menschenrechte rigen Reden nehmen wir zu Protokoll.1)
respektieren und rechtsstaatliche Strukturen implemen-
tieren zu wollen. Mit diesem Mandat und vor dem Hin- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
tergrund des Einsatzes in der Vergangenheit haben wir Wolfgang Gehrcke das Wort.
die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, die Entwick- (Beifall bei der LINKEN)
lung gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft
zu überwachen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
die Menschen eine neue Chance bekommen. Nach ei-
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
nem furchtbaren, langen Krieg, der einer ganzen Genera-
Ungefähr zur gleichen Zeit, zu der wir hier zu diesem
tion die Zukunftschancen genommen hat, müssen wir
Thema hätten debattieren sollen, haben sehr viele Men-
neue Zukunftschancen schaffen. Sie sind aufgefordert,
schen in Tel Aviv, einige Tausend, und sehr viele Men-
daran mitzuwirken. Dabei sollten Sie allerdings beden-
schen in Ramallah, auch einige Tausend, für die Auf-
ken, welche Konsequenzen Ihr Handeln für die Men- nahme Palästinas als Vollmitglied der Vereinten
schen hat. Nationen demonstriert. Ich habe ihnen versprochen, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ich das, was sie auf ihren Kundgebungen ansprechen,
Niema Movassat [DIE LINKE]: Wir haben
konkrete Vorschläge unterbreitet!) 1) Anlage 88
14900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Wolfgang Gehrcke
(A) auch hier im Deutschen Bundestag vortragen werde. Ich wohl sich mittlerweile über 150 Staaten bereit erklärt ha- (C)
finde, es ist ein ganz tolles Zeichen, dass Menschen in ben, die Palästinenserinnen und Palästinenser zu
Israel und Menschen in Palästina für die Aufnahme Pa- unterstützen. Für mich ist es ein Riesenfortschritt, dass
lästinas als Vollmitglied der Vereinten Nationen auf die die unbefriedigende Situation nicht mit dem Griff zur
Straßen und auf die Plätze gegangen sind. Waffe, nicht mit neuer Gewalt, sondern mit dem Gang
zur UNO beantwortet worden ist. Das muss man hier
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
doch auch einmal politisch klarstellen, und die Regie-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
rung muss sich entsprechend verhalten.
Das ist genau das, was ich möchte: dass in dieser Art und
Weise Verständigung entsteht. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.
Die Linke will, dass Deutschland in der UNO dafür Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
stimmt, dass Palästina als Vollmitglied aufgenommen
wird. Wir sind der Auffassung, das ist deutsche Verant- Daneben wird gesagt, dass ein Scheitern der Verhand-
wortung gegenüber Israel und Palästina. In dieser Frage lungen zu neuem Aufruhr im Nahen Osten führen kann.
sind die Differenzen zwischen den Fraktionen des Bun- Ich sage Ihnen: Wenn Sie das verhindern wollen, dann
destages aus meiner Sicht nicht unüberbrückbar. muss man den Palästinensern zeigen, dass sie nicht al-
leine sind, sondern dass Menschen in aller Welt auf ihrer
Ich will einige Stichworte nennen: Es geht um zwei Seite sind. Man muss ihnen zeigen, dass es eine Mög-
Staaten, Israel und Palästina, die friedlich nebeneinander lichkeit gibt, zu einem eigenen Staat zu kommen, der ih-
in Sicherheit und Gerechtigkeit existieren, zwei Staaten nen moralisch und politisch zusteht, und man muss ih-
auf der Grundlage der Grenze von 1967, Ostjerusalem nen zeigen, dass wir nicht wegschauen
als Hauptstadt des palästinensischen Staates und eine ge-
rechte, einvernehmliche Lösung der Flüchtlingsfrage. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Tun wir
Dazu gehört ein Sicherheitsabkommen, das die palästi- doch nicht!)
nensische Souveränität respektiert und die Besatzung be- und dass wir nicht wollen, dass neue Gewalt gegen sie
endet. Ein solcher Weg kann dem Terrorismus den Bo- angewandt wird.
den entziehen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
All die gemeinsamen Positionen, die Sie vorgetragen Die Bundesregierung muss sich entsprechend verhal-
haben – die Linke teilt sie –, findet man auch in der Er- ten. Ich denke, die Bundesregierung muss in der Vollver-
klärung, die der britische UN-Vertreter im Weltsicher- sammlung der Vereinten Nationen und im Weltsicher-
(B)
heitsrat im Namen des Vereinigten Königreiches, Frank- heitsrat für die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied (D)
reichs und Deutschlands abgegeben hat. Am Schluss eintreten. Ich sehe die Gespräche des Nahostquartetts,
dieser Erklärung heißt es – das zitiere ich wörtlich –: die ja auch in New York stattfinden, nicht als konkurrie-
rend dazu an. Ich frage mich immer, warum nicht beides
Unser Ziel bleibt eine Vereinbarung über alle Fra- möglich ist und warum Deutschland nicht endlich mit
gen des endgültigen Status und die Begrüßung von anderen europäischen Staaten die Initiative dazu ergreift.
Palästina als Vollmitglied der Vereinten Nationen
im September 2011. Ich wollte, dass das hier ausgesprochen wird, und ich
wollte die Kolleginnen und Kollegen, die in Tel Aviv
Dieser Text der Abstimmungserklärung ist im Februar und in Ramallah demonstriert haben, nicht enttäuschen.
dieses Jahres auch von der Bundesregierung unterschrie- Deswegen habe ich hier von meinem Rederecht Ge-
ben worden. Ich möchte, dass das eingelöst wird, brauch gemacht.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Herzlichen Dank.
Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] und Uwe
Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
dass mit den doppelten Standards Schluss gemacht wird GRÜNEN)
und dass man die Menschen nicht immer wieder ent-
täuscht, indem man über die Probleme hinweggeht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wenn ich mir die Gegenargumente anschaue – ich Ich schließe die Aussprache.
kann nicht alle nennen –, dann erkenne ich: Das sind we-
niger Einreden als vielmehr Ausreden. Ich nenne zwei Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-
Gegenargumente, die ich für besonders bedeutsam halte: kannt, dass eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung der Kollegin Marieluise Beck vor-
Es wird gesagt, der Gang zur UNO sei eine einseitige
liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Handlung der Palästinenser. Der israelische Ministerprä-
sident Netanjahu und sein Außenminister haben gesagt: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
Das könnte dazu führen, dass alle Verträge – einschließ- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
lich des Vertrages von Oslo – hinfällig werden. mit dem Titel „Den Staat Palästina anerkennen“.
Ich frage Sie, wieso der Gang zu den Vereinten Natio-
nen, dem Weltforum, eine einseitige Handlung ist, ob- 1) Anlage 92
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14901
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Antrag der Grünen zu entnehmen. Ich kann zwar jede (C)
lung auf Drucksache 17/7056, den Antrag der Fraktion Bemühung zur Zusammenlegung von Aufgaben in Zeiten
Die Linke auf Drucksache 17/6150 abzulehnen. Wer der Haushaltskonsolidierung verstehen, dieser Vor-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- schlag der Grünen-Fraktion hat damit jedoch nichts zu
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist tun. Keine der Begründungen verfängt bei näherer Be-
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Stimmen trachtung der Materie.
der SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
Der MAD ist kein gewöhnlicher Geheimdienst, der
der Grünen und von Frau Wieczorek-Zeul von der SPD
ohne weiteres in anderen Strukturen aufgehen könnte. Er
angenommen.
hat spezielle Aufgaben, die für den Auftrag der Bundes-
Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Auswärti- wehr maßgeschneidert sind. Er sorgt für die Sicherheit
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD unserer Soldaten im In- und Ausland. Ich muss nieman-
mit dem Titel „Den Nahost-Friedensbemühungen neuen dem in diesem Hohen Hause erklären, dass die Gefähr-
Schwung verleihen“. dungslage unserer Soldaten im Einsatz alles andere als
abstrakt ist. Der MAD ist auf die interne Absicherung
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- der Bundeswehr, und zwar nur der Bundeswehr, spezia-
lung auf Drucksache 17/7057, den Antrag der Fraktion lisiert. Andere Dienste wie der BND haben sicher he-
der SPD auf Drucksache 17/6298 abzulehnen. Wer rausragende Fähigkeiten, hier jedoch keine Kompeten-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- zen.
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen- Den MAD jetzt zur Auflösung herauszugreifen, halte
stimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Linken ich für unsinnig, ja sogar gefährlich für unsere Soldaten.
und der Grünen angenommen. Unsere Soldaten verlassen sich auf die Arbeit des MAD,
der mittels personenbezogener Sicherheitsüberprüfun-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: gen dafür sorgt, dass eine Unterwanderung der Bundes-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wehr verhindert wird. Eine Einsparung des MAD würde
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- die Wahrnehmung dieser Aufgabe ernsthaft gefährden.
tung einer Visa-Warndatei und zur Änderung Es ist zwar richtig, dass aufgrund des Wegfalls der
des Aufenthaltsgesetzes Wehrpflicht dieser Teilauftrag des MAD seit Juli dieses
Jahres weggefallen ist, die wesentlichen und zentralen
– Drucksache 17/6643 – Aufgaben bestehen jedoch unverändert fort. Zum einen
Überweisungsvorschlag: müssen die freiwilligen Bewerber für die Bundeswehr
Innenausschuss (f) auf Extremismusverdacht überprüft werden. Wir wollen
(B) Auswärtiger Ausschuss (D)
Rechtsausschuss
schließlich auch in der Freiwilligenarmee Bundeswehr
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht, dass politische Extremisten Dienst an der Waffe
Ausschuss für Tourismus leisten. Zum anderen bekommt die Abschirmung unserer
Soldaten im Einsatz eine tendenziell größere Bedeutung.
Hierzu ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu neh-
Die jetzige Reform trägt nicht umsonst den Untertitel
men.1)
„Vom Einsatz her denken“.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
Ich kann keine sachliche Begründung erkennen, die
wurfs auf Drucksache 17/6643 an die in der Tagesord-
es erfordern würde, den MAD in anderen Diensten auf-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
gehen zu lassen. Der Wille zum Sparen alleine ist kein
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
hinreichender Grund; denn wir können keine Sicher-
ist die Überweisung so beschlossen.
heitspolitik nach Kassenlage betreiben. Auch würde eine
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Integration in andere Geheimdienste keine großen Ein-
sparungen herbeiführen, da die speziellen Fähigkeiten
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- des MAD erhalten werden müssten. Synergieeffekte wä-
Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), ren nach unserer Einschätzung so kaum zu realisieren.
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es macht aus meiner Sicht daher wenig Sinn, dieses
Einzelthema herauszugreifen, um sich als angeblicher
Militärischen Abschirmdienst einsparen Anwalt des Steuerzahlers zu profilieren. Vielmehr muss
– Drucksache 17/6501 – ein stimmiges Gesamtkonzept erarbeitet werden, wie die
zersplitterten Zuständigkeiten auf dem Feld der inneren
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen Sicherheit sinnvoll zusammengeführt werden können.
werden. Der Wildwuchs im Bereich von unterschiedlichen Lan-
des- und Bundesbehörden muss grundsätzlich angegan-
Bernd Siebert (CDU/CSU): gen werden. Solange hier keine Fortschritte gemacht
Unnötige Doppelstrukturen, zu teure oder fehlende werden, gibt es mit der CDU/CSU keine einseitige Auf-
Kontrolle durch das Parlament sind Vorwürfe, die den lösung eines erfolgreichen Dienstes, der für die Sicher-
MAD treffen sollen. Nichts anderes ist dem vorliegenden heit unserer Soldaten sorgt.
Ich habe ohnehin den Eindruck, dass es der Opposi-
1) Anlage 89 tion bei der gesamten Debatte weniger um eine effiziente
14902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Bernd Siebert
(A) Struktur bei den Geheimdiensten, sondern mehr um das Fall, wenn der MAD als bundeswehreigene Institution (C)
Schüren von Ressentiments gegen Geheimdienste im All- bestehen bleibt.
gemeinen geht. Es ist meiner Meinung nach unverant-
wortlich, gegen die Geheimdienste als solche zu agitie- Daran knüpft sich unmittelbar das Argument der
ren. Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe für die Sicherheit schnellen Verfügbarkeit. Zeitlicher Vorsprung ist in un-
unserer Bürgerinnen und Bürger. Sie sind keine Gefahr serer schnelllebigen Welt eine besonders kritische Res-
für die Bürgerrechte, im Gegenteil. source. Es ist eben doch ein Unterschied, ob ich Fähig-
keiten in meinem eigenen Bereich habe oder ob ich sie
Auch die von interessierten Kreisen immer wieder von außen erbitten muss. Der unmittelbare Zugriff und
verbreiteten Verschwörungstheorien im Zusammenhang die Weisungsgebundenheit sorgen dafür, dass der MAD
mit dem Kunduz-Untersuchungsausschuss wurden nach- unverzüglich handeln kann. Bei einer Vergabe an Dritte
haltig widerlegt. Es gab keine geheime Operation der wird es immer Koordinierungsbedarf geben; im schlech-
Nachrichtendienste in Kunduz. Wenn die Grünen mei- testen Fall sind Kapazitäten nicht oder nicht schnell ge-
nen, dieses Thema einmal mehr mit ihrem Antrag hoch- nug verfügbar. Diese Transaktionskosten müssen bei al-
ziehen zu wollen, ist das sehr durchsichtig. Es gibt keine len Überlegungen zu Einsparungen stets mitbedacht
nebulösen Operationen losgelöst von Kontrolle. Es ist werden. Sie sind umso schwerwiegender, je sicherheits-
deswegen schlicht nicht notwendig, den MAD zur an- relevanter eine Dienstleistung ist. Für mich spricht das
geblich besseren Kontrolle von Verwaltungshandeln auf- deutlich gegen eine unüberlegte Auflösung des MAD.
zugeben.
Unzweifelhaft ist, dass im Zuge der Neuausrichtung
Der vielleicht wichtigste Grund, die Kompetenzen des der Bundeswehr der MAD nicht völlig unangetastet blei-
MAD zu erhalten, sind unsere Bundeswehrangehörigen ben wird. Die Einschnitte beim militärischen wie beim
im Auslandseinsatz. Die Bedrohung in Afghanistan geht zivilen Personal sind derart signifikant, dass sie auch
häufig von Tätern aus, die gezielt Attentate und Selbst- beim MAD zu spüren sein werden. Niemand bezweifelt,
mordanschläge auf Einzelpersonen verüben. Die Bun- dass eine deutlich kleinere Bundeswehr auch die eine
deswehr ist aufgrund der bereits umgesetzten Partne- oder andere Stelle beim MAD kostet. Das heißt aber kei-
ring-Strategie besonders gefährdet. Der Angriff, bei dem nesfalls, dass der MAD generell überflüssig wäre.
General Kneip verwundet wurde und zwei Bundeswehr- Ich bleibe dabei: Eine neue Architektur im Bereich
soldaten gefallen sind, beweist das Potenzial solcher der inneren Sicherheit muss koordiniert errichtet wer-
Aktionen. Auch der folgenschwere Angriff eines afghani- den. Überstürzte Einzelmaßnahmen richten unnötigen
schen Soldaten auf die Bundeswehr bei Baghlan ist Aus- Schaden an und haben zu unterbleiben. Deswegen ist
druck dieser neuartigen Bedrohung. Für die Abwehr meine Empfehlung eindeutig: Dieser Antrag der Grünen
(B) dieser speziellen und besonders perfiden Gefahr benö- (D)
ist abzulehnen.
tigt die Bundeswehr die Fähigkeiten und Erfahrungen
des MAD mehr denn je. Sicherheit im Einsatz ist mehr
als gut geschützte Fahrzeuge und moderne Waffensys- Florian Hahn (CDU/CSU):
teme; sie ist elementar abhängig vom frühzeitigen Er- Eine der ethischen Grundstützen innerhalb unserer
kennen und Aufklären von Gefahren. Dabei leistet der Armee ist das Bewusstsein der Verantwortung gegen-
MAD einen unschätzbaren Beitrag. über der Geschichte. Über ihre Spiegelbildfunktion re-
präsentiert sie unsere mündige und freie Gesellschaft.
Auch die scheinbar zum Kalten Krieg gehörende Be-
drohung der Spionage ist keineswegs Geschichte. Bis Diese Denkweise innerhalb unserer Armee zu si-
heute gibt es immer wieder Versuche, die Bundeswehr chern, ist eine Hauptaufgabe des MAD. Die Sammlung
auszuspähen, und zwar sowohl von innen wie von außen. von Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestre-
In der heutigen Zeit, die mit Vernetzung und Digitalisie- bungen innerhalb der Bundeswehr fällt somit darunter,
rung neue Möglichkeiten eröffnet, dürfen die Gefahren ebenso wie die Aufklärung von sicherheitsgefährdenden
der technischen Revolution für die militärische Geheim- Aktivitäten gegen die Bundeswehr.
haltung einfach nicht unterschätzt werden. Andere Staa-
Der MAD bringt darüber hinaus sein technisches
ten haben erst jüngst Erfahrungen mit dem Ausspähen
Know-How bei der Sicherung von Bundeswehrliegen-
von sensibler Militärtechnik gemacht. Ihr Beispiel sollte
schaften ein und wirkt mit bei der Ausarbeitung und
uns eine Warnung sein. Die Bundeswehr als Hochtech-
Durchführung von Maßnahmen zum Geheimschutz.
nologiearmee, die mit neuestem Gerät ausgestattet ist,
ist besonders interessant für Ausspähversuche aller Art. Um es noch deutlicher zu machen: Der MAD ist es,
Der MAD soll und muss hier agieren können, mit dem der dafür sorgt, dass sich keine Extremisten in der Bun-
speziellen Wissen um Bundeswehrinterna und streitkräf- deswehr ansiedeln, keine Nazis, Islamisten oder sons-
tespezifische Gepflogenheiten. tige Verfassungsfeinde.
Es geht auch um das Thema Verantwortung. Militäri- Diese Aufgaben hat der MAD stets mit großem Erfolg
sche Führer bis hin zum Minister brauchen Berater, die wahrgenommen und hat sich auch in seiner Organisa-
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Organisation die not- tionsform bewährt. Dass er seine Aufgaben stets unauf-
wendige Sachkenntnis mitbringen. Verantwortung kann fällig für die Öffentlichkeit wahrgenommen hat, ist keine
aber nur übernehmen, wer auch die entsprechenden Rechtfertigung für eine Auflösung, liebe Kolleginnen
Mittel zur eigenen Verfügung hat. Dies ist nur dann der und Kollegen der Grünen-Fraktion.
(A) Christoph Schnurr (FDP): Die Fraktion Die Linke hat deswegen bereits in ihrem (C)
Der Militärische Abschirmdienst, abgekürzt: MAD, Bundestagswahlprogramm erklärt, dass sie für eine Auf-
ist einer von drei Geheimdiensten unserer Bundesrepu- lösung der Geheimdienste ist. Folglich begrüßen wir
blik. Das parlamentarische Kontrollgremium ist das Or- den Vorstoß der Grünen, den MAD aufzulösen. Die Ab-
gan, das diesen Nachrichtendienst kontrolliert. Doch es schaffung des MAD kann ein wichtiger Schritt zur Auflö-
ist meiner Meinung die Aufgabe des gesamten Parla- sung aller Geheimdienste sein. Dies wäre ein bedeuten-
mentes, sich Gedanken über die Sicherheitsarchitektur der Sieg für die Demokratie in diesem Land. Wenn
des Bundes zu machen. Das haben wir als FDP-Bundes- zusätzlich in diesem Bereich Steuergelder eingespart
tagsfraktion schon seit längerem intensiv gemacht, und werden, dann ist dies auf jeden Fall sinnvoll. Leider
wir haben unser Positionspapier zur Überführung des schlagen die Grünen jedoch nicht vor, ersatzlos auf den
MAD in das Bundesamt für Verfassungsschutz und die MAD zu verzichten, sondern sie wollen seine Aufgaben
Bundeswehr im Mai dieses Jahres verabschiedet. Die „anderen Sicherheitsbehörden“ zuordnen. Das bedeutet
Grünen fordern dies nun auch in ihrem sehr verkürzten konkret, dass im Inland die Verfassungsschutzbehörden
Antrag, den wir heute hier behandeln. des Bundes und der Länder noch enger mit dem Militär
kooperieren werden. Im Ausland wird dann der Bundes-
Jede Regierung tut nicht nur gut daran, sondern sie
nachrichtendienst noch enger in die Aktionen des Mili-
ist es auch den Bürgern schuldig, die Sicherheitsorgane
tärs involviert sein. Dies wäre eine bedenkliche Ent-
kontinuierlich zu überprüfen. In diesem Fall wollen wir
wicklung.
als Koalition die Prüfung bezüglich der Möglichkeit ei-
ner Aufgabenübertragung vom MAD auf BfV, BND und Gerade bei Auslandseinsätzen mussten wir in den
Bundeswehr. Diesen Auftrag hat die Bundesregierung letzten Jahren feststellen, dass in der Zusammenarbeit
vom Vertrauensgremium erhalten. Auf den Bericht war- zwischen Militär und BND immer mehr unkontrollier-
ten die Kollegen des Vertrauensgremiums sehr gespannt. bare Grauzonen entstanden. Dieses Thema hat uns nun
Auch der Verteidigungsausschuss befasst sich mit der schon in mehreren Untersuchungsausschüssen beschäf-
Materie, weil der MAD zum Geschäftsbereich des BMVg tigt. Ich will an dieser Stelle nur auf die Rolle des BND
gehört. Doch auch wir warten die Feinausplanung der bei dem Bombardement eines Tanklastzuges am Kunduz-
Neuausrichtung der Bundeswehr zunächst ab. Fluss vor etwas mehr als zwei Jahren erinnern. Eine
Entscheidung, die ganz wesentlich von der Task Force 47
Wir wollen uns einen Gesamtüberblick verschaffen. getragen wurde, in der Bundeswehr und BND eng zu-
Wir wollen uns eine ganz nüchterne Betrachtung leisten; sammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit muss beendet
denn die Umverteilung der Aufgaben und Fähigkeiten werden und darf nicht noch institutionell gefestigt wer-
des MAD kann man nicht Hals über Kopf mit einem An- den – was zumindest eine Folge des grünen Antrages
(B) trag bis Ende des Jahres machen, wie es die Grünen for- sein könnte. (D)
dern.
Die Trennung der Aufgaben von Militär und Polizei,
Der Bericht unseres Prüfauftrages liegt gegenwärtig aber auch von Militär und Geheimdiensten sind wich-
noch nicht vor – geschweige denn, dass über diesen in tige Lehren aus dem Dritten Reich. Damit soll die De-
den Ausschüssen beraten wurde. Die FDP-Fraktion mokratie vor möglichen Entwicklungen hin zu einer Dik-
lehnt diesen Antrag daher ab. tatur geschützt werden. Wenn nun die Bundeswehr, der
Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst
Inge Höger (DIE LINKE): eine institutionell zementierte Zusammenarbeit haben,
Medien bezeichnen den Militärischen Abschirm- dann besteht die Gefahr, dass noch weitere unkontrol-
dienst, MAD, immer wieder als den „geheimsten aller lierbare Grauzonen entstehen. Der Antrag der Grünen
Geheimdienste“. Öffentlichkeit und Transparenz sind ist leider nicht mutig genug. Sie schlagen zwar vor, das
für diesen Geheimdienst völlige Fremdworte. Auch beim „Problem MAD“ zu lösen, aber durch die von ihnen vor-
Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst geschlagenen halbherzigen Alternativen schaffen sie
werden diese Tugenden nicht großgeschrieben; aber die neue Probleme. Die Linke wird sich deswegen bei der
Öffentlichkeit hat wenigstens eine vage Ahnung über Abstimmung enthalten und wirbt dafür, zukünftig mutig
ihre Aufgaben. Der MAD ist mit seinen 1 280 Mitarbei- das gesamte Problemfeld Geheimdienste anzugehen.
terinnen und Mitarbeitern der kleinste deutsche Ge-
heimdienst und ist sowohl im Inland als auch im Ausland
aktiv – eben überall dort, wo auch die Bundeswehr ist. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
In seiner bisherigen Geschichte war der MAD immer NEN):
wieder in Skandale verwickelt. Am bekanntesten war die Brauchen wir einen dritten, extra für die Bundeswehr
Kießling-Affäre 1983. Es gab aber auch andere Ab- zuständigen Geheimdienst, also den Bundesnachrich-
höraffären. Weil dubiose Quellen den Bundeswehrgene- tendienst, wirklich? Das ist schon lange fraglich. Für
ral Günter Kießling verdächtigten, schwul zu sein, und die Aufklärung und Informationsbeschaffung im Inland
weil sie dies für ein Sicherheitsrisiko hielten, wurde er zur Abwehr von Spionage, Terrorgefahren oder verfas-
überwacht und ohne Anhörung sowie ohne Prüfung der sungsfeindlichen Bestrebungen war und ist das Bundes-
Vorwürfe in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Dieser amt für Verfassungsschutz zuständig. Für Aufklärung
Skandal ist symptomatisch für die Gefahren, die von Ge- und Informationsbeschaffung im Ausland ist es der Bun-
heimdiensten für eine demokratische Gesellschaft aus- desnachrichtendienst. Nur die Bundeswehr solle von
gehen. den Bemühungen dieser beiden Geheimdienste weitge-
Hans-Christian Ströbele
(A) Haushaltsausschusses des Bundestages 2010 für die anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann (C)
Einsparung des MAD ausgesprochen. Und im Mai 2011 ist die Überweisung so beschlossen.
hat sogar die Bundesjustizministerin zutreffend festge-
stellt: „Die Verteilung der nachrichtendienstlichen Tä- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
tigkeit des Bundes auf drei verschiedene Dienste führt zu Beratung des Antrags der Abgeordneten
überflüssigen Doppelstrukturen, darauf beruhender In- Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, Matthias W.
transparenz und zu der Gefahr doppelter Grundrechts- Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
eingriffe“. Treffender hätte ich es kaum formulieren kön- tion DIE LINKE
nen.
Erforderliche Bewilligungen von Mutter-/Vater-
Daher fordere ich Sie auf, den Stimmen auch aus Re- Kind-Maßnahmen gewährleisten
gierung und Koalition zu folgen und den MAD abzu-
schaffen. – Drucksache 17/6493 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Haushaltsausschuss
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6501
mit dem Titel „Militärischen Abschirmdienst einsparen“. Die Reden gehen zu Protokoll.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Rudolf Henke (CDU/CSU):
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Eltern-Kind-Maßnahmen sind ein sinnvolles und
wichtiges Element für eine erfolgreiche gesundheitliche
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Prävention und Rehabilitation von Müttern und Vätern,
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- die aufgrund hoher Mehrfachbelastungen physisch und
bung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung psychisch beeinträchtigt sind.
von Kinderpornographie in Kommunikations-
netzen Kindererziehung, Beruf und Haushalt managen, das
ist das Alltagsgeschäft vieler Eltern/Alleinerziehender.
– Drucksache 17/6644 – Erschwert wird die familiäre Situation, wenn finanzielle
Überweisungsvorschlag: Sorgen, Partnerschaftsprobleme oder die Pflege eines
Rechtsausschuss (f) Angehörigen hinzukommen. Die steigenden Belastungen
Innenausschuss und Erwartungen werden zu Belastungen, die die Ge-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sundheit beeinträchtigen können und krank machen. Er- (D)
Ausschuss für Kultur und Medien schöpfungszustände, Unruhe, Nervosität, Angst, Schlaf-
störungen, Allergien, Magen-Darm-Störungen, Herz-
Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll genommen Kreislauf-Störungen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen
werden.1) sind typische Beispiele für Gesundheitsprobleme von
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Müttern und Vätern in derartigen Situationen. Wenn die
wurfs auf Drucksache 17/6644 an die in der Tagesord- ersten Signale von Körper und Seele ignoriert werden,
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weil Eltern weiter für die Familie funktionieren wollen,
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann können aus Störungen Krankheiten werden, die intensi-
ist das so beschlossen. ver Behandlung bedürfen. Um diesen Kreislauf mög-
lichst früh zu unterbrechen und den betroffenen Fami-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: lien zu helfen, sind Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen seit
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ 2007 Pflichtleistungen der GKV.
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde
Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatz- festgelegt, dass von den gesetzlichen Krankenkassen ne-
steuergesetzes ben den bereits erfassten Daten zu Fallzahlen und Aus-
– Drucksache 17/7020 – gaben erstmals für das Jahr 2008 auch Daten zur An-
Überweisungsvorschlag: trags- und Bewilligungspraxis von Vorsorge- und
Finanzausschuss (f) Rehabilitationsmaßnahmen zu erheben sind. Die Ermitt-
Rechtsausschuss lung des Antrags- und Bewilligungsgeschehens der ge-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie setzlichen Krankenkassen von Mutter-/Vater-Kind-Ku-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ren hat ergeben, dass in den Jahren 2007 und 2008
sowohl die Zahl der Kuren als auch die Ausgaben der
Die Reden gehen zu Protokoll.2) gesetzlichen Krankenkassen angestiegen sind. In den
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Folgejahren waren die Ausgaben hingegen rückläufig.
wurfs auf Drucksache 17/7020 an die in der Tagesord- Sie gingen im Jahr 2009 um 6,01 Prozent gegenüber
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dem Vorjahr zurück, im Jahr 2010 sanken sie wiederum
um 9,22 Prozent jeweils im Vergleich zum Vorjahr.
1) Anlage 90 Auch der Bericht des Bundesrechnungshofes hat dazu
2) Anlage 91 beigetragen, dass die Ungereimtheiten in der Bewilli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14907
Rudolf Henke
(A) gungspraxis der Leistungsträger zutage gefördert wur- Im Bereich Prävention und Rehabilitation gibt es eine (C)
den. In diesem Bericht wird unter anderem eine fehlende Vielzahl von Maßnahmen, die erkrankte Menschen und
Transparenz in der Bewilligungs- und Ablehnungspraxis Menschen mit Behinderungen dabei unterstützen sollen,
der Anträge von Mutter-/Vater-Kind-Kuren bemängelt. ihren Alltag besser bewältigen zu können, in das Berufs-
Obwohl für alle gesetzlichen Krankenkassen die glei- leben wieder eingegliedert zu werden oder etwa die
chen rechtlichen Voraussetzungen gelten, weichen die Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Union hat sich in
Entscheidungen der einzelnen Kassen bisweilen sehr den letzten Jahren für viele dieser Maßnahmen und ge-
deutlich voneinander ab. setzlichen Regelungen eingesetzt.
Darüber hinaus wird vom Bundesrechnungshof da- In der Praxis zeigt sich jedoch, dass oftmals diese An-
rauf verwiesen, dass Krankenkassen in der Praxis Kur- sprüche zu spät, nur zum Teil oder gar nicht umgesetzt
anträge mit dem Hinweis auf ambulante Angebote ab- werden. Noch immer werden Menschen mit Behinderun-
lehnen. Der Gesetzgeber hat im Falle der Eltern-Kind- gen und chronisch Kranke bei der Suche nach den zu-
Kuren festgelegt, dass nicht alle ambulanten Maßnah- ständigen Kostenträgern entgegen geltender Rechtslage
men ausgeschöpft sein müssen, um einen entsprechen- von einer Stelle zur anderen weitergereicht, ohne die für
den Kurantrag zu bewilligen. Diese Entwicklung ist sie erforderlichen Leistungen zu bekommen. Fristen für
nicht nachvollziehbar und unbefriedigend. Daher hat die Bearbeitung eines Antrags werden nicht eingehalten,
der Ausschuss für Gesundheit als Konsequenz einen unterschiedliche Leistungen nicht koordiniert. Die soge-
Entschließungsantrag beschlossen, der mit Ausnahme nannten Gemeinsamen Servicestellen, deren Aufgabe
der Linken von allen Fraktionen mitgetragen wird. Mit die Beratung und Unterstützung bei der Antragsstellung
dem Beschluss setzen wir uns dafür ein, dass der GKV- ist, sind häufig nicht oder nur wenig bekannt. Zudem
Spitzenverband und der Medizinische Dienst des GKV- können sie in vielen Fällen ihre Aufgaben aufgrund feh-
Spitzenverbandes bis spätestens Ende 2011 folgende lender Ressourcen und Kompetenz nicht zweckmäßig er-
Vorkehrungen zu treffen haben: füllen.
Die Begutachtungsrichtlinie Vorsorge und Rehabili- Unsere Aufgabe ist es, auch über die Mutter-/Vater-
tation ist zu überarbeiten. Die Antragsvordrucke sind zu Kind-Maßnahmen hinaus darauf zu achten, dass diese
verbessern und zu vereinheitlichen. Missstände behoben werden.
Erwin Rüddel
(A) Ausgaben der GKV, der sich im Jahr 2010 sogar noch Mit unserem vorliegenden Antrag stärken wir die (C)
verstärkt hat. Rechte von Müttern und Vätern, die einen Anspruch ha-
ben auf die vom Gesetz gewollte Gesundheitsversor-
Das ist eine Entwicklung, die uns mit Blick auf die gung. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aufgefor-
Bedeutung der Mutter-/Vater-Kind-Kuren Sorgen macht, dert, ihre bisherige Praxis zügig zu überprüfen, damit
zumal es deutliche Hinweise darauf gibt, dass dieser die notwendigen Maßnahmen künftig zeitnah und un-
Rückgang ursächlich mit der Bewilligungspraxis der ge- bürokratisch bearbeitet und bewilligt werden können.
setzlichen Krankenkassen zusammenhängt. Mit einem Wort: Wir erwarten, dass dem Willen des Ge-
setzgebers Genüge getan wird.
Tatsache ist jedenfalls, dass uns aus allen Himmels-
richtungen Klagen und Beschwerden über die Genehmi-
gungspraxis erreichen. Das Müttergenesungswerk und Steffen-Claudio Lemme (SPD):
die Caritas berichten beispielsweise von stetig steigen- Die Sachlage in dieser Debatte zum Antrag der Frak-
den Ablehnungsquoten, von fadenscheinigen Begrün- tion Die Linke ist für uns Sozialdemokraten eindeutig.
dungen und groben Verfahrensmängeln; von Müttern, Denn wir waren es, die im Rahmen des GKV-Wettbe-
denen schon drei-, vier-, fünfmal die Kur verweigert werbsstärkungsgesetzes im Jahr 2007 unter Federfüh-
wurde, wobei oftmals nur falsche Formulierungen in rung von Ulla Schmidt dafür gesorgt haben, dass Mut-
den Anträgen als Begründung für abschlägige Be- ter-/Vater-Kind-Maßnahmen von Ermessensleistungen
scheide dienen mussten. zu Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversiche-
rung wurden, und das aus gutem Grund. Wir sind
In einigen Regionen ist zuletzt fast jeder dritte Antrag schließlich grundsätzlich der Überzeugung, dass beson-
abgelehnt worden, anderswo lehnen manche Kassen ders jene in der Gesellschaft unseres Schutzes und unse-
über 50 Prozent der Anträge ab. Der Verdacht drängt rer besonderen Förderung bedürfen, die Großes leisten.
sich förmlich auf, dass hier eine willkürliche Praxis am Die Erziehung von Kindern gehört zu eben jenen anzu-
Werke ist, die nichts mit dem Buchstaben des Gesetzes zu erkennenden und herausragenden Lebensleistungen.
tun hat – eine Praxis, die leider das Prädikat „familien-
feindlich“ verdient. Halten wir fest: Es geht hier in erster Linie um die be-
troffenen Mütter und Väter. Sie können im Rahmen be-
Dabei sollten sich doch alle Beteiligten über den sagter Maßnahmen die notwendige Energie, Kraft und
Grundsatz einig sein, dass Vorsorge besser ist als Nach- Ausgeglichenheit wiederfinden, damit ein harmonisches
sorge. Es kann daher nicht angehen, dass Mütter und Zusammenleben in der Familie auch in Zukunft weiter
Väter zu Bittstellern werden müssen, wenn es um den Er- bzw. wieder möglich ist. Deshalb haben wir als SPD
halt ihrer Gesundheit geht. Auch der Bericht, den der während unserer Regierungsverantwortung auch die
(B)
Bundesrechnungshof in dieser Angelegenheit zwischen- Bedeutung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen als ein (D)
zeitlich dem Haushaltsausschuss vorgelegt hat, spricht überaus wichtiges Teilelement einer umfassenden Stra-
eine deutliche Sprache. Wir haben uns in den zuständi- tegie von Prävention und Rehabilitation unterstrichen.
gen Ausschüssen wiederholt mit diesen Erkenntnissen Es ist uns wichtig, dass diese Leistungen die Men-
beschäftigen müssen. schen erreichen, die sie benötigen. Um die Entwicklun-
Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass sich so- gen des Leistungsgeschehens beobachten zu können, ha-
wohl das federführende Bundesministerium für Gesund- ben wir die Krankenkassen mit der Umwandlung der
heit wie auch das Bundesministerium für Familie, Se- Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen in Pflichtleistungen
nioren, Frauen und Jugend der Problematik angenom- auch zur jährlichen Erhebung von Daten über die An-
men haben und gegenüber den Krankenkassen, dem tragsentwicklung und die Bewilligungspraxis gesetzlich
GKV-Spitzenverband sowie seinem Medizinischen Dienst verpflichtet. Nach Auswertung der aktuellen Zahlen
auf eine angemessene Entwicklung der Mutter-/Vater- können wir alles andere als zufrieden sein. Die Bewilli-
Kind-Maßnahmen drängen. gungspraxis der Krankenkassen weist erhebliche Defi-
zite auf.
Wir alle erwarten nunmehr von den Krankenkassen, Die Entscheidungsgrundlagen für die Bewilligung
dass diese ihre Bewilligungspraxis überprüfen und ins- von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen sind für die Kran-
besondere für transparente Begutachtungen und nach- kenkassen nicht einheitlich geregelt. Es gibt keine ein-
vollziehbare Entscheidungen sorgen. Missverständliche heitlichen Antragsvordrucke und die Entscheidungen
Antragsvordrucke und fehlende Rechtshilfebelehrungen sind oft nicht oder nur schwer nachvollziehbar begrün-
müssen der Vergangenheit angehören. Menschen, die det. Auch der Bundesrechnungshof hat diese Defizite in
nach dem Willen des Gesetzgebers Ansprüche auf seinem Prüfbericht deutlich aufgezeigt. Hier muss sich
Pflichtleistungen haben, dürfen nicht länger leer ausge- schnellstens etwas ändern.
hen. Die Kassen sind verpflichtet, in jedem Einzelfall
und bei jeder Untersuchung eine individuell nachvoll- Wir haben deshalb – gemeinsam mit den Unionsfrak-
ziehbare und begründete Entscheidung vorzulegen. Wir tionen, den Liberalen und Bündnis 90/Die Grünen – den
erwarten, dass jetzt möglichst umgehend die richtigen GKV-Spitzenverband und den Medizinischen Dienst des
Konsequenzen aus den umfangreichen Beratungen hier GKV-Spitzenverbandes aufgefordert, bis spätestens zum
im Hause gezogen werden und dass dem Gesundheits- Jahresende für ein transparentes Bewilligungsverfahren
ausschuss alsbald ein entsprechender Bericht erstattet bei Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen zu sorgen. Das
wird. schließt die Überarbeitung der „Begutachtungs-Richt-
Wir alle gehen davon aus, dass Vorsorge- und Reha- Die Reden sollen zu Protokoll gehen.
bilitationsleistungen nach den §§ 24 und 41 SGB wich-
tige Elemente für eine erfolgreiche Prävention und Re- Max Straubinger (CDU/CSU):
habilitation sind. Wenn man diese Annahme belegen will
Bei der Mehrheit der Änderungen durch das vorlie-
und sich auf die Suche nach unabhängigen Studien
gende Gesetzesvorhaben handelt es sich um technische
macht, wird man kaum fündig. Der Forschungsverbund
Aspekte und um Vorgaben aus dem Europarecht. In den
Familiengesundheit – ein Zusammenschluss von Mutter-/
Sozialgesetzbüchern und im Sozialgerichtsgesetz wird
Vater-Kind-Kliniken und einem wissenschaftlichen Team eine Vielzahl von Regelungen geändert oder angepasst,
der Medizinischen Hochschule Hannover – forscht seit um die Verfahren effizienter zu gestalten. Zusätzlich
einigen Jahren praxisbezogen. Diese Ergebnisse lassen wird eine Reihe von Einzelfragen der Sozialversiche-
auf Verbesserungen des Gesundheitszustandes und der rung geklärt. Ich will die entscheidenden Punkte heraus-
Erziehungskompetenz schließen. Gleichzeitig weist greifen.
dieser Zusammenschluss auf das weite Feld offener For-
schungsfragen hin. Genannt werden: aktuelle Daten in Für Ehrenbeamte – zum Beispiel ehrenamtliche Bür-
Bezug auf Belastungen, Beschwerden und Langzeitef- germeister, Ortsvorsteher –, die eine Aufwandsentschä-
fekte bei Müttern und Kindern, die gesundheitliche Situ- digung und eine vor der Regelaltersgrenze beginnende
ation der Väter in Vater-Kind-Maßnahmen, indikations- Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten und
spezifische Effektmessung, Unterscheidung zwischen von der bisherigen Auslegung des Rechts begünstigt wa-
Vorsorge und Rehabilitation, zielgruppenspezifischer ren, wird bei der Berücksichtigung der Aufwandsent-
Bedarf, zum Beispiel Mütter mit Migrationshintergrund, schädigung als Hinzuverdienst eine fünfjährige Über-
sowie die Effizienz von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen. gangsregelung geschaffen.
14912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Max Straubinger
(A) Rentenbezieher erhalten bisher jährlich eine Mittei- Für die Zeit im Eingangsverfahren und im Berufsbil- (C)
lung über die Anpassung der Leistungen aus der gesetz- dungsbereich ist die Berufsfindung und Berufsausbil-
lichen Rentenversicherung. Dies ist bei Änderungen der dung auch bei von Geburt an behinderten Menschen
Höhe des aktuellen Rentenwerts notwendig, da sich Aufgabe der BA. Dies ist nicht anders als bei anderen
diese Änderung individuell unterschiedlich auf die Ren- Rehabilitanten, unabhängig davon, ob diese von Geburt
tenhöhe auswirkt. Die Anpassungsmitteilung gibt Aus- an oder später behinderte Menschen werden. Bleiben
kunft über den künftig an Rentnerinnen und Rentner diese Personen in der Werkstatt für behinderte Men-
auszuzahlenden Betrag. Entspricht hingegen der auf- schen, so übernimmt wieder der Bund die Erstattung der
grund der Anpassungsformel ermittelte neue aktuelle Beiträge, soweit sie nicht als Arbeitsentgelt beitragspfli-
Rentenwert betragsmäßig dem bisherigen aktuellen chtig sind. Im Jahr 2008 und 2009 gab es je etwa 24 000
Rentenwert, verändert sich die Rentenhöhe nicht und Förderfälle im Zuständigkeitsbereich der BA, circa
eine Anpassungsmitteilung ist entbehrlich. Deshalb wird 6 000 Förderfälle bei der Deutschen Rentenver-
in diesem Fall künftig auf den Versand verzichtet. Das sicherung Bund.
hat zuletzt Kosten von 10 Millionen Euro verursacht, ob-
wohl die Rentnerinnen und Rentner über die Medien in- Abschließend will ich auf die zwischen Bundesge-
formiert sind. sundheitsministerium und Verband der privaten Kran-
kenversicherung getroffene Vereinbarung eingehen,
Die Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen nach der privat versicherten Empfängern von Leistun-
Studiengängen soll einheitlich für alle dualen Studien- gen der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Bei-
gänge und für die gesamte Dauer des Studiengangs ge- tragsschulden erlassen werden sollen. Die Regelung soll
regelt werden. in den Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf mit
aufgenommen werden.
Im Beitrags- und Meldeverfahren zur Sozialversiche-
rung sollen weitere Vereinfachungen für die Arbeitgeber Zum Hintergrund kurz Folgendes: Seit 2009 gilt auch
eingeführt werden. Die Verfahrensvereinfachungen ge- für die PKV Versicherungspflicht. Für privat versicherte
hen auf Vorschläge aus der Praxis sowohl vonseiten der Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Ar-
Arbeitgeber als auch vonseiten der Sozialversicherungs- beitsuchende zahlten die Jobcenter seither den im Ver-
träger zurück. gleich zum Basistarif geringeren Satz für gesetzlich Ver-
sicherte. Zu Beginn dieses Jahres entschied das
Es wird klargestellt, dass eine Erstattungspflicht des Bundessozialgericht, dass der PKV-Beitrag voll finan-
Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger ziert werden muss. Die Frage, wer die bis dahin aufge-
der Einrichtungen nur für die im Arbeitsbereich einer laufenen Beitragsschulden säumiger Bedürftiger über-
(B) anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen nimmt, war bislang offen. (D)
besteht. Im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer
anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen besteht Ich begrüße die nunmehr gefundene Lösung außeror-
grundsätzlich keine Erstattungspflicht des Bundes. Mit dentlich, nach der die privaten Krankenkassen säumi-
der beabsichtigten Änderung der Regelung über die Er- gen Bedürftigen im Basistarif ihre Beitragsschulden er-
stattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbei- lassen wollen. Ein langwieriger politischer Streit ist
träge behinderter Menschen in anerkannten Werkstätten endlich beigelegt. Mehrere Tausend bedürftige privat
für behinderte Menschen sollen die Kosten für die ren- Versicherte können endlich aufatmen; sie sind nicht
tenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und Berufs- mehr mit Beitragszahlungsforderungen konfrontiert. Es
bildungsbereich tätigen behinderten Menschen rück- wird sichergestellt, dass privat krankenversicherte Be-
wirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozialver- zieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II von
sicherungsträger übergehen. den Kosten für eine angemessene Kranken- und Pflege-
versicherung entlastet werden.
Diese Änderung betrifft weder die behinderten Men-
schen selbst noch die Werkstätten für behinderte Men- Die lautgewordene Kritik an der künftigen Direkt-
schen. Es geht allein um einen Erstattungsmodus zwi- überweisung der Beiträge durch die Jobcenter ist nicht
schen den betroffenen Sozialversicherungsträgern und nachvollziehbar: Es geht nicht darum, Arbeitsuchende
dem Bund. Auch wenn bis 2007 anders verfahren wurde, gegenüber der Versicherung bloßzustellen. Vielmehr
gibt es keinen Grund, diese seinerzeitige fehlerhafte werden die fristgerechte Beitragszahlung und damit die
Praxis beizubehalten. dauerhafte Aufrechterhaltung des vollen Versicherungs-
schutzes gewährleistet. Auch die Beitragszahlung von
Etwa 4,4 Prozent der schwerbehinderten Menschen gesetzlich krankenversicherten Arbeitsuchenden wird
sind von Geburt an behindert. Sofern diese Behinderung unmittelbar mit dem Versicherer abgewickelt.
dazu führt, dass sie nur in einer WfbM tätig sein können,
ist im Regelfall die Bundesagentur für Arbeit
zuständiger Leistungserbringer. Sie hat einzutreten, Ottmar Schreiner (SPD):
wenn kein anderer Träger der Rehabilitation zuständig Der Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur
ist, also in der Hauptsache dann, wenn der behinderte Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch birgt so-
Mensch nach Beendigung der Schulzeit zur beruflichen zial- und arbeitsmarktpolitischen Sprengstoff. So harm-
Ersteingliederung in das Arbeitsleben in die Werkstatt los der Titel klingt, so schwerwiegend sind zum Teil die
eintritt. geplanten Änderungen darin.
Ottmar Schreiner
(A) sellschaft zur Finanzierung von gesamtgesellschaftli- belastung der Wirtschaft um 22 Prozent deutlich gerin- (C)
chen Aufgaben herangezogen. ger als noch 2006. Die Bundesregierung arbeitet mit
Hochdruck daran, das Ziel zu erreichen, die Bürokratie-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
kosten bis Ende dieses Jahres um ein Viertel zu verrin-
gern. Dazu werden weitere Maßnahmen zur Entlastung
Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland ist der Wirtschaft von Bürokratiekosten verwirklicht.
sehr positiv. Wir sind besser als jedes andere Land in
Europa durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekom- Einen Beitrag leistet der vorliegende Gesetzentwurf.
men. Die jetzige starke Konjunktur wollen wir durch Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Rege-
weitere Entlastungen unterstützen. Angesichts des Ziels lungen, die zum Bürokratieabbau, zu mehr Praxisnähe
der Bundesregierung und der Koalitionspartner, die und zu mehr Effizienz in der Sozialpolitik beitragen.
Haushaltskonsolidierung weiter voranzutreiben, bietet Dazu gehören die Entlastung von Kleinst- und Kleinun-
sich hier eine gute Möglichkeit, diese Ziele zu verbin- ternehmen durch die freiwillige Teilnahme an der elek-
den: durch Bürokratieabbau, durch Effizienzsteigerung, tronischen Betriebsprüfung, die Reduzierung von Mel-
durch praxisnahe Erleichterungen. dekopien für Unfallversicherungsmeldungen, die
Korrekturen bei der Gewährung von Zuschlägen zur
Unter dem Titel „Fünf Jahre Bürokratieabbau – Der
Witwenrente und der Vorschriften zum Rentensplitting
Weg nach vorn“ wurde gestern der Jahresbericht 2011
sowie die Befreiung der sogenannten „BIWAQ“-Be-
des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) vorgestellt.
schäftigungen von der Versicherungspflicht zur Arbeits-
Diese Bundesregierung hat den Bürokratieabbau zu förderung. Diese vorgeschlagenen Gesetzesänderungen
einem eigenständigen Politikziel erklärt; denn Bürokra- entlasten die Sozialversicherungen und erleichtern die
tie soll die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum Betriebspraxis. Dies begrüßen wir sehr.
und den Aufschwung nicht bremsen. Der Nationale Nor-
menkontrollrat ist ein wichtiger Partner beim Bürokra- Dazu gehört aber auch, dass wir Vorschläge der Jus-
tieabbau. Er nahm vor rund fünf Jahren seine Arbeit auf. tiz-, Arbeits- und Sozialminister der Länder aufgreifen,
Der NKR hat die gesetzliche Aufgabe, den Gesetzgeber um der stetig steigenden Zahl von Verfahren vor den So-
auf den Gebieten des Bürokratieabbaus und der besse- zialgerichten besser begegnen zu können. Eine funktio-
ren Rechtssetzung zu unterstützen. Schwerpunkte sind nierende Sozialgerichtsbarkeit ist der Grundstein des
die Vermeidung neuer und die Reduzierung bestehender Vertrauens der Bürger in unseren Rechts- und Sozial-
Bürokratiekosten. Schon wenn neue Gesetze vorbereitet staat. Deshalb ist es auch hier wichtig, effizient zu arbei-
werden, überprüft der NKR, wie viel Aufwand und Ar- ten, ohne das Gerichtssystem durch Kürzungen zu belas-
beit bei denen, die die Vorschriften befolgen müssen, ten.
(B) entsteht. (D)
Praxisnähe zeigt auch die Klarstellung des Zuschuss-
Das schwarz-gelbe Regierungsprogramm „Bürokra- charakters der Arbeitgeberzahlung an berufsständische
tieabbau und bessere Rechtssetzung“ hat sich für die Versorgungswerke, damit die bewährte Beitragseinzugs-
deutsche Wirtschaft bereits jetzt ausgezahlt. Dank redu- praxis der Versorgungswerke beibehalten werden kann.
zierter bürokratischer Vorschriften haben vor allem mit- Die FDP-Bundestagsfraktion sieht an der einen oder
telständische Unternehmen in den vergangenen fünf anderen Stelle noch Klärungsbedarf, aber genau dazu
Jahren 10,5 Milliarden Euro pro Jahr eingespart. diskutieren wir das Gesetz und mögliche Änderungen ja
Keine vergleichbare Initiative war bisher so erfolg- hier im Plenum und im Ausschuss für Arbeit und Sozia-
reich wie dieses Programm. Mehr als 400 bereits auf les. Etwa bei der Erstattungspflicht für Rentenversiche-
den Weg gebrachte Maßnahmen haben insbesondere im rungsbeiträge an die Träger für anerkannte Werkstätten
Mittelstand und bei selbstständigen Freiberuflern ge- für behinderte Menschen bevorzugt unsere Fraktion
zielt Bremsen gelöst und die selbstbestimmte Lebensfüh- eine andere Regelung als der hier vorliegende Gesetz-
rung jedes Einzelnen gestärkt. Dies ist der klugen und entwurf. Hier sehen wir uns im Einklang unter anderem
mittelstandsfreundlichen Politik von FDP und CDU/ mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesländern.
CSU geschuldet.
Auch bei der Schaffung einer einheitlichen Regelung
Die Regierungskoalition hat den Normenkontrollrat der Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen
als zentrale Institution für Bürokratieabbau und bessere Studiengängen und der Verlängerung des Moratoriums
Rechtssetzung gestärkt. Der enge Begriff der Bürokra- über die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger
tiekosten wurde ausgeweitet auf den gesamten messba- für rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentli-
ren Zeitaufwand und die Kosten, die bei Bürgern, in der chen Hand sehen wir Liberale noch Diskussionsbedarf.
Wirtschaft und in der Verwaltung entstehen. Mit der No- Auch diese Fragen werden wir in Rücksprache mit den
vellierung des Normenkontrollrates haben wir die Inte- Betroffenen klären.
ressen des Mittelstandes maßgeblich gestärkt.
So oder so beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf
Noch vor fünf Jahren mussten Unternehmen in eine Summe von Einzelregelungen, die eine klare Ten-
Deutschland jährlich rund 50 Milliarden Euro für amtli- denz aufweisen und unter dem Strich einen spürbaren
che Nachweise, Antragsformulare, das Ablegen von Beitrag zur Reformpolitik dieser Bundesregierung und
Rechnungen und andere bürokratische Arbeiten aufwen- der sie tragenden Fraktionen sind. Daher freue ich mich
den. Schon bis Mitte 2011 war die jährliche Bürokratie- auf spannende Debatten.
(A) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Schwarz-Gelb aber nur eines: Die Wahrheit verschwei- (C)
Mit dem vorliegen Gesetzentwurf will die Bundesre- gen. Das nenne ich feige.
gierung eine ganze Reihe von Änderungen verschiede-
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen dritten
ner Gesetze durchsetzen. Wir haben es hier mit einem
Aspekt herausgreifen. Die Bundesregierung nimmt mit
sogenannten Omnibus-Gesetz zu tun: Aus nahezu jedem
ihrem Gesetzentwurf verschiedene Vorschläge zur Ent-
Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts ist etwas dabei.
lastung der Sozialgerichtsbarkeit auf. Dagegen ist zu-
Deswegen muss und will ich mich nur auf einige wenige
nächst einmal nichts einzuwenden. Aber auch hier müs-
Aspekte konzentrieren.
sen wir genauer hinsehen. Denn die eigentlich
Der politisch und finanziell bedeutsamste Aspekt des entscheidenden Punkte für die zahlreichen Verfahren lie-
Gesetzentwurfs ist die Verlagerung von Kosten des Bun- gen nicht in den Bestimmungen des Sozialgerichtsgeset-
des auf die Bundesagentur für Arbeit und auf die Deut- zes, sondern in einem Gesetz, das Armut und soziale
sche Rentenversicherung – also letztendlich auf all jene, Ausgrenzung verursacht, nicht verfassungskonform und
die die Bundesagentur und die Rentenversicherung außerdem handwerklicher Pfusch ist. Darüber hinaus
durch ihre Beiträge finanzieren. Bereits im Mai dieses werden massenhaft rechtswidrige Bescheide ausgestellt.
Jahres war in den Zeitungen zu lesen – „FAZ“ vom Wer die Sozialgerichte und ganz besonders auch die
22. Mai 2011 –, dass die Bundesregierung plane, die Hartz-IV-Betroffenen entlasten will, muss dafür sorgen,
Beiträge für die Rentenversicherung für Menschen mit dass Hartz IV grundlegend überwunden wird. Erste not-
Behinderung, die im Eingangsverfahren oder im Berufs- wendige Schritte wären insbesondere die Streichung von
bildungsbereich von Werkstätten für behinderte Men- Sanktionen in der Grundsicherung. Das entlastet die
schen tätig sind, nicht mehr vom Bund, sondern von den Gerichte und schützt die Leistungsberechtigten vor exis-
Rehabilitationsträgern DRV und BA an die Träger der tenziellen Gefährdungen.
Werkstätten erstatten zu lassen. Diese Neuregelung solle
sogar rückwirkend geltend, hieß es. Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält vieles, aber
nicht unbedingt das Richtige. Die Bundesregierung
Das Bayerische Landessozialgericht hat hingegen greift selbst bescheidene Reformvorschläge wie den der
mit Urteil vom 25. Februar 2010 entschieden, dass es gemeinsamen Kommission der Justizministerkonferenz
für die Abwälzung der Beitragserstattung vom Bund auf und Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur materiel-
die Deutsche Rentenversicherung und die BA, also ge- len Reform des SGB II nicht auf. Dazu zählt zum Beispiel
nau genommen auf die Beitragszahlerinnen und Bei- die Einschränkung der Sanktionsregeln bei den unter
tragszahler, rechtlich keinen Raum gebe. Der Chef der 25-Jährigen. Vielmehr verschärfen Union und FDP die
BA hat sich – auch gegenüber dem Ausschuss für Arbeit Sanktionspraxis durch die aktuelle Gesetzgebung sogar
(B) und Soziales – empört über diese Planung gezeigt. Ganz noch. Das ist typisch Schwarz-Gelb – das muss weg. (D)
zu Recht – findet die Linke. Denn hier werden die Kosten
gesamtgesellschaftlicher Aufgaben einfach auf die Bei- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tragszahlerinnen und Beitragszahler abgewälzt.
Das IV. Buch Sozialgesetzbuch beschreibt die
Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu gemeinsamen Vorschriften aller Zweige der Sozialver-
lassen: Uns Linken geht es gar nicht darum, dass hier sicherung. Hierzu gehören die Gesetzliche Krankenver-
Beiträge geleistet werden sollen. Ganz unbedingt soll das sicherung – SGB V –, die Gesetzliche Unfallversiche-
geschehen. Es handelt sich hier insofern um einen weite- rung – SGB VII –, die Gesetzliche Rentenversicherung
ren Griff in die Kassen der Sozialversicherungen – insbe- – SGB VI –, einschließlich der Alterssicherung der
sondere der BA –, um den Bundeshaushalt zu entlasten. Landwirte, und die Soziale Pflegeversicherung
Uns Linken geht es darum, klarzumachen, dass gesamt- – SGB XI. – Eingeschränkt gelten die Regelungen auch
gesellschaftliche Aufgaben auch von der gesamten Ge- für den Bereich der Arbeitsförderung, SGB III, teilweise
sellschaft bezahlt werden müssen. auch für die Grundsicherung für Arbeitssuchende
– SGB II –, sowie die Sozialhilfe, SGB XII.
Im Zusammenhang mit der Rente gibt es einen weite-
ren, auf den ersten Blick unscheinbaren, aber bei ge- Die schwarz-gelbe Bundesregierung verbindet mit
nauer Betrachtung bemerkenswerten Aspekt: Immer im dem vorgelegten Gesetzentwurf unter anderem das Ziel,
Juli eines jeden Jahres wird die Rente angepasst. In den die Sozialverwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren effi-
vergangenen Jahren ist da nicht viel hinzugekommen – zienter zu gestalten, Vereinfachungen für Arbeitgeber
im Gegenteil: Die Rentnerinnen und Rentner haben einzuführen sowie die Kosten des Bundeshaushaltes zu-
Nullrunden hinnehmen müssen, die in ihren Geldbörsen lasten einiger Sozialversicherungsträger zu entlasten.
als Minusrunden ankamen. Denn wenn die Preise stei- Während viele Änderungen durchaus sinnvoll sind, gilt
gen, aber kein Geld hinzukommt, haben die Betroffenen es, im nun folgenden parlamentarischen Beratungspro-
weniger zum Leben. Die Rentenversicherung soll künf- zess einige Punkte kritisch unter die Lupe zu nehmen.
tig auf den Versand einer Anpassungsmitteilung ver- Schon im Vorfeld ging der Gesetzentwurf mit der Bitte
zichten, wenn sich der aktuelle Rentenwert nicht verän- um eine Stellungnahme in den Bundesrat. Sowohl die
dert hat. Offenbar ist die Mitteilung über die Anpassung Ausschüsse für Arbeit und Sozialpolitik, der Ausschuss
der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversiche- für Innere Angelegenheiten und der Rechtsausschuss,
rung um null Euro der Regierung zu peinlich. Vorder- als auch der Deutsche Richterbund, DRB, sowie der
gründig argumentiert Schwarz-Gelb mit den Verwal- Deutsche Gewerkschaftsbund, DGB, zusammen mit der
tungskosten von 10 Millionen Euro. Tatsächlich will Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-
Markus Kurth
(A) bände, BDA, haben ihre teils kritischen Stellungnahmen Bundesregierung ihrer Logik aus dem Rechtskreis des (C)
abgegeben. SGB II. Auch dort werden pauschale Aufwandsentschä-
digungen oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euro
Das Gesetz regelt als sogenanntes Omnibusgesetz als Einkommen berücksichtigt. Wir halten eine solche
verschiedene Gesetzesänderungen, angefangen beim Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Politisches
SGB IV, SGB III, SGB V, SGB VI, SGB VII über Ände-
und ehrenamtliches Engagement ist grundgesetzlich ge-
rungen des Sozialgerichtsgesetzes, des Gesetzes über
schützt und muss, ob pauschal oder nach tatsächlichem,
die Alterssicherung der Landwirte, des Entschädigungs-
nachgewiesenem Aufwand, anrechnungsfrei entschädigt
rentengesetzes, der Bundesmeldedatenübermittlungs-
werden.
verordnung bis hin zu Änderungen der Renten Service
Verordnung und Änderungen der Datenabgleichsverord- Art. 8, Änderung des Sozialgerichtsgesetzes: Mit dem
nung. Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des
Im Folgenden möchte ich auf einige Punkte näher Arbeitsgerichtsgesetzes wurde zum 1. April 2008 eine so-
eingehen: genannte Fiktion einer Klagerücknahme für das erst-
instanzliche Verfahren eingeführt. Diese Regelung ge-
Art. 2, Änderung des Dritten Buches Sozialgesetz- mäß § 102 Abs. 2 SGG besagt, dass eine Klage als
buch: Die Bundesregierung möchte künftig Teilnehmer zurückgenommen gilt, „wenn der Kläger das Verfahren
von dualen Studiengängen einheitlich sozialversichern, trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate
Nr. 2. Es ist nicht richtig, dass es sich bei diesem Vorha- nicht betreibt“. Der Gesetzentwurf erweitert die Klage-
ben um eine Klarstellung im Sinne einer Rechtssicher- rücknahmefiktion auf Berufungen. Das Gesetz ersetzt
heit handelt. Vielmehr haben die Spitzenorganisationen mit dieser fiktiven Klagerücknahme nicht nur die Pro-
der Sozialversicherung im Nachgang eines Urteils des zesserklärung, wonach ansonsten der Kläger selbst oder
Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 zur Sozialver- sein Verfahrensbevollmächtigter die Klage zurückneh-
sicherungsfreiheit „praxisintegrierter dualer Studien- men kann. Das Gesetz unterstellt mit seiner gesetzlichen
gänge“ im Sommer 2010 Gegenteiliges vollzogen. In ei- Rücknahmefiktion zudem einen Wegfall des Interesses
nem mühsamen Prozess mit hohem Aufwand haben die des Klägers an der Fortsetzung des Verfahrens. Sozial-
Betriebe nach Angaben der BDA diese Umstellung vor- verbände machen bei ihren Beratungen hingegen die Er-
genommen. Eine erneute Änderung würde zu einem ho- fahrung, dass es schwierig sein kann, zu vermitteln. Die
hen bürokratischen Aufwand führen. Im Beratungsver- richterliche Praxis sieht aufgrund des strengen Ausnah-
fahren sollten wir gemeinsam prüfen, wie wir hier zu mecharakters beider Regelungen hingegen wenig Be-
einer für alle Seiten akzeptablen Lösung kommen. denken. Im Gegenteil: Sie hebt auf die verfahrensbe-
Art. 4, Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetz- schleunigende Wirkung der Instrumente ab. Bevor es zu
(B)
buch: Die Bundesregierung beabsichtigt, die Kosten für einer Erstreckung der Klagerücknahmefiktion auf Beru- (D)
die rentenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und fungen kommt – Art. 8 Nr. 7 des Gesetzentwurfes –,
Berufsbildungsbereich tätigen Menschen mit Behinde- sollte die Regelung einer Rechtstatsachenuntersuchung
rungen rückwirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozial- unterzogen werden.
versicherungsträger zu übertragen, Nr. 11, 12 und 14. Die Bundesregierung kann ihren Ansprüchen nach ei-
Dies würde eine jährliche Mehrbelastung der Beitrags- ner effizienteren Verwaltungs- und Sozialgerichtspraxis
zahler von 120 Millionen Euro – Bundesagentur für Ar-
mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht nachkommen.
beit – bzw. 32,5 Millionen Euro – Rentenversicherung –
Problematisch bleibt, dass es immer wieder Sozialleis-
bedeuten. Wir finden, dass es eine gesamtgesellschaftli-
tungsträger gibt, die, anstatt im Interesse der an-
che Aufgabe ist, behinderte Menschen gegen Altersar-
spruchsberechtigten Personen zusammenzuarbeiten und
mut abzusichern. Anstatt die Beschäftigungschancen
ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, offenbar
von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, kommt
vorrangig darauf bedacht sind, ihren jeweils eigenen
es lediglich zu einer Kostenverschiebung. Menschen mit
Haushalt möglichst nicht zu belasten. In der Folge kom-
Behinderung werden so erneut in die Rolle des Kosten-
men Anspruchsberechtigte nicht zu ihren Rechten und
faktors gedrängt. Der Haushalt der Bundesagentur für
müssen unweigerlich den Widerspruchs- und Klageweg
Arbeit ist ohnehin stark belastet. Die Übernahme der
beschreiten. Neben zwingend notwendigen Änderungen
Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund
des materiellen Rechts in den jeweiligen Büchern des So-
geht zulasten der BA; ihre Einnahmen werden ab 2014
zialgesetzbuches – siehe hierzu etwa Anträge der Frak-
um mehr als 4 Milliarden Euro pro Jahr gesenkt.
tion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache
Die Bundesregierung plant darüber hinaus, Auf- 17/3207 oder 17/3435 – sowie der lang anstehenden
wandsentschädigungen für kommunale Ehrenbeamte Notwendigkeit, ein modernes Patientenrechtegesetz zu
sowie für ehrenamtlich in kommunalen Vertretungskör- erlassen, das die weit verstreuten Rechtspositionen von
perschaften Tätige oder für Mitglieder der Selbstver- Patientinnen und -patienten, Ärztinnen und Ärzten so-
waltungsorgane, Versichertenälteste oder Vertrauens- wie anderen Heilbehandlerinnen und -behandlern zu-
personen der Sozialversicherungsträger nach einem sammenführt – siehe Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Bestandsschutz bis zum 30. September 2015 als renten- Die Grünen auf Drucksache 17/6348 –, gilt es gleichzei-
schädlichen Zuverdienst anzusehen, Art. 4 Nr. 27 und 38 tig, die Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte
des Gesetzentwurfes. Dies gilt zumindest für den steuer- der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen sozial-
pflichtigen Anteil der gezahlten Aufwandsentschädigung gesetzbuchübergreifend zu stärken. Bündnis 90/Die
über 2 100 Euro im Jahr. Mit diesem Schritt folgt die Grünen werden hierzu in Kürze einen Aufschlag ma-
(A) Ingbert Liebing (CDU/CSU): weitreichender wirtschaftlicher wie auch verkehrspoliti- (C)
Die Arktis ist ein sensibles Ökosystem – durch den scher Interessen geworden.
Klimawandel schmelzen die Polkappen langsam. Da- Dies wurde bereits im März dieses Jahres bei der
durch wird der Zugang zu den begehrten Rohstoffen wie Zweiten Internationalen Arktiskonferenz des Auswärti-
Öl und Gas einfacher. Dadurch entwickelt sich aber gen Amtes deutlich. Hier hielt Außenminister Guido
auch eine vielfältige Problemkulisse. Der Antrag der Westerwelle ein Plädoyer für den freien Zugang aller
Grünen beschreibt diese Probleme weitgehend korrekt. Nationen zur Polarregion – nicht nur der Arktisanrai-
Der politische Eindruck, den die Grünen jedoch zu ner. Er erklärte, der Arktische Ozean müsse als gemein-
erwecken versuchen, die Bundesregierung vernachläs- sames Erbe der Menschheit erhalten und die Forschung
sige die Arktis und müsse erst zu konkretem Handeln dürfe durch eine künftige wirtschaftliche Nutzung der
aufgefordert werden, ist falsch. Die Bundesregierung Arktis nicht eingeschränkt werden. Auch die Probleme
widmet sich diesem Thema, und zwar sehr verantwor- des Klimawandels beträfen alle Staaten. Die Bundesre-
tungsbewusst: sowohl mit Blick auf ökonomische Chan- gierung versucht, das Optimum an Schutz der Arktis zu
cen als auch, und zwar vorrangig, mit Blick auf den erzielen.
Schutz dieses sensiblen Ökosystems. Das Bundesumweltministerium hat ein Gutachten
Wir kommen aber an einer Tatsache nicht vorbei: zum Thema „Identifizierung deutscher Umweltschutz-
Deutschland ist kein Arktis-Anrainerstaat. Das reduziert interessen und Entwicklung von Handlungsempfehlun-
unsere Einflussmöglichkeiten. Auch auf europäischer gen für die deutsche Umweltpolitik in der Arktis“ öffent-
Ebene ist gemeinsames Handeln schwer, da sich Däne- lich ausgeschrieben. Das konkrete Ziel dieser Aus-
mark/Grönland von der EU das Handeln auf eigenem schreibung besteht darin, eine eingehende Analyse der
Territorium nicht vorschreiben lässt, und Russland lässt Umweltsituation in der Arktis sowie deutsche Umwelt-
sich schon gar nichts sagen. schutzinteressen – über den Forschungsbereich hinaus –
systematisch zu erfassen. Auf dieser Basis sowie vor dem
Dennoch nimmt Deutschland Einfluss, im Interesse Hintergrund der bestehenden Rechtslage sollen die für
der Arktis und ihres Schutzes: Deutschland ist beobach- Deutschland relevanten Handlungsfelder für den Um-
tendes Mitglied im Arktischen Rat, der das gemeinsame weltschutz in der Arktis analysiert werden.
Konsultationsgremium aller acht Staaten mit Gebieten,
Land und Wasser, nördlich des Polarkreises ist. Hier Das Bundesumweltministerium will der zunehmenden
geht es um die Themen Umweltschutz und nachhaltige politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis
Entwicklung der Polarregion. An den Sitzungen des Ra- mit einer gesonderten deutschen „Arktisstrategie“ ge-
tes nehmen auch regelmäßig Vertreter der indigenen recht werden. Hierbei stehen die Bereiche Forschung,
(B) Völker teil. Gerade Kanada und die USA haben ein ho- Wirtschaft, vor allem auch Umwelt und Sicherheit im (D)
hes Interesse, die einheimische Bevölkerung in die Ent- Vordergrund. Eine deutsche Position ist hinsichtlich der
wicklung der Polarregion einzubeziehen. Kernziele Klima- und Umweltschutz der EU-Arktis-
Politik erforderlich. Die ausgeschriebene Studie wird
Die fünf Anrainerstaaten – Dänemark/Grönland, dafür eine Basis liefern.
Russische Föderation, Kanada, Norwegen, USA – ver-
treten ihre souveränen Rechte über ihre arktischen Ge- Der Schutz der Arktis ist ein wichtiges Thema, mit
biete. Obwohl Deutschland international führend ist in dem auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir
der Polarforschung, verfügt es leider über wenig Mit- ernst nehmen. Nach Überweisung des Antrages in die
spracherechte in der Polarregion. Der Rechtsrahmen entsprechenden Ausschüsse werden wir hierüber in aller
hierfür ist das Seerechtsübereinkommen der VN von gebotenen Sorgfältigkeit noch einmal beraten können,
1982. Daher ist das Ansinnen der Grünen auch überaus und wir werden die Bundesregierung und das Bun-
schwierig, hier die Staaten zu zwingen, auf ihrem Terri- desumweltministerium in ihren Bemühungen zum Schutz
torium gewisse Umweltstandards einzuhalten. Wir müs- der Arktis unterstützen.
sen anerkennen, dass sich Deutschland auf sehr dünnem
Eis bewegt, wenn es in die Staatenpolitik anderer Län- Frank Schwabe (SPD):
dern eingreifen soll. Das Thema Arktis steht gelegentlich im Schatten an-
Viele Forderungen der Grünen zeugen auch von Un- derer politischer Themen, es ist allerdings ein Thema,
kenntnis der rechtlichen Situation. Wir in Deutschland das langfristig für die Menschheit von entscheidender
müssen die internationalen Prozesse verstehen und uns Bedeutung ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns heute
zunächst mit der Beobachterfunktion zufriedengeben. im Deutschen Bundestag mit der Arktis, den sich än-
Die Anrainerstaaten machen in der Arktis ihre Hoheits- dernden klimatischen Verhältnissen und deren Konse-
ansprüche geltend; daher ist die Forderung der Grünen quenzen beschäftigen. Das letzte Mal, dass wir in die-
in ihrem Antrag, einen „Arktisvertrag“ ähnlich dem sem Raum über die Arktis diskutiert haben, war
„Antarktisvertrag“ aus dem Jahr 1959 auszuhandeln, anlässlich der Debatte um Tiefseeölbohrungen, die auch
nicht so einfach per Bundestagsbeschluss zu vollziehen. in arktischen Gewässern geplant sind.
Im Gegensatz zur Antarkis, wo kein Staat direkte An- Leider war die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im
sprüche angemeldet hat, es keine nennenswerten auszu- letzten Jahr eine Katastrophe ohne Konsequenzen. Aus
beutenden Rohstoffe gibt und es auch kein Ansinnen auf „Deepwater Horizon“ hätten Konsequenzen gezogen
Durchfahrten der Schifffahrt und anderer Transportver- werden müssen. Das wäre in erster Linie ein Morato-
kehre gibt, ist die Arktis bereits jetzt zur Zielscheibe rium für Ölbohrungen in tiefer See gewesen, solange die
Frank Schwabe
(A) che im Hinblick auf die arktischen Ressourcen bis zu ei- Untersuchungen des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- (C)
nem endgültigen Schutzabkommen zurückzustellen. und Meeresforschung zeigen, dass in den vergangenen
Diese Forderung stellen in ihrem Antrag auch die Grü- Monaten ein ähnlicher Rückgang zu beobachten ist. Die
nen auf, was ich sehr begrüße. eisfreien Flächen innerhalb der Packeiszone schmolzen
im Sommer deutlich ab. Inzwischen hat die eisfreie Flä-
Die Grünen sprechen in ihrem Antrag auch die deut- che die Größe der Niederlande erreicht. Die Experten
sche Polarforschung an und betonen die traditionsrei- des AWI sehen vor allem die sehr geringe Dicke des
che und renommierte Arbeit des Alfred-Wegener-Insti- Meereises und den steten Transport von Meereis in eis-
tuts. Aber auch der Wissenschaftsrat hat sich in seinem freie Regionen des Nordpolarmeeres hierfür verantwort-
aktuellen Gutachten „Empfehlungen zur zukünftigen
lich. So ist derzeit das Eis im Schnitt 90 Zentimeter
Entwicklung der deutschen marinen Forschungsflotte“
stark. 2001 betrug die Meereisdicke im Durchschnitt
mit der deutschen Polarforschung und ihrer Infrastruk-
noch zwei Meter.
tur auseinandergesetzt und stellt zu Recht fest, dass sich
die deutsche Polarforschung international auf einem Je zerklüfteter das Eis, desto mehr steigen die Was-
sehr hohen Niveau befindet. Dabei spielt die „Polar- sertemperaturen. Je wärmer das Meer, umso schneller
stern“ eine maßgebliche Rolle. Mit der „Polarstern“ schmelzen die darin schwimmenden Eisschollen.
haben wir ein Forschungsschiff, auf das wir stolz sein
können. Für den Zeitraum von 2005 bis 2009 konnten In diesem Sommer konnten sowohl die Nordostpas-
allein 530 Fachpublikationen den Forschungsarbeiten sage als auch die Nordwestpassage befahren werden.
von Expeditionen mit der „Polarstern“ zugeordnet wer- Dies bedeutet, dass die Hemmnisse einer kommerziellen
den. Weltweit ist das Forschungsschiff „Polarstern“ da- Nutzung der Arktis weiter sinken. Die Region wird damit
rüber hinaus der einzige moderne Forschungseisbre- vor allem für die Bereiche Schifffahrt, Tourismus, Fi-
cher, der dezidiert die Arktis befährt. Die im Einsatz scherei oder Rohstoffgewinnung interessant.
befindlichen Schiffe anderer Staaten weisen hingegen
nicht durchgängig die notwendigen Spezifikationen auf, Die Arktis lag bislang im Dornröschenschlaf und war
um arktisweit und ganzjährig eingesetzt werden zu kön- wenig durch den Menschen beeinflusst. In den vergange-
nen. Die Bedeutung der deutschen Arktisforschung spre- nen Jahrtausenden bildeten sich so eine einmalige Flora
chen wir mit unserem Antrag „Polarregionen schützen – und Fauna. Viele dieser Tier- und Pflanzenarten sind
Polarforschung stärken“ an. nur dort beheimatet und deshalb besonders schützens-
wert. Dieses Paradies aus Eis ist jedoch gefährdet. Der
Auch in diesem Antrag fordern wir Vereinbarungen, Klimawandel zeigt zunehmend seine Auswirkungen und
die eine Analogie zum Antarktisvertrag aufweisen. Die bedroht dieses sensible Ökosystem. Nun drohen die ver-
(B) Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in der Arktis- stärkten Nutzungsinteressen durch den Menschen als (D)
region muss dabei sichergestellt werden. Um aktuelle weitere Belastung hinzuzukommen. Ein vernünftiger und
Fragen der Meeresforschung geht es auch in einem nachhaltiger Umgang mit der Arktis ist deshalb erfor-
Workshop der SPD-Fraktion, der morgen stattfindet. derlich.
Dabei werden wir mit Expertinnen und Experten disku-
tieren, wie inhaltliche und strukturpolitische Schwer- Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Abkommen
punkte einer neuen Strategie zur Meeresforschung aus- zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen –
sehen können. Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis“
Ich möchte noch einmal betonen: Als Erstes brauchen hat eine lobenswerte Absicht. Er umfasst ein Bündel äu-
wir ein Moratorium, das sicherstellt, dass keine vollen- ßerst unterschiedlicher Bereiche. Diese reichen vom
deten Tatsachen geschaffen werden, solange es noch Umweltschutz über Rohstoff- und Schifffahrtsfragen bis
kein endgültiges Schutzabkommen gibt. Die Arktis darf hin zu territorialen Ansprüchen. Vieles davon ist gut ge-
kein Selbstbedienungsladen sein, sie ist das gemeinsame meint, jedoch jenseits des Umsetzbaren. An einem zen-
Erbe der Menschheit. Der Arktis kommt auch eine tralen Punkt möchte ich dies verdeutlichen. Der im An-
Schlüsselrolle für das Klimasystem der Erde zu. Die trag geforderte Arktisvertrag – welcher nach gleichem
Ausbeutung der arktischen Ressourcen würde jede Maß- Muster wie der Antarktisvertrag entwickelt werden soll –
nahme zum Schutz der Arktis und die Anerkennung ihrer wird Wunschdenken bleiben. Die Antarktis ist unbe-
Schlüsselrolle für das Klimasystem der Erde konterka- wohnt, rohstoffarm und kein Hoheitsgebiet eines Staates
rieren. Sei es auf nationaler Ebene, sei es in europäi- berührt die Region, wohingegen in der Arktis fünf Staa-
schen oder internationalen Verhandlungen – Ziel muss ten um rohstoffreiche Gebietsansprüche buhlen. Es ist
sein, den Schutz der Arktis sicherzustellen. Ansonsten nur eine Frage der Zeit, bis die fünf Arktisanrainer ihr
verspielen wir leichtfertigt dieses gemeinsame Erbe der Interesse an den Schätzen im Meeresboden anmelden
Menschheit. werden. Eine internationale Aufsicht über die Arktis
wäre hier sicherlich die beste Lösung. Dass sie kommt,
ist – trotz allen guten Willens – unwahrscheinlich.
Angelika Brunkhorst (FDP):
Ein Blick auf ein aktuelles Satellitenbild belegt: Die 1996 wurde der Arktische Rat ins Leben gerufen. Er
Eisdecke der Arktis nimmt ab. Der Eisrückgang ist ähn- ist die von Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Nor-
lich drastisch wie in 2007. Damals schrumpfte die Eis- wegen, Russland, Schweden und den USA gegründete
fläche auf eine Fläche von 4,3 Millionen Quadratkilo- Dachorganisation für zwischenstaatliche Vorhaben in
metern. 2007 war bislang der Negativrekord. Aktuelle der Nordpolregion.
Die Anrainerstaaten stecken seit Jahren ihre Claims Die Welt braucht die Arktis, und die Arktis braucht
ab. Nach der Seerechtskonvention der Vereinten Natio- ein rechtsverbindliches Regime. Nur so – da bleibe ich
nen können die Länder bis zu 200 Seemeilen vor ihren ganz bescheiden und realistisch – können wir die schäd-
Küsten die natürlichen Ressourcen nutzen. Dort, wo der lichen Umweltauswirkungen der kommenden Wirt-
Festlandsockel noch weiter in die Tiefsee reicht, er- schaftaktivitäten zwar nicht vermeiden, aber auf ein Mi-
streckt sich der Anspruch der Küstenstaaten auf Ausbeu- nimum begrenzen.
tung der Ressourcen auf bis zu 350 Seemeilen. Genau
darum geht es jetzt. Aber es ist Nutzungsrecht und kein Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Anrecht auf Zerstörung, wie wir es jetzt gerade bei den Die sommerliche Eisbedeckung der Arktisregion ist
Meeresfischbeständen erleben. seit 1972 um 50 Prozent geschrumpft und hat im Jahr
Christoph Strässer
(A) demnach zur Zweierbesetzung. Der Schluss, der sich da- Mechthild Dyckmans (FDP): (C)
raus ziehen lässt, ist, dass die §§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG Das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und
und 33 b Abs. 2 JGG zu viele Spielräume lassen. Dieses Jugendkammern in der Hauptverhandlung hat das Ziel,
Defizit wird auch in den Gutachten herausgestellt. Der eine seit der Wiedervereinigung immer wieder befristet
Versuch der Bundesregierung, des Problems der verlängerte Regelung nunmehr ohne zeitliche Begren-
unbestimmten Tatbestandsmerkmale „Umfang“ und zung festzuschreiben. Ausgangspunkt war die damals
„Schwierigkeit der Sache“ durch einen Absatz 3 Herr zu geschaffene Möglichkeit, nach der Strafkammern unter
werden, erweist sich jedoch als unzureichend. Indem le- Umständen auch nur mit zwei statt drei Berufsrichtern
diglich beschrieben wird, unter welchen Voraussetzun- verhandeln durften. Anlass dafür war der seinerzeit be-
gen eine Dreierbesetzung erfolgen muss, kommt es de stehende Mangel an ausreichend qualifizierten Rich-
facto in allen anderen Fällen zu einer Zweierbesetzung. tern. Ein solcher liegt heute zwar nicht mehr vor, jedoch
hat sich die Verhandlung mit lediglich zwei Berufsrich-
Das Gesetz zur Besetzungsreduktion, das im Dezem- tern in vielen Fällen bewährt.
ber 2011 ausläuft, war jedoch nur dazu gedacht, dass
geeignete Fälle in reduzierter Besetzung verhandelt wer- Insbesondere in – rechtlich und tatsächlich – einfach
den. Die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesformulie- gelagerten Fällen soll auch in Zukunft in dieser Beset-
rung führt jedoch dazu, dass die Besetzungsreduktion zung verhandelt werden können. Dies spart Personal,
nicht mehr nur die Ausnahme sein wird, sondern die was anderen Verfahren zugutekommt, und trägt dennoch
Regel. Aus diesem Grund sollten § 76 II, III GVG und den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren
§ 33 b II, III JGG keine Aufzählung für Fälle enthalten, ohne Qualitätseinbußen Rechnung. Dies belegt nicht zu-
die einen dritten Richter erfordern, sondern die Fälle letzt die von den Professoren Dölling und Feltes erarbei-
konkretisieren, die nur zwei Richter erfordern. Nur auf tete Studie, nach der sich kein Anhaltspunkt dafür finden
diese Weise können eine Aushöhlung der §§ 76 VG, 33 lässt, dass Verfahren in der Besetzung mit zwei Richtern
JGG vermieden und eine Besetzung mit drei Richtern häufiger als andere die Einlegung von Rechtsmitteln zur
dort garantiert werden, wo sie erforderlich ist. Folge gehabt hätten. Insofern ist es durchaus sachge-
recht, diese Möglichkeit auch weiterhin beizubehalten,
Der BGH hat in seinem bereits zitierten Beschluss was im Übrigen auch von der Bundesrechtsanwaltskam-
vom Juli 2010 deutliche Worte gefunden: Die Rechtspra- mer grundsätzlich anerkannt wird.
xis gehe unsensibel mit der Besetzungsreduktion um. Bei
einzelnen Landgerichten werde ausschließlich in Zwei- Andererseits gibt es selbstverständlich Verfahren, bei
erbesetzung entschieden. Es sei angezeigt, den Begriff denen die klassische Besetzung mit drei Berufsrichtern
des „Umfangs der Sache“ gesetzgeberisch zu konturie- zwingend ist. Grundsätzlich gilt dies im Umkehrschluss
(B) ren. für alle Prozesse, die besondere Schwierigkeiten in (D)
rechtlicher, tatsächlicher oder beider Hinsicht aufwei-
Es ist also Zeit, dass wir als Gesetzgeber handeln. sen. Dem trägt der Gesetzentwurf durch die ausdrückli-
Der Entwurf der Bundesregierung zeigt in die richtige che Normierung solcher Fälle hinreichend Rechnung.
Richtung. Ob er auch in den einzelnen Regelungen und An erster Stelle sind dabei diejenigen Fälle zu nennen, in
gesetzestechnisch so gelungen ist, werden wir uns genau denen das Gericht als Schwurgericht besonders schwere
ansehen. Wir werden uns auch kritisch mit den Anregun- Straftaten verhandelt, die in der Regel auch mit einer be-
gen auseinandersetzen müssen, die vom Bundesrat kom- sonders langen Freiheitsstrafe geahndet werden. Hier
men. Dort ist im Rechtsausschuss beschlossen worden, verlangt die einer solchen Straftat immanente Komplexi-
dass auch in Verfahren, bei denen die Anordnung der tät ebenso wie die mit der hohen Strafandrohung ver-
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bundene besondere Eingriffsintensität nach dem juristi-
zu erwarten ist, die Zweierbesetzung möglich sein soll. schen Sachverstand dreier Richter.
In Berufungshauptverhandlungen soll Zweierbesetzung
möglich sein, auch wenn erstinstanzlich auf eine Ju- Gleiches gilt für Verfahren, die für den Angeklagten
gendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde. mit einer über die Strafe hinausgehenden Rechtsfolge
Diese Anregungen gehen meines Erachtens in die fal- verbunden sein können – namentlich die Anordnung der
sche Richtung. Je größer der zu erwartende Grund- Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder die
rechtseingriff, desto wichtiger ist eine gut besetzte Rich- Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen
terbank. Krankenhaus. Da hier unter Umständen eine tatsächlich
lebenslange Verwahrung ausgesprochen werden kann,
Eines ist klar: Sowohl die Große Strafrechtskommis- muss diese Entscheidung besonders sorgsam abgewo-
sion des Deutschen Richterbundes als auch der Bundes- gen und getroffen werden.
gerichtshof gehen davon aus, dass die Dreierbesetzung
wegen ihrer strukturellen Überlegenheit der reduzierten Schließlich stellt der Gesetzentwurf den Gerichten
Besetzung vorzuziehen ist. Das ist auch meine Ansicht. durch eine relativ offen gestaltete Regelung in § 76 Abs. 2
Zum Schutz der Betroffenen und auch der Richter sollte Nr. 3 GVG-E frei, auch in darüber hinausgehenden wei-
es deshalb bei der Dreierbesetzung bleiben, wenn der teren komplizierten Verfahren eine Besetzung mit drei
Grundrechtseingriff besonders groß ist. Richtern zu wählen. Davon wird im Regelfall bei Verfah-
ren mit einer Dauer von mindestens zehn Verhandlungs-
Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen und tagen ebenso auszugehen sein wie bei Verfahren der gro-
sage für meine Fraktion eine konstruktive Beteiligung ßen Wirtschaftsstrafkammer, denen naturgemäß ein
zu. vielschichtiger Sachverhalt zugrunde liegt. Diese Bei-
(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dienen. In der Praxis ist die Besetzungsreduktion immer (C)
Das Thema, über das wir heute reden, beschäftigt die mehr zu Regel geworden. Wir Grüne finden diese rechts-
Rechtspolitik schon seit 1993. Es geht um die Frage, ob politische Entwicklung – Anstieg der Besetzungsreduk-
eine große Straf- oder Jugendkammer mit nur zwei statt tion von durchschnittlich 43 Prozent im Jahre 1994 bis
drei Berufsrichterinnen und -richtern auskommt und, auf 78 Prozent im Jahre 2009 – bedenklich.
gegebenenfalls, für welche Strafverfahren dies festgelegt
So wünschenswert es auch ist, dass man wieder zur
werden sollte. Mit anderen Worten: Es geht um die soge-
ursprünglichen Dreierbesetzung zurückkehrt, so un-
nannte Besetzungsreduktion. In diesem Zusammenhang
wahrscheinlich und unrealistisch ist dies angesichts der
wurde zu Recht bereits von einer „fast unendlichen Ge-
Haushaltslage in den Ländern. Tatsächlich befürchten
schichte“ gesprochen; denn die zugrunde liegende Son-
die Justizminister mit dem Auslaufen der bisherigen Re-
derregelung zur Besetzungsreduktion – Gesetz zur Ent-
gelung eine erhebliche zusätzliche Belastung für die
lastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – stammt
Justiz und wollen deshalb – das haben sie auf ihrer
ja bereits aus dem Jahre 1993 und wurde seitdem immer
Frühjahrskonferenz 2011 auch so festgehalten – zügig
wieder verlängert.
eine gesetzliche Grundlage schaffen, die dauerhaft eine
Nach § 76 Abs. 1 GVG sind die großen Strafkammern Besetzungsreduktion ermöglicht.
mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und
Sicher ist: Die Zahl der beteiligten Richterinnen und
zwei Schöffen zu besetzen. Zum 31. Dezember 2011 läuft
Richter allein bietet noch keine Gewähr für die Qualität
nun die Regelung aus, wonach die großen Straf- und Ju-
der Entscheidungen. Aber sie erhöht die Wahrschein-
gendkammern auch beschließen können, in reduzierter
lichkeit richtiger Urteile und damit auch die Rechts-
Besetzung von nur zwei Berufsrichtern zu entscheiden.
sicherheit. Die Vorteile einer Dreierbesetzung liegen da-
Der Gesetzgeber heute hat verschiedene rechtspoliti- bei auf der Hand: Die Überzeugungskraft von drei
sche Optionen. Wenn sich die Regelung zur Besetzungs- Berufsrichtern und das Wissen des Angeklagten darum,
reduktion bewährt hat, kann sie noch einmal verlängert dass der Sachverhalt von drei Berufsrichtern und den
oder sogar entfristet werden. Wenn sich die Regelung Schöffen überprüft worden ist, können zur Akzeptanz der
aber nicht bewährt hat, kann sie auslaufen, mit der Entscheidung und damit auch zum Rechtsfrieden beitra-
Folge, dass die Kammern wieder – wie vor 1993 – in der gen.
Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen
Der Gesetzgeber darf in Justizangelegenheiten Fi-
verhandeln. Schließlich kann der Sachverhalt auch
nanzierungsfragen nicht zum alleinigen Maßstab ma-
gänzlich neu geregelt werden.
chen. Gleichwohl gibt es auch in der Justiz, mit einem
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht die Koali- übrigens vergleichsweise bescheidenen Haushaltspos-
(B) tion einen Mittelweg zwischen Entfristung und Neurege- ten, einen Finanzierungsvorbehalt und die Justizhoheit (D)
lung. Die Koalition legt drei Beispiele für die Besetzung der Länder. Der Gesetzgeber muss daher einen Aus-
mit drei Berufsrichtern in der Großen Strafkammer fest, gleich der betroffenen Interessen schaffen. Der vorlie-
die überwiegend an die bisherige Formulierung anknüp- gende Entwurf wirft eine Reihe von Fragen auf:
fen. Sie belässt es aber „im Übrigen“ bei der Möglich-
keit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln. Sie Zum einen sollten statt der ungenauen und auch im-
hält also an der Möglichkeit der Besetzungsreduktion mer wieder zur Aufhebung von Urteilen durch den BGH
führenden Möglichkeit, durch das Gericht selbst eine
für große Strafkammern und Jugendkammern fest.
Besetzungsreduktion vorzunehmen, klare gesetzliche Re-
Dabei ist eine Besetzung mit drei Berufsrichterinnen gelungen getroffen werden, wann in Zweier- und wann
und -richtern künftig zu beschließen, wenn das Gericht in Dreierbesetzung zu entscheiden ist. Künftig gibt es
„als Schwurgericht“ entscheidet, die Mitwirkung eines zwar gesetzliche Beispiele, aber das Gericht hat nicht
Dritten „nach Umfang und Schwierigkeit der Sache“ er- mehr nur darüber zu beschließen, dass die Besetzung re-
forderlich ist oder – und das ist neu und greift insoweit duziert wird, sondern über jede Besetzung. Welche Vor-
eine Anregung der Großen Strafrechtskommission auf – teile dies gegenüber einer gesetzlichen Anordnung ha-
die „Anordnung der Unterbringung in Sicherungsver- ben soll, lässt die Begründung offen.
wahrung oder einem psychiatrischen Krankenhaus“ zu
erwarten ist. Zum anderen wird im Gesetzentwurf behauptet, dass
künftig Reduktionsbesetzungen vorgenommen werden,
Für eine Besetzungsreduktion gab es in der mehr als ohne dass „Qualitätseinbußen“ in den Urteilen zu er-
130-jährigen Entwicklungsgeschichte der Strafprozess- warten sind. Die mit der Besetzungsreduktion verbun-
ordnung bis 1993 kein Beispiel. Der historische Gesetz- dene Gefahr, dass die Qualität der Entscheidungen lei-
geber hatte damals ursprünglich beabsichtigt, damit nur det, hat der Gesetzgeber schon 1993 gesehen, glaubte
auf die „Notsituation der Justiz in den neuen Ländern“ aber, sie im Hinblick auf die besondere Lage für eine vo-
zu reagieren. Hierzu stellt der vorliegende Gesetzent- rübergehende Zeit in Kauf nehmen zu können. Im aktuel-
wurf zu Recht fest, dass diese wiedervereinigungsbe- len Gesetzentwurf wird dieser Sorge nun nicht einmal
dingten Gründe heute nicht mehr gegeben sind. mehr Ausdruck verliehen.
Der Gesetzgeber ist ursprünglich davon ausgegan- Nach Ansicht der Bundesrechtsanwaltskammer wird
gen, dass die Besetzung mit drei Richtern die Ausnahme die vorgeschlagene Regelung der Bedeutung der Beset-
und die mit zwei Richtern die Regel sein sollte, im Zwei- zung der großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern
felsfalle sollte die Dreierbesetzung aber den Vorzug ver- nicht gerecht. Die Voraussetzungen für eine Verhand-
Erika Steinbach
(A) sind Frauen und Mädchen betroffen. Aber auch als Zeitraum von 2000 bis 2009 untersucht. Deutschland er- (C)
Zwangsarbeiter, als lebende „Ersatzteillager“ für reichte die höchstmögliche Punktzahl in allen drei Be-
menschliche Organe, als Zwangsverheiratete und reichen. Das ist ein Grund zur Freude. Nur sechs weitere
Zwangsadoptierte werden Menschen ihrer Rechte und Staaten konnten die gleiche Bewertung erreichen. Eines
ihrer Würde beraubt. Die „Ware“, von der hier die Rede der wichtigen Forschungsergebnisse ist, dass positive
ist, ist immer wieder verwendbar und mit geringem Auf- „Ansteckungseffekte“ zwischen Nachbarländern zu ver-
wand zu beschaffen. Dieser Gedankengang zeigt, wie zeichnen sind. Staaten verbessern ihre Maßnahmen zur
abgrundtief menschenverachtend das Geschäft mit Men- Bekämpfung des Menschenhandels, wenn ihr Umfeld
schen weltweit betrieben wird. mit positivem Beispiel vorangeht. Bei aller Anpassungs-
fähigkeit der transnational organisierten Kriminalität
Laut einer Studie der International Labour Organisa- besteht so Hoffnung, diesen menschenverachtenden
tion werden jährlich 2,4 Millionen Menschen über Gren- Sumpf doch trockenlegen zu können.
zen hinweg verkauft, gekauft und gegen ihren Willen in
sklavereiähnlichen Verhältnissen gehalten. Die Verein- Durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit müssen die
ten Nationen sprechen sogar von bis zu 4 Millionen Menschen für das Thema sensibilisiert werden. Auch
Menschen pro Jahr. Nichtregierungsorganisationen, wie Wissen über das Verbrechen Menschenhandel und die
„Anti-Slavery International“, schätzen die Anzahl ge- Empörung darüber können treibende Kräfte für Verän-
handelter Menschen sogar auf 27 Millionen. derungen sein. Prävention, Opferschutz und Strafverfol-
gung der Täter – ein Trio, kein Duo, kein Solo.
Verlässliche Zahlen über das Ausmaß des modernen
Menschenhandels gibt es nicht. Statistiken sind rar, und
die Dunkelziffer ist hoch. Eines aber ist sicher: Niemals Ute Granold (CDU/CSU):
zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es mehr Wir beraten heute über einen Antrag der Faktion Die
Sklaven als heute. Interpol spricht vom drittgrößten Linke, der sich mit der Bekämpfung des internationalen
grenzüberschreitendem Verbrechen nach Drogen- und Menschenhandels und der Stärkung des Opferschutzes
Waffenhandel. beschäftigt.
Jedes einzelne dieser Schicksale ist eines zu viel! Es Menschenhandel stellt eine der schlimmsten und
geht um Menschen, die durch Verführung, Betrug, Täu- menschenverachtendsten Formen internationaler Kri-
schung oder Zwang in Abhängigkeitsverhältnisse ge- minalität dar. Die sogenannten Beschaffungsmärkte die-
bracht wurden, die sie brutaler Gewalt aussetzen. Sie ses globalen Phänomens liegen in der Dritten Welt, in
werden eingesperrt, eingeschüchtert und ausgebeutet. Entwicklungsländern und in osteuropäischen Staaten.
Ihre Rechte auf persönliche Freiheit, auf körperliche Bei den Zielländern handelt es sich aber ganz überwie-
(B) Unversehrtheit, auf ein Leben frei von Sklaverei, gend um Länder der sogenannten Ersten Welt. Das trifft (D)
Zwangsarbeit und unmenschlicher oder erniedrigender leider auch auf Deutschland zu, das als Ziel- und Tran-
Behandlung werden in höchstem Maße verletzt. sitland eine ganz zentrale Rolle im internationalen Men-
schenhandel spielt.
Wir müssen Mittel und Wege finden, um den barbari-
schen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Wir Die konkreten Zahlen zu Umfang und Profit des Men-
haben es mit einem sehr komplexen Verbrechen zu tun, schenhandels sind größtenteils ungesichert, da es inso-
dessen Bekämpfung aus drei Dimensionen bestehen fern an belastbaren Daten bzw. statistischen Erhebun-
muss: Vorbeugung, Schutz der Opfer sowie Strafverfol- gen fehlt. Bei allen Zahlen ist zudem nicht eindeutig, ob
gung der Täter. Deshalb greift der Antrag, den wir hier und inwieweit zwischen freiwilliger Sexarbeitsmigration
beraten, auch zu kurz. Opferschutz ist einer der drei eng und Zwang unterschieden wird. Seriöse Schätzungen
miteinander verbundenen und wichtigen Ansätze zur Be- zeigen jedoch, dass diese Form der organisierten Krimi-
kämpfung des Menschenhandels. Ohne die Verfolgung nalität gigantische Ausmaße angenommen hat. Das ge-
der beiden anderen Ziele ist er geradezu wertlos, weil er ringe Aufdeckungsrisiko und die – auch im Vergleich zu
die Täter unbehelligt lässt und die potenziellen Opfer anderen kriminellen Geschäftsfeldern – enormen Ge-
nicht warnt. winnmargen lassen den Schluss zu, dass die Dunkelziffer
sehr hoch ist und der Menschenhandel im Kontext der
Auch über dieses Problem müssen wir dringend nach- Globalisierung stetig weiter zunimmt.
denken. Männer, die als Freier zu Prostituierten gehen,
müssen wissen, dass sie ihr Geld vielleicht mitten hinein Im Februar 2008 fand im Rahmen der United Nations
ins organisierte Verbrechen tragen, dass sie möglicher- Global Initiative to Fight Human Trafficking das Wiener
weise schwersten Menschenhandel mitfinanzieren, dass Forum gegen Menschenhandel statt, bei dem mehr als
sie das Leid von Menschen mit verursachen. Die Straf- 1 200 Experten teilgenommen haben, um Strategien ge-
verfolgung nicht nur der Menschenhändler, sondern gen den internationalen Menschenhandel zu suchen.
auch dieser Freier ist nötig. Denn ohne Nachfrage gäbe Nach Schätzung der Experten und der UN wurden im
es kein Angebot! Jahr 2008 weltweit 2,5 Millionen Menschen ausgebeu-
tet, wovon die große Mehrheit junge Frauen und Kinder
Staatliche Maßnahmen in den drei Bereichen Präven- waren. Es wird zudem geschätzt, dass weltweit jedes
tion, Schutz der Opfer und Strafverfolgung der Täter ha- Jahr weitere fast 700 000 Frauen und Mädchen ver-
ben jüngst Wissenschaftler der Universität Göttingen in schleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Die
Zusammenarbeit mit Forschern der London School of Internationale Organisation für Migration geht davon
Economics and Political Science für 177 Staaten im aus, dass jährlich allein bis zu 500 000 Frauen und Kin-
Ute Granold
(A) tendem Charakter. Die Regelungen sind zudem Grund- Im Chaos nach der Katastrophe sind sie gut organisiert. (C)
lage für die Fortentwicklung des EU-Rechts, zuletzt der Menschenhändler sprechen Waisenkinder oder obdach-
Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments lose Frauen an, bieten die Dinge, die sie am meisten
und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Be- brauchen: Wasser, Nahrung, die Suche nach Verwandten
kämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner und Obdach. Organisationen wie Terre des Hommes und
Opfer. die Kindernothilfe berichteten darüber, dass in Haiti
nach dem Erdbeben 2010 wohl Tausende Kinder – häu-
Ich gehe davon aus, dass Bundesrat und Bundestag fig ohne Identitätsprüfung – zu angeblichen Adoptionen
das Gesetz zügig verabschieden, sodass Deutschland ausgeflogen wurden. Ungezählt sind diejenigen, die
dem Übereinkommen noch in diesem Jahr beitreten nicht durch das Beben, sondern in dem Chaos danach
kann. Insofern hat sich dieser Punkt ihres Antrages be- verschwunden sind.
reits erledigt.
Menschenhandel gibt es auch bei uns in Deutschland.
Unsere Anstrengungen werden damit aber nicht en- 750 Fälle wurden 2009 vom Bundeskriminalamt regis-
den. Während des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, der triert, und die Dunkelziffer liegt sicher weit höher. Erst
am 1. Juli beginnt, werden wir auch die Zusammenar- am 9. September wurde eine 13-jährige in einem Bordell
beit der Ostseeanrainerstaaten zur Bekämpfung von in Oberhausen aufgefunden. Das türkischstämmige
Menschenhandel weiter intensivieren. Mädchen wurde vor der Einschleusung in das Bordell
Wie Sie sehen, befassen gerade wir als Union uns in- auch von Ihren Entführern missbraucht und dann regel-
tensiv mit diesem Thema. In den vergangenen Jahren mäßig im Bordell vergewaltigt.
konnten wir bereits wesentliche Verbesserungen bewir- Wie kommen solche Vorfälle zur Strafverfolgung? Die
ken. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft konsequent Anzeige- und Aussagebereitschaft von Menschen, die in
fortschreiten. Belehrungen und Vorhaltungen, wie sie im die Prostitution oder sklavenähnliche Arbeitsverhält-
vorliegenden Antrag leider auch zu finden sind, sind da- nisse gezwungen werden, ist sehr gering. Das wissen wir
her völlig fehl am Platz. Im Interesse der Opfer sollten seit Jahren. Ohne die Aussagebereitschaft der Opfer be-
wir stattdessen sachlich und fraktionsübergreifend an steht aber nur eine geringe Chance, die Täter dingfest zu
geeigneten Lösungsansätzen arbeiten, mit denen wir machen. Das BKA hat 2010 eine wissenschaftliche Stu-
diese widerwärtige Form der Kriminalität noch wir- die erstellt, in der deutlich gemacht wird, welche Fakto-
kungsvoller bekämpfen können. Für entsprechende kon- ren die Aussagebereitschaft der Opfer beeinflussen. He-
struktive Gespräche stehen wir selbstverständlich zur rausgekommen ist wenig Überraschendes: Während der
Verfügung. So werden wir beispielsweise in Kürze im Zwangsprostitution befinden sich die Opfer in einer aku-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ten Zwangssituation. Sie und oft auch ihre Familien (D)
(B) eine öffentliche Expertenanhörung durchführen, von der
werden bedroht, ihnen werden „Schulden“ für ihren
ich mir noch einmal wichtige Impulse erhoffe. Parteipo- Transport und Handel zum „Abarbeiten“ auferlegt.
litische Spielchen, die nur der eigenen Profilierung die- Werden sie dann durch die Polizei aufgegriffen, bleibt
nen, führen uns jedoch nicht weiter. die Angst vor den Täternetzwerken. Die Angst und Un-
wissenheit um Aufenthaltsstatus und Opferrechte kom-
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): men hinzu. Generell wurde die Polizei von den Betroffe-
Mit dem Menschenhandel lässt sich richtig viel Geld nen sehr negativ bewertet. Welche Erfahrungen wurden
verdienen, mehr noch als mit Drogen und Waffen. Die da außerhalb Deutschlands wohl mit der Polizei ge-
ILO schätzt, es sind weltweit circa 32 Milliarden macht? Hinzu kommen falsche und enttäuschte Hoffnun-
US-Dollar pro Jahr, bei 270 000 betroffen Menschen, al- gen, fehlende Sprachkenntnisse und die Scham über das
lein in den Industriestaaten. Erzwungene Prostitution, Erlittene. Wen wundert es, dass man darüber nicht spre-
Sklaverei und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse sind chen will!
die häufigsten Hintergründe für Menschenhandel, und
am häufigsten sind Frauen und Mädchen betroffen. Ganz zu schweigen ist von den Fällen, in denen
Frauen in den Verfahren auch heute noch nicht als
Ein Blick in die Praxis und die Vielfältigkeit der Er- Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution er-
scheinungsformen von Menschenhandel: Neben dem kannt, sondern als Mittäterinnen behandelt oder wegen
Menschenhandel über Landesgrenzen hinweg gibt es in Passvergehen angeklagt werden. Ein Beispiel aus der
schwachen Staaten häufig auch Binnenverschleppung. Studie des BKA: Eine Frau aus Osteuropa wird unter
Beispielsweise werden in Mexiko mexikanische Mäd- Täuschung nach Deutschland gebracht. Sie hat hier ei-
chen und Frauen in hoher Anzahl organisiert in die Pro- nen irregulären Aufenthaltsstatus, kann aber mithilfe ih-
stitution gezwungen. Allein in diesem Land arbeiten rer Familie die Polizei verständigen. Sie erhält dann je-
mehr als 16 000 Kinder – Mädchen und Jungen – in der doch keine Sprachmittlung und versteht nicht, was die
Prostitution. Dem Staat fehlt es an Rechtsstaatlichkeit Polizei von ihr will. Am Ende wird sie wegen Passverge-
und Erzwingungskompetenzen, um etwas dagegen aus- hens angeklagt – niemand hatte sie als mögliches Opfer
zurichten. von Menschenhandel gesehen, man hat sie nicht verhört
oder berücksichtigt, dass sie es war, die die Polizei rief.
In Ländern, die von Katastrophen heimgesucht wer-
den, folgt in der Regel die nächste Katastrophe auf dem Diese Probleme aus der Praxis sind in der EU und in
Fuß. Gibt es irgendwo einen Tsunami, Hurrikan oder ein Deutschland bekannt. Deshalb gibt es eine neue EU-
Erdbeben, dann sind die Menschenhändler nicht weit. Richtlinie vom März 2011. In dieser wird EU-weit eine
Pascal Kober
(A) Wie Sie sehen, teilt die FDP-Fraktion das Anliegen an den Folgen des Krieges und der katastrophalen Si- (C)
der Kolleginnen und Kollegen der Linken, den Men- cherheitslage. Auch wenn es keine verlässlichen Zahlen
schenhandel einzudämmen und dem Opferschutz mehr gibt, wissen Organisationen und Expertinnen, dass der
Aufmerksamkeit zu widmen. Dennoch muss ich Ihren Handel mit Frauen zunimmt. Immer mehr Frauen wer-
Antrag, den ich in der Sache unterstütze, ablehnen. den Opfer von Zwangsprostitution und auch über die
Zwar betont er zu Recht die Notwendigkeit, Opfer von Grenze verschoben. So werden sie in die immer stärker
Menschenhandel besser zu schützen, umfassender zu be- globalisierte Sexindustrie hineingezogen.
treuen und ihnen mehr Rechte zu geben, Ihr Antrag ent-
hält allerdings auch einige Forderungen, die ich nicht Irakische Frauenorganisationen, die dieses Tabu bre-
unterstützen kann. Dafür bleiben andere wichtige Maß- chen und die Involvierung irakischer Politiker im Frau-
nahmen außen vor, die jedoch dringend geboten sind. enhandel an die Öffentlichkeit bringen, kommen selbst
in Gefahr. Anwältinnen, die die Rechte der Opfer vertre-
Ich möchte hier nur einige Beispiele aus Ihrem An- ten wollen, sind zunehmend Opfer von Anschlägen.
trag herausgreifen. Anscheinend haben Sie sich, wie so
häufig, über die Finanzierung Ihrer Forderungen keine Zurzeit liegt bei der Regierung in Bagdad ein Gesetz
Gedanken gemacht. Etwas wolkig verweisen Sie auf gegen Menschenhandel in der Schublade. Eine Vertrete-
staatlich abgeschöpfte Gewinne aus dem Menschenhan- rin von Norwegian Church Aid beklagt, dass es viel zu
del, die zur finanziellen Entschädigung der Opfer einzu- oft nur um Strafen für die Täter gehe. Die Stimmen der
setzen seien, ohne jedoch zu präzisieren, welche Ge- Opfer werden nicht gehört, oder sie werden sogar krimi-
winne Sie eigentlich meinen oder wie hoch Sie diese nalisiert.
einschätzen. Weiter fordern Sie eine nationale Bericht-
erstatterstelle, von der jedoch die tatsächlichen Opfer Dieses Problem kennen wir aus Deutschland. Laut
nur sehr indirekt profitieren würden. Dieser Vorschlag polizeilichen Ermittlungsstellen sind auch in Deutsch-
dürfte wohl eher Symbolpolitik sein. Auch halte ich Ihre land im Rotlichtmilieu Menschenhandel, Nötigung, Er-
Liste an Einzelforderungen, mit denen Sie die Opfer un- pressung und Gewalt an der Tagesordnung. Die Dunkel-
terstützen wollen, für unausgegoren und nicht durch- ziffer ist hoch. Gerade erst vor wenigen Tagen wurden in
dacht. Statt das bestehende Netzwerk an Fachberatungs- Bielefeld zahlreiche Wohnungen und Bordelle mit dem
stellen konsequent in Hinblick auf die kommenden Verdacht auf Menschenhandel durchsucht. Opfer sind
Herausforderungen auszubauen, listen Sie etwas will- heute meist Frauen aus osteuropäischen Ländern wie
kürlich anmutende einzelne Maßnahmen auf. Schließ- Bulgarien oder Rumänien. Vor allem junge Roma-
lich gehen Sie mit keinem Wort darauf ein, wie Sie denn Frauen aus diesen Ländern werden mit falschen Ver-
gegen die international agierenden organisierten Men- sprechungen eingeschleust. Manchmal werden sie auch
(B) schenhändler vorgehen wollen. von ihren Familien verkauft, wenn diese darin ihre ein- (D)
zige Überlebenschance sehen. Menschenhandel ist lei-
Bei aller Notwendigkeit europäischen und innenpoli- der ein überaus profitables Geschäft, ungefähr so ein-
tischen Handelns dürfen wir aber nicht die Hauptursa- träglich wie der Drogen- und Waffenhandel. Wenn wir
chen von Menschenhandel aus dem Blick verlieren. Ne- den Menschenhandel bekämpfen wollen, müssen wir uns
ben der kriminellen Energie der Täter sind es vor allem auch mit seinen Ursachen auseinandersetzen. Rassis-
die großen Wohlstandsunterschiede zwischen den Län- mus, Sexismus und nicht zuletzt globale wirtschaftliche
dern, die absolute Armut in den Herkunftsländern der Ausbeutung sind hier zu nennen.
Opfer, die mangelnde Bildung der Betroffenen und häu-
fig das zum Teil auch berechtigte mangelnde Vertrauen Was den Schutz der Opfer angeht, kann Deutschland
der Opfer in die staatlichen Systeme. Denn wer die Er- es nicht einmal mit anderen europäischen Ländern wie
fahrung macht, dass den Strafverfolgungsbehörden in zum Beispiel Italien aufnehmen. Es ist eine Schande,
seiner Heimat kein Vertrauen entgegengebracht werden dass in Deutschland noch immer die Täter geschützt und
kann, der wird sich auch nur schwerlich in unserem die Opfer bestraft werden: Nach nur vier Wochen droht
Land an die Polizei wenden. Ich begrüße daher an die- den Opfern von Menschenhandel in unserem Rechts-
ser Stelle ausdrücklich das engagierte Eintreten des staat die Abschiebung. Eine Reihe von Gesetzen fällt
Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit weit hinter europäische Rechtsstandards zurück.
und Entwicklung, Dirk Niebel, für Wohlstandentwick-
lung, Bildung und Rechtsstaatsbildung auf der Welt. Viele Frauen sind schwer traumatisiert und benötigen
Vorsorge ist immer besser als Nachsorge. angemessene Beratung und Rechtsbeistand. Daher for-
dert die Linke, den Opferschutz zu verbessern. Das heißt
auch, die Rolle und Kompetenzen von Beratungsstellen
Annette Groth (DIE LINKE): zu stärken, auf die diese Frauen so dringend angewiesen
Kriege und Konflikte, wo immer sie stattfinden, füh- sind.
ren zu einem unerträglich hohen Ausmaß an Gewalt ge-
gen Mädchen und Frauen – so der jüngste Bericht von Um gegen den organisierten Menschenhandel anzu-
Amnesty International. Im Irak zum Beispiel sind gehen, müssen wir den Opfern einen sicheren Aufent-
Frauen von den Folgen des Krieges doppelt betroffen: haltstitel gewähren. Bislang können in Deutschland die
durch ihren Status in einem Kriegsgebiet und durch ihr Opfer von Menschenhandel schon nach vier Wochen ab-
Geschlecht. Früher konnten im Irak viel mehr Frauen geschoben werden, wenn sie nicht bereit sind, gegen die
schreiben und lesen als in anderen Ländern der Region. Täter auszusagen. So wird mit der Angst der Opfer Poli-
Heute sind viele Frauen mittellos und leiden besonders tik gemacht. Das ist ein Skandal! Der Aufenthaltsstatus
Memet Kilic
(A) ten endlich die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte wahr- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des (C)
zunehmen. Meldepflichten der Behörden für Migranten von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
ohne Aufenthaltstitel sind, wo sie Migrantinnen und Mi- eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
granten daran hindern, zu ihren Rechten zu kommen, zu 30. März 2011 zwischen der Bundesrepublik
lockern, vergleiche Gesetzentwurf zur Verbesserung der Deutschland und Irland zur Vermeidung der
sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthalts- Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
status in Deutschland leben, Bundestagsdrucksache 17/ Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
6167. vom Einkommen und vom Vermögen
Jedem Opfer von Menschenhandel muss außerdem un- – Drucksache 17/6258 –
abhängig von der Bereitschaft, in einem Strafprozess aus-
zusagen, mindestens eine Aufenthaltsgenehmigung ge- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
währt werden, die es zeitlich zulässt, Entschädigungs-, von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Schadenersatz- und Lohnansprüche geltend zu machen, eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Fe-
Bundestagsdrucksache 17/6167. bruar 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Zypern zur
Ein menschenzentrierter Ansatz bedeutet auch, dass Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, eine neue Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
soziale Perspektive zu entwickeln. Laut Art. 12 EU-Op- Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
ferschutzrichtlinie haben die Opfer von Menschenhan- Vermögen
del einen Anspruch auf Zugang zu Maßnahmen, die ih-
– Drucksache 17/6259 –
nen die Rückkehr in ein normales soziales Leben
erleichtern. Das schließt Lehrgänge zur Verbesserung Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
der beruflichen Fähigkeiten ebenso ein wie Sprach- und schusses (7. Ausschuss)
Orientierungskurse des Aufenthaltslandes. Besonders
für Minderjährige ist der Zugang zum öffentlichen Bil- – Drucksache 17/6565 –
dungssystem elementar. Berichterstattung:
Besondere Bedeutung bei der Unterstützung der Op- Abgeordnete Manfred Kolbe
fer von Menschenhandel kommt den nichtstaatlichen Lothar Binding (Heidelberg)
Organisationen zu. Damit sie ihre wichtigen Aufgaben Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
ausüben können, muss die Bundesregierung sicherstel- werden.
len, dass die Organisationen auf eine sichere und ver-
(B) bindliche Finanzierung zurückgreifen können. Diese (D)
und weitere Forderungen haben wir bereits in der letz- Manfred Kolbe (CDU/CSU):
ten Wahlperiode in unserem Antrag „Menschenhandel Dem Deutschen Bundestag liegen heute drei Geset-
bekämpfen – Opferrechte weiter ausbauen“, Bundes- zesentwürfe zur Ratifikation von überarbeiteten Doppel-
tagsdrucksache 16/1125, vorgelegt. besteuerungsabkommen vor.
Die Bundesregierung muss sich, was die Menschen- Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen
rechte betrifft, unter anderem am Umgang mit den Op- dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten
fern von Menschenhandel messen lassen. Europa hat auf für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Da-
diesem Gebiet viel geleistet. Jetzt ist es an der Bundesre- mit können die internationale wirtschaftliche Zusam-
gierung, die guten Vorgaben zu erfüllen. menarbeit verbessert und Investitionshemmnisse auf-
grund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden. Mit
den Ländern Schweiz, Irland und Zypern wird nach dem
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf besser die Doppelbesteuerung nach OECD-Standard
Drucksache 17/3747 an die in der Tagesordnung aufge- vermieden. Gleichzeitig ist mit besagten Ländern ein
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verbesserter Austausch in Steuersachen vereinbart, so-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- dass wir mit der heutigen Ratifizierung dieser Abkom-
sen. men Steuerhinterziehung noch wirksamer und effektiver
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: bekämpfen können.
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Zunächst möchte ich aber auf die einzelnen Doppel-
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs besteuerungsabkommen jeweils eingehen. Schweiz: Die
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Okto- steuervertraglichen Beziehungen zwischen der Schwei-
ber 2010 zur Änderung des Abkommens vom zerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik
11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland reichen bis in das Jahr 1931 zurück; das
Deutschland und der Schweizerischen Eidge- bislang geltende Doppelbesteuerungsabkommen, DBA,
nossenschaft zur Vermeidung der Doppelbe- wurde 1971 in Bonn unterzeichnet. Dieses wurde seit
steuerung auf dem Gebiete der Steuern vom seinem Inkrafttreten im Jahr 1972 dreimal, zuletzt mit
Einkommen und vom Vermögen Protokoll vom 12. März 2002, revidiert. Es enthält je-
doch eine Informationsaustauschklausel, welche erheb-
– Drucksache 17/6257 – lich hinter dem weltweit anerkannten OECD-Standard
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14935
Manfred Kolbe
(A) zurückbleibt: Informationen zur Durchführung des in- Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftig (C)
nerstaatlichen Rechts werden derzeit nur bei beiderseits den umfassenden Informationsaustausch und erstreckt
mit Freiheitsstrafe bedrohten Betrugsdelikten, das heißt sich nicht nur auf Bankenauskünfte, sondern auch auf
in Fällen von Steuerbetrug oder Abgabenbetrug nach Sachverhalte wie zum Beispiel die Bekämpfung von
Schweizer Recht, nicht jedoch bei Steuerhinterziehung Geldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinan-
erteilt. zierung.
Wesentlicher Gegenstand des am 27. Oktober 2010 Zypern: Das in Nikosia am 18. Februar 2011 unter-
unterzeichneten Änderungsprotokolls ist deshalb die ge- zeichnete Abkommen zwischen der Bundesrepublik
genseitige – nun verbesserte – behördliche Unterstüt- Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung
zung in Steuersachen und Steuerstrafsachen durch In- der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steu-
formationsaustausch auf Ersuchen im Einzelfall auf der erverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom-
Grundlage der Informationsaustauschklausel in der ak- men und vom Vermögen löst das bisherige Abkommen
tuellen Fassung des Art. 26 des OECD-Musterabkom- vom 9. Mai 1974 ab. Da das bisherige Abkommen nicht
mens für Doppelbesteuerungsabkommen. mehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwi-
schen beiden Staaten entspricht, hat Deutschland im
Das Änderungsprotokoll umfasst darüber hinaus vier Jahr 2004 die Initiative ergriffen, es durch ein modernes
weitere Komponenten, die zusammen eine ausgewogene und den Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse
Kompromisslösung bilden. Hierzu gehören eine umfas- besser angepasstes Abkommen zu ersetzen.
sende verbindliche Schiedsklausel, die Senkung der
Mindestbeteiligungsschwelle für die Gewährung einer Strukturell und inhaltlich orientiert sich das neue Ab-
Quellensteuerbefreiung für zwischengesellschaftliche kommen am OECD-Musterabkommen von 2003. Als In-
Dividendenzahlungen, ein Diskriminierungsverbot hin- vestitionsanreiz sind insbesondere die Absenkung des
sichtlich der Abziehbarkeit von grenzüberschreitenden Quellensteuersatzes bei Dividenden aus zwischengesell-
Zins- und Lizenzzahlungen bei Unternehmen entspre- schaftlichen Beteiligungen von bisher 10 vom Hundert
chend Art. 24 Abs. 4 des OECD-Musterabkommens für auf 5 vom Hundert und die Minderung der Mindestbetei-
Doppelbesteuerungsabkommen sowie der temporäre ligungshöhe von bisher 25 vom Hundert auf 10 vom
Verzicht Deutschlands – bis einschließlich Veranla- Hundert zu nennen.
gungszeitraum 2016 – auf die Ausübung des Besteue-
rungsrechts für Einkünfte aus nichtselbstständiger Ar- Für Sozialversicherungsrenten haben nach dem
beit von Mitgliedern des Bordpersonals von im neuen Abkommen Wohnsitz- und Kassenstaat ein geteil-
internationalen Verkehr eingesetzten Luftfahrzeugen, tes Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten, Ruhegehäl-
(B) die bereits vor dem 1. Januar 2007 in der Schweiz an- ter und ähnliche Vergütungen – mit Ausnahme von Wie- (D)
sässig und bei einer deutschen Fluggesellschaft ange- dergutmachungsleistungen und Unterhaltsleistungen –
stellt waren und seitdem noch sind. verbleibt es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht
des Wohnsitzstaats des Empfängers.
Irland: Das Abkommen vom 30. März 2011 orientiert
sich am OECD-Musterabkommen in seiner aktuellen Der Methodenartikel sieht für die Bundesrepublik
Fassung. Das bisherige Abkommen entspricht nicht Deutschland nur die Anrechnungsmethode vor.
mehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwi-
Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftig
schen beiden Staaten, da sich insbesondere die gesetzli-
den umfassenden Informationsaustausch nach dem
chen Vorschriften in beiden Staaten geändert haben.
Standard, den die OECD im Rahmen ihres Programms
Deutschland hat im Jahr 2007 die Initiative ergriffen,
zur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbs
das bisherige Abkommen durch ein modernes und den
entwickelt hat, und erstreckt sich nunmehr sowohl auf
Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse besser
Bankenauskünfte als auch auf Sachverhalte wie die Be-
angepasstes Abkommen zu ersetzen.
kämpfung von Geldwäschedelikten, Korruption und Ter-
Der Quellensteuersatz bei Dividenden in Höhe von rorismusfinanzierung.
15 Prozent bei zwischengesellschaftlichen Beteiligun-
Bewertung: Die heute vorliegenden Abkommen sind
gen wurde auf 5 Prozent herabgesetzt.
ein Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung
Der Kassenstaat hat nunmehr ein Besteuerungsrecht und zur Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbe-
für Sozialversicherungsrenten. Hat ein Vertragsstaat werbs allgemein. Sie dienen weiterhin der Verbesserung
über einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren den Auf- der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen
bau anderer Renten gefördert, hat er künftig das allei- Deutschland und den jeweiligen Vertragspartnern. Ins-
nige Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten verbleibt besondere hervorzuheben sei die große Bedeutung des
es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht des Protokolls zur Änderung des Doppelbesteuerungsab-
Wohnsitzstaats des Rentenempfängers. kommens mit der Schweiz. Auch wenn es sich hierbei
nur um eine Teilrevision des Abkommens aus dem Jahr
Für Tätigkeiten vor der Küste, zum Beispiel Offshore- 1972 handele, sei die Bedeutung immens. Es ändere den
Ölförderung und -erforschung, wurde eine 90-Tage- im bisherigen Verhältnis mit der Schweiz sehr schwieri-
Frist für Erforschungstätigkeiten und eine 30-Tage-Frist gen Aspekt des Informationsaustausches. Dies stelle ei-
für Fördertätigkeiten vereinbart, ab der ein Besteue- nen großen Erfolg dieser und der vorherigen Bundesre-
rungsrecht des Küstenstaats besteht. gierung dar.
Manfred Kolbe
(A) Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die Ver- Diese Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden (C)
handlungsvertreter der Bundesrepublik sehr gute Ergeb- Zusammenarbeit in Steuerangelegenheiten ist ein wich-
nisse und Regelungen im Sinne unser Steuer- und Wirt- tiger Schritt, um die rechtliche Gleichstellung und -be-
schaftspolitik ausgehandelt haben. handlung aller Steuerpflichtigen zu erreichen, egal, ob
sie ihre Einkünfte aus dem In- oder Ausland beziehen.
Trotz alledem müssen wir in diesem Hause darüber Wir können das Abkommen mit der Schweiz allerdings
diskutieren, wie zukünftig Doppelbesteuerungsabkom- erst dann angemessen bewerten, wenn wir auch die Re-
men ausgestaltet werden sollen. Die Diskussion in die- gelung der sogenannten Altfälle, das heißt der unver-
ser Woche im Finanzausschuss hat dabei gezeigt, dass steuerten Altvermögen, in die Überlegungen einbezie-
die Methodik – Anrechnungs- oder Freistellungsme- hen.
thode – von Land zu Land unterschiedliche Auswirkun-
gen auf die Steuereinnahmen und/oder auf die wirt- Die Bundesregierung hat das zwischenstaatliche Ab-
schaftliche Situation unserer Unternehmen haben kann. kommen über die Besteuerung bislang unversteuerter
Hier gilt es künftig, zwischen den globalen Entwick- Kapitalerträge von Deutschen in der Schweiz heute un-
lungsmöglichkeiten unserer Unternehmen, der Bekämp- terzeichnet. Über den Inhalt dieses Abkommens ist bis-
fung von Steuerhinterziehung und der Verbesserung der lang kaum etwas an die Öffentlichkeit oder das Parla-
Einnahmesituation des Fiskus abzuwägen. ment gedrungen. Die Bundesregierung hat unsere
Anfragen stets mit dem Hinweis auf die angeblich erfor-
Heute aber haben wir zunächst über die drei vorlie-
derliche Geheimhaltung abgeblockt, um den erfolgrei-
genden ausgehandelten Abkommen abzustimmen. Die
chen Abschluss der Verhandlungen mit der Schweiz
Unionsfraktion begrüßt die vorliegenden Gesetzesent-
nicht zu gefährden.
würfe und wird ihnen aus den von mir erläuterten Grün-
den zustimmen. Die Vorsitzende von Transparency International
nannte diese Art von „Geheimdiplomatie“ am vergan-
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): genen Dienstag „aus demokratischer Perspektive be-
Wir behandeln heute drei Doppelbesteuerungsab- schämend“. Es ist in der Tat eine peinliche Missachtung
kommen mit der Schweiz, Irland und Zypern zur Vermei- des Bundestags, des Bundesrats und der gesamten deut-
dung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der schen Öffentlichkeit, dass die einzig relevanten Informa-
Steuerverkürzung, wenn wir das Abkommen mit der tionen ausgerechnet auf der Internetseite der Schweizer
Schweiz überhaupt so nennen wollen. Bankiersvereinigung zu finden waren. Ein merkwürdiges
Verständnis von Transparenz!
Die Doppelbesteuerungsabkommen setzen den aktu-
ellen OECD-Standard zu Transparenz und effektivem Schweizer Banken verweisen gerne darauf, dass ihr
(B)
Informationsaustausch für Besteuerungszwecke um. Geschäftsmodell auf Vertrauen und Vertraulichkeit, (D)
Deutschland sowie die Schweiz, Irland und Zypern ver- Seriosität und Schutz der Privatsphäre basiert. Mich är-
pflichten sich in den jeweiligen bilateralen Abkommen gern diese wohlklingenden, meist in vornehmem Tonfall
dazu, auf Ersuchen Informationen, die für das Besteue- vorgetragenen Formulierungen, weil sie verschweigen,
rungsverfahren voraussichtlich erheblich sein werden, dass dieses System der Geheimkonten und Steuer-
an die anfragende Stelle zu übermitteln. Zu diesen Infor- schlupflöcher nur funktioniert, wenn anderen Staaten
mationen gehören auch Bankinformationen und Infor- Steuereinnahmen verloren gehen. Um es in den Worten
mationen über Anteilseigner an juristischen Personen. der Schweizer Bankiersvereinigung zu sagen: „In
Angesichts der engen wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland steuerpflichtige Kunden von Banken in der
den genannten Staaten, insbesondere mit der Schweiz, Schweiz erhalten eine Brücke zur Steuerehrlichkeit bei
werden die zuständigen Steuerverwaltungen davon pro- gleichzeitiger Wahrung ihrer Privatsphäre.“ Hier wird
fitieren, wenn ihnen künftig bessere Instrumente für die deutlich, dass das Gerede vom Schutz des Bankgeheim-
zwischenstaatliche Amts- und Rechtshilfe zur Sachver- nisses in einem Staat meist Hand in Hand mit der Verste-
haltsaufklärung als erstem Schritt eines ordnungsgemä- tigung von Steuerungerechtigkeit und Mindereinnahmen
ßen Besteuerungsverfahrens zur Verfügung stehen. in einem anderen Staat geht. Wer Peer Steinbrücks klare
und etwas ironisch gemeinten Worte für irritierend hält,
Im Austausch mit der Schweiz stellt die Revision des der sollte sich ernsthaft darüber Gedanken machen, ob
Doppelbesteuerungsabkommens einen Paradigmen- die eigentliche politische Geschmacklosigkeit nicht in
wechsel dar. Bislang war die Schweiz nur zur Leistung diesem Geschäftsmodell auf Kosten Dritter beruht.
von Amtshilfe bei Betrugsdelikten, die beiderseits mit
Freiheitsstrafe bedroht waren, verpflichtet. Diese Klau- Wenn man sich an den bislang verfügbaren Informa-
sel stellte eine wirksame Abschirmung des Geschäftsmo- tionen orientiert, wundert man sich, woran genau die
dells vieler Schweizer Banken dar; denn Amtshilfe Bundesregierung denn nun genau den angeblichen Er-
musste nur in Fällen des Steuerbetrugs und des Abga- folg des Abkommens erkennen will und wer von den vor-
benbetrugs nach Schweizer Recht geleistet werden. gesehenen Regelungen profitieren soll. Die weit über-
Steuerhinterziehung hingegen ist nach Schweizer wiegende Zahl der ehrlichen Steuerpflichtigen in
Rechtsverständnis nur eine Ordnungswidrigkeit. Mit der Deutschland können es nicht sein; denn für sie sind die
Neuregelung verpflichtet sich die Schweiz, auf Ersuchen angeblichen Verhandlungserfolge ein Schlag ins Ge-
die Informationen zu übermitteln, die im ersuchenden sicht. Reiche Privatpersonen dagegen, die in vielen Fäl-
Staat für die Besteuerung „voraussichtlich erheblich“ len über Jahre und Jahrzehnte hinweg ihr Vermögen im
sind. Ausland versteckt und die fälligen Steuern auf ihre Kapi-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Nicht umsonst verabschiedete der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen am 28. April 2011 einstimmig die
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Resolution 1979 zur Lage in der Westsahara und zur
richts des Ausschusses für Menschenrechte und Verlängerung des Mandats der VN-Mission MINURSO.
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag Diese Resolution bringt in der Präambel erstmals die
14942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
Frank Heinrich
(A) Notwendigkeit der Verbesserung der Menschenrechte in schiedliche Optionen für eine Fragestellung des Refe- (C)
der Westsahara und den Lagern in Tindouf zur Sprache. rendums vertreten: Die Frage nach der Unabhängigkeit
der Westsahara wird von der Polisario gefordert, aber
Ich zitiere aus der Erklärung des Sicherheitsrates
von Marokko abgelehnt. Weitere Möglichkeiten wären:
vom 27. April 2011:
eine Autonomie innerhalb Marokkos oder ein Bundes-
The Council stressed the importance of improving staat „Westsahara“ in Marokko.
the human rights situation in Western Sahara and
Die Afrikanische Union hat die Polisario als Vertre-
the Tindouf camps and encouraged the parties to
tung der Sahraui anerkannt, woraufhin Marokko ausge-
work with the international community to develop
treten ist. Folglich ist die Frage nach der Unabhängig-
and implement independent and credible measures
keit der Westsahara von größter Bedeutung und muss
to ensure full respect for human rights.
zuerst geklärt werden. Bei den Gesprächen vor Ort ka-
Eine wesentliche Forderung des Antrags von Bünd- men wir immer wieder auf diese grundlegende Frage zu-
nis 90/Die Grünen, nämlich „sich selbst und im Rahmen rück. Unsere Gegenfrage: „Why not (independence)? –
der EU stärker als bislang bei den Vereinten Nationen Warum keine Unabhängigkeit möglich sei?“ blieb unbe-
für eine dauerhafte Lösung des Konflikts einzusetzen antwortet.
und sich für die Durchführung des 1991 in der VN-Reso-
Zur menschenrechtlichen Lage ist zu sagen: Bis heute
lution 690 avisierten Referendums stark zu machen oder
leben, je nach Schätzung, zwischen 100 000 und 200 000
aber sich im VN-Sicherheitsrat für eine neue Resolution
Sahraui in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in
einzusetzen“ – Quelle: Drucksache 17/4440 –, ist damit,
der algerischen Sahara. Das Gebiet der Westsahara ist
zumindest für den Moment, erfüllt.
aktuell durch eine befestigte und verminte Grenzanlage
Das begrüße ich ausdrücklich! geteilt, die von Marokko entlang der Waffenstillstands-
linie errichtet wurde. Die gewaltsame Räumung eines
Dem Antrag, wie er uns vorliegt, kann ich dennoch Lagers in der Westsahara Anfang November 2010 hat
nicht zustimmen. In einigen Punkten muss ich wider- die Situation noch einmal verschärft. Es kam unter ma-
sprechen, in anderen gehen mir die Forderungen nicht rokkanischen Sicherheitskräften und unter Sahrauis zu
weit genug. Toten und Verletzten. Anfang März 2011 kam es in den
Lassen Sie mich zur Erläuterung zunächst noch etwas Lagern von Tindouf zu einer Demonstration gegen die
ausholen und auf die Entstehungsgeschichte des Kon- Polisario-Führung. Menschenrechtsverletzungen wer-
flikts eingehen. Das Auswärtige Amt beschreibt den um- den sowohl vonseiten der Marokkaner als auch vonsei-
strittenen völkerrechtliche Status der Westsahara: ten der Polisario berichtet.
(B) Das Gebiet war nie eine staatliche Einheit, sondern Nun konkret zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die (D)
durch Stammesverbindungen, Handelsstraßen und Grünen. Die Forderung, sich innerhalb der EU für eine
Lehnsabhängigkeiten lange an Marokko gebunden, einheitliche Position zu Marokko und Westsahara einzu-
ohne historisch zum Territorium Marokkos zu gehö- setzen, ist richtig; sie muss meines Erachtens nach aber
ren. Hieraus leitet Marokko seinen Territorialan- flankiert sein von besonderen Gesprächen mit Spanien,
spruch ab. Seit 1884 spanische Kolonie, wurde die zur postkolonialen Verantwortung, und mit Frankreich,
Westsahara 1963 von den Vereinten Nationen in die zum Umgang mit Marokko und zum Fischereiabkom-
Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung auf- men.
genommen ... Laut Gutachten des Internationalen Das Fischereiabkommen mit Marokko ist am 29. Juni
Gerichtshofes (IGH) aus dem Jahr 1975 handelte 2011 verlängert worden. Die Bundesregierung hat ge-
es sich bei dem Gebiet weder um eine sogenannte meinsam mit Slowenien und Irland eine Erklärung zur
terra nullius, noch bestanden zum Zeitpunkt der Verpflichtung Marokkos, die Partizipation der Bevölke-
Kolonisierung des Gebiets durch Spanien territo- rung der Westsahara an den Rückflüssen aus dem Ab-
riale Souveränitätsbeziehungen zu Marokko oder kommen darzulegen, abgegeben. Die Zustimmung er-
Mauretanien. Nach Veröffentlichung des IGH-Gut- folgte auf Grundlage von Analysen der Europäischen
achtens ließ König Hassan II am 06.11.1975 einen Kommission über Rückflüsse aus dem Abkommen an die
„Grünen Marsch“ von 350 000 unbewaffneten Zi- Bevölkerung der Westsahara sowie der erstmaligen Ver-
vilisten in die Westsahara organisieren. 1976 rief pflichtung Marokkos, hierüber Bericht zu erstatten.
die Polisario die „Demokratisch-Arabische Repu-
blik Sahara“ aus. Nach dem Rückzug Mauretaniens Die Forderung des Antrags ist insofern obsolet. Eine
1979 blieb Marokko einzige „Verwaltungsmacht“ notwendige Klärung des Rechtsstatus der Meeresgewäs-
in der Westsahara. ser der Westsahara hingegen sollte im Zuge des Referen-
dums schnellstens erfolgen.
Nachdem 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung
zwischen Marokko und der Polisario getroffen wurde, Über diese Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen
beschlossen die VN am 29. April 1991 die Resolu- hinaus werbe ich für folgende Anliegen:
tion 690, in der ein Referendum über den völkerrechtli-
Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Bundesrepu-
chen Status der Westsahara gefordert wird. Diese be-
blik Deutschland eine diplomatische Vermittlerrolle zwi-
gründet die MINURSO-Mission der VN.
schen Marokko und Algerien einnimmt, und für die poli-
Bis heute ist es nicht zur Durchführung des Referen- tische Option eines Autonomiestatus der Westsahara
dums gekommen, vor allem weil die Parteien unter- innerhalb Marokkos werben, bei der keiner der Partner
Künftig ist es mein Anliegen, dass die EU-Flücht- Dabei ist der Prozess eigentlich schon relativ weit.
lingshilfe vermehrt finanzielle Unterstützung erhält und Fällig zur Durchführung des Referendums ist lediglich
dass über das Programm der Deutschen Akademischen noch die Aktualisierung der Wählerlisten. Hier zeigen
Flüchtlingsinitiative beim UNHCR weiterhin Stipendien Marokko und insbesondere der marokkanische König
für sahrauische Studierende sowie internationale Be- Mohammed VI. wieder einmal, dass es kein Interesse an
gegnungen ermöglicht werden. einer einvernehmlichen Lösung gibt. Die Reise und die
Gespräche, die wir führen konnten, haben sehr klar ge-
(B) Meines Erachtens nach muss das Ziel all unserer Be- zeigt: Es ist ein doppeltes Spiel Marokkos: Einerseits die (D)
mühungen die schnellstmögliche Durchführung des Re- Zusicherung der Achtung des internationalen Völker-
ferendums sein, wobei es im Vorfeld wichtig ist, bei der rechts, andererseits eine absolute politische Inflexibili-
Formulierung der darin gestellten Fragen einen Kon- tät und Missachtung der Menschenrechte, die sich
sens zu erzielen. durchaus auch auf die in Marokko lebenden Sahrauis
Ich behalte mir vor, diese Anliegen über Anfragen auswirken.
oder Anträge an die Bundesregierung auszudrücken Wir mussten feststellen: Die Lebensbedingungen der
oder zu verstärken. Menschen haben nichts mit der Gewährleistung der
Menschenrechte zu tun. Schlimmer noch: Wir haben mit
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Menschen gesprochen, welche darüber klagten, dass
Im Juni dieses Jahres besuchte eine Delegation des Befürworter des Referendums in Marokko gefoltert wer-
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe den und im schlimmsten Fall ungeklärt „verschwin-
die Westsahara. Wir waren sowohl auf der algerischen den“. Die jüngsten Proteste – inspiriert von dem Arabi-
als auch auf der marokkanischen Seite, und ich muss sa- schen Frühling – wurden blutig niedergeschlagen.
gen: Dies war eine Reise, die einen tiefen Eindruck bei Journalisten werden drangsaliert.
mir hinterlassen hat.
Menschenrechtlich sind wir in der Pflicht, uns inter-
Die Situation der 308 000 Sahrauis in den Flücht- national für die Lösung des Konfliktes zu engagieren
lingslagern von Tindouf in Algerien ist erschreckend, und gegebenenfalls Druck auf die Beteiligten auszu-
selbst wenn der UNHCR sie den Umständen entspre- üben. Die Menschen in der Westsahara müssen endlich
chend gut versorgt. Auch die Polisario kümmert sich um die Wahl bekommen: Wollen sie ein Teil Marokkos sein,
die Lebenssituation vor Ort. So gibt es Schulen, Behin- oder davon unabhängig?
derteneinrichtungen, Krankenhäuser und Sommerferi-
Teil des derzeitigen Problems ist auch die deutsche
enreisen für Kinder. Aber die Bedingungen für die
„Fähnchen-im-Wind-Dreherei“ bezüglich des marokka-
Flüchtlinge bleiben schwierig: Es gibt wenig Schatten
nisch-europäischen Fischereiabkommens. Es ist mir un-
oder Schutz vor dem Wüstensand. Wie ist es um die Per-
verständlich, warum sich Deutschland im Juni nun doch
spektive auf ein freies Leben unter gesicherten Bedin-
für dessen Verlängerung ausgesprochen hat. Die Fisch-
gungen bestellt?
gründe der Westsahara sollten angesichts des ewigen
In der Westsahara sieht man, was passiert, wenn poli- Konfliktes und der ungeklärten Zugehörigkeit für euro-
tisch nichts passiert: Dieser Konflikt, diese nicht vor- päische Fischer tabu sein. Die Sahrauis hatten in dem
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Die Bundesregierung unterstützt den Aufbau bilate- publik. Und gerade deshalb ist seit mehr als 30 Jahren (C)
raler Energiepartnerschaften mit Nordafrika (zu- eine Lösung des Konfliktes nicht möglich. Menschen-
nächst vor allem mit Marokko und Tunesien). rechte können hier nur eine untergeordnete Rolle spie-
Durch sie profitieren Nordafrika und langfristig len. Ihre ritualisierte Anrufung im Bundestag ist allen-
auch Deutschland von der Stromerzeugung aus er- falls ein untauglicher Versuch, die Kritiker der unge-
neuerbaren Energien … Die Bundesregierung un- rechten EU-Handelspolitiken zu beschwichtigen, damit
terstützt die DESERTEC-Initiative deutscher, euro- keine negative Signalwirkung auf die mit dem hervorge-
päischer und nordafrikanischer Unternehmen. hobenen Status – sprich dem advanced status – ausge-
statteten Handelspartner ausgeht.
DESERTEC als Energiegroßprojekt will Sonnen- und
Windenergie in der Wüste Nordafrikas für die lokale Die Bundesregierung versucht auch deshalb nicht,
Stromversorgung nutzen und langfristig Strom auch Menschenrechte in der Westsahara durchzusetzen, son-
nach Europa exportieren. Damit soll laut dem Afrika- dern sieht sich im Gegenteil genötigt, Marokko dafür zu
Konzept der Bundesregierung die Lieferung von Roh- belohnen, dass es durch die völkerrechtswidrige Besat-
stoffen aus afrikanischen Staaten unterstützt und „deut- zung und kontinuierliche Verübung schwerster Men-
sche Rohstoffinteressen mit langfristigen Lieferverträ- schenrechtsverletzungen ihre Wirtschaftsinteressen si-
gen“ abgesichert werden. Das Afrika-Konzept erwähnt chert. Seit 1966 leistet Deutschland militärische Ausbil-
mit keinem Wort, dass hier selbstverständlich über die dungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte, obwohl
Rohstoffe der Sahrauris verfügt wird. Die DESERTEC- sie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsa-
Investitionen sollen nämlich auch die völkerrechtswid- hara beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere
rig besetzte Westsahara umfassen. Nicht anders verhält haben Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der
sich die EU im Zusammenhang mit dem erst kürzlich Bundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen der
verlängerten EU-Fischereiabkommen mit Marokko. Die Bundeswehr absolviert. Die Bundesregierung belohnt
reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen zusammen mit der EU Marokko durch Ausrüstungs- und
Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen Ausstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gen-
weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflot- darmeriekräfte, also genau jene, die auch an der Räu-
ten und internationalen Konzernen preisgegeben wer- mung des „Camps der Würde“ und den Gewalttaten ge-
den. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mit- gen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren und
hilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale sind. Die Linke meint, dass gerade die Entwicklungen in
Zusammenarbeit erstellt wurde und ganz selbstverständ- Nordafrika gezeigt haben, dass diese Militär- und Poli-
lich Standorte in der Westsahara mit einschließt, soll zeihilfe für autoritäre Regime wie Marokko skandalös
deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einfüh- sind und dringend beendet werden müssen.
(B) rung und Privatisierung erneuerbarer Energien durch (D)
Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indem
gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vor-
sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zuguns-
stufe des DESERTEC-Projektes gelten. Der Plan des
ten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 einge-
von deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Mün-
stellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten
chener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank
100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung für die
dominierten und von der Bundesregierung unterstützten
Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundes-
Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in
ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im Rah-
in Nordafrika zu beziehen. Das hat weder mit Ökologie men der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe
noch mit der Förderung von Menschenrechten zu tun. wurde bereits 2007 eingestellt.
Das ist ökologisch total irrsinnig, weil Sie schon wieder
den hundert Jahre alten Fehler wiederholen auf Groß- Auch die EU belohnt Marokko, mit wohlwollender
projekte zu setzen statt auf kleinteilige, dezentrale Lö- Zustimmung der Bundesregierung, seit Jahren in der
sungen. Meine Damen und Herren von den Grünen, wer EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenen
den Umweltschutz will, wie Sie es hier auch mit dem Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen eine Mil-
Projekt DESERTEC vorgeben, muss zuerst die Men- liarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.
schen schützen und kann nicht mit solchen Großprojek-
ten auch noch die Sicherheitslage verschärfen und die Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völ-
Missachtung des Völkerrechts ignorieren. Die Linke kerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierli-
lehnt DESERTEC ab und fordert die Einhaltung des chen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der
Völkerrechts und dezentrale, kleinteilige Energieerzeu- Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Ver-
gung nicht auf Kosten der Länder und Menschen des Sü- längerung des EU-Fischereiabkommens– und das trotz
dens. der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiab-
kommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in
Auch die derzeit stattfindenden Gespräche über ein 2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die
Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko wollen unveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohne
die Rechte der Sahrauis nicht zur Kenntnis nehmen. Selbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Das
Dies hat nur ein Ziel: die Plünderung der Rohstoffe der meint auch der Juristische Dienst des Europaparla-
Westsahara. Die Aufrechterhaltung der marokkanischen ments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der
Besatzung der Westsahara sichert so den Zugriff auf die- Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fische-
ses rohstoffreiche Gebiet für die EU und die Bundesre- reiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in
Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Antwort
des Parl. Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage
entschuldigt bis
des Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD)
Abgeordnete(r) einschließlich (Drucksache 17/6994, dringliche Frage 1):
Welches sind die konkreten verfassungsrechtlichen Be-
denken der Bundesregierung hinsichtlich einer Zwangsverset-
Aigner, Ilse CDU/CSU 21.09.2011 zung ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit, Stasi, in der
Stasi-Unterlagen-Behörde, von denen der Regierungssprecher
Beckmeyer, Uwe SPD 21.09.2011 am Freitag, den 16. September 2011, sprach in Zusammen-
hang mit der seitens der Koalitionsfraktionen der CDU/CSU
und FDP geplanten Fixierung einer entsprechenden Regelung
Dr. Geisen, Edmund FDP 21.09.2011 im Stasi-Unterlagen-Gesetz, StUG, dessen Novellierung am
Mittwoch, den 21. September 2011, in den Ausschüssen des
Dr. Jochimsen, DIE LINKE 21.09.2011 Deutschen Bundestages abschließend beraten werden soll,
Lukrezia und wann wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundes-
tag diese Bedenken und deren Begründung vortragen?
Kolbe, Manfred CDU/CSU 21.09.2011 Bei der Bewertung des Gesetzentwurfs der Koali-
tionsfraktionen sind verschiedene verfassungsrechtliche
Dr. Koschorrek, CDU/CSU 21.09.2011 Aspekte zu berücksichtigen gewesen. Hier hat es einen
Rolf intensiven Meinungsbildungsprozess gegeben. Zum Zeit-
punkt der Äußerung des Regierungssprechers standen
Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 21.09.2011 noch Bedenken im Raum. Diese sind zwischenzeitlich
ausgeräumt.
Leutheusser- FDP 21.09.2011
Schnarrenberger, Bei den Bedenken, die der Regierungssprecher er-
Sabine wähnte, ging es insbesondere um die Frage, inwiefern
eine gesetzliche Anordnung zur Versetzung in die Perso-
Nahles, Andrea SPD 21.09.2011 nalhoheit der Ressorts eingreift. Diese Bedenken wurden
(B) durch die zuständigen Verfassungsressorts geprüft und (D)
Rupprecht SPD 21.09.2011* im Ergebnis ausgeräumt. Die Personalhoheit der einzel-
(Tuchenbach), nen Ressorts bleibt gewahrt, weil die Entscheidung über
Marlene eine konkrete Versetzung im Einzelfall den jeweiligen
Ressorts überlassen bleibt. Deshalb hält die Bundesre-
Schaaf, Anton SPD 21.09.2011 gierung die vorgesehene Regelung für vertretbar.
(A) Anlage 4 haben die Belange behinderter und anderer Menschen (C)
mit Mobilitätsbeeinträchtigung mit dem Ziel zu berück-
Antwort sichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennah-
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des verkehrs eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit
Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE zu erreichen, wobei Aussagen über zeitliche Vorgaben
GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 5): und erforderliche Maßnahmen getroffen werden sollen.
Hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent- Es bleibt abzuwarten, ob der Bundesrat die angespro-
wicklung, Dr. Peter Ramsauer, seine Äußerung, ein Ausstieg chene Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses in
Griechenlands aus der Euro-Zone wäre kein „Weltuntergang“,
(Interview in der Zeit vom 15. September 2011, mit dem Bun- seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf überneh-
deskanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesminis- men wird. Die Bundesregierung wird dann die Vor-
terium für Wirtschaft und Technologie abgestimmt, und wel- schläge des Bundesrates prüfen und die Ergebnisse in ih-
che Konsequenzen hätte dieser Ausstieg aus rer Gegenäußerung darlegen.
verkehrspolitischer und europäischer Sicht?
(A) Ein Förderantrag kann derzeit nicht eingereicht wer- sung der Tarife wird mit den Verbänden und den Küsten- (C)
den, da noch keine Aussagen für einen Realisierungs- ländern in regionalen Arbeitskreisen vereinbart.
zeitraum gemacht werden können. Denn zum einen liegt
noch kein rechtskräftiger Planfeststellungsbeschluss vor,
und zum anderen muss für einen Antrag sichergestellt Anlage 11
sein, dass das Projekt auch durch nationale Haushalts-
Antwort
mittel voll finanziert ist. Hierbei ist zu beachten, dass der
Zuschuss der EU-Förderung höchstens bei 20 Prozent des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des
liegen könnte. Der Zuschuss kann nicht mit in die Finan- Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) (Drucksa-
zierung eingerechnet werden, da keine Gewissheit be- che 17/6994, Frage 23):
steht, ob die Förderung zum Tragen kommt. Aufgrund Bemüht sich die Bundesregierung bei der Finanzierung
begrenzter Haushaltsmittel kann ein Zeitplan für die von Investitionsmaßnahmen zur Ertüchtigung des Nord-Ost-
Maßnahme wegen der zu knappen Ressourcenausstat- see-Kanals um Mittel im Rahmen der Europäischen Union?
tung derzeit nicht erfolgen. Ein Antrag auf Förderung von Infrastrukturmaß-
nahmen am Nord-Ostsee-Kanal aus der Haushaltslinie
TEN-V kann bei der EU derzeit nicht gestellt werden, da
Anlage 9 noch keine Aussagen über die Realisierung der erwoge-
nen Maßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal getroffen wer-
Antwort
den können.
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage der
Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD) (Drucksa-
che 17/6994, Frage 21): Anlage 12
Mit welcher Begründung stellt die Bundesregierung in Antwort
dem Entwurf des Bundeshaushaltes 2012 lediglich 25 Millio-
nen Euro für Um-, Aus- und Neubaumaßnahmen am Nord- des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Fragen der
Ostsee-Kanal und damit nur 3,9 Millionen Euro für den Be- Abgeordneten Bettina Hagedorn (SPD) (Drucksache
reich Schleusen ein? 17/6994, Fragen 24 und 25):
Die Veranschlagung der Um-, Aus- und Erweite- Welches Investitionskonzept hat die Bundesregierung bei
rungsmaßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal erfolgt unter der Modernisierung der Brücken, Fähren und anderen Ein-
richtungen des Querverkehrs am Nord-Ostsee-Kanal?
Berücksichtigung des in 2012 zur Verfügung stehenden
Haushaltsansatzes für alle Maßnahmen an allen Bundes- Ist es geplant, die Zeiten des Fährverkehrs am Nord-Ost-
see-Kanal einzuschränken?
(B) wasserstraßen. An den Schleusen Kiel-Holtenau und (D)
Brunsbüttel sind für vorgezogene Maßnahmen geplanter Die Investitionen an Brücken und anderen Einrichtun-
Neubau- und Ersatzmaßnahmen insgesamt 2,9 Millionen gen des Querverkehrs am Nord-Ostsee-Kanal werden
Euro vorgesehen. nach dem jeweiligen Instandhaltungsbedarf ausgerichtet.
Wo erforderlich, werden hierzu auch Ersatzinvestitionen
vorbereitet – zum Beispiel Hochbrücke Levensau. Da-
Anlage 10 rüber hinaus erarbeitet die WSD Nord zurzeit ein Kon-
zept zur Sicherstellung und Modernisierung des Fährbe-
Antwort triebes.
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Fragen des
Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) (Druck-
Anlage 13
sache 17/6994, Frage 22):
Plant die Bundesregierung eine Erhöhung der Gebühren Antwort
und Abgaben für die Schifffahrt – einschließlich Sportschiff-
fahrt – am Nord-Ostsee-Kanal?
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des
Abgeordneten Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) (Druck-
Mit dem Ziel einer stärkeren Beteiligung der Nutzer sache 17/6994, Frage 34):
an der Infrastrukturfinanzierung wird unter anderem Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den
auch eine Erhöhung der Befahrungsabgaben am Nord- von der Deutschen Bahn AG ermittelten Ergebnissen, dass als
Ostsee-Kanal, NOK, erwogen. Das Bundesministerium Alternative zur Bündelungstraße im Rheintal der Bau zweier
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung lässt hierzu zu- Gütergleise an der Autobahn plus die Ertüchtigung der Rhein-
talbahn auf 200 km/h mit Einsparungen von 20 Millionen
nächst eine Untersuchung der zu erwartenden Effekte Euro verbunden wäre?
durchführen.
Der Bundesregierung sind entsprechende Ergebnisse
Parallel dazu werden die Lotsabgaben, die ab dem einer Untersuchung der Deutschen Bahn AG nicht be-
1. April 2010 temporär um 10 Prozent abgesenkt wur- kannt. Der Projektbeirat zur Rheintalbahn hat auf seiner
den, zum 1. Januar 2012 wieder angehoben und dabei 5. Sitzung am 8. Februar 2011 zu dieser sogenannte
gegenüber dem Abgabenstand vom April 2010 um Kernforderung 2 Folgendes beschlossen:
10 Prozent erhöht.
„Der Projektbeirat begrüßt die Bereitschaft der Deut-
Lotsgeld ist keine öffentliche Abgabe, sondern ein sche Bahn AG, zum Vergleich mit der Antragstrasse ver-
privates Entgelt für die Leistung der Lotsen. Die Anpas- tiefende Untersuchungen für eine autobahnparallele
14952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Trassenführung von Offenburg bis Riegel vorzunehmen. Wie viele langfristige Arbeitsplätze sollen durch das „He- (C)
Er dankt der Bundesregierung und der Landesregierung lios“-Solarprojekt entstehen – bitte nach Griechenland und
Deutschland unterscheiden –, und mit welchen Wertschöp-
für ihre Zusage, die hierfür erforderlichen Mittel in Höhe fungsanteilen ist bei dem Projekt für Griechenland und
von 550 000 Euro zur Verfügung zu stellen. Deutschland jeweils zu rechnen?
Der Projektbeirat erwartet von der Deutsche Bahn Der griechische Minister für Umwelt, Energie und
AG, dass sie die entsprechenden Untersuchungen auf der Klimawandel, Herr Georgios Papakonstantinou, hat am
Grundlage des von der Arbeitsgruppe Cluster 3 einver- 14. September 2011 dem Bundesminister für Umwelt,
nehmlich erarbeiteten Pflichtenhefts in der Fassung der Naturschutz und Reaktorsicherheit, dem Bundesminister
Diskussion des heutigen Projektbeirats zeitnah und in der Finanzen und dem Staatssekretär des Bundesministe-
enger Abstimmung mit dieser Arbeitsgruppe durchführt. riums für Wirtschaft und Technologie, Jochen Homann,
Bei der Prüfung der Belange des Emissionsschutzes soll die Grundzüge des von der griechischen Regierung ent-
auf der Grundlage des Gutachtens Dr. Wendler auch die worfenen „Helios“-Konzepts erläutert.
maximale Kapazität berücksichtigt werden.“
Aus der bisherigen Darstellung der Projektidee durch
Dementsprechend ist die sogenannte Kernforderung 2 die griechische Regierung geht nicht hervor, ob das „He-
„BAB-Trasse“, als Tagesordnungspunkt 7 auf der nächs- lios“-Projekt ausgeschrieben werden soll oder welche
ten Sitzung des Projektbeirates am 26. September 2011 Arbeitsplatz- bzw. Wertschöpfungseffekte damit verbun-
im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtent- den sind.
wicklung Berlin eines der zu diskutierenden Themen.
Dabei wird die Deutsche Bahn AG über den in der Ar-
beitsgruppe bisher erreichten Sachstand berichten. Ab- Anlage 16
schließende Beschlüsse oder Empfehlungen in dieser
Antwort
Frage werden voraussichtlich nicht getroffen werden.
der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die
Fragen des Abgeordneten Dirk Becker (SPD) (Druck-
Anlage 14 sache 17/6994, Fragen 44 und 45):
Welche Forschungsaktivitäten bezüglich der Entwicklung
Antwort von Biokraftstoffen der zweiten bzw. dritten Generation exis-
tieren zurzeit in Deutschland, und wie weit sind sie fortge-
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des Ab- schritten?
geordneten Heinz Paula (SPD) (Drucksache 17/6994, Welche Folgen erwartet die Bundesregierung aus der In-
Frage 35): solvenz der Firma Choren Industries GmbH für die weitere
(B) Forschung und die Markteinführung von Biokraftstoffen der (D)
Kann der Bund gewährleisten, dass, wie angekündigt, die
Elektrifizierung der Bahnstrecke München–Memmin- zweiten bzw. dritten Generation?
gen–Lindau bis 2017 fertiggestellt ist, auch wenn laut Zei-
tungsberichten die Fortschreibung des Investitionsrahmenpla- Zu Frage 44:
nes für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes aufzeigt, dass
angeblich bis zum Jahr 2015 keine neuen Projekte begonnen Die Bundesregierung hat Projekte gefördert, die die
werden können? Biomass-to-Liquid-Technologie, BtL, sowie die Gewin-
nung von Ethanol aus Lignocellulose betreffen.
Die Durchführung der Elektrifizierung der Bahnstre-
cke München–Memmingen–Lindau ist durch Abschluss Hinsichtlich BtL-Kraftstoffen fördert das Bundes-
von Finanzierungsvereinbarungen finanziell sicherge- ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
stellt worden. Mit korrespondierenden Bestandsnetz- cherschutz, BMELV, insbesondere die erfolgverspre-
maßnahmen wurde im Jahr 2010 begonnen. Die DB chende bioliq-Pilotlinie des Karlsruher Instituts für
Netz AG hat mitgeteilt, dass der Abschluss der Vorpla- Technologie, KIT, die voraussichtlich in 2013 den Ver-
nung für die Bedarfsplanmaßnahmen Ende 2011 erwar- suchsbetrieb aufnehmen wird. Das Verfahren ist beson-
tet wird. Aus derzeitiger Sicht erwartet die DB AG den ders interessant, da sich eine breite Palette an Reststof-
Baubeginn erst nach dem Jahr 2013. Hierbei sind Verzö- fen wie zum Beispiel Stroh oder Restholz zu Kraftstoff
gerungen in den Planrechtsverfahren nicht eingeschlos- verarbeiten lässt. Ergebnisberichte sollen öffentlich zu-
sen. Gleichwohl wird seitens der DB Netz AG derzeit gänglich gemacht werden. Erste Informationen sind öf-
von einer Inbetriebnahme in Jahr 2017 ausgegangen. fentlich abrufbar über das Internet.
Vor diesem Hintergrund ist nach Informationen, die
der Bundesregierung vorliegen, mit Demonstrationsan-
Anlage 15 lagen nicht vor dem Jahr 2015 zu rechnen.
Antwort
Zu Frage 45:
der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die
Fragen des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Die Bundesregierung erwartet keine Auswirkungen
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Fragen 42 und 43): auf die Forschung. Zur Frage, ob die Insolvenz der
Firma Choren Industries GmbH Einfluss auf den Zeit-
Sollen die einzelnen geplanten Solarprojekte beim „He-
lios“-Solarprojekt in Griechenland ausgeschrieben werden,
punkt einer zukünftigen Markteinführung von Biokraft-
und wird sich Deutschland an der Entwicklung des Auswahl- stoffen der zweiten Generation haben könnte, kann keine
verfahrens beteiligen? genaue Einschätzung vorgenommen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14953
(A) Brasilien und China, Großbritannien hat zugesagt, sich zum Regierungsentwurf 2012 zu dem Schluss, dass sich das (C)
finanziell an den Experimenten zu beteiligen. Verfahren nach AV-FuG (Ausführungsvereinbarung über die
gemeinsame Förderung von Forschungsbauten an Hochschu-
len einschließlich Großgeräten) bewährt hat, und wie will die
Bundesregierung im Hinblick auf die in § 11 AV-FuG vorgese-
Anlage 20 hene Evaluierung der Ausgestaltung dieser Gemeinschaftsauf-
gabe bis Mitte 2012 die angeführten Mängel künftig abstel-
Antwort len?
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz entscheidet
des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache jährlich über die Titelanteile für die Großgeräte und die
17/6994, Frage 50): Forschungsbauten. Seit 2007 beträgt die Aufteilung un-
Aus welchen Gründen streicht die Bundesregierung die er- verändert: 213 Millionen Euro für die Forschungsbauten
folgreiche Förderung für kleine und mittlere Unternehmen, und 85 Millionen Euro für die Großgeräte.
KMU, im Rahmen der Hightech-Strategie KMU-innovativ im
Haushaltsentwurf 2012 – beispielsweise im Bereich „Sicher- Das Volumen der fertiggestellten Forschungsbauten
heitsforschung“ –, und mit welchen Maßnahmen soll weiter- beträgt 221 Millionen Euro und liegt damit über einer
hin eine angemessene Beteiligung von kleinen und mittleren
Unternehmen bei der Projektförderung sichergestellt werden?
Jahresrate für die Forschungsbauten.
Die Förderinitiative KMU-innovativ ist ein bewähr- Bis zum Jahr 2010 blieb der Mittelabfluss hinter den
ter, integrierter Baustein der Unterstützung von kleinen gesetzlich zur Verfügung zu stellenden Mitteln zurück,
und mittleren Unternehmen, KMU, in den Fachprogram- was neben einem in der Startphase geringen Antragsauf-
men des Bundesministeriums für Bildung und For- kommen vor allem darauf beruhte, dass Verzögerungen
schung, BMBF. Das Instrument wird in allen Technolo- im Planungs-, Genehmigungs- und Bauprozess unver-
giefeldern innerhalb der Fachprogrammförderung des meidbar Minderabflüsse zur Folge hatten.
BMBF auch zukünftig auf hohem Niveau weitergeführt. Der gegenüber den Vorjahren im Haushaltsjahr 2010
Erläuterungen in den Titelgruppen 20, 30 und 40 des geringere Mittelabfluss ist durch das Auslaufen der Mit-
Einzelplans 30 beziehen sich grundsätzlich auf Inhalte finanzierung der Überleitungsvorhaben nach § 4 AV-FuG
der Förderung, nicht aber auf die Instrumente. Entspre- zu erklären. Aufgrund der Bedarfsmeldungen der Länder
chend dieser Systematik wird im Allgemeinen auf ei- und den für die Förderrunde 2012 vom Wissenschaftsrat
gene Erläuterungsziffern für einzelne Instrumente in der empfohlenen Forschungsbauten ist ab 2012 ff. mit einem
KMU-Förderung im Haushaltsplan des BMBF verzich- der Titelausstattung angemessenen Mittelabfluss zu
tet. Dies gilt auch für den von Ihnen als Beispiel genann- rechnen.
ten Bereich der Sicherheitsforschung. Der Bericht gemäß § 11 AV-FuG zur Bewertung des (D)
(B)
Die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen Verfahrens zur Förderung von Forschungsbauten wurde
wird auch weiterhin für das BMBF von hoher Priorität von der GWK in ihrer Sitzung am 20. Juni 2011 zustim-
sein. Im Vergleich zum Haushaltsjahr 2005 ist die Förde- mend zur Kenntnis genommen. Darin wird insbesondere
rung des BMBF an KMU in 2010 um 60 Prozent – also festgehalten: „Das Verfahren nach AV-FuG hat sich be-
stärker als die Haushaltsansätze – gewachsen. Damit währt und kann in seiner derzeitigen Ausgestaltung wei-
geht inzwischen die Hälfte der FuE-Förderung in Unter- tergeführt werden. Das gewählte wettbewerbliche Ver-
nehmen an KMU. Über die Entwicklung der KMU-För- fahren auf Antragsbasis, Begutachtung durch den
derung insgesamt sowie KMU-innovativ in allen Titel- Wissenschaftsrat und im Großgerätebereich zusammen
gruppen berichtet das BMBF jährlich. mit der DFG sowie Beschlussfassung durch Bund und
Ländern im Rahmen des AV-FuG-Verfahrens gewähr-
Kleine und mittlere Unternehmen werden zudem leistet eine Verwendung von Fördermitteln entsprechend
maßgeblich im Rahmen des Zentralen Innovationspro- der Forschungsprogrammatik. Auf allen Verfahrensstu-
gramms Mittelstand, ZIM, des Bundesministeriums für fen sind Bund und Länder in jeweils unterschiedlicher
Wirtschaft und Technologie unterstützt. Weise angemessen beteiligt; das antragstellende Land
und die für das Forschungskonzept verantwortliche
Hochschule können aktiv am Begutachtungsverfahren im
Anlage 21 Wissenschaftsrat mitwirken.“ Im Anschluss hieran prüft
Antwort das BMBF derzeit gemeinsam mit den Ländern adminis-
trative Anpassungen unterhalb der Ebene der AV-FuG,
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage um die Mittelbewirtschaftung zu verbessern.
des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Drucksa-
che 17/6994, Frage 51):
Aus welchen Gründen kommt das Bundesministerium für Anlage 22
Bildung und Forschung im Hinblick auf die seit 2007 fertigge-
stellten Forschungsbauten mit einem Volumen von lediglich Antwort
221 Millionen Euro und damit weniger als einer einzigen vol-
len Jahresrate von 298 Millionen Euro, permanenten Minder- des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen
abflüssen aus dem Bundeshaushalt in diesem Bereich seit 2007 des Abgeordneten Oliver Kaczmarek (SPD) (Drucksa-
und der Erwirtschaftung der Globalen Minderausgabe 2010
mit über 95,7 Millionen Euro aus dem Titel „Überregionale
che 17/6994, Fragen 52 und 53):
Forschungsförderung im Hochschulbereich“ (Kapitel 30 03 Für welche konkreten Maßnahmen sieht die Bundesregie-
Titel 882 01) in der sogenannten Haushaltsfibel (Seite 161) rung in ihrem Finanzplan 2013 bis 2015 Mittel in Höhe von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14955
(A) 275 Millionen Euro vor, die für „vor- und außerschulisches mente noch zielgerichteter auch auf Alphabetisierungs- (C)
Lernen im Lebenslauf“ reserviert sind? elemente ausgerichtet werden können.
Wie stellt sich der gesamte Beitrag des Bundes zu einem
angestrebten „Alpha-Pakt“ für die Grundbildung von Erwach-
senen angesichts der alarmierenden Zahl von 7,5 Millionen
funktionalen Analphabeten dar, und sieht die Bundesregie- Anlage 23
rung den geplanten Beitrag in Höhe von jährlich 8,5 Millionen
Euro – Einzelplan 30 Titel 685 42 Erläuterungsnummer 2 – als
Antwort
ausreichend an? des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache
Zu Frage 52: 17/6994, Frage 54):
In Umsetzung des Koalitionsvertrages plant die Bun- Wie viele Anträge auf ein Aufstiegsstipendium sind in den
desregierung die Förderung lokaler Bildungsbündnisse. Jahren 2009, 2010 und 2011 – bis dato – gestellt worden, und
wie viele positive Förderzusagen konnten in denselben Jahren
Mithilfe dieser Bündnisse aus zivilgesellschaftlichen jeweils gegeben werden?
Akteuren beabsichtigt die Bundesregierung, Maßnah-
Im Programm Aufstiegsstipendium wurden im Jahr
men für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche
2009 bei 3 301 Bewerbungen 896 positive Förderzusa-
zu fördern. Eine entsprechende Förderbekanntmachung
gen gegeben. Im Jahr 2010 standen 3 383 Bewerbungen
wird derzeit vorbereitet, die Förderung wird 2013 begin-
1 014 ausgewählte Personen gegenüber. Im Jahr 2011
nen. Mit diesen Bündnissen für Bildung sollen pädago-
wurden bis dato 3 388 Bewerbungen eingereicht, von
gisch qualitätsgesicherte Angebote im außerschulischen
denen voraussichtlich rund 1 000 zur Förderung ausge-
bzw. außerunterrichtlichen Bereich bundesweit ermög-
wählt werden.
licht und zugleich zivilgesellschaftlich getragene Initiati-
ven, die vor Ort für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen, Einschließlich der im Jahr 2008 erfolgten Auswahl-
gestärkt werden. runde wurden seit dem Programmstart insgesamt 12 806
Bewerbungen eingereicht; die Zahl der positiven Verga-
Zu Frage 53: beentscheidungen wird bis Ende 2011 voraussichtlich
rund 3 500 betragen.
Bund und Länder haben vereinbart, einen „Nationalen
Pakt für Alphabetisierung und Grundbildung in Deutsch-
land“ zu initiieren und gemeinsam mit den Sozialpart-
Anlage 24
nern, den kommunalen Spitzenverbänden und den ge-
sellschaftlich engagierten Gruppen gezielte Maßnahmen Antwort
(B) zu konzipieren. des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage (D)
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache
plant, im Rahmen des Grundbildungspaktes einen neuen 17/6994, Frage 55):
Förderschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabeti- Welchen konkreten Projekten soll der im Finanzplan ab
sierung und Grundbildung“ aufzulegen, denn 56 Prozent 2013 geplante Aufwuchs in der beruflichen Bildung insbeson-
der funktionalen Analphabeten unter den Erwachsenen dere zur besseren Ausschöpfung aller Potenziale (Einzel-
plan 30 Titel 685 20 Erläuterungsnummer 2) zugutekommen?
sind erwerbstätig. Ziel dieses Förderschwerpunktes soll
es insbesondere sein, das Interesse von Unternehmen Beim Titel 30 02/685 20 „Innovationen und Struktur-
und Akteuren am Arbeitsmarkt zu steigern, Alphabeti- entwicklungen in der beruflichen Bildung“ ist der Auf-
sierungs- und Grundbildungsangebote am Arbeitsplatz wuchs für Maßnahmen im Rahmen der Initiative „Ab-
einzurichten und durchzuführen. Zudem sollen Unter- schluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Aus-
nehmen und gesellschaftlich relevante Akteure wie zum bildungsabschluss“ vorgesehen, insbesondere Berufsein-
Beispiel Arbeitsvermittlungen, Gewerkschaften, Kam- stiegsbegleitung – Erhöhung der Zahl der Berufseinstei-
mern und Verbände für die Thematik sensibilisiert sowie ger auf 1 000 –, Potenzialanalysen, Einsatz von Mento-
in die Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit ein- ren zur Verhinderung von Abbrüchen und Stärkung
gebunden werden. Jugendlicher in der Berufsausbildung (VerA).
Für dieses Forschungs- und Entwicklungsprogramm
zur „arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grund-
bildung“ sind insgesamt 20 Millionen Euro bis 2014 vor- Anlage 25
gesehen. Antwort
Darüber hinaus stellt der Bund mit den Integrations- des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
kursen, den Eingliederungsmaßnahmen für Arbeitslose des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD)
der Bundesagentur für Arbeit, der beruflichen Weiterbil- (Drucksache 17/6994, Frage 56):
dung für KMU nach dem SGB III und der Weiterbil- Welche Vorkehrungen hat die Bundesregierung im Finanz-
dungsprämie Instrumente bereit, in deren Rahmen be- plan 2013 bis 2015 für den Hochschulpakt zur Ausfinanzie-
reits heute Alphabetisierungsmodule enthalten sind. Die rung aller Studienanfänger getroffen, sollten wie gegenwärtig
finanzielle Größenordnung ist wegen des integrativen erwartet deutlich mehr als die bisher geplanten 275 000 zu-
sätzlichen Studienanfänger ein Studium aufnehmen?
Charakters dieser Module nicht bestimmbar. Im Rahmen
der weiteren Gespräche zur Gestaltung des Grundbil- Als Folge der Aussetzung der Wehrpflicht haben
dungspakts wird auch darüber beraten, wie diese Instru- Bund und Länder in der GWK-Sitzung am 21. März
14956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) 2011 bereits ihre Finanzzusage auf rund 320 000 bis Haushaltsjahren sich weiter verschärft, 2013: Gesetzentwurf (C)
335 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten für die Jahre sah 160 Millionen Euro vor, mittelfristige Finanzplanung
nennt 51 Millionen Euro?
2011 bis 2015 erhöht. Darüber hinaus hat der Bund zu-
gesichert, seinen Beitrag für die Ausfinanzierung der Welche einzelnen Parameter – Zahl der Stipendien, Dauer
der Förderung, Herkunft der Geförderten, Bürokratiekosten
Studienanfänger der ersten Programmphase entspre- usw. wird die jährliche Bundesstatistik enthalten, die „erst-
chend der tatsächlichen Studienanfängerentwicklung zu mals nach Ablauf des Kalenderjahres 2011 erstellt“ werden
erhöhen. Insgesamt stellt der Bund für die zweite Pro- soll (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
grammphase rund 1,5 Milliarden Euro mehr zur Verfü- Fraktion der SPD auf Bundestagsdrucksache 17/6796 zu
Frage 11), und zu welchem Datum soll diese Statistik erschei-
gung als ursprünglich mit den Ländern vereinbart wurde, nen?
davon mehr als 700 Millionen Euro für die Jahre 2013
bis 2015. In den nächsten Jahren stehen damit ausrei-
Zu Frage 58:
chende Mittel für den Ausbau der Studienangebote be-
reit. Es besteht in der GWK Einvernehmen, dass Bund Die Mutmaßung, es gebe eine Zurückhaltung von pri-
und Länder für den Fall, dass die Zahl der zusätzlichen vaten Mittelgebern, sich am Deutschland-Stipendium zu
Studienanfänger der zweiten Programmphase die in dem beteiligen, kann die Bundesregierung nicht bestätigen.
GWK-Beschluss vom 21. März 2011 genannte Zahl von Der Mittelplanung für das Jahr 2011 lag die Annahme
320 540 bis 334 940 zusätzlichen Studienanfängern einer durchschnittlichen Förderungsdauer von sieben
übersteigt, rechtzeitig Gespräche zu sich daraus ergeben- Monaten zugrunde. Ein erheblicher Anteil der Hoch-
den Folgerungen aufnehmen. schulen wird erst zum Wintersemester 2011 mit der Ver-
gabe von Stipendien beginnen, nachdem sie die vergan-
genen Monate genutzt haben, um sich auf die
Anlage 26 Beteiligung an dem Programm vorzubereiten. Aus die-
sem Grund ist die tatsächliche Förderungsdauer pro Sti-
Antwort pendium in 2011 wesentlich geringer als ursprünglich
veranschlagt. Hierdurch verringert sich auch der erwar-
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage tete Mittelabfluss.
des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD)
(Drucksache 17/6994, Frage 57): Die Finanzplanung für die kommenden Jahre wurde
Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung auf bereits im Sommer 2010 auf der Grundlage der Ergeb-
den Umfang der Förderung des Studenten- und Wissenschaft- nisse der Anhörung im Deutschen Bundestag am 9. Juni
leraustausches des Deutschen Akademischen Austauschdiens- 2010 überarbeitet, um den Wünschen der am Programm
tes, DAAD, aus dem Titelansatz für den Bundeshaushalt Beteiligten, insbesondere der Hochschulen zu entspre-
(B) 2012, der rund 15 Millionen Euro unterhalb der Ist-Ausgaben (D)
chen.
aus 2010 liegt?
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen – Zahl der Fördermonate
des Abgeordneten Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE – Bezug von Leistungen nach dem BAföG
GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Fragen 58 und 59):
Zweitens. Zu den privaten Mittelgebern
Wie erklärt sich die Bundesregierung die Zurückhaltung
von Unternehmen und privaten Stiftern, sich am sogenannten – Rechtsform
Deutschlandstipendium finanziell zu beteiligen, obwohl doch
eine staatliche Kofinanzierung bereitsteht – bis zum Jahres- – Angaben zur Zweckbindung der Stipendien
ende rechnet die Bundesregierung aktuell damit, dass nur
etwa zwei Drittel der geplanten Mittel gebraucht werden – – Gesamtsumme der bereitgestellten Mittel.
und wie bewertet die Bundesregierung diesen schleppenden
Anlauf des nationalen Stipendienprogramms auch vor dem Die Übermittlung der Daten von den Statistischen
Hintergrund, dass der Ansatz für das Haushaltsjahr 2011 von
10 Millionen Euro deutlich unter dem ursprünglich im Ge-
Landesämtern an das Statistische Bundesamt ist für den
setzentwurf genannten Ansatz lag, 65 Millionen Euro, und 31. März 2012 vorgesehen. Das genaue Erscheinungsda-
diese Differenz zwischen Gesetzentwurf und kommenden tum der Bundesstatistik steht noch nicht fest.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14957
(A) Anlage 28 Welche konkreten Vorhaben und Maßnahmen gibt es – mit (C)
Blick auf den Gastbeitrag der Bundesministerin für Bildung
Antwort und Forschung, Dr. Annette Schavan, im Info-Bulletin des
Deutsch-Russischen Forums, Ausgabe 3 – seitens der Bun-
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Fragen desregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
des Abgeordneten Willi Brase (SPD) (Drucksache 17/6994, vention im Rahmen des am 23. Mai 2011 in Moskau eröffne-
ten Deutsch-Russischen Jahres der Bildung, Wissenschaft und
Fragen 60 und 61): Innovation 2011/2012, und wie sind bei der Planung und
Nach welcher Maßgabe koordiniert die Bundesregierung Durchführung Menschen mit Behinderungen und deren Orga-
die gleichgerichteten Maßnahmen der Berufseinstiegsbeglei- nisationen einbezogen?
tung nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch und der Bil-
dungslotsen im Rahmen der Bildungsketten (Einzelplan 30 Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
Titel 685 20), zumal erstere mit dem noch in Beratung befind- und das Ministerium für Bildung und Wissenschaft der
lichen Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 17/6277 auf Russischen Föderation stellen in der Ausgestaltung des
alle Schulen ausgedehnt werden sollen, letztere hingegen wei- Deutsch-Russischen Jahres der Bildung, Wissenschaft
terhin auf 1 000 Zielschulen beschränkt bleiben?
und Innovation 2011/12, DRWJ, vier strategische
Welche Überlegungen rechtfertigen aus Sicht der Bundes- Schwerpunkte in den Vordergrund. Dementsprechend
regierung die Dopplung gleichgerichteter Maßnahmen zur sind alle disziplinären und interdisziplinären For-
Berufsorientierung und zur Potenzialanalyse im Bildungs-
haushalt, die einerseits im Rahmen der Bildungsketten schungsbereiche aufgerufen, ihre Kooperationsmaßnah-
(Einzelplan 30 Titel 685 20) sowie andererseits im Rahmen men zu präsentieren und zu intensivieren.
der Förderung kooperativer Angebote der Berufsorientierung
gefördert werden sollen (Einzelplan 30 Titel 685 21)? In diesen Schwerpunkten wurden keine gesonderten
Vorhaben geplant, die speziell auf die Belange von Men-
Zu Frage 60: schen mit Behinderung zugeschnitten sind. Soweit bei
solchen Vorhaben, Maßnahmen und Veranstaltungen
Die Auswahl der Schulen im Rahmen des Sonderpro- auch Menschen mit Behinderung angesprochen oder be-
gramms Berufseinstiegsbegleitung der Initiative „Ab- teiligt sind, wird auf deren besondere Belange – zum Bei-
schluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Ausbil- spiel barrierefreier Zugang – selbstverständlich Rück-
dungsabschluss“ erfolgte auf Vorschlag der Länder, die sicht genommen. Organisationen von Menschen mit
nur Schulen für eine Berufseinstiegsbegleitung benen- Behinderung oder andere Verbände außerhalb von Bil-
nen sollten, an denen noch keine Berufseinstiegsbeglei- dung und Forschung wurden nicht gezielt in die Planung
tung nach § 421 s SGB III realisiert wurde. Die Umset- und Durchführung des DRWJ eingebunden.
zung des Sonderprogramms des BMBF erfolgt über die
Bundesagentur für Arbeit, sodass hier eine Koordination
(B) mit den Maßnahmen nach SGB gesichert ist. Anlage 30 (D)
Bei einer möglichen Ausdehnung auf alle allgemein- Antwort
bildenden Schulen wird durch die Bundesagentur für Ar- der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Frage der
beit die Koordination auch zukünftig sichergestellt. Abgeordneten Karin Roth (Esslingen) (SPD) (Drucksa-
che 17/6994, Frage 63):
Zu Frage 61: Wann wird die Bundesregierung nach der jetzt erfolgten
Veröffentlichung der Ergebnisse des High-Level-Panel-Be-
Es handelt sich nicht um eine Dopplung, da das richts zu den Korruptionsvorwürfen des Bundesministeriums
BMBF-Berufsorientierungsprogramm in überbetriebli- für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gegen
chen und vergleichbaren Einrichtungen, BOP, Bestand- den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuber-
teil der Initiative Bildungsketten ist und systemisch da- kulose und Malaria, GFATM, die zurückgehaltenen Mittel in
mit die Form der Berufsorientierung abbildet. Ziel der Höhe von 100 Millionen Euro auszahlen, und wird sie jetzt
auf die den Statuten des GFATM und den Zusagen der Bun-
Initiative Bildungsketten ist es gerade verschiedene In- deskanzlerin Dr. Angela Merkel widersprechenden Konditio-
strumente systemisch zu verzahnen. So werden aus dem nierungen für die weitere Vergabe von Mitteln verzichten?
Einzelplan 30, Titel 685 21 nur Maßnahmen der Berufs-
orientierung, BOP, finanziert – zweiwöchige Werkstatt- Die Bundesregierung begrüßt die Vorlage des Be-
tage und Potenzialanalyse. richts der unabhängigen Kommission zu den Mittelfehl-
verwendungen beim GFATM. Der darin festgehaltene
Des Weiteren ist durch die Vorgaben im Rahmen der erhebliche und dringende Reformbedarf beim GFATM
Förderrichtlinie zum BOP und den Vorgaben im Rahmen und bei der Nutzung von länderspezifischen, nach Kor-
des Sonderprogramms Berufseinstiegsbegleitung sicher- ruptionsrisiko differenzierten Umsetzungswegen sowie
gestellt, dass die Potenzialanalysen nur einmal durchge- neuen Managementstrukturen für den GFATM unter-
führt und gefördert werden. streicht einmal mehr die Wichtigkeit dieser politischen
Initiative der Bundesregierung – im Interesse einer künf-
tigen Vermeidung von Korruption und Mittelfehlver-
Anlage 29 wendung im Bereich des GFATM wie auch im Interesse
einer Neuorientierung des Fonds mit Blick auf eine Stei-
Antwort gerung der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit seiner Bei-
träge.
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Der Bericht fordert gravierende Änderungen in der
(Drucksache 17/6994, Frage 62): Struktur, im Management und bei den Instrumenten des
14958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) GFATM. Die Bundesregierung hat den GFATM aufge- desregierung geplanten Finanztransaktionsteuer für Armuts- (C)
fordert, dazu noch vor Ende September eine konkrete bekämpfung in Entwicklungsländern?
Umsetzungsplanung zu entwickeln und den Gebern des Die Bundesregierung setzt sich für eine weltweite
Fonds zur Entscheidung vorzulegen. Sobald sich das Einführung einer Finanztransaktionsteuer ein. Zumin-
GFATM-Board und das Sekretariat verbindlich verstän- dest soll eine Finanztransaktionsteuer, FTT, innerhalb
digt haben, wie und wann die Empfehlungen der Kom- der EU eingeführt werden.
mission umgesetzt werden, wird die Bundesregierung
die noch ausstehende Tranche über 100 Millionen Euro Die FTT bietet die Möglichkeit, zusätzliche Einnah-
für 2011 freigeben. Zukünftige Beiträge werden an kon- men zu generieren. Sie kann auch der Stabilisierung und
krete Reformfortschritte geknüpft werden. Marktregulierung von Finanzmärkten dienen. Die Pro-
gnosen der fiskalischen Wirkungen einer Finanztransak-
tionsteuer gehen jedoch weit auseinander und hängen
Anlage 31 stark davon ab, ob eine Finanztransaktionsteuer in ein-
zelnen Ländern, regional oder in allen wichtigen Han-
Antwort delsplätzen oder sogar weltweit eingeführt wird.
der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Frage der Man kann zum jetzigen Zeitpunkt weder absehen, in
Abgeordneten Heike Hänsel (DIE LINKE) (Drucksache welcher Form eine Finanztransaktionsteuer durchsetzbar
17/6994, Frage 64): sein wird, noch ob sie überhaupt weltweit durchgesetzt
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass im werden kann. Detaillierte Aussagen über die Auswirkun-
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gen auf Entwicklungs- und Schwellenländer lassen sich
Entwicklung, BMZ, mit dem ehemaligen Büroleiter der daher derzeit ebenfalls nicht treffen.
Friedrich-Naumann-Stiftung, FNSt, in Honduras, Christian
Lüth, der öffentlich den Putsch gegen den demokratisch ge-
wählten Präsidenten Manuel Zelaya unterstützt hat, nun be- Die diskutierte Frage der Aufkommensverwendung
reits nach Harald Klein der zweite Mitarbeiter der FNSt in auch zur Finanzierung globaler Kollektivgüter macht
eine wichtige Position im BMZ eingestellt worden ist, der zu- erst bei Einführung einer Finanztransaktionsteuer Sinn.
vor in Honduras die Putschisten unterstützt hat, entgegen der Über die Verwendung der Einnahmen des Bundeshaus-
Position des Auswärtigen Amts, der EU und der Vereinten
Nationen? haltes entscheidet im Rahmen seines Budgetrechts der
Deutsche Bundestag.
Die Auswahl von Beschäftigten des BMZ erfolgt, wie
in allen Bundesbehörden, nach Leistung, Eignung und
Befähigung. Der in der Anfrage benannte Mitarbeiter Anlage 33
(B) (D)
wird als Referent des BMZ im Bereich der Steuerung der
Durchführungsorganisationen eingesetzt. Die Funktion Antwort
eines Referenten auf Bearbeiterebene ist in der Ministe-
rialbürokratie nicht herausragend. des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Fra-
gen des Abgeordneten Gerd Bollmann (SPD) (Drucksa-
Alle Beschäftigten des BMZ vertreten im Übrigen die che 17/6994, Fragen 67 und 68):
politische Linie der Bundesregierung. Beabsichtigt die Bundesregierung, bis zum weiteren Vor-
liegen wissenschaftlicher Erkenntnisse die Erteilung von Ge-
nehmigungen zum Fracking auszusetzen?
Anlage 32 Beabsichtigt die Bundesregierung, bei Bohrungen nach
unkonventionellem Erdgas die Verordnung über die Umwelt-
Antwort verträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben, UVP-V
Bergbau, zu ändern, um die Öffentlichkeit besser einzubin-
der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Fragen den?
des Abgeordneten Dr. Sascha Raabe (SPD) (Drucksa-
che 17/6994, Fragen 65 und 66): Zu Frage 67:
Wie beurteilt insbesondere der Bundesminister für wirt- Die Erteilung von Genehmigungen zum Fracking
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Einführung
einer Finanztransaktionsteuer in ihrer Auswirkung auf Ent- liegt in der Zuständigkeit der Bergbehörden der Länder,
wicklungs- und Schwellenländer, und auf welche Weise kann die auf der Grundlage des Bundesberggesetzes und der
er in seiner Funktion als Gouverneur der Weltbank die Bemü- Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung
hungen der Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, und des bergbaulicher Vorhaben, UVP-V Bergbau, unter Beteili-
französischen Staatspräsidenten unterstützen, dieses Instru-
ment der Finanzmarktregulierung erneut auf die Tagesord- gung weiterer zuständiger Behörden entscheiden.
nung der Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds
und Weltbank zu setzen?
Zu Frage 68:
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Ein-
nahmen aus einer Finanztransaktionsteuer zunächst für die Die Bundesregierung prüft derzeit den Änderungsbe-
Armutsbekämpfung vor allem in Entwicklungsländern ge- darf. Jedoch müssen aus Sicht der Bundesregierung im
dacht waren, und wie ist die heutige Position der Bundesre- Rahmen von Zulassungsentscheidungen bei Erdgasför-
gierung, insbesondere des Bundesministers für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, über die Ver- derung aus unkonventionellen Lagerstätten die Umwelt-
wendung eines Teils des Aufkommens aus einer von der Bun- auswirkungen grundsätzlich berücksichtigt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14959
(A) Anlage 38 Da der Haushalt noch unter dem Vorbehalt der (C)
parlamentarischen Zustimmung steht, kann die Bundes-
Antwort regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine kon-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die kreteren Auskünfte über Projekte und Partnerorganisa-
Frage der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ tionen geben.
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 73):
Unterstützt die Bundesregierung das Vorhaben der EU- Anlage 41
Kommission, die Energieversorger im Rahmen der Energie-
effizienzrichtlinie zu jährlichen Energieeinsparungen von Antwort
1,5 Prozent zu verpflichten? der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der
Die zuständigen Ressorts der Bundesregierung stim- Abgeordneten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
men derzeit ihre Position zu diesem Vorschlag der EU- NEN) (Drucksache 17/6994, Frage 76):
Kommission ab. Welchen Standpunkt nimmt die Bundesregierung zu den
im Anschluss an ein Treffen am 8. September 2011 in Hanno-
ver erhobenen Forderungen der Innenminister der norddeut-
schen Bundesländer ein, den vom Deutschen Bundestag be-
Anlage 39 willigten Rahmen für die EU-geführte Operation ATALANTA
von 1 400 Soldaten konsequent auszuschöpfen, und wie lautet
Antwort die derzeitige Position der Bundesregierung zu der im zweiten
Halbjahr 2011 anstehenden Verlängerung und dann zu erfol-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die genden Neuausgestaltung des Mandats für die Operation
Frage der Abgeordneten Heike Hänsel (DIE LINKE) ATALANTA?
(Drucksache 17/6994, Frage 74): Die Bundesregierung plant, den Deutschen Bundestag
Was sagt die Bundesregierung zu der im Rahmen der zeitgerecht vor Ablauf des bis zum 18. Dezember 2011
Haushaltsdebatte zum Entwurf des Bundeshaushalts 2012 zu vom Bundestag erteilten Mandates mit einem Antrag zur
Einzelplan 23 am 7. September 2011 getroffenen Aussage, Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
dass das seit Monaten öffentlich kritisierte mögliche Panzer- Streitkräfte an der EU-geführten Operation ATALANTA
geschäft mit Saudi-Arabien nicht stattfinden würde?
zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias zu
Zu dem im Rahmen der Haushaltsdebatte angespro- befassen. Nach Wunsch der Bundesregierung soll das
chenen möglichen Panzergeschäft mit Saudi-Arabien Mandat um ein weiteres Jahr verlängert werden.
kann die Bundesregierung keine Stellung nehmen, da Die im nationalen Mandat festgelegte Obergrenze von
Tagesordnung und Entscheidung des Bundessicherheits- 1 400 Soldatinnen und Soldaten ist geeignet, auch bei
(B) rats der Geheimhaltung unterliegen. Das Thema wurde Lageverschärfungen die zeitweilige Unterstützung der (D)
in der Fragestunde am 6. Juli 2011 bereits ausführlich er- regulären Einsatzkräfte durch Verstärkungskräfte mit
örtert. entsprechendem Fähigkeitsprofil zu ermöglichen – unter
anderem Unterstützung von Geiselbefreiungsoperatio-
nen. Die im Mandat vorgesehene Obergrenze deckt in
Anlage 40 diesem Sinne die maximal mögliche Zusammenziehung
bewaffneter deutscher Kräfte zur Erfüllung aller manda-
Antwort tierten Aufgaben ab.
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der Eine dauerhafte, durchhaltefähige Entsendung der im
Abgeordneten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nationalen Mandat definierten Obergrenze von 1 400
NEN) (Drucksache 17/6994, Frage 75): Soldatinnen und Soldaten würde die Kapazitäten der
Wie ist der aktuelle Stand der Planungen und der konkre-
Deutschen Marine übersteigen. Deutschland ist unter an-
ten Durchführung von Bildungsprogrammen wie akade- derem mit der dauerhaften Gestellung einer Fregatte mit
mischem Austausch, Stipendienprogrammen und Bildungs- zwei Bordhubschraubern, bewaffneten Schutzteams der
initiativen, die die Bundesregierung zur Unterstützung des Bundesmarine und zeitweilig eingesetzten Seefernauf-
arabischen Frühlings im Februar 2011 angekündigt hatte? klärern engagiert. Somit sind wir mit Spanien und
In dem am 6. Juli 2011 vom Bundeskabinett beschlos- Frankreich der verlässlichste und größte Truppensteller
in der Anti-Piraterie am Horn von Afrika. Zeitweise
senen Regierungsentwurf für den Haushalt 2012 sind für
wurde das deutsche Kräftedispositiv bereits durch wei-
den Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-
tere Fregatten, Einsatzgruppenversorger und Betriebs-
tik des Auswärtigen Amts 20 Millionen Euro als Sonder- stofftransporter verstärkt.
mittel für arabische Länder im Umbruch vorgesehen.
Zur Mittelverwendung bestehen im Auswärtigen Amt Anlage 42
bereits konzeptionelle Überlegungen: So sollen unter an-
derem im Rahmen einer Bildungs-, Kultur- und Medien- Antwort
initiative unter dem Titel „Platz der Zukunft“ insbeson- der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des
dere Sonderstipendienprogramme und Bildungsprojekte Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache
finanziert werden. Der Name des Programms soll den 17/6994, Frage 77):
Tahrir-Platz in Kairo und die öffentlichen Räume in den Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
anderen Ländern der Region würdigen, von denen die der Äußerung des tschechischen Außenministers Karel
Freiheitsbewegungen ihren Ausgang genommen haben. Schwarzenberg (Interview im Tagesspiegel vom 12. August
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14961
(A) 2011), dass der Beitritt der Staaten des westlichen Balkans In welchen Distrikten des Regional Command North hat (C)
Vorrang hat, und mit welchem der Länder des westlichen Bal- das Innenministerium Afghanistans den Einsatz der Afghan
kans sollten aus Sicht der Bundesregierung im Zeitraum der Local Police zugelassen, und in welchen dieser Distrikte wur-
kommenden zwei Jahre Beitrittsverhandlungen aufgenommen den Einheiten aufgestellt?
werden? Inwieweit setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass
Auf dem Europäischen Rat in Thessaloniki hat die die staatliche Aufsicht und Kontrolle der Afghan Local Police
verbessert wird?
EU eine Beitrittsperspektive für alle Länder des westli-
chen Balkans formuliert, die weiterhin gültig ist. Für je-
Zu Frage 79:
den Schritt der EU-Annäherung sind allerdings von den
Beitrittsaspiranten Voraussetzungen zu erfüllen, die un- Im deutschen Verantwortungsbereich hat das afghani-
ter anderem in den Kopenhagener Kriterien formuliert sche Innenministerium den Aufbau einer afghanischen
und im Rahmen der Konditionalität des Stabilisierungs- Lokalpolizei in Pul-e Khomri – Baghlan Provinz – zuge-
und Assoziierungsprozesses umgesetzt werden. lassen. Dort wurden 210 von 225 Polizeieinheiten aufge-
stellt. Weiter hat das afghanische Innenministerium den
Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die je-
Aufbau in Kunduz – Kunduz Provinz – zugelassen. Dort
weils benannten Voraussetzungen ohne Abstriche erfüllt
wurden 115 von 225 Einheiten aufgestellt.
werden müssen, um den nächsten Schritt der Annähe-
rung zu vollziehen. Die EU-Kommission erstellt auch zu Weitere Zulassungen liegen vor für die Distrikte Chahar
diesem Zweck jährliche Fortschrittsberichte. Im Oktober Dara, Imam Saheb, Dasht-e Archi – Kunduz Provinz –,
2011 erwarten wir die Berichte – und die darin enthalte- Dardak und Kwajah-e Ghar – Takhar Provinz – sowie im
nen Empfehlungen – zu den Ländern Montenegro, Ser- Westen in Quesh Tepah und Darzap – Jowsjan Provinz –,
bien, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedo- Sayad und Kohistanar – Sar-e Pul Provinz –, Ghowr-
nien und Albanien. Diese wird die Bundesregierung als mach – Badghis Provinz. Die Aufstellung ist dort jedoch
wichtigen Teil ihrer Meinungsbildung rasch und gründ- noch nicht erfolgt.
lich prüfen.
Zu Frage 80:
(A) und pastorale Teile – in Deutschland die Sicherheit und Deutschland und der Russischen Föderation, und wie sind (C)
das Wohlergehen des Gastes. Hierunter fallen insbeson- bzw. werden dabei Menschen mit Behinderungen und deren
Organisationen einbezogen?
dere die Kosten des sicheren Transportes im Inland. Die
Sicherheit der Veranstaltungsteilnehmer wird durch die Die Vorbereitungen für das „Jahr Deutschlands in
Bundespolizei und die Polizeien der Länder in ihrem je- Russland“ sind vor kurzem angelaufen. Im Fokus der
weiligen Zuständigkeitsbereich gewährleistet. Projekte und Veranstaltungen stehen im zweiten Halb-
jahr 2012 Moskau und St. Petersburg, in der ersten Jah-
Die Kosten gliedern sich im Einzelnen wie folgt:
reshälfte 2013 die russischen Regionen, darunter Nowo-
Erstens. Protokoll – Auswärtiges Amt/Bundespräsi- sibirsk, Jekaterinburg, Kaliningrad.
dialamt: Die Ausgaben für protokollarische Zwecke
Im Rahmen des Deutschlandjahres sind verschiedene
– Beflaggung, Transport, Tribünen für Gäste und Ähnli-
Projektformate, unter anderem zu dem konzeptuellen
ches – dürften nach jetziger Schätzung bei etwa
Oberthema Gesellschaftliche Herausforderungen, ge-
250 000 Euro liegen.
plant. Es ist der Bundesregierung wichtig, dass eines der
Zweitens. Bundesministerium der Verteidigung: Die Themen in diesem Bereich lautet: „Behinderung, Invali-
protokollarischen Maßnahmen seitens des BMVg um- dität, barrierefreie Stadt“. Weitere Schwerpunkte sind
fassen die Maßnahmen des Staatszeremoniells, die für „Zivilgesellschaftliche Teilhabe“ und „Gesundheitswe-
jeden Staatsbesuch durchgeführt werden. Zusätzliche sen“ – beides ebenfalls wichtige Themen für Menschen
Kosten entstehen darüber hinaus nicht. mit Behinderungen.
Drittens. Bundespresseamt: Für die vom Presse- und Die Ausschreibung, auf deren Grundlage Projektvor-
Informationsamt der Bundesregierung in Abstimmung schläge für eine Förderung im Rahmen des „Jahres
mit der Deutschen Bischofskonferenz verantwortete Me- Deutschlands in Russland“ eingereicht werden können,
dienbetreuung – zum Beispiel Journalistenakkreditie- ist vor kurzem veröffentlicht worden. Die Bundesregie-
rung, Poolbetreuung, Journalistentransporte – wird vo- rung wird sich weiter dafür einsetzen, dass die Belange
raussichtlich circa 1 Million Euro zu veranschlagen sein. von Menschen mit Behinderungen in diesem Kontext in
angemessener Weise Berücksichtigung finden.
Viertens. Bundesministerium des Innern: Im Zustän-
digkeitsbereich des BMI lässt sich die Größenordnung Über diesen Prozess und die entsprechenden Projekte
der entstehenden Kosten zum jetzigen Zeitpunkt noch werden sich auch über das Jahr hinaus hoffentlich gute
nicht zuverlässig einschätzen. Sie ergibt sich aus dem Anknüpfungspunkte für eine weitere Zusammenarbeit
tatsächlichen Besuchsverlauf. zwischen Deutschland und Russland ergeben.
Welche konkreten Vorhaben und Maßnahmen gibt es sei- Die Bundesregierung kennt die Berichte von Profes-
tens der Bundesregierung mit Blick auf das geplante „Jahr sor Manfred Nowak, dem ehemaligen Sonderbericht-
Russlands in Deutschland“ sowie das „Jahr Deutschlands in
Russland“ in den Jahren 2012 und 2013 zu dem Thema bilate-
erstatter der Vereinten Nationen über Folter. Jedoch lie-
rale Zusammenarbeit im Nationalen Aktionsplan zur Um- gen uns die Aussagen, die Sie Herrn Nowak in Ihrer
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention zwischen Frage zuschreiben, nicht vor. Zum Inhalt Ihrer Frage:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14963
(A) Im Januar 2009 verabschiedete die US-Regierung un- den wurden seitdem vom „DHS representative“ in Frankfurt (C)
ter Präsident Obama grundlegende Dekrete zur Terroris- derart „beobachtet“?
musbekämpfung. Diese umfassen insbesondere: die Die von der europäischen Grenzschutzagentur
beabsichtigte Schließung des Gefangenenlagers FRONTEX koordinierte Joint Operation AMAZON II
Guantánamo, ein Folterverbot und die Sicherstellung ge- fand im Zeitraum vom 19. Februar 2007 bis zum 9. März
setzeskonformer Verhörmethoden sowie die Anordnung 2007 statt. Im Rahmen der Maßnahme wurden insge-
der schnellstmöglichen Schließung von sogenannten samt 29 Gastbeamte aus sieben Mitgliedstaaten zur Un-
CIA-Geheimgefängnissen und das Verbot der Errichtung terstützung an acht europäischen Flughäfen eingesetzt.
neuer sogenannter CIA-Gefängnisse sowie neue Ansätze Das damalige Bundespolizeiamt Flughafen Frankfurt/
im rechtlichen Umgang mit Gefangenen in bewaffneten Main wurde von sieben Gastbeamten aus Spanien (3),
Konflikten und in Anti-Terror-Operationen, insbeson- den Niederlanden (1), Portugal (1), Italien (1) und
dere die Durchführung von Prozessen möglichst vor or- Frankreich (1) unterstützt. Darüber hinaus waren sieben
dentlichen Gerichten. weitere Grenzschutzbeamte aus Rumänien (2), Polen
(2), Griechenland (2) und Bulgarien (1) als Beobachter
Die Obama-Administration hat sich klar von der Pra- eingesetzt. Mitarbeiter des U.S. Departments of Home-
xis der ihr vorangegangenen Regierung Bush distanziert. land Security, U.S. DHS, waren an der FRONTEX-Ope-
Die Stärke der amerikanischen Demokratie liegt in der ration AMAZON II nicht beteiligt. Bedienstete des
Selbstkorrektur, wie sie von US-Präsident Barack DHS, Customs and Border Protection, CBP, beraten am
Obama gegenüber der Politik seines Vorgängers vorge- Flughafen Frankfurt am Main Luftfahrtunternehmen im
nommen wurde. Dies hat auch zu neuem Ansehen der Vorfeld von Einreisen in die USA. Sie nehmen keine ho-
USA in der Welt geführt. heitlichen Aufgaben wahr. Es ist nicht auszuschließen,
dass ein Berater des DHS sich informell bei an der
Die Bundesregierung hat die durch die Obama-Admi-
FRONTEX-Operation teilnehmenden Beamten infor-
nistration ab Januar 2009 vorgenommenen Änderungen
miert hat.
begrüßt. Gegenüber der Bush-Administration hatte die
Bundesregierung stets deutlich gemacht, dass die He-
rausforderungen durch den Terrorismus nur im Einklang
mit dem Völkerrecht, insbesondere dem humanitären Anlage 50
Völkerrecht und unter Achtung der Menschenrechte, Antwort
erfolgreich bewältigt werden können. Die Bundesregie-
rung und die EU haben sich gegenüber der Bush-Admi- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
(B) nistration wie der Obama-Administration wiederholt für der Abgeordneten Ulrike Gottschalck (SPD) (Druck- (D)
die Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo sache 17/6994, Frage 86):
sowie für die Aufklärung bezüglich der Existenz soge- Wann rechnet die Bundesregierung mit der Einsatzfähig-
nannter CIA-Geheimflüge bzw. -gefängnisse eingesetzt. keit von ausgereiften und fehlerfreien Körperscannern auf
deutschen Flughäfen?
Dieser Einsatz der Bundesregierung und der EU für
die Wahrung der Menschenrechte und die Einhaltung Die grundsätzlich für Luftsicherheitskontrollen geeig-
des Völkerrechts, auch beim Kampf gegen den inter- nete Technologie der erprobten Körperscanner muss
nationalen Terrorismus, hat uns hohes Ansehen in der vom Hersteller weiterentwickelt werden. Wie viel Zeit
Welt verschafft. dafür benötigt wird, kann von der Bundesregierung nicht
vorhergesagt werden.
Anlage 49
Anlage 51
Antwort
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
des Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE) des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
(Drucksache 17/6994, Frage 85): der Abgeordneten Ulrike Gottschalck (SPD) (Druck-
sache 17/6994, Frage 87):
Welche Erläuterungen kann die Bundesregierung zur Be-
teiligung des US-Department of Homeland Security – wie von Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Einfüh-
WikiLeaks im Cable „FRONTEX: EU Border Control Coope- rung einer bundeseinheitlichen Luftfrachtsicherheitsgebühr
ration at Frankfurt Airport“ vom 13. März 2007 veröffentlicht für die Luftfrachtunternehmen, die sich zum Beispiel nach
– an der Operation AMAZON II machen, gemäß dem ein dem jeweiligen Frachtaufkommen richtet, wie sie offenbar be-
„DHS representative“ in Frankfurt einen Tag lang die Opera- reits im Bundesministerium des Innern geprüft wird?
tion zur Migrationsabwehr AMAZON II beobachtete – „spent
a day at the Frankfurt airport observing FRONTEX opera- Die ergebnisoffene Prüfung der Refinanzierbarkeit
tions“ –, innerhalb derer 29 Angehörige von Polizeibehörden der Aufwendungen der Bundespolizei für die Kontrolle
aus sieben EU-Mitgliedstaaten unter deutscher Leitung der von Luftfracht – zum Beispiel über eine Abgabe – wird
damals noch jungen EU-Grenzschutzagentur FRONTEX für
mehr als zwei Wochen Tausende Identitätskontrollen am Frank-
derzeit im Fachressort vorgenommen und dauert noch
furter Flughafen vornahmen, bei deren 15 Menschen „ins Netz an. Die Meinungsbildung der Bundesregierung wird auf
gingen“, und welche anderen Polizeimaßnahmen bzw -behör- Grundlage dieser Prüfung erfolgen.
14964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Anlage 52 rate entsandt. Dieser fungiert als Ansprechpartner für (C)
Mitarbeiter der deutschen Auslandsvertretungen insbe-
Antwort sondere beim Erkennen von gefälschten Dokumenten im
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage Zusammenhang mit der Visumserteilung. Ferner über-
der Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (Druck- nimmt er die Beratung von Beförderungsunternehmen
sache 17/6994, Frage 88): und von Mitarbeitern der für die grenzpolizeilichen Kon-
Was ist die Aufgabe des im Rahmen der Umsetzung des trollen zuständigen Behörden in den Vereinigten Arabi-
seit 2005 bestehenden Abkommens über die Zusammenarbeit schen Emiraten.
im Sicherheitsbereich in Abu Dhabi stationierten Verbindungs-
beamten des Bundeskriminalamts, BKA, und welches sind ge- Daneben führt die Bundespolizei Maßnahmen der
gebenenfalls die Aufgabengebiete eventuell zusätzlich in den grenzpolizeilichen Ausbildungshilfe durch. Schwer-
Vereinigten Arabischen Emiraten eingesetzter Beamten des punkte sind dabei die Bekämpfung der irregulären Mi-
BKA oder anderer Bundesbehörden im Rahmen des erwähn- gration und die Erhöhung der Luftsicherheit.
ten Abkommens?
(A) einbezogen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Beteili- menfassender Meldung durchgeführt, und welche Erkennt- (C)
gungsrechte des Bundestages bei der Begebung von nisse hat die Bundesregierung über den Grad der
Abweichung?
Euro-Bonds in vergleichbarer Weise bewerkstelligt wer-
den könnten. Für die Erhebung und Kontrolle der Umsatzsteuer
sind nach der Finanzverfassung die Länder zuständig.
Die Bundesregierung prüft alle Vorschläge der
Der Bundesregierung ist bekannt, dass die Finanzbehör-
EU-Kommission eingehend. Die Inhalte der geplanten
den einzelfallbezogen bzw. bei Vorliegen von Unregel-
Vorschläge sind der Bundesregierung nicht bekannt. Die
mäßigkeiten Verprobungen durchführen zwischen den
gemeinsame Begebung von Anleihen mit gesamtschuld-
an die Landesfinanzbehörden übermittelten Angaben
nerischer Haftung lehnt die Bundesregierung jedoch ab,
über die Teilnahme am innergemeinschaftlichen Waren-
da sie die nationale Verantwortlichkeit und Haftung der
verkehr in der Umsatzsteuer-Voranmeldung und den An-
einzelnen Mitgliedstaaten aushebeln und die bestehende
gaben in den dem Bundeszentralamt für Steuern über-
Marktdisziplinierung durch unterschiedlich hohe Zins-
mittelten Zusammenfassenden Meldungen. Soweit
sätze beenden würde.
hierbei Abweichungen festgestellt werden, sind diese re-
gelmäßig Anlass für die Durchführung von Außenprü-
fungen. Der Bundesregierung liegen außerdem Informa-
Anlage 55 tionen vor, dass die Prüfer gehalten sind, im Rahmen der
Antwort Vorbereitung von Außenprüfungen insbesondere von
Umsatzsteuer-Sonderprüfungen entsprechende Verpro-
des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage bungen durchzuführen.
des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Drucksa-
che 17/6994, Frage 91): Über den Grad der Abweichungen liegen der Bundes-
Wie ist im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungs- regierung keine Erkenntnisse vor.
gerichtes zur Griechenlandhilfe und zum sogenannten Euro-
Rettungsschirm vom 7. September 2011 (Az. 2 BvR 987/10, 2
BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10) in den Mitgliedsländern der Anlage 57
Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, die jewei-
lige Parlamentsbeteiligung – insbesondere bei Grundsatzent- Antwort
scheidungen bei der Übernahme von Gewährleistungen, Not-
maßnahmen – sogenannten Financial Assistance Facility des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage
Agreements –, in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit sowie bei
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll (DIE LINKE)
der Freigabe weiterer Tranchen im Einzelnen – geregelt bzw.
vorgesehen, und welche Konsequenzen hat ein Mehr an parla- (Drucksache 17/6994, Frage 93):
mentarischer Mitwirkung wie in Finnland auf die Handlungs- Wann ist konkret mit der Veröffentlichung des Abkom-
(B) fähigkeit der EFSF? mens mit der Schweiz über unversteuerte Kapitalerträge zu (D)
rechnen, und welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung
Wie die parlamentarische Beteiligung bei Hilfsmaß- über die Höhe bisher nicht versteuerter Vermögen in der
nahmen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, Schweiz?
EFSF, in den anderen Mitgliedstaaten im Einzelnen aus-
gestaltet ist, ist der Bundesregierung nicht bekannt. Be- Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik
reits die nationale Umsetzung des geänderten EFSF- Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossen-
Rahmenvertrags – die in Deutschland durch das aktuelle schaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern
Gesetzesvorhaben zur Änderung des Euro-Stabilisie- und Finanzmarkt wird am Tag der Unterzeichnung die-
rungsmechanismusgesetzes, StabMechG, erfolgt – wird ses Abkommens veröffentlicht werden.
in den Mitgliedstaaten unterschiedlich gehandhabt. So Die Unterzeichnung ist für den 21. September 2011
sind etwa nach Kenntnisstand der Bundesregierung in vorgesehen.
Griechenland, Italien und Portugal keine parlamentari-
schen Verfahren zur Umsetzung der EFSF-Ertüchtigung Der Bundesregierung liegen lediglich Schätzungen
erforderlich. aus unterschiedlichen Quellen vor, die in ihrer Höhe
stark variieren. Belastbare Erkenntnisse liegen nicht vor.
Aus Sicht der Bundesregierung muss die parlamenta-
rische Beteiligung so ausgestaltet sein, dass die Funk-
tionsfähigkeit der EFSF sichergestellt ist. Die Marktteil- Anlage 58
nehmer dürfen nicht an der Einsatzfähigkeit des EFSF
zweifeln. Entscheidend sind klare Entscheidungsstruktu- Antwort
ren und schnelle Entscheidungsverfahren. des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die
Frage des Abgeordneten Heinz Paula (SPD) (Drucksa-
che 17/6994, Frage 94):
Anlage 56
Ist es zutreffend, dass im Fall der Vererbung eines Eigen-
Antwort heims an einen Elternteil – zum Beispiel Tod des Sohnes –
auch dann Erbschaftsteuer anfällt, wenn es sich um ein von
des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage der Mutter und dem verstorbenen – ledigen, kinderlosen –
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Sohn eigengenutztes Familienwohnheim handelt, welches
auch weiterhin vom erbenden Elternteil genutzt wird, und
(Drucksache 17/6994, Frage 92): wenn dem so ist, wie ist dies zu erklären, wenn im umgekehr-
Wird seitens der Finanzbehörden ein Datenabgleich, Ver- ten Fall – gemeinsam genutztes Familienwohnheim wird an
probung, zwischen Umsatzsteuer-Voranmeldung und Zusam- den Sohn vererbt – keine Erbschaftsteuer zu zahlen ist?
14966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Im Fall der Vererbung eines vom erblassenden Sohn das 62. Lebensjahr angehoben werden. Dies soll ange- (C)
zu eigenen Wohnzwecken genutzten Grundstücks an ei- messen und im Gleichklang mit der Anhebung der Re-
nen Elternteil fällt auch dann Erbschaftsteuer an, wenn gelaltersgrenze erfolgen. Der Erwerbsminderungsschutz
das Grundstück weiterhin vom erbenden Elternteil zu ei- wird so dem längeren Erwerbsleben angepasst.
genen Wohnzwecken genutzt wird.
Bei der Anhebung der Regelaltersgrenze blieb es zu-
Der Gesetzgeber hat mit der Steuerbefreiung im um- nächst bei der Zurechnungszeit bis zum Erreichen des
gekehrten Fall, also beim Erwerb eines sogenannten Fa- 60. Lebensjahres. Nun wird der alte Fünfjahresabstand
milienheims des erblassenden Elternteils durch ein Kind wieder hergestellt. Die Rentenansprüche derer, die nicht
oder mehrere Kinder, nur den Erwerb in der normalen mehr arbeiten und vorsorgen können, werden aufgewer-
Generationenfolge von den Eltern auf die Kinder be- tet.
günstigen wollen. Die Befreiung ist in diesem Fall auf
eine Wohnung mit einer Wohnfläche bis 200 Quadratme-
ter beschränkt – § 13 Abs. 1 Nr. 4 c ErbStG. Anlage 61
Antwort
Anlage 59 des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Antwort Frage des Abgeordneten Anton Schaaf (SPD) (Druck-
sache 17/6994, Frage 98):
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es mit dem
gen der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE Prinzip der Leistungsgerechtigkeit vereinbar ist, dass ein Ver-
LINKE) (Drucksache 17/6994, Fragen 95 und 96): sicherter, der die Zugangsvoraussetzungen für die sogenannte
Wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden Zuschussrente erfüllt, beispielsweise bei einer gesetzlichen
in den Jahren 2007, 2008 und 2009 von der Bundesagentur für Rente von 500 Euro und einer Betriebsrente von 100 Euro
Arbeit befristet eingestellt, wie viele davon sachgrundlos be- eine Aufstockung auf einen Nettozahlbetrag von 850 Euro er-
fristet (bitte gesondert Arbeitsvermittler im Bereich des Zwei- halten soll, während ein Versicherter, der ausschließlich eine
ten Buches Sozialgesetzbuch, SGB II, und über 50-Jährige, gesetzliche Rente von beispielsweise 750 Euro erhält und da-
insgesamt und als Arbeitsvermittler im SGB-II-Bereich auf- mit eine höhere Vorleistung durch höhere Beitragszahlungen
führen)? erbracht hat, keine Aufstockung erhalten soll?
Wie viele von den in den Jahren 2007, 2008 und 2009 be- Die Bundesregierung sieht hier keinen Widerspruch
fristet und sachgrundlos befristet eingestellten Arbeitnehme- zum Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Bei der Zu-
rinnen und Arbeitnehmern haben jeweils einen unbefristeten
Arbeitsvertrag erhalten – bitte gesondert Arbeitsvermittler im schussrente werden – vorbehaltlich des weiteren Ver-
Bereich des SGB II aufführen –, und wie viele davon waren laufs des „Regierungsdialog(s) Rente“ – nicht automa-
(B) über 50 Jahre alt? tisch alle Renten auf die Höhe von 850 Euro aufgestockt, (D)
Die gewünschten Informationen zu befristeten Ein- sondern nur die von Personen, die lange gearbeitet, Kin-
stellungen und die Umwandlung in unbefristete Beschäf- der erzogen oder gepflegt haben und neben der gesetzli-
tigungen für die Jahre 2007 bis 2009 können nach Aus- chen Rentenversicherung zusätzlich vorgesorgt haben.
kunft der Bundesagentur für Arbeit nicht geliefert Wer diese Voraussetzung erfüllt, erhält ein garantiertes
werden. Eine zentrale Auswertung ist der Bundesagentur Alterseinkommen von 850 Euro unabhängig davon, wie
für Arbeit über ihr IT-System nicht möglich, da die Per- hoch die durch eigene Vorleistungen erbrachte Rente ist.
sonalverantwortung dezentral bei den Regionaldirektio- Der in der Fragestellung genannte Versicherte, der eine
nen und Agenturen für Arbeit organisiert ist. eigene Rente von 750 Euro bezieht, hat keine eigene zu-
sätzliche Vorsorge betrieben und sich damit – anders als
der andere in der Fragestellung genannte Versicherte –
Anlage 60 nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten um eine Steige-
rung seines Alterseinkommens bemüht. Daher ist es ge-
Antwort recht, dass die Rente des Versicherten in Höhe von
750 Euro nicht aufgestockt wird. Für die Prüfung der
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Leistungsgerechtigkeit bei der Zuschussrente ist nicht
Frage des Abgeordneten Anton Schaaf (SPD) (Druck-
die absolute Höhe der Vorleistungen entscheidend, son-
sache 17/6994, Frage 97):
dern die Frage, ob der Betroffene für die eigene Alters-
Warum beabsichtigt das Bundesministerium für Arbeit versorgung vorgesorgt hat.
und Soziales in seinen Überlegungen zu Änderungen im Be-
reich der Erwerbsminderungsrente, die Zurechnungszeit nach
§ 59 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch parallel zu der
Anhebung der Regelaltersgrenze zu verlängern, obwohl die Anlage 62
Bundesregierung bislang bestritten hat, dass sich aus der An-
hebung der Regelaltersgrenze ein Handlungsbedarf für Ver- Antwort
besserungen bei den Erwerbsminderungsrenten ergibt?
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra-
Die sogenannte Zurechnungszeit – also die Phase des gen des Abgeordneten Marco Bülow (SPD) (Drucksa-
Erwerbslebens, die ab Eintritt der Erwerbsminderung für che 17/6994, Frage 99):
die Berechnung der Erwerbsminderungsrente fiktiv an-
Ist bei der Zuschussrente, deren Gewährung an Einkünfte
genommen wird – reicht heute bis zum 60. Lebensjahr. aus der gesetzlichen Rente und einer betrieblichen oder priva-
Um Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit lang- ten Quelle geknüpft ist, daran gedacht, sie bedürftigkeitsori-
fristig besser abzusichern, soll diese Zeit stufenweise auf entiert zu gestalten, sodass weitere Einkünfte, zum Beispiel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14967
(A) aus einem anderen obligatorischen Alterssicherungssystem wo jemand erwerbstätig war, Kinder erzogen oder Ange- (C)
oder auch Zinseinkünfte oder Einkünfte aus Vermietung oder hörige gepflegt hat, und es bedeutet auch keinen Unter-
Verpachtung, anzurechnen sind, und soll Vermögen angerech-
net werden? schied, wo jemand zusätzlich für sein Alter vorgesorgt
hat. Die Zuschussrente ist in den alten und neuen Län-
Das Konzept der Zuschuss-Rente sieht eine Einkom- dern gleich hoch.
mensprüfung vor, damit sie bei denen ankommt, die sie
tatsächlich benötigen. Hinsichtlich der konkreten Ausge- Zu Frage 102:
staltung gibt es noch keine abschließenden Festlegun-
gen. Im Übrigen bleibt der weitere Verlauf des „Regie- Das Konzept der Zuschussrente sieht die zentrale
rungsdialog(s) Rente“ abzuwarten. Administrierung auf Bundesebene durch die Deutsche
Rentenversicherung vor. Hinsichtlich der konkreten
Ausgestaltung gibt es noch keine abschließenden Festle-
Anlage 63 gungen. Im Übrigen bleibt der weitere Verlauf des „Re-
gierungsdialog(s) Rente“ abzuwarten.
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Frage der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Anlage 65
(Drucksache 17/6994, Frage 100):
Antwort
Nach welchem Verfahren bzw. in welcher Form soll der
Nettozahlbetrag der Zuschussrente von 850 Euro dynamisiert des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
werden, um sowohl Preissteigerungen als auch sich verän- Frage der Abgeordneten Katja Mast (SPD) (Drucksa-
dernde Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu be-
rücksichtigen und den relativen Abstand zur Grundsicherung che 17/6994, Frage 103):
im Alter und bei Erwerbsminderung, deren Regelbedarfe jähr- Soll die Zuschussrente unabhängig vom Einkommen eines
lich nach § 28 a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch fort- Partners/einer Partnerin gezahlt werden, also als ausschließ-
zuschreiben sind, zu wahren? lich individualisierte Leistung, und falls ja, wie bewertet die
Bundesregierung diese Regelung gegenüber den Regelungen
Der Regierungsdialog ist ein breit angelegter, offener des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, in
Diskussionsprozess, an dem Rentenversicherung, Fach- der die Höhe der Leistungen für Angehörige einer Bedarfs-
politiker, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Arbeit- bzw. Einstandsgemeinschaft je nach unterschiedlichen Regel-
geber und anlassbezogen weitere Institutionen beteiligt bedarfsstufen gewährt wird?
werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Nein. Das Konzept der Zuschussrente sieht auch die
geht offen in den Dialog. Bezüglich der Frage der Dyna- Berücksichtigung von Partnereinkommen vor. Denn die
(B) misierung der Zuschussrente ist noch keine Vorfestle- Zuschussrente soll zielgenau bei denen ankommen, die (D)
gung getroffen. diese zusätzliche Leistung auch benötigen, weil sie trotz
langjähriger Bemühungen über kein ausreichendes Al-
terseinkommen verfügen. Die Einkommenssituation im
Anlage 64 Alter ist aber nicht nur von den eigenen Einkünften, son-
Antwort dern auch vom Erwerbs- bzw. Alterseinkommen von
Ehegatten und Lebenspartnern abhängig. Personen, die
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra- in Haushalten mit hohem Einkommen leben, sind auf er-
gen der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner gänzende Leistungen nicht angewiesen. Deshalb sieht
(SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 101 und 102): das Konzept der Zuschussrente eine Einkommensprü-
Wie verteilen sich die Personen, die nach Einschätzung fung sowohl bei den Berechtigten als auch bei Ehe- oder
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahr 2013 Lebenspartnern vor. Hinsichtlich der konkreten Ausge-
die Anspruchsvoraussetzungen für die Zuschussrente erfüllen
werden, auf west- und ostdeutsche Versicherte, und wie wird staltung gibt es aber noch keine abschließenden Festle-
sich die Zusammensetzung der anspruchsberechtigten Perso- gungen. Im Übrigen bleibt der weitere Verlauf des „Re-
nen mutmaßlich in den nächsten Jahren entwickeln? gierungsdialog(s) Rente“ abzuwarten.
Soll jeder der Träger der Deutschen Rentenversicherung
mit der Administration der Zuschussrente betraut werden,
oder ist daran gedacht, die Zuständigkeit an einen oder meh-
rere bestimmte Träger zu vergeben?
Anlage 66
Antwort
Zu Frage 101:
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Gebietspezifische Unterscheidungen wurden bei den Frage der Abgeordneten Katja Mast (SPD) (Drucksa-
Schätzungen zur Zuschussrente nicht vorgenommen, che 17/6994, Frage 104):
denn wie sich die Berechtigten auf Ost und West auftei- Inwiefern kann die Anspruchsvoraussetzung der Wartezeit
len, ist vor dem Hintergrund der Zielsetzungen der Zu- der zusätzlichen Vorsorge durch unterschiedliche Formen der
schussrente ohne Belang. Das Ziel der Zuschussrente ist, privaten Vorsorge erfüllt werden, oder ist daran gedacht, sie
die Lebensleistung von Personen, die trotz langjähriger ausschließlich an einen Vertrag zu binden, der die Kriterien
des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes erfüllt?
Anstrengungen im Alter nicht über ein angemessenes
Einkommen verfügen, besser zu honorieren. Dieses Ziel Als Anspruchsvoraussetzung für die Wartezeit in der
gilt für die alten Länder wie auch für die neuen Länder zusätzlichen Altersvorsorge sind Zeiten der betriebli-
gleichermaßen. Denn es bedeutet keinen Unterschied, chen Altersversorgung und Zeiten der staatlich geförder-
14968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Bei der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge den Anteil der älteren Arbeitslosen (50 und älter) an al- (C)
muss außerdem Folgendes bedacht werden: Wegen der len Arbeitslosen.
grundsätzlichen Freiwilligkeit zum Abschluss eines ent-
sprechenden Vertrages würde es zu einer negativen Risi- Der Anteil der Älteren über 50 Jahre, die länger als
koselektion kommen, die es den Versicherungen versi- zwölf Monate arbeitslos sind, an allen älteren Arbeitslo-
sen ist von 42,6 Prozent im Juni 2010 auf 42,8 Prozent
cherungsmathematisch verbieten würde, entsprechende
im Juni 2011 lediglich geringfügig gestiegen. Absolut ist
Angebote ohne Gesundheitsprüfung zu machen. Zudem
sowohl die Zahl der älteren Arbeitslosen als auch der äl-
müsste eine obligatorische Absicherung des Erwerbs- teren Langzeitarbeitslosen in diesem Zeitraum zurückge-
minderungsrisikos eine Befreiungsmöglichkeit für die- gangen.
jenigen vorsehen, die bereits über eine entsprechende
Absicherung verfügen. Dies wäre mit großem Verwal- Zur Verbesserung der Wiedereingliederung von Ar-
tungsaufwand verbunden. Bei gleichem Fördervolumen beitslosen steht im SGB III und SGB II eine Vielzahl
ginge nicht zuletzt ein Teil der zusätzlichen Absicherung von Instrumenten zur Verfügung, die auch für die Ein-
fürs Alter verloren, und bei einer Kündigung des Vertra- gliederung älterer Arbeitsloser genutzt werden können.
ges würde in aller Regel auch automatisch der Erwerbs- Hierzu zählen beispielsweise Eingliederungszuschüsse
minderungsschutz wegfallen. ebenso wie Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung.
Die Bundesregierung hat darüber hinaus zur Verbes-
serung der Beschäftigungsfähigkeit und Beschäfti-
Anlage 71 gungschancen älterer Langzeitarbeitsloser ab 50 Jahren
Antwort im Oktober 2005 das Bundesprogramm „Perspektive
50 plus – Beschäftigungspakte für Ältere in den Regio-
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die nen“ gestartet. Mittlerweile sind 78 regionale Beschäfti-
Frage des Abgeordneten Josip Juratovic (SPD) (Druck- gungspakte am Bundesprogramm beteiligt. Ziel dieser
sache 17/6994, Frage 109): Beschäftigungspakte ist die Aktivierung, Förderung und
Wird die Bundesregierung im Rahmen des „Regierungs-
Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeit-
dialog(s) Rente“ auch Modelle unterstützen, die den Bezug ei- nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Wiederein-
ner Teilaltersrente auch bereits mit dem vollendeten 60. Le- gliederung älterer Langzeitarbeitsloser in den allgemei-
bensjahr ermöglichen, wenn sicher ausgeschlossen werden nen Arbeitsmarkt.
kann, dass durch die erhöhten Abschläge das Risiko von Al-
tersarmut entsteht? Der hierbei verfolgte regionale Ansatz ermöglicht es
den Beschäftigungspakten, gezielt auf die Besonderhei-
Die Bundesregierung wird im Rahmen des „Regie- ten vor Ort einzugehen sowie eigenverantwortlich neue
(B) rungsdialog(s) Rente“ Möglichkeiten einer weitergehen- Ansätze zu entwickeln. Im Jahr 2010 wurden rund (D)
den Flexibilisierung der Übergänge in den Ruhestand 190 000 Personen aktiviert und über 56 000 Personen in
prüfen. Bei der Prüfung entsprechender Vorschläge den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert.
sollte jedoch stets unter anderem hinterfragt werden, ob
es angesichts des drohenden Arbeitskräftemangels ge- Das Bundesprogramm wurde nochmals vom 1. Januar
sellschaftlich verantwortbar ist, Anreize für einen frühe- 2011 bis zum 31. Dezember 2015 verlängert. Das Ziel
ren Renteneintritt zu schaffen; Menschen, die arbeiten der dritten Programmphase, die regionale Ausweitung
können und wollen, die Möglichkeit eingeräumt werden des Bundesprogramms auf möglichst alle Grundsiche-
sollte, vorzeitig Rente zu beziehen, und wenn ja, welche rungsstellen zu realisieren, ist mit derzeit über 400 betei-
Bedingungen hierfür gelten müssen; ob die mit einem ligten Jobcentern annähernd erreicht. Ein weiteres
vorzeitigen Rentenbezug verbundenen lebenslangen Ab- wichtiges Ziel der dritten Programmphase ist die Identi-
schläge bei der Rente für den Einzelnen hinnehmbar und fizierung besonders erfolgreicher innovativer Ansätze
für die Allgemeinheit verantwortbar sind, und ob die der Beschäftigungspakte, die ins Regelgeschäft über-
Kosten einer Rückkehr zur Frühverrentung zukünftigen nommen werden können.
Generationen zuzumuten sind. Im Jahr 2011 sind insgesamt rund 200 000 Aktivie-
rungen und 65 000 Integrationen in den Arbeitsmarkt ge-
plant. Bis Ende August 2011 konnten bisher knapp
Anlage 72 151 000 Aktivierungen und knapp 48 000 Arbeitsmarkt-
integrationen erzielt werden. Damit liegt das Programm
Antwort deutlich über dem bis zu diesem Zeitpunkt gesetzten
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Ziel. Es ist daher zu erwarten, dass auch im Jahr 2011
Frage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann (DIE die Programmziele über das geplante Maß hinaus erfüllt
LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 110): werden.
Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um
den Anteil der 50 Jahre alten und älteren Langzeitarbeitslo-
sen, der binnen Jahresfrist um über 2 Prozentpunkte auf über Anlage 73
31 Prozent gestiegen ist (vergleiche Bundesagentur für Arbeit,
Sockel- und Langzeitarbeitslosigkeit, Broschüre der Arbeits- Antwort
marktberichterstattung, Nürnberg 2011), zu reduzieren?
des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die
Der in der Fragestellung zitierte Anstieg von „über Frage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann (DIE
2 Prozentpunkten auf über 31 Prozent“ bezieht sich auf LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 111):
14970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Warum lehnt die Bundesministerin für Ernährung, Land- die Methan- oder CO2-Emissionen vermeiden, und was (C)
wirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, die Begren- spricht aus Sicht der Bundesregierung für bzw. gegen ein sol-
zung von Monokulturen, unter anderem bei Mais, durch die ches klimapolitisches Instrument für die EU-Landwirtschaft?
von der EU-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zum
sogenannten Greening der Gemeinsamen Agrarpolitik wie Das australische Parlament beschloss erst am 23. Au-
etwa die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung ei- gust 2011 ein Gesetzespaket zur Einbeziehung der Land-
ner mindestens dreigliedrigen Fruchtfolge ab, obwohl auch wirtschaft in den innerstaatlichen Emissionshandel. Es
die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, vor dem Deutschen bleibt daher abzuwarten, welche Erfahrungen die Land-
Bauerntag 2011 wörtlich erklärt hat: „Nur noch Maisfelder,
nur noch Rapsfelder – das kann und darf es nicht geben“? wirte in Australien mit den neuen Regelungen machen,
welche Wirkungen für den Klimaschutz das Gesetzespa-
Nach Kenntnis der Bundesregierung sollen die Legis- ket erbringt und wie die wirtschaftlichen Auswirkungen
lativvorschläge der Europäischen Kommission für die zu beurteilen sind.
Gemeinsame Agrarpolitik nach 2013 am 12. Oktober
diesen Jahres vorgelegt werden. Die Bundesregierung Gleichwohl können die australischen Regelungen
wird die Vorschläge dann prüfen und eine detaillierte Po- nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragen werden,
sition erarbeiten. Bis dahin hält die Bundesregierung es da Deutschland in das europäische Emissionshandels-
nicht für angebracht, zu den sich noch im kommissions- system eingebunden ist. Änderungen hierzu können da-
internen Abstimmungsverfahren befindenden Entwürfen her nur auf europäischer Ebene erfolgen. Die Landwirt-
Stellung zu nehmen. schaft gehört zu den Sektoren und Bereichen, die derzeit
nicht dem Emissionshandel unterworfen sind. Ein Grund
Die Bundesregierung hat ihre grundsätzlichen Über- hierfür ist, dass die Erfassung von Emissionen mit hin-
legungen in ihrem Positionspapier vom 31. März 2010 reichender Genauigkeit auf betrieblicher Ebene derzeit
zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik nicht mit vertretbaren Kosten vereinbar ist.
sowie in ihrer Stellungnahme vom 28. Januar 2011 zur
Mitteilung der Europäischen Kommission „Die GAP bis
2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und länd- Anlage 80
liche Gebiete – die künftigen Herausforderungen“ vom
18. November 2010 dargelegt. Sie sind auch die Basis Antwort
von Gesprächen mit anderen Mitgliedstaaten. des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE)
(Drucksache 17/6994, Frage 119):
Anlage 78 Welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung aus dem
vom Freistaat Bayern aufgelegten Programm für den einhei-
Antwort mischen Anbau von Eiweißfutterpflanzen als Maßnahme ge-
(B) (D)
gen die aktuell große Abhängigkeit der einheimischen Tier-
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage haltungsbetriebe von Futtermittelimporten aus Südamerika,
der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung ihrer-
GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 117): seits zur Erhöhung des einheimischen Anbaus von Eiweißfut-
terpflanzen?
Wie will die Bundesregierung angesichts ihrer Ablehnung
einer Deckelung oder degressiven Ausgestaltung der Direkt- Zwischen 1990 und 2010 förderte die Bundesregie-
zahlungen verhindern, dass das System der Direktzahlungen
aufgrund zahlreicher nichtlandwirtschaftlicher Großempfän-
rung die Entwicklung der heimischen Körnerlegumino-
ger weiter an gesellschaftlichem Rückhalt verliert? sen Ackerbohnen, Erbsen und Lupinen mit insgesamt
rund 20 Millionen Euro. Trotz der erheblichen öffentli-
Eine Deckelung oder degressive Ausgestaltung der chen Förderung konnte der Wettbewerbsunterschied von
Direktzahlungen ist nicht geeignet, um einer eventuellen Körnerleguminosen zu anderen landwirtschaftlichen
Kritik wegen der Gewährung von Direktzahlungen an Kulturen nicht völlig abgebaut werden.
„nichtlandwirtschaftliche Großempfänger“ zu begegnen.
Bei der Deckelung oder degressiven Ausgestaltung der Im Jahre 2009 hat BMELV erneut seine Aktivitäten im
Direktzahlungen erfolgt die Kürzung in Abhängigkeit Eiweißpflanzenbereich intensiviert. Nach einer Reihe
von klärenden Fachgesprächen im Julius-Kühn-Institut in
von der Höhe der betrieblichen Direktzahlungen und
Braunschweig und zuletzt einem Fachforum der Deut-
nicht nach Kriterien, die am Betriebsinhaber anknüpfen.
schen Forschungsallianz, DAFA, sowie zahlreichen Fach-
Insofern ist eine Deckelung oder degressive Ausgestal- gesprächen auf Bundes- und Länderebene hat BMELV
tung der Direktzahlungen kein angemessenes Instru- seine FuE-Fördermittel in diesem Bereich weiter ver-
ment, um gezielt Zahlungen an „nichtlandwirtschaftliche stärkt. Die bundesdeutsche und die bayerische Initiative
Großempfänger“ zu vermeiden. zur Förderung des Anbaus von Eiweißpflanzen ergänzen
sich somit.
Anlage 79
Anlage 81
Antwort
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) der Abgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE) (Drucksa-
(Drucksache 17/6994, Frage 118): che 17/6994, Frage 120):
Welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung aus der Welche Überlegungen hat die Bundesregierung dahin ge-
Einführung von Gutschriften für australische Agrarbetriebe, hend angestellt, dass der Sinn der in den Richtlinien für die
14972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Durchführung der Informationsarbeit geregelten Zugangsbe- Vorliegen einer Erlaubnis der Sorgeberechtigten – zur (C)
schränkung für Waffen bei Minderjährigen darin besteht, die- Darstellung der Ausrüstung und Leistungsfähigkeit der
sen weder Waffensysteme noch Waffen als Spielzeug zu prä-
sentieren, um sie nicht an den Gebrauch tödlicher, Streitkräfte erlaubt.
kriegerischer Gewalt zu gewöhnen, und dass diese Absicht
konterkariert wird, wenn nun ausdrücklich geregelt ist, dass
Der in der Richtlinie für die Durchführung der Infor-
Kinder Zugang zu Panzern, Kriegsflugzeugen und anderen mationsarbeit der Bundeswehr enthaltene Begriff „Waf-
Großsystemen haben? fensystem“ führte zu Rückfragen aus der Truppe, wie
dieser zu interpretieren sei, da damit auch Großgerät der
Die Bundesregierung weist entschieden zurück, dass
Bundeswehr wie zum Beispiel Flugzeuge oder Schiffe
die Bundeswehr Waffen und Großgerät als Spielzeug
bezeichnet werden, die von dieser Regelung aber nicht
präsentiert.
betroffen sind. Eine Anpassung erfolgte zur Klarstellung
Jugendliche hatten, so zum Beispiel bei Tagen der of- des Begriffs „Waffensystem“, um Handlungssicherheit
fenen Tür, schon zuvor Zugang zu Schiffen, Flugzeugen für die Truppe bei öffentlichen Veranstaltungen herzu-
sowie nichthandelsüblichen Fahrzeugen der Bundes- stellen.
wehr. Im Rahmen einer Ergänzung der Bestimmungen
der Richtlinie zur Durchführung der Informationsarbeit Zu Frage 122:
der Bundeswehr wurde die Mitfahrgelegenheit von Ju-
gendlichen ab dem 14. Lebensjahr in nichthandelsübli- Das Verbot zum Umgang von Personen unter 18 Jah-
chen Fahrzeugen der Bundeswehr – im Beisein oder bei ren mit Waffen trägt den Bestimmungen des Waffen-
Vorliegen einer Erlaubnis der Sorgeberechtigten – zur rechts Rechnung, das für Waffen, die nicht dem Kriegs-
Darstellung der Ausrüstung und Leistungsfähigkeit der waffenkontrollgesetz unterfallen, Entsprechendes regelt.
Streitkräfte erlaubt. Waffen im Sinne anderer Definitionen, nämlich Kriegs-
schiffe oder mit Waffensystemen ausgestattete Fahr-
Der in der Richtlinie für die Durchführung der Infor- zeuge, sind vom Waffengesetz nicht betroffen.
mationsarbeit der Bundeswehr enthaltene Begriff „Waf-
fensystem“ führte zu Rückfragen aus der Truppe, wie
dieser zu interpretieren sei, da damit auch Großgerät der Anlage 83
Bundeswehr wie zum Beispiel Flugzeuge oder Schiffe
bezeichnet werden, die von dieser Regelung aber nicht Antwort
betroffen sind. Eine Anpassung erfolgte zur Klarstellung des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
des Begriffs „Waffensystem“, um Handlungssicherheit des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)
für die Truppe bei öffentlichen Veranstaltungen herzu- (Drucksache 17/6994, Frage 123):
stellen.
(B) Hat Deutschland bzw. haben Bundeswehreinheiten seit (D)
2001 Gefangene, die von deutschen ISAF-Soldaten in Afgha-
nistan gemacht wurden, an Haftanstalten oder Internierungsla-
Anlage 82 ger der afghanischen Sicherheitskräfte überstellt, von denen
in jüngster Zeit – dpa-Meldung vom 6. September 2011 –
Antwort nach einem BBC-Bericht bekannt wurde, dass in ihnen Folter-
praktiken angewandt werden, die in einem nach diesem BBC-
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Fra- Bericht „noch unveröffentlichten“ UNAMA-Bericht „alltäg-
gen des Abgeordneten Paul Schäfer (Köln) (DIE lich und systematisch“ genannt wurden?
LINKE) (Drucksache 17/6994, Fragen 121 und 122):
Die angekündigte Veröffentlichung des UNAMA-Be-
Aufgrund welcher Überlegungen hat das Bundesministe- richts zu Menschenrechtsverletzungen in afghanischen
rium der Verteidigung am 16. Februar 2011 die Richtlinie zur
Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr dahin Hafteinrichtungen ist bisher nicht erfolgt. Eine abschlie-
gehend geändert, dass Kindern und Jugendlichen im Rahmen ßende Bewertung ist vor der Veröffentlichung nicht
öffentlicher Veranstaltungen der Zugang zu Schiffen, Flug- möglich. Erst nach der Veröffentlichung werden sowohl
zeugen sowie nichthandelsüblichen Fahrzeugen der Bundes- die afghanischen Behörden wie auch die ISAF-Führung
wehr in Zukunft erlaubt wird?
den darin enthaltenen Feststellungen im Einzelnen nach-
Warum bezieht sich das Bundesministerium der Verteidi- gehen können. Schon jetzt hat die ISAF-Führung im
gung in der aktuellen Fassung der Richtlinie zur Durchfüh-
rung der Informationsarbeit der Bundeswehr bei der Regelung
Vorgriff auf den Bericht mit einer Einschränkung der
des Zugangs von Minderjährigen zu Waffen nur auf Waffen Übergabe von Gewahrsamspersonen an afghanische
im Sinne des Waffengesetzes und nicht auch auf Waffen im Stellen reagiert.
Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes bzw. der Kriegswaf-
fenliste Teil B? Zu den Fragen, welche Haftanstalten letztlich in dem
Bericht genannt werden, welche Vorwürfe sich im Ein-
Zu Frage 121: zelnen an die zuständigen afghanischen Behörden rich-
ten und welche Schlussfolgerungen daraus auch für das
Jugendliche hatten, so zum Beispiel bei Tagen der of- Regionalkommando Nord zu ziehen sind, können heute
fenen Tür, schon zuvor Zugang zu Schiffen, Flugzeugen noch keine abschließenden Antworten gegeben werden.
sowie nicht handelsüblichen Fahrzeugen der Bundes-
wehr. Im Rahmen einer Ergänzung der Bestimmungen Wie schon mehrfach gegenüber dem Bundestag dar-
der Richtlinie zur Durchführung der Informationsarbeit gelegt, ist der Informationsstand über die vor April 2007
der Bundeswehr wurde die Mitfahrgelegenheit von Ju- durch das Deutsche Einsatzkontingent ISAF in Gewahr-
gendlichen ab dem 14. Lebensjahr in nicht handelsübli- sam genommenen Personen lückenhaft. Nach Durch-
chen Fahrzeugen der Bundeswehr – im Beisein oder bei sicht der vorliegenden Dokumente ist davon auszuge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14973
(A) hen, dass diese Personen noch vor Ort an die verbände betonen in dieser mit dem BMFSFJ abge- (C)
afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wurden. Seit schlossenen Vereinbarung ausdrücklich, dass die Bun-
April 2007 kam es vor dem Hintergrund der geltenden desregierung ihre Zusagen eingehalten hat und einhält.
Weisungslage nicht mehr zu Ingewahrsamnahmen durch
deutsche ISAF-Kräfte. Das Ziel einer gleichmäßigen Entwicklung beider
Freiwilligenformate rückt – angesichts der vorgenannten
Gemäß geltender Weisungslage nehmen Soldatinnen Zahlen – nunmehr in greifbare Nähe. Ich bin daher zu-
oder Soldaten des Deutschen Einsatzkontingents ISAF versichtlich, dass der positive Trend anhält, nachdem
Personen zur Auftragserfüllung nur in Gewahrsam, alle Probleme mit den Trägern und Verbänden geklärt
wenn die Ingewahrsamnahme nicht durch begleitende werden konnten.
oder durch kurzfristig zuziehbare zuständige afghani-
sche Stellen möglich ist. Eine Übergabe von durch deut-
sche Soldatinnen oder Soldaten in Gewahrsam genom-
Anlage 85
menen Personen an afghanische Behörden kommt nur in
Betracht, wenn Garantien der afghanischen Seite für die Antwort
Gewährleistung einer menschenrechtskonformen Be-
handlung vorliegen. des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die
Frage der Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 125):
Anlage 84 Dürfen nach Auffassung der Bundesregierung die Träger
und Verbände interessierte Freiwillige nicht darauf aufmerk-
Antwort sam machen, dass im Bundesfreiwilligendienst der Anspruch
auf Kindergeld zwar im Rahmen des Beitreibungsrichtlinie-
des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Umsetzungsgesetzes geregelt werden soll, dass dieses Gesetz
Frage der Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ aber noch nicht durch den Deutschen Bundestag verabschie-
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 124): det ist und es damit derzeit einen faktischen Unterschied zwi-
schen den verschiedenen Freiwilligendiensten gibt?
Wie steht die Bundesregierung zu den verdeckten Anru-
fen, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend im Zusammenhang mit der Einführung des Bun-
Der jetzige Gesetzentwurf des Beitreibungsrichtlini-
desfreiwilligendienstes getätigt hat, um zu kontrollieren, in engesetzes sieht die Gewährung eines Kindergeldes als
welcher Form Träger und Verbände den Bundesfreiwilligen- neuen Tatbestand im Katalog des § 32 Abs. 4 Satz 1
dienst bewerben, und spiegelt diese verdeckte Form der Er- Nr. 2 Buchstabe d EStG bzw. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
kenntnisgewinnung das neue Geschäftsgebaren der Bundesre-
gierung wider?
Buchstabe d BKGG vor. Diese Regelung wird rückwir-
(B) kend für das Jahr 2011 zur Anwendung kommen. (D)
Die Doppelstrategie der Bundesregierung, die beste-
henden Jugendfreiwilligendienste Freiwilliges Soziales Um eine kindergeldrechtliche Begünstigung entspre-
Jahr, FSJ, und Freiwilliges Ökologisches Jahr, FÖJ, aus- chender Fälle gewährleisten zu können, hat das Bundes-
zubauen und durch den Bundesfreiwilligendienst, BFD, zentralamt für Steuern mit Einzelweisung vom 24. Juni
neue Engagementmöglichkeiten zu schaffen, hat sich be- 2011 die Familienkassen angewiesen, offene Kindergeld-
währt. anträge von der Bearbeitung zurückzustellen, bis das
parlamentarische Verfahren zum Gesetz zur Umsetzung
Die aktuellen Entwicklungen zeigen: Während die be- der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerli-
reits zu Anfang des Jahres auf über 29 000 erhöhte Zahl cher Vorschriften abgeschlossen ist – Anmerkung: nach
der geförderten Plätze im FSJ/FÖJ weiter steigt, konnten derzeitigem Planungsstand: 4. November 2011.
im Bundesfreiwilligendienst in den ersten zehn Wochen
seit Bestehen dieses neuen Angebotes schon über Unabhängig hiervon kann jedoch in bestimmten Fäl-
14 000 Verträge abgeschlossen werden. Diese positive len ein Anspruch auf Kindergeld bestehen, wenn sich ein
Entwicklung ist nicht zuletzt auch der Bundesarbeitsge- über 18 Jahre altes Kind bei der Bundesagentur für Ar-
meinschaft der freien Wohlfahrtspflege, BAG FW, zu ver- beit, BA, arbeitslos gemeldet hat – Altersgrenze: Vollen-
danken. dung des 21. Lebensjahres –, ein über 18 Jahre altes
Kind – Altersgrenze: Vollendung des 25. Lebensjahres –
Anfängliche Schwierigkeiten konnten so erfolgreich ausbildungswillig ist, aber eine Ausbildung oder ein Stu-
überwunden werden. Dazu gehörte auch, dass das dium mangels Ausbildungs- oder Studienplatz nicht be-
BMFSFJ im Rahmen seiner Aufgaben Beschwerden und ginnen kann. Das Kind muss sich ernsthaft um einen
Eingaben von abgelehnten Interessentinnen und Interes-
Ausbildungsplatz bemühen und dies auch entsprechend
senten am Bundesfreiwilligendienst prüfte und diesen
nachweisen können – zum Beispiel durch die Anmel-
Hinweisen in der gebotenen Sorgfalt nachging.
dung als Bewerber in der Berufsberatung der BA, durch
Anfang August 2011 schloss das Bundesfamilienmi- Bewerbungen um Ausbildungsplätze, Bewerbung um
nisterium deshalb mit der BAG FW eine Vereinbarung Studienplatz oder Ähnliches.
ab, die es jeder Interessierten und jedem Interessierten
ermöglichen soll, einen FreiwiIligenplatz zu bekommen. Da dies häufig den Trägern und Verbänden nicht be-
kannt ist, sollte eine entsprechende Beratung der Kinder-
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien geldberechtigten durch die zuständigen Familienkassen
Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Wohlfahrts- erfolgen.
14974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Anlage 86 pflicht und räumliche Beschränkungen sollen primär ge- (C)
währleisten, dass die Asylbewerber und die Geduldeten
Antwort
jederzeit für die Zustellung und Umsetzung asylrechtli-
der Parl. Staatssekretärin Ulrike Flach auf die Frage des cher Entscheidungen erreichbar sind. Auch ist es nicht
Abgeordneten Steffen-Claudio Lemme (SPD) (Druck- so, dass in Deutschland durch diese Regelung zu enge
sache 17/6994, Frage 126): räumliche Einschränkungen verfügt werden. Es ist nicht
Aus welchem Grund hält die Bundesregierung das ihr be- so, dass den Menschen nur engste Räume zur Verfügung
reits vorliegende Gutachten des gemeinsamen Wissenschaftli- stehen, innerhalb derer sie überhaupt keine Möglichkeit
chen Beirates zum morbiditätsorientierten Risikostrukturaus- haben, von Ort zu Ort zu wechseln, Beschäftigungen
gleich zurück, und wann ist mit einer Veröffentlichung seitens nachzugehen oder schulische Bildung zu erlangen. Das
der Bundesregierung zu rechnen?
Bundesverfassungsgericht hat sich in der Vergangenheit
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversiche- mehrfach mit der Residenzregelung auseinandergesetzt
rungsamt hat der Fachebene des Bundesministeriums für und stets festgestellt, dass die Residenzregelung keinen
Gesundheit den ersten Entwurf einer Endfassung des Verstoß gegen unsere Rechtsordnung darstellt und der
Evaluationsberichts zum Jahresausgleich 2009 im Mai Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist eben-
2011 übermittelt. Dieser Entwurf wurde auf der Fach- falls dieser Sicht gefolgt.
ebene detailliert überprüft.
Dass eine restriktive Auslegung der Residenzpflicht
Die Endfassung des Berichts wurde am Montag zum gerade bei oftmals überlangen Asylverfahren der Inte-
ersten Mal von den Koalitionspartnern beraten und wird gration nicht dienlich ist, das hat auch Schwarz-Gelb
in den nächsten Tagen veröffentlicht. verstanden und deshalb die Vorschriften geändert. Die
Aufenthaltsbeschränkungen wurden zur Ausübung einer
Beschäftigung, des Schulbesuchs, einer Ausbildung oder
Anlage 87 eines Studiums gelockert. Hierdurch haben wir nicht nur
Zu Protokoll gegebene Reden den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Bildungsein-
richtungen erleichtert, sondern auch die Möglichkeiten
zur Beratung des Antrags: Mehr Bewegungs- zur Integration verbessert.
freiheit für Asylsuchende und Geduldete (Ta-
gesordnungspunkt 9) Ich halte die Residenzpflicht in ihrem Kern noch im-
mer für eine sinnvolle Regelung, auf die ich ungern
Michael Frieser (CDU/CSU): Ich bin schon etwas gänzlich verzichten würde: Es geht um Menschen, deren
verwundert, heute zu diesem Antrag der SPD sprechen Erlaubnis zum Aufenthalt in Deutschland noch unsicher
(B) zu müssen; denn wir haben doch in diesem Jahr bereits ist – und in vielen Fällen abgelehnt wird. Wenn diese (D)
die aufenthaltsrechtlichen und asylrechtlichen Vorschrif- Menschen sich völlig grenzenlos bewegen und nieder-
ten geändert und mehr Bewegungsfreiheit für Asyl- lassen dürften, bestünde durchaus die Gefahr, dass ei-
suchende und Geduldete hergestellt: Mit dem Gesetzent- nige Bewerber das Ende Ihres Asylverfahrens nicht ab-
wurf 17/4401 wurde im März die Möglichkeit einer warten, sondern versuchen werden, sich dem Zugriff des
Ausnahme von der räumlichen Beschränkung in Fällen Staates durch ständigen Umzug, keine Bekanntgabe der
der Ausübung einer Beschäftigung, des Schulbesuchs, neuen Adresse etc. zu entziehen.
der Ausbildung und des Studiums geschaffen. Dies alles Ich halte viel eher einen anderen Punkt für entschei-
gegen die Stimmen der Grünen, der Linken, vor allem dend: Wir müssen es schaffen, die Asylverfahren schnel-
aber auch gegen die Stimmen derselben SPD, die heute ler durchzuführen. Wir dürfen es uns aus integrations-
erneut einen Antrag zu diesem Thema eingebracht hat. politischer Sicht nicht erlauben, dass Asylsuchende im
Wenn ich Ihren heutigen Antrag lese, frage ich mich, Jahre 2009 im Schnitt 8,1 Monate auf die materielle Ent-
warum Sie nicht damals unserem Antrag zugestimmt ha- scheidung in der Sache warten mussten. Entweder neh-
ben. Wenn es Ihnen wirklich um Verbesserungen für die men wir die Menschen nach der Entscheidung über den
in Deutschland Asyl Suchenden und Geduldeten ginge, Asylantrag auf – dann müssen wir aber auch sofort un-
dann hätten Sie damals unserem Antrag zustimmen müs- sere Integrationsbemühungen verstärken – oder aber wir
sen. Stattdessen gehen Sie nun mit dem von Ihnen vorge- setzen, wenn der Antrag abgelehnt wurde, diese Ent-
legten eigenen Antrag, die Residenzpflicht gänzlich auf- scheidung auch zügig um. Im Ergebnis muss es doch vor
zuheben, fast schon provokativ noch einmal ein ganzes allem darum gehen, den Menschen, die zu uns kommen,
Stück über die gerade neu geschaffenen Regelungen hi- möglichst schnell eine klare Perspektive und bei einem
naus. erfolgreichen Antrag auch eine Zukunft zu geben und sie
nicht so lange wie bisher im Unklaren zu lassen.
Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers gibt es für
die räumlichen Beschränkungen, die den Geduldeten Zurück zu diesem Antrag der SPD: Wenn wir die Re-
und den Asylbewerbern auferlegt werden, gute Gründe: sidenzpflicht vollumfänglich aufheben würden, bestünde
Asylbewerber haben während des Verfahrens Anspruch die Gefahr, dass sich die Asylbewerber und die Gedulde-
auf Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland. Grund- ten in Deutschland schneller fest einrichten, ein Bereit-
sätzlich und in der Hauptsache sollen sie die Entschei- stehen für Entscheidungen über ihre Anträge verzögert
dung über ihre Anträge abwarten und sich nicht unmit- und mit weiterem unnötigen Verwaltungsaufwand ver-
telbar nach ihrer Ankunft in Deutschland überall bunden wäre und es auch für diese selbst im Falle einer
niederlassen und vor allem umziehen können. Residenz- Ablehnung des Asylantrages weitaus belastender würde,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14975
(A) Deutschland wieder verlassen zu müssen. Die Residenz- § 56 Asylverfahrensgesetz beschränkt das Aufent- (C)
regelung ist deshalb, auch aus dem Verständnis für die haltsrecht eines Asylbewerbers räumlich auf den Bezirk
schwierige Situation der Betroffenen heraus, eine Rege- der Ausländerbehörde, dem er zugewiesen ist. In § 58
lung, die im Interesse der Asylbewerber selbst liegt. desselben Gesetzes wird aber auch geregelt, unter wel-
chen Voraussetzungen die Ausländerbehörde einem
Helmut Brandt (CDU/CSU): Die Debatte zur Ab-
Ausländer die Erlaubnis zum vorübergehenden Verlas-
schaffung der Residenzpflicht flammt sowohl im Bund sen des gesetzlich zugewiesenen Aufenthaltsbereichs er-
als auch in den Ländern immer wieder auf, hier im Bun- teilen kann oder erteilen muss. So ist die Erlaubnis zu er-
destag zuletzt im Zuge der Debatte um Zwangsverheira- teilen, wenn hieran ein dringendes öffentliches Interesse
tungen. Aber ich sage es Ihnen ganz offen: Wir wollen besteht, zwingende Gründe es erfordern oder die Versa-
keine komplette Abschaffung der Residenzpflicht. Ich gung eine unbillige Härte bedeuten würde.
will Ihnen auch sagen warum: Für die Residenzpflicht Falls diese besonderen Voraussetzungen nicht vorlie-
nach § 56 Asylverfahrensgesetz und § 61 Abs. 1 Aufent- gen, kann die Ausländerbehörde die Erlaubnis dennoch
haltsgesetz, das heißt dafür, dass das Aufenthaltsrecht nach pflichtgemäßem Ermessen erteilen; es gibt also ei-
nur beschränkt ausgeübt werden darf, gibt es gute rechts- nen Handlungsspielraum, zum Beispiel, wenn der Asyl-
politische Gründe. bewerber im Bereich einer anderen Ausländerbehörde
Bei vollziehbar Ausreisepflichtigen, also den gedul- eine Arbeitsstelle hat, wenn er als Mitglied einer Sport-
deten Ausländern, liegt die Notwendigkeit einer räumli- mannschaft, Musikkapelle oder Hilfsorganisation an
chen Beschränkung auf der Hand: Die für diesen Perso- Veranstaltungen des Vereins bzw. der Organisation au-
nenkreis zuständige Ausländerbehörde muss in der Lage ßerhalb des zugewiesenen Bereichs teilnehmen möchte
sein, die Ausreisepflicht zu überwachen und durchzuset- oder wenn er aus einem besonderen Anlass – Hochzeit,
zen. Ein Ortswechsel hätte im Übrigen auch zur Folge, Tod, besondere Geburtstage – nahe Verwandte, die sich
dass der Geduldete hierdurch in den Zuständigkeitsbe- im Bundesgebiet außerhalb des ihm zugewiesenen Auf-
reich einer anderen Ausländerbehörde käme und da- enthaltsbereichs aufhalten, besuchen möchte.
durch ein erheblicher zeitlicher und personeller Mehr-
aufwand bei der Überwachung und Durchsetzung der Nach meiner Kenntnis haben die meisten Bundeslän-
Ausreisepflicht entstünde. der ihre Behörden angewiesen, mit den Ausnahmetatbe-
ständen sehr großzügig umzugehen, und sie aufgefor-
Die Intention der Residenzpflicht nach § 56 Asylver- dert, von ihrem Handlungsspielraum nach Möglichkeit
fahrensgesetz – schnelle Erreichbarkeit im Asylverfah- auch weitestgehend Gebrauch zu machen. Es gibt also
ren, Aufteilung über das Land und die bessere öffentli- entsprechende Regelungen, um Härtefälle zu vermeiden.
(B) che Verteilung der Lasten – ist ebenfalls durchaus (D)
gerechtfertigt. Genau deshalb hat das Bundesverfas- Nach § 58 Abs. 6 des Gesetzes kann die Landesregie-
sungsgericht bereits mehrfach entschieden, dass die ge- rung zudem durch Rechtsverordnung bestimmen, dass
setzlich angeordnete und vorgesehene räumliche Be- sich Ausländer auch ohne Erlaubnis vorübergehend in
schränkung weder gegen die Grundrechte auf Freiheit einem mehrere Ausländerbehörden umfassenden Gebiet
der Person und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aufhalten können. Von dieser Möglichkeit haben bereits
noch gegen das Grundrecht auf Asyl verstößt. Insbeson- einige Bundesländer Gebrauch gemacht. Schleswig-Hol-
dere, so das Bundesverfassungsgericht, lässt sie den not- stein, Sachsen, Berlin, Brandenburg haben bereits die
wendigen Abschiebungsschutz unberührt, gewährleistet Bewegungsfreiheit von Ausländern ausgeweitet. Baden-
die Möglichkeit der personalen Durchsetzung des Württemberg und Rheinland-Pfalz wollen diesem Bei-
Asylanspruchs und ist nicht unverhältnismäßig. spiel folgen oder sind ihm bereits gefolgt.
Ich denke, dass sich die große Mehrzahl derjenigen, Und nicht zuletzt möchte ich Sie daran erinnern, dass
die sich auf ein Asylrecht berufen, rechtsstaatlich ver- wir die Residenzpflicht bereits im Rahmen des Gesetzes
hält. Es gibt aber auch eine Realität, an der wir nicht vor- zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren
beikommen, nämlich des Missbrauchs von Sozialleis- Schutz der Opfer von Zwangsverheiratung sowie zur
tungen, von Schleusungen und anderem. Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vor-
schriften für Geduldete und Asylbewerber gelockert ha-
Um dies zu verhindern, müssen wir unseren Behörden ben, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, Aus-
die Möglichkeit einer Kontrolle geben. Für mich haben bildung oder eines Studiums zu erleichtern. Damit sind
sich deshalb die Vorschriften zur Residenzpflicht be- wir bereits weit über den Koalitionsvertrag hinausgegan-
währt. Sie ist meiner Meinung nach schlicht notwendig. gen. Wir haben nämlich nicht nur eine hinreichende Mo-
Richtig ist, dass die Aufenthaltsbeschränkung eine bilität hinsichtlich einer Arbeitsaufnahme geschaffen, so
gewisse Härte darstellen kann, besonders dann, wenn die wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, sondern wir haben
Unterbringung im ländlichen Raum erfolgt. Selbstver- auch die Mobilität zum Zwecke eines Schulbesuches
ständlich sehen auch wir die Problematik, die sich aus oder einer Ausbildung sichergestellt. Sie selbst sprechen
einer strikten Anwendung der Residenzpflicht ergeben in Ihrem Antrag davon, dass abzuwarten bleibe, ob die
kann. grundsätzlich begrüßenswerte beschlossene Soll-Aus-
nahme zugunsten berufstätiger Asylbewerber Verbesse-
Aber: Dafür gibt es Ausnahmen von der Residenz- rungen bringt. Ich bin vollkommen Ihrer Meinung: War-
pflicht. ten wir ab.
14976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Zum Schluss lassen Sie mich noch eines sagen: Selbst werden kann, sollen diese Vorschriften dem einen oder (C)
wenn wir die Residenzpflicht abschaffen würden, müsste anderen geeignet erscheinen, am Hauptbahnhof einer
die Frage der Kostenträgerschaft eindeutig geklärt wer- Großstadt sich aufhaltende Ausländer, die zum Beispiel
den, um finanzielle Ungerechtigkeiten zwischen Flä- des Drogenhandels oder Taschendiebstahls zwar ver-
chenländern und Stadtstaaten zu vermeiden. Mit einem dächtig sind, bei denen der Nachweis einer Straftat aber
„können verpflichtet werden“, wie es in Ihrem Antrag nicht gelingt, mit eben diesen Vorschriften des Neben-
heißt, ist dieses Problem nicht zu lösen. Insofern geht Ihr strafrechtes zu vertreiben bzw. zu bestrafen.
Antrag neben den Gründen, die ich Ihnen bereits ge-
nannt habe, auch gar nicht weit genug. Im Übrigen: Mein Vertrauen in den Wahrheitsgehalt
mancher Quellen im Internet ist zwar beschränkt. Es fin-
Lassen Sie mich zusammenfassen: det sich dort aber ein Zitat des vormaligen baden-
Für die hier geltende Regelung gibt es ordnungspoliti- württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth,
sche, arbeitsmarktpolitische und sicherheitspolitische der Ende der 80er-Jahre gesagt haben soll: „Die Busch-
Gründe. Wir halten an dieser Regelung fest, weil sie in trommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt
der Praxis notwendig ist. nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins La-
ger.“ Es ist also nicht ganz abwegig, anzunehmen, dass
Zudem haben wir mit der Lockerung der Residenz- diese Regelungen auch deutlich abschreckenden und re-
pflicht zum Zwecke der Arbeitsaufnahme, aber auch mit pressiven Charakter haben sollten. Egal welches Motiv
einem Paket an Maßnahmen im Rahmen des Gesetzes sich dahinter aber verbirgt: Die Regelung hat sich längst
zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der überholt. Sie bedeutet Schikane, örtliche und soziale Iso-
Europäischen Union und zur Anpassung nationaler lation und unnötige Kosten für die betroffenen Flücht-
Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex zahlreiche Er- linge und überflüssigen Verwaltungsaufwand für die
leichterungen und Verbesserungen für hier lebende Aus- Ausländerbehörden.
länder geschaffen, an die ich an dieser Stelle auch einmal
erinnern möchte. Richtigerweise haben daher schon einige Bundeslän-
der angeordnet, dass die Erlaubnis zum Aufenthalt auf
Wir lehnen deshalb Ihren Antrag ab. Die bestehenden ganze Regierungsbezirke bzw. das jeweilige Bundesland
Regelungen haben sich bewährt. ausgelehnt wird. Es sind dies zum Beispiel Rheinland-
Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hes-
Rüdiger Veit (SPD): Mit unserer heutigen Initiative sen und Mecklenburg-Vorpommern und – sogar länder-
wollen wir das, was beschönigend „Residenzpflicht“ für grenzenübergreifend – Berlin und Brandenburg. Wir
Asylsuchende und Geduldete bezeichnet wird, jedenfalls sollten daher jetzt auch als Bundesgesetzgeber die Kon-
(B) im Grundsatz abschaffen. sequenz ziehen, das Regel-Ausnahme-Verhältnis um- (D)
kehren und auf das notwendige Mindestmaß an Steue-
Erstmals durch Gesetz vom 21. Juli 1982 ist in rung beschränken. Das bedeutet: Asylbewerber und
§ 20 AsylVfG Asylantragsstellern der Aufenthalt auf Geduldete können sich zwar grundsätzlich im ganzen
den Bezirk der jeweils zuständigen Ausländerbehörde, Bundesgebiet aufhalten, müssen aber in einem bestimm-
also der kreisfreien Stadt oder des Landkreises, be- ten Bundesland, Landkreis oder sogar in einer bestimm-
schränkt worden. In einer Vielzahl von weiteren Ände- ten Gemeinde ihren Wohnsitz nehmen. Diese Wohnort-
rungen der Gesetze ist diese Regelung angepasst, verän- zuweisung ist erforderlich, um einen weiterhin gerechten
dert und auch im Personenkreis ausgedehnt worden. Sie Ausgleich zwischen den Bundesländern sowie innerhalb
bedeutet im Kern aber eben nicht nur die Pflicht, in einer der Bundesländer zwischen den Landkreisen oder Kom-
bestimmten Stadt oder in einem bestimmten Kreis die munen zu gewährleisten. Denn sie sind es, die die So-
Residenz im Sinne des ständigen Aufenthalts zum Woh- zialleistungen tragen, um eine überproportionale Belas-
nen zu haben. Sie beinhaltet vielmehr auch das Verbot, tung der Ballungszentren zu vermeiden.
ohne besondere Erlaubnis der Ausländerbehörde ihren
Zuständigkeitsbereich auch nur vorübergehend zu Der Vollständigkeit halber will ich aber an dieser
verlassen, es sei denn, ihnen wurde dies nach einem kos- Stelle auch erwähnen, dass wir als SPD-Fraktion in un-
tenpflichtigen und verwaltungsaufwendigen Genehmi- serem Bemühen nicht nachlassen werden, eine vernünf-
gungsverfahren in Einzelfällen zuvor erlaubt. tige Altfall- und Bleiberechtsregelung zu finden, um vor
allem in den Fällen langjähriger sogenannter Kettendul-
Liest man die ursprüngliche Gesetzesbegründung
dungen zu einem Aufenthaltsrecht mit Perspektive zu
nach, so ist angesichts steigender Asylbewerberzahlen
kommen. Bis dahin könnte aber eine bessere Bewe-
mit diesen Regelungen zur Aufenthalts- und Wohnsitz-
gungsfreiheit der betreffenden Personen auch leichter
beschränkung die Absicht verbunden gewesen, Obdach-
dazu führen, dass sie eine Arbeitsstelle finden und ihre
losigkeit oder die Belastung in Grenz- und Notstandsge-
Familien ernähren, somit Sozialkassen entlasten und
bieten zu vermeiden. Mindestens im Hinterkopf ist
sich selbst die Voraussetzungen für die Inanspruch-
sicher auch von vielen daran gedacht worden, dass man
nahme einer Altfallregelung schaffen können. Ich bitte
nach ihren Verfahren abgelehnte Asylbewerber und Ge-
daher um Zustimmung.
duldete, also vollziehbar Ausreisepflichtige, einfacher
auffinden kann, um sie abschieben zu können. Da das
unerlaubte Verlassen des Bezirks der Ausländerbehörde Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Koalition
aber jedenfalls bei Wiederholungen auch mit Geldstrafe aus Union und FDP hat eine neue Integrationspolitik auf
und sogar mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft den Weg gebracht. Wir erschließen die Chancen der Zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14977
(A) wanderung für unser Land besser und stärken den Zu- Deutschland Hilfe und Schutz suchen, ergriffen. Wir ha- (C)
sammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Ge- ben erstmals für minderjährige und heranwachsende ge-
sellschaft. Fördern und Fordern gehört zusammen. Wir duldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern
haben die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewer- unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz ge-
ber gelockert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäfti- schaffen. Die rot-grüne Koalition hatte das nicht zu-
gung oder Ausbildung zu erleichtern. Damit steigern wir stande gebracht.
die Chancen von jungen Migranten, auf dem Arbeits-
Wir helfen Frauen in Not. Zwangsheirat wird jetzt ex-
markt Fuß zu fassen und sich in unserer Gesellschaft
plizit als Straftat benannt. Wir haben auch den Opfern
weiterzuentwickeln. Die christlich-liberale Koalition er-
von Zwangsverheiratungen eine Perspektive mit einem
öffnet so Perspektiven für Menschen, die in unser Land
eigenständigen Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht gege-
gekommen sind.
ben. Jetzt erhalten sie eine Chance, sich zu befreien.
Multikulti-Romantik oder Desintegration durch Weg- Dem dient auch die Verlängerung der Antragsfrist für die
schauen helfen uns nicht weiter. Der Antrag der SPD Aufhebung der Ehe.
hält an der alten Multikulti-Romantik fest und gibt sich
mitleidsvoll. Da wird der Einschränkung der Bewe- Die Ausländerbehörden haben wir verpflichtet, vor
gungsfreiheit als Folge „unerwünschte soziale Isolation“ Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen,
angehängt. ob der Pflicht zur ordnungsgemäßen Teilnahme an Inte-
grationskursen nachgekommen wurde. Damit können
Das ist absurd. Die Residenzpflicht hilft mit, dass die die Integrationskurse besser fokussiert und aktive Inte-
Betroffenen sich nicht in wenigen Ballungsräumen bal- grationspolitik gestaltet werden. Das erhöht die Chancen
len und ethnisch homogene Milieus bilden können. für Menschen, die nach Deutschland kommen, auch in
Nicht zuletzt der Bildung von Parallelgesellschaften Deutschland wirklich anzukommen und sich eine Exis-
kann so entgegengesteuert werden. tenz aufzubauen.
Wer nach Deutschland mit der Absicht kommt, hier Die Anträge von Rot-Rot-Grün in den vergangenen
dauerhaft zu bleiben, möge sich auch hier integrieren – Jahren – und auch der heutige der SPD – dienen dagegen
vor allem am Wohnort! Deshalb tritt genau dann, wenn nur dazu, Zersplitterung unserer Gesellschaft unter dem
die Betreffenden dies tun, auch keine soziale Isolation Deckmantel scheinbarer Ausländerfreundlichkeit zu för-
auf – weil sie mit den ortsansässigen Deutschen in Kon- dern. Die SPD hat einen klugen Satz in ihren Antrag ge-
takt treten und keine ethnischen Parallelgesellschaften schrieben, nämlich, die Wirkung der von CDU/CSU und
bilden. Die im Antrag der SPD befürchtete Isolation tritt FDP als Gesetz beschlossene und in der Tat „begrüßens-
nur auf, wenn die Zuwandernden unter sich bleiben. werte … Soll-Ausnahme zugunsten berufstätiger Asyl-
(B) Dass gleichwohl Bürgerrechte, zum Beispiel zur rechtli- bewerber“ bleibe abzuwarten. – Das hätte die SPD in der (D)
chen Vertretung oder auch zur Teilnahme an Bildung, Tat besser getan! Stattdessen praktiziert sie einen haltlo-
wahrgenommen werden müssen, ist richtig und notwen- sen Aktivismus, um sich an bestimmte, integrations-
dig. Hier hat die Koalition auch einiges getan. feindliche Gruppierungen anzubiedern.
Aber dem Wunsch der SPD nach möglichst vielen Die Koalition aus CDU/CSU und FDP dagegen ver-
von der staatlichen Sozialbürokratie abhängigen Men- bessert tatkräftig die Integration ausländischer Men-
schen entgegenzukommen, hilft den betroffenen Men- schen in Deutschland und eröffnet ihnen Chancen, wie
schen langfristig aber nicht. sie unter dem von Rot-Rot-Grün propagierten erniedri-
Zentrales integrationspolitisches Anliegen der FDP gendem Mitleidsgestus nie möglich waren.
ist das Beherrschen der deutschen Sprache. Menschen, Wir fördern und fordern! So kommt Deutschland –
die Asyl bei uns beantragen, bekunden damit, dass sie in und alle, die hier leben wollen – voran. Der Schlüssel für
Deutschland leben wollen. Auch wenn über den Antrag gesellschaftlichen Zusammenhalt ist erfolgreiche Inte-
noch nicht entschieden ist oder sie nach einem abschlä- gration. Wir stellen die Weichen dafür!
gigen Bescheid dennoch hier geduldet werden, müssen
sie ihrer Willensbekundung auch die dazugehörige Tat
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die SPD-Fraktion legt
folgen lassen und die Integration in die deutsche Gesell-
hier einen Antrag vor, mit dem die Aufhebung der soge-
schaft suchen – und suchen können.
nannten Residenzpflicht für Asylsuchende und Gedul-
Ethnische Gruppenbildung und Herkunfts-Volkstü- dete gefordert wird. Dieses Anliegen teilt die Fraktion
melei war den politisch fortschrittlichen Kräften in Die Linke im Grundsatz, auch wenn es in einzelnen Fra-
Deutschland immer verpönt. Es wäre gut, wenn die SPD gen noch Klärungsbedarf gibt.
in dieser Hinsicht dem Fortschritt treu bleiben würde. Ihr
Doch zunächst zum derzeitigen Stand. Asylbewerber,
Antrag ist in seiner Grundphilosophie leider reaktionär.
Geduldete und bestimmte Gruppen von Flüchtlingen un-
Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht dagegen terliegen der Residenzpflicht. Sie dürfen den ihnen zuge-
ohne Scheuklappen bestehende Defizite der Integra- wiesenen Landkreis nicht ohne Genehmigung verlassen.
tionspolitik an. Es gilt, die Chancen der Zuwanderung Für diese Verlassenserlaubnis haben die Kommunen in
für unser Land besser zu nutzen. Mit unseren bisherigen der Vergangenheit sogar rechtswidrig Gebühren bis zu
Gesetzesinitiativen wurden in ausgewogener Weise 10 Euro verlangt – Gebühren, die die Betroffenen von
Maßnahmen zur Förderung der Integration und zur hu- ihrem Taschengeld in Höhe von 40 Euro bezahlen muss-
manitären Besserstellung von Ausländern, die in ten. Wir erleben derzeit, wie diese Residenzpflicht mehr
14978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) und mehr erodiert. In vielen Bundesländern dürfen sich mit einer behördlichen Verlassenserlaubnis für eine (C)
die Betroffenen zumindest in ihrem jeweiligen Regie- kurze Zeit.
rungsbezirk bewegen, in Brandenburg und Nordrhein-
Westfalen sogar im gesamten Land. Für Geduldete gilt Schön, dass nun auch die SPD-Fraktion endlich einen
ohnehin grundsätzlich Bewegungsfreiheit innerhalb ih- Antrag zur Abschaffung dieser Aufenthaltsbeschränkun-
res Bundeslandes, die bei angeblich fehlender Mitwir- gen vorgelegt hat! Meine Fraktion und auch die Linken
kung bei Abschiebemaßnahmen allerdings beschränkt hatten dies ja bekanntermaßen schon früher getan, aber
werden kann. besser spät als nie.
Die Residenzpflicht komplett aufzuheben, ist aus Denn diese unnötig restriktive Regelung führt zu ei-
menschenrechtlicher Sicht schon lange überfällig. Denn ner erheblichen Einschränkung der Freizügigkeit der Be-
mit der Residenzpflicht wird die Bewegungsfreiheit von troffenen und oft zu deren weitgehender sozialer Isola-
Menschen allein aus Gründen der Verwaltungseffizienz tion. Freunde und Verwandte können nicht besucht und
oder als Sanktionsmittel gegen unliebsame Ausländer kulturelle oder sonstige Angebote in anderen Landkrei-
eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat in sei- sen und Städten nicht genutzt werden. Der Zugang zu
nem Urteil zur Festlegung der Hartz-IV-Sätze ausge- rechtlicher und sozialer Beratung und Betreuung im
führt, dass Menschen notwendigerweise in sozialen Be- Asylverfahren, zu Bildungseinrichtungen, zum Arbeits-
zügen leben. Dazu gehört auch, Freunde und Verwandte markt und zu medizinischer Versorgung werden erheb-
zu besuchen, ohne dafür um Erlaubnis einer Behörde zu lich erschwert, insbesondere wenn die Betroffenen ent-
fragen. Die Residenzpflicht ist ein Eingriff in die Bewe- sprechend der Verteilungsentscheidung zum Aufenthalt
gungsfreiheit und die Würde der Betroffenen. Sie ist aus in kleineren Gemeinden oder im ländlichen Raum ver-
dem Geist der Abschreckung und des Misstrauens gebo- pflichtet sind. Dies führt zu kaum erträglichen Ein-
ren. Es wird höchste Zeit, diese erniedrigende Maß- schränkungen für die Betroffenen.
nahme auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Diese Einschränkungen sind auch deshalb stark belas-
tend, da die für das Verlassen des Residenzpflichtbezir-
Doch zur Bewegungs- und Reisefreiheit gehört nicht
nur die formale Freiheit von Beschränkungen. Dazu ge- kes notwendige Verlassenserlaubnis in jedem Einzelfall
hören auch die materiellen Mittel, diese Bewegungsfrei- bei der zuständigen Ausländerbehörde beantragt werden
muss, wobei das Verfahren oftmals mit Gebühren ver-
heit überhaupt wahrnehmen zu können. Doch das
kommt im Antrag der SPD gar nicht vor. Freiheitsrechte bunden ist und häufig restriktiv gehandhabt wird. Ver-
sind erst dann verwirklicht, wenn die Individuen sie schärft wird die Situation noch dadurch, dass der Verstoß
gegen die räumliche Beschränkung mit Freiheitsstrafe
auch tatsächlich wahrnehmen können. Für Asylbewerber
bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe geahndet werden
(B) und Geduldete gilt aber neben der Residenzpflicht noch kann. (D)
das Asylbewerberleistungsgesetz. Sie erhalten lediglich
60 Prozent der Sozialleistungen, die Empfänger von Von den Beschränkungen sind derzeit laut Ausländer-
Hartz-IV-Leistungen bekommen, die Kinder sogar noch zentralregister circa 40 000 Asylsuchende und mehr als
weniger. Soziale Kontakte zu pflegen, politisch aktiv zu 87 000 Geduldete betroffen, wobei viele der geduldeten
sein, zu reisen – all das scheitert schon an den fehlenden Personen schon seit Jahren und unverschuldet an der
Mitteln. Diese Kritik an den Auswirkungen des Asylbe- Ausreise gehindert sind.
werberleistungsgesetzes fehlt im Antrag der SPD voll-
kommen. Einige Bundesländer, darunter Berlin, Brandenburg,
Rheinland-Pfalz, NRW, Schleswig-Holstein, Sachsen-
Daran schließt sich ein weiterer Kritikpunkt an. Die Anhalt und selbst Bayern, nutzen in jüngster Zeit beste-
SPD will am Prinzip der Verteilung von Asylbewerbern hende Spielräume, um die Bewegungsfreiheit von Asyl-
und Geduldeten auf die Bundesländer und darüber hi- suchenden und Geduldeten auszuweiten; doch sind dies
naus auf die Kommunen festhalten. Das ist in gewisser nur erste kleine Schritte zu mehr Freizügigkeit. Denn die
Hinsicht konsequent. Schließlich wird auch das Asylbe- schwarz-gelbe Koalition will grundsätzlich an der Resi-
werberleistungsgesetz im Antrag der SPD nicht hinter- denzpflicht festhalten. Zwar wurden im sogenannten
fragt. Damit bleibt es bei der zwangsweisen Verteilung Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz von der Koalition
von Asylsuchenden. Diese lehnen wir ab, weil sie genau auch minimale Lockerungen der Residenzpflicht im
wie die Residenzpflicht zur Entwürdigung und Entrech- Falle einer Arbeitsaufnahme beschlossen – dies reicht
tung von Asylsuchenden führt. Dennoch werden wir den aber bei weitem nicht aus!
Antrag der SPD in den weiteren Beratungen unterstüt-
zen. Es wäre vielmehr eine grundlegende Überprüfung der
gegenwärtig in Deutschland vorgesehenen und prakti-
zierten Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit auch
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben – namentlich
NEN): Mit der Residenzpflicht gibt es in Deutschland die Flüchtlingsaufnahmerichtlinie – geboten.
ein bundesweites und in Europa einzigartiges System der
Aufenthaltsbeschränkung, das tief in die Rechte der Be- Auch wenn in einigen Bundesländern derzeit die Be-
troffenen eingreift. Diese sind nicht nur verpflichtet, ih- schränkungen der Bewegungsfreiheit von Asylsuchen-
ren Wohnsitz in dem ihnen zugewiesenen Gebiet zu neh- den und Geduldeten gelockert werden, so ist es doch an
men. Vielmehr dürfen sie den ihnen zugewiesenen der Zeit, die Residenzpflicht bundeseinheitlich und voll-
Aufenthaltsbereich auch nicht verlassen – es sei denn ständig abzuschaffen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14979
(A) Wir setzen uns weiterhin für eine vollständige Ab- erschweren. Ebenso sind wir gut beraten, alles zu unter- (C)
schaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber und die lassen, was vom Grundsatz her geeignet ist, die Situation
Aufhebung der Beschränkungen des Aufenthalts von vor Ort insgesamt zu verschlechtern. Einseitige Schritte
Geduldeten sowie der damit zusammenhängenden Straf- haben den Nahost-Friedensprozess zu keiner Zeit voran-
und Bußgeldvorschriften ein und unterstützen daher den bringen können, im Gegenteil.
Antrag der SPD-Fraktion.
Lassen Sie uns den Blick nun auch ein wenig weiter
richten: Der größere Nahe und Mittlere Osten ist als
Anlage 88 Schlüsselregion für Europa von herausragender Bedeu-
tung. Was also kann die Europäische Union tun, um
Zu Protokoll gegebene Reden künftig einen Beitrag zu leisten, dass sich die Lage im
Nahen Osten nicht weiter verschärft, sondern ein tragfä-
zur Beratung:
higer Frieden möglich wird? Dazu braucht es einerseits
– Beschlussempfehlung und Bericht: Den der engen Abstimmung zwischen den europäischen Part-
Staat Palästina anerkennen nern und andererseits einer besonnenen Strategie für den
Nahen Osten, vor allem aber einer die Interessen der Be-
– Beschlussempfehlung und Bericht: Den Nah- teiligten berücksichtigenden, ausgewogenen Position.
ost-Friedensbemühungen neuen Schwung
verleihen Genau daran mangelt es dem einseitigen Antrag der
Linken. Allerdings kommt er vor dem Hintergrund der
(Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord-
grundsätzlichen Positionierung der Partei zur Nahost-
nungspunkt 3)
politik – ich nenne nur die krude Beteiligung an der so-
genannten Gaza-Hilfsflottille – wenig überraschend da-
Peter Beyer (CDU/CSU): Die Vision von einer Re- her.
gion, in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an
Seite innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen exis- Wir hingegen wollen, dass die EU zusammensteht, so
tieren, ist in zahlreichen UN-Resolutionen beschrieben eng wie irgend möglich abgestimmt mit unseren transat-
worden. Das ist und bleibt auch unsere Maxime. lantischen Partnern, ohne deren entschiedene Führung
substanzielle Fortschritte in der Region unrealistisch wa-
Der Nahe Osten gewinnt an Dynamik. Der „Arabi- ren und sind.
sche Frühling“ widerlegt das verbreitete Vorurteil, die
Religion des Islam und das Gesellschaftsmodell der De- Die Bundesrepublik trägt eine historische, eine beson-
mokratie passten nicht zueinander. Gerade viele junge dere Verantwortung für die – legitimen – Sicherheitsinte-
(B) Muslime finden Freude an der politischen Mitwirkung, ressen Israels. Eine Entscheidung gegen die unmittelba- (D)
dem Kampf für soziale Gerechtigkeit. Endlich ist ein Tor ren Interessen Israels ist für uns schlichtweg undenkbar.
aufgestoßen worden, ein Tor der Möglichkeiten, der in Wenn ich diese Position vertrete, will ich gleichzeitig
der islamischen Welt verbreiteten Willkür, Korruption nicht übersehen, dass die Regierung in Jerusalem es
und den mangelnden Bildungschancen entgegenzuwir- selbst Israels Freunden mit ihrer Politik nicht immer
ken. Ich hoffe, dass auch die Palästinenser dieses Mo- leicht macht. Nennen möchte ich hier nur die Siedlungs-
mentum für sich nutzen können. Es ist jedenfalls zu be- politik. In der Praxis hat auch die israelische Regierung
obachten, dass die Palästinenser, beispielsweise in der dazu beigetragen, dass das Land Gefahr läuft, künftig
Reform von Legislative und Judikative, Fortschritte er- mit weniger Sicherheit leben zu müssen. Das Existenz-
zielen. recht Israels wird sich nur sichern lassen, wenn auch das
Recht der Palästinenser auf ihren Staat und ihre Würde
Nach aktuellem Stand muss man davon ausgehen, anerkannt werden. Auch die Palästinenser sind Opfer der
dass die palästinensische Führung beabsichtigt, die Auf- verfahrenen Situation und leiden unter den zuweilen
nahme in die Vereinten Nationen noch in dieser Woche überzogenen Maßnahmen Israels. Israel wird auf dem
zu beantragen, vermutlich am Freitag im Rahmen der Weg zu einer Zweistaatenlösung Kompromisse machen
Zusammenkunft der Generalversammlung der Vereinten müssen.
Nationen. Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen
Staat ist und bleibt unbestritten. Aber Palästinenser-Prä- Zur Realität gehört aber auch, dass es für israelische
sident Abbas muss mit mehr als einem bloßen Antrag Politiker nicht immer ein leichtes Unterfangen darstellt,
daherkommen; denn dieser bringt keine Besserung der die eigenen Menschen für Friedensverhandlungen zu ge-
Sicherheitslage am Boden geschweige denn eine Lösung winnen, wenn diese sich täglicher Gewalt ausgesetzt se-
im Lande. Daher werden zurzeit erhebliche Bemühun- hen. Im März 2011 gab es eine Welle von Raketenangrif-
gen unternommen, mit den Palästinensern eine Kompro- fen auf Israel aus dem Gazastreifen. Allein im letzten
misslösung zu erreichen. Monat waren 178 Attacken auf israelisches Gebiet zu
beklagen, in 134 Fällen mit Raketen oder Mörsern, neun
Hervorheben möchte ich insbesondere die Rolle des Menschen starben. Kann da eine demokratische Regie-
Nahostquartetts, bestehend aus der EU, den USA, Russ- rung über Frieden verhandeln? Friedensverträge und
land und den Vereinten Nationen. Wenn es dem Quartett gleichzeitig Terror – das ist kein Erfolgsrezept.
gelingt, eine gemeinsame Position zum Vorgang zu ver-
öffentlichen, wäre dies hilfreich. Wir sollten jedenfalls Solange die palästinensische Führung den Verdacht
keine Schritte unternehmen oder unterstützen, die die nicht entkräften kann, dass sie den Terror unterstützt,
Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern kann sie kein Partner in den Friedensgesprächen sein.
14980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Die Charta der Hamas spricht Israel das Existenzrecht Ich bin der Auffassung, dass einseitige Schritte im (C)
ab. Zwar hat die Hamas eine wohl taktisch motivierte Nahost-Friedensprozess der falsche Weg sind und in
Gesprächsbereitschaft zu erkennen gegeben, ein klares eine Sackgasse führen. Wir treten klar für eine Zwei-
Bekenntnis zu friedlichen Beziehungen mit Israel fehlt Staaten-Lösung ein, die das Ergebnis von Verhandlun-
aber noch immer. gen sein muss. Nur eine verhandelte Zwei-Staaten-Lö-
sung kann dauerhaften Frieden bringen.
Noch einmal: Das Recht der Palästinenser auf einen
eigenen Staat ist unbestritten. Doch das Ziel, ein in Si- Ein einseitiger Schritt einer Resolution hätte voraus-
cherheit lebendes, von allen anerkanntes Israel und ein sichtlich die Verhärtung der israelischen Position zur
lebensfähiger palästinensischer Staat, ist nur über den Folge. Er könnte im schlimmsten Falle dazu führen, dass
Weg der Wiederaufnahme von ernsthaften Friedensver- auf israelischer, aber auch auf palästinensischer Seite so
handlungen zu erreichen. Nur eine verhandelte Zwei- viel Frustration bzw. Druck aufgebaut wird, dass schon
staatenlösung bringt dauerhaften Frieden. bald neue gewaltsame Auseinandersetzungen drohen.
Deutschland wird deshalb nichts unterstützen, was
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Für uns gilt auch Verhandlungen erschweren oder zu einer Eskalation der
heute das, was Bundeskanzlerin Angela Merkel im März Lage führen könnte und was nicht innerhalb der EU ab-
2008 vor der Knesset zu den besonderen Beziehungen gestimmt ist.
zwischen Deutschland und Israel gesagt hat:
Lassen Sie mich zusammenfassen:
Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor
mir waren der besonderen historischen Verantwor- Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht,
tung Deutschlands für die Sicherheit Israels ver- was genau Gegenstand eines palästinensischen Antrags
pflichtet. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für sein und an wen dieser gerichtet werden wird. Unabhän-
mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhan- gig davon gilt jedoch: Fortschritte im Friedensprozess
delbar. können nur in Verhandlungen erzielt werden. Deshalb
müssen nun alle Kräfte darauf konzentriert werden, die
Schon vor dem Hintergrund, dass die antisemitischen
Wiederaufnahme der direkten Verhandlungen zwischen
Tendenzen bei der Linken weder zufriedenstellend auf-
Israel und den Palästinensern zu erreichen. Bei diesen
gearbeitet geschweige denn ausgeräumt sind, ist deshalb
Bemühungen muss berücksichtigt werden, dass die Pa-
der heute vorliegende heuchlerische Antrag abzulehnen.
lästinenser in den letzten Jahren substanzielle Fort-
Aber auch eine Vielzahl weiterer Gründe spricht ge- schritte beim Aufbau eines Staatswesens gemacht haben.
gen den Antrag: Nach derzeitigem Stand ist davon aus- Damit nimmt eine der wesentlichen Voraussetzungen für
(B) zugehen, dass die palästinensische Führung ein Schrei- eine Zwei-Staaten-Lösung weiter Gestalt an. (D)
ben an den UN-Generalsekretär richten wird, mit dem
zwar nicht die staatliche Anerkennung, aber die Vollmit- Zu einer Verhandlungslösung gehört selbstverständ-
gliedschaft in den Vereinten Nationen beantragt werden lich auch die Anerkennung des Existenzrechts und die
soll. Gewährleistung der Sicherheit Israels, aber auch, dass
die israelische Regierung die Siedlungspolitik im West-
Denkbar ist allerdings auch, dass die Palästinenser jordanland endlich beendet und darlegt, wie aus ihrer
versuchen werden, ihre Anerkennung ohne den Sicher- Sicht eine Regelung aussehen könnte, die den Interessen
heitsrat in der Generalversammlung zu betreiben. Dazu aller Beteiligten bestmöglich gerecht wird.
könnten sie den Antrag stellen, zu einem „Non-Member
Observer State“ erklärt zu werden. Die Palästinenser be- Wir halten unserer grundsätzlichen Position fest: Ein-
kämen dann zwar nicht mehr Rechte, aber die symboli- seitige Schritte Israels ebenso wie einseitige Schritte Pa-
sche Anerkennung als Staat. lästinas sind der falsche Weg.
(A) das ist auch der Grund, wieso wir Sozialdemokraten Ih- ten Nationen einer Lösung der Endstatusfragen nicht nä- (C)
rem Antrag nicht zustimmen werden. herkommen.
Die Situation im Nahen Osten ist momentan alles an- Bisher hat es die Bundesregierung nicht geschafft, in-
dere als ruhig oder stabil. In Syrien ist die Lage völlig nerhalb der Europäischen Union eine einheitliche Hal-
außer Kontrolle geraten, und der syrische Diktator Assad tung zur Anerkennungsfrage zu bilden. Momentan droht
lässt auf die eigene Bevölkerung schießen, die sich end- die Gefahr, dass sich Deutschland zusammen mit den
lich gegen sein Regime auflehnt. In Ägypten weiß nach USA international isoliert. Deutschland droht die Ge-
dem arabischen Frühling niemand, wohin die Reise ge- fahr, seinen guten Ruf als Vermittler im Nahen Osten zu
hen soll. Doch die schlimmen Anschläge in Eilat vor ei- verlieren. Das wäre hinsichtlich möglicher Friedensver-
nigen Wochen und die Stürmung der israelischen Bot- handlungen keine gute Perspektive.
schaft in Kairo lassen Böses befürchten. Vor diesem In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
Hintergrund ist eine Lösung des Nahostkonflikts drin- hat der ehemalige Außenminister der Palästinensischen
gender denn je; denn nur durch eine Lösung kann die Si- Autonomiebehörde und Leiter der Außenkommission
tuation in der ganzen Region besänftigt werden, und vor der Fatah, Nabil Schaath, die Position der Palästinenser
allem kann nur so auch den Islamisten die „Legitima- sehr klar zum Ausdruck gebracht. In einem Punkt muss
tion“ für ihre antiisraelische und antisemitische Propa- ich Herrn Schaath deutlich widersprechen – ich darf zi-
ganda und für ihre Hasstiraden entzogen werden. tieren –: „Wie können Angela Merkel und Guido
Westerwelle die Palästinenser ungeachtet aller Erfolge
Mit dem Abbruch der direkten Friedensverhandlun-
im Staatsaufbau und der ungebremsten israelischen
gen zwischen der israelischen und palästinensischen Re-
Siedlungspolitik auf einen Verhandlungsprozess mit ei-
gierung im September 2009 ist eine politische Lösung
nem ungleich stärkeren Gegenüber verweisen?“
des Konflikts erneut und zum wiederholten Mal geschei-
tert. Alle Versuche, neue Gespräche über einen dauerhaf- Hier wird deutlich, dass die palästinensische Seite
ten und gerechten Frieden anzustoßen, waren bislang endlich anerkennen muss, dass letztendlich nur direkte
vergeblich. Ob und wann es wieder zu ernst gemeinten Verhandlungen mit dem vermeintlich „stärkeren Gegen-
Verhandlungen zwischen beiden Konfliktparteien über“ zu einem Frieden, zu einer Zwei-Staaten-Lösung
kommt, ist derzeit nicht absehbar. führen wird.
Das Versöhnungsabkommen zwischen Hamas und Doch in einem anderen Punkt stimme ich Herrn
Fatah ist nicht über ein Anfangsstadion hinausgekom- Schaath voll und ganz zu – ich darf wieder zitieren –:
men und grundlegende Vereinbarungen über eine Ein- „Die Rolle eines Ratgebers und Vermittlers kann die Eu-
(B) heitsregierung sind nicht getroffen. Aber auch von der ropäische Union aber nur dann einnehmen, wenn sie ei- (D)
aktuellen israelischen Regierung scheint keinerlei Initia- nen gemeinsamen Kurs für den Umgang mit dem israe-
tive zu kommen. Wir Sozialdemokraten begrüßen daher lisch-palästinensischen Konflikt findet. Deutschland
den Aufruf von US-Präsident Barack Obama an Israel muss eine zentrale Rolle spielen, wenn ein gesamteuro-
und die Palästinenser, mutige Schritte zur Wiederauf- päischer Kompromiss gefunden werden soll, der es der
nahme des Friedensprozesses zu unternehmen. Er be- EU erlaubt, sich aktiv in den Verhandlungsprozess ein-
kräftigt in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerun- zubringen. Die Position der Bundesregierung zur Auf-
gen des Europäischen Rates vom 8. Dezember 2009 das nahme des palästinensischen Staates in die Völkerge-
Ziel, dass der Staat Israel und ein souveräner, unabhängi- meinschaft darf sich daher nicht auf die Ablehnung
ger, demokratischer, zusammenhängender und lebensfä- unseres Strebens nach Staatlichkeit in den Vereinten Na-
higer Staat Palästina Seite an Seite in Frieden und Si- tionen beschränken.“
cherheit leben. Das Existenzrecht des Staates Israel und Daher fordern wir Sozialdemokraten die Bundesre-
das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat dür- gierung mit unserem Antrag „Den Nahost-Friedensbe-
fen niemals infrage gestellt werden. Derzeit findet eine mühungen neuen Schwung verleihen“ auf, dass sie ihre
Welle der Anerkennung eines palästinensischen Staates negative Vorfestlegung gegen die palästinensischen Be-
statt. Damit wächst die Dringlichkeit, Bewegung in den mühungen bei den Vereinten Nationen aufgibt und statt-
festgefahrenen Friedensprozess zu bringen. dessen alle Wege offenhält, die zu einer gemeinsamen
europäischen Haltung führen können, einschließlich der
Jetzt ist es die Aufgabe der internationalen Gemein-
Option, von europäischer Seite das palästinensische An-
schaft, die nächsten Tage, ja Stunden zu nutzen, um den
sinnen dann zu unterstützen, wenn Friedensgespräche
nötigen diplomatischen Druck auf die Konfliktparteien
bis dahin nicht begonnen haben und sich die künftige pa-
zugunsten einer umgehenden Wiederaufnahme von Ver-
lästinensische Regierung zuvor dazu bekennt, dass sie
handlungen auszuüben. Auch die Bundesregierung muss
das Existenzrecht Israels anerkennt, Gewaltverzicht ga-
ihrer außenpolitischen Verantwortung nachkommen und
rantiert und der Gültigkeit der bisherigen Abkommen
sich im Rahmen der EU, der Vereinten Nationen und des
zustimmt. Nur wenn Europa mit einer Stimme spricht,
Nahostquartetts für neue Initiativen einsetzen, die die ra-
können wir als internationaler Akteur glaubwürdig auf-
sche Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen Is- treten.
rael und den Palästinensern zum Ziel haben. Die Bun-
desregierung muss Palästinensern und Israelis Doch zurück zu dem Antrag der Linkspartei. Was ich
klarmachen, dass sie durch eine Zuspitzung der Aus- in Ihrem Antrag vermisse, sind klare und deutliche Si-
einandersetzung in der Generalversammlung der Verein- gnale auch an die palästinensische Seite. Zunächst haben
14982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Sie in Ihrem Antrag nicht einmal mit einem einzigen in den vergangenen Wochen mit zahlreichen Vertretern (C)
Satz auf das schlimme Schicksal von Gilad Schalit hin- aus unseren jüdischen Gemeinden in Deutschland, mit
gewiesen. Die palästinensische Regierung muss sich Vertretern von israelischen Organisationen oder NGOs
endlich – ich werde nicht müde, dass heute nun zum gesprochen, die mir ihre Ängste und Sorgen zum Aus-
wiederholten Male hier im Deutschen Bundestag zu for- druck gebracht haben. Beispielsweise war ich selbst sehr
dern – für die bedingungslose Freisetzung von Gilad schockiert, als ich in der USA Today vor einigen Tagen
Schalit einsetzen, der heute genau seit 1913 Tagen ir- gelesen habe, dass sich der PLO-Vertreter in den USA,
gendwo im Gazastreifen von Islamisten gefangen gehal- Maen Areikat, de facto für einen „judenfreien“ Staat Pa-
ten wird, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Nicht lästina ausgesprochen hat.
einmal das Internationale Rote Kreuz darf zu ihm. Jeder
von uns, der Israel kennt, weiß, dass das momentan mit Wir müssen diese Bedenken und diese Sorgen ernst
der Haupthindernisgrund für Israel ist, Gespräche mit nehmen. Momentan scheint wieder etwas Bewegung in
den Palästinensern zu führen. die Sache gekommen zu sein. Anscheinend sind
Netanjahu und Abbas nun zu Gesprächen bereit. Ich
Darüber hinaus bin ich schon ziemlich entsetzt, wenn hoffe, dass durch die Initiative der Palästinenser der
ich in Ihrem Antrag lesen muss – ich darf zitieren –: Friedensprozess wieder in Fahrt kommt. Wir müssen
„Die notwendige Verpflichtung der Palästinenser zum beiden Seiten deutlich machen, dass nur durch direkte
Gewaltverzicht verlangt auch einen Gewaltverzicht von Verhandlungen ein dauerhafter Frieden möglich sein
Israel.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Links- wird, und wir sollten uns alle vor einseitigen Schuldzu-
partei, die terroristischen Anschläge der Hamas oder an- weisungen hüten.
derer islamistischer Gruppen aus dem Gazastreifen auf
Israel gleichzusetzen mit einer „Gewalt“ von Israel ist Dr. Rainer Stinner (FDP): Wir debattieren heute
schon ein starkes Stück. Wir wissen doch alle, dass wir zum dritten Male in ganz kurzer Zeit über dasselbe
ohne den Terrorismus der Hamas schon ein ganzes Stück Thema. Und wir diskutieren es zu einem Zeitpunkt, wo
weiter wären im Nahen Osten. Wir wissen alle, dass die alles im Fluss ist und wo in New York jede Stunde eine
Hamas sämtliche Friedensbemühungen torpediert und neue Situation entsteht. Wir haben dazu heute Morgen
verhindert, nicht nur auf Kosten Israels, sondern auch im Ausschuss ausführlich diskutiert. Aber die Partei Die
auf Kosten der eigenen Bevölkerung. Linke will ein weiteres Mal dieses Thema diskutieren,
Wir Sozialdemokraten halten die unmittelbare Wie- statt jetzt eine Woche abzuwarten, was in New York he-
deraufnahme von Friedensgesprächen für vordringlich. rauskommt.
Denn nur so können die Endstatusfragen einvernehmlich Deshalb bringe ich noch einmal die Argumentations-
(B) und dauerhaft gelöst werden. Israel muss seine Verant- kette, die unser Denken und Handeln bestimmt. (D)
wortung wahrnehmen und sofort den Siedlungsbau stop-
pen. Die palästinensische Regierung muss sich ihrerseits Wir wollen die Zwei-Staaten-Lösung. Wir sind der
klar zu den Quartettkriterien bekennen und darüber hi- Meinung, dass die Möglichkeit dafür angesichts der
naus umgehend für die bedingungslose Freilassung Siedlungsaktivitäten jedenfalls nicht besser werden. Wir
Gilad Schalits sorgen. Voraussetzung für die Wiederauf- haben daher ein Interesse daran, alles zu tun, dass der
nahme von Direktgesprächen ist die Verständigung über Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung nicht noch weiter
klare Parameter, wie sie Großbritannien mit Unterstüt- verbaut wird. Denn eine Zwei-Staaten-Lösung ist ja kein
zung Frankreichs und Deutschlands in einer Stimmerklä- Selbstzweck, sie soll konkret das Leben der Menschen
rung vom 18. Februar 2011 definiert hat. verbessern. Das tut sie nur, wenn sie von beiden Seiten
gewollt und akzeptiert wird. Deshalb kommen wir an der
Diese Parameter sind Folgende, wie sie Sie unserem Notwendigkeit von Verhandlungen zwischen den Paläs-
Antrag entnehmen können: a) eine Übereinkunft über tinensern und Israel über die bekannten Inhalte nicht
die Grenzen von zwei Staaten auf der Grundlage der vorbei. Wir verhandeln in diesen Minuten in New York
Grenzen von 1967 und einen gleichwertigen Austausch über eine Lösung, die diese Verhandlungen ermöglichen.
von Land; b) Sicherheitsvereinbarungen, die die palästi- Ob dazu der schon heute zum Scheitern verurteilte An-
nensische Souveränität achten, das Ende der Besatzung trag auf die Vollmitgliedschaft Palästinas im Sicherheits-
bringen und die den Israelis Sicherheit gewährleisten, rat einen Beitrag leisten kann, darf hier und heute be-
der Wiederkehr des Terrorismus vorbeugen und neu ent- zweifelt werden.
stehenden Bedrohungen wirksam begegnen; c) eine ge-
rechte, faire und gemeinsame Lösung der Flüchtlings- Bei jeder Lösung müssen die völlig berechtigten Si-
frage und d) die Einlösung der Ansprüche beider Seiten cherheitsinteressen Israels Berücksichtigung finden. Ich
in der Jerusalemfrage. Verhandlungen müssen einen wiederhole aber gerne: Ob das Vorgehen der israelischen
Weg eröffnen, um eine Lösung für das Problem des Sta- Regierung in den letzten Monaten diesen Sicherheitsin-
tus von Jerusalem als künftige Hauptstadt beider Seiten teressen dienlich war, darf mit Fug und Recht auch be-
zu finden. Dabei weisen wir Sozialdemokraten aus- zweifelt werden.
drücklich darauf hin, dass eine Lösung der Flüchtlings-
frage den jüdischen Charakter des Staates Israel nicht in- Ein weiteres Ziel ist, möglichst ein gemeinsames Vor-
frage stellen darf. gehen der Staaten der Europäischen Union zu erreichen.
Das mag bezüglich der zu behandelnden Frage von
Ich kann die Ängste vieler Israelis, mit denen ich ge- nachrangiger Bedeutung sein; aber auch die Palästinen-
sprochen habe, sehr gut nachvollziehen. Auch habe ich ser haben ein Interesse daran, dass einer ihrer wichtigs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14983
(A) ten Partner, die EU, einheitlich agiert. Für die Hand- Meine Fraktion begrüßt grundsätzlich diese Initiative; (C)
lungsfähigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- denn es ist angesichts der Verhandlungsblockade und der
und Sicherheitspolitik ist das natürlich von ganz erhebli- fortgesetzten israelischen Siedlungspolitik in der West-
cher Bedeutung. bank und in Ostjerusalem dringend erforderlich, etwas
zur Rettung der Zwei-Staaten-Regelung zu tun. Wir wis-
Wir haben also eine Optimierungsnotwendigkeit mit sen allerdings noch nicht genau, was die palästinensi-
mehreren Variablen. Das macht die Lösung so schwer. sche Seite am Freitag in die Vereinten Nationen einbrin-
Die Linke hat wieder einmal die einfache Lösung: Volle gen wird, und ob sie letztlich einen Antrag in den
Anerkennung jetzt. Dabei vergisst die Partei, dass mit Sicherheitsrat oder einen in die Generalversammlung
Deklamationen nichts gewonnen ist, wenn sie keine Re- einbringen wird. Nach allem, was bisher bekannt ist,
levanz für die Bürger vor Ort haben. Und genau das ist sind bei einer Befassung des UN-Sicherheitsrates zwei
die Gefahr des Vorschlags der Linken. Die Probleme der Optionen denkbar: Entweder der palästinensische An-
Besatzung, die Probleme der mangelnden wirtschaftli- trag wird dort in einer Kommission mit einem unbe-
chen Perspektive, die Probleme der Zweiteilung in die stimmten Zeithorizont behandelt oder er wird zeitnah ab-
West Bank und in den Gazastreifen werden ja in keiner gelehnt, wahrscheinlich durch ein Veto der USA.
Weise gelöst. Deshalb führt an Verhandlungen kein Weg
vorbei. Insbesondere wegen des drohenden Vetos der USA
scheint es mir bei aller grundsätzlichen Sympathie für
In diese Richtung arbeitet die Bundesregierung. In das Anliegen der Palästinenser nicht sehr ratsam, in
diese Richtung arbeitet seit Monaten der Außenminister. diese volle Konfrontation mit den Amerikanern zu ge-
Wenn diese hartnäckige Arbeit dazu führt, dass das hen. Gerade wenn man sich die Rede von Präsident
Quartett in einer Erklärung die Rahmenbedingungen für Obama von heute Morgen anschaut, erkennt man: Dieser
solche Verhandlungen festlegt und dieser Fahrplan dann Präsident unterstützt nach wie vor einen eigenen selbst-
die Grundlage für Verhandlungen ist, ist es diese hart- bestimmten Staat der Palästinenser. Er hat allerdings da-
näckige Arbeit wert. Dann erwarte ich aber auch, dass von gesprochen, dass es keinen „shortcut“, keine „Ab-
die Opposition diese Bemühungen lobt und nicht kriti- kürzung“, geben sollte, sondern dass die Zwei-Staaten-
siert. Regelung letztlich nur verhandelt werden kann. Das war
deutlich. Allerdings muss man auch sehen: Liefern
Klar ist allerdings auch, dass nach den großen Erwar- konnte dieser Präsident bisher nicht, weder was eine
tungen, die zum Beispiel auch Präsident Obama geweckt Fortsetzung des Siedlungsmoratoriums betrifft noch was
hat, dieses Mal das Ergebnis nicht sein kann, dass die die Bereitschaft der Israelischen Regierung zu substan-
westliche Welt den Palästinensern zwar ihre Sympathie ziellen Verhandlungen betrifft. Das ist für die Palästinen-
(B) vermittelt, ansonsten aber alles beim Alten bleibt. Das ser ein ziemlich unerträglicher Zustand. (D)
geht jetzt nicht mehr.
Insofern stellt sich die Frage, ob nicht ein Zwischen-
Dazu kommt jetzt natürlich die neue Situation in der schritt, nämlich der Gang in die Generalversammlung
arabischen Welt, die in jedem Fall eine neue Dynamik in mit dem Ziel der Aufwertung Palästinas zum beobach-
den Nahost-Friedensprozess bringen wird, wobei diese tenden Nichtmitgliedsstaat, ein tragfähiger Kompromiss
Dynamik noch nicht eindeutig als positiv oder negativ wäre. Zwar wenden sich die Israelis auch hiergegen,
bewertet werden kann. Sie bietet Chancen, enthält natür- aber auch dieser Schritt würde das international aner-
lich aber auch Risiken. Daher bringe ich ein weiteres kannte Konzept der Zwei-Staaten-Regelung stärken und
Mal als möglichen Zwischenschritt die sogenannte Vati- wäre gleichzeitig ein wichtiges Zeichen an die palästi-
kan-Lösung ins Spiel. Diese Lösung könnte übrigens nensische und israelische Gesellschaft, die derzeitigen
besser Deutschland-Lösung oder Schweiz-Lösung hei- Blockaden zu überwinden und an den Verhandlungstisch
ßen; das würde den Vorläufermodellen mehr gerecht. zurückzukehren. Ich bin fest davon überzeugt: Um die
Palästinenser davon zu überzeugen, dass ein solcher
Wenn das Ergebnis der Bemühungen in New York Zwischenschritt sinnvoll ist, ist es erforderlich, dass vor
eine verbindliche Vereinbarung mit einem klaren Zeit- allem die EU, einschließlich Deutschland, mit einer
rahmen für bilaterale Verhandlungen und die Statusauf- Stimme spricht. Denn eine Mehrheit in der Generalver-
wertung der Palästinenser wäre, könnten wir von einem sammlung haben die Palästinenser. Aber es macht für sie
neuen Hoffnungsschimmer am sonst leider so trüben einen großen Unterschied, ob die EU, inklusive der
Himmel des Nahen Ostens sprechen. Deutschen, mit dabei ist oder nicht.
An diesem Punkt ist die Bundesregierung gefordert:
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Bundeskanzlerin, der Außenminister, sie müssen
NEN): Wir werden in dieser Woche Zeugen einer Bewe- sich jetzt innerhalb der EU für ein einheitliches Abstim-
gung im israelisch-palästinensischen Konflikt, wie es sie mungsverhalten einsetzen und signalisieren, dass sie
seit einem Jahr nicht mehr gegeben hat. Hintergrund bereit sind, einer entsprechenden Resolution in der Ge-
sind die Blockade der israelisch-palästinensischen Ver- neralversammlung zuzustimmen, etwa wenn die palästi-
handlungen und die Absicht der Palästinenser, die Mit- nensische Seite bereit wäre, von einem Gang in den Si-
gliedschaft eines palästinensischen Staates bei den Ver- cherheitsrat abzusehen. Auch eine solche Resolution
einten Nationen zu beantragen und damit implizit würde das Recht der Palästinenser auf einen eigenen
zumindest die symbolische Anerkennung als palästinen- Staat stärken, und sie würde gerade die Legitimität des
sischer Staat zu erreichen. Staates Israel unterstreichen. Im Übrigen könnte die
14984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Bundesregierrung mit einer Zustimmung gegenüber den hörden haben derzeit aber keine ausreichenden Möglich- (C)
Staaten des arabischen Frühlings Glaubwürdigkeit zu- keiten, die an einem Visumantrag beteiligten Personen
rückerlangen, die sie in der Vergangenheit verloren hat. gezielt auf rechtswidrige Handlungen im Visumverfah-
Nur wenn die europäischen Staaten endlich mit einer ren oder sonstige Verurteilungen mit Auslandsbezug zu
Stimme sprechen, könnte es vielleicht noch gelingen, überprüfen. Diese Lücke müssen wir schließen; denn das
eine Konfrontation im Sicherheitsrat zu vermeiden. Visumverfahren leistet einen wichtigen Beitrag zur Be-
kämpfung von Terrorismus und irregulärer Migration.
Europa hat hier die große Chance, eine vermittelnde
Rolle zwischen den Konfliktparteien und den USA ein- Sinn und Zweck des Visumverfahrens ist es, sicherzu-
zunehmen, die am Ende zu neuen Verhandlungen führen stellen, dass nur Ausländer nach Deutschland einreisen,
könnte. Der deutsche Außenminister darf diese Chance die die gesetzlichen Voraussetzungen für Einreise und
und große Verantwortung nicht erneut leichtfertig ver- Aufenthalt erfüllen. Ob diese Voraussetzungen tatsäch-
spielen, wie in der Libyen-Entscheidung. Meine Frak- lich vorliegen, ist gewissenhaft zu prüfen. Das erleich-
tion wird sich heute zu dem Antrag der SPD und dem tern wir mit der Visa-Warndatei deutlich. Denn in ihr
Antrag der Linken enthalten. Beide Anträge gehen leider werden Warndaten zu Personen aufgenommen, die im
nicht auf die zentralen Fragen der aktuellen Situation Zusammenhang mit einer der für das Visumverfahren re-
ein, etwa wie ein möglicher Zwischenschritt in der Ge- levanten Katalogstraftaten nach dem Aufenthaltsgesetz
neralversammlung aussehen kann oder, ganz zentral, ein und dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz oder im Zu-
einheitliches Vorgehen der EU. sammenhang mit Schleusung, Menschenhandel und
Kinderhandel oder schwersten Betäubungsmitteldelikten
auffällig geworden sind. Auffällig heißt, indem sie we-
Anlage 89 gen solcher Delikte als Täter oder Teilnehmer rechts-
kräftig zu Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt worden
Zu Protokoll gegebene Reden sind.
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Wir haben den Deliktkatalog auf wenige Straftaten
Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Än- beschränkt, die einen besonderen Bezug zum Visumver-
derung des Aufenthaltsgesetzes (Tagesord- fahren oder einen entsprechenden Auslandsbezug auf-
nungspunkt 12) weisen. Es geht also stark eingegrenzt nur um Informa-
tionen, mit denen der Visummissbrauch entdeckt bzw.
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): verhindert werden kann. Darüber hinaus werden Warn-
Durch eine Schleuserorganisation werden jahrelang daten nur gespeichert zu Visumantragstellern, die sich
ukrainische Frauen illegal über die Grenze nach im Visumverfahren selbst rechtswidrig verhalten haben,
(B) (D)
Deutschland gebracht, und zwar nicht mehr mit dem auf- sowie zu Einladern, Verpflichtungsgebern und Personen,
wendigen und riskanten Verfahren, sie nächtens über die die im Visumverfahren Bestätigungen abgegeben haben,
Neiße zu schleusen. Die Tathandlungen sehen schon seit wenn diese im Rahmen ihrer Erklärungen falsche Anga-
Jahren raffinierter aus: Die Frauen werden im Ausland ben gemacht haben. Dies gilt auch, wenn ein Verpflich-
als Tänzerinnen angeworben, die Visabeschaffung er- tungsgeber seiner Verpflichtung zur Kostenübernahme
folgt mit Falschangaben vermeintlicher deutscher Einla- nicht nachgekommen ist. Diese Informationen werden
der, fingierte Verpflichtungserklärungen liegen natürlich dann nur den Visumstellen im Visumverfahren sowie
vor. Für den Sachbearbeiter einer deutschen Visumbe- den mit der polizeilichen Kontrolle des grenzübergrei-
hörde ist dies mangels besserer Erkenntnisse damit ein fenden Verkehrs beauftragten Behörden für die Erteilung
unverdächtiger Fall. Tatsächlich aber sollen die Frauen von Ausnahmevisa und Rücknahme von Visa an den
in Deutschland zur Prostitution gezwungen werden – ein Grenzen zur Verfügung gestellt.
Tatbestand, wie er immer wieder vorkommt. Hinter
Visaerschleichung stecken oft professionelle Organisa- Daneben soll es ein weiteres Datenabgleichsverfahren
tionen, die damit ihr Geld verdienen. Nicht selten ist geben, getrennt von der Visa-Warndatei und den bereits
diese Form der Schleusungskriminalität für die Täter bestehenden Verfahren zur Konsultation von Sicher-
nichts anderes als Transferlogistik im Bereich der orga- heitsbehörden. Dieses neue, ergänzende Verfahren sieht
nisierten Kriminalität. Deshalb haben wir im Koalitions- den Abgleich der Visumantragsdaten mit den Erkennt-
vertrag beschlossen, dieser organisierten kriminellen nissen der Sicherheitsbehörden zu Personen mit Ver-
Praxis wie auch den „Visashoppern“ mit der Visa-Warn- bindung zum internationalen Terrorismus vor. Für
datei entgegenzuwirken. Deutschland hat ein gutes und Staatsangehörige und Personengruppen, bei denen eine
durchdachtes System der Visumvergabe, das wir durch Visumpflicht besteht, wird so ein Hinweis durch die
eine bessere Vernetzung der Informationen sichern wol- Sicherheitsbehörden an die Auslandsvertretung ermög-
len. licht, wenn ihnen Erkenntnisse vorliegen, dass diese Per-
sonen Verbindungen zu internationalen Terrornetzwer-
Die Visa-Warndatei wird also insbesondere die deut- ken haben. Hierzu übermitteln die Auslandsvertretungen
schen Visumbehörden bei ihrer Tätigkeit unterstützen. auch die Daten von Einladern, Verpflichtungsgebern und
Spätestens seit dem Visa-Untersuchungsausschuss ist sonstigen Referenzpersonen des Visumantragstellers an
klar, dass Visumverfahren fehleranfällig sind. So werden eine im Bundesverwaltungsamt einzurichtende beson-
schwerwiegende Delikte insbesondere aus Bereichen dere Organisationseinheit. Hier wird dann ein Abgleich
wie Menschenhandel und Schleusungskriminalität im- mit bestimmten Daten aus der Antiterrordatei durchge-
mer wieder mit erschlichenen Visa verübt. Die Visumbe- führt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14985
(A) Nur im Trefferfall werden dann die Daten aus dem fälle auch bekannt sind. Erkenntnisse anderer Stellen, (C)
Visumverfahren an die betreffende Sicherheitsbehörde wie auch die Erkenntnisse anderer deutscher Auslands-
zur Prüfung übermittelt, ob Versagungsgründe oder Si- vertretungen und Grenzbehörden erfahren sie nur zufäl-
cherheitsbedenken gegen die Einreise des Visumantrag- lig oder auf Nachfrage im Einzelfall. Oftmals liegen die
stellers bestehen. Wenn beim Abgleich kein Treffer er- Kriterien für die Ablehnung eines Antrages jedoch ge-
zielt wird, werden die Daten unverzüglich gelöscht. Mit rade nicht in der Person des Antragstellers, sondern viel-
diesem weiteren Verfahren wird verstärkt dem besonde- mehr in der Person des Einladers begründet. Dies kann
ren sicherheitspolitischen Interesse in Visumverfahren jedoch erst durch gezogene Quervernetzungen infolge
Rechnung getragen, Personen mit Beziehungen zu Ter- eines Datenabgleichs mit problematischen anderen
rornetzwerken nicht nach Deutschland einreisen zu las- Visumantragstellern bei anderen Auslandsvertretungen
sen. Denn selbstverständlich gehören die für den Bereich belegt werden.
Schleusungskriminalität und OK beschriebenen Modi
Angesichts von jährlich mehr als einer Million bewil-
Operandi zum Handwerkszeug von Terroristen oder
ligter Visumanträge mögen die bisher festgestellten
auch Hasspredigern. Es kann nicht sein, dass Terroristen
Missbräuche von mehreren Hundert Fällen pro Jahr zwar
in deutschen Botschaften irgendwo auf der Welt Visa be-
quantitativ nicht besonders ins Gewicht fallen. Die Er-
antragen und sie auch bekommen, um anschließend ei-
kenntnisse der Sicherheitsbehörden belegen jedoch eine
nen Anschlag in Deutschland vorzubereiten oder gar
starke qualitative Relevanz.
durchzuführen.
So befinden sich unter den aufgedeckten Fällen der
Es war daher höchste Zeit, unseren Visum- und letzten Jahre nicht nur Verbrechen des Menschen- und
Grenzbehörden die Möglichkeit einer intensiveren Prü- Kinderhandels, sondern vor allem auch „Einschleusun-
fung bei der Visavergabe zu geben. Ich bin der Überzeu- gen“ von islamistischen Hass- und Gewaltpredigern
gung, dass diese beiden neuen Verfahren einen sinnvol- nach Deutschland. Sie nutzen Deutschland vornehmlich,
len Beitrag zur Stärkung der inneren Sicherheit leisten um für finanzielle und personelle Unterstützung für ihre
werden. extremistischen und terroristischen Aktivitäten zu wer-
ben.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Die Ver-
Die christlich-liberale Koalition hat sich daher darauf
gabe von Visa, die zur Einreise nach und zum Aufenthalt
verständigt, über die bestehenden Sicherheitsmaßnah-
in Deutschland berechtigen, ist einer der sensibelsten
men hinaus weitergehende gesetzliche Maßnahmen zur
Punkte für die Sicherheit unseres Landes. Sie stellt ein
Bekämpfung des Visummissbrauchs und zur Verhinde-
potenzielles Einfallstor nicht nur für kriminelle, sondern
rung von illegaler Migration zu ergreifen.
auch für terroristische Aktivitäten dar.
(B) (D)
Zukünftig werden in einer Warndatei zentral Daten
Gleichzeitig hat Deutschland als wichtige und stark über Personen gespeichert, die im Zusammenhang mit
vom Export abhängige Wirtschaftsnation und beliebtes einer der für das Visumverfahren relevanten Katalog-
Reiseland aber natürlich auch ein großes Interesse an ei- straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz und dem
ner schnellen und effektiven Vergabe von Visa, um so ei- Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz oder im Zusammen-
nen grenzüberschreitenden außereuropäischen Reise- hang mit Schleusung, Menschen- und Kinderhandel oder
und Wirtschaftsverkehr zu ermöglichen. schwersten Betäubungsmitteldelikten auffällig gewor-
Die sicherheitspolitische Bedeutung der Vergabe von den sind.
Visa und der fortdauernde Missbrauch der geltenden Der Deliktskatalog ist mit Blick auf den mit der Visa-
Einreisebestimmungen sind besonders durch die Arbeit Warndatei verfolgten Zweck der Vermeidung des
des Visa-Untersuchungsausschusses in der 15. Wahl- Visummissbrauchs auf wenige Straftaten beschränkt, die
periode des Deutschen Bundestages offensichtlich ge- einen besonderen Bezug zum Visumverfahren oder ei-
worden. Durch den Untersuchungsausschuss wurde eine nen entsprechenden sonstigen Auslandsbezug aufwei-
Vielzahl von gravierenden und vor allem strukturellen sen.
Mängeln bei der Vergabe von Visa in den deutschen
Auslandsvertretungen aufgedeckt. In der nachfolgenden Ein Zugriff von Sicherheitsbehörden auf diese Datei
Zeit sind die bekannt gewordenen Missstände leider nur wird – abgesehen von den mit der polizeilichen Kon-
zögerlich und teilweise auch unzureichend behoben wor- trolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten
den. Immerhin gibt es mittlerweile eine Arbeitseinheit Behörden für die Erteilung von Ausnahmevisa und die
zur Korruptionsprävention sowie ein Frühwarnsystem Rücknahme von Visa an den Grenzen – nicht möglich
für einen möglichen Missbrauch. sein. Aus sicherheitspolitischen Erwägungen hätte man
sich sicher auch einen größeren Zugriff durch die natio-
Die deutschen Auslandsvertretungen haben jedoch nalen Sicherheitsbehörden auf die Visa-Warndatei an
bisher noch immer nicht die Möglichkeit, bei allen An- dieser Stelle vorstellen können.
trägen die an einem solchen Antrag beteiligten Personen
gezielt auf rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang Mit dem ebenfalls beschlossenen Datenabgleichsver-
mit einem Visumverfahren oder mit sonstigem Aus- fahren wird den sicherheitspolitischen Interessen im
landsbezug zu überprüfen. Visumverfahren jedoch zumindest in Bezug auf die Be-
kämpfung des internationalen Terrorismus Rechnung ge-
Hinzu kommt, dass den Auslandsvertretungen in der tragen. Für das neue Datenabgleichsverfahren wird beim
Regel nur die von ihnen selbst erkannten Missbrauchs- Bundesverwaltungsamt eine besondere Organisa-
14986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) tionseinheit eingerichtet, bei der künftig Daten aus dem den Auslandsvertretungen durch eine neu zu schaffende (C)
Visumverfahren mit bestimmten Daten aus der Anti- Datei.
terrordatei automatisiert abgeglichen werden. Durch den
Abgleich soll eine Rückmeldung durch Sicherheitsbe- Was also im Wesentlichen durch eine eigene deutsche
hörden an die Visumbehörden ermöglicht werden, wenn Visa-Warndatei erreicht würde, wäre ganz überwiegend
Personen aus dem terroristischen Umfeld beabsichtigen, eine unseres Erachtens unzulässige Doppelspeicherung
nach Deutschland einzureisen. von Daten mit großem Aufwand und ohne nennenswer-
ten zusätzlichen Nutzen. Und bei denjenigen, die sich
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt somit im Ergeb- mit gezielten Angaben und Nachweisen um ein länger-
nis einen weiteren wichtigen Baustein der christlich-li- fristiges Visum bemühen, handelt es sich nun sicherlich
beralen Koalition im Kampf gegen den Terrorismus und nicht gerade um den Personenkreis derjenigen, die sich
die organisierte Kriminalität dar. um eine Einreise nach Deutschland bzw. in den Schen-
genraum bemühen, um hier zum Beispiel Straftaten zu
Rüdiger Veit (SPD): Ein Teil der Vorgeschichte zu begehen oder einer illegalen Beschäftigung nachzuge-
diesem Gesetzgebungsprojekt liegt schon in der letzten hen. Damit gilt der alte Satz von Charles-Louis Montes-
Legislaturperiode. CDU/CSU und SPD hatten damals in quieu: Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Ge-
der Koalitionsvereinbarung festgehalten: „Die Bundes- setz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, ein Gesetz
regierung wird sich auf europäischer Ebene dafür einset- nicht zu erlassen.
zen, das für 2006 geplante EU-Visa-Informationssystem
entsprechend auszugestalten. Sollten diese Bemühun- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Derzeit haben
gen bis dahin nicht erfolgreich sein, wird eine nationale deutsche Behörden nicht die Möglichkeit, bei Visuman-
Warndatei geschaffen werden“. Diese europäische Rege- trägen die beteiligten Personen auf rechtswidriges Ver-
lung, nämlich die VIS-VO ist dann aber im Juli 2008 in halten im erforderlichen Ausmaß zu überprüfen. Schon
Kraft getreten und anschließend in der Praxis umgesetzt in der 15. Wahlperiode wurde im Bundestag eine Visa-
worden. Aus heutiger Sicht mag es ein Fehler gewesen Warndatei als Mittel zur Unterstützung unserer Behör-
sein, dass ich damals als Berichterstatter und Verhand- den für sinnvoll erachtet. Es war auch damals klar, dass
lungsführer auf der Seite der SPD das Gesetzesvorhaben das Visa-Verfahren die Einreise von Schwerstkriminel-
einer nationalen Einlader- und Warndatei damit nicht so- len verhindern soll. Deshalb musste eine Lösung her, die
fort, sondern erst in buchstäblich letzter Minute am sowohl den Bedürfnissen des internationalen Reisever-
Freitag vor der Kabinettssitzung aufgehalten habe. In kehrs, der Abwehr von Verbrechern, aber auch dem Da-
meiner eigenen Fraktion bestanden schon damals – ins- tenschutz und den Anforderungen an ein rechtsstaatli-
besondere bei der vormaligen Justizministerin Brigitte ches Verfahren gerecht wird.
(B) (D)
Zypries – und bestehen noch heute erhebliche Bedenken
datenschutzrechtlicher Art, die ich zunächst nicht ernst Die Koalition aus FDP und Union wird nun diese
genug genommen hatte. Spätestens im Bundesrat wären Visa-Warndatei schaffen. Die Koalition ist handlungsfä-
wir seinerzeit mit dem Projekt sowieso an der FDP ge- hig, und im Gegensatz zur SPD bringen wir die Rechts-
scheitert, die sich anders als heute diesem Gesetzesvor- staatlichkeit erhöhende Gesetzgebungsverfahren zum
haben entgegenstellte. Abschluss.
Für den damaligen Anlauf ebenso wie für den jetzt Der Visa-Missbrauch wird durch diese Datei einge-
vorgelegten Gesetzentwurf gilt aber, dass der zu erwar- dämmt werden; die Rechtssicherheit für die Anwender
tende Nutzen und der zu befürchtende Schaden – ganz wird erhöht.
zu schweigen von dem unnötigen Aufwand – in keinem
vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Denn der Die am Visumantrag beteiligten Personen sollen ge-
Anwendungsbereich der europäischen Norm erfasst zielt auf rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang
zwar nur die – kurzfristigen – Schengen-Visa; diese ma- mit Delikten mit Terrorismusbezug, Menschenhandel,
chen aber der Visa-Statistik des Auswärtigen Amtes zu- Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem
folge 93 Prozent aller Fälle aus. Bei den noch verblei- Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz überprüft werden.
benden 7 Prozent handelt es sich um die langfristigen Durch die Einführung der Visa-Warndatei werden die
nationalen Visa gemäß § 6 Abs. 4 des Aufenthaltsgeset- Visumsbehörden in ihrer Arbeit unterstützt: Bisher ha-
zes. Bei diesen Fällen erfolgt naheliegenderweise eine ben Auslandsvertretungen lediglich separat Daten über
ohnehin wesentlich eingehendere Prüfung des Aufent- die am Visumverfahren beteiligten Personen gespei-
haltszwecks – zum Beispiel Arbeitsaufnahme oder Fa- chert. Im Verdachtsfall müssen diese dann jeweils bei
miliennachzug – und unter Beteiligung auch der Auslän- einzelnen anderen Auslandsvertretungen oder Behörden
derbehörden, aus deren Akten im Zweifelsfall mehr nachfragen.
Sachverhalt und Begleitumstände ersichtlich sind, als sie
legitimerweise in einer Datei gespeichert werden kön- Die Visa-Warndatei hilft, diese Lücke zu schließen:
nen. Dabei wird man auch dem Sachbearbeiter des Aus- Dort werden zentral die Daten von Personen gespeichert
wärtigen Amtes die Durchsicht des Bundeszentralregis- werden, die rechtskräftig wegen Straftaten mit Bezug
ters, zu dem er bereits jetzt Zugriff hat, in Bezug auf zum Visumverfahren oder sonstigem Auslandsbezug
einschlägige strafrechtliche Verurteilungen weiterhin zu- verurteilt wurden; darunter fallen schwere Straftaten,
muten können. Das heißt, es braucht auch keine geson- insbesondere Menschenhandel und Verstöße gegen das
derten Arbeitserleichterungen für die Bediensteten in Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14987
(A) Weiter werden am Visumverfahren beteiligte Perso- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will (C)
nen etwa Antragsteller und Einlader, gespeichert, wenn die datentechnische Durchleuchtung von Ausländerin-
sie falsche Angaben gemacht haben oder ihren gesetzli- nen und Ausländern weiter ausbauen und legt einen Ge-
chen Verpflichtungen nicht nachkommen. setzentwurf für eine Visa-Warndatei vor.
Der FDP ist in diesem Zusammenhang der zurückhal- Dabei sind Ausländerinnen und Ausländer bereits
tende Umgang mit Datentransfers wichtig: Die Daten- heute diejenigen, die am stärksten durchleuchtet werden.
speicherung ist auf das Nötigste begrenzt: Gespeichert Es existiert eine Unmenge von Dateien, die gezielt und
wird nur ein Datensatz pro Person bzw. Organisation, ausschließlich für Nichtdeutsche geschaffen wurden:
nicht jeder einzelne Visumantragsvorgang. Das ist geeig- Seit 15 Jahren existiert das Ausländerzentralregister in
net, erforderlich und angemessen. Köln. Diese Datenbank enthält über 23 Millionen Daten
von Ausländerinnen und Ausländern, zum Teil noch
Die Speicheranlässe sind eng umgrenzt und abschlie- Jahre über ihren Aufenthalt in Deutschland hinaus. Die
ßend numerisch aufgezählt. Die zugriffsberechtigten Be- Fingerabdrücke von Asylantragstellern werden ebenfalls
hörden sind nur die am Visumverfahren beteiligten in einer zentralen Datei erfasst. Auf beide Dateien haben
Behörden: Auswärtiges Amt, Auslandsvertretungen, sämtliche Polizeibehörden Zugriff. Delikte im Bereich
Ausländerbehörden und Behörden, die mit der polizei- Einreise und Aufenthalt von Ausländerinnen und Aus-
lichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs ländern, Fälschung und Vorlage von ge- und verfälsch-
beauftragt sind. Die Informationen in der Visa-Warn- ten Dokumenten im Visumverfahren, im Bereich
datei dienen den Behörden für die Sachverhaltsaufklä- Schwarzarbeit – zu alldem gibt es in Deutschland Da-
rung und ermöglichen ihnen eine umfassende Sachver- teien. Die Vorgänge zu jedem Visumverfahren werden
haltsbewertung. bei den Botschaften und den zuständigen Ausländerbe-
hörden gespeichert. Im November dieses Jahres startet
Eine Speicherung hat nicht automatisch die Ableh-
nung eines Visumantrags zur Folge, vielmehr soll der das Visa-Informationssystem der EU, in dem sämtliche
betroffenen Behörde eine alle wichtigen Aspekte umfas- Visumverfahren auch zentral erfasst werden. Wer ein
sende Ermessensentscheidung ermöglicht werden. Sie Visum beantragt, einen Ausländer einlädt oder als Bürge
muss wissen, an welcher Stelle sie weiter nachfragen garantiert, dass aus seinem Aufenthalt keine Kosten ent-
muss. stehen, ist in einer oder mehreren Dateien erfasst.
Der Bundesregierung reicht das nicht, sie will nun
Die Rechte der Betroffenen sind zentral berücksich- auch noch die sogenannte Visa-Warndatei. Zu jedem
tigt durch Protokollierungs-, Datensicherungs- und Lö-
Visumverfahren sollen alle beteiligten Personen gespei-
schungsvorschriften sowie den Auskunftsanspruch. In chert werden, also die einzuladenden Gäste, die Einlader (D)
(B) Ergänzung zu dieser Visa-Warndatei wird eine Organisa-
und die Bürgen, außerdem noch sogenannte relevante
tionseinheit beim Bundesverwaltungsamt geschaffen,
Personen, ein völlig unklarer und im Gesetz nicht defi-
wo einzelne Daten von Personen aus dem Visumverfah- nierter Begriff. Sie sollen gespeichert werden, wenn es
ren mit einem sehr eng begrenzten Teilbereich der Anti- aus Sicht der Behörden zu Unregelmäßigkeiten kommt.
terrordatei abgeglichen werden. Damit sind auch Top-
Dabei geht es nicht nur um die Vorlage von gefälschten
gefährder identifizierbar. Durch dieses Vorgehen kann Dokumenten oder den illegalen Verbleib im Bundesge-
sicherheitsrelevanten Interessen Rechnung getragen biet über die Gültigkeitsdauer des Visums hinaus. Schon
werden, ohne durch einen unkontrollierten Datenab-
die unverschuldete Verletzung der Verpflichtungen aus
gleich unverhältnismäßig in die Schutzrechte der Betrof- der Bürgschaft für den ausländischen Besucher führt zur
fenen einzugreifen. Speicherung. Auch falsche Angaben im Visumverfahren
Eine anlasslose Speicherung der Daten findet nicht führen zur Erfassung; auch hier spielt der Vorsatz keine
statt. Vielmehr wird ein besonderes Verfahren eingerich- Rolle. Die Konsequenz: Der oder die Betroffene wird
tet: Wenn beim Abgleich an neutraler Stelle festgestellt auf Jahre hinaus keine Verwandten oder Freunde aus
wird, dass die betreffende Person in der Datei gespei- dem Ausland einladen können. Selbst wer unwissentlich
chert ist, wird die Sicherheitsbehörde, die die Daten ein- und ohne bösen Vorsatz im Visumverfahren falsche An-
gestellt hat, darüber informiert. Das bedeutet „Rechts- gaben macht, muss mit dieser Konsequenz rechnen. Im
staatlichkeit durch Verfahren“. Gesetzentwurf ist nicht vorgesehen, die Betroffenen über
ihre Speicherung zu informieren. Ein wirksamer Rechts-
Freiheit und Sicherheit mit menschlichem Gesicht in schutz ist also nicht möglich.
einer Gesellschaft des Miteinanders: Das ist das Leitbild
für die innenpolitischen Herausforderungen der nächsten Die Bundesregierung ist bislang jeden Beweis schul-
Jahre. Der vorliegende Gesetzentwurf wird dem auf vor- dig geblieben, dass die Einrichtung einer solchen Visa-
bildliche Weise gerecht. Wir erleichtern so den für ein Warndatei wirklich notwendig ist. Ein paar Zahlen dazu:
weltoffenes Industrieland wie Deutschland unverzicht- Im vergangenen Jahr hat die Bundespolizei in 1 686 Fäl-
baren internationalen Reiseverkehr und stärken zugleich len den Verdacht gehabt, dass sich jemand rechtswidrig
die Sicherheit unseres Landes – ohne ausufernde Daten- einen Aufenthaltstitel beschafft haben könnte. Das sind
erfassung. bei über 2 Millionen erteilten Visa weniger als 1 Pro-
mille. Selbst unter Annahme eines großen Dunkelfeldes
Die FDP in der gemeinsamen Koalition sorgt dafür, ist die Durchleuchtung aller Visumantragsteller, Einlader
dass Freiheit und Sicherheit in einem angemessenen, und Bürgen schlicht unverhältnismäßig. Alle Zahlen, die
ausgewogenen Verhältnis bleiben. die Union in diesem Zusammenhang in den Raum stellt,
14988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) sind schlicht aus der Luft gegriffen und durch nichts be- haben, bzw. sie können in solchen Datenbeständen (C)
legt. erfasst werden. So sind sämtliche Tatbestände des
§ 2 Abs. 1 Nr. 1 bereits im Bundeszentralregister erfasst.
Auch der geplante Abgleich der Daten der Visuman- Die Tatbestände des § 2 Abs. 1 Nr. 2 gehören zu den Ver-
tragsteller mit der Antiterrordatei ist überflüssig und eine sagungsgründen, die im Visa-Informationssystem, VIS,
reine Ressourcenverschwendung. Für eine Reihe von zu erfassen sind.
Staaten gilt ohnehin, dass die Daten ihrer Bürger im
Visumverfahren mit den Erkenntnissen der Sicherheits- Die Bundesregierung versucht nicht einmal, zu erklä-
behörden abgeglichen werden sollen. Die Datei des Bun- ren, warum die Errichtung einer Visa-Warndatei und der
deskriminalamtes, in der diese sogenannten Konsulta- Abgleich mit der Antiterrordatei notwendig sein sollen.
tionsverfahren erfasst werden, enthält mittlerweile Vielmehr soll nach der Gesetzesbegründung erst nach
3,5 Millionen Vorgänge. Sie wurde 2009 eingerichtet. Es dreijährigem Bestehen der Warndatei eine Evaluierung
ist nicht bekannt, ob dadurch in nur einem Fall die Ein- überprüfen, „ob sich die Speicherung von Daten, die be-
reise einer möglicherweise gefährlichen Person verhin- reits im vom Bundesamt für Justiz geführten Bundeszen-
dert werden konnte. Ich vermute, das ist nicht der Fall – tralregister zentral gespeichert sind, in der neu einge-
sonst hätten die Sicherheitsbehörden das sicherlich an führten Datei als für die Erreichung des Zwecks des
die große Glocke gehängt. Gesetzes notwendig erweist …“. Die Mitwirkung der
FDP, die sich mal als Bürgerrechtspartei verstanden hat,
Dieser Datenabgleich soll nun auf alle visumpflichti- an einer solchen Missachtung der Grundrechte ist der
gen Staatsangehörigen ausgedehnt werden. Über Aus- blanke Hohn.
länderinnen und Ausländer wird also noch ein Datennetz
geworfen. Die Notwendigkeit einer solchen Durchleuch- Es ist völlig unklar, warum die Bundesregierung mit
tung ist durch nichts belegt. Die Begründung des Gesetz- einem halbgaren Gesetzentwurf vorprescht, anstatt den
entwurfs schweigt sich dazu komplett aus. Die von der Beginn des Visa-Informationssystems abzuwarten, um
Bundesregierung geplante Rasterung aller Personen, die dann zu prüfen, ob weitere Maßnahmen überhaupt not-
einen Visumantrag für den Schengen-Raum stellen, egal wendig sind.
ob an einer deutschen oder der Botschaft eines anderen
EU-Staates, ist vollkommen unverhältnismäßig und ein Noch viel problematischer als die Warndatei ist der
Datenmissbrauch auf breiter Front. Weder für die Vorschlag, ein neues Verfahren beim Bundesverwal-
Visumantragsteller noch die Einlader und Bürgen ist tungsamt einzurichten, das jeden Visumantragsteller,
nachvollziehbar, wer ihre Daten bekommt. Ich kann die Einlader, Verpflichtungsgeber oder jede sonstige Refe-
Koalition an dieser Stelle nur auffordern: Stoppen Sie renzperson automatisch mit bestimmten Einträgen in der
Antiterrordatei abgleicht. Bei Treffern sollen die Daten
(B) diesen Unsinn! an die Sicherheitsbehörden zur weiteren Prüfung über- (D)
mittelt werden.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit ih-
rem Gesetzentwurf möchte die Bundesregierung eine Anders als bei der Warndatei erfolgt ein Abgleich mit
Visa-Warndatei errichten. Darin sollen Daten von Vi- der Antiterrordatei also nicht nur bei Personen, die in der
sumantragstellern, Einladern und Verpflichtungsgebern Vergangenheit auffällig geworden sind, sondern bei aus-
gespeichert werden, die in der Vergangenheit durch fest- nahmslos allen Personen, die am Visumverfahren betei-
gestelltes missbräuchliches Verhalten im Zusammen- ligt sind und keinen Anlass für eine Überprüfung gege-
hang mit Visumverfahren aufgefallen sind. Teile des Vi- ben haben. Mit dieser Regelung werden friedliche
sumantrags sollen außerdem automatisch mit der Anti- Menschen, die ihre Verwandten für einen Besuch einla-
terrordatei abgeglichen werden. den oder sich an internationalen Jugend-, Wissenschafts-
und Studierendenaustauschprogrammen beteiligen, pau-
Selbstverständlich unterstützen wir Grünen das Ziel schal als mögliche Terroristen verdächtigt. Es ist be-
der Bundesregierung, Visummissbrauch und schwerer zeichnend für die rückwärtsgewandte Politik der Bun-
Kriminalität mit Auslandsbezug entgegenzuwirken. Die desregierung, dass sie immer noch meint, Ausländer-
Regierung geht aber einen falschen und voreiligen Weg. innen und Ausländer seien grundsätzlich ein Sicherheits-
Aus vermeintlichen Sicherheitsgründen versucht sie, die risiko. Diese Einstellung wird sicherlich nicht dazu bei-
Rechte der am Visumverfahren Beteiligten zu unterlau- tragen, dass sich die gewünschten Hochqualifizierten
fen. Sie missachtet das Grundrecht auf informationelle und ihre Familienangehörigen oder Touristen für
Selbstbestimmung, das auch für Ausländerinnen und Deutschland entscheiden.
Ausländer gilt und den Staat verpflichtet, personenbezo-
gene Daten sparsam zu erheben, und zwar nur dann, Abgesehen von der negativen Signalwirkung, die von
wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse besteht. einer solchen Sicherheitsmaßnahme ausgeht, ist ein au-
tomatisierter Abgleich mit der Antiterrordatei auch nicht
Dass die von der Regierung vorgeschlagenen Maß- notwendig. Das Aufenthaltsgesetz sieht bereits ein Ver-
nahmen erforderlich sind, um den Visummissbrauch ein- fahren zur Überprüfung von Sicherheitsbedenken bei Vi-
zuschränken, leuchtet nicht ein. Im Gegenteil, die beste- sumantragstellern aus bestimmten Staaten vor. Dieses
henden und bereits beschlossenen sicherheitsrechtlichen sogenannte Konsultationsverfahren könnte auch auf die
Instrumentarien in diesem Bereich sind sehr wohl ausrei- Angehörigen weiterer Staaten ausgeweitet werden.
chend. Die in der geplanten Visa-Warndatei zu spei-
chernden Daten liegen überwiegend bereits in anderen Unzureichend ist der Gesetzentwurf auch im Hinblick
Datenbeständen vor, auf die die Visumbehörden Zugriff auf den Schutz der Betroffenen vor falschen Eintragun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14989
(A) gen in der Visa-Warndatei. Das Recht auf informatio- mag an dem Gesetz vieles kritisieren, vieles auch zu (C)
nelle Selbstbestimmung gebietet es zum einen, dass die Recht, aber mit Zensur hat es überhaupt gar nichts zu
Betroffenen über die Speicherung ihrer Daten und ihr tun. Und es bleibt für mich die bange Frage: Welches
Auskunftsrecht informiert werden; zum anderen müssen Staats- und Gesellschaftsbild haben diejenigen im Kopf,
ihnen Ansprüche auf Berichtigung und Löschung un- die mit Verve „Zensur“ gebrüllt haben, um das Gesetz zu
richtiger Daten gewährt werden. Fall zu bringen? Denn da geht es denjenigen ja wohl um
mehr als um die Frage der Tauglichkeit des Mittels Inter-
Das Ausländerrecht darf nicht länger als Polizeirecht netsperren. Es geht um die grundsätzliche Haltung zu
verstanden werden. Dieser Gesetzentwurf würde den staatlichen Eingriffen zur Abwehr von Straftaten. Ge-
vielen friedlichen Menschen, die erfreulicherweise Inte- setzmäßigkeit, Rechtschutzgarantie und Verhältnismä-
resse an unserem Land haben, schaden. Das lehnen wir ßigkeit, also Geeignetheit, Erforderlichkeit und Ange-
Grünen ab. Dass sich die FDP, die in der letzten Wahlpe- messenheit, sind die klassischen Instrumente des
riode noch vehement gegen die Visa-Warndatei protes- Rechtsstaats zur Limitierung von Eingriffen. Wer diese
tiert hat, heute nicht zu schade ist, diese stigmatisierende Mechanismen aufgeben möchte, redet entweder dem
Datensammelwut der Unionsparteien zu unterstützen, überstarken Staat das Wort oder einem Staat, für den un-
nur weil die Unionsparteien im Gegenzug auf die Inter- ter dem Diktum vorgeblicher Freiheit der Ausgleich di-
netsperren verzichtet haben, ist bezeichnend für ihren vergierender Grundrechte – etwa die Schutzpflicht ge-
desolaten Zustand. genüber den Bürgerinnen und Bürgern, für deren
Sicherheit zu sorgen – gleichgültig zu sein hat. Das aber
ist meiner Ansicht nach ein Verständnis von Freiheit, das
Anlage 90 mit der Gefahr behaftet ist, sich in letzter Konsequenz
Zu Protokoll gegebene Reden gegen sie selbst zu richten. Mich besorgt das, und ich
hoffe, dass ich mit dieser Sorge nicht alleine stehe.
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Aufhebung von Sperrregelungen bei der Be- Wie sehr im Übrigen das Zensurargument tönend Erz
kämpfung von Kinderpornographie in Kommu- ist, zeigt ein Blick auf die Polizeigesetze der Länder, die
nikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 14) das Sperren von Internetseiten bisher, jetzt und auch in
Zukunft auf gesetzlicher Grundlage zur Gefahrenabwehr
erlauben. Sie erlauben es, weil es ein ganz normales Mit-
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Vielleicht ist für den
tel zur Gefahrenabwehr darstellt, sofern es auf rechts-
einen oder anderen heute hier vordergründig ein Tag des
staatlicher Grundlage erfolgt. Und das sind keine chine-
stillen oder lauten Triumphs. Wir beraten in erster Le-
sischen Verhältnisse!
sung den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von
(B) Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderporno- (D)
Drittens ist das Gesetz ein Lehrstück für politische
grafie in Kommunikationsnetzen. Ich will nicht verheh- Halbwertszeiten – auf allen Seiten. Die SPD – ich habe
len, dass meine Empfindungen zwiespältig sind, und es seinerzeit in verschiedenen Reden die damaligen Einlas-
mag nicht nur mir so gehen. Vor allem: Die bloße Besei- sungen der Kolleginnen und Kollegen bereits genüsslich
tigung eines Gesetzes vermag diesen Zwiespalt nicht so zitieren dürfen – hat mit dem Verlassen der Großen
einfach zu beseitigen. Koalition offensichtlich auch ihre Haltung zum Gesetz
zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen
Zunächst einmal ist das Gesetz zur Erschwerung des
Inhalten in Kommunikationsnetzen sehr schnell hinter
Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommu-
sich gelassen. Aber auch die Koalition hat sich schon im
nikationsnetzen ein Lehrstück, ein Lehrstück für vieles.
Koalitionsvertrag, um es vorsichtig zu formulieren,
Es ist erstens ein Lehrstück dafür, was passiert, wenn durch einen Formelkompromiss von einem geltenden
Gesetze im Zuständigkeitsgestrüpp einer Regierung Gesetz distanziert. Aus legislativer Sicht ist das eine be-
wachsen. Bei der Entstehung des Gesetzes hat seinerzeit denkliche Situation. Hier wird ein über ein Jahr währen-
das eigentlich federführende Ministerium nicht die Feder der Konflikt zwischen Gesetzeslage und mangelnder Ge-
geführt. Ein anderes Ministerium hat sich dann die Zu- setzesanwendung durch Aufhebung des Gesetzes gelöst.
ständigkeit aus der Verfassung konstruiert, und ein unzu- Wenn in solchen Konflikten stets die Legislative vor der
ständiges Ministerium hat die Debatte beherrscht. Ich Exekutive durch die Beseitigung von Gesetzen zurück-
scheue mich nicht, das hier so anzusprechen; denn am weichen würde, dann wäre dies sicherlich eine Bankrott-
Schluss des Prozesses hat sich eine Regierung ja auch als erklärung des demokratischen, auf Gewaltenteilung ba-
Erste von diesem, ihrem Werk durch Nichtanwendung sierenden Rechtsstaats. Was wir heute tun, darf daher
distanziert. Und was bleibt? Am Ende bleibt die Er- keine Schule machen.
kenntnis, dass das insbesondere einem nicht gedient hat:
Schließlich: Was bleibt übrig? Ein sicherlich nicht op-
der Sache selbst.
timales Gesetz wird aufgehoben. Das Problem indessen
Das Gesetz ist zweitens ein Lehrstück dafür, wie aus bleibt nach wie vor nicht gelöst. Nach wie vor sind die
der Umdeutung von Begriffen, aus der Umwertung von Löscherfolge ausgesprochen dispers. So finden sich im
Werten, politische Kampfinstrumente werden. Rasch be- ersten Halbjahr des Jahres 2011 einige Monate, in denen
kam die öffentliche Diskussion einen Spin, der gar über 80 Prozent der identifizierten Seiten innerhalb einer
nichts mit dem Thema Kinderpornografie zu tun hat. Woche gelöscht werden konnten. Ebenso gibt es aber
Das Stichwort Zensur rückte in den Vordergrund. Dieser auch Monate, in denen nur rund 30 Prozent der Seiten
Begriff sollte fortan die Diskussion beherrschen. Man gelöscht wurden. Im Durchschnitt gelingt es, bei knapp
14990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) über 60 Prozent der Seiten eine Löschung innerhalb der kennt? Die Aufhebung eines Gesetzes gibt darauf leider (C)
ersten Woche zu veranlassen. Damit sind aber immer keine Antwort.
noch 40 Prozent der Seiten nach einer Woche verfügbar.
Das alles zeigt: Nach wie vor mangelt es an einer Lars Klingbeil (SPD): Besser spät als nie! Wir bera-
wirksamen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Kin- ten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bun-
derpornografie in Kommunikationsnetzen. Ich möchte desregierung zur Aufhebung der Netzsperren. Um es
nicht verschweigen, dass sich im vergangenen Jahr hier vorweg zu sagen: Es ist gut, dass sich nunmehr – nach
eine Menge bewegt hat, nicht zuletzt was die Zusam- über drei Jahren Debatte und zwei Jahre nach der Verab-
menarbeit von staatlichen Stellen und Selbstregulie- schiedung des Zugangserschwerungsgesetzes – alle
rungseinrichtungen der Internetwirtschaft angeht. Das ist Fraktionen im Deutschen Bundestag und auch die Bun-
ausdrücklich positiv zu bewerten. desregierung einig sind, dass Internetsperren wenig ef-
fektiv, ungenau und technisch ohne größeren Aufwand
Aber gerade in grundrechtssensiblen Bereichen kann zu umgehen sind. Internetsperren können damit keinen
nicht bloß eine gut funktionierende Zusammenarbeit von wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderporno-
Behörden und privaten Einrichtungen Maßstab sein. Das grafie leisten und schaffen zudem eine Infrastruktur, die
genügt den rechtsstaatlichen Vorgaben nicht, und zwar grundsätzliche Bedenken hervorruft und verfassungs-
nicht nur im Hinblick auf die Bereitstellung von Ein- rechtlich problematisch ist.
griffsmöglichkeiten, sondern auch ebenso mit Blick auf
deren Limitierung. Daher ist das pure Aufheben des Ge- Die Regierungsfraktionen hatten in ihrem Koalitions-
setzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornogra- vertrag vereinbart, das Zugangserschwerungsgesetz zu-
fischen Inhalten in Kommunikationsnetzen aus Sicht der nächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Dementsprechend
CDU/CSU-Fraktion zu wenig. wurde das BKA durch Erlass des Bundesministeriums
des Inneren aufgefordert, den „in § 1 Abs. 2 ZugEr-
In der weiteren Beratung des vorliegenden Gesetzent- schwG eingeräumten Beurteilungsspielraum dahin ge-
wurfes sollten wir daher folgende Überlegungen mitei- hend zu nutzen, dass keine Aufnahme in Sperrlisten er-
nander diskutieren. folgt und Zugangssperren unterbleiben“. Einen solchen
Zum einen sollten wir darüber nachdenken, ob wir zu- Beurteilungsspielraum gibt es aber nicht, und von daher
mindest die Evaluierungspflicht hinsichtlich des Löschens kann diese Anordnung der Nichtanwendung eines Geset-
weiter gesetzlich konstituiert lassen. Ich habe es eben zes durch Ministererlass durchaus als Verstoß gegen den
schon ausgeführt: Die Löschergebnisse sind ausgespro- Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes, Art. 20 Abs. 3 GG,
chen dispers. Unserer Ansicht nach täten wir gut daran, bewertet werden. Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese
(B) wenigstens hierauf auch weiterhin ein wachsames Auge verfassungsrechtlichen Bedenken immer wieder deutlich (D)
zu haben. Denn wie ebenfalls bereits gesagt: Nach wie gemacht. Auch die öffentliche Anhörung des Rechtsaus-
vor ist eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Kin- schusses zum Thema hat diese Bedenken aus unserer
derpornografie nicht oder nur in Ansätzen zu erkennen. Sicht eindeutig bestätigt.
Wir halten hier die Vorschläge des Bundesrates aus-
Die Bundesregierung begründet ihren nun vorgeleg-
drücklich für bedenkenswert.
ten Gesetzentwurf wie folgt: „Die Möglichkeiten einer
Zum anderen: Es wäre gut, eine ausdrückliche Zu- intensiven Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden
ständigkeitsregelung für das BKA im Hinblick auf die und nicht staatlichen Einrichtungen wie Selbstregulie-
Bekämpfung der internationalen Kinderpornografie im rungsorganisationen der Internetwirtschaft und Nichtre-
Sinne des § 184 b StGB gesetzlich festzuschreiben. Der- gierungsorganisationen wurden in jüngster Zeit weiter
zeit wird diese Zuständigkeit allein aus der Zentralstel- genutzt, um national und international eine schnellst-
lenfunktion des BKA abgeleitet. Damit wird das BKA mögliche Löschung der Inhalte zu erreichen. Dieses Vor-
allein aufgrund der Entscheidung der Exekutive tätig. gehen hat sich als erfolgreich erwiesen, so dass Sperr-
Hier ist unserer Ansicht nach aber der Gesetzgeber ge- maßnahmen nicht erforderlich sind. Das Gesetz zur
fordert. Wenn die von allen Fraktionen stets wiederhol- Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen In-
ten Beteuerungen, wir sollten den Kampf gegen Kin- halten in Kommunikationsnetzen (Zugangserschwe-
derpornografie mit dem Mittel des Löschens konsequent rungsgesetz – ZugErschwG) wird daher aufgehoben.“
fortführen, wirklich ernst gemeint ist, reicht das Aufhe- Zu möglichen Alternativen ihres Gesetzentwurfes gibt
ben eines Sperrgesetzes eben nicht. Denn einen Lösch- die Bundesregierung den bemerkenswerten Hinweis:
auftrag suchen wir im Bundesrecht weit und breit verge- Keine.
bens. Wir sollten daher festlegen, wozu eine
Polizeibehörde zuständig ist und wozu nicht. Mit dem Alternativen liegen seit Anfang 2010 vor. Die SPD-
vorliegenden Gesetzentwurf könnten wir daher bei- Bundestagsfraktion hat ihre Zustimmung zu diesem Ge-
spielsweise eine Ergänzung des BKA-Gesetzes vorneh- setz im Jahr 2009 als Fehler eingeräumt und im Februar
men. 2010 einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Gesetzes
zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunika-
Die Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des tionsnetzen eingebracht. Es war die Koalition, die immer
Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommu- wieder verhindert hat, dass dieser Gesetzentwurf und die
nikationsnetzen steht an. Doch die Herausforderung vergleichbaren Gesetzentwürfe der anderen Opposi-
bleibt. Wie können wir wirksam gegen Kinderpornogra- tionsfraktionen auf die Tagesordnungen im Plenum und
fie in einem Medium vorgehen, das keine Grenzen der Ausschüsse gesetzt wurde. Am 25. Oktober 2010 hat
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14991
(A) der Unterausschuss Neue Medien auf Antrag der um möglicherweise erneut auftretende Schutzlücken (C)
SPD-Fraktion ein Expertengespräch zu den Gesetzent- rechtzeitig erkennen zu können.
würfen der Opposition zur Aufhebung des Zugangser-
schwerungsgesetzes und hierbei insbesondere zu den Problematisch ist zudem, dass – trotz zweijährigen
technischen und organisatorischen Fragen und Proble- Wartens – viele der Verabredungen zur besseren Zusam-
men bei der Löschung von Kindesmissbrauchsdarstel- menarbeit zwischen BKA und den Beschwerdestellen
lungen im Internet durchgeführt. Hierbei wurde überaus und den Selbstkontrolleinrichtungen lange gar nicht
deutlich, dass es große Erfolge bei der Durchsetzung der greifen konnten, weil das diesbezügliche „Harmonisie-
rungspapier zum zukünftigen Umgang mit Hinweisen
Löschung und vor allem deutliche Verbesserungen bei
auf kinderpornografische Webseiten beim BKA, den
der Zusammenarbeit zwischen dem BKA, den Be-
deutschen Beschwerdestellen (eco e.V., FSM e.V., ju-
schwerdestellen und den Selbstkontrolleinrichtungen
gendschutz.net) sowie der BPjM“ – welches seit dem
gibt, vor allem mit Blick auf das direkte Zugehen auf die
Frühjahr 2010 vorlag – erst im März 2011 unterzeichnet
Hostprovider im Ausland. Einhellige Feststellung bei wurde. Besser spät als nie: Wir begrüßen es dennoch
diesem Expertengespräch war, dass Internetsperren kein ausdrücklich, dass diese Vereinbarung nunmehr endlich
geeignetes Instrument zur Bekämpfung von Kinderpor- unterzeichnet wurde und in Kraft getreten ist. Mit die-
nografie sein und bestenfalls Symbolpolitik darstellen sem Harmonisierungspapier wurden einheitliche Verfah-
können, zugleich aber eine Infrastruktur schaffen, die ren vereinbart, um eine Löschung derartiger Inhalte tat-
bedenklich ist und die missbraucht werden kann. Am sächlich durchzusetzen. Von entscheidender Bedeutung
10. November 2010 hat der federführende Rechtsaus- – auch das ein zentrales Ergebnis der parlamentarischen
schuss eine öffentliche Anhörung zu den Gesetzentwür- Beratungen unserer Gesetzentwürfe – ist dabei die Tatsa-
fen der Opposition zur Aufhebung des Zugangserschwe- che, dass diese Stellen über ihrer Partnerorganisationen
rungsgesetzes durchgeführt. Auch hier wurde von der oder auch direkt den Kontakt mit den jeweiligen Host-
überwiegenden Mehrzahl der geladenen Sachverständi- providern im Ausland aufnehmen, weil hierbei am
gen festgestellt, dass das Gesetz verfassungsrechtlich zu- schnellsten und effektivsten eine Löschung erreicht wer-
mindest bedenklich ist und keinen Beitrag zur Bekämp- den kann.
fung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen
leisten kann. Das Fazit lautet daher: Internetsperren sind zur wirk-
samen Bekämpfung der Darstellung von Kindesmiss-
Immerhin ein knappes Jahr nach der Anhörung des brauch im Internet – wie auch zur Verfolgung anderer
federführenden Rechtsausschusses legt die Bundesregie- Straftaten – nicht geeignet. Von daher werden wir natür-
rung nun endlich ihr Aufhebungsgesetz vor und schlägt lich der ersatzlosen Aufhebung des Zugangserschwe-
(B) – wie die Gesetzentwürfe der Opposition – vor, dass das rungsgesetzes zustimmen. (D)
Zugangserschwerungsgesetz ersatzlos aufgehoben wer-
den soll. Dies ist richtig und findet unsere Zustimmung, Aber dabei allein darf es nicht bleiben: Es bedarf viel-
allerdings kommt diese Einsicht sehr spät. Auf jeden mehr der Weiterentwicklung von effektiven Bekämp-
Fall ist zu begrüßen, dass das Instrument der verfas- fungsstrategien, um die Löschung derartiger Angebote
sungsrechtlich bedenklichen und zur Verfolgung von im Internet auf der Grundlage des geltenden Rechts
durchzusetzen. Zur Bekämpfung der Verbreitung von se-
Straftaten untauglichen Netzsperren abgeschafft wird,
xueller Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Ju-
und es ist – angesichts vergleichbarer Forderungen bei-
gendlichen im Internet sind eine verbesserte technische
spielsweise bei Urheberrechtsverletzungen – zu hoffen,
und personelle Ausstattung der Polizeibehörden, die
dass die Bundesregierung sich damit hoffentlich voll-
Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften so-
ständig von der Absicht, eine solche Sperrinfrastruktur
wie die Verbesserung der Zusammenarbeit auf nationaler
aufbauen zu wollen, verabschiedet. und insbesondere auf internationaler Ebene erforderlich,
Bedauerlich ist, dass – weil die Bundesregierung sich um die Löschung kinderpornografischer Netzinhalte
seit ihrem Amtsantritt und trotz entsprechender öffent- zeitnah und effektiv durchzusetzen und eine konse-
lichkeitswirksamer Ankündigungen in ihrem Koalitions- quente Strafverfolgung zu erreichen. Auch all dies hat
vertrag nicht auf eine gemeinsame Linie hat verständi- die SPD-Bundestagsfraktion und haben die anderen Op-
gen können – es keine wirklich unabhängige Evalu- positionsfraktionen in den letzten beiden Jahren einge-
ierung gegeben hat, denn nur so hätte man noch beste- fordert, und auch hierzu stehen die Konzepte der Bun-
desregierung aus. Wir werden weiter auf die Vorlage
hende Defizite bei der Durchsetzung der Löschung auf-
einer entsprechenden Strategie drängen.
zeigen können. Daher ist es bis heute so, dass es zwar
überdeutliche Verbesserungen bei der Löschung entspre- Die hitzigen und aufgeregten Debatte um die Netz-
chender Inhalte in kürzester Zeit gibt, dass aber zugleich sperren im Bundestagswahlkampf 2009, die erfolgreiche
nach wie vor erhebliche Differenzen zwischen den Zah- Petition zur Aufhebung des Internetsperrgesetzes und
len des BKA und den Selbstregulierungseinrichtungen die Debatten in dieser Legislaturperiode haben aber auch
vorliegen. Aufgrund ihrer internen Differenzen ist die etwas Positives mit sich gebracht: Alle Fraktionen im
Bundesregierung hier zwei Jahre lang untätig geblieben, Deutschen Bundestag haben begriffen, wie wichtig das
sodass eine unabhängige Evaluation leider immer noch Thema Netzpolitik künftig sein muss, und erklärt, dass
aussteht. Aus diesem Grund hat auch der Bundesrat in das Thema der politischen Gestaltung der digitalen Ge-
seiner Stellungnahme eine Änderung des Gesetzentwur- sellschaft auf die Agenda zu setzen ist. Aus diesem
fes gefordert und einen Evaluierungsbericht gefordert, Grund hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kom-
14992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) mission Internet und digitale Gesellschaft eingesetzt, die sperren und die Nutzer auf ein virtuelles Stoppschild (C)
im Mai 2010 ihre Arbeit aufgenommen hat. Die Koali- umzuleiten. Die technische Umsetzung sollte mithilfe
tion hat immer wieder angekündigt, dass sie ein netzpo- von DNS-Filtern erfolgen. Am 22. April 2009 hatte das
litisches Konzept zur Gestaltung der digitalen Gesell- damalige Kabinett dem Gesetzentwurf zugestimmt.
schaft vorlegen und auf den Weg bringen will. Wenn Diese vorgesehene technische Maßnahme war nicht nur
man nun so eine Art Zwischenbilanz ziehen will, dann leicht zu umgehen und für die eigentliche Bekämpfung
fällt die Bilanz dürftig aus. Bei denjenigen netzpoliti- von kinderpornografischen Inhalten völlig ungeeignet;
schen Projekten, die die Bundesregierung auf den Weg das Gesetz war auch in anderen Belangen fragwürdig.
gebracht hat, verweigert sie jede Diskussion, beispiels- So sollte ausschließlich durch das Bundeskriminalamt
weise bei dem Thema Netzneutralität und der Notwen- festgelegt werden, welche Seiten die Internetprovider
digkeit einer gesetzlichen Verankerung. Bei den Themen sperren mussten. Eine Mitwirkung durch Gerichte oder
Datenschutz im Internet bestreitet die Koalition zunächst andere unabhängige rechtliche Instanzen war in diesem
jeden Handlungsbedarf, um sich dann mit ein paar Entwurf nicht vorgesehen. Nicht nur, dass damit eine un-
Selbstverpflichtungserklärungen zufrieden zu geben und abhängige Überprüfung der Sperrlisten vom Gesetzge-
auf die europäische Ebene zu verweisen. Und um noch ber offensichtlich nicht erwünscht war, es sollten auch
ein drittes Beispiel zu nennen: Die Vorlage des dritten die Zugriffsversuche auf die gesperrten Seiten gespei-
Korbes zur Reform des Urheberrechtes für die digitale chert werden, um sie zu Strafverfolgungszwecken nut-
Gesellschaft ist nunmehr auch längst überfällig, und al- zen zu können.
les was zu vernehmen ist, lässt nicht auf den großen und
überzeigenden Wurf hoffen. Gleichzeitig und reflexartig Zu Recht wurden Bedenken geäußert, diese Vorge-
wiederholen aber die Sicherheitspolitiker der Unions- hensweise würde früher oder später dazu führen, die In-
fraktion – oftmals ohne jedes Argument – ihre immer ternetsperren zu einer Zensurinfrastruktur auszubauen,
weiter gehenden Überwachungsforderungen, fordern um jegliche missliebigen Inhalte sperren zu können.
eine Verlängerung der Vorratsdatenspeicherung, gleich- Diese Annahmen wurden leider von einer großen Mehr-
sam so, als hätte es die engen Vorgaben des Bundesver- heit der Mitglieder dieses Hauses ignoriert, sodass das
fassungsgerichtes nie gegeben. Oder sie fordern ein Ver- Zugangserschwerungsgesetz am 18. Juni 2009 beschlos-
mummungsverbot und das Ende der anonymen und sen worden ist. Aus den Reihen der Koalitionsfraktionen
pseudonymen Nutzung des Internets, wohl wissend, dass gab es drei Gegenstimmen, die Fraktionen FDP und Die
wir diese Nutzungsmöglichkeit aus guten Gründen sogar Linke stimmten gegen den Entwurf, 15 Abgeordnete von
gesetzlich abgesichert haben. Auf der anderen Seite aber Bündnis 90/Die Grünen enthielten sich, die übrigen Ab-
werden alle Vorschläge in Richtung Transparenz und geordneten der Grünen haben ebenfalls gegen den Ge-
Öffnung des Staates sowie alle Versuche, die neuen setzentwurf gestimmt.
(B) Kommunikationsmöglichkeiten für eine Stärkung der (D)
Angesichts der damaligen überwältigenden Mehrheit
politischen und parlamentarischen Prozesse zu nutzen, für das Gesetz bin ich heute sehr erleichtert über den
von eben diesen Hardlinern boykottiert. Umstand, dass wir heute die entscheidenden Weichen
Heute ist ein guter Tag für die Netzpolitik. Heute wird dafür stellen, diesen fehlerhaften Ansatz wieder zu korri-
eines der Missverständnisse zwischen jungen, engagier- gieren und das Zugangserschwerungsgesetz endgültig
ten Netzaktiven und einer Generation von Politikern, die aufzuheben.
meint, Regeln der Offlinewelt in die Onlinewelt zu über- Die Debatte um die Netzsperren hatte sich im Jahr
tragen, endlich aus der Welt geschafft. Die Verabschie- 2009 in eine Richtung entwickelt, die alle Befürchtun-
dung dieses Gesetzes zur Aufhebung des Internetsperr- gen bestätigt hatte. So wurde unter anderem gefordert,
gesetzes ist ein Sieg für all diejenigen, die sich für ein die Netzsperren auch als Instrumentarium zur „Gewalt-
freies Internet einsetzen und die wirksame Maßnahmen prävention“ zu nutzen und sogenannte „Killerspiele“ zu
in den Mittelpunkt stellen, statt auf Symbolpolitik zu set- sperren. Es wurde auch die Möglichkeit ins Gespräch
zen. Auch in allen Fraktionen gibt es Akteure, die sich gebracht, „verfassungsfeindliche“ Inhalte zu sperren.
für den heutigen Erfolg eingesetzt haben. Das Ende der Die Sperrung von ausländischen Onlinekasinos wurde
Netzsperren sollte nicht das Einzige bleiben, was wir bis mehrfach empfohlen, um das staatliche Glücksspielmo-
zum Ende der Legislatur netzpolitisch erreichen. nopol in Deutschland zu „schützen“. Vonseiten der Mu-
sikindustrie wurde die Forderung erhoben, Filesharing-
Sebastian Blumenthal (FDP): Mit dem heutigen Angebote zu sperren.
„Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrrege-
lungen bei der Bekämpfung von Kinderpornografie in Nicht nur zu Oppositionszeiten und während der
Kommunikationsnetzen“ ziehen wir einen Schlussstrich Wahlkämpfe, sondern auch als Träger von Regierungs-
unter ein in jeder Hinsicht problematisches Gesetzesvor- verantwortung haben wir als FDP uns diesen Überwa-
haben mit dem ausgesetzten Zugangserschwerungsge- chungs- und Verbotsbegehrlichkeiten entgegengestellt
setz und dem damit verbundenen Nichtanwendungser- und zum Grundsatz „Löschen statt Sperren“ bekannt. Im
lass. permanenten Dialog mit den anderen Fraktionen und
zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen haben wir uns
Wir erinnern uns: Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung dafür eingesetzt, dieses Ziel zu erreichen und das Zu-
der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen“ soll- gangserschwerungsgesetz aufzuheben. Über alle Politik-
ten die Internetprovider in Deutschland gezwungen wer- felder hinweg, in zahlreichen Ausschüssen, bei diversen
den, Webseiten mit kinderpornografischen Inhalten zu Anhörungen und Expertengesprächen haben wir in die-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14993
(A) sem Hause über Netzsperren sehr engagiert, aber den- getreten war, wurde eine Dienstanweisung erlassen, es in (C)
noch konstruktiv und vor allem in einem dem Ernst der der Praxis nicht anzuwenden. Auch da könnte man sa-
Sache angemessen Ton gestritten, gerungen und letzten gen: Besser als nichts. Aber es warf doch ein bezeich-
Endes eine Einigung erzielt, sodass wir heute einführend nendes Licht auf die Regierung, die sich von der damali-
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Auf- gen Familien- und jetzigen Arbeitsministerin, und weil
hebung der Netzsperren beraten können. gerade Wahlkampf war, zu einer juristisch nicht haltba-
ren, inhaltlich unsinnigen und praktisch nicht durchsetz-
In Vorbereitung auf den heutigen Tag haben wir de- baren Regelung drängen ließ.
battiert, informiert und aufgeklärt. Ich freue mich sehr,
dass diese Arbeit Früchte getragen hat und dazu beitra- Nun könnten wir froh sein, dass mit dem heute zu dis-
gen konnte, die Entwicklung umzukehren, sodass wir in kutierenden Entwurf eines „Gesetzes zur Aufhebung von
diesem Hause heute nicht mehr über die vermeintlichen Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Internetporno-
Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Netzsperren grafie in Kommunikationsnetzen“ eine Korrektur des
debattieren, sondern stattdessen über ihre Unverhältnis- peinlichen Versuchs vorgenommen wird. Aber das haben
mäßigkeit, ihre technische Untauglichkeit, ihre Nicht- wir eben auch dem Glücksumstand zu verdanken, dass
umsetzung und – nach über zwei Jahren – über ihre Auf- es sich hier um gesetzlich verankerte Regelungen han-
hebung. delt, die sich einfach als nicht praxistauglich erwiesen
haben und verheerende Kollateralschäden anrichten
Ausdrücklich begrüße ich daher für die Fraktion der würden.
Freien Demokraten, dass mit der Prozedur nach „notice
and take down“ ein besseres und treffsicheres Instrument Die Intention aber, die dahinter steckte – der Wille,
als Alternative geschaffen wurde, um den dokumentier- den Kulturraum Internet durch Zensur kontrollieren zu
ten Missbrauch von Opfern aus dem Netz entfernen zu wollen –, ist damit nicht verschwunden. Nur weil der
können und nicht hinter virtuellen Stoppschildern zu Koalition der Wind – auch aus den eigenen Reihen –
verstecken. scharf ins Gesicht blies, reden wir heute über dessen
Aufhebung. Das sollten wir nicht vergessen. Und das
Insofern freue ich mich sehr auf die weiteren Beratun- liegt eben nicht nur an der offensichtlich weit verbreite-
gen zu diesem Gesetzentwurf und danke der Bundesjus- ten Unsicherheit im Umgang mit dem Kulturraum Inter-
tizministerin für ihren persönlichen couragierten Einsatz net. Er offeriert uns eine Form der Informationsverbrei-
auf dem Weg zum Aufhebungsgesetz. Die FDP-Fraktion tung, Transparenz und Freiheit, mit der offensichtlich
wird diesem selbstverständlich zustimmen. viele Politikerinnen und Politiker große Schwierigkeiten
haben.
(B) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Zahlreich sind die Die Anfang 2010 rechtlich verordneten Internetsper- (D)
Beispiele nicht gesät, dass die Bundesregierung ein Ge- ren waren und sind eine Bedrohung. Selbst wenn sie
setz aufhebt – auch dann nicht, wenn das Gesetz von Be- funktioniert hätten, wären wir einen Schritt in die völlig
ginn an falsch, überflüssig und ein Armutszeugnis für falsche Richtung gegangen und wir hätten der Demokra-
die Demokratie war. Sicher gilt der tröstliche Satz: Lie- tie erheblichen Schaden zugefügt.
ber spät als nie. Aber das sollte uns nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass der Erlass des Zugangserschwerungs- Die einzig wirklich positive Erfahrung, die wir aus
gesetzes eine Zäsur darstellte. meiner Sicht am heutigen Tag verbuchen können: Es ist
in diesem Land offensichtlich nicht einfach, an der Öf-
Die Große Koalition hat mit diesem Gesetz 2009 den fentlichkeit vorbei die Freiheit des Internets einschrän-
Versuch unternommen, die Zensur im Internet einzufüh- ken zu wollen. 134 000 Menschen zeichneten die On-
ren, bei einem Thema, dass niemanden kalt lässt und alle line-Petition gegen das Zugangserschwerungsgesetz.
berührt, bei dem jede und jeder eine Lösung herbei- Diese große außerparlamentarische Aktion ist ermuti-
sehnte, mit der jeglicher Darstellung sexueller Gewalt gend. Sie zeigt, dass es auch künftig nicht einfach sein
gegen Kinder im Internet Einhalt geboten werden kann. wird, derartige Debatten an der Öffentlichkeit vorbei zu
Deshalb hatte die Regierung ein relativ leichtes Spiel. führen. Sie zeigt, welche Potenziale das Internet hat,
Jene Stimmen der Vernunft, die sagten, dass Sperrlisten wenn es um Mitbestimmung und demokratische Diskus-
kontraproduktiv und der falsche Weg sind, wurden nicht sionsprozesse geht. Und sie wird uns nützen, wenn – wie
gehört, obwohl alle Erfahrungen beweisen: Diese Listen längst begonnen – über Eingriffe in die Netzneutralität
bleiben niemals geheim und verkehren das ursprüngliche nachgedacht wird. Sie wird uns nützen, wenn die Koali-
Anliegen genau ins Gegenteil. Sie werden nämlich zu tion in diesem Bereich weiterhin so unkritisch wie bisher
Wegweisern im Internet. Auf all diese Argumente wurde mit der Lobby der Netzbetreiber und Telekommunikati-
nicht gehört. Auch die SPD stand zu Beginn für das ver- onskonzerne umgeht. Die wollen lieber heute als morgen
meintlich kleinere Übel: für Netzsperren. die Nutzung verschiedener Dienste, wie Internettelefo-
nie oder Videoplattformen, vom Geldbeutel der Nutze-
Das Gesetz öffnete Türen und Tore für Willkür, und rinnen und Nutzer abhängig und mit eigenen Inhalten
es bot zugleich die Möglichkeit, einmal auszutesten, ob Kasse machen.
sich über ein sensibles und hochemotionales Thema eine
Zensurinfrastruktur festzurren lässt, auf der man künftig Sie wird uns nützen bei der Debatte um Vorratsdaten-
aufbauen kann. Darüber konnte auch der geradezu ab- speicherung, die voll im Gang ist. Die Linke lehnt die
surde Fortgang der Geschichte nicht hinwegtrösten. Be- Vorratsspeicherung ab – egal unter welchem Namen und
reits kurz nachdem das Gesetz im Februar 2010 in Kraft unter welchem Vorwand sie durchgesetzt werden soll.
14994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) Und weil wir in all diesen Fragen konsequent sind, Diskussion wieder aufzunehmen und plötzlich auch wie- (C)
waren wir auch die erste Fraktion, die 2010 einen Vor- der in Deutschland über die Sinnhaftigkeit von Netzsper-
schlag zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgeset- ren zu diskutieren. Dies führte letztendlich dazu, dass
zes unterbreitete. Bei anderen Dingen dauert es etwas sich auch das Hohe Haus, nachdem eigentlich bereits
länger, aber in diesem Fall hat uns die Geschichte er- alle Argumente zu Beginn der Legislatur ausgetauscht
staunlich schnell Recht gegeben. waren, noch einmal intensiv mit dieser Thematik be-
schäftigte.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
So führten neben dem Petitionsausschuss, in dem eine
NEN): Nun ist es also endlich soweit: Nach einer über
Anhörung durch die Petition von Franziksa Heine ange-
zweijährigen Diskussion debattieren wir hier heute in
stoßen wurde, welche mit über 133 000 Mitunterzeich-
erster Lesung über ein längst fälliges „Gesetz zur Aufhe-
nerinnen und -unterzeichnern die bislang zweiterfolg-
bung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kin-
derpornographie in Kommunikationsnetzen“. reichste in der Geschichte des Bundestages war, auch der
Unterausschuss Neue Medien und der Rechtsauschuss
Ursula von der Leyens kontraproduktive Initiative zur des Bundestages entsprechende Anhörungen durch.
Schaffung von Stoppschildern bzw. Internetsperren aus
den letzten Tagen der Großen Koalition kommt so zu ei- Während im Unterausschuss von beinahe allen Sach-
nem längst überfälligen Ende. Meine Fraktion und ich verständigen unisono betont wurde, dass Netzsperren
begrüßen den Schritt der Bundesregierung, sich endlich nicht nur wenig zielführend sind, sondern letztendlich
von dem Placebo-Instrument Netzsperren zu verabschie- sogar dazu führen, dass der dringend notwendige inter-
den, ausdrücklich – auch wenn ich mir gewünscht hätte, nationale Austausch zwischen den Strafverfolgungsbe-
dass dieser Schritt sehr viel früher erfolgt wäre und wir hörden eingestellt wird, wurde im Rechtsausschuss,
keine wertvolle Zeit im Kampf gegen derartige Darstel- selbst von den Sachverständigen von CDU und FDP,
lungen im Netz vertan hätten. Denn das haben wir leider. massiv das Vorgehen der Koalition bei der Aussetzung
des Gesetzes par ordre du mufti kritisiert.
Am Ende der vergangenen Legislatur von der
schwarz-roten Koalition auf den Weg gebracht, war allen Als Grüne haben wir uns in einem weiteren Antrag
schnell bewusst, dass der von der damaligen Ministerin und in einer Art.-23-Stellungnahme klar gegen das An-
von der Leyen eingeschlagene Weg, entsprechende In- sinnen der Europäischen Kommission ausgesprochen.
halte im Netz nicht konsequent zu löschen, sondern Nachdem selbst unter Federführung einer konservativen
diese lediglich hinter einem leicht zu umgehenden Berichterstatterin im Europäischen Parlament keine
Stoppschild zu verstecken, nicht nur nicht zielführend, Mehrheit für eine die Mitgliedstaaten verpflichtende Re-
(B) sondern letztendlich für eine wirkliche effektive Be- gelung erzielt werden konnte, wurde der entsprechende (D)
kämpfung dieser Straftaten kontraproduktiv ist. So ha- Passus aus der Richtlinie entfernt und – auch durch den
ben wir es als Grüne begrüßt, dass die schwarz-gelbe Einsatz engagierter Abgeordneter des Europäischen Par-
Koalition sich am Anfang der Legislatur dazu durchge- laments wie meines Kollegen Jan Phillip Albrecht – die
rungen hat, zunächst keine entsprechenden Sperren vor- bestehenden Regelungen sogar im Vergleich zum bishe-
zunehmen. rigen Status quo aus bürgerrechtlicher Sicht noch ver-
Was wir jedoch scharf kritisiert haben, war der Weg, bessert.
den die Koalition hierfür wählte. Ein vom Deutschen
Durch das Wegfallen der verpflichtenden Regelung
Bundestag ordnungsgemäß verabschiedetes, vom Bun-
zu Netzsperren in der Kommissions-Richtlinie fiel es
despräsidenten unterschriebenes und im Bundesgesetz-
auch den Netzsperren-Befürwortern, die trotz der in den
blatt veröffentlichtes Gesetz per Moratorium einfach
verschiedenen Anhörungen von allen Seiten immer wie-
nicht anzuwenden, es quasi par ordre du mufti für ein
der geäußerten vielfältigen Bedenken nach wie vor un-
Jahr auszusetzen, ist ein Vorgang, der aus verfassungs-
rechtlicher Sicht unhaltbar war und eine schwarze beirrt an dem nutzlosen Instrument festhielten, zuse-
Stunde für das Hohe Haus darstellte. Auch aus diesem hends schwerer, dies zu begründen.
Grund haben wir, wie alle anderen Oppositionsfraktio- Schließlich sah sich das BKA längere Zeit auch ange-
nen auch, unmittelbar nach Beginn der Legislatur einen sichts völlig schwammiger Vorgaben der Koalition kaum
Gesetzentwurf vorgelegt, in dem wir die Bundesregie- in der Lage, die Statistiken zur Evaluierung der Lösch-
rung aufforderten, das Gesetz, das sich als in hohem erfolge zu führen. Dies könnte auch mit den gerade ein-
Maße kontraproduktiv erwiesen hat, auf verfassungs- mal 6,3 Vollzeitstellen zusammenhängen, die im BKA
rechtlich sauberem Wege zu begraben. mit der Aufgabe direkt betreut wurden. Allerdings ver-
Nachdem sich die Vertreterinnen und Vertreter aller wundert die Tatsache, dass es dem Bundesinnenministe-
Fraktionen in diesem Haus bereits einig waren, dass man rium, in dessen Zuständigkeit das BKA liegt, trotz wie-
sich statt Netzsperren nun tatsächlich effektiven Instru- derholter Aufforderung bis heute nicht gelingt, den
menten zuwenden wollte, haben die Vertreter der Union, Mitgliedern der betreffenden Ausschüsse die Evaluie-
statt sich auf europäischer Ebene konsequent gegen ei- rungsstatistiken regelmäßig zur Verfügung zu stellen.
nen entsprechenden Passus auszusprechen, den Entwurf Auch gelang es uns Abgeordneten erst nach mehrfacher
einer Richtlinie der Europäischen Kommission dazu ge- Aufforderung, das zwischenzeitlich zwischen dem BKA
nutzt, die eigentlich längst zugunsten einer tatsächlichen und den Beschwerdestellen ausgehandelte Harmonisie-
Bekämpfung derartiger Darstellungen im Netz beendete rungspapier zur Bewertung vorgelegt zu bekommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14995
(A) Trotz dieser widrigen Umstände steht heute fest, dass auch im internationalen Kontext effektiver gestaltet und (C)
sich die nach den Anhörungen durchgeführten Verbesse- die Strafverfolgung verbessert werden kann.
rungen der Zusammenarbeit aller Akteure – auch auf in-
ternationaler Ebene – ausgezahlt hat. Dies bestätigten Zu einer solchen Strategie gehören der Auf- und Aus-
auch gerade wieder die vom eco vorgelegten Zahlen. bau sowie die solide Finanzierung von Beratungs- und
Unterstützungsangeboten für Betroffene und ihre Fami-
Die Diskussion um Netzsperren war viel zu lange lien. Ich bitte Sie, schauen Sie in unser Papier und
eine über ein Placebo-Instrument, das den Herausforde- schreiben Sie notfalls einfach ab! Nutzen Sie den unter
rungen des Themas schlicht nicht ansatzweise gerecht Rot-Grün auf den Weg gebrachten „Aktionsplan zum
wurde. Umso froher bin ich, dass wir hier heute endlich Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ge-
über die tatsächliche Aussetzung der sinnlosen Netzsper- walt und Ausbeutung“ als Vorlage und legen Sie diesen
ren diskutieren können. Ich bin froh darüber, da wir nun, schnellstmöglich wieder auf. Auch hierzu fordern wir sie
nachdem endlich auch der Letzte begriffen haben dürfte, seit langem auf.
dass es jetzt ein für alle Mal an der Zeit ist, sich endlich Zum Löschen von Missbrauchsdarstellungen muss die
effektiven Instrumenten und Strategien zuzuwenden, uns Zusammenarbeit zwischen Internet-Beschwerdestellen
nunmehr dem tatsächlichen Kampf gegen den sexuellen und Bundeskriminalamt weiter verbessert werden. Auch
Missbrauch von Kindern zuwenden können. Hierzu for- müssen die personellen und technischen Ressourcen bei
dern wir Grünen die Koalition seit Anfang der Legislatur den Strafverfolgungsbehörden aufgestockt werden.
auf. Letztendlich bedarf es einer völkerrechtlichen Vereinba-
Und ich muss es leider so hart sagen: Bisher haben rung zum Löschen von Missbrauchsbildern und -filmen.
sich ihre Aktivitäten darin erschöpft, sich einseitig auf Die entsprechende Konvention muss in einem ersten
das Netz zu konzentrieren und sich über das Placebo-In- Schritt auf europäischer Ebene geschlossen und danach
strument Netzsperren auszutauschen, den wichtigen auch international – zum Beispiel durch bilaterale Ver-
Kampf gegen den sexuellen Missbrauch, der zwar im träge – ausgeweitet werden.
Netz dokumentiert, jedoch in der realen Welt tagtäglich Ich gebe nach wie vor die Hoffnung nicht auf, dass
geschieht, jedoch nicht richtig aufgenommen zu haben. Sie nun endlich erkennen, dass es nicht hilft, sich weiter
So fehlt ihnen heute, auch aufgrund der Tatsache, dass in hinter Placebo-Instrumenten und Scheindebatten zu ver-
den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit vergeudet wurde, stecken. Es ist zwar spät, aber nicht zu spät! Da dieses
ein Kompass, wie sie sich dieser gesellschaftlichen He- Thema so wichtig ist, möchten wir Ihnen nochmal die
rausforderung, dem Missbrauch von Kindern und Ju- konstruktive Mitarbeit unserer Fraktion versichern. Ich
gendlichen, der jeden Tag an Schulen, in Kirchen, Sport- bin mir sehr sicher, dass wir dies auch für die gesamte
(B) vereinen und Familien stattfindet, entgegenstellen Opposition tun können, sofern Sie endlich den Willen (D)
wollen. zeigen, tatsächlich tätig zu werden.
Trotz oder gerade wegen der zweijährigen Diskussio-
nen über nutzlose Netzsperren haben sie hier bisher Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
nichts, aber auch rein gar nichts geliefert. So haben sie desministerin der Justiz:
bis heute keine mehrdimensional angelegte Strategie zur Sexueller Kindesmissbrauch ist ein schweres Verbre-
Bekämpfung sexuellen Missbrauchs und sexualisierter chen. Die Verbreitung bildlicher Darstellungen solcher
Gewalt erarbeitet, wie wir es am Anfang der Legislatur Taten über das Internet ist nicht nur ebenfalls strafbar,
zum ersten Mal und seitdem kontinuierlich von Ihnen für die Betroffenen bedeutet sie zudem die kaum erträg-
gefordert haben. liche Perpetuierung ihres Leides. Deshalb – und darüber
sind wir uns in diesem Hause über die Fraktionsgrenzen
Daher nutze ich auch diese Debatte noch einmal dazu, einig – müssen wir alles daransetzen, diese widerwärti-
Ihnen das zu sagen, was wir Ihnen bei jeder Gelegenheit gen Bilder und Filme aus dem Netz zu bekommen. Wäh-
in den letzten Monaten bereits gesagt haben: Wenden sie rend die Mehrheit dieses Hohen Hauses in der letzten
sich endlich einer mehrdimensional angelegten Strategie Legislaturperiode meinte, Internetsperren seien hierfür
zu, die sowohl den gesellschaftlichen Herausforderun- der richtige Weg, sind wir der Auffassung, dass solche
gen als auch den Besonderheiten des Netzes gerecht Bilder und Filme im Interesse eines bestmöglichen Op-
wird! Dies ist zweifellos eine größere Herausforderung, ferschutzes an der Quelle gelöscht werden müssen. Sper-
als die zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgeset- ren, wie sie das geltende Zugangserschwerungsgesetz
zes seit nunmehr zwei Jahren vorliegenden Gesetzesent- vorsieht, sind faktisch wirkungslos, weil sie einfach und
würfe der Oppositionsfraktionen einfach zu kopieren. problemlos umgangen werden können. Wir setzen des-
Sie können jedoch auf wichtige Vorarbeiten zurückgrei- halb auf das Löschen solcher Inhalte durch intensive Zu-
fen. sammenarbeit des Bundeskriminalamtes mit zivilen Ein-
richtungen wie den Selbstregulierungsorganisationen der
Als Oppositionsfraktion haben wir Grünen bereits vor Internetwirtschaft, die weltweit vernetzt sind.
Monaten ein sehr ausführliches Eckpunktepapier zur Be-
kämpfung der Verbreitung von Darstellungen sexueller Wie erfolgreich eine solche Kooperation ist, belegt
Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen die Statistik des internationalen Beschwerdestellen-
vorgelegt. In unserem Papier haben wir Ihnen sehr kon- Netzwerks INHOPE eindrucksvoll. Der INHOPE-Jah-
krete Vorschläge unterbreitet, wie Prävention und Opfer- resbericht 2010 legt dar, dass etwa 80 Prozent der gemel-
schutz gestärkt sowie das Löschen von Internetseiten deten Seiten innerhalb von sieben Tagen gelöscht wer-
14996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) den, wobei knapp 50 Prozent der Seiten bereits nach grenze für Istbesteuerung auf 500 000 Euro festzulegen. (C)
zwei Tagen gelöscht sind. Nach 14 Tagen verbleiben Durch diese unbefristete Regelung schaffen wir Rechts-
noch zwischen 5 und 10 Prozent der Seiten. Die Statistik sicherheit für Unternehmen und die Finanzverwaltun-
des BKA weist vergleichbare Werte auf. Das zeigt, dass gen. Dies stärkt die kleinen und mittelständischen Unter-
Löschen erfolgreich ist. Das Zugangserschwerungsge- nehmen in Deutschland, die Träger unserer Volkswirt-
setz ist deshalb überflüssig und sollte – wie es der Ge- schaft sind. Wir tragen damit einmal zu Bürokratieabbau
setzentwurf vorsieht – aufgehoben werden. in Deutschland bei.
Die Belastungen für die Haushalte der Länder und des
Anlage 91 Bundes schlagen im Jahr 2012 kassenmäßig mit ge-
schätzten Mindereinnahmen in Höhe von circa 1,1 Mil-
Zu Protokoll gegebene Reden liarden Euro zu Buche, da sich dieser Verlust der Um-
satzsteuer nur in die Folgejahre verlagert. Dabei ist noch
zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- zu beachten, dass praktisch für die Unternehmen und die
zes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes Finanzverwaltungen keine Unterschiede beim Jahres-
(Tagesordnungspunkt 15) wechsel spürbar sein werden, da sich die Rechtslage
grundsätzlich nicht ändert, sondern nur von einem be-
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Dem Deutschen Bun- fristeten in einen unbefristeten Zustand gebracht wird.
destag liegt heute in erster Lesung der Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergeset- Ich nehme an, dass wir diesen Gesetzentwurf im
zes vor. Der Inhalt dieses Gesetzesvorhabens ist dabei Sinne der deutsche Wirtschaft zügig in den kommenden
kurz und knapp: Die Umsatzgrenze für die Anwendung Wochen im Ausschuss beraten werden, damit einem
der Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer wird auf Inkrafttreten zum 31. Dezember 2011 nichts im Wege
500 000 Euro dauerhaft festgeschrieben. steht.
(A) Aber, meine Damen und Herren von der Regierungs- muss erst erfolgen, wenn und soweit der Kunde gezahlt (C)
koalition, Sie hätten doch gar nicht so hektisch handeln hat.
müssen. Sie hätten ihre Absicht auch ruhig und überlegt
umsetzen können. Zum Beispiel hätten Sie diese Rege- Eine erneute nur befristete Verlängerung würde wie-
lung als Änderungsantrag zur Umsetzung der Beitrei- der neue Unsicherheit über die Geltungsdauer der Rege-
bungsrichtlinie bringen können. Auf diese Idee hätte lung schaffen. Die Umsatzgrenze von 500 000 Euro soll
man kommen können. Oder lag dies so fern? Nein. Denn daher auf Dauer beibehalten werden. Die Unternehmen
auf diese Idee ist auch jemand gekommen, nämlich die erhalten dadurch mehr Planungssicherheit und eine Ver-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. besserung der Liquidität, da auf die Zwischenfinanzie-
rung der Umsatzsteuer für kleinere und mittelständische
Begründet es vielleicht Ihre Hektik, dass Sie den Er- Unternehmen eine erhebliche Belastung entfällt. Deswe-
folg den Grünen nicht gönnen, weil Sie ihn selber brau- gen plädiert die FDP für eine dauerhafte Einführung der
chen? Da waren Sie schlecht beraten. Denn wer hektisch Istbesteuerung. Nur so kann den kleineren und mittel-
handelt, der handelt auch nicht überlegt genug. ständischen Unternehmen, die kaum über eine so hohe
erforderliche Kapitalausstattung verfügen, um ohne Pro-
Ja, die Istbesteuerung bejaht auch meine Fraktion bei bleme in Vorleistung gehen zu können, eine dauerhafte
Unternehmen mit einem Jahresumsatz von unter 500 000 Entlastung geboten werden. Wir sehen keinen Sinn darin,
Euro. Und wir würden auch noch einen Schritt weiterge- dass der deutsche Klein-/Mittelunternehmer als unfreiwil-
hen und uns zumindest auch mal über die Möglichkeit liger Kreditgeber des Staates fungiert. Dies entspricht
einer Ausdehnung des Prinzips der Istbesteuerung auf nicht unserem Bild einer sozialen Marktwirtschaft.
den Vorsteuerabzug unterhalten. Denn wie der Bundesrat
richtigerweise in seiner Stellungnahme vom 17. Juni Auch würde der Fiskus bei einer Verlängerung der
2011 zum Gesetzentwurf zur Umsetzung der Beitrei- Istbesteuerung nichts einbüßen, weil es sich dabei nicht
bungsrichtlinie gefordert hat, sollte auch die Frage ge- um Steuergeschenke, sondern um eine Steuerstundung
klärt werden, ob es nicht sinnvoll oder sogar notwendig handelt. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die
ist, demjenigen, der die Umsatzsteuer erst abführt, wenn EU-Kommission den Mitgliedstaaten unlängst vorge-
er das Geld erhält, auch die Vorsteuer erst zu gewähren, schlagen hatte, die Sollbesteuerung für kleine und mitt-
wenn er tatsächlich gezahlt hat. Der Bundesrat hatte da- lere Unternehmen durch eine ausschließliche Istbesteue-
her gefordert, dass zunächst die Befristung auf 2012 ge- rung zu ersetzen. Die Istbesteuerung sorgt für erheblich
schoben wird, um diese Frage zu prüfen. mehr Planungssicherheit, erhöht den Liquiditätsspiel-
raum spürbar, senkt die Finanzierungskosten und bringt
Dafür waren Sie zu hektisch. Warum wohl? Vielleicht Zinsvorteile mit sich, da die Umsatzsteuer nicht vorfi-
(B) weiß Friedrich Nietzsche die Antwort: „Allgemein ist nanziert werden muss. Die Auswirkungen für die Haus- (D)
die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist.“ halte von Bund, Ländern und Gemeinden betreffen nur
das Jahr 2012, da es sich lediglich um eine Verlagerung
der Besteuerung handelt und es dementsprechend keine
Dr. Daniel Volk (FDP): Das Dritte Gesetz zur Ände- dauernden Ausfälle gibt.
rung des Umsatzsteuergesetzes wird die deutsche Wirt-
schaft und dabei vor allem die kleineren Unternehmen Sowohl die Vertreter des Deutschen Handwerks wie
erheblich entlasten und dafür sorgen, dass diese ihre Li- auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag se-
quiditätssituation verbessern können. hen dieses Gesetz positiv für die Stärkung der kleinen
und mittleren Betriebe. Die schwarz-gelbe Regierungs-
Die bisher gültige Regelung, nach der für die Berech- koalition nimmt damit eine wichtige Weichenstellung
nung der bis zu einem Umsatz von 500 000 Euro abzu- für den Mittelstand vor. Wir appellieren an den Bundes-
führenden Umsatzsteuer nur die tatsächlich vereinnahm- rat, dem Gesetz jetzt zeitnah zuzustimmen, damit die Be-
ten Entgelte angesetzt wurden, war bis zum triebe langfristige Planungssicherheit erhalten.
31. Dezember 2011 befristet. Ein Auslaufen dieser Re-
gelung würde den betroffenen Unternehmen wichtige
Liquidität entziehen. Die Umsatzsteuer entsteht grund- Richard Pitterle (DIE LINKE): Mit dem vorliegen-
sätzlich mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in den Gesetzentwurf wird eine lange bestehende Forde-
dem die Leistung ausgeführt wurde, Stichwort Sollver- rung der Linken umgesetzt. Dass die Unternehmen, de-
steuerung. Auf die Bezahlung der Leistung durch den ren Gesamtumsatz im vorangegangenen Kalenderjahr
Leistungsbezieher kommt es dabei grundsätzlich nicht nicht mehr als 500 000 Euro betrug, die Möglichkeit der
an. Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer unbefristet beibe-
halten sollen, können wir nur unterstützen. Das bedeutet,
§ 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Umsatzsteuergesetz bietet dass die betreffenden Unternehmen erst dann die Um-
den Unternehmern, deren Gesamtumsatz im vorange- satzsteuer an den Fiskus abführen müssen, wenn ihre
gangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500 000 Euro be- Rechnung bezahlt worden ist, und nicht schon mit Rech-
tragen hat, die Möglichkeit, die Umsatzsteuer nach ver- nungsstellung. Gerade in Krisenzeiten, in denen die Zah-
einnahmten Entgelten zu berechnen, Stichwort lungen auch schon ausbleiben oder verspätet erfolgen,
Istbesteuerung. Dabei entsteht die Steuer mit Ablauf des hat die Regelung die Stärkung der Liquidität für die be-
Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt für die treffenden Unternehmen zur Folge, und das begrüßen
Leistung durch den Unternehmer vereinnahmt worden wir ausdrücklich. Wir hätten nichts dagegen, wenn Sie
ist, das heißt die Abführung der Steuer an das Finanzamt auch andere steuerpolitische Vorschläge der Linken um-
14998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011
(A) setzen würden. Wir werden nicht auf dem Copyright be- bringen. Die schlechte Nachricht aber ist, dass Schwarz- (C)
stehen. Gelb es schafft, selbst gute Gesetze schlecht umzuset-
zen.
Nachdem Sie mit dem vorliegenden Gesetz schon an
der Umsatzsteuer dran sind, muss ich aber auch fragen, Das Gesetz zur Entfristung der 500 000-Euro-Grenze
was denn aus Ihren großen Ankündigungen geworden für die Istbesteuerung kommt viel zu spät. Seit Anfang
ist. Wenn ich Sie an Ihren Koalitionsvertrag erinnern des Jahres haben wir vergeblich darauf hingewiesen,
darf: Dort heißt es, dass es bei den ermäßigten Mehr- dass kleine und mittlere Unternehmen Planungssicher-
wertsteuersätzen – ich zitiere – „Handlungsbedarf“ gebe heit für die Zukunft brauchen. Mit Verweis auf ihre Um-
und dass sie auf den – Zitat – „Prüfstand“ müssten. Dort satzsteuerkommission hat die Bundesregierung das Vor-
heißt es ebenfalls, dass eine Kommission eingesetzt wer- haben immer weiter nach hinten geschoben. Heute
den soll, die sich – Zitat – „mit der Systemumstellung musste sie eingestehen, dass ihre letztes Jahr eingesetzte
bei der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßigten Kommission bis jetzt nicht ein einziges Mal getagt hat.
Mehrwertsteuer befasst“ – Zitat Ende.
Trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung sieht
Wo stehen wir aber heute? Statt einer Reform der er- sich die Koalition zudem nicht in der Lage, die absolut
mäßigten Mehrwertsteuer hat die FDP in der Koalition nicht gerechtfertigten verminderten Mehrwertsteuersätze
die Privilegierung von Hoteliers durchgesetzt. Statt sys- wie zum Beispiel für Schnittblumen oder Tierfutter end-
tematischer Reform bekamen wir Klientelpolitik. Selbst lich zu korrigieren. Auf der anderen Seite droht
die Reformkommission scheinen Sie nicht auf die Reihe Schwarz-Gelb da zu spät zu kommen, wo nach eigener
zu bekommen. Für den 23. Februar diesen Jahres hatten Aussage gar kein Steuerverlust droht, aber kleinen Un-
Sie angekündigt, dass sich die Kommission zur Reform ternehmen eine erhebliche Erleichterung gegeben wer-
der Mehrwertsteuer konstituieren werde. Kurz darauf den kann, wie es bei der Istbesteuerung der Fall ist.
wurde dieser Termin abgesagt und auf unbestimmte Zeit
verschoben. Jetzt haben wir September – volle sieben Nach Willen der Bundesregierung soll die Änderung
Monate, und es gibt noch immer keinen neuen Termin. des Umsatzrechts als Einzelgesetz verabschiedet wer-
Dabei hatten Sie ja sogar schon die Kommissionsmit- den. Auf den allerletzten Drücker hat sie heute einen ei-
glieder genannt: Finanzminister Schäuble, Wirtschafts- genen Gesetzentwurf ins Plenum eingebracht. Nach bis-
minister Rösler, der Chef des Bundeskanzleramtes herigen Planungen kann der Bundesrat erst im
Pofalla sowie weitere CDU- und FDP-Mitglieder. Sie Dezember, womöglich in seiner letzten Sitzung im Jahr,
haben wohl Angst, dass, wenn Sie die Kommission ein- über den Entwurf entscheiden. Das ist eine Frechheit ge-
berufen, bei dem kontroversen Thema der ermäßigten genüber den vielen betroffenen Unternehmen und äu-
ßerst schädlich für die deutsche Wirtschaft, die von vie-
(B) Mehrwertsteuersätze Ihre Koalition vollends auseinan- len kleinen und mittleren Unternehmen und (D)
derbricht.
Handwerksbetrieben getragen wird.
Aber Ihre internen Querelen sind keine Rechtferti-
gung für Ihre Untätigkeit. Bei dem Katalog der Pro- So kann es dazu kommen, dass kleine Unternehmen,
dukte, die dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterlie- die im Dezember einen Auftrag bekommen, nicht wis-
gen, müssen Sie handeln, schon alleine wegen des sen, ob sie die Umsatzsteuer vorfinanzieren müssen oder
Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai die- nicht. Im schlimmsten Fall müssen sie Aufträge ableh-
sen Jahres. Da hat er entschieden, dass es nicht rechtens nen, weil sie keine ausreichende Kreditlinie besitzen und
ist, Pferde mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz zu davon ausgehen müssen, dass sie nach der Sollbesteue-
begünstigen. Die Begünstigung sei nur für Tiere erlaubt, rung veranlagt werden. Schwarz-Gelb verunsichert die
die üblicherweise als Nahrungs- und Futtermittel ver- Wirtschaft durch sein zögerliches Handeln nicht nur, es
wendet werden. Finanzminister Schäuble scheint die gefährdet Arbeitsplätze und Existenzen. Das ist skanda-
Umsatzsteuerreform abgeschrieben zu haben. lös.
In seiner Rede vom Mai vor dem Deutschen Steuerbe- Dies kann unsere Fraktion so nicht hinnehmen. Um
raterkongress meinte er, dass er eine umfassende Mehr- den Gesetzgebungsprozess zu beschleunigen, haben wir
wertsteuerreform für ein unproduktives Unterfangen schon Anfang September einen Änderungsantrag zum
halte, bei dem viele Diskussionen ausgelöst würden, Beitreibungsrichtlinien-Umsetzungsgesetz gestellt. Da-
ohne dass am Ende etwas Substanzielles herauskomme. durch kann die Gesetzgebung so schnell umgesetzt wer-
Diese Meinung mag die Situation in der Regierungsko- den, dass sich der Schaden für die betroffenen Unterneh-
alition richtig wiedergeben. Aber nach dem Urteil des men in Grenzen hält. Es liegt an der Koalition, auf
Europäischen Gerichtshofs kann es nicht sein, dass die taktische Spielchen zu verzichten und zum Wohl der ein-
Bundesregierung weiterhin untätig bleibt. Nur eines heimischen Wirtschaft unserem Anliegen hier zuzustim-
wollen wir nicht: dass eine solche Reform zulasten der men.
niedrig verdienenden Verbraucherinnen und Verbraucher Leider beweist die Bundesregierung auch, dass das
geht, dann wäre es besser Sie bleiben weiterhin untätig. Umsatzsteuerrecht in dieser Legislatur lediglich zur Be-
friedigung von Lobbyinteressen oder zu taktischen
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Machtspielchen missbraucht wird. Eine grundlegende
NEN): Die Koalition versucht sich mal wieder an der Reform der ermäßigten Sätze mit dem Ziel eines einfa-
Umsatzsteuer. Die gute Nachricht dabei ist, dass Union chen und gerechten Umsatzsteuergesetzes wird es bis
und FDP endlich eine sinnvolle Änderung auf den Weg zum Ende dieser Koalition nicht geben. Dabei ist es hier
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14999
(A) besonders nötig, für Wettbewerbsgleichheit zwischen mung über den Antrag: Den Staat Palästina an- (C)
den einzelnen Wirtschaftszweigen zu sorgen und Bran- erkennen (Tagesordnungspunkt 11)
chenermäßigungen schnell abzuschaffen. Lediglich die
Ermäßigungen im Bereich der Daseinsvorsorge haben
eine positive Wirkung für alle und sind deswegen zu Ich befürworte eine Zwei-Staaten-Lösung als eine
rechtfertigen. An diesen Änderungen hat die Bundesre- Chance für Israel und Palästina. Ich hätte mir gewünscht,
gierung aber leider kein Interesse. dass die israelische Regierung den geplanten Vorstoß
von Präsident Abbas und Ministerpräsident Fayyad mit
Es ist umso bedauerlicher, dass Verbesserungen, von einem Aufnahmeantrag Palästinas in die UN-Vollver-
denen alle Branchen und hier vor allem Handwerksbe- sammlung zu gehen, unterstützt; denn ein künftiger Staat
triebe und kleine Unternehmen profitieren, wie die Bei- Palästina würde dann ebenso wie ein Staat Israel allen
behaltung der Grenze für die Istbesteuerung, nur schlep- völkerrechtlichen Verpflichtungen unterliegen.
pend vorankommen. Die Bundesregierung hat keinen
wirtschaftspolitischen Kompass. Sie wechselt zwar den Es ist aber darauf hinzuweisen, dass Präsident Abbas
Wirtschaftsminister, hat aber offensichtlich den Bock und Ministerpräsident Fayyad nur für das Westjordan-
zum Gärtner gemacht. Ein erfahrener Wirtschaftsmann land und nicht für den von der Hamas regierten Gaza-
hätte ein so dilettantisches Vorgehen nicht durchgehen streifen sprechen. Ein Staat Palästina wäre demnach ein
lassen. Wir Grüne werden uns weiter für ein gerechtes geteiltes Land, in dem ein Teil der Regierung – die
und einfaches Umsatzsteuerrecht und die kleinen und Hamas – den von der Fatah angekündigten Antrag vor
mittleren Unternehmen einsetzen. den Vereinten Nationen auf Anerkennung Palästinas als
Staat in den Grenzen von 1967 ablehnt, weil sie ganz
Israel beansprucht. Diese Haltung kommt einem Aufruf
Anlage 92 zur bewaffneten Auseinandersetzung gleich.
Erklärung nach § 31 GO
Der Antrag 17/6150 der Linken, der diesen Sachver-
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) halt nicht benennt und damit die Verletzlichkeit Israels
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- unterschlägt, wird von mir abgelehnt.
(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980