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Plenarprotokoll 17/131

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

131. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 28: Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 15515 B


Vereinbarte Debatte: 50 Jahre deutsche Ent- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
wicklungszusammenarbeit – 50 Jahre ver- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . 15515 D
lässliche Entwicklungspartnerschaften . . . 15495 A
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15517 C
Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15495 B
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 15519 A
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 15496 C
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 15520 B
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 15499 C
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . 15521 D
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 15501 B
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15522 A
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15502 D Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 15523 C

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15504 A Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 15526 A

Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15505 B Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15527 D

Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . . 15507 B Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-


NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 15529 A
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 15508 C
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 15530 C
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 15509 D
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 15531 D
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15510 C Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15533 A
Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 15511 B Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 15534 C
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . 15512 D Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15535 C

Tagesordnungspunkt 29: Tagesordnungspunkt 30:


Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
ten Katrin Göring-Eckardt, Dr. Wolfgang tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, weiterer Ab- Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Ände-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ rung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
DIE GRÜNEN: Altersarmut in Deutsch- (Drucksachen 17/5894, 17/7170) . . . . . . . . . . 15537 B
land Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15537 C
(Drucksachen 17/3139, 17/6317) . . . . . . . . . . 15514 A
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . 15539 D
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15514 B Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 15542 A
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Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 32:


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15543 A
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 15543 D gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ besserung der Versorgung bei besonderen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15545 B Auslandsverwendungen (Einsatzversorgungs-
Verbesserungsgesetz – EinsatzVVerbG)
Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 15547 A (Drucksache 17/7143) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15559 D
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 15548 B
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 15549 C BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15560 A
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 15550 C Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 15561 A
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15562 A
Tagesordnungspunkt 33:
Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 15563 A
Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Andrej Hunko, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 15563 C
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Die Bedeutung von Whistleblowing für die Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
Gesellschaft anerkennen – Hinweisgeberin- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15564 A
nen und Hinweisgeber schützen
(Drucksache 17/6492) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15551 D Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 15565 A
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 15552 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15566 C
Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 15553 A
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15553 C Anlage 1
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 15554 C
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15567 A
Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15556 B
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15557 C
Anlage 2
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15558 D Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15567 D
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(A) (C)

Redetext

131. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: nem überparteilichen Konsens fußt, dass sie breite Ak-
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. zeptanz in der Bevölkerung genießt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich 50 Jahre BMZ und deutsche Entwicklungszusammen-
begrüße Sie herzlich. Heute Morgen kann ich nicht mit arbeit bedeuten jedoch nicht 50 Jahre dieselbe Politik.
zusätzlichen Mitteilungen dienen, weder zu Umbeset- Zwölf Minister haben seit 1961 die Entwicklungspolitik
zungen von Gremien noch zu Änderungen der Tages- mitgestaltet und sie an die Herausforderungen der Zeit
ordnung, sodass wir gleich zu unserem Tagesordnungs- angepasst. Leider kann ich in der kurzen Zeit nicht alle
punkt 28 kommen: angemessen würdigen.
Vereinbarte Debatte Die erste Frau in diesem Amt war Entwicklungs-
ministerin Marie Schlei. Sie erkannte in den 1970er-Jah-
50 Jahre deutsche Entwicklungszusammen-
ren das Potenzial der Frauen für die Entwicklung ihrer
arbeit – 50 Jahre verlässliche Entwicklungs-
(B) Länder. Carl-Dieter Spranger baute nach der Wiederver- (D)
partnerschaften
einigung eine gesamtdeutsche EZ auf und unterstützte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Transformationsprozesse in den ehemaligen Ost-
diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Gibt es dage- blockstaaten. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sich auch
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann können in wirtschaftlich schwierigen Zeiten für eine starke EZ
wir so verfahren. eingesetzt. Unter Bundesminister Niebel erfährt die
Kooperation mit der Wirtschaft und mit der Zivilgesell-
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem schaft eine stärkere Akzentuierung.
Kollegen Harald Leibrecht für die FDP-Fraktion.
(Zuruf von der SPD: Aber keine Akzeptanz!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Nur wenn Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an ei-
nem Strang ziehen, kann nachhaltige Entwicklungspoli-
Harald Leibrecht (FDP): tik und Entwicklung gelingen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herren! Seit mittlerweile 50 Jahren gibt es das Bundes- der CDU/CSU)
entwicklungsministerium, und die deutsche Entwick-
lungspolitik hat viel erreicht. Ich bewundere Walter Ich begrüße außerdem, dass das Thema „Effektivität
Scheel, den Gründer des BMZ, der schon in den Kinder- der Hilfe und effizienter Mitteleinsatz“ in Zeiten knap-
jahren deutscher Entwicklungspolitik die zukünftigen per öffentlicher Kassen wieder ganz oben auf der
Herausforderungen erkannt hat. So sagte er bereits 1964 Agenda steht. Hilfe zur Selbsthilfe war, ist und bleibt die
– ich zitiere –: Leitlinie deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Denn
wir können ein Land letztendlich nicht entwickeln; das
Deutschlands Zusammenarbeit mit den Entwick- kann ein Land nur aus eigener Kraft selber schaffen.
lungsländern geht jeden von uns an. … Wir können
diese Herausforderung nur dann zu einer geschicht- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
lichen Chance gestalten, wenn alle Bürger unserer der CDU/CSU)
res publica bereit sind, diese Herausforderung an-
Wir können aber die notwendigen Werkzeuge bereit-
zunehmen, und ihr im Geist menschlicher Solidari-
stellen, in erster Linie sicherlich Geld, aber auch Exper-
tät zu begegnen.
ten und Know-how, um diese Entwicklung zu ermögli-
Walter Scheel ist es wesentlich zu verdanken, dass Ent- chen. Die Herausforderungen sind gestern wie heute
wicklungspolitik in Deutschland von Anfang an auf ei- groß. Noch immer leben Millionen Menschen in Ent-
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Harald Leibrecht
(A) wicklungs- und Schwellenländern in extremer Armut, auf seiner Homepage mit dem Slogan „Wir machen Zu- (C)
sterben Mütter und Kinder an vermeidbaren Krankheiten kunft. Machen Sie mit“. Dazu möchte auch ich an dieser
und bleibt Millionen Menschen der Zugang zu Gesund- Stelle aufrufen. 50 Jahre Entwicklungszusammenarbeit
heitsvorsorge, Nahrung und sauberem Trinkwasser ver- haben gezeigt: Es lohnt sich.
wehrt.
Ich danke Ihnen.
Auch nach 50 Jahren werden das BMZ und die deut-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
sche Entwicklungszusammenarbeit dringend benötigt.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Als eine der weltweit wichtigsten Wirtschaftsnationen
trägt Deutschland eine besondere Verantwortung, die
Schwächsten der Welt auf ihrem Weg aus der Armut zu Präsident Dr. Norbert Lammert:
unterstützen. Nachdem der Kollege Leibrecht schon eine Reihe der
bedeutenden Entwicklungspolitiker – aber natürlich bei
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD weitem nicht alle – namentlich genannt hat, freue ich
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie mich besonders, dass ich auf der Besuchertribüne
bei Abgeordneten der LINKEN) Erhard Eppler und Egon Bahr begrüßen darf,
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass Deutschland (Beifall)
nach dem Zweiten Weltkrieg selbst Empfängerland in-
ternationaler Entwicklungshilfe war. Die Hilfen der die dieses Thema und das dafür verantwortliche Ministe-
USA in Form des Marshallplans waren eine wichtige rium über viele Jahre geprägt und begleitet haben. Seien
Voraussetzung für die rasante Wirtschaftsentwicklung Sie herzlich willkommen im Deutschen Bundestag und
und die Festigung der parlamentarischen Demokratie im herzlich bedankt für den Beitrag, den Sie zu diesem
Nachkriegsdeutschland. Die Deutschen haben in ihrer wichtigen Thema geleistet haben.
Geschichte selber erlebt, was internationale Hilfe und (Beifall)
Zusammenarbeit bewirken können.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Heidemarie
Kritikern möchte ich an dieser Stelle sagen, dass Ent- Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion.
wicklungszusammenarbeit keine Einbahnstraße ist.
Auch die Geberländer profitieren von der Entwicklungs- (Beifall bei der SPD)
zusammenarbeit. Sie ist ein wichtiges Instrument zur
Förderung von Sicherheit und Frieden in der Welt. Wenn Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
wir unseren Wohlstand in Deutschland sichern und aus- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bauen möchten, müssen wir auch dafür sorgen, dass die erinnere an diesem Tag an den ersten Minister, der dieses (D)
(B)
Menschen in den Entwicklungsländern eine bessere Zu- Ministerium ab 1961 leitete: Walter Scheel. Er hat da-
kunft haben. Deutschland hat dank der deutschen Ent- mals gesagt – ich zitiere –:
wicklungszusammenarbeit weltweit einen hervorragen-
den Ruf als verlässlicher Partner. Es geht darum, die Kluft zwischen reichen und ar-
men Völkern zu beseitigen, … die Spannungen auf
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Arbeit der Welt abzubauen, damit wir in Frieden leben
der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusam- können.
menarbeit sowie der KfW Entwicklungsbank würdigen.
Mit ihrem Know-how leisten sie einen wesentlichen Bei- Das ist heute noch aktuell. Diese Position war umso
trag zur Entwicklung der Partnerländer und erfahren da- wichtiger, als im Zeichen der Ost-West-Konfrontation
für weltweit Lob und Anerkennung. Dank gilt auch den die Spaltung auch durch die sogenannte Dritte Welt und
deutschen Entwicklungshelfern, die in vielen Ländern durch Afrika verlief.
der Erde unter oft schwierigsten Bedingungen eine wun- Unter der Amtsführung von Hans-Jürgen
derbare Arbeit leisten. Wischnewski ab 1966 gelang es schrittweise, das Minis-
(Beifall der Abg. Helga Daub [FDP]) terium von der Orientierung an der Hallstein-Doktrin
und von der Außenwirtschaftsbindung durch das Wirt-
In fünf Jahrzehnten haben die Bürger unseres Landes schaftsministerium zu lösen. Erhard Eppler ist schon be-
mit ihren Steuergeldern und ihrem Engagement einen grüßt worden. Ich sage an dieser Stelle: Er hat eine Vor-
großen Beitrag dazu geleistet, dass Hunger und Elend in reiterrolle eingenommen. Er hat die Grundbedürfnisse
der Welt bekämpft wurden. Ein Minister oder ein Minis- der Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die Aspekte
terium alleine kann niemals all das leisten, was wir als des Klima- und Umweltschutzes integriert und mehr
bürgerschaftliches Engagement bezeichnen. Kompetenzen im Entwicklungsministerium gebündelt.
Seine Arbeit war wegweisend für unsere moderne Ent-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wicklungspolitik. Ich danke ihm – ich denke, auch in Ih-
der CDU/CSU)
rem Namen – für sein ganz besonderes Engagement.
Es sind nicht nur die großen Hilfsorganisationen, die
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
seit vielen Jahren ganz hervorragende Arbeit leisten,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sondern auch die vielen namenlosen Initiativen einzelner
Menschen, von Schulen, Städten und Kommunen. Dies Egon Bahr hat von 1974 an das Entwicklungsministe-
macht mich als Parlamentarier, der in diesem Bereich tä- rium geleitet und seinen außenpolitischen Grundsatz
tig ist, sehr stolz auf meine Landsleute. Das BMZ wirbt „Wandel durch Zusammenarbeit“ auf die Suche nach ei-
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Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) ner Lösung im sich zuspitzenden Nord-Süd-Konflikt digen gilt. Deshalb haben wir es bewusst als eigenständi- (C)
übertragen. Auch ihn grüßen wir und danken ihm für ges Ministerium erhalten wollen. Ich bin im Übrigen
sein Engagement. dankbar, dass die Leitung in über 30 von diesen 50 Jah-
ren in den Händen von Sozialdemokratinnen und Sozial-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP demokraten lag und die Entwicklungszusammenarbeit
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie von diesen gestaltet werden konnte. Keiner dieser Minis-
bei Abgeordneten der LINKEN) ter und keine dieser Ministerinnen hat es verdient, dass
Marie Schlei, die so früh starb, hat 1976 als erste Frau das BMZ der Jahre zuvor vom jetzt amtierenden Ent-
die Leitung des BMZ übernommen und dabei vor allen wicklungsminister als „Almosenministerium“ diffa-
Dingen den heute noch aktuellen Grundsatz verankert, miert wird.
dass nämlich Entwicklungsprozesse ohne das Engage-
(Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])
ment von Frauen keine Effizienz und keine Wirksamkeit
haben. Wir danken ihr dafür sehr. Das ist eine Diffamierung gegenüber den Beschäftigten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und all denen, die sich engagieren.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Herr Niebel, ich darf auch das sagen: Wenn Sie Ihre
CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) eigene Erfahrung aus den letzten zwei Jahren ehrlich
Die Entwicklungsminister, die folgten, Jürgen einräumen würden, dann müssten Sie öffentlich einge-
Warnke von 1982 an und Hans Klein von 1987 bis 1989, stehen, dass es ein dem Populismus geschuldeter Fehler
hatten mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise und dem war, dass die FDP das Entwicklungsministerium auflö-
Anwachsen des Marktradikalismus von Weltbank und sen wollte.
Internationalem Währungsfonds auch in der Entwick- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
lungspolitik zu kämpfen, und sie haben sich dem oft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
auch entgegengestellt.
Jeder, der genauer hinsieht, stellt fest: Sie, der Sie mich
Von 1991 bis 1998 vertrat Carl-Dieter Spranger
als Linke Heidemarie Wieczorek-Zeul bezeichnet haben,
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Guter haben viel mehr meiner Prägung des Entwicklungsmi-
Mann!) nisteriums beibehalten, als Sie es offen eingestehen wol-
len. Das zeigt sich gerade in den letzten Strategiepapie-
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Er hat die ren zu den Menschenrechten und zur ländlichen
Entwicklungszusammenarbeit den Ost-West-Beziehun- Entwicklung.
gen und den Veränderungen nach dem Wegfall der
(B) Blockkonfrontation angepasst. Obwohl wir aus unter- Ich will aber auch sagen: Es gibt falsche Weichenstel- (D)
schiedlichen Parteien stammen – er aus der CSU, ich bin lungen, die an diesem Tag auch angesprochen werden
Sozialdemokratin –, haben wir auch nach seinem Aus- müssen.
scheiden aus dem BMZ eine sehr gute Zusammenarbeit
praktiziert. Ich danke ihm ausdrücklich dafür. Die erste dieser falschen Weichenstellungen ist eine
Form der Renationalisierung von Entwicklungspolitik.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Die strikte Bindung von zwei Dritteln der deutschen
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mittel für bilaterale Projekte stellt deutsche Außenwirt-
Ich bin dankbar, dass ich selbst von 1998 bis 2009, schaftsinteressen in den Vordergrund. Das aber ist eine
also für elf Jahre, dieses Ministerium leiten durfte. Ich Aufgabe anderer Ressorts, unter anderem des Wirt-
habe immer auch parteiübergreifende Kooperationen er- schaftsministeriums. Wer das tut, entleert die Bedeutung
lebt. Übrigens kam in der Zeit der rot-grünen Koalition des Entwicklungsministeriums.
eine Staatssekretärin im Entwicklungsministerium vom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bündnis 90/Die Grünen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Dieses Ministerium ist durch all diese Minister und LINKEN)
Ministerinnen gestaltet worden. Die Entwicklungszu- Der zweite Punkt. In manchen Bereichen drohen die
sammenarbeit hat sich als ein lernendes System erwie- Grenzen zwischen Militär- und ziviler Entwicklungs-
sen. Wenn Fehler gemacht worden sind, dann sind sie er- politik verwischt zu werden.
kannt und auch überwunden worden. Jeder und jede
dieser Minister und Ministerinnen hat eigene Akzente Dritter Punkt. Als Rainer Offergeld – bis 1982 – noch
gesetzt. Ich danke Ihnen allen und vor allen Dingen den Minister war, betrug der Anteil der Mittel für die deut-
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des deutschen Ent- sche Entwicklungspolitik 0,48 Prozent. Wir waren also
wicklungsministeriums sowie all denen – Gewerkschaf- dem 0,7-Prozent-Ziel schon relativ nahe. Herr Ruck, der
ten, Kirchen –, die sich in diesem Bereich engagieren. nach mir spricht, und Sie alle wissen: Ich habe immer
Ein herzliches Dankeschön. Sie haben sich für die Ge- und immer wieder dafür gekämpft und bin jedem Fi-
rechtigkeit in der Welt engagiert. nanzminister – um es höflich auszudrücken – nahege-
(Beifall im ganzen Hause) rückt, dass die Mittel in diesem Bereich aufgestockt wer-
den sollten. Und wir haben bis zum Ende der Großen
Dieses Ministerium ist ein kostbares Gut, das es im Koalition im Jahr 2009 eine Steigerung von 0,26 Prozent
Sinne des Erhalts von Soft Power entschlossen zu vertei- im Jahr 1998 auf 0,35 Prozent geschafft.
15498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) Herr Niebel, ich verstehe überhaupt nicht, dass Sie (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C)
die Vorlage von über 300 Mitgliedern dieses Hauses aus BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
allen Fraktionen – diese haben sehr, sehr deutlich gesagt: geordneten der CDU/CSU und der FDP)
Stocken Sie die Mittel im Haushalt deutlich auf – in kei-
Ich möchte im letzten Teil meiner Ausführungen sie-
ner Weise aufgenommen haben. Stattdessen stagnieren ben Herausforderungen nennen, vor denen deutsche Ent-
die Mittel des Entwicklungshaushalts. Das ist unakzep- wicklungszusammenarbeit in den nächsten Jahren und
tabel, wir dürfen das auch nicht zulassen. Jahrzehnten stehen wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Präsident Dr. Norbert Lammert:
LINKEN) Ihnen ist bewusst, Frau Kollegin, dass dafür nur noch
eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung steht?
Die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft – ich
freue mich, dass auch die Vertreter der Kirchen hier sind –, Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
mit den Nichtregierungsorganisationen und mit Gewerk- Ich weiß, aber mein Kollege Sascha Raabe hat ein ge-
schaften hat für mich immer einen ganz besonderen Stel- wisses Maß an Verständnis gezeigt, mir einen Teil seiner
lenwert gehabt. Mit ihnen sowie mit fortschrittlichen Re- Redezeit zu überlassen, wenn es recht ist.
gierungen zusammen haben wir wichtige Erfolge im
Hinblick auf die Millenniumsentwicklungsziele erreicht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dass in Afrika heute über 34 Millionen Kinder mehr in
die Schule gehen können, ist ein Erfolg der multilatera- Grandios.
len Entschuldung im Umfang von 125 Milliarden (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
US-Dollar. Sie wurden zur Bekämpfung von Armut und
Aids eingesetzt. Des Weiteren wurden sie mit eingesetzt Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
zur Bekämpfung von Hunger in dieser Welt. Das sind Entschuldigung. Er blickt ganz verständnisvoll. Ich
wichtige Investitionen. Dass 7 Millionen Menschen vor habe also eine Minute mehr Redezeit. Liebe Kolleginnen
dem Aids-Tod gerettet werden konnten, zeigt: Entwick- und Kollegen, ich komme zu den sieben Herausforde-
lung, die auf Partnerschaft setzt, wirkt. Sie muss fortge- rungen der Entwicklungszusammenarbeit – das ist wirk-
setzt werden. lich sehr ernst zu nehmen –:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Die Schwellenländer, zum Beispiel China,
DIE GRÜNEN) gewinnen ökonomisch und natürlich auch vom Anteil
(B) der Bevölkerung her an Bedeutung. Deshalb ist es so (D)
In diesem Zusammenhang sind übrigens die wirklich wichtig, dass es in der Entwicklungspolitik zu keinen na-
verheerenden Strukturanpassungsprogramme des IWF tionalen Alleingängen kommt, sondern dass man sich
überwunden worden. Wir haben die Weltbank umorien- europäisch organisiert und einen Beitrag dazu leistet,
tiert: weg vom Marktradikalismus der 80er- und 90er- dass es in der Welt – das ist wichtig – ein Gegengewicht
Jahre. mit sozialen und ökologischen Regeln gibt. Deshalb
müssen wir die Europäische Union einbeziehen.
Die Millenniumsentwicklungsziele – dass Armut be-
kämpft werden muss und dass Frauen gestärkt werden (Beifall bei der SPD – Sabine Weiss [Wesel I]
müssen – beinhalten acht Regeln für eine im sozialen, [CDU/CSU]: Sie haben ja elf Jahre Zeit ge-
wirtschaftlichen und ökologischen Sinn gerechte Gestal- habt!)
tung der Globalisierung. Aufgaben sind die Bekämpfung Zweitens. Der Kontinent, dem wir in enger Partner-
von HIV/Aids durch die Unterstützung des entsprechen- schaft weiterhin eng verbunden bleiben müssen, ist
den globalen Fonds, die Verankerung der Kernarbeits- Afrika. Die Bedeutung des großen Potenzials der Men-
normen der Internationalen Arbeitsorganisation, keine schen, aber auch des ökonomischen Potenzials muss im
Kinderarbeit, keine Zwangsarbeit, die Förderung freier Rahmen der Zusammenarbeit stärker hervorgehoben
Gewerkschaften und die Stärkung der Frauen. Das sind werden.
die Aufgaben der Zukunft, an denen wir festhalten müs-
sen. Drittens. Der Demokratisierungsprozess in Nord-
afrika zeigt allen angeblichen Realpolitikern überdeut-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich: Auf Dauer ist eine Gesellschaft nur dann stabil,
DIE GRÜNEN) wenn die Menschen die Chancen haben, ihr Leben selbst
zu bestimmen. Diesen positiven Ansteckungseffekt muss
Ich freue mich im Übrigen, dass es gelungen ist, die Entwicklungspolitik unterstützen und voranbringen.
„weltwärts“ als entwicklungspolitischen Freiwilligen-
dienst in Gang zu setzen. Über 10 000 Jugendliche sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
„weltwärts“ gegangen und haben einen Beitrag zum Ler-
nen, zum Helfen und auch für interkulturelle Zusam- Viertens. Trotz der Zusagen der Industrieländer, mehr
menarbeit geleistet. Ich danke den Jugendlichen, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzu-
diese Aufgabe immer wieder übernehmen, ganz beson- stellen, sind hier Haushaltskürzungen geplant. Die Mittel
ders. müssen aber aufgestockt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15499
Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) Es gibt jetzt einen ersten Einstieg in die Finanztrans- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): (C)
aktionsteuer. Ich werbe dafür, dass die Einnahmen aus Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
dieser Steuer für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Kli- 50 Jahre deutsche Entwicklungszusammenarbeit – 50 Jah-
mawandel und Armut in der Welt eingesetzt werden. Das re verlässliche Entwicklungspartnerschaften: Das ist in
ist wichtig, damit in diesem Bereich Fortschritte erreicht der Tat ein Grund zum Feiern und Dank sagen. Ich
werden. möchte mich den Dankesworten meiner Vorredner auf-
richtig anschließen und richte den Dank an die Zigtausen-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den von staatlichen und privaten Entwicklungshelfern bei
DIE GRÜNEN) unseren Durchführungsorganisationen der TZ und FZ,
Fünftens. Es gilt, die wachsenden Ungleichheiten in bei unseren Kirchen, Stiftungen und den vielen engagier-
allen Gesellschaften zu bekämpfen, denn sie drohen das ten Nichtregierungsorganisationen, die mit Kompetenz
Band der Solidarität zu zerreißen. Die Millenniumsent- und Leidenschaft und auch oft unter lebensgefährlichen
wicklungsziele und die Klimaschutzziele müssen über Bedingungen einen hervorragenden Job leisten und im
das Jahr 2015 hinaus aktiv vorangebracht werden. besten Sinne des Wortes auch gute Botschafter und Sym-
pathieträger Deutschlands sind.
Global Governance wird immer notwendiger, um die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Finanzmärkte zu regulieren und die Globalisierung nicht
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
dem Selbstlauf der Ungerechtigkeit zu überlassen.
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
11,4 Billionen US-Dollar hat die Welt zur Stabilisierung
in der Finanzkrise 2008 und 2009 mobilisiert. Wir müs- Ich möchte auch den Millionen von Deutschen dan-
sen uns gemeinsam dafür engagieren, dass die interna- ken, die mit ihren Spenden die Entwicklungszusammen-
tionale Gemeinschaft Mittel mobilisiert – das kann auch arbeit über all die Jahrzehnte unterstützt haben wie kein
weniger sein –, um extreme Armut, Hunger, Klimawan- anderes Volk der Welt. Ich möchte auch den Kollegen
del und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das ist dringend aus der Politik, den engagierten Ministern und Staats-
notwendig. sekretären, danken. Ich freue mich, dass sie bereits alle
namentlich breit gewürdigt wurden, auch diejenigen aus
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meiner Partei, der CSU.
DIE GRÜNEN)
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Sie ha-
Siebtens. ben es ja über viele Jahre gemacht!)
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – – Genau. Sie haben das über viele Jahre gemacht und die
Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist Entwicklungszusammenarbeit geprägt.
(B) das die neue Zeitrechnung?) (D)
Aber ich möchte Sie, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul,
– Danke für den Hinweis: Sechstens war der Punkt Glo- in einem Punkt korrigieren: Es wäre nicht nötig gewe-
bal Governance. sen, den Kollegen Niebel ob der einen oder anderen Äu-
ßerung zu kritisieren.
Siebtens. Gerade deshalb ist die Forderung nach ei-
nem „UN-Sicherheitsrat für soziale, wirtschaftliche und (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Richtig! –
ökologische Fragen“ besonders aktuell. Wir dürfen den Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Die Aus-
Lauf der Welt nicht der ungebremsten Ökonomie und sprüche waren nicht notwendig!)
der Gewalt der Finanzmärkte überlassen. Denn ich finde, dass er den Koalitionsvertrag hervorra-
Ich zitiere: Die Aufgabe besteht darin, die Menschheit gend umsetzt,
von Abhängigkeit und Unterdrückung sowie von Hunger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Not zu befreien. Neue Bande müssen geknüpft wer-
den, welche die Aussichten auf Frieden, Gerechtigkeit der sich übrigens nicht fundamental von dem unterschei-
und Solidarität für alle entscheidend verbessern. – Das det, was wir damals verhandelt haben. Ich hatte die Ehre,
hat Willy Brandt in seinem Nord-Süd-Bericht 1980 for- beide Koalitionsverträge mitverhandeln zu dürfen und
muliert. Das ist auch für uns für die Zukunft Auftrag. kann mich daran erinnern, dass wir damals in Ausfüh-
rung des Koalitionsvertrages wesentlich mehr gestritten
Vielen Dank. haben, als es bei der christlich-liberalen Koalition der
Fall war. So viel zur Wahrheit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Ich möchte mich auch ganz herzlich für die Arbeit der
Beamten, vor allem des BMZ, bedanken. Auch Ihnen
danke ich für eine hervorragende und engagierte Arbeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bin ganz beruhigt, dass sich das zugesagte Einver- Ich möchte mich nicht zuletzt bei meinen Bundes-
ständnis des Kollegen Raabe mit dem sprichwörtlichen tagskollegen, sowohl den aktuellen als auch den ehema-
Wohlwollen des amtierenden Präsidenten aufs Schönste ligen, bedanken. Ich bin seit 20 Jahren Mitglied des Aus-
zusammenfügen lässt. – Ich erteile nun dem Kollegen schusses und habe viele Kollegen erlebt. Manchmal
Christian Ruck für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. wurde der Verdacht geäußert, dass manchen Kollegen
die Entwicklungspolitik wichtiger war als ihre Parteikar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) riere. Viele sind in dieser Aufgabe aufgegangen, und
15500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Christian Ruck


(A) manche sind auch leider, wenn ich an meinen Freund möchte es auf den Punkt bringen: Seit Bundeskanzlerin (C)
Werner Schuster denke, untergegangen. Auch allen Kol- Angela Merkel am Ruder ist, hat sich das Volumen des
legen ein herzliches Dankeschön für ihr engagiertes Auf- Entwicklungshaushalts um mehr als 50 Prozent erhöht.
treten und ihren engagierten Kampf für die gemeinsame Das ist ein gigantischer Sprung.
Sache!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Dafür bin ich dankbar, auch dem Finanzminister.
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben die ODA-Quote nicht erfüllt. Wir müssen
daran arbeiten, zumindest tendenziell in die richtige
Die Entwicklungszusammenarbeit hat damals ein hu- Richtung zu marschieren. Das ist doch etwas, das uns
manitär deklariertes politisches Mauerblümchendasein alle verbindet. Wir haben hier inzwischen die Sympathie
geführt. Die Länderauswahl war vom Ost-West-Konflikt des gesamten Hauses. Wir müssen Methoden und Wege
geprägt. Die Probleme der Entwicklungsländer waren finden, mit denen wir uns dem Ziel nähern. Das ist doch
weit weg. Ansporn genug. Daran sollten wir arbeiten.
Das hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
geändert. Die Entwicklungen und Fehlentwicklungen in bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Asien, Lateinamerika und Afrika berühren uns in Europa GRÜNEN und der Abg. Heidemarie
und Deutschland inzwischen unmittelbar, sowohl positiv Wieczorek-Zeul [SPD])
als auch negativ: unsere Wirtschaft, unsere Sicherheit
und unsere gemeinsamen natürlichen Lebensgrundlagen. Drittens. Es ist richtig, dass wir effizienter mit den
Deswegen ist Entwicklungszusammenarbeit inzwischen Ressourcen umgehen müssen; auch das ist klar. Meiner
nicht mehr nur eine humanitäre Angelegenheit, sondern Ansicht nach gibt es hier wichtige Schritte in die richtige
auch die notwendige politische Einflussnahme zur Ab- Richtung. Wir werden die Evaluierungsinstrumente ver-
wendung von Gefahren und zum Nutzen von Chancen bessern. Wir sind einen großen Schritt vorangekommen,
für unser Land. wenn es darum geht, die Kräfte in unserem Land – Stich-
wort TZ – zu bündeln. Aber eine Verbesserung der
Ich kann mich noch gut an die dramatischen Stunden Arbeitsteilung auf nationaler und mehr noch auf interna-
und Tage nach dem 11. September 2001 erinnern, als die tionaler Ebene ist eine Daueraufgabe, damit die Entwick-
Entwicklungszusammenarbeit plötzlich in einen ganz lungszusammenarbeit insgesamt schlagkräftiger wird.
anderen Fokus geriet, nach dem Motto: Ihr müsst es jetzt
richten; ihr müsst das ganz anders angehen, um die Ursa- Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren bei der stra-
tegischen Auswahl der Länderliste und der Schwer-
(B) chen von Terrorismus und Gewalt zu beseitigen. Damit punkte unter dem Aspekt, was wirklich zu mehr Ent- (D)
müssen wir umgehen. Es lastet ein viel größerer Erfolgs-
wicklung führt, einen guten Schritt weitergekommen
druck auf der Entwicklungspolitik. Wir müssen uns der
sind. Auch hier geht es um das Bündeln, eine bessere
gewachsenen Verantwortung stellen.
Arbeitsteilung und die Fokussierung auf die Schwer-
Ich möchte ein paar Punkte nennen, die ich für die punkte. Wir haben die Schwerpunkte definiert, die mei-
großen Herausforderungen unserer Entwicklungszusam- ner Ansicht nach entscheidend für Entwicklung sind.
menarbeit in den nächsten Jahren halte. Das ist nichts Neues. Daran haben wir jahrelang gearbei-
tet. Dabei geht es um die Bildung, die ländliche Ent-
Erstens. Wir müssen uns – das hat der Kollege wicklung, den Schutz der Umwelt, Gesundheit und wirt-
Leibrecht schon genannt – zu einer realistischen Selbst- schaftliches Wachstum, aber vor allem auch um – das ist
einschätzung durchringen. Wir können Prozesse unterstüt- der Schlüsselsektor – Good Governance. Ohne den poli-
zen. Aber wir können nicht für schlüsselfertige Länder und tischen Willen zu guter Regierungsführung gibt es in
Kontinente sorgen. Das dürfen wir auch niemandem vor- keinem Land eine erfolgreiche Entwicklung.
gaukeln.
Viertens. Entwicklungspolitik muss daher politischer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie werden. Das ist nicht nur eine Aufgabe des BMZ, son-
des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE dern auch eine Aufgabe von Kohärenz in Europa. Wenn
GRÜNEN]) ich sehe, dass Europa zum Teil noch immer auf kleinka-
rierte Weise mit dem arabischen Frühling umgeht und
Das wäre kontraproduktiv, weil das jede Eigeninitiative
dass vor allem unsere südlichen Nachbarn in Europa
der betreffenden Länder – Eigeninitiative ist der eigentli-
zum Beispiel beim Export von landwirtschaftlichen Gü-
che Kern von Entwicklung – töten würde. Wir können tern nach Europa auf ihren Vorteil bedacht sind, dann
Chancenfenster vorbereiten und nutzen. Aber es handelt muss ich sagen, dass wir in Europa unbedingt auf mehr
sich immer um langfristige Prozesse, die unseres gedul- Kohärenz drängen müssen,
digen Engagements bedürfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Zweitens. Angesichts des Elends, der wachsenden bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Ungleichgewichte und der Umweltzerstörung ist es un- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
strittig, dass wir weitere Ressourcen mobilisieren müs-
sen. Wir haben – auch unstrittig – einen großen finan- um schneller und flexibler auf positive Entwicklungen in
ziellen Bedarf. Aber ich bin verwundert, wie man aus der Welt – nicht nur in arabischen Ländern, sondern zum
denselben statistisch abgesicherten Zeitreihen unter- Beispiel auch an der Elfenbeinküste – einwirken zu kön-
schiedliche Erbsenzählereien veranstalten kann. Ich nen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15501

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Bündnistreue der Eliten des Südens und förderte gleich- (C)
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr. zeitig die eigene Exportindustrie. Der Kolonialisierung
folgte also eine zweite Entmündigung in Afrika, Asien
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): und Lateinamerika. Wirtschaftliche und politische Ab-
hängigkeiten wurden weiter vertieft.
Ja, ich versuche den Sinkflug einzuleiten.
Ich beschränke mich auf wenige Schlagworte. Ich Nach dem Ende des Kalten Krieges hofften viele auf
halte zum Beispiel das Konzept der vernetzten Sicher- die sogenannte Friedensdividende, die auch eine Ent-
heit für ein wichtiges Konzept, innerhalb dessen die wicklungsdividende sein sollte. Stattdessen dominierten
Ausbildung der Armee und der Polizei äußerst wichtig aber die in den 70er-Jahren begonnenen Strukturanpas-
für die Entwicklungsstrategie ist. Sicherheit ist für mich sungsprogramme der Weltbank und des Internationalen
ein Schlüssel zur Entwicklung. Das sieht man vor allem Währungsfonds mit ihren neoliberalen Rezepten – die
in Afghanistan. kommen Ihnen wahrscheinlich bekannt vor – Privatisie-
rung, Deregulierung und Liberalisierung. Die Folgen
Auch ich bin der Meinung, dass man die Schwellen- dieser verheerenden Politik sind bis heute spürbar. Diese
länder stärker einbinden muss. Schließlich müssen wir Politik war der Beginn eines weltweit entfesselten Kapi-
den Mut haben, neue Konzeptionen für offene Probleme talismus, der sogenannten neoliberalen Globalisierung.
zu erarbeiten. Ich denke an Entwicklungen in Afrika, be- Mittlerweile haben Verfechter dieser Dogmen, zum Bei-
sonders in Nigeria und Angola, die wir nicht tolerieren spiel Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefökonom der
können. Reichste Länder schaffen es nicht, trotz ihres Weltbank, diese widerrufen. Er stellt fest – ich zitiere –:
Reichtums eine Entwicklung des Landes herbeizufüh-
ren. Da müssen wir konzeptionell weiterdenken. Das politische Regelwerk, das wir im Ausland vor-
angetrieben haben, half unseren Unternehmen, er-
Alles in allem können wir sagen: In diesen 50 Jahren folgreich zu sein.
ist in der Entwicklungszusammenarbeit unendlich viel
geleistet worden. Aber die Probleme sind gewachsen, (Beifall bei der LINKEN)
und sie wachsen weiter. Deswegen sind Entwicklungs- Aber es gab zweifellos auch immer wieder fortschritt-
politik und Entwicklungszusammenarbeit nötiger denn liche und auf Entwicklung ausgerichtete Ansätze. Ich
je. möchte in diesem Zusammenhang – das wurde schon er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wähnt – den Nord-Süd-Bericht Willy Brandts in den
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 80er-Jahren und die Forderung der blockfreien Staaten
NISSES 90/DIE GRÜNEN) nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die auf Ge-
(B) rechtigkeit und souveräner Gleichheit der Staaten beru- (D)
hen sollte, nennen. Welch moderne Idee!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Heike Hänsel ist die nächste Rednerin für die Frak- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
tion Die Linke. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Die Vision Willy Brandts, dass Entwicklungspolitik
die beste Friedenspolitik ist, ist bis heute eine große He-
Heike Hänsel (DIE LINKE):
rausforderung. Mit der Beteiligung am Afghanistan-
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Krieg – das kann ich der SPD nicht ersparen – hat sich
Man merkt: Viele drängt es, viel zu sagen. Daher finde leider auch die SPD von dieser Vision weit entfernt.
ich es schade, dass ausgerechnet der Herr Minister heute
nichts zu 50 Jahren Entwicklungsministerium zu sagen (Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank-Walter
hat und hier nicht spricht. Steinmeier [SPD]: Ach so!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Es gibt interessante Zitate des ersten Entwicklungs-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ministers Walter Scheel – auf ihn berufen auch Sie sich
GRÜNEN – Harald Leibrecht [FDP]: Das ist gerne, Herr Niebel –, der unter anderem mit dem Spruch
die Stunde des Parlaments! – Weiterer Zuruf – ich zitiere – „Entwicklungspolitik ist eine Art Sozial-
von der CDU/CSU: Er lässt uns den Vortritt!) politik im weltweiten Ausmaß“ doch andere Vorstellun-
gen als Sie verdeutlicht hat, Herr Niebel, und der in mei-
Ein Tag wie heute ist ein Auftrag, nicht nur zu feiern, nen Augen weiter war als Sie, weil Sie einmal recht
sondern auch eine kritische Bilanz zu ziehen, insbeson- despektierlich gesagt haben, das Entwicklungsministe-
dere wenn wir sehen, dass 1 Milliarde Menschen hungert rium sei nicht das Weltsozialamt.
und von Armut betroffen ist.
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: So ist es!)
Die Entwicklungspolitik in den 60er-Jahren war von
der beginnenden Entkolonialisierung und der Ost-West- Auch in den 90er-Jahren gab es interessante Entwick-
Konfrontation in Zeiten des Kalten Krieges geprägt. Da- lungen mit dem Rio-Prozess und dem Versuch, Entwick-
durch war auch die deutsche Entwicklungspolitik – bes- lungs- und Umweltfragen auf die Kommunen herunterzu-
ser gesagt: die wirtschaftliche Zusammenarbeit – auf brechen sowie eine breite Beteiligung der Bevölkerung
westdeutsche Interessenpolitik in den Ländern der Drit- im Rahmen von Entwicklungspolitik zu organisieren, und
ten Welt festgelegt. Man erkaufte sich die ideologische zwar in den sogenannten Lokale-Agenda-Prozessen. Dies
15502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Heike Hänsel
(A) war der Versuch, zu zeigen, dass die Lebensbedingungen Wir müssen uns nämlich davon verabschieden, dass die (C)
der Menschen in den Ländern des Südens direkt mit den westlichen Industriestaaten den Süden entwickeln wol-
Lebensbedingungen der Menschen in den Ländern des len. Vielmehr geht es darum, sich auf Augenhöhe zu be-
Nordens zusammenhängen und dass wir deshalb eine gegnen, eine eigenständige Entwicklung zu respektieren
Verantwortung haben, Strukturen sowie den Energie- und und voneinander zu lernen. Das müsste die Bilanz aus
Ressourcenverbrauch massiv zu verändern, wenn wir 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit sein. Stattdes-
wirklich Entwicklung wollen. sen werden solche Entwicklungen bekämpft. Für den
Zugang zu Rohstoffen und Märkten wird eine knallharte
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Interessenspolitik durchgesetzt. Es zeigt sich, dass sich
neten und der SPD) die staatliche Entwicklungspolitik nie von kolonialem
Denken befreit hat.
Heute, im Jahr 2011, in Zeiten des sogenannten Krie-
ges gegen den Terror, der bereits seit zehn Jahren geführt (Beifall bei der LINKEN)
wird und an dem sich auch Deutschland durch Auslands-
einsätze der Bundeswehr beteiligt, Nun soll also die deutsche Wirtschaft im FDP-geführ-
ten Entwicklungsministerium Partner für Entwicklung
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Gott sei sein.
Dank!)
wird Entwicklungspolitik im Rahmen der sogenannten Präsident Dr. Norbert Lammert:
vernetzten Sicherheit Teil der Sicherheitspolitik und da- Frau Hänsel!
durch eben missbraucht. Mit der Vision Willy Brandts
„Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik“, die eigentlich Heike Hänsel (DIE LINKE):
dazu beitragen sollte, Konfliktursachen zu bekämpfen, Ich komme zum Schluss. Aber das kann ich Herrn
hat das nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Entwicklungs- Niebel nicht ersparen. – Die deutsche Wirtschaft soll
politik wird Teil einer Kriegsstrategie, wie wir es in Af- Partner für Entwicklung und für eine unternehmerische
ghanistan erleben. Genau deshalb sind wir gegen diese Entwicklungspolitik sein und nebenbei vielleicht noch
Form der zivil-militärischen Zusammenarbeit. die niedrige ODA-Quote erhöhen. Das, Herr Niebel, ist
nichts anderes als Entwicklungshilfe für die deutsche
(Beifall bei der LINKEN)
Wirtschaft. Dieses Entwicklungsmodell ist ein Auslauf-
Die neoliberale Globalisierung und die Entfesselung modell, genauso wie die FDP.
der Finanzmärkte sind mittlerweile auch für die entwi- (Beifall bei der LINKEN)
(B) ckelten Staaten zu einer existenziellen Bedrohung ge- (D)
worden und haben die Spielräume von Entwicklungspo-
litik erst recht massiv eingeschränkt. Das erleben wir Präsident Dr. Norbert Lammert:
zurzeit. So trägt zum Beispiel die Spekulation mit Nah- Ute Koczy ist die nächste Rednerin für die Fraktion
rungsmitteln zu Hungerkatastrophen bei und zerstört viel Bündnis 90/Die Grünen.
von dem, was wir durch Entwicklungszusammenarbeit
erreicht haben. Die Regierungen schauen nur hilflos zu. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deshalb ist die Forderung nach einer strengen Regulie- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
rung der Finanzmärkte ganz zentral. Wir fordern das seit Kollegen! Wir feiern heute 50 Jahre deutsche Entwick-
Jahren. lungspolitik. Das sind fünf Jahrzehnte wirtschaftliche
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Zusammenarbeit mit den meisten Ländern dieser Welt.
neten der SPD) Diese Politik ist heute Teil der Identität der Bundesrepu-
blik Deutschland.
Die neoliberale Globalisierung hat aber auch weltweit
Wir Grüne gratulieren und freuen uns, dass wir dem
– das ist der Hoffnungsträger – soziale Bewegungen auf
Geburtstagskind, dem Ministerium für wirtschaftliche
den Plan gerufen und linke Regierungen hervorgebracht
Zusammenarbeit und Entwicklung, die besten Wünsche
– zum Beispiel in Lateinamerika –, die sich gegen Aus-
für eine weltweit nachhaltig ökologische, sozial gerechte
beutung, Abhängigkeit und Bevormundung zur Wehr
sowie gender- und friedensorientierte Politik übermitteln
setzen und sich für neue alternative Entwicklungsmo-
können. Für uns Grüne ist die Entwicklungszusammen-
delle, eine solidarische Weltwirtschaft sowie eine breite
arbeit eines der besten internationalen Instrumente der
demokratische Beteiligung der Bevölkerung an Ent-
Politik, die wir haben und die wir behalten wollen.
scheidungen einsetzen. So sind zum Beispiel die Verfas-
sungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador wirklich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zukunftsweisend. Genau da könnte deutsche Entwick- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
lungspolitik ansetzen und solche Prozesse der selbstbe- FDP)
stimmten Entwicklung stärken.
Es ist natürlich nicht nur eine Ironie des Schicksals,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dass ein FDP-Minister diesem Ministerium heute Be-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN stand und Stärke verleihen will. Herr Minister, Sie sto-
und der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul ßen auf unser absolutes Unverständnis, dass Sie heute
[SPD]) angesichts 50 Jahre BMZ nicht die Gelegenheit nutzen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15503
Ute Koczy
(A) an diesem Tag das Wort zu ergreifen und zu uns zu spre- wirtschafts- und rohstoffpolitischen Interessen nicht aus (C)
chen. den Augen verlieren wollte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ein weiterer Anschub kam von außen. Die Vollver-
bei der SPD und der LINKEN) sammlung der Vereinten Nationen rief 1960 die erste
Entwicklungsdekade aus. Deutschland reagierte 1961
Ich frage mich, warum das der Fall ist. Liegt es vielleicht mit der Gründung eines neuen Ministeriums unter der
daran, dass ein Erfolg der EZ ausmacht, dass sie auf die Leitung von Walter Scheel. Viele Ministerinnen und
sogenannten weichen und zivilen Themen setzt? Denn Minister folgten.
die Entwicklungszusammenarbeit tritt für internationa-
len Ausgleich und Fairness ein. Sie trägt so zum Erhalt Ich will, weil viele Namen schon genannt wurden, an
des Friedens bei. Das ist eine Stärke. Demokratie und dieser Stelle auf Heidemarie Wieczorek-Zeul eingehen.
Rechtstaatlichkeit lassen sich nur so entwickeln, auf dass Sie hat nicht nur für Frauenthemen gekämpft, sie hat
eigenständiges und eigenverantwortliches Handeln mög- sich auch erfolgreich darin engagiert, Deutschland in in-
lich wird. ternationalen Zusammenhängen zum Vorreiter für eine
gerechte und faire Politik zu machen. Ich danke ihr da-
Lassen wir Wolfgang Gieler sprechen, der das BMZ für.
von 1971 wie folgt beschreibt:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erfolg kann nur eine Entwicklungspolitik haben, und bei der SPD)
die in Zusammenarbeit mit den Entwicklungslän-
dern, den anderen Geberländern sowie internationa- Liebe Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre EZ sind
len Institutionen und Organisationen den ständigen kein Selbstläufer und schon gar keine Selbstverständ-
Ausgleich der Interessen aller Beteiligten anstrebt. lichkeit. Deutschland hat sich aus historischen und guten
Sie taugt nicht als Instrument kurzfristiger außen- Gründen und mit besonderem Einsatz diesem Politikfeld
politischer Erwägungen. gewidmet. Auch deshalb ist die EZ Teil der Identität der
Bundesrepublik Deutschland geworden. Doch die Welt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat sich gewandelt. Andere Länder treten erstarkend auf
sowie bei Abgeordneten der SPD) die Weltbühne. Das alte Europa verliert an Einfluss, die
Die EZ arbeitet mit den Menschen vor Ort zusammen. USA ebenso. Die Machtverhältnisse haben sich längst
Sie orientiert sich an deren Bedürfnissen und organisiert, Richtung Süden verschoben. Das muss doch Anlass zu
wenn es richtig läuft, praktische wirtschaftliche und da- Fragen sein. Wissen wir genau, was das bedeutet? Sind
mit handfeste Chancen für die Menschen in diesen Län- unsere Reaktionen darauf angemessen? Heute findet
(B) dern. Das geschieht zum Beispiel beim Aufbau der Was- doch eher ein Rückzug auf nationale, auf bilaterale Ver- (D)
serversorgung, bei der Stärkung der Frauenrechte, bei der hältnisse statt. Das ist gewiss der falsche Weg. Mit der
Bildung, bei der Landwirtschaft oder aktuell bei erneuer- Linie „Bilateral vor multilateral“ landen wir in der Sack-
baren Energien. Nicht immer gelingt dies. Es braucht gasse. Ich fürchte, dass sich Deutschland so zum Außen-
dazu vor allem eines: Zeit. seiter macht.
Viele verschiedene Ansätze sind in den letzten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
50 Jahren erprobt worden. Die deutsche EZ ist mit ihren und bei der SPD)
Durchführungsorganisationen, allen voran den beiden Wenn Entwicklungspolitik Teil der Zukunft sein will,
großen Organisationen GIZ und KfW, und auch nicht zu- so muss sie sich an der Gestaltung – ach was, an der Lö-
letzt dank einer großartigen und vielfältigen Zivilgesell- sung der Probleme beteiligen. Klimawandel, Finanz-
schaft professionell geworden. Vielleicht muss sich die und Ernährungskrise, fragile Staatlichkeit, ungerechte
EZ deswegen immer wieder neu hinterfragen. Ange- Welthandelsordnungen und die globale Armut fordern
sichts der krassen Veränderungen in unserer Welt sind uns heraus. Doch die Institutionenwelt, die wir kennen,
kritische Fragen und Analysen äußerst dringend notwen- ist nicht auf die Bearbeitung dieser Krisen und Themen
dig. Wir Grüne wollen, dass sich die EZ erfolgreich und ausgerichtet. Das internationale System ist zerklüftet, in-
konstruktiv den heutigen globalen Herausforderungen effizient und rückwärtsgewandt. Also dürfen wir nicht
und Problemen stellt. Da lohnt es sich schon, die An- so weitermachen wie bisher. Die Entwicklungspolitik
fänge des Ministeriums einmal genauer unter die Lupe muss sich hier konstruktiv einmischen. Ziel muss sein,
zu nehmen, bevor ich meine Anliegen für die Zukunft die weltweite Armut zu bekämpfen, den Klimawandel
äußere. zu stoppen und die Probleme der wachsenden Mensch-
Was führte damals zur Entscheidung für ein solches heit beim Ressourcenmangel effizient, fair und konflikt-
Ministerium? Deutschland lag nach dem Krieg in Trüm- vermeidend zu lösen. Die Entwicklungsdefizite in den
mern. Die Erfahrungen der Kriege waren traumatisch, Entwicklungsländern müssen auf den Tisch. Kritik an
die ökonomischen Zerstörungen immens. Damals war unserem Lebensstil muss zu Veränderung führen und
Deutschland selbst ein Entwicklungsland. Wir bekamen darf nicht nur diskutiert werden.
Hilfe. Der Marschallplan war das Rettungsseil, an dem (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
man sich heraushangelte. Somit wuchs in Deutschland SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
das Gefühl für Verantwortung, für Unterstützung und für
internationale Zusammenhänge. Aber bitte keine Schön- Ganz klar: Wir müssen uns wirksam damit auseinan-
färberei: Auch damals galt, dass man die eigenen außen-, dersetzen, wie wir die aufklappende soziale Schere inner-
15504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Ute Koczy
(A) halb von Entwicklungs-, Schwellen- und Industrielän- ren nicht nur älter, sondern auch weiser geworden sind, (C)
dern wieder schließen können. Dafür braucht es soziale was wir also dazugelernt haben.
Sicherungssysteme, eine intensive Zusammenarbeit mit
der Zivilgesellschaft und Konzepte abseits der Ebene von Zahlreiche Abgeordnete haben hier bereits Lob ge-
zweijährigen Regierungsverhandlungen. Letztlich braucht spendet. Diesen Bogen möchte ich nicht weiter spannen.
es eine neuartige globale Entwicklungsarchitektur. Wir müssen feststellen, dass dieses Ministerium im Hin-
blick auf die Bekämpfung von Not und Armut, Frieden
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre EZ, darin und Sicherheit in der Welt, also auch in Europa und in
steckt für viele Menschen viel Herzblut, egal ob im posi- Deutschland, unglaublich wichtig ist.
tiven oder im negativen Sinne. Ich will all denjenigen, die
sich der Aufgabe der Entwicklungspolitik und dem Ziel Die Beiträge zur Krisenprävention sind sehr wichtig.
verschrieben haben, für bessere Verhältnisse zu sorgen, Wenn wir diese Beiträge nicht leisten, können wir die
herzlich danken. Wir brauchen die zukunftsfähige deut- notwendige Zusammenarbeit mit unseren Partnern auf
sche Entwicklungszusammenarbeit. Die Entwicklungs- Augenhöhe nicht sicherstellen. Dabei stellen sich ledig-
zusammenarbeit ist und bleibt ein sinnvoller Bestandteil lich die Fragen: Wie wollen wir Entwicklungszusam-
deutscher Identität. menarbeit gestalten? Welche Bedürfnisse gibt es? Wel-
che Fragen stellen sich? Wie können beide Seiten von
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Entwicklungszusammenarbeit profitieren?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schauen wir uns einmal die Themen an, die in den
und bei der SPD sowie des Abg. Harald vergangenen 50 Jahren eine Rolle gespielt haben. Ur-
Leibrecht [FDP]) sprünglich war von Entwicklungshilfe die Rede. Dieses
Wort ist zum Glück völlig aus unserem Wortschatz ge-
strichen worden. Das war in den Anfängen, in den 60er-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jahren. Damals diskutierte man schon über das Thema
Das Wort erhält nun die Kollegin Sibylle Pfeiffer für Wirtschaftswachstum, das meines Erachtens eines der
die CDU/CSU-Fraktion. wichtigsten Themen überhaupt ist; denn nur über die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Selbstversorgung, über eigene Wertschöpfung und über
neten der FDP) eigenes kreatives Handeln schaffen wir Stabilität, Frie-
den und Sicherheit in der Welt.
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE
(B) Herzlichen Glückwunsch zum 50. Geburtstag, BMZ, GRÜNEN]) (D)
möchte man fast sagen; aber im Vorfeld des 14. Novem- In den 70er-Jahren wurde dem Thema Frauen eine
ber, des Gründungsdatums, zu gratulieren, bringt Un- sehr große Bedeutung beigemessen. Dieses Thema ha-
glück. Ich möchte dem BMZ eigentlich wünschen, viele ben hier zumindest die weiblichen Redner angespro-
weitere Jahrzehnte als selbstständiges Ministerium, als chen. Wer weiß besser als Deutschland, dass die Ent-
der Kanal für die Entwicklungszusammenarbeit, als er- wicklung eines Landes ohne Frauen nicht passieren
folgreicher Kämpfer gegen Armut, Hunger und Not in kann?
dieser Welt zu wirken. Deshalb sage ich nicht „Herzli-
chen Glückwunsch!“, sondern: Viel Erfolg! Deshalb ist es richtig, dass wir Frauen in den Ent-
wicklungsländern unterstützen, aber nicht nur in ihrem
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie eigenen Selbstverständnis und nicht nur über das Thema
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Empowerment, sondern vor allen Dingen über das einfa-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) che, aber wirksame Mittel der Klein- und Kleinstkredite.
Als 1961 dieses Ministerium gegründet wurde, gab es Dabei haben wir mit den Frauen die allerbesten Ergeb-
dafür viele gute Argumente. Man wollte die entwick- nisse erzielt, weil Frauen die Gelder, die man ihnen zur
lungspolitischen Aktivitäten bündeln. Man stellte fest, Verfügung stellt, zielorientiert einsetzen. Sie gehen sorg-
dass sich das Außenministerium mit Entwicklungspoli- fältig mit diesen Geldern um und zahlen diese zu fast
tik beschäftigte, das Innenministerium usw. Das ist heute 100 Prozent wieder zurück. Gleichzeitig haben sie Werte
immer noch oder wieder so, liebe Freunde, auch wenn geschaffen. Sie haben sich Kühe und Ziegen gekauft,
manches anders ist. Darauf möchte ich gleich zurück- Produkte auf den Markt gebracht und damit einen gro-
kommen. Es gibt sehr viele Parallelen zwischen der Ge- ßen Beitrag zum Einkommen der eigenen Familie geleis-
genwart und 1961 und auch 1962, als im Februar oder tet.
März, wenn ich mich recht erinnere, der Ausschuss für Die 80er- und 90er-Jahre waren geprägt durch die
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ge- Themen HIV/Aids, Umwelt, Drogen und Ähnliches.
gründet wurde. Damals ging es um Themen wie: Wer in
welchem Ministerium hat eigentlich die Federführung Ich will jetzt nicht zu lange in der Vergangenheit kra-
bei entwicklungspolitischen Fragen? Wie wird das men, weil es ein Zukunftsthema gibt, das mich sehr be-
Ganze finanziert? Wie grenzt man sich von anderen Res- schäftigt, nämlich das Weltbevölkerungswachstum. Be-
sorts ab? Freunde, da hat sich nicht viel geändert. Darum reits 1972 hat der Club of Rome in einem Bericht auf die
geht es heute auch noch. Insofern gibt es sehr wohl Par- Grenzen des Wachstums hingewiesen und vor unkon-
allelen. Es stellt sich die Frage, ob wir in diesen 50 Jah- trolliertem Bevölkerungswachstum gewarnt. In den Jah-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15505
Sibylle Pfeiffer
(A) ren 1974, 1984 und 1994 fanden Weltbevölkerungskon- 48 Jahre BMZ erlebt haben. Ich denke, das ist auch der (C)
ferenzen statt. Grund, warum der Herr Minister heute zu Recht nicht
spricht – er kann ja nicht etwas feiern, was er gar nicht
Liebe Freunde, wir haben nicht hingehört. Vielleicht so gewollt hat.
haben wir doch hingehört, aber keine politischen Konse-
quenzen daraus gezogen. Wenn wir heute wissen, dass (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
im Oktober der siebenmilliardenste Mensch geboren
wird, wenn wir heute wissen, dass die Weltbevölkerung Deswegen gilt mein Dank all den politisch Verantwort-
im Jahr 2050 auf bis zu 13 Milliarden Menschen ange- lichen, all den Ministerinnen und Ministern, die dieses
wachsen sein wird, wenn es nicht gelingt, die Geburten- Ministerium zu dem gemacht haben, was es heute ist. Auf
rate signifikant zu senken, dann müssen wir heute darauf die großen Verdienste von Erhard Eppler, Egon Bahr und
reagieren, auch im Sinne unserer Kinder und Kindeskin- natürlich auch Heidemarie Wieczorek-Zeul wurde bereits
der. Wir müssen Wege finden, die Geburtenrate zu sen- hingewiesen. Diesen Würdigungen möchte ich mich an-
ken. schließen. Vor allem aber gilt mein Dank sowie der Dank
der SPD-Fraktion allen Helferinnen und Helfern, die fast
Wir müssen uns fragen: Welche Konsequenzen hat 50 Jahre lang – oft unter Einsatz ihres Lebens und unter
dieses Bevölkerungswachstum eigentlich für die Ernäh- schwierigsten Bedingungen – ihre Arbeit für die ärmsten
rungssituation der Menschen in den Entwicklungslän- Menschen geleistet haben. Ich glaube, das ist unser aller
dern, dort, wo das Bevölkerungswachstum stattfindet? Anerkennung wert.
Was bedeutet es für uns in Deutschland? Wir haben eine
sinkende Bevölkerungszahl und eine alternde Gesell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schaft. Das gilt im Übrigen auch für die Schwellenlän- der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
der. Was bedeutet das für die Nutzung von Ressourcen? BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Was bedeutet das für die Wasserversorgung, aber auch
für die Entsorgung? Ich selbst bin seit knapp zehn Jahren in diesem Be-
reich tätig und habe auf vielen Reisen Menschen ken-
Megacities und Slums und die damit verbundenen ge- nengelernt, die beispielsweise in Gebieten, in denen frü-
sellschaftlichen Probleme sind die Folgen. Die jüngsten her Bürgerkrieg herrschte, versuchen, Täter und Opfer
Entwicklungen im Norden Afrikas, in Tunesien, in zusammenzubringen. Daher weiß ich, wie schwer es ist,
Ägypten und in Algerien, haben auch etwas damit zu eine solche Arbeit zu verrichten. Das ist auch emotional
tun, dass es dort sehr viele junge Menschen gibt, die teil- schwierig; denn man trifft dort auf Menschen, deren Fa-
weise sehr gut ausgebildet sind. Dass sich daraus soziale milien ausgelöscht wurden, deren Geschwister verge-
Spannungsfelder ergeben, ist doch völlig klar. waltigt wurden und die in einer sehr schwierigen Situa-
(B) tion leben müssen. (D)
Wenn ich einmal das Bevölkerungswachstum bis zum
Jahre 2050 hochrechne, dann weiß ich, vor welchen Pro- Insofern weiß ich, dass wir manchmal auch Instru-
blemen meine Enkeltochter im Jahr 2050 stehen wird. mente einsetzen müssen, die eher im psychologischen
Deshalb müssen wir jetzt schon einige Probleme ange- Bereich wirken. Hier leistet der Zivile Friedensdienst
hen. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe und vor allen Din- eine ganz hervorragende Arbeit,
gen unsere Pflicht, darüber nachzudenken, was wir ent-
wicklungspolitisch jetzt schon tun können – oder auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
„erst“; denn wenn man bedenkt, dass schon im Jahr 1972 DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
darüber diskutiert worden ist, dann kann man von „erst“ LINKEN und der Abg. Sabine Weiss [Wesel I]
reden –, um mit den Problemen fertig zu werden, die auf [CDU/CSU])
uns, auf die internationale Gemeinschaft zukommen.
Wir können die Entwicklungsländer damit nicht alleine indem er mit Psychologen oder zum Teil auf spielerische
lassen, weil das Problem auch uns direkt betrifft. Des- Art, zum Beispiel mit Theatertherapie oder anderen Pro-
halb, liebe Freunde: Lasst uns in Zukunft auch über die- jekten, versucht, den Menschen zu helfen. Herr Minister
ses Problem und eventuelle Lösungen reden. Das wäre Niebel, Sie haben ja heute schon zu „50 Jahre BMZ“ ge-
mein Wunsch für die Zukunft, auch für das Ministerium. redet, indem Sie Phoenix kurz vor dieser Debatte ein In-
terview gegeben haben. In diesem Interview haben Sie
Vielen Dank. gesagt: Ehe ich Tanztherapeuten irgendwohin in die Welt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fliegen lasse, sorge ich lieber dafür, dass in Unternehmen
investiert wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Das liegt auf der gleichen Linie wie das Spiegel-Inter-
Nun erhält der Kollege Sascha Raabe das Wort. view, in dem Sie gesagt haben: Die Entwicklungshelfer
mit ihren Alpaka-Pullovern machen da immer nur so ein
(Beifall bei der SPD) Gedöns; es geht vielmehr darum, den Menschen mit
Wirtschaft und noch mal Wirtschaft zu helfen. – Ich
Dr. Sascha Raabe (SPD): lasse es nicht zu, dass Sie diejenigen, die im Zivilen
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Friedensdienst ihre Arbeit verrichten und dabei trauma-
ren! Wir feiern heute ein Jubiläum – 50 Jahre BMZ –, das tisch verängstigten Menschen helfen – auch mit Mitteln,
es nach dem Willen des aktuellen Ministers eigentlich die Ihnen nicht gleich einleuchten –, verächtlich machen.
gar nicht gegeben hätte; denn dann würden wir nur Diese Menschen leisten eine sehr wichtige Arbeit.
15506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Sascha Raabe


(A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme gehört es (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) natürlich dazu, dass diese finanziert werden müssen. Wir
erleben gerade bei der furchtbaren Dürrekatastrophe in
Wir müssen zurückweisen, wie Sie über Entwicklungs- Ostafrika, dass wir in einigen Teilbereichen aufgrund der
helferinnen und Entwicklungshelfer reden. klimatischen Veränderungen nicht mehr mit den traditio-
Ihr Credo, dass „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“ nellen Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit Men-
das Allheilmittel in der Entwicklungszusammenarbeit ist, schen retten können; denn wenn es fünf Jahre nicht reg-
können wir so nicht teilen. Natürlich hat es wirtschaftli- net, nützt einem Bauern auch ein Bewässerungssystem
che Hilfe auch schon unter Heidemarie Wieczorek-Zeul nichts, auch nicht die besten Werkzeuge und das beste
gegeben, die übrigens das Programm Public-Private-Part- Know-how.
nership eingeführt hat, mit dem wir zusammen mit der
Privatwirtschaft entwicklungsfördernde Projekte vor Ort Wir müssen schauen: Wie kann man die Menschen
unterstützen. vor Hunger und Armut retten? Deshalb müssen wir ei-
nen stärkeren Fokus darauf richten, dafür zu sorgen, dass
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das war leider die Menschen ein existenzsicherndes Mindesteinkom-
ein großer Fehler!) men erhalten. Auch ein Menschenrecht auf Nahrung und
Gesundheit sowie die Errichtung von Gesundheitssyste-
Aber Wirtschaft alleine kann nicht für Entwicklung sor-
gen; denn es kommt immer darauf an, welche Rahmen- men sind dort wichtig. Das kann natürlich nur dann ge-
bedingungen die Wirtschaft hat und wie sie sozialverant- währleistet werden, wenn wir den Ländern, die noch
wortlich abgesichert ist. Deswegen war es so wichtig, nicht genug Möglichkeiten haben, das mit dem eigenen
dass Heidemarie Wieczorek-Zeul das Ministerium zu ei- Steueraufkommen zu erreichen, zum Teil über Mittel
nem Ministerium für globale Strukturpolitik gemacht wie die Budgethilfe eine Chance geben, solche Systeme
hat. zu errichten. Es gehört natürlich auch dazu, dass vor Ort
mehr Steuern erhoben werden.
Wir erleben doch gerade jetzt wieder, was passiert:
Ein Unternehmen wie Nokia wandert erst aus Deutsch- Für alle diese Maßnahmen brauchen wir Geld. Inso-
land nach Rumänien ab, weil die Sozialstandards dort fern, Herr Minister Niebel, ist die ODA-Quote, das Ziel,
niedriger sind und es die Arbeitnehmer dort ausbeuten dass die Industriestaaten im Jahr 2015 einen Anteil von
kann, und dann, wenn diese Standards in Rumänien et- 0,7 Prozent am Bruttonationaleinkommen für Entwick-
was gestiegen sind, wird die Produktion nach Indien und lungszusammenarbeit ausgeben, nicht irgendetwas Abs-
China verlagert. Insofern ist das Hohelied auf die Wirt- traktes; es ist konkret dafür da, Menschenleben zu retten.
schaft nicht allein das, was den Menschen nützt. Wenn Sie einen Aufruf von 365 Abgeordneten hierzu in
(B) einer Art und Weise ignorieren, wie sich dies im Haus- (D)
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wer sagt das halt widerspiegelt, dann ist das nicht nur Ignoranz ge-
denn?) genüber dem Parlament und den Abgeordneten der eige-
Wir müssen endlich dafür sorgen, dass die Gewinne der nen Fraktion, sondern auch eine Schande für die vielen
Globalisierung den Menschen zugutekommen, die sie Menschen, die in Hunger und Armut leben; Sie tragen
erarbeitet haben. Deswegen brauchen wir dort Regeln, dazu bei, dass diese Menschen hungern. Deswegen, Herr
Herr Minister. Minister: Steuern Sie um und sorgen Sie endlich dafür,
dass den ärmsten Menschen das Geld zur Verfügung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steht, das wir ihnen seit Jahren versprechen!
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es wird unsere Aufgabe in den nächsten Jahren im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit sein, vor al- Ich weiß, dass es in vergangenen Jahren auch für so-
lem dafür zu sorgen, dass soziale Standards wie die ILO- zialdemokratische Entwicklungsminister nicht immer
Kernarbeitsnormen, selbstverständlich die Menschen- leicht war, eine ODA-Quote von 0,7 Prozent zu errei-
rechte, aber auch gewisse soziale Sicherungssysteme, chen.
Mindestlöhne und Umweltstandards auch in Entwick-
lungsländern durchgesetzt werden. Das muss man über (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
das scharfe Schwert der Freihandelsabkommen der Eu- der FDP)
ropäischen Union machen. Es ist ganz wichtig, dass wir
da sagen: Nur Länder, die sich diesen Spielregeln unter- – Ja, es war schwierig, es zu erreichen. – Erhard Eppler
werfen, die sich verpflichten, dafür zu sorgen, dass keine ist damals sogar zurückgetreten, weil ihm der Mittelauf-
Kinderarbeit und keine Sklavenarbeit stattfinden und wuchs nicht ausreichte. Wir hatten mit Heidemarie
Koalitionsfreiheit herrscht, dürfen mit Europa Handel Wieczorek-Zeul immer eine Ministerin, die gekämpft
betreiben. Das wird unsere große Aufgabe sein. Wir hat wie eine Löwin. Sie hat gesagt: Ich brauche 1 Mil-
brauchen hier nicht Liberalisierung, sondern endlich Re- liarde Euro. – Dann waren es am Ende vielleicht nur
geln für die Menschen, die hart arbeiten und unsere Soli- 700 Millionen Euro.
darität und Unterstützung brauchen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Norbert Lammert:
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lieber Herr Kollege.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15507

(A) Dr. Sascha Raabe (SPD): halb ist das heute aus meiner Sicht die Stunde des Parla- (C)
Aber was machen Sie, Herr Minister? Sie kämpfen ments und nicht die Stunde von Ministern.
nicht einmal.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- der CDU/CSU)
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Entwicklungspolitik ist heute meines Erachtens glo-
NEN)
bale Zukunftspolitik. Sie trägt im Endeffekt dazu bei, die
Obwohl es 365 Abgeordnete gibt, die für die Aufsto- knappen Ressourcen gerechter zu verteilen und unsere
ckung Ihres Haushalts sind, kommen Sie hier mit einem Umwelt für die nächsten Generationen zu bewahren.
Haushalt, der einen lächerlichen Aufwuchs zu verzeich- Durch Entwicklungspolitik sollen wir Krisen und Kon-
nen hat. Sie versuchen auch noch, das schönzurechnen. flikte friedlich bewältigen und die Armut weltweit be-
Sie sagen: In der Finanzplanung hatten wir eine Kürzung kämpfen. Darüber sind wir uns über die Parteigrenzen
um Hunderte Millionen Euro vorgesehen. Deshalb gebe hinweg eigentlich alle einig. Entwicklungspolitik kann
es im Haushalt angeblich einen Aufwuchs um 750 Mil- nur dann erfolgreich sein, wenn die Wirtschaft, die Zivil-
lionen Euro. gesellschaft und die Politik sich gemeinsam engagieren;
denn nur gemeinsam können wir diesen globalen Heraus-
Präsident Dr. Norbert Lammert: forderungen begegnen. Die unterschiedlichsten Kräfte
Lieber Herr Kollege. unserer Gesellschaft sollten wir dabei integrieren. Dies-
bezüglich gebe ich Ihnen recht; das ist ein großes Zu-
kunftsfeld.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Tricksen, Täuschen: Das ist, was Sie können, Herr Deshalb ist es in der Gegenwart wichtig, dass wir uns
Minister Niebel. Sie vernebeln, aber Sie helfen den auf Schlüsselpositionen konzentrieren und dort unsere
ärmsten Menschen nicht. Kräfte bündeln, wo wir am schnellsten zu Erfolgen kom-
men können. Ich vertrete die Überzeugung, dass bei der
In diesem Sinne hoffe ich für die nächsten 50 Jahre
Entwicklungspolitik auch unsere Werte und unsere Inte-
Entwicklungszusammenarbeit, dass sie spätestens 2013
ressen eine Rolle spielen sollen. Der Mensch steht im
wieder in verantwortungsvollen Händen liegt, am besten
Mittelpunkt der Zusammenarbeit. Das heißt, wir müssen
in sozialdemokratischen Händen.
vor allem bei der Bildung ansetzen; denn Wissen ist der
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist ja Schlüssel zur Überwindung von Armut, und ohne Wis-
peinlich!) sen ist Armut nicht zu überwinden. Erst die Bildung er-
öffnet den Menschen Chancen, ihr Leben mitzubestim-
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
(B) men und es frei von Not zu gestalten. (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN)
Uns geht es darum, dass wir unsere Innovationskompe-
Präsident Dr. Norbert Lammert: tenzen in andere Länder befördern; denn nicht nur wir in
Das Wort hat nun der Kollege Joachim Günther für Deutschland, sondern auch unsere Partnerländer müssen
die FDP-Fraktion. langfristig denken und planen, um die Zukunft sichern
zu können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Ich möchte deshalb einige Schlüsselbereiche neben
der Bildung ansprechen. Frau Wieczorek-Zeul, Sie ha-
ben Afrika erwähnt. Afrika ist für uns der Kontinent der
Joachim Günther (Plauen) (FDP):
Chancen und Herausforderungen. Er liegt vor unserer
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- Tür. Wir müssen durch kluge Zusammenarbeit die Ar-
nen und Kollegen! Meine Vorredner haben bereits deut- mut senken, das Gesundheitswesen ausbauen und Pro-
lich dargelegt, dass es in den vergangenen 50 Jahren eine duktionsmöglichkeiten vor Ort schaffen; denn damit ge-
kontinuierliche Verbesserung in der Entwicklungszu- ben wir den Menschen in ihren Heimatländern eine
sammenarbeit Deutschlands gegeben hat. Herr Raabe, Chance, ihre Zukunft zu gestalten und ihre Existenz zu
bisher waren alle Beiträge relativ sachlich gehalten. Ich sichern.
weiß nicht, was Ihre letzten Darlegungen sollten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Peinlich war
das!) Wir müssen in den Entwicklungsländern vor allem
zukunftsfähige Möglichkeiten zur Energiegewinnung
Ich glaube, wir sollten gemeinsam nach vorne schauen
entwickeln und ausbauen; denn erst dadurch wird es
und uns nicht mit solchen Dingen beschäftigen.
möglich, in den Regionen, in denen keine Energieversor-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gung vorhanden ist, die Lebensumstände zu verbessern.
CDU/CSU – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/ Das ist der Kreislauf „Energie – sauberes Trinkwasser –
CSU]: Ja! Das sehe ich auch so!) Gesundheit“. Das ist für viele Regionen dieser Welt ganz
wichtig und eine große Chance für uns.
Ich bin der Überzeugung, dass es vor 50 Jahren sehr
vorausschauend war, ein solches Ministerium zu etablie- Die Innovationspotenziale Deutschlands sollten wir
ren. Die Initiative ging damals vom Parlament aus. Des- für den Klimaschutz insgesamt nutzen. Das könnte das
15508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Joachim Günther (Plauen)


(A) Weltklima beeinflussen. Das nenne ich nur als Stich- liche Rahmenbedingungen für unternehmerische (C)
wort. Handlungen, damit in diesen Ländern überhaupt gear-
beitet werden kann, und Chancen für neue Märkte mit
Herr Raabe, es ist anders, als Sie es gesagt haben: Wir effizienten und klimaverträglichen Produkten.
engagieren uns nicht nur im wirtschaftlichen Bereich,
sondern auch in den fragilen Ländern; denn nur wenn Ich wäre froh – darin besteht der Unterschied –, wenn
wir investieren, wenn wir in die Meinungsbildungs- und viele dieser Initiativen das Siegel „Made in Germany“
die Demokratisierungsprozesse einsteigen, haben wir die tragen würden. Denn dieses Zusammenspiel ist effektive
Chance, den weltweiten Frieden praktisch zu sichern. Entwicklungspolitik im Interesse der Geber- und der
Nehmerländer. Das wird die Zukunft sichern.
(Beifall des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP])
Herzlichen Dank.
Diese Schlüsselbereiche wählen wir, weil wir in die-
sen Bereichen unseren Werten entsprechend arbeiten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
können. Das sind Bereiche, die auch in unserem eigenen
Interesse sind; denn wachsender Wohlstand in den Part- Präsident Dr. Norbert Lammert:
nerländern gewährleistet internationale Stabilität. Als Das Wort hat nun der Kollege Movassat für die Frak-
Exportnation brauchen wir die Globalisierung dieser tion Die Linke.
Stabilität; denn sie schafft für alle Menschen die Chance,
friedlich miteinander auszukommen und im Austausch (Beifall bei der LINKEN)
zu arbeiten. Wenn es aber zum Konflikt zwischen Wer-
ten und Interessen kommt – auch das möchte ich deut- Niema Movassat (DIE LINKE):
lich sagen –, dann stehen die Werte an erster Stelle. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bertolt
Menschenrechte dürfen nicht zur Disposition stehen. Brecht schrieb einmal:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Reicher Mann und armer Mann
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- standen da und sahn sich an.
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Und der Arme sagte bleich:
Die Nichtregierungsorganisationen, die Unternehmer Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.
und die Privatleute haben viele gute Ideen und eine hohe Brecht wusste schon vor über 50 Jahren, dass herr-
Bereitschaft, sich für eine bessere Welt zu engagieren. schende Politik kein Interesse daran hat, Strukturen zu
Das merken wir tagtäglich auf vielen Veranstaltungen. verändern. Genau das denke ich auch, wenn ich auf
Ich bin der Überzeugung, dass das BMZ eine Bühne da- 50 Jahre deutsche Entwicklungszusammenarbeit zurück-
(B) für werden sollte. Diese vielfältigen gesellschaftlichen blicke. (D)
Engagements sollten besser koordiniert und gelenkt wer-
den. Aus diesem Grunde finde ich es absolut positiv, (Beifall bei der LINKEN)
dass es endlich gelungen ist, die Vorfeldorganisationen Die Wahrheit ist doch: Der Bundesregierung fehlt der
neu zu sortieren und somit ein besseres und einheitliches politische Wille, Armut und Hunger von der Weltkarte
Erscheinungsbild in der Welt herzustellen. zu tilgen. Das offensichtlichste Beispiel dafür ist, dass
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie von der Regierung das internationale Versprechen
gebrochen haben, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-
Moderne Entwicklungsarbeit ist nicht nur, wie man so mens für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben.
sagt, das Abspeisen von Armen. Wir haben es in der Re- Obwohl dieses Versprechen 40 Jahre alt ist, sind wir von
gel mit intelligenten Menschen zu tun, die das Recht ha- diesen 0,7 Prozent meilenweit entfernt. Wir erreichen
ben, für sich selbst zu sorgen. Unsere Aufgabe ist es, ih- heute gerade einmal 0,38 Prozent. Mittlerweile ist der
nen die Möglichkeit einzuräumen, durch Bildung und Nachholbedarf so groß, dass fast 2 Milliarden Euro
den Aufbau ihrer Strukturen zu diesem Recht zu kom- draufgesattelt werden müssten. Das Pech der Entwick-
men. lungsländer ist aber, dass sie keine kriselnden, systemre-
levanten Banken sind. Ansonsten hätten alle anderen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Fraktionen längst das Zehnfache draufgesattelt. Das ist
Bei dieser Gesamtbetrachtung dürfen wir den Klima- der eigentliche politische Skandal.
wandel nicht aus den Augen verlieren. In diesem Zusam-
(Beifall bei der LINKEN)
menhang möchte ich die gegenwärtige Hungersnot nach
der Dürreperiode am Horn von Afrika nennen. Das BMZ Doch es ist keine reine Geldfrage. Es sind strukturelle
sollte mit unseren Partnern innovative, effiziente und Gründe, die Armut in der Welt schaffen. Die Bundesre-
flexible Lösungen für diese Probleme entwickeln und gierung setzt auf falsche Politikrezepte, und zwar wider
auch andere Zukunftsfragen einbeziehen. Es gilt also, besseres Wissen. Zwei Beispiele:
unsere Partner in den Regierungen, der Wirtschaft und
der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass dies die Herr Niebel fordert gerne Hilfe zur Selbsthilfe. Das
Weichenstellung für die Zukunft sein muss. ist nicht neu, sondern eine Idee aus den 70er-Jahren. Da-
mals wurden den Entwicklungsländern Aktionspro-
Auf folgende drei Bereiche müssen wir uns konzen- gramme wie „Gesundheit für alle“, „Arbeit für alle“ oder
trieren: Chancen auf Arbeitsplätze und damit Einkom- „Nahrung für alle“ aufgedrängt. Gelder zur Veränderung
men in den Entwicklungsländern, Chancen auf verläss- der Rahmenbedingungen fehlten allerdings. Die Lehre
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15509
Niema Movassat
(A) daraus war: Hilfe zur Selbsthilfe ist richtig, funktioniert Auch das Landwirtschaftsministerium ist gefragt. Es (C)
aber nur, wenn die Entwicklungsländer Mittel an die muss die Agrarexportsubventionen bekämpfen. Schauen
Hand bekommen, um die Strukturen für Bildung, Ge- Sie nach Ghana. Da werden Sie sehen, wie deutsche
sundheit und Ernährung selbst aufzubauen. Das interes- Hähnchenschenkel die lokalen Märkte zerstören, weil
siert diese Regierung aber nicht. Sie hat die Budgethilfe sie dank Subventionen billiger sind als die Ware der ört-
– die einzigen Mittel, über die die Entwicklungsländer lichen Bauern. Auch Agrarexportsubventionen gehören
relativ eigenständig verfügen können – zusammengestri- deshalb endlich verboten.
chen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Harald Leibrecht [FDP]: Aus guten Grün- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
den!) GRÜNEN)
Ich sage Ihnen, Herr Niebel: Zwingen Sie den Partner- Auch die Kanzlerin ist gefragt. Statt deutsche Pa-
ländern nicht länger Ihre Programme auf. Bauen Sie trouillenboote an Angola zu verkaufen, sollte sie sich für
stattdessen die Budgethilfeprogramme aus. Schenken zivile Aufbauhilfe einsetzen.
Sie den Entwicklungsländern – Ihren Partnern auf Au- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
genhöhe, wie Sie immer so schön sagen – Vertrauen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- GRÜNEN)
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Es gibt in Afrika keinen einzigen Konflikt, bei dem deut-
GRÜNEN) sche Waffen fehlen. Deutsche Waffen morden mit in al-
Mein zweites Beispiel betrifft die Marktöffnungspoli- ler Welt. Nichts verhindert Entwicklung mehr als Krieg.
tik, die diese Bundesregierung betreibt. Das ist auch Deshalb brauchen wir das Ende von Waffenexporten.
nichts Neues, sondern bekannt aus den 80er-Jahren unter (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
dem Titel „Strukturanpassungsmaßnahmen“. Diese hat- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
ten katastrophale Folgen. Die Entwicklungsländer wur- GRÜNEN)
den zur Öffnung ihrer Märkte gezwungen. Sie mussten
Subventionen für Lebensmittel streichen, Ausgaben für Die Bundesregierung sollte den heutigen Tag, näm-
Bildung und Gesundheit kürzen, und sie mussten privati- lich 50 Jahre deutsche Entwicklungszusammenarbeit,
sieren. In der Folge vervierfachte sich die Arbeitslosig- für eine Änderung ihres entwicklungspolitischen Kurses
keit in Afrika. Der Reallohn fiel um ein Drittel. Die nutzen; denn sonst werden die schrecklichen Bilder aus
Lehre daraus war: Marktöffnung und Privatisierung sind Somalia, aus Kenia nicht die letzten ihrer Art sein. Geht
(B) der falsche Weg. es weiter wie bisher, wird weiter alle sechs Sekunden ein (D)
Kind an Unterernährung sterben. Geht es weiter wie bis-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- her, wird Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderbericht-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE erstatter für das Recht auf Nahrung, mit seinem Satz:
GRÜNEN) „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet“, recht
Ich sage Ihnen, Herr Niebel: Hören Sie auf, die Aus- behalten. Es ist an Ihnen, Herr Niebel, endlich einen Bei-
zahlung von Entwicklungsgeldern an den Abschluss von trag zu leisten, dieses Morden zu beenden.
Freihandelsabkommen, also an Marktöffnungen, zu kop- Danke.
peln. Das ist Erpressung.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN)
Tragen Sie stattdessen dazu bei, dass die Entwicklungs-
länder ihre Märkte durch Zölle schützen. Nur durch zu- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sätzliche Zolleinnahmen können die Entwicklungsländer Das Wort hat nun der Kollege Hartwig Fischer.
Schulen und Krankenhäuser aufbauen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Entwicklungspolitik muss umfassend sein. Das Han- neten der FDP)
deln aller Ministerien muss auf die Erreichung entwick-
lungspolitischer Ziele ausgerichtet sein. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nehmen wir das Finanzministerium: Das wäre zu-
Herr Movassat, Sie können sich gern meine Homepage
ständig für die Verhinderung von Nahrungsmittelspeku-
anschauen: www.30000-kinder-sterben-taeglich.de. Das
lationen. Schauen Sie nach Ostafrika. Da sehen Sie, wel-
ist ein Thema, das alle hier im Hause beschäftigt. Ich
ches Elend hohe Nahrungsmittelpreise verursachen. Die
sage Ihnen: Nicht mit ideologischen Schlagworten
Zockerei mit Weizen und Mais treibt die Preise hoch.
schaffen wir Ernährungssicherung,
Nahrungsmittelspekulationen müssen endlich verboten
werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sondern durch Schwerpunktprogramme wie das Pro-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE gramm für ländliche Entwicklung, Wasser und Energie.
GRÜNEN) Nicht mit ideologischen Schlagworten schaffen wir
15510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Hartwig Fischer (Göttingen)


(A) Selbstverantwortlichkeit und Eigenverantwortlichkeit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
sondern durch Schwerpunktprogramme für Bildung und der FDP – Widerspruch der Abg. Dr. Barbara
berufliche Bildung. Hendricks [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU) Wenn ich das alles zusammenzähle, komme ich zu
dem Ergebnis, dass es jetzt eine positive Ausrichtung
Nicht mit ideologischen Schlagworten schaffen wir gibt, mit der wir optimistisch in die nächsten 50 Jahre
Selbstständigkeit und den Aufbau von kleinen und mitt- gehen können. Ich sage Ihnen: Zum ersten Mal seit zwei
leren Unternehmen, sondern durch Schwerpunktpro- Jahren haben wir die Situation, in der der Begriff „wirt-
gramme zum Beispiel im Bereich der Mikrofinanzen schaftliche Zusammenarbeit“ einen Namen hat: Vielen
und durch Wirtschaftspartnerschaften. Nicht mit ideolo- Dank, Dirk Niebel.
gischen Schlagworten schaffen wir eine an den Men-
schen orientierte Entwicklungszusammenarbeit. Diese (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
christlich-liberale Koalition hat die Zusammenarbeit
entwicklungspolitisch konditioniert, indem wir einen Präsident Dr. Norbert Lammert:
Menschenrechts-TÜV eingeführt haben und gute Das Wort erhält nun der Kollege Thilo Hoppe für die
Regierungsführung zur Grundlage von entwicklungs- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
politischer Zusammenarbeit machen. Dabei haben wir
auch die Korruptionsbekämpfung im Blick. Nicht mit Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ideologischen Schlagworten, Frau Hänsel und Herr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Movassat, Welchen Stellenwert, welches Image, welche Akzeptanz
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Vielleicht in der Bevölkerung Entwicklungszusammenarbeit hat,
mal einen neuen Satzanfang?) das hängt – zum Glück nicht allein, aber auch – vom
Stellenwert des Ministeriums und vom Image des Ent-
schaffen wir in Bürgerkriegsgebieten und in Kriegsge- wicklungsministers ab. Wir haben im Laufe der Jahre
bieten Frieden für die Menschen. ganz unterschiedliche Charaktere und Typen erlebt. Ich
möchte jetzt nicht alle aufzählen, aber aus der langen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Geschichte des BMZ eine Geschichte herausgreifen, ei-
neten der FDP) nen Konflikt zwischen Erhard Eppler und Helmut
Schmidt.
Nicht mit ideologischen Schlagworten schaffen wir es,
dass das Morden, das Vergewaltigen und das Sterben Bei einem Streit am Kabinettstisch soll Eppler den
(B) von Kindern beendet werden, sondern durch militärische Kanzler eindringlich auf negative Auswirkungen eines (D)
und polizeiliche Stabilisierung im Rahmen von UN- geplanten Bundestagsbeschlusses auf die Ärmsten der
Mandaten. Armen in den Entwicklungsländern hingewiesen haben.
Daraufhin soll der Kanzler Eppler an seinen Amtseid er-
Lieber Herr Raabe, mit ideologischen Schlagworten innert haben: Du hast doch geschworen, deine Kraft dem
machen wir auch keine Haushaltspolitik. Ich erinnere Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen
daran – Frau Wieczorek-Zeul hat das sehr selektiv deut- zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. – Eppler
lich gemacht –: Wir haben in der Zeit der rot-grünen Re- ließ sich davon nicht beeindrucken. Er verstand sich be-
gierung Stabilität in den Haushaltsansätzen gehabt. Ja, reits als Weltinnenpolitiker, als Anwalt der globalen Ge-
Sie haben entschuldet, aber wir haben in der Zeit, nach- rechtigkeit, auch als Fürsprecher derjenigen, die unter
dem Angela Merkel die Verantwortung als Kanzlerin ungerechten Verhältnissen massiv leiden. In gewisser
übernommen hat, den Haushalt von 3,9 Milliarden Euro Weise war er ein Exot am Kabinettstisch, ein Außensei-
um über 50 Prozent auf 6,0 Milliarden Euro gesteigert. ter, ein Mahner, aber eine Stimme, die – ohne eigenstän-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diges BMZ, ohne einen eigenständigen Entwicklungsmi-
neten der FDP) nister mit Kabinettsrang – am Kabinettstisch gefehlt
hätte.
Das sollten Sie einmal anerkennen; denn Sie selbst wa- Entwicklungsministerinnen und Entwicklungsminis-
ren in der Großen Koalition daran beteiligt. ter der Sorte Eppler gelten als unbequem und streitbar,
(Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD] meldet sich zu als Weltverbesserer, was die einen als positiv ansehen,
einer Zwischenfrage) die anderen als naiv. Sie geben der Entwicklungszusam-
menarbeit insgesamt das Image: Hier geht es um eine
Es ist doch vollkommen klar, dass es nicht das Geld gute Sache, um Hilfe zur Selbsthilfe, um gelebte Solida-
allein ist, auch wenn es wichtig ist. – Herr Präsident, ich rität.
lasse jetzt keine Zwischenfragen zu. – Vielmehr geht es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
darum – das ist der entscheidende Punkt –, die Effizienz
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
der Entwicklungszusammenarbeit zu steigern. Wir ha-
LINKEN)
ben in dieser Koalition geschafft, was wir in der Großen
Koalition mit Ihnen, Frau Wieczorek-Zeul, nicht hinbe- Man kann manchmal den Eindruck bekommen, dass
kommen haben: die Durchführungsorganisationen zu- der jetzige Entwicklungsminister ein solches Image gar
sammenzuführen und damit eine stärkere Effektivität in nicht haben möchte, dass es ihm im Kreise von führen-
die Entwicklungszusammenarbeit zu bringen. den FDP-Politikern sogar peinlich wäre, als Helfer und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15511
Thilo Hoppe
(A) Rächer der Enterbten zu gelten und einem Gutmen- ganze Menge gehört haben, haben die Industriestaaten (C)
schen- und Gedönsministerium vorzustehen. Deshalb mehr als 2 000 Milliarden für die Förderung der Ent-
bemüht er sich, immer wieder klarzustellen, dass das wicklung in Afrika gezahlt. 2009 hat die G 8 in L’Aquila
BMZ nicht so etwas wie ein Weltsozialamt sei. Er betont beschlossen, 22 Milliarden Dollar zur Förderung der Er-
die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die zu Win-win-Si- nährungssicherung bereitzustellen. Der Bundeshaushalt
tuationen führe. Sein Staatssekretär Beerfeltz sagt immer 2012 wird eine – wenn auch nur bescheidene – Steige-
wieder: Pro Euro, den wir in den Entwicklungsländern rung der ODA-Quote ausweisen. Wer Entwicklungspoli-
investieren, fließen 1,80 Euro in unsere Wirtschaft zu- tik nur nach ausgegebenen Beträgen und finanziellen
rück. Quoten beurteilt, könnte sich jetzt also voller Stolz zu-
rücklehnen. Einige solcher Bemerkungen haben wir im
So gewinnt man Akzeptanz in weiten Teilen der FDP
Laufe des Vormittags schon gehört.
und beim BDI, aber nicht in der breiten Bevölkerung.
Nur: Es gibt ein paar andere Gesichtspunkte, die uns
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
nachdenklich machen müssen. Da ist beispielsweise die
bei der SPD und der LINKEN)
eben angesprochene Hungersnot. Sie ist die größte, die
Denn sie erwartet gar nicht, dass wir an den Entwick- wir in Nordafrika seit den 70er-Jahren erlebt haben. Wir
lungsländern auch noch verdienen; mehrere Umfragen müssen uns mit dem Gedanken abfinden – darauf hat die
haben dies klar bestätigt. Verstehen Sie mich bitte nicht Präsidentin der Welthungerhilfe, als sie in der letzten
falsch, auch dieser Entwicklungsminister hat einiges Woche bei uns war, hingewiesen –, dass wir wohl über
richtig gemacht – Stichwort GIZ –, Jahre hinweg Millionen von Menschen von außen wer-
den ernähren müssen. Ich denke, es genügt nicht – auch
(Beifall der Abg. Helga Daub [FDP])
nicht an einem Tag wie heute, Frau Wieczorek-Zeul –,
und er betont nicht nur das Business, sondern auch das wenn wir die Millenniumsziele nur aufzählen. Vielmehr
Humanitäre und die Menschenrechte. Insgesamt aber sollten wir uns auch die Frage stellen: Was ist daraus ge-
verschiebt die neue Führung die Ziel- und Schwerpunkt- worden?
setzung so sehr in Richtung Wirtschaftsförderung, dass
man eher von einer interessengeleiteten als von einer (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja, ge-
wertegeleiteten Entwicklungspolitik sprechen kann. nau!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Als Beispiel nenne ich das Thema „Ernährung und
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kampf gegen den Hunger“, das zu meinem Aufgabenbe-
LINKEN) reich gehört. Im Jahre 2000 haben wir beschlossen: Wir
wollen die Zahl derjenigen, die von Hunger betroffen
(B) Diese Entwicklung ist nicht ungefährlich. Denn wenn sind, von 900 Millionen auf 450 Millionen zurückführen. (D)
es in diese Richtung weitergeht, dann könnte man auf Wenn Sie dieser Tage aktuelle Berichte lesen, dann stel-
die Idee kommen, zu fragen: Wozu noch ein BMZ? Das len Sie fest, dass es mittlerweile 1 Milliarde Menschen
kann auch gleich die Exportförderabteilung des Wirt- sind. Es gibt heute also mehr Betroffene als damals. Wir
schaftsministeriums erledigen. haben, was die Erreichung dieses Ziels betrifft, keinen
(Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD] – Schritt nach vorn gemacht. Wir haben nichts erreicht.
Zuruf von der FDP: Das haben wir doch ge- Auch das muss man erwähnen; man sollte nicht einfach
klärt!) nur ablesen.

Doch so weit wird es hoffentlich nicht kommen. Viele Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin der
gute Leute im BMZ und fraktionsübergreifend auch Auffassung, dass Entwicklungspolitik nicht nur nach
viele gute Leute im Ausschuss für wirtschaftliche Zu- dem Motto „Viel Geld, viel Ehr’ und viel Fortschritt“
sammenarbeit und Entwicklung werden sich dem entge- funktioniert,
genstellen. Außerdem finden in zwei Jahren – spätestens (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das hat hier
in zwei Jahren – wieder Bundestagswahlen statt. doch keiner gesagt!)
Ich danke Ihnen. sondern dass man sich bei allem Rosarot auch ein wenig
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit den Inhalten beschäftigen muss.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Sie haben es
LINKEN) nicht verstanden!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Um Rupert Neudeck zu zitieren:


Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich für Die Dürrekatastrophen sind ja keine biblischen Pla-
die CDU/CSU-Fraktion. gen. Man kann sie bewältigen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, super! Wie
neten der FDP) denn?)
Das muss man angehen.
Helmut Heiderich (CDU/CSU):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! In den Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Die Israelis ha-
letzten 50 Jahren, über die wir heute Morgen schon eine ben in Kenia von 1995 bis 2000 genau das gemacht, was
15512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Helmut Heiderich
(A) man heute bräuchte: Sie haben in einem Trockengebiet Ich bin der Auffassung, wir sollten dem alten römischen (C)
eine Musterfarm mit einer Größe von 5 000 Hektar auf- Prinzip „Do ut des“ wieder etwas mehr Stellenwert bei-
gebaut. Dort haben sie mit modernsten Methoden und messen. Was meine ich damit? Wir sollten vor allem dort
mit eigens gezüchtetem Saatgut versucht, den Dürren, Projekte durchführen und investieren, wo wir nachprüf-
die es zeitweise gab, zu begegnen und die Ernährungssi- bare Verbesserungen für die Bevölkerung erwarten kön-
cherung zu gewährleisten. Sie haben das Projekt im nen. Das heißt aus meiner Sicht eben gerade nicht, dass
Jahre 2000 der Universität von Nairobi übergeben. Ein wir große Beträge bereitstellen nach dem Motto „Ihr
halbes Jahr später war die Vorzeigefarm zugrunde ge- werdet das schon richtig machen“, sondern dass wir mit
wirtschaftet. Alles, was beweglich war, war verschwun- den Partnern vorher vereinbaren, was wir Schritt für
den und in Privateigentum überführt. Schritt erreichen wollen,
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Was Sie da (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ha-
wieder erzählen! Das ist doch absurd!) ben wir gemacht!)
Ganz aktuell – deswegen habe ich dieses Beispiel ge- dass wir die einzelnen Schritte überprüfen und dass wir
wählt – ist die Regierung von Kenia dabei, dieses Vorha- dort, wo wir erfolgreich sind, diese Schritte fortsetzen,
ben wiederzubeleben und mit neuen Investitionen genau aber dort, wo wir nicht erfolgreich sind, prüfen, warum
das zu machen, was damals leider schiefgegangen ist. wir nicht erfolgreich waren und ob wir einen anderen
Ein Mitarbeiter der Caritas in Uganda hat geschrie- Weg gehen können. Das heißt aber auch, Frau
ben: Das Land ist fruchtbar, aber es fehlt eine Strategie. Wieczorek-Zeul, dass wir, wenn wir zu keinem gemein-
Es fehlt die Investition in eine leistungsfähige Landwirt- samen Ergebnis kommen, sagen müssen: Hier müssen
schaft. – Einige von uns haben gehört, was der Präsident wir unsere Beteiligung beenden.
des IFAD vor zwei Tagen im Ausschuss gesagt hat. Er (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ha-
hat deutlich gemacht: Wir – nicht nur wir, die Deut- ben wir schon gemacht!)
schen, sondern wir als Industriegesellschaft – haben an
dieser Stelle in den letzten Jahren gemeinsam versagt. Wir müssen in diesem Hause dann auch den Mut haben,
Wir müssen mehr in die Kleinbauern, die weltweit etwa dies gemeinsam zu vertreten.
70 Prozent der Landwirte ausmachen, investieren. Aber
diese Investitionen sind nicht im Sinne der Lebenserhal- Präsident Dr. Norbert Lammert:
tung oder in Richtung Subsistenzlandwirtschaft zu täti- Herr Kollege!
gen. Vielmehr müssen wir den Kleinbauern ermögli-
chen, für den Markt produktiv zu werden. Wir müssen
(B) ihnen die Möglichkeit verschaffen, dass sie ihre eigenen Helmut Heiderich (CDU/CSU): (D)
Produkte verkaufen können, dass sie Geld verdienen Meine Redezeit ist beendet.
können, dass Entwicklung im ländlichen Raum und Ar- Ich glaube, wir bewegen uns auch in der Entwick-
beitsplätze entstehen, sodass wir auf diesem Weg aus lungspolitik auf eine Neuausrichtung zu. Wir sollten
dem Dilemma herauskommen, in dem wir noch immer nach den vergangenen 50 Jahren die Gelegenheit nutzen,
stecken. die Neuausrichtung für die nächsten zehn Jahre einzulei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten. Ich hoffe hierbei auch auf Ihre Unterstützung.
der FDP)
Vielen Dank.
Es gibt eine Vielfalt von Argumenten. Aber ob Sie
beim Committee for World Food Security nachfragen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ob Sie die Ergebnisse der L’Aquila-Konferenz zitieren
oder ob Sie die FAO fragen – überall wird dasselbe Ar- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gument angeführt: Wir haben diesen Bereich über Jahr- Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
zehnte hinweg sträflich vernachlässigt, und wir müssen die Kollegin Sabine Weiss für die CDU/CSU-Fraktion.
hier dringend einen anderen Weg einschlagen, und zwar
einen Weg nach vorne. Deshalb ist es richtig – das sage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ich noch einmal ausdrücklich in Bezug auf die Debatte neten der FDP)
über die Bundesregierung und Herrn Niebel –, dass die
Bundesregierung mit dem Koalitionsvertrag einen Kurs- Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU):
wechsel eingeleitet hat, um das Thema „Ländliche Ent- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
wicklung“ wieder zu einer Priorität der Politik zu ma- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viel ist heute und
chen. hier über die Geschichte der Entwicklungszusammenar-
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Haben beit, über Geld und über Effizienz gesprochen worden.
wir schon gemacht!) Das sind sicherlich wichtige Themen, über die wir dis-
kutieren müssen. Ich aber möchte die Gelegenheit, dass
Ich hoffe, dass Sie alle dies unterstützen werden. wir uns in einer Kernzeitdebatte befinden, nutzen, um
die Entwicklungszusammenarbeit von abstrakten Begrif-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fen wie multi- oder bilateral herunterzubrechen auf die
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Argumenten Geschichte eines Lebens. Ich möchte von dem kurzen
sagen. Es geht um die Frage, wie wir verfahren sollen. Leben von Emanuel erzählen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15513
Sabine Weiss (Wesel I)
(A) Emanuel wurde am 7. August 2011 mit einer Lippen- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist (C)
Kiefer-Gaumenspalte geboren, sodass er nicht richtig es!)
Nahrung aufnehmen konnte. Emanuels Pech war, dass er
mit dieser Behinderung nicht in Deutschland geboren Aber unser Haushalt für wirtschaftliche Zusammenarbeit
wurde, sondern in einem philippinischen Dorf am Rande und Entwicklung ist mit 6,33 Milliarden Euro im Ent-
des Dschungels. So hat Emanuel auch nur bis zum wurf – das können wir nicht übersehen – wieder einmal
12. September 2011 gelebt. In Deutschland wäre Ema- ein Rekordhaushalt.
nuel aufgrund der medizinischen Möglichkeiten noch (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Er sta-
am Leben. gniert!)
Jeden Tag – das wissen wir Entwicklungspolitiker – Vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslage,
sterben 21 000 Kinder an vermeidbaren oder behandel- in der wir uns befinden, der Euro-Krise und der Schul-
baren Krankheiten, zum Beispiel an Durchfall oder Lun- denbremse ist das zunächst ein Erfolg. Ich bin sicher, die
genentzündung. Das sind immerhin mehr als 7,5 Millio- meisten Kolleginnen und Kollegen würden liebend
nen Kinder im Jahr. Viele sterben, weil sie eben nicht in gerne noch mehr Geld für die Entwicklungszusammen-
München oder Düsseldorf, sondern in Mogadischu oder arbeit geben.
Addis Abeba geboren wurden.
(Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD] meldet sich zu
Ich habe Emanuel persönlich kennengelernt. Damit einer Zwischenfrage)
hat das ansonsten häufig namenlose Leiden von millio- – Herr Raabe, lassen Sie mich einfach meinen Gedanken
nenfach vermeidbarem Sterben für mich plötzlich ein weiterführen; dadurch wird Ihre Frage wahrscheinlich
konkretes Gesicht und einen Namen bekommen. Wir beantwortet werden.
alle sind uns einig: Es ist ein Skandal, dass sich der ver-
meidbare und millionenfache Tod von Kindern und Er- 365 Abgeordnete, also mehr als die Hälfte, haben den
wachsenen in den armen Ländern jeden Tag still und entwicklungspolitischen Konsens unterschrieben, und
leise vollzieht, ohne dass es hier zu einem Aufschrei der das sicherlich nicht leichtfertig, sondern aus Überzeu-
Empörung kommt. Daher möchte ich an dieser Stelle gung.
ausnahmsweise nicht nur um mehr Geld für die Entwick-
lungszusammenarbeit werben, sondern auch um mehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Aufmerksamkeit. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei
Wir alle wissen, dass derzeit nicht die Zeit der anwach-
(B) Abgeordneten der SPD) (D)
senden Haushalte ist.
Es reicht eben nicht, wenn wir höchstens einmal vor ho- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Muss es
hen Feiertagen oder aktuell bei großen Katastrophen an aber sein!)
die Armen dieser Welt und ihr Leid denken und dann
einfach wieder zur Tagesordnung übergehen; denn so Dass der Entwurf für den Entwicklungsetat zunächst
werden wir den Menschen nicht gerecht. Daher mein wieder – im Gegensatz zu fast allen anderen Bereichen –
Appell heute an Sie und auch an die Zuschauer draußen: eine Steigerung vorsieht, zeigt doch, welchen Stellen-
Helfen Sie mit, denen, die wenig Stimme besitzen und wert die erfolgreiche deutsche Zusammenarbeit genießt.
deren Leiden sich still und leise vollzieht, Gehör zu ver-
schaffen. Es braucht viel mehr Aufmerksamkeit und Be- Wir haben in den letzten 50 Jahren viel erreicht. Den-
wusstsein dafür, zu erkennen, dass es in vielen Teilen noch wünscht sich mein entwicklungspolitisches Herz,
unserem Versprechen schnell und fühlbar näher zu kom-
dieser Erde um die Lebensbedingungen vieler Menschen
men
nicht gut bestellt ist.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Das Parlament ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/
Öffentliches Bewusstsein und Empörung erhöhen auch CSU und der FDP)
den Handlungsdruck auf uns Politiker. Das ist dann so-
zusagen der Rückenwind aus der Bevölkerung für uns und es vielleicht im Jahr 2015 tatsächlich zu erfüllen. Ich
Entwicklungspolitiker, damit neben all den anderen weiß, es ist nie genug Geld für alles Erstrebenswerte und
wichtigen Themen auch die Themen der Entwicklungs- Notwendige da; aber Geld in der Entwicklungszusam-
politik den Stellenwert erhalten, den sie angesichts der menarbeit trägt eben auch dazu bei, viel, viel Leid zu lin-
massiven Herausforderungen auch verdienen. dern.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Mein Fazit: Ich wünsche mir eine breitere Unterstüt-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- zung und noch größere finanzielle Anstrengungen, um
geordneten der FDP) all die unglaublichen Ungerechtigkeiten noch tatkräfti-
ger und entschlossener an der Wurzel packen zu können.
Aufmerksamkeit ist die eine Seite der Medaille, mehr Gesteigertes Bewusstsein erhöht den Handlungsdruck in
Geld ist die andere. Ja, wir brauchen mehr Koordination den Ländern weltweit und hier bei uns. Mehr Aufmerk-
zwischen Geberländern und den NGOs. Wir brauchen samkeit erhöht die Zahl der Mitkämpfer. Empörung
mehr Effizienz, aber wir brauchen eben auch mehr Geld. führt zu mehr Tatendrang. Von all dem brauchen wir
15514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Sabine Weiss (Wesel I)


(A) möglichst reichlich, damit der Skandal des millionen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C)
fach vermeidbaren Sterbens endlich ein Ende hat. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt genügend
Leute, die zu diesem Thema forschen!)
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Diese Art von Vogel-Strauß-Politik ist gefährlich. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ignoriert nicht nur, dass mittlerweile jeder achte Rentner,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jede achte Rentnerin in Deutschland armutsgefährdet ist;
vor allem verstreicht wertvolle Zeit, die wir bräuchten,
Präsident Dr. Norbert Lammert: um dem Problem zu begegnen und entsprechend vorzu-
Ich schließe die Aussprache. beugen. Wer das heute ignoriert, der agiert gegen den ge-
sunden Menschenverstand und gleichzeitig bewusst ge-
Beschlüsse oder Überweisungen sind dazu nicht vor- gen die Realität, frei nach dem Motto: Die alten Armen
gesehen, sodass wir gleich zum nächsten Tagesord- werden schon nicht auf die Straße gehen. – Frau von der
nungspunkt kommen können.
Leyen, auch wenn Sie es nicht hören wollen: Altersar-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf: mut bekämpft man nicht mit Minimallösungen im Ren-
tensystem, die nicht einmal mit dem Finanzminister ab-
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten gestimmt sind, und auch nicht mit ein paar Interviews
Katrin Göring-Eckardt, Dr. Wolfgang Strengmann- und in Talkshows.
Kuhn, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Armut im Alter ist deswegen besonders schwerwie-
gend, weil sich die Armen im Alter nicht mehr aus dieser
Altersarmut in Deutschland Situation befreien, die Armut nicht aus eigener Kraft
– Drucksachen 17/3139, 17/6317 – überwinden können. Wer im Alter arm ist, wird es ver-
mutlich bis zum Lebensende bleiben. Das war übrigens
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch einer der Gründe für die Einführung der Riester-Rente,
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Das ist die gerade bei Beziehern kleiner und mittlerer Einkom-
offenkundig nicht umstritten und damit so beschlossen. men Wirkung zeigt. Aber das reicht eben nicht aus.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Natürlich ist Altersarmut in erster Linie auf einen Man-
nächst der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Frak- gel an Einkommen zurückzuführen. Aber diese eindimen-
tion Bündnis 90/Die Grünen. sionale Betrachtungsweise, die auch in der Handlungs-
weise der Bundesregierung zum Ausdruck kommt,
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ignoriert die vielfältigen zusätzlichen Benachteiligungen
(B) NEN): der Alten. Die Folgen sind häufig Vereinsamung, schlechte (D)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wohnsituation, mangelhafte medizinische Versorgung,
Nachdem kurz vor den Haushaltsberatungen hektisch ein Beschränkung bei Ernährung, Kleidung und Mobilität,
Rentendialog geschaffen worden ist, debattieren wir also dem Aktionsradius. Inzwischen wissen wir aus Stu-
heute die ausführliche Große Anfrage von Bündnis 90/ dien: Es gibt die gefühlte und wohl auch reale Machtlo-
Die Grünen und die Antwort der Bundesregierung. sigkeit, die eigene Situation zu verändern, Rechte durch-
zusetzen, auch politisch einzufordern, und nicht zuletzt
Unsere zweite Frage an die Bundesregierung lautet: das Gefühl, Bürgerin oder Bürger zweiter Klasse zu sein.
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Al- Alte, die sich gar nicht mehr trauen, ihre Ansprüche gel-
tersarmut in den nächsten Jahren zu einem Problem tend zu machen, sie laut auszusprechen, befinden sich in
wird bzw. ein Problem bleibt? der Situation der verdeckten Armut. Das ist ein zusätzli-
cher Skandal; das ist Folge einer solchen Politik.
Darauf antwortet die Bundesregierung:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Es gibt bisher keine seriöse Studie, die die zukünf- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
tige Entwicklung von Personen, deren Gesamtalters-
einkommen unterhalb der Grundsicherung liegt, Die OECD hat bescheinigt: Deutschland gehört inter-
zahlenmäßig verlässlich vorhersagt. national zu den Schlusslichtern bei der Alterssicherung
von Geringverdienern.
Auf die Frage: „Hat die Bundesregierung die Absicht,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Traurig!
Studien … in Auftrag zu geben?“ antwortet die Bundes-
Traurig!)
regierung:
Für 6,5 Millionen Menschen aus dem Niedriglohnbereich
Nein, die Bundesregierung hat nicht die Absicht,
ist die Altersarmut schon heute vorprogrammiert. Unter
Studien zum Thema „Entwicklung der Altersar-
diesen 6,5 Millionen Menschen sind vor allem Frauen;
mut“ in Auftrag zu geben.
denn 69 Prozent der Niedriglöhner sind Frauen.
Wenn dieses „Nein, die Bundesregierung hat nicht die
Herbert Rische, der Präsident der Deutschen Renten-
Absicht“ ein Nein von Walter Ulbricht wäre, könnten
versicherung, stellte diese Woche fest:
wir uns Hoffnungen machen. Das ist es aber nicht. Daher
müssen wir wahrscheinlich annehmen, dass sich die Klar ist: Wenn jemand sein Leben lang zu geringen
Bundesregierung mit diesem Thema überhaupt nicht be- Löhnen arbeitet, wird er vermutlich auch im Alter
schäftigen will. keine auskömmliche Rente haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15515
Katrin Göring-Eckardt
(A) So weit, so klar. Er macht aber zusätzlich darauf auf- im Alter von seiner Rente und dem, was er für das Alter (C)
merksam: vorgesorgt hat, leben kann und nicht auf zusätzliche
staatliche Unterstützung angewiesen ist.
Zu den Risikogruppen gehören auch Minijobber
und Selbstständige, die nicht vorsorgen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich füge hinzu: die nicht vorsorgen können. Das ist Legitimation und Grundlage unseres deutschen
Rentenversicherungssystems. Dass es uns gelungen ist,
Die Bundesregierung hat keine Idee, wie man bei den Altersarmut durch Rente und ein auskömmliches Alters-
Selbstständigen vorbeugen könnte. Ein Mindestlohn auskommen zu vermeiden, ist die größte Erfolgsstory
reicht als Vorsorge natürlich nicht aus, aber er wäre zu- des deutschen Sozialversicherungssystems.
mindest ein nicht unwesentlicher Schritt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Es gibt aber vor allem keine Lösungsvorschläge für der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE
die von Altersarmut bedrohten Langzeitarbeitslosen. LINKE]: Von welchem Land reden Sie?)
Das erste Sparpaket der Bundesregierung hat die Mög-
lichkeit genommen, Rentenanwartschaften aufzubauen. Nur 1,8 Prozent derer, die eine volle Rente beziehen,
Jetzt nimmt die Bundesregierung in der aktiven Arbeits- müssen zurzeit staatliche Unterstützung in Form von
marktpolitik für die Langzeitarbeitslosen erneut drasti- Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen. Das ist
sche Kürzungen vor: 7,8 Milliarden Euro sollen bei den ein sagenhaft niedriger Wert. Von denjenigen in unserem
Langzeitarbeitslosen gespart werden. Das hat nicht nur Land, die über 65 Jahre alt sind, müssen 2,4 Prozent
aktuell Auswirkungen, die schon drastisch genug sind, Grundsicherung im Alter beantragen. Interessant ist al-
sondern es hat auch Auswirkungen, wenn die betroffe- lerdings: Über die Hälfte derer, die Grundsicherung im
nen Menschen ins Rentenalter kommen und dann von Alter beantragen, hat nie in eine Rentenversicherung
Armut bedroht sind. eingezahlt. Das zeigt: Rente schützt vor Altersarmut.
Deswegen müssen wir die gesetzliche Rentenversiche-
Dass die Bundesregierung zu den verschiedenen rung stärken.
Gruppen, von denen wir heute schon wissen, dass sie be-
sonders betroffen sein werden, keinerlei Vorschläge (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
macht, muss einen beunruhigen. Obwohl sie aufgrund neten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE
ihrer lebenslang schlechten Einkommenssituation vom LINKE]: Leider wird das Gegenteil gemacht!)
Risiko der Altersarmut besonders betroffen sind, kom- Frau Göring-Eckardt, Sie haben die anderen 50 Pro-
men Menschen mit Behinderung in den Überlegungen zent angesprochen, die keinen Anspruch gegenüber der
der Bundesregierung nicht vor. Ihr Anteil ist in den letz- Rentenversicherung haben. Wir wollen gemeinsam mit
(B) ten Jahren um 11 Prozent gestiegen. Es gibt auch keine (D)
der FDP in dem Rentendialog, den die Bundesministerin
Vorschläge für Migrantinnen und Migranten. Geht die Ursula von der Leyen in diesem Herbst eingeleitet hat,
Bundesregierung davon aus, dass sie das schon inner- auch darüber sprechen, wie wir die sogenannten Solo-
halb ihres Familienverbundes regeln werden? Auch für selbstständigen besser davor schützen können, dass sie
die Ostdeutschen gibt es keine Vorschläge. Sie alle wer- nichts für das Alter tun. Wir müssen sie in die Pflicht
den von der Bundesregierung ignoriert. nehmen, damit auch sie, die als Selbstständige ihre Al-
Einen Lösungsvorschlag hat sie, und zwar die Mehr- tersvorsorge selber planen können, das in ausreichendem
generationenhäuser. Sie sollen, was die Wohnsituation, Maße tun, um im Alter nicht auf Grundsicherung ange-
Vereinsamung etc. angeht, den armen Alten helfen. Man wiesen zu sein.
muss aber dazusagen: 157 Mehrfamilienhäuser stehen in (Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
diesem Herbst vor dem Aus, weil die Förderung aus- NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer
läuft. Die einzige Lösungsmöglichkeit, die die Bundes- Zwischenfrage)
regierung sieht, steht vor dem Aus. Das nenne ich Vogel-
Strauß-Politik. Das nenne ich gefährlich. Diese Politik Herr Präsident, ich wollte eigentlich zum nächsten
ist alles andere als sozial. Punkt übergehen, aber Herr Strengmann-Kuhn hat offen-
sichtlich eine Frage zu dem bisher Gesagten.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Offenkundig scheint das Interesse an der Beantwor-
Präsident Dr. Norbert Lammert: tung der Frage mindestens so ausgeprägt zu sein wie an
Das Wort erhält der Kollege Peter Weiß für die CDU/ der Frage selbst. Dann will ich dem nicht im Wege ste-
CSU-Fraktion. hen. – Bitte schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
neten der FDP) DIE GRÜNEN):
Die Selbstständigen und insbesondere die Soloselbst-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): ständigen sind ein wichtiges Thema. Sie haben eben ge-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! sagt, man müsse die gesetzliche Rente stärken. Gilt das
Wer ein Leben lang gearbeitet und für das Alter vorge- auch für die Selbstständigen? Was meinen Sie dazu, und
sorgt hat, der soll sich darauf verlassen können, dass er was meint insbesondere Ihr Koalitionspartner dazu?
15516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Fragen Sie mich die dazu führt, dass derjenige, der ein Leben lang Voll- (C)
das nachher bitte auch!) zeit gearbeitet und vorgesorgt hat, ein Alterseinkommen
oberhalb der Grundsicherung erhält und nicht der Gefahr
Wenn die gesetzliche Rente gestärkt werden soll, dann von Altersarmut ausgesetzt ist. Das ist eines der großen
müssten auch die Selbstständigen in die gesetzliche Ren- Reformvorhaben dieser Koalition, das wir aktuell ange-
tenversicherung einbezogen werden. Gibt es darüber Ei- hen wollen.
nigkeit zwischen CDU/CSU und FDP?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, wir stehen am An- Ich bedanke mich bei Frau Bundesministerin Ursula
fang des Rentendialogs. von der Leyen, dass sie den Rentendialog mit einem kon-
kreten Vorschlag eingeleitet hat; über diesen haben wir
(Elke Ferner [SPD]: Frau von der Leyen steht zu diskutieren. Ihr Vorschlag sieht vor, dass derjenige,
eher auf Monologe!) der sich keine auskömmliche Rente in seinem Leben er-
arbeiten konnte, ab dem Jahr 2013 eine Zuschussrente
Als Experte wissen Sie, welche Vorschläge es gibt. Als
beantragen kann, die eine monatliche Rentenzahlung in
Vorbild für alle Selbstständigen könnte die traditionell
Höhe von 850 Euro garantiert.
sehr gute Lösung bei den Handwerkerinnen und Hand-
werkern dienen. Diese müssen 18 Jahre in der gesetzli- Es zeigt sich wieder einmal: Während sich die Oppo-
chen Rentenversicherung bleiben, nachdem sie sich sition noch mit dem Was und dem Wie befasst und bean-
selbstständig gemacht haben. Die entscheidende Frage tragt, dass die Bundesregierung zusätzliche Untersu-
ist: Schaffen wir es, jeden dazu zu verpflichten, für das chungen in Auftrag geben soll, sind wir als Koalition
Alter vorzusorgen? Niemand darf sich darauf verlassen, bereits einen Schritt weiter und legen konkrete Vor-
notfalls durch die staatliche Grundsicherung aufgefangen schläge auf den Tisch,
zu werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit Abschluss
des Rentendialogs im Frühjahr kommenden Jahres ein (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
Lösungskonzept haben, bei dem auch die Selbstständigen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Unser Vorschlag ist
mitmachen; darauf kommt es mir an. viel älter! – Elke Ferner [SPD]: Welche Druck-
sachennummer ist das noch mal?)
Obwohl die Grundaussage „Rente schützt vor Alters-
armut“ stimmt, stellen sich die Arbeitnehmerinnen und aus denen hervorgeht, wie in Zukunft zusätzlicher
Arbeitnehmer die bange Frage: Wird das auch in Zu- Schutz vor Altersarmut geschaffen werden kann.
(B) kunft so sein? – Es ist bekannt, dass das Rentenniveau (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
insgesamt sinkt
Ich bin mir sicher, dass wir über einzelne Rahmenbe-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
dingungen der Vorschläge von Frau Bundesministerin
ja das Problem!)
Ursula von der Leyen im Rentendialog offen diskutieren
und dass es immer mehr Menschen gibt, die Unterbre- werden. Sicherlich sind Alternativen denkbar. Eine Al-
chungen in ihrer Erwerbsbiografie haben, längere Pha- ternative ist allerdings für mich nicht denkbar. In der öf-
sen der Arbeitslosigkeit leider erleben mussten oder über fentlichen Diskussion wird immer wieder die Forderung
lange Zeit im sogenannten Niedriglohnsektor beschäftigt erhoben, auch denjenigen, die weniger als 30 Beitrags-
waren. Deshalb brauchen wir in der gesetzlichen Ren- jahre vorweisen können, eine Grundrente zu garantieren.
tenversicherung einen zusätzlichen Mechanismus, der
Wer alle Unterschiede im Rentenversicherungssystem
vor Altersarmut schützt. einebnet und gleiche Rente für alle fordert, ob sie gear-
In rot-grüner Regierungsverantwortung sind all die beitet oder nicht gearbeitet haben, ob sie einbezahlt oder
Rentenreformen beschlossen worden, die in den kom- nicht einbezahlt haben, der festigt nicht das System der
menden Jahren zu einer deutlichen Absenkung des Ren- gesetzlichen Rentenversicherung, sondern er zerstört es
tenniveaus führen. in Wahrheit. Deswegen werden wir das nicht mitma-
chen.
(Elke Ferner [SPD]: Wenn Ihnen das nicht ge-
fällt, dann ändern Sie es doch!) (Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])

Aber eine untere Auffanglinie für Rentnerinnen und Wenn die Rente nichts mehr mit Arbeits- und Beitrags-
Rentner ist von Rot-Grün nie in Erwägung gezogen und leistung zu tun hat, dann wird einerseits das Arbeiten
im Gesetz verankert worden. Ich freue mich über die entwertet – der Wert der Arbeit wird nicht gestärkt, son-
Große Anfrage der Grünen. Aber sie hätten längst zur dern sie wird entwertet –, andererseits ist die Rente keine
Kenntnis nehmen können, dass es diese Koalition aus Anerkennung mehr für die Lebensleistung. Warum soll
CDU/CSU und FDP ist, die in ihre Koalitionsvereinba- sich jemand ein Leben lang anstrengen, wenn im Alter
rung klar hineingeschrieben hat: Wir wollen eine zusätz- alle gleichbehandelt werden? Der Vorschlag von Frau
liche Sicherung, von der Leyen hat den großen Charme, dass damit zu
Recht diejenigen, die gearbeitet und sich bei der eigenen
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Alterssicherung angestrengt haben, aber trotzdem nur
GRÜNEN]: Das machen Sie aber nicht!) geringe Ansprüche erworben haben, für die lebenslange
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15517
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Arbeitsleistung und Vorsorgeleistung wirklich belohnt Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
werden. Darauf kommt es an. Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Frak-
tion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der SPD)
Wer leider nie arbeiten konnte, für den hat die Ren-
tenversicherung heute nichts bereit, und sie wird auch in Anette Kramme (SPD):
Zukunft nichts auszahlen können, weil keine Beiträge Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
geflossen sind. Aber dafür gibt es die staatliche Grund- Kollegen! Wenn wir heute über Altersarmut in Deutsch-
sicherung. Frau Kollegin Göring-Eckardt hat die Ar- land reden, ist der Anlass sicherlich die Antwort der
beitslosengeld-II-Bezieher angesprochen. Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen;
aber das eigentliche Thema – da sind wir uns sicherlich
(Elke Ferner [SPD]: In dem jetzigen Modell einig – ist natürlich der Regierungsdialog Rente, der von
sind die gar nicht drin!) der Bundesregierung jetzt gestartet worden ist.
In dem Modell, das jetzt vorgelegt worden ist, ist es da- Herr Weiß, wir haben von Ihnen viele blumige Vor-
durch, dass Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II schläge gehört, aber konkrete Antworten konnten Sie
Anrechnungszeiten in der gesetzlichen Rentenversiche- uns leider nicht geben. Die ersten Vorschläge aus dem
rung sind, auch für die, die langzeitarbeitslos waren, Haus der Bundesministerin lassen vielmehr vermuten,
möglich, die 850-Euro-Rente zu bekommen. dass die zuständige Bundesministerin von der Leyen die
(Elke Ferner [SPD]: Was ist mit denen, die Antwort ihres Hauses auf die Große Anfrage gar nicht
keines haben?) kennt. Würde sie sie kennen, würde sie sicherlich andere
Vorschläge unterbreiten.
Das ist deutlich mehr als der Betrag, den der Staat früher
für eine Altersrente ausgezahlt hat. Wenn wir uns jetzt einmal anschauen, was in der Ant-
wort auf die Große Anfrage herausgestellt wird, dann
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und muss man feststellen, dass das im Großen und Ganzen
der FDP) bekannt ist. Wir wissen, es gibt vier zentrale Risiken, die
Auch die Debatte über Mindestlöhne – Frau Göring- zu Altersarmut führen. Das ist einerseits die Niedrig-
Eckardt, ich danke Ihnen, dass Sie darauf hingewiesen lohnbeschäftigung. Das sind andererseits lange Phasen
haben – hilft uns in diesem Zusammenhang nicht. Selbst der Arbeitslosigkeit. Das ist des Weiteren die Erwerbs-
ein Mindestlohn von mehr als 9 Euro würde nicht zu ei- unfähigkeit, die Erwerbsminderung, und das ist die feh-
ner Rente von 850 Euro führen. Das zeigt: Man muss lende Absicherung bei Selbstständigen. Wenn wir uns
(B)
zwar die Mindestlohndebatte führen, sie ist aber nicht das noch genauer anschauen, dann sehen wir, dass die (D)
dazu geeignet, im Zusammenhang mit dem auskömmli- ersten beiden Kriterien sehr viel mit dem Arbeitsmarkt
chen Alterseinkommen weiterzuhelfen. zu tun haben. Damit ist der logische Ansatzpunkt, um
Altersarmut zu bekämpfen, der Arbeitsmarkt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Ein ganz besonderes Augenmerk sollte den Erwerbs-
minderungsrentnern gelten, weil mittlerweile 9 Prozent Niedriglohnbeschäftigung kann ich dadurch verhin-
dieser Personengruppe ergänzend auf Grundsicherung dern oder reduzieren, wenn ich in der Bundesrepublik
– sprich: staatliche Hilfe – angewiesen sind. Deswegen Deutschland endlich die dringend geforderten Mindest-
ist es richtig, dass Frau von der Leyen vorschlägt, die so- löhne einführe.
genannte Hinzurechnungszeit um zwei Jahre zu verlän-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
gern, was insgesamt zu höheren Ansprüchen von Er-
werbsminderungsrentnern führen wird. Sicherlich Was wir in der Bundesrepublik Deutschland brauchen,
werden wir im Rentendialog auch über weitere Maßnah- ist ein allgemeiner, genereller Mindestlohn. Aber nicht
men diskutieren. einmal beim Thema Leiharbeit ist die Bundesregierung
konsequent. Wir haben die Situation, dass der Mindest-
Es geht bei der Debatte über Altersarmut und im Ren-
lohn in der Leiharbeit zwar seit langem angekündigt ist.
tendialog in der Tat um Grundsätzliches. Bleibt die
Aber bis heute existiert hierzu keine Regelung in ab-
Rente Anerkennung für Lebensleistung, oder werden
schließender Form, die tatsächlich weiter geht. Wenn die
alle unabhängig von ihrer Arbeitsleistung gleichgestellt?
Bundesministerin sagt, sie hoffe, dass über kurz oder
Der Sozialstaat, auf den wir stolz sind, wird nicht sozia-
lang ein Mindestlohn in allen Branchen existiere, dann
ler, sondern unsozial, wenn immer mehr Menschen
kann ich die von-der-Leyen’sche Terminologie nur als
unabhängig von ihrer eigenen Leistungsfähigkeit zu
Drohung verstehen. Übersetzt heißt das nämlich letzt-
staatlichen Fürsorgeempfängern gemacht werden. Der
lich: Über kurz oder lang wird nichts erfolgen. Das
Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme bleiben
Ganze heißt: in weiter Ferne, konkret: am Sankt-Nim-
dann sozial und finanzierbar, wenn sie die Leistungsfä-
merleins-Tag.
higkeit und Leistungsbereitschaft des Einzelnen fördern
und erhalten. Darum geht es uns. Ich komme zum zweiten Thema, nämlich der Siche-
rung des Lebensunterhalts von Langzeitarbeitslosen.
Vielen Dank.
Auch das ist ein Thema, das sehr eng mit dem Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) markt zusammenhängt. Es wäre logisch, etwas gegen
15518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Anette Kramme
(A) Langzeitarbeitslosigkeit zu tun. Aber wenn wir uns hier wollte doch die CDU nicht! Ihr Koalitionspart- (C)
die konkrete Politik der Bundesregierung anschauen, ner wollte das nicht! – Gegenruf des Abg.
dann stellen wir fest, dass auch da nichts passiert. Einer- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben doch
seits geschieht im Rentenversicherungssystem nichts. den Minister gestellt!)
Da haben wir vielmehr die Situation, dass die Beiträge
zur Rentenversicherung für SGB-II-Empfänger abge- Ich komme zum letzten Grund, warum nach dem Er-
schafft worden sind. Wir haben andererseits die Situa- werbsleben das Risiko von Altersarmut hoch ist, näm-
tion, dass die gesamte Arbeitsmarktpolitik für Langzeit- lich zur fehlenden obligatorischen Absicherung von
arbeitslose kaputtgemacht worden ist. In den nächsten Selbstständigen. Wir erfahren aus der Antwort auf
Jahren werden im Zusammenhang mit der Arbeitsmarkt- Frage 25, dass bei älteren Soloselbstständigen das Ar-
politik 26,5 Milliarden Euro eingespart. Wir haben den mutsrisiko mit 27 Prozent am höchsten ist – viel höher
Sachverhalt, dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abge- noch als bei Arbeitslosen. Vorschläge der Bundesregie-
schafft werden und dass der Beschäftigungszuschuss rung hierzu: Fehlanzeige. Es gibt nur einige blumige
schon in der Vergangenheit niedergemacht worden ist. Worte von Herrn Weiß. Sehen Sie denn nicht, was Sie
Statt Arbeitsgelegenheiten in intensiverer Weise zu nut- hier tun müssen? Die einzige vernehmbare Lösung
zen, passiert auch hier das Gegenteil. Integrationsfirmen stammt im Übrigen von der FDP. Selbstständige sollen
beispielsweise würden vielen Langzeitarbeitslosen hel- sich verpflichtend privat absichern. Das heißt aber nur,
fen. Aber von diesen konkreten innovativen Vorschlägen dass sie eine Lebensversicherung oder etwas Ähnliches
ist in der Arbeitsmarktpolitik nichts zu hören. haben müssen. Das ist aber eben keine echte Rentenver-
sicherung. Das sind wieder einmal Sonderrechte für die
(Beifall bei der SPD) eigene Klientel. Die SPD will eine Erwerbstätigenver-
Dass die SPD gegen prekäre Beschäftigung etwas sicherung, eine moderne Sozialversicherung, die unab-
macht, haben wir demonstriert. Wir haben zahlreiche hängig von der Art der Arbeit alle Erwerbstätigen um-
Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht. Zuletzt fasst, damit Übergänge einfacher möglich sind.
am gestrigen Tag haben wir über die Streichung der Noch eine kurze Bemerkung zum Regierungsdialog.
sachgrundlosen Befristung geredet. Wir haben Gesetz- Wenn man sich anschaut, was in dem Wolkigen und Un-
entwürfe zum Mindestlohn und auch zur Leiharbeit ein- gefähren der Ministerin zum Vorschein kommt, dann
gebracht. Auch werden wir noch Gesetzentwürfe zu der stellt man fest: Es ist das Festschreiben eines konservati-
erzwungenen Teilzeitarbeit vorlegen. Dies ist in der gan- ven Frauen- und Familienbildes. Was ist geplant? Eine
zen Debatte ebenfalls ein wichtiges Thema. Zuschussrente, die bedeutet, dass sie aktuell den langjäh-
Wir wissen natürlich, dass wir rentenrechtlich an die rig tätigen Vollzeitbeschäftigten überhaupt nichts nutzt.
(B) Thematik herangehen müssen. Deshalb wollen wir ei- Den maximalen Vorteil haben diejenigen, die einen (D)
nerseits bei Langzeitarbeitslosigkeit Anrechnungszeiten Minijob ausüben, auf die Sozialversicherungsfreiheit
mit Durchschnittswerten schaffen, die eine verbesserte verzichten und für fünf Jahre einen Riester-Vertrag ab-
Situation für Langzeitarbeitslose bieten. Andererseits schließen. Wir müssen uns aber überlegen, welche Aus-
wollen wir die Rente nach Mindesteinkommen. wirkungen das für Menschen hat, die eine Rente knapp
oberhalb der Grundsicherung beziehen. Wenn man das
Meine Damen und Herren der Koalition, da Ihre umrechnet, bedeutet dies, dass ein Durchschnittsverdie-
Ministerin es bislang nicht für nötig hielt, die Bundes- ner knapp 35 Jahre Beiträge entrichten muss, um diesen
tagsfraktionen zum Regierungsdialog einzuladen, könn- Zuschuss zu erhalten. Viele Menschen werden sich zu
ten Sie vielleicht zumindest noch den CDU-Fraktions- Recht fragen, warum sie sich krummlegen sollen, wenn
vorsitzenden in NRW, Karl-Josef Laumann, und die der Rest ihnen vom Staat geschenkt wird.
bayerische Sozialministerin Haderthauer einladen. Beide
könnten Ihnen unseren Ansatz nicht nur erklären, son-
dern auch anpreisen. Sie unterstützen ihn nämlich. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
Nun zum dritten Risikofaktor: Dass Erwerbsminde- men.
rung immer häufiger zu Altersarmut führt, ist mittler-
weile unumstritten. Umstritten ist der Lösungsvorschlag
von Schwarz-Gelb. Statt grundlegend etwas am Problem Anette Kramme (SPD):
zu ändern, soll die Zurechnungszeit um zwei Jahre ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Arbeitnehmer-
längert werden, aber nur parallel zur Anhebung der Re- flügel der CDU/CSU, ich glaube nicht, dass Sie diese
gelaltersgrenze, also pro Jahr ein Monat. Entwicklung wollen. Sie ergibt sich aber zwangsläufig,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weiße wenn die Rentenpolitik nicht mehr auf die Mitte der Ge-
Salbe!) sellschaft ausgerichtet ist. In diesem Sinne appelliere ich
an Sie: Machen Sie sich in Ihrer Fraktion bemerkbar und
Das ist sehr dünn. verhindern Sie solche Regelungen!
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Vielen Dank.
[FDP]: Sie haben doch gar nichts gemacht, als
Ihr Minister damals die Regelaltersgrenze (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katrin
hochgesetzt hat! Was war denn Ihr Vorschlag? – Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das NEN])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15519

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Elke Ferner [SPD]: Genau!) (C)
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak-
Was war denn die Politik Ihrer Bundesregierung? Herr
tion.
Riester hat einen Gesetzentwurf eingebracht und verab-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schieden lassen, in dem eine deutliche Absenkung des
Versorgungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversiche-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): rung vorgesehen war.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Leider!
Frau Kollegin Kramme, bei Ihrer Rede fällt mir spontan Leider!)
Wilhelm Busch ein: „Wer durch des Argwohns Brille
schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut.“ Er hat gesagt, das sei deswegen vertretbar, weil gleich-
zeitig für private und betriebliche Altersversorgung ver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stärkt geworben werde. Die Einführung der Riester-
Ich will hier einmal sehr deutlich sagen: Über das Rente war doch die Reaktion Ihrer Partei darauf. Es ist
Thema Altersarmut diskutieren wir nicht erst seit heute, sicherlich nur recht und billig, darauf hinzuweisen, dass
es ist nicht erst seit heute auf der Agenda. Mit Ausnahme es darum geht, alle drei Säulen zu stärken: die gesetzli-
der Linken haben alle Parteien im Deutschen Bundestag che Rente – ich sehe sie unverändert als die wichtigste
schon einmal Verantwortung getragen, seitdem über die- Säule an; das will ich hier gar nicht bestreiten –, aber
ses Thema diskutiert wird. auch die private und die betriebliche Rente.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Regie- Das, was die Bundesregierung jetzt in den Dialog ein-
rungsverantwortung! Verantwortung tragen gebracht hat, sind Ansätze, die zielführend sind. Ich will
wir auch!) hier zur Frage der Selbstständigkeit deutlich Stellung be-
ziehen: Die Selbstständigen sind eine der Gruppen, bei
Deswegen nutzt es nichts, Frau Kollegin Göring- denen wirklich Handlungsbedarf besteht. Ja, wir sind der
Eckardt, hier zu behaupten, es gebe keine Forschungs- Meinung: Es braucht keine Pflichtversicherung, sondern
aufträge der Bundesregierung. Das mag zwar sein, aber es genügt eine Versicherungspflicht. Jeder Selbststän-
es ist nicht so, dass zu diesem Thema nicht geforscht dige muss in jedem Jahr seiner Erwerbstätigkeit einen
würde. Nehmen Sie die DIW-Armutsstudie, an der Herr Beitrag zu seiner Altersvorsorge leisten, mit dem Ergeb-
Grabka mitgearbeitet hat. nis, im Alter ein Versorgungsniveau oberhalb der Grund-
sicherung, zumindest oberhalb der Armutsgrenze zu er-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
reichen.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Ihre Regierung
(B) sagt, es gibt nichts!) (Elke Ferner [SPD]: Mit oder ohne Risiko- (D)
prüfung?)
– Die Regierung erteilt zwar keine Aufträge, aber es
wird doch auf diesem Gebiet geforscht. In der wissen- – Das hängt davon ab, wo eine Versicherung abgeschlos-
schaftlichen Landschaft besteht großes Interesse an die- sen wird.
ser Frage. Wer will, kann auch sehen. Das will ich hier
sehr deutlich sagen. (Elke Ferner [SPD]: Die Schlechten ins Kröpf-
chen und die Guten in die Rentenversiche-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – rung!)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal Frau Sie haben vorhin gesagt: Da sind private Lebensversi-
von der Leyen!) cherungen vollkommen fehl am Platz. Das kann durch-
aus auch in der gesetzlichen Rentenversicherung erfol-
Da hier ein Mangel an Konzepten beklagt wird, muss gen, in die Selbstständige freiwillig Beiträge einzahlen
ich sagen: Die FDP-Bundestagsfraktion hat in der letzten können.
Legislaturperiode bereits umfassende Antworten vorge-
legt, übrigens nicht nur den einen Antrag, der jetzt hier Herr Strengmann-Kuhn hat leider nicht gefragt, ob es
in Rede stand. Wir haben gesagt, wie die Bekämpfung eine Stärkung oder eine Schwächung der gesetzlichen
der Altersarmut zielgruppengerecht und nach der Betrof- Rentenversicherung nach sich ziehen würde, wenn man
fenheit erfolgen kann. Wir haben das sehr sauber durch- die Selbstständigen einbeziehen würde. Ich warne da
dekliniert. Ich empfehle Ihnen, das einmal nachzulesen. wirklich vor einfachen Antworten. Wenn Sie sich das
einmal im Detail anschauen, Herr Kollege Strengmann-
Es ist hier zu Recht gesagt worden: Im Alter ist es für Kuhn – ich schätze, Sie haben das schon getan –, dann
eigene Anstrengungen zu spät. – Ich unterstreiche das. sehen Sie natürlich, dass zum Beispiel Beiträge in der
Deswegen geht die FDP-Bundestagsfraktion von einem Pflichtversicherung der Handwerker – sie müssen
präventiven Ansatz aus. Wenn wir nachsorgend kompen- 18 Jahre lang einzahlen – verpflichtend nur im Verhält-
sieren wollen, dann muss der Staat mit Steuermitteln ran. nis zu einem durchschnittlichen Verdienst zu entrichten
Wir müssen die Menschen ermuntern, mit eigener priva- sind; man kann freiwillig mehr zahlen. Wenn Sie das än-
ter oder betrieblicher Vorsorge dern wollen, nach dem Motto „Alle Selbstständigen in
die Rentenversicherung“, wobei sich die Beitragshöhen
(Widerspruch bei der LINKEN)
an der Pflichtversicherung der Handwerker ausrichten
für ein ausreichendes Gesamtalterseinkommen zu sor- sollen, dann stellt sich für die vielen anderen Versicher-
gen. – Da schüttelt die Kollegin Ferner den Kopf. ten die Frage: Warum müssen wir eigentlich verpflich-
15520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) tend bis zur Beitragsbemessungsgrenze Beiträge entrich- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (C)
ten? Der Teufel steckt also im Detail. Ich warne davor, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollte ich auch
allzu früh „halleluja!“ zu rufen. als Aufhänger nehmen!)
Mindestlöhne sind definitiv keine Lösung. „Pfandflaschen gesucht“, hat er auf ein Schild geschrie-
ben. Rund 18 Euro am Tag nimmt er mit dem Sammeln
(Elke Ferner [SPD]: Das ist mir klar! –
von circa 100 Pfandflaschen ein.
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und die
Erde ist eine Scheibe!) Gerd Legler ist studierter Maschinenbauer. Er hat
lange Jahre als Ingenieur gearbeitet und erhält dennoch
– Frau Ferner, Sie kennen doch die Rentenformel. Man
nur 760 Euro Rente. Dies reiche hinten und vorne nicht,
kommt zu diesem Ergebnis, wenn man die entsprechen-
sagt er, und seinen Kindern wolle er nicht zur Last fal-
den Werte in die Rentenformel einsetzt. Dafür muss man
len. Wie heißt es doch in Art. 1 des Grundgesetzes: „Die
kein Mathematiker sein; Adam Riese zu bemühen, reicht
Würde des Menschen ist unantastbar.“ Eine Rentenpoli-
völlig aus.
tik, die dafür verantwortlich ist, dass sich alte Menschen
(Elke Ferner [SPD]: Da kann man schon zum Wühlen in Mülleimern und Flaschencontainern ge-
sehen, wes Geistes Kind Sie sind!) nötigt sehen, verstößt gegen das Gebot der Achtung der
Menschenwürde. Eine solche Politik nenne ich erbärm-
Man stellt fest: Mindestlöhne – und schon gar nicht der
lich.
allgemeine flächendeckende Mindestlohn, der nach aller
Voraussicht nicht bei 12 oder 15 Euro, sondern deutlich (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
darunter liegen würde – führen nicht zum Ziel. DIE GRÜNEN)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 10 Euro Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Linken wollen,
wären aber ein Anfang!) dass jede und jeder in Würde leben kann. Das muss für
alle Menschen gelten, für die, die arbeiten, und auch für
Auch ich bin dafür, dass wir Voraussetzungen für eine
die, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht oder
gute eigene Altersvorsorge schaffen, nämlich dadurch,
nicht mehr arbeiten.
dass möglichst viele Arbeitsplätze in Deutschland beste-
hen. Da sind wir, die schwarz-gelbe Bundesregierung, (Beifall bei der LINKEN)
sehr erfolgreich.
An diesem Würdeprinzip muss sich auch eine gute
(Elke Ferner [SPD]: Erfolg trotz der Rentenpolitik messen lassen. Doch vor zehn Jahren ha-
Regierung!) ben SPD und Grüne das Rentenniveau drastisch gesenkt
und dafür gesorgt, dass es auch in Zukunft sinken wird.
(B) Erwerbsarbeit führt zu eigenen Altersvorsorgebeiträgen (D)
Sie haben die private Riester-Rente und ungerechte Ab-
und ist allemal besser, Frau Ferner, als wenn Menschen
schläge bei der Erwerbsminderungsrente eingeführt und
arbeitslos oder gar langzeitarbeitslos sind.
den Niedriglohnsektor massiv ausgedehnt. Das alles war
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke falsch, ist falsch und bleibt eine falsche Politik.
Ferner [SPD]: „Sozial ist, was Arbeit
(Beifall bei der LINKEN)
schafft!“)
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
Das sind erste Beiträge zu dieser Diskussion, die wir
sagen in der Vorbemerkung zu Ihrer Großen Anfrage:
gerne mit Ihnen führen, weil gerade die FDP-Bundes-
tagsfraktion auf dem Gebiet der Altersarmut intensiv Vergangene Rentenreformen haben die Ansprüche
vorgearbeitet hat. Sie braucht keine Diskussion mit ir- der Rentnerinnen und Rentner reduziert, die Real-
gendjemandem in diesem Hause zu scheuen. löhne haben sich schwach entwickelt, die Anzahl
der prekären Beschäftigungsverhältnisse und die
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Spreizung der Erwerbseinkommen haben zugenom-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men.
Das ist alles wahr. Zur Wahrheit gehört aber auch,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dass Grüne und SPD mit diesem Unsinn begonnen ha-
Das Wort hat nun Matthias W. Birkwald für die Frak- ben, CDU und SPD mit der Rente erst ab 67 die renten-
tion der Linken. politische Demontage und diese falsche Politik nahtlos
(Beifall bei der LINKEN) fortgesetzt haben und Schwarz-Gelb diesen Weg unbe-
irrt weitergeht.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Die Folge: Die Rente sichert den einmal erreichten
Damen und Herren! Anfang September hatte die Berli-
Lebensstandard schon längst nicht mehr. Und: Die Rente
ner B.Z. über Gerd Legler berichtet. Vorgestern ist er mir
schützt nicht einmal mehr vor Altersarmut. Damit wer-
auf meinem Weg vom Reichstagsgebäude ins Büro auch
den viele Alte an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
begegnet. Gerd Legler ist 69 Jahre alt. Er ist Rentner,
Das alles war und ist politisch gewollt. Wir Linken sagen
und er tourt als Berlins erste mobile Pfandflaschensta-
Ihnen: Das ist ein völlig unhaltbarer Zustand.
tion mit seinem Rollstuhl jeden Tag acht Stunden durchs
Regierungsviertel, um seine Rente aufzustocken. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15521
Matthias W. Birkwald
(A) Wer heute in Rente geht, erhält eine immer niedrigere Die meisten machen das sicher nicht nur aus Spaß an (C)
Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung – die der Freude, wie eine Sprecherin der Bundesarbeitsminis-
Herr Weiß stärken will –, als dies früher üblich war. Das terin kürzlich behauptete. Die Bundesarbeitsministerin
kann bis zu 100 Euro im Monat ausmachen. Aktuell er- sehe ich da hinten sitzen. Seniorinnen und Senioren, die
halten westdeutsche Neurentner nur noch 808 Euro nachts Taxi fahren, im Morgengrauen Büros putzen oder
Rente im Durchschnitt. abends als Klofrau jobben, machen das nicht, weil sie
sich langweilen, sondern weil die Rente schlicht nicht
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das zum Leben reicht. Meinen Sie denn ernsthaft, dass die
sagt gar nichts!) große Mehrheit der 108 000 Minijobberinnen und Mini-
jobber jenseits der 75 Jahre – auch diese gibt es – das
Bei den Frauen zwischen Aachen und Helmstedt sind es
zum Vergnügen machen? Wer das glaubt, der glaubt
mickrige 494 Euro. Bei den ostdeutschen Neurentnern
auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.
sind es 785 Euro bei den Männern und nur 666 Euro bei
den Frauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind (Beifall bei der LINKEN)
Renten, die deutlich unterhalb der Armutsrisikogrenze
liegen. Diese beträgt derzeit 929 Euro für Alleinste- Etwas drastisch zusammengefasst: Ruhestand war
hende. Schauen Sie einmal auf Seite 6 der Antwort der gestern, Malochen bis zum Tode droht als Schicksal. Das
Bundesregierung auf die Große Anfrage. Dort finden Sie muss unbedingt verhindert werden.
diese Zahl, die sogar von zwei Instituten bestätigt wor-
den ist. (Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der christlichen Partei, Sehr geehrte Frau von der Leyen, ich wäre Ihnen sehr
da können Sie auch nachlesen, dass schon heute 15 Pro- dankbar, wenn Sie mir Ihr Ohr liehen. Sie haben nämlich
zent der Menschen jenseits der 65 von Armut bedroht einen „Regierungsdialog Rente“ ins Leben gerufen,
sind. Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis, und hören doch die bisher von Ihnen in diesem Rahmen vorgeleg-
Sie endlich auf, zu behaupten, Altersarmut sei heute kein ten Vorschläge sind wirkungslos und zum Teil kontra-
Problem, weil nur 2,4 Prozent der älteren Menschen die produktiv. Warum? – Ich wäre Ihnen wirklich dankbar,
sogenannte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- wenn Sie mir einmal zuhörten, Frau Ministerin. Immer-
minderung in Anspruch nehmen! Diese Art der Schön- hin ist Ihre Politik das Thema meiner Rede, und ich
färberei ist schlicht und einfach unerhört, Herr Weiß. möchte sie kritisieren.

(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mendingen] [CDU/CSU]: Die Zahl 2,4 stimmt
(B) doch!) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (D)
Kollegin Enkelmann?
Herr Weiß, Sie haben eben gesagt, die Rente würde
heute schon vor Altersarmut schützen. Dazu sage ich Ih-
nen jetzt einmal eine Zahl. Zwischen 2003 und 2010 ist Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
bei den Grundsicherungsempfängern, bei denen eine Al- Aber selbstverständlich gerne.
tersrente angerechnet wird, eine Steigerung von
71,7 Prozent zu verzeichnen gewesen. Das sind Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
113 480 Menschen mehr, bei denen die Rente nicht mehr
zum Leben reicht. So sieht es aus. Bitte schön.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
wissen doch gar nicht, was sie sonst noch an
Einkommen haben!) Herr Birkwald, wir reden hier über ein gravierendes
Problem, wir reden über Altersarmut in Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen feststel- Haben Sie den Eindruck, dass die Regierung, dass insbe-
len, dass die Altersarmut wieder in der Mitte der Gesell- sondere die zuständige Ministerin Interesse an diesem
schaft angekommen ist, vor allem bei den Ostdeutschen Thema hat?
und bei den Frauen. Im Jahr 2003, Herr Weiß, waren
knapp 260 000 Betroffene auf die Grundsicherung im (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist doch
Alter angewiesen. Ende 2009 waren es schon fast ungeheuerlich!)
400 000.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Zwischen 2007 und 2009 ist der Anteil gesun- Nein, diesen Eindruck habe ich nicht. Ich danke Ihnen
ken!) für die Frage, Frau Kollegin. Ich habe die Ministerin
eben zweimal freundlich gebeten, zuzuhören. Das ist
Zwei Drittel davon sind Frauen. Zudem müssen immer nicht erfolgt. Bei dem „Regierungsdialog Rente“ sind
mehr Alte einen Minijob annehmen, um überhaupt ir- die Oppositionsparteien bisher gar nicht eingeladen. Das
gendwie über die Runden zu kommen. Schon heute ge- heißt, unsere Meinung scheint die Regierung leider über-
hen mehr als 740 000 Menschen im Rentenalter einem haupt nicht zu interessieren. Ich hoffe, das wird noch an-
Minijob nach. Auch hier sind zwei Drittel davon Frauen. ders.
15522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dass die 70-Jährigen den 40-Jährigen im Supermarkt die (C)
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Tüten packen und dass die 75-Jährigen den 55-Jährigen
frage von unserem FDP-Kollegen Kober? den Sprit in den Tank füllen?
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): reden dummes Zeug!)
Bitte schön.
Das kann doch wohl nicht wahr sein! Würdevolles Al-
Pascal Kober (FDP): tern geht anders, Frau Ministerin.
Lieber Kollege Birkwald, sind Sie bereit, anzuerken- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
nen, dass das Bundesministerium für Arbeit und Sozia- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß
les an diesem heutigen Tag während dieser Debatte mit [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Rentner
zwei Vertreterinnen bzw. Vertretern anwesend ist, wollen doch, dass die Grenzen wegkommen!
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber Schämen Sie sich für den Unsinn, den Sie re-
nur körperlich!) den! – Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner
[Berlin] [FDP])
dem Staatssekretär Hans Joachim Fuchtel und der Bun-
desministerin Dr. Ursula von der Leyen, die weite Teile – Herr Lindner, Ihre Beiträge sprechen immer für sich.
der Debatte gemeinsam verfolgen, und dass das eine Über Sie rede ich besser kein Wort, das geht nur zu Ihren
Ausnahme ist, womit das Bundesministerium für Arbeit Ungunsten aus.
und Soziales unterstreicht, wie wichtig dieses Thema (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
ist?
Frau Ministerin, die von Ihnen vorgeschlagene Zu-
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): schussrente ist ungerecht. Sie würde nur einem Bruchteil
Lieber Herr Kollege Kober, ich bin gerne bereit, Ih- der von Altersarmut Betroffenen zugutekommen.
nen zu bestätigen, dass der Herr Kollege Staatssekretär 40 Versicherungsjahre und 35 Beitragsjahre und 5 Jahre
aufmerksam zugehört hat. Wenn aber die Leiterin des private Vorsorge, das ist für die, die die Zuschussrente
Hauses, die Ministerin selbst, anwesend ist, dann ist es brauchen, fast unmöglich. Ihre Zuschussrente geht in die
auch ein Gebot der Höflichkeit, den Oppositionspolitike- falsche Richtung.
rinnen und Oppositionspolitikern zuzuhören. Das aber Lassen Sie mich Ihnen das an einem Beispiel erläu-
ist auch auf zweimalige freundliche Aufforderung hin tern: Wer heute aus einem Minijob kleine Rentenansprü-
(B) nicht erfolgt. Deswegen kann ich Ihnen dies, was die che erwerben will, muss aus eigener Tasche die pauschal (D)
Ministerin anbelangt, leider nicht bestätigen. vom Arbeitgeber abgeführten Rentenbeiträge aufsto-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem cken. Mit Aussicht auf die Zuschussrente könnten die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenigen Minijobberinnen und Minijobber, die das heute
schon machen, bald mehr werden. Das wäre aber eine
Also noch einmal: Sehr geehrte Frau von der Leyen, schlechte Entwicklung. Denn von den Minijobs kann
Sie haben einen „Regierungsdialog Rente“ ins Leben ge- man weder leben noch anständige Rentenansprüche auf-
rufen. Ich sage Ihnen: Die bisher von Ihnen vorgelegten bauen.
Vorschläge dazu sind wirkungslos und zum Teil sogar
kontraproduktiv. Warum? Sie sind wirkungslos, weil Sie Wenn wir dabei bedenken – Sie ahnen es schon –, dass
die Erwerbsminderungsrente nur an die unsägliche zwei Drittel all derer, die ausschließlich einen Minijob ha-
Rente ab 67 anpassen, aber kein bisschen verbessern ben, Frauen sind, dann müssen wir eines klar feststellen:
wollen. Gerade die, die geschuftet haben, bis sie krank Die Zuschussrente wäre nichts weiter als eine Minijobprä-
wurden, brauchen unsere Unterstützung und dürfen nicht mie für Frauen. Sie würde nämlich das althergebrachte
mit Almosen abgespeist oder gar mit Abschlägen be- Familienmodell vom männlichen Familienernährer und
straft werden. seiner hinzuverdienenden Ehefrau belohnen. Diese rück-
wärtsgewandte Politik gilt es zu verhindern.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Ihr Vorschlag, die Hinzuverdienstgrenzen für vorzei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tig in Rente gegangene Ältere zu erweitern, ist kontra-
produktiv; denn mit Ihrer Kombirente werden prekäre Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Union und FDP,
Beschäftigungen als eine zentrale Ursache der Alters- ich fordere Sie auf: Nehmen Sie wenigstens den von der
armut eben nicht bekämpft. Im Gegenteil – Minijobs Bundesregierung im Juni dieses Jahres veröffentlichten
würden noch weiter hoffähig gemacht. Damit treiben Sie Ersten Gleichstellungsbericht ernst. Dort wird klipp und
den Kombilöhner in die Kombirente und rufen den ar- klar festgestellt, dass sich Minijobs für Frauen „langfris-
men Alten zu: Geht doch arbeiten! tig … häufig als biografische Sackgasse“ erweisen. Dort
wird eindeutig gefordert, „alle Erwerbsverhältnisse so-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
zialversicherungspflichtig zu machen“. Es muss also
ist wirklich dummes Zeug!)
künftig jede Stunde Erwerbsarbeit sozialversicherungs-
Das ist die zynische Logik, die wir bereits von Hartz IV pflichtig werden, vom ersten Euro an. Das wäre ein gro-
kennen. Wollen Sie allen Ernstes – wie in den USA –, ßer Schritt in die richtige Richtung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15523
Matthias W. Birkwald
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Das Wort hat nun Peter Tauber für die CDU/CSU-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Fraktion.
Wenn Sie schon nicht auf die Linke hören und den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gleichstellungsbericht Ihres Ministeriums ignorieren,
dann hören Sie wenigstens auf den Deutschen Frauenrat, Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
der genau das auch fordert. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rente muss vor Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
Armut schützen. Aber eine gute Rentenpolitik ist deut- über das Thema Altersarmut streiten, kann man sich
lich mehr als eine reine Armutsvermeidungspolitik. Eine manchmal fragen, ob man die Qualität der Reden an der
Rentenpolitik ist nur dann gut, wenn sie dafür sorgt, dass Zahl der Zuhörer bemessen sollte. Ich schaue in Ihre
die Menschen ihren einmal erarbeiteten Lebensstandard Reihen: Sie sind nicht so sehr gefüllt, wie es der Bedeu-
auch im Alter halten können. Gute Arbeit – unbefristet, tung des Themas, die Sie in Ihrem Redebeitrag sugge-
am besten in Vollzeit, keine Leiharbeit, mit guten Löh- riert haben, entspricht.
nen, von denen man leben kann – ist das Fundament ei- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Die Qualität hat
ner guten Rente; das will die Linke. für sich gesprochen! Das kann man eindeutig
(Beifall bei der LINKEN) sagen!)

Wir wollen, dass künftig alle, die ihren Lebensunter- Manchmal lohnt sich das Zuhören vielleicht auch nicht;
halt, in welcher Form auch immer, mit Arbeit verdienen, es gibt andere wichtige Dinge, die man in der Zeit be-
in die Rentenkasse einzahlen, also zum Beispiel Ange- sprechen kann.
stellte, Beamte und Beamtinnen, Freiberuflerinnen und Grundsätzlich richte ich zunächst einmal einen herzli-
Freiberufler, natürlich auch Selbstständige, Abgeordnete chen Dank an die Bundesregierung, nicht nur für die
und, ja, auch das, Ministerinnen und Minister – alle! Das Präsenz heute hier, sondern auch für die ausführliche Be-
wäre solidarisch. antwortung der Großen Anfrage. Damit ist sicherlich
(Beifall bei der LINKEN) eine gute Grundlage für die weitere Diskussion gegeben.
Darauf, dass die Ministerin sogar über den Schritt der
Damit die Rente das einmal im Leben durch gute Ar- Beantwortung der Fragen hinausgegangen ist, indem sie
beit Erreichte sichert, müssen alle Kürzungsfaktoren aus eigene Vorschläge gemacht hat, werde ich später einge-
der Rentenformel gestrichen und die Rente erst ab 67 un- hen.
(B) bedingt zurückgenommen werden. (D)
(Elke Ferner [SPD]: Drucksachennummern
(Beifall bei der LINKEN) interessieren uns hier!)
Deswegen brauchen wir dringend einen flächendecken- Beim Thema „Rente und Alterssicherung“ haben wir
den gesetzlichen Mindestlohn, natürlich im Osten und von der Union immer die Leistungen der älteren Genera-
Westen in derselben Höhe von 10 Euro in der Stunde. tion vor Augen. Von dieser Debatte sollte daher das Si-
Denn nur wer mindestens 9,98 Euro in der Stunde ver- gnal ausgehen, dass wir den Rentnerinnen und Rentnern
dient, schafft es, nach 45 Jahren eine Rente oberhalb der Dank für ihre Lebensleistung, ihren aufopferungsvollen
heutigen Grundsicherung zu erhalten. Einsatz für ihr Land und ihre Familie sagen. Das gilt
ganz besonders auch deshalb – dessen bin ich mir als ein
(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Falsch gerech- eher jüngerer Kollege natürlich bewusst –, weil die
net!) junge Generation in diesem Land bis heute von dieser
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Lebensleistung profitiert.
Schluss. Um Altersarmut wirkungsvoll einzudämmen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
muss auch der Solidarausgleich in der Rente gestärkt wer- Ferner [SPD]: Das habe ich von der Jungen
den. Deshalb müssen erstens die Abschläge bei der Er- Union schon anders gehört!)
werbsminderungsrente zurückgenommen werden, zwei-
tens Langzeiterwerbslose in der Rentenversicherung Wenn wir über das Thema Altersarmut sprechen,
deutlich besser abgesichert werden, und drittens muss dann sprechen wir zum einen über die Situation heute
eine solidarische Mindestrente eingeführt werden, die und zum anderen über das, was in der Zukunft sein wird.
Frauen und Männer in Ost und West wirksam vor Alters- Letzteres hängt ja davon ab, welche politischen Kon-
armut schützt, damit auch Herr Legler in Zukunft keine zepte zum Tragen kommen.
Pfandflaschen mehr sammeln muss. Denn die Linke ist Lassen Sie uns zunächst einmal über das Thema „Al-
der Überzeugung: Die Würde des Menschen ist unantast- tersarmut heute“ sprechen. Natürlich ist es richtig, dass
bar, auch im Alter. es um jeden, der von Altersarmut betroffen ist, schade
Herzlichen Dank. ist. Dahinter stecken oft tragische Schicksale, auf jeden
Fall aber immer individuelle Biografien. Manchmal
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lohnt es sich, genau hinzuschauen, wie es dazu kommen
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE konnte, dass ein Mensch durch das sehr dicht gewebte
GRÜNEN) soziale Netz, auch der Rentenversicherung, gefallen ist.
15524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Peter Tauber


(A) Der Kollege Weiß hat schon darauf hingewiesen, dass Damit sind wir beim Ausblick auf die Zukunft. Ich (C)
die Hälfte derjenigen, die auf Grundsicherung im Alter stehe nicht in Verdacht, regelmäßig bei den hier anste-
angewiesen sind, überhaupt nicht in die Rentenversiche- henden Debatten Rot-Grün in Schutz zu nehmen. Wir
rung eingezahlt hat. könnten einmal darüber reden, dass sie Griechenland in
die Euro-Zone aufgenommen haben, oder darüber, dass
Wir wissen also, dass es Menschen gibt, die tragische
sie die Maastricht-Kriterien als erste gebrochen haben.
Schicksale erlitten haben und im Alter nicht die entspre-
Aber im Zusammenhang mit der Demografie zu behaup-
chende soziale Sicherheit vorfinden. Aber – auch das ge-
ten – ich sage das an die Adresse der Linken –, dass Rot-
hört zur Wahrheit – das ist die Ausnahme. Der gegen-
Grün Veränderungen im Rentensystem gemacht hat, um
wärtigen Rentnergeneration, also denjenigen, die heute
die Rentnerinnen und Rentner zu ärgern, ist schon ein
über 65 Jahre sind, geht es so gut wie nie. Das ist die
starkes Stück. Das ist arg an den Haaren herbeigezogen.
reichste Rentnergeneration, die dieses Land je gesehen
Diese Nebenbemerkung kann ich mir nicht verkneifen.
hat. Auch das muss man an dieser Stelle einmal sagen.
Das liegt an der individuellen Lebensleistung, das liegt (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
aber auch daran, dass wir in der Bundesrepublik ein gu- habe ich nicht gesagt! – Weitere Zurufe von
tes Rentensystem entwickelt haben. Wir dürfen also der LINKEN)
nicht vergessen, auf welchem Niveau wir diese Debatte
Die Neujustierung des Rentensystems – beginnend
führen.
bei den Entscheidungen von Rot-Grün bis zu dem, was
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wir in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das än- ist eine logische Folge des demografischen Wandels.
dert sich nur!) Wenn es immer mehr ältere Menschen und immer weni-
ger jüngere Menschen gibt, dann können wir die Sozial-
Auch Im internationalen Vergleich ist Deutschland
systeme nicht einfach so fortführen wie bisher. Das ist
hinsichtlich des Rentenniveaus gut aufgestellt. Schauen
auch unter dem Aspekt Generationengerechtigkeit ein
Sie sich einmal das durchschnittliche Renteneinkommen
ganz wichtiger Punkt.
an.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden hier aber
nicht über Durchschnitte, sondern wir reden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
über Armut! Da hat die OECD eine ganz an- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
dere Bewertung des deutschen Rentensys- Kollegen Birkwald?
tems!)
(B) (D)
Kaufkraftbereinigt liegen wir in der EU an der Spitze. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
Österreich, Frankreich, die Niederlande und selbst Nein.
Wohlfahrtsstaaten wie Schweden liegen deutlich hinter (Zurufe von der LINKEN: Oh!)
uns. Man kann auch einmal den Vergleich zu unserem
Nachbarland Polen ziehen. Dort liegt die Rentenhöhe – Der Kollege Birkwald hat vorhin schon ausgiebig von
kaufkraftbereinigt bei nur 40 Prozent des deutschen Ren- seinem Recht, dazwischenzurufen, Gebrauch gemacht.
tenniveaus. Auch das gehört zur Wahrheit, darauf hinzu- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
weisen und sich solche Zahlen einmal anzuschauen. geht jetzt alles von Ihrer Redezeit ab!)
Der Kollege Weiß hat dankenswerterweise schon da- Ich habe mir schon den „Schweigefuchs“ verkniffen, den
rauf hingewiesen, dass in Deutschland 2,4 Prozent der man in der Kinder- und Jugendarbeit immer zeigt, wenn
über 65-Jährigen Leistungen der Grundsicherung im Al- jemand nicht aufmerksam zuhört, sondern dazwischen-
ter beziehen. Die Zahl ist seit 2007 sogar gesunken. Be- ruft. Die Zwischenrufe habe ich gehört. Deswegen
trachten Sie daneben einmal die Zahl der Kinder in die- braucht er jetzt keine Zwischenfrage zu stellen.
sem Land, die in Armut leben. Das ist die entscheidende
Zahl, wenn wir über die Vermeidung von Altersarmut in (Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie das ein-
der Zukunft reden. mal Herrn Weiß!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum – Ich habe Ihnen in Demut zugehört.
kommt denn das Wort Kinderarmut so oft im (Marco Buschmann [FDP]: Das können die
Koalitionsvertrag vor? – Mechthild Rawert nicht!)
[SPD]: Deshalb waren Sie bei den Regelsätzen
auch so großzügig! – Dr. Wolfgang Strengmann- Das ist der feine Unterschied. Ich habe in der heutigen
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht Debatte kein einziges Mal dazwischengerufen.
darum, die Armut zu beseitigen!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wer
Wir müssen uns fragen: Welche Perspektiven geben wir nichts zu sagen hat! – Elke Ferner [SPD]:
Kindern und Jugendlichen in diesem Land? Diesbezüg- Phantasielos! – Weitere Zurufe von der LIN-
lich hat diese Ministerin mit dem Bildungs- und Teilha- KEN!)
bepaket viel auf den Weg gebracht.
Sie rufen ständig dazwischen. Wenn Sie nicht dazwi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schenrufen, sondern aufmerksam zuhören würden, dann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15525
Dr. Peter Tauber
(A) bräuchten Sie keine Frage zu stellen. So einfach ist das durchrechnen und Ihnen aufzeigen, warum Ihre Rech- (C)
manchmal. nung falsch ist und nicht stimmt. Das überlasse ich aber
dem Kollegen Lehrieder; denn mit Blick auf meine Re-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- dezeit muss ich die verbleibende Minute ein bisschen an-
rufe von der Linken) ders nutzen.
Deshalb der Schweigefuchs, extra für Sie.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die zunehmend hohe
Erwerbsquote von Frauen. Diese sind ja überproportional
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: oft von Altersarmut betroffen. Initiativen wie der Ausbau
Es gibt noch eine Anfrage. der Kinderbetreuung, Ganztagsschulprogramme, Initiati-
ven zu familienbewussten Arbeitszeiten, die Schaffung
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): von Perspektiven zum Wiedereinstieg und der Einsatz für
Nein, ich lasse auch keine Zwischenfrage der Kolle- eine geschlechtergerechtere Lohnstruktur – all das sind
gin Dittrich zu. wichtige Beiträge, um Frauen künftig vor Altersarmut zu
bewahren.
Wenn wir über die Zukunft reden, lautet die entschei-
dende Frage: Was können wir tun, damit Altersarmut in Es kommt ein weiterer wichtiger Punkt hinzu, über
dieser Gesellschaft künftig kein Thema mehr ist? Damit den man einmal eine Minute nachdenken sollte: Es geht
sind wir an einem entscheidenden Punkt: Natürlich müs- um die Frage, in welchen gesellschaftlichen Strukturen
sen wir denjenigen, die heute arbeiten, und vor allem den Altersarmut vorkommt. Die Zahlen belegen sehr ein-
Kindern und Jugendlichen eine Perspektive geben: Ihnen drucksvoll, dass diejenigen, die sich für eine Familie ent-
müssen Angebote gemacht werden, damit sie eine gute scheiden, also eine Ehe oder eine feste Lebenspartner-
Schulbildung genießen, eine gute Ausbildung machen schaft eingehen, proportional weniger von Altersarmut
und eine möglichst ungebrochene Erwerbsbiografie hin- betroffen sind. Denn in der Regel ist es so, dass besser
legen können. Das bedeutet nicht, dass wir uns wün- für die soziale Sicherheit gesorgt ist, wenn Menschen
schen, dass jeder in dem Beruf, in dem er in das Er- Verantwortung füreinander übernehmen, als wenn sie
werbsleben eingestiegen ist, auch aus dem Erwerbsleben sich allein auf den Staat verlassen. Bei einem Zweiper-
ausscheidet. Es geht vielmehr um die Anschlussfähig- sonenhaushalt liegt die Armutsgefährdungsquote näm-
keit. Die Phasen der Arbeitslosigkeit müssen möglichst lich bei nur 11 Prozent. Bei alleinstehenden Männern
kurz sein, liegt sie hingegen bei 18 Prozent und bei alleinstehenden
Frauen sogar bei 24 Prozent.
(Elke Ferner [SPD]: Deshalb streichen Sie hier
alles zusammen!) (Elke Ferner [SPD]: Was sagt das den allein-
(B) stehenden Frauen? Sollen sie nun gut heiraten, (D)
damit eine nahezu vollständige Erwerbsbiografie mög-
lich ist und möglichst lang in die Sozialversicherungs- oder was?)
systeme eingezahlt werden kann. Das ist ganz wichtig. Diese Zahlen zeigen aus meiner Sicht eindrucksvoll,
Auch das ist ein Beitrag zum Kampf gegen die Altersar- dass die Familie, der Familienverbund eine Form des
mut. Zusammenlebens und eine solidarische Partnerschaft ist,
Dafür schaffen wir die Voraussetzungen, indem wir die vor Altersarmut schützt. Das entspricht auch unse-
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern; das rem Gesellschafts- und Familienmodell und bestätigt
Elterngeld und der Ausbau der Krippenplätze tragen ih- dieses aus meiner Sicht eindrucksvoll.
ren Teil dazu bei. (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
(Elke Ferner [SPD]: Sie mussten beim Krip- SES 90/DIE GRÜNEN – Elke Ferner [SPD]:
penausbau ja zum Jagen getragen werden!) Das ist peinlich, was Sie da erzählen!)
Am Ende ist das ein wichtiges Signal an die jungen Im Rahmen des „Regierungsdialog Rente“ ist die
Menschen in diesem Land. Bundesministerin zudem auf die Rentenversicherungen,
die Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, die Fach-
Die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland politiker und die Arbeitgeber zugegangen. Auch das war
– auch das gehört dazu – ist im Vergleich zu anderen ein Schritt in die richtige Richtung. Während die Oppo-
Ländern in Europa schon heute ein ganz maßgeblicher sition noch ausladend fragt, liefert die Ministerin bereits
Beitrag zum Kampf gegen die Altersarmut. Wer heute Antworten. So soll das sein. So erwarten wir das von un-
Arbeit hat, der wird morgen nicht in gleichem Maße von serer Regierung. Vielleicht hören Sie nächstes Mal zu.
Altersarmut bedroht sein. Das ist ein ganz wichtiges Si- Vielleicht beteiligen Sie sich an der Diskussion.
gnal.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wenn
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wir mal eingeladen würden, würden wir das
neten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE
gerne tun! Sorgen Sie für die Einladung!)
LINKE]: Nur wenn man mindestens 10 Euro
die Stunde verdient! Sonst wird das nichts!) Darüber würden wir uns freuen.
– Auf diesen Zwischenruf möchte ich gerne eingehen: Herzlichen Dank.
Der Kollege Lehrieder wird Ihnen das mit dem Mindest-
lohn und der Grundsicherung noch einmal in Ruhe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
15526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Mit anderen Worten, liebe Kolleginnen und Kollegen: (C)
Das Wort hat nun Angelika Krüger-Leißner für die Der Hinweis auf die Grundsicherung im Alter zeigt, dass
SPD-Fraktion. die schwarz-gelbe Bundesregierung weder jetzt noch in
Zukunft beabsichtigt, das Thema Altersarmut ernst zu
(Beifall bei der SPD) nehmen.

Angelika Krüger-Leißner (SPD): (Frank Heinrich [CDU/CSU]: Quatsch!)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch. Nach Angaben
Kollegen! Die Warnungen vor Altersarmut kommen von des Statistischen Bundesamtes bezogen Ende 2009 rund
allen Seiten. Sie sind unüberhörbar in Deutschland. Zu- 764 000 Personen in Deutschland Leistungen aus der
letzt kamen sie Anfang des Monats vonseiten der Grundsicherung, darunter mindestens 400 000 Personen
OECD. Diese hat bescheinigt, dass Deutschland im in- im Rentenalter.
ternationalen Vergleich im Hinblick auf die Alterssiche-
rung von Geringverdienern zu den Schlusslichtern zählt. Herr Weiß, Sie haben versucht, das gering zu reden,
Ich sage Ihnen: Das ist eine Schande! (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nein!)
der LINKEN) indem Sie gesagt haben: 1,8 Prozent, was ist denn das
Das bedeutet nämlich, dass auch für Menschen, die ihr schon? – Das sind 400 000 Menschen, die ein schweres
Leben lang gearbeitet, aber nur ein geringes Einkommen Schicksal haben,
bezogen haben, das Risiko der Altersarmut besteht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Denn sie erhalten nur eine Minirente, die ein menschen- der LINKEN)
würdiges Leben im Alter nicht sichert.
die in der Regel ein Leben lang gearbeitet haben und
Auch nach der Auswertung der Antworten der Bun- dennoch nur eine Minirente beziehen.
desregierung zur Großen Anfrage komme ich zu dem
Schluss: Das sind keine guten Aussichten für den Ruhe- Dabei will ich eines sagen: Es ist gut, dass wir die
stand der Menschen. Das gilt nicht nur für Einzelne. Das Grundsicherung in Deutschland überhaupt haben;
gilt gleichermaßen für Ost und West. Es gilt gleicherma- schließlich habe ich daran mitgearbeitet, dass wir sie
ßen für Männer und Frauen, für Jugendliche ebenso wie eingeführt haben.
für die heute 40- bis 50-Jährigen, für Menschen, die zu (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
Niedriglöhnen beschäftigt sind, für Menschen, die aus [FDP]: Ach! – Elke Ferner [SPD]: Wollte die
(B) unterschiedlichsten Gründen Brüche in ihrer Erwerbs- CDU nämlich nicht haben!) (D)
biografie zu verzeichnen haben, aber genauso auch für
Selbstständige, die nicht in der Lage sind, ausreichend Es ist ebenfalls gut, dass die Kommunen dafür auch das
für das Alter Vorsorge zu tragen, für Menschen, die aus nötige Geld haben. Aber wir dürfen uns darauf doch
gesundheitlichen Gründen in ihrer Erwerbsfähigkeit ge- nicht ausruhen;
mindert und eingeschränkt sind, und für Alleinerzie- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
hende. Heute Morgen haben mir Künstler in einer Runde Tun wir auch nicht!)
gesagt, dass das auch für den Bereich der Kreativen gilt.
wir müssen handeln.
Viele Menschen in Deutschland sind in Sorge. Sie fra-
gen sich: Wie komme ich im Alter über die Runden? Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass der
Werde ich staatliche Hilfe brauchen oder wird meine beste Schutz vor Altersarmut stabile Erwerbsbiografien
Rente reichen? – Diese Fragen, Frau Ministerin von der sind. Das wissen wir auf allen Seiten im Hause.
Leyen, beschäftigen die Menschen in Deutschland. Al-
(Elke Ferner [SPD]: Nein, dass wissen die von
tersarmut ist ein zentrales Thema in unserer Gesell-
der Koalition nicht! Wir schon!)
schaft. Die Menschen fürchten sich vor der Zukunft. Sie
haben Angst. Sie erwarten von Ihnen eine Rentenreform, Aus diesem Grunde kommen wir nicht darum herum, die
die Lösungsvorschläge bezüglich der Frage bietet, wie Situation für die Menschen, die im Niedriglohnbereich
wir der Zunahme von Altersarmut entgegentreten kön- arbeiten, zu verbessern. Dafür gibt es nur einen Weg,
nen, und zwar wirksam. und zwar die Einführung eines Mindestlohns. Sie kom-
men nicht darum herum.
Aber leider ist das, was ich von der Bundesregierung
bisher gehört habe, auch im Rahmen der Beantwortung Genau diese Voraussetzungen, die gegeben sein müs-
der Großen Anfrage, höchst unbefriedigend. Dazu sen, damit Altersarmut nicht entsteht, sind seit langem
möchte ich gern zwei Beispiele nennen. nicht mehr erfüllt. Die Versicherungsverläufe im Westen
sind schon seit den 70er-Jahren nicht mehr stabil, weil
Erstens. Auf die Frage, ob Altersarmut gegenwärtig
sich die Arbeitsmarktlage in Richtung Langzeitarbeitslo-
ein Problem ist, antwortet die Bundesregierung – ich zi-
sigkeit zu verändern begonnen hatte. Nach der Wieder-
tiere –:
vereinigung und dem Zusammenbruch der Wirtschaft im
Nein, Altersarmut ist heute kein verbreitetes Phäno- Osten gab es eine Arbeitsmarktkrise ungeahnten Ausma-
men. Wer im Alter bedürftig ist, dem sichert die ßes mit letztendlich gravierenden Auswirkungen auf die
Grundsicherung im Alter den Lebensunterhalt. Alterssicherung der Menschen. Beides, die Entwicklung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15527
Angelika Krüger-Leißner
(A) im Westen wie die Entwicklung im Osten, hat starke Mehr Geld für die von Armut im Alter bedrohten Men- (C)
Spuren in den Erwerbsbiografien hinterlassen. Die Aus- schen – das ist wohl kaum mit der FDP zu machen.
wirkungen des demografischen Wandels kommen noch Diese Menschen sind ja auch nicht die Zielgruppe, für
dazu; leider habe ich zu wenig Zeit, darüber zu reden. die sie arbeitet.
Alles spricht aber dafür, dass bei den Problemen, die wir
(Pascal Kober [FDP]: Wir arbeiten für dieses
lösen müssen, Altersarmut zukünftig eine immer größere
Land und für alle!)
Rolle spielen wird.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Dafür haben wir genügend Beispiele erfahren. Die Aus-
so!) wirkungen dieser Idee auf den Haushalt sind ja noch
nicht einmal durchgerechnet, geschweige denn, dass ihre
Hier vermisse ich Ihre Konzepte. Umsetzung ab dem Jahr 2013 finanziert wäre.
Wenn ich gerade von Konzepten spreche, möchte ich Ich kann nur sagen: Das ist – wie auch an anderen
als zweites Beispiel die kürzlich von Ihnen, Frau von der Stellen – purer Aktionismus und sozial unverantwort-
Leyen, entwickelte Idee einer Zuschussrente ansprechen. lich. Deshalb fordere ich Sie auf: Beenden Sie dieses
Ich habe gehofft, dass die Bundesregierung endlich auf- planlose Agieren, nehmen Sie die Warnung der OECD
wacht und mit dem „Regierungsdialog Rente“ eine ernst, packen Sie das Thema „Altersarmut in Deutsch-
grundlegende Reform beginnt, um Altersarmut entge- land“ endlich an, hören Sie auf die Gewerkschaften, die
genzuwirken. Aber vielleicht war das gerade schon der Sozialverbände und die Kirchen.
kleine Regierungsdialog, den wir hier gerade beobachtet
haben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich habe mich getäuscht. Nach Ihren Vorstellungen, Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Frau von der Leyen, soll unter bestimmten Vorausset- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Höchste Zeit!)
zungen eine Aufstockung von kleinen Renten auf
850 Euro erfolgen. Lücken sollen also geschlossen wer-
den. Was bei Ihnen so schön klingt, ist leider nicht zu Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Ende gedacht; denn viele Bedürftige werden außen vor Legen Sie ein grundlegendes Konzept vor. Das, was
gelassen. Diese Ankündigung erinnert mich fatal an die Sie bisher zeigen, ist ein sozialpolitisches Armutszeug-
Ankündigung der Bildungs-Chipkarte. Diese Idee ist nis.
zerplatzt wie eine Seifenblase. Danke.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) (D)
Ich fürchte, so wird es auch mit der von Ihnen angespro- der LINKEN)
chenen Zuschussrente sein.
Ich will Ihnen das gerne begründen: Mit Ihrem eige- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nen Koalitionspartner, der FDP, war Ihr Vorgehen offen- Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
bar überhaupt nicht abgestimmt. Die Kolleginnen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kollegen der FDP fielen im wahrsten Sinne des Wortes der CDU/CSU)
aus allen Wolken, als sie morgens die Zeitung aufschlu-
gen. Als Beleg dafür möchte ich die Aussagen einer Kol-
Pascal Kober (FDP):
legin zitieren. Frau Dr. Winterstein hat unmittelbar nach
dem Bekanntwerden der Idee einer Zuschussrente am Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
8. September 2011 hier im Plenum erklärt – ich zitiere –: glaube, wenn wir uns als Politik mit dem Thema Alters-
armut beschäftigen, dann tun wir das in einer dreifachen
Ich denke, man muss über die entsprechenden Vor- Verantwortung. Zunächst einmal, lieber Matthias
schläge noch ausführlich diskutieren und die De- Birkwald – das ist überhaupt gar keine Frage –, haben
tails klären. … wir eine Verantwortung gegenüber denjenigen Men-
schen, die geringe Einkünfte im Alter haben.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ist
ja auch gut so!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)
– Jetzt kommt der wichtigste Satz! Aber wir alle hier haben in unseren Reden betont, dass
das höchste Risiko für Altersarmut unterbrochene Er-
Bei alldem muss man natürlich im Auge haben,
werbsbiografien sind.
dass Verbesserungen bei Sozialleistungen immer
das Problem mit sich bringen, dass sie Geld kosten. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja! – NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für die Zu-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) schussrente nicht?)

Das ist doch fast eine klare Absage von Ihrer Haushälte- Ich bitte Sie, anzuerkennen, dass diese Bundesregierung
rin. und die sie tragende Regierungskoalition vor allen Din-
gen einen präventiven Ansatz wählen, weil das Problem
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist doch der Altersarmut mit Blick auf die Zukunft gelöst werden
nicht wahr!) muss. Ich bitte Sie, anzuerkennen, dass seit langer Zeit
15528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Pascal Kober
(A) keine Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik so er- gewiesen haben, nicht alle Rentenprobleme lösen wird, (C)
folgreich war wie diese Bundesregierung. auch nicht das Problem der Altersarmut.
(Elke Ferner [SPD]: Die Erfolge kommen trotz (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
der Regierung, nicht wegen der Regierung!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir auch
nicht behauptet! – Matthias W. Birkwald [DIE
28,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeits-
LINKE]: 8,50 Euro reichen dafür nicht!)
plätze – das kann sich sehen lassen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Ich bitte Sie, wenigstens so ehrlich zu sein, dass Sie Ih-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Erfolg rer eigenen Fraktion im Deutschen Bundestag und den
der Arbeitsmarktpolitik!) Menschen, die dieser Debatte folgen, einmal vorrech-
nen, wie viel für die Menschen bei einem Mindestlohn
Wir haben jetzt beispielsweise auch eine Pflegere- von 8,50 Euro, effektiv zur Verhinderung von Altersar-
form in Angriff genommen mut herauskommt.
(Elke Ferner [SPD]: Was? Sie haben noch (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
nicht einmal Eckpunkte, Herr Kollege! „In NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch
Angriff genommen“! – Gegenruf von der FDP: im Ausschuss und auch sonst alles schon meh-
Das ist mehr, als Sie geschafft haben, Frau rere Male gemacht!)
Kollegin!)
Das lassen Sie ganz gezielt verschleiert und im Halbdun-
– Sie können mir ja eine Zwischenfrage stellen –; denn keln.
wir wissen, dass Pflegezeiten auch eine Ursache für un-
terbrochene Erwerbsbiografien sind. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!
Das ist nicht ehrlich!)
Ich bin meinem jüngeren Kollegen Tauber durchaus
dankbar, dass er an die zweite Verantwortung, die wir Ich rufe Sie dazu auf: Beziffern Sie, was Sie mit einem
haben, erinnert hat: die Verantwortung gegenüber künfti- Mindestlohn von 8,50 Euro erreichen wollen! Kollege
gen Generationen. Ich denke, allen hier im Saal – bis auf Birkwald hat Ihnen ja vorgerechnet, dass man mindes-
den Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei – ist tens einen Stundenlohn von 10 Euro bräuchte, um das
klar, dass wir nicht ewig an der Sozialversicherungs- Niveau der Grundsicherung zu erreichen.
schraube drehen können, weil höhere Sozialversiche- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Rechnen kann
rungsbeiträge wie zum Beispiel höhere Rentenversiche- er, der Kollege Birkwald! – Dr. Kirsten
rungsbeiträge langfristig zu einer Verschärfung des Tackmann [DIE LINKE]: Was ist denn Ihr
(B) Problems der Altersarmut führen würden; denn sie Vorschlag?) (D)
brächten zwangsläufig Arbeitsplatzabbau und damit un-
terbrochene Erwerbsbiografien mit sich. Frau Göring-Eckardt, Sie haben in der heutigen De-
batte wie auch in der Debatte zur Einbringung des Haus-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist halts des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
falsch! – Elke Ferner [SPD]: Aha! Deshalb das eine Fülle von Fragestellungen benannt, von der Wohn-
Mövenpick-Geschenk!) situation von Älteren bis zur Situation von Älteren mit
Wir können auch nicht ewig an der Steuerschraube dre- Migrationshintergrund. Sie haben Fragen gestellt und
hen oder die Zuschüsse an die Rentenversicherung erhö- suggeriert, die Bundesregierung würde sich um diese
hen; denn auch das belastet künftige Generationen und Themen nicht ausreichend kümmern.
nimmt ihnen die Chancen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
(Elke Ferner [SPD]: Aber die Mövenpick- GRÜNEN]: Ja! So ist es auch!)
Steuersenkung belastet niemanden!) Aber Sie haben null Komma null Antworten und Lösun-
Ich möchte auch an die dritte Verantwortung, die wir gen skizziert. Nichts haben Sie zur Lösung dieser Pro-
bei so einem sensiblen Thema wie der Altersarmut ha- bleme beigetragen.
ben, erinnern: die Verantwortung gegenüber der Wahr-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
haftigkeit, der Ernsthaftigkeit und der Glaubwürdigkeit
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gucken Sie doch mal
von Politik.
in unsere Große Anfrage! Da sagt die Bundes-
(Elke Ferner [SPD]: Neuland! – Dr. Kirsten regierung zu allen Fragen, die wir gestellt ha-
Tackmann [DIE LINKE]: Jetzt sind wir ge- ben: Wir haben keine Antwort! – Katrin
spannt!) Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Oh doch, das tun wir! Machen Sie sich
Ich glaube, das sehe ich nicht allein so.
da mal keine Sorgen! – Elke Ferner [SPD]: Sie
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das doch auch nicht! – Diana Golze [DIE LINKE]:
können wir nur hoffen!) Wo sind denn die FDP-Vorschläge?)
Wir alle sollten zugeben, dass es auf diese Frage keine Jetzt beginnt der Rentendialog. Eigentlich sollten Sie
einfachen Antworten gibt. Ich habe mit Freude vernom- sich konstruktiv daran beteiligen und Ihre Vorschläge
men, dass der von Ihnen propagierte Mindestlohn von vortragen. Dass Sie einfach nur kritisieren, ist mir, ge-
8,50 Euro, Frau Göring-Eckardt, auf den Sie heute hin- rade als Vertreter der jüngeren Generation, zu wenig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15529
Pascal Kober
(A) Das möchte ich im Hinblick auf die Verantwortung und in die alle Beiträge auf alle Einkommen zahlen, unab- (C)
die Glaubwürdigkeit der Politik betonen. hängig vom Erwerbsstatus.
Vielen Dank. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auf alle Ein-
kommen?)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke
Ferner [SPD]: Was haben Sie denn jetzt gerade Dadurch würden Lücken in den Versicherungsbiografien
gesagt? Was war denn Ihr Vorschlag? – tatsächlich geschlossen.
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Haben
Es müssen auch deshalb Beiträge auf alle Einkommen
wir Ihren Vorschlag überhört?)
gezahlt werden, damit wir eine nachhaltige Finanzierung
der Rentenversicherung gewährleisten können. Das ist
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nicht von heute auf morgen zu erreichen. Außerdem hat
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für die diese Maßnahme nur langfristige Wirkungen. Präventive
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maßnahmen wirken ja insgesamt nur langfristig; das ist
aber auch gut so. Dafür muss man, wie gesagt, unbedingt
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ sorgen. Hierfür sind die Vorschläge der Bundesregierung
DIE GRÜNEN): allerdings zu schwach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen aber auch kurzfristige Lösungen. Ich
Ganz kurz zu Herrn Kober. Wir haben in unserer Großen bin dem Kollegen Matthias Birkwald sehr dankbar, dass
Anfrage unter anderem nach zielgruppenspezifischen er an einem Einzelbeispiel, aber auch an den Zahlen, die
Maßnahmen gefragt. Wir wollten wissen, ob die Bun- in der Großen Anfrage zu finden sind, deutlich gemacht
desregierung Antworten auf diese Fragen hat. hat: Es gibt heute schon Altersarmut. Davon betroffen
(Pascal Kober [FDP]: Wir wollen ja Ihre Ant- sind nicht nur die 440 000 Menschen, die in der Grund-
worten hören! – Gegenruf der Abg. Elke sicherung sind. Wenn man sich die Zahlen zum Altersar-
Ferner [SPD]: Ja, wer regiert denn?) mutsrisiko ansieht, dann stellt man fest, dass in Deutsch-
land 2,4 Millionen Menschen leben, die ein Einkommen
Von der Bundesregierung, die auch beim Regierungsdia- beziehen, das unterhalb der Altersarmutsrisikogrenze
log gefordert ist, kam immer nur die Antwort: Nein, wir liegt. Diese Grenze ist nicht sehr hoch. Sie liegt für einen
planen keine speziellen Maßnahmen für spezielle Grup- Alleinstehenden bei 929 Euro, für einen Paarhaushalt bei
pen. nur 1 400 Euro, das heißt bei 700 Euro pro Person. Da-
(Pascal Kober [FDP]: Ihre Antworten! – Ge- von müssen in Paarhaushalten 1 Million Menschen in
genruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE Deutschland leben, Herr Tauber, und allein 1 Million al-
(B) (D)
LINKE]: Sie regieren ja auch nicht!) leinstehende Frauen bekommen weniger als 929 Euro
pro Monat.
Das ist daneben. Wir brauchen neben den allgemeinen
Maßnahmen auch zielgruppenspezifische Maßnahmen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und das
in dieser reichen Gesellschaft!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dieser Betrag ist nicht sehr weit von den 850 Euro, die
Nun zu dem, was ich eigentlich sagen wollte. Es geht die Ministerin gefordert hat, entfernt.
bei diesem Thema nicht nur um Altersarmut. Das Pro-
blem ist weitaus größer. Es geht um die Akzeptanz der Nun freue ich mich, dass sich alle Parteien, was die
Rentenversicherung insgesamt; der Kollege Weiß hat kurzfristigen Maßnahmen betrifft, unserer Forderung
das schon angedeutet. Der Beitragssatz zur Rentenversi- nach einer Garantierente langsam annähern, wenn auch
cherung beträgt etwa 20 Prozent. Wegen der Riester- nur schrittweise.
Rente kommen für viele Menschen weitere 4 Prozent (Pascal Kober [FDP]: Was? – Dr. Heinrich L.
obendrauf. Das heißt, ein Viertel des Einkommens vieler Kolb [FDP]: Haben wir etwas verpasst?)
Menschen fließt in die Rentenkasse. Wenn es uns nicht
gelingt, dafür zu sorgen, dass die Rente vor Armut Die Linke fordert mittlerweile eine bedürftigkeitsorien-
schützt, dann haben wir ein großes Problem: Die Men- tierte Mindestrente; diese ist allerdings eher ein besseres
schen stellen die gesetzliche Rentenversicherung in- Hartz IV.
frage. Auf diese Herausforderungen müssen wir drin-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, na,
gendst reagieren.
na! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU]: Die Linke hätte sowieso am liebsten
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- alle Menschen in Hartz IV!)
KEN)
Herr Gabriel hat in der Sommerpause öfter mal von
Wenn der Kollege Kolb sagt: „Wir brauchen einen einer Sockelrente geredet. Dazu habe ich von der SPD
präventiven Ansatz“, dann ist das völlig richtig. überhaupt noch nichts gehört. Sie sind hier sehr vage.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut!) Bisher gibt es die Forderung der Linken und der SPD,
die Rente nach Mindesteinkommen wieder einzuführen.
Wir brauchen auch eine präventive Rentenpolitik. Wir
wollen hier in Richtung einer Bürgerversicherung gehen, (Elke Ferner [SPD]: Richtig! – Matthias W. Birkwald
weil wir mittelfristig eine Rentenversicherung brauchen, [DIE LINKE]: Das ist vernünftig!)
15530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) Das halten wir für falsch, weil sie in der Tat nicht sehr Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ (C)
zielgenau ist. Hier teilen wir die Position der Bundes- DIE GRÜNEN):
regierung. Ein Experte hat in der Ausschussanhörung Wir haben unser Konzept einer Garantierente vorge-
gesagt, das sei vergleichbar mit einer Schrotflinte, also legt, die besser ist als eine Zuschussrente, weil sie vor
nicht zielgenau. Altersarmut schützt und die Akzeptanz der Rentenversi-
cherung wiederherstellt.
Im Gegensatz dazu ist die Zuschussrente, die die
Ministerin vorgeschlagen hat, vergleichbar mit einer Vielen Dank.
Wasserpistole, weil damit fast niemand erreicht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Elke Ferner [SPD]: Wasserpistole ohne Wasser,
bitte! Da ist kein Wasser drin!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU-
Sie sprechen von 15 000 Menschen im Jahre 2013. Die Fraktion.
Zahl soll dann langsam ansteigen. Aber wer erreicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heutzutage noch 45 Versicherungsjahre? Wenn es die
Diagnose ist, dass es vor allem um die Menschen mit ei-
ner unterbrochenen Erwerbsbiografie geht, dann darf Paul Lehrieder (CDU/CSU):
man die Hürde für eine Zuschuss- oder Mindestrente Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
nicht zu hoch setzen. Liebe Kollegen! Herr Kollege Strengmann-Kuhn, ich
fange da an, wo Sie aufgehört haben. Sie haben ausge-
Wir fordern mit der Garantierente, dass Menschen mit führt, Sie könnten nicht nachvollziehen, dass 45 Bei-
30 Versicherungsjahren eine Rente bekommen, die über tragsjahre erreicht werden können. Sie haben schlicht
dem Grundsicherungsniveau liegt. Das wäre wirklich überhört bzw. eben nicht zur Kenntnis nehmen wollen,
eine armutsfeste Sicherung. dass in die Anrechnungszeit auch Zeiten der Arbeitslo-
sigkeit, Zeiten der Kindererziehung und sonstige Zeiten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Beitragsfreistellung einfließen. Das heißt, die Hür-
den bei der Erreichung dieser 45 Jahre werden abge-
Wichtig ist – das ist auch noch einmal zu betonen –: senkt. Das wollte ich gleich zu Beginn korrigieren, damit
Für die Akzeptanz der Rentenversicherung müssen wir sich da kein falscher Eindruck verfestigt.
gewährleisten, dass derjenige, der mehr einzahlt, auch
eine höhere Rente erhält. Auch hier ist die Zuschussrente (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie
wieder die falsche Lösung; denn es wird zwar gefordert, des Abg. Pascal Kober [FDP])
(B) (D)
dass man 45 Jahre lang in die Rentenversicherung einge- Ich muss auch noch etwas zum Aufschlag der hoch-
zahlt und am Ende 35 Jahre lang geriestert hat, aber wel- geschätzten Frau Kollegin Göring-Eckardt sagen. Frau
che eigenen Beiträge geleistet wurden, um einen An- Kollegin Göring-Eckardt, Sie haben ausgeführt, die
spruch zu haben, ist egal. Das Geld wird komplett Riester-Rente sei wirksam. Das unterstreiche ich voll
wieder einkassiert. Völlig unabhängig davon, ob jemand und ganz. Ich glaube, wir haben mit der gestrigen Ent-
100 Euro, 500 Euro oder 800 Euro im Monat selbst vor- scheidung zur Euro-Stabilität einen wichtigen Schritt in
gesorgt hat, wird die Rente immer auf 850 Euro aufge- Bezug darauf getan, dass durch einen stabilen Euro die
stockt. in Riester-Verträgen angelegten Gelder auch in Zukunft
zur Verfügung stehen. Das alles hängt zusammen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Göring-Eckardt, mit Ihrem großen Lamento, wir
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. hätten im Sparpaket Kürzungen bei der vernünftigen Al-
terssicherung für Langzeitarbeitslose vorgenommen, lie-
gen Sie falsch.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
Auch dadurch wird die Akzeptanz der Rentenversi- GRÜNEN]: Über 7 Milliarden Euro Strei-
cherung gefährdet. chung!)
In einem Jahr der Langzeitarbeitslosigkeit entsteht eine
Ich fasse zusammen: Die Regierung hat sich zwar be- Rentenanwartschaft in Höhe von 2,06 Euro. Das heißt,
müht, aber es ist nur ein mickriges Reförmchen mit un- nach 40 Jahren Langzeitarbeitslosigkeit hat man eine
erwünschten Nebenwirkungen herausgekommen. Hier Rentenanwartschaft in Höhe von über 80 Euro erwor-
muss dringend nachgebessert werden, um zu einer ech- ben. Wenn Frau Ministerin von der Leyen jetzt eine Zu-
ten Garantierente zu kommen, bei der sich die Menschen schussrente von 850 Euro auf den Weg bringt, dann ist
darauf verlassen können, dass nach langer Beitragszah- das mehr als zehnmal so viel, wie Langzeitarbeitslose
lung eine Rente herauskommt, die sie wirklich vor Ar- bzw. Hartz-IV-Empfänger über Beiträge zur Arbeitslo-
mut schützt. senversicherung als Anwartschaft erreichen können. Das
muss man auch einmal richtigstellen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen! wie des Abg. Pascal Kober [FDP] – Katrin
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15531
Paul Lehrieder
(A) Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich zitieren, was (C)
NEN]: Nur dass die Leute nicht mehr aus der unsere Bundesministerin zur Eröffnung des „Regie-
Langzeitarbeitslosigkeit herauskommen!) rungsdialog Rente“ sagte: Die Renten selbst sind demo-
grafiefest und sicher. – Sie hat recht, wie immer.
Jetzt komme ich zum Mindestlohn. Kollege Tauber
hat die Spannung bereits aufgebaut. Herr Kollege (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
Birkwald, in der letzten Ausschusssitzung haben Sie die LINKE]: Ich denke, unfehlbar ist bei euch nur
Frau Ministerin gefragt – sie hat Ihnen ganz ergriffen zu- der Papst!)
gehört –, wie hoch der Verdienst sein müsse, um eine
auskömmliche Rente in der Größenordnung der von uns Ich bitte den Herrn Staatssekretär, es der Ministerin ent-
geplanten Zuschussrente zu erreichen. Die Frau Ministe- sprechend mitzuteilen.
rin hat Ihnen geantwortet: 12 Euro. Jetzt haben Sie die Unsere Renten sind heute in den allermeisten Fällen
Chuzpe, hier abermals 10 Euro pro Stunde zu verlangen. ausreichend. Heute ist die gesetzliche Rente noch die
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Als wichtigste Form der Altersvorsorge. Sie macht 65 Pro-
Einstieg! Da sehen Sie mal, was wir für eine zent aller Alterseinkommen in Deutschland aus. 68 Pro-
realistische Politik machen!) zent der Rentner leben allein von der gesetzlichen Rente
als Alterseinkommen.
Damit erreichen Sie doch keine Alterssicherung! Hier
sind wir doch schon zwei Schritte weiter als die Links- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Im Os-
partei. ten sind es über 90 Prozent, Kollege
Lehrieder!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE Herr Kollege Birkwald, ich muss Ihnen schon wieder
LINKE]: Als Einstieg, Herr Kollege!) eine kleine Richtigstellung zumuten. Sie haben vorhin
ausgeführt, die Frau im Westen habe eine Durchschnitts-
Es ist richtig: Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger rente von 494 Euro, die im Osten eine von 666 Euro.
können von einem funktionierenden Staat erwarten, dass Man muss fairerweise – das hat bereits Winston
er sich darum kümmert, dass nach mehreren Jahrzehnten Churchill erkannt – sagen: Ich glaube keiner Statistik,
Arbeit eine auskömmliche Rente zur Verfügung steht. Es die ich nicht selber gefälscht habe. – Dies sind Durch-
ist auch richtig – ich glaube, Frau Kollegin Krüger- schnittsrenten; das ist richtig.
Leißner hat bereits darauf hingewiesen –, dass die Sorge
um ein gewisses Auskommen bzw. einen gewissen Le- (Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]
bensstandard im Alter sehr viele Menschen, auch junge, meldet sich zu einer Zwischenfrage)
(B) umtreibt. Ich bin froh, dass sehr viele junge Menschen (D)
– Herr Kollege Birkwald, warten Sie mit Ihrer Frage, bis
auf der Tribüne sind, die von den Entscheidungen, die ich Ihnen das erklärt habe. – Es sind aber auch Anwart-
wir heute treffen, in Zukunft betroffen sein werden. Die schaften dabei, die nicht für ein auskömmliches Leben
Bürgerinnen und Bürger vertrauen auf uns, und dieser im Alter gedacht sind. Wenn ich mir als Rechtsanwalt im
Verpflichtung müssen wir nachkommen. Wir werden ihr Rahmen einer Zusatzbeschäftigung als abhängig Be-
auch nachkommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von schäftigter eine Rentenanwartschaft von 4,50 Euro er-
den Grünen. werbe, wird diese in das Gesamtpaket der Durchschnitts-
Über die Fragen, die durch die Bundesregierung be- renten mit eingerechnet. Die Zahlen beziehen sich also
antwortet wurden, wurde bereits am 7. September dieses nicht nur auf die Menschen, die von dieser gesetzlichen
Jahres – die Frau Ministerin machte den Aufschlag zum Rente im Alter leben, sondern auch auf solche, die ihr
„Regierungsdialog Rente“ – hier an diesem Mikrofon in- Haupteinkommen von berufsständischen Altersversor-
tensiv diskutiert. Der Regierungsdialog ist ein offener gungswerken beziehen.
Diskussionsprozess. Im Übrigen stehen wir hier am An-
Der Kollege Birkwald will etwas fragen.
fang. Das heißt also, Ihre Anregungen und Ideen sowie
Ihre geschätzte Kritik, Herr Kollege Strengmann-Kuhn,
werden wir natürlich im Rahmen dieses Dialogs sehr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gern aufnehmen. Wir hören aufeinander. Natürlich kön- Herr Kollege Birkwald, Sie haben das Wort.
nen wir auch von den Grünen das eine oder andere ler-
nen; das will ich nicht verhehlen. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr
DIE GRÜNEN) Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Kollege
Lehrieder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
Es handelt sich um einen offenen Diskussionsprozess, an die Rentnerinnen und Rentner im Osten zu über 90 Pro-
dem die Rentenversicherung, die Fachpolitiker, die zent ausschließlich von der gesetzlichen Rente leben und
Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, die Arbeitge- sie gar keine Chance hatten, privat vorzusorgen oder
ber sowie weitere Institutionen und Akteure mit dem sich eine betriebliche Altersvorsorge aufzubauen?
Ziel beteiligt sind, mögliche Änderungen im Renten-
recht daraufhin zu prüfen, ob sie die Lebensleistung ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Sys-
recht belohnen und den Bedürftigkeitsrisiken wirksam temfrage! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar
entgegenwirken. Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist aber so!)
15532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

(A) Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
Herr Kollege Birkwald, ich danke Ihnen ausdrücklich der FDP – Karl Schiewerling [CDU/CSU]:
für die Frage. Wir können nichts dafür, dass in früheren Der Kollege Weiß hat auch immer recht!)
Zeiten der damalige Staat auf dem Gebiet der heutigen – Der hat auch immer recht. – Dank zahlreicher Refor-
neuen Länder für seine Menschen nicht mehr an Alters- men basiert unser Rentensystem auf drei Säulen und
vorsorge erwirtschaften konnte. Die Fehler der SED konnte deswegen unbeschadet die Wirtschaftskrise über-
bzw. Ihrer Vorgänger uns in die Schuhe zu schieben, stehen. Diese Säulen sind erstens die gesetzliche Rente,
geht natürlich nicht. zweitens die betriebliche Altersvorsorge und drittens die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zusätzliche Vorsorge. Unsere Aufgabe ist es nun, Anpas-
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sungen vorzunehmen, die weiterhin eine gerechte Vertei-
zeigt Ihre Ignoranz und Arroganz!) lung garantieren. Renten müssen ein Spiegel der Er-
werbsphase bleiben.
Es ist richtig, dass das unterschiedliche Rentenniveau
auch daher rührt, Wir haben gestern Abend in erster Lesung den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir Kommunen beschlossen. Das ist ein richtiger Weg, weil
haben ein anderes Rentensystem! Das ist eine die Kommunen dadurch entlastet werden. Der eine oder
Tatsache!) andere hat dabei im Vermittlungsausschuss mitgewirkt;
auch das will ich nicht verhehlen. Ich sage das, weil die
dass es im Osten keine Pensionen, keine Beamtenversor- Grundsicherung im Alter, die der Bund in den nächsten
gung etc. gegeben hat, die in das Rentensystem einflie- Jahren komplett übernehmen wird, selbstverständlich
ßen konnten. – Herr Birkwald, ich bin noch nicht fertig; weiterhin als steuerfinanzierte Fürsorgeleistung erhalten
ich möchte noch zwei Sätze sagen. Bleiben Sie noch ein bleiben soll, um all denjenigen, denen keine ausreichen-
bisschen stehen, dann passt es schon. – Wir müssen aber den Mittel zur Verfügung stehen, auszuhelfen.
aufpassen, dass für diejenigen, die heute im Berufsleben
stehen, eine auskömmliche Sicherung im Alter möglich Zusätzlich müssen allerdings gesellschaftlich rele-
ist. vante Leistungen wie Kindererziehung und die Pflege
von Angehörigen entsprechend berücksichtigt werden.
Ich komme – der Kollege Weiß hat es eben bereits Das wird bei den Beitragsbemessungszeiten der Zu-
ausgeführt – zu den Zahlen. satzrente in dem neuen Rentenmodell erfolgen. Insbe-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sondere Frauen erfahren im bisherigen Modell Be-
nachteiligungen. Außerdem sollen Niedrigverdiener
kenne ich jetzt aber schon! Das ist keine Ant-
(B)
wort mehr auf meine Frage!) oder Menschen, die einer Teilzeitbeschäftigung nachge- (D)
hen und privat vorgesorgt haben, besser gestellt werden
– Ja, aber das zu wissen, hilft Ihnen sicherlich weiter. – als die, die wenig gearbeitet und nicht vorgesorgt haben.
2,4 Prozent der Menschen auf dem Gebiet Deutschlands
(Elke Ferner [SPD]: Oder Vollzeit gearbeitet
leben derzeit von ergänzenden Transferleistungen im Al-
und nicht vorgesorgt haben!)
ter. Das ist – bezogen auf den gesamten Schnitt der Be-
völkerung – unterdurchschnittlich wenig. Dies ist gut. Es – Frau Ferner, Sie sprechen doch gleich.
wurde darauf hingewiesen, dass es der heutigen Rentner-
generation so gut geht wie sicherlich wenigen Rentner- (Elke Ferner [SPD]: Ich stimme mich schon
generationen in Deutschland, und das gilt auch für die mal ein!)
Zukunft. Wir müssen ebenfalls darauf hinweisen, dass Private und betriebliche Vorsorge muss sich auch für Ge-
– das ist auch ein Appell an die Jugend – rechtzeitig vor- ringverdiener lohnen. Hier gilt es, existierende Fehl-
gesorgt werden muss, weil die gesetzliche Rente allein anreize auszuhebeln.
möglicherweise in vielen Bereichen nicht mehr aus-
reicht. Wie genau diese Probleme zu lösen sind, wird der
„Regierungsdialog Rente“ bis Ende des Jahres erarbei-
Auch der Präsident der Rentenversicherung, Herr ten. Es ist wichtig, die Ergebnisse gemeinsam mit Exper-
Rische, hat bestätigt, dass die Altersarmut heute kein – ich ten und Verbänden zu entwickeln. Die Zuschussrente,
möchte ausdrücklich sagen: noch kein – Thema ist. Wir die unsere Bundesministerin 2013 einführen möchte,
müssen dafür sorgen, dass es auch kein großes Thema verspricht einen guten Lösungsansatz. Damit sollen die-
wird. Heute haben 97,6 Prozent aller Menschen über jenigen ein monatliches Nettoeinkommen von 850 Euro
65 Jahre eine ausreichende Versorgung. Von rund und damit deutlich mehr als in der Grundsicherung er-
20 Millionen Seniorinnen und Senioren sind heute rund halten, die „jahrzehntelang gearbeitet und eingezahlt …,
400 000 – das sind natürlich 400 000 zu viel – oder erzogen und gepflegt und dabei zusätzlich privat vorge-
2,4 Prozent auf Leistungen aus der Grundsicherung an- sorgt“ haben, um unsere Ministerin zu zitieren. Das ist
gewiesen. Es ist richtig – der Kollege Weiß hat bereits der richtige Weg.
darauf hingewiesen –, dass die Hälfte von diesen auf
Grundsicherung angewiesenen Seniorinnen und Senio- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte
ren in unserer Gesellschaft nie in die Rentenversiche- Sie, auch die Kolleginnen und Kollegen in der Opposi-
rung eingezahlt haben. Das muss man fairerweise dazu- tion, im Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und Ar-
sagen. beitnehmer konstruktiv an diesem Dialog mitzuwirken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15533
Paul Lehrieder
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das stimmt (C)
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: doch gar nicht! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Eine kluge Rede! – Matthias W. Birkwald Gehen wir mal einen Schritt zurück! Was hat
[DIE LINKE]: Wir sind immer konstruktiv! – denn die SPD gemacht?)
Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/
Sie würden am liebsten den Niedriglohnsektor und den
CSU]: Ich habe es nur der Vollständigkeit hal-
Kombilohnbereich ausweiten.
ber hinzugefügt!)
(Pascal Kober [FDP]: Den haben Sie doch ge-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schaffen!)
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. Sie weigern sich ständig, über Mindestlöhne zu diskutie-
(Beifall bei der SPD) ren oder sie gar einzuführen. Dass 8,50 Euro, ein Leben
lang verdient, nicht ausreichen, um eine altersarmuts-
feste Rente zu bekommen, ist wohl wahr.
Elke Ferner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Frage ist aber auch, welches Menschenbild man
Herr Lehrieder, Sie haben eben von Dialog gesprochen. hat, nämlich ob man davon ausgeht, dass jemand sein
Ich glaube, man kann hier nicht von einem Regierungs- Leben lang im Mindestlohnbereich bleibt, oder ob man
dialog sprechen, sondern das ist eher ein Von-der-Leyen- davon ausgeht, dass Menschen durch Leistung aufstei-
Monolog, zumindest so, wie es bisher angelegt war. gen können.
(Pascal Kober [FDP]: Mit mir hat sie heute (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Da-
gesprochen!) ran glauben wir!)
Diese Zuschussrente ist die übliche Methode von Letzteres ist unser Menschenbild.
Frau von der Leyen: viel Wind, aber fast keine Wirkung;
(Beifall bei der SPD)
mehr Schein als Sein. Außerdem hilft es nur wenigen.
Sie scheinen eher dem Menschenbild verhaftet zu sein,
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
dass jemand, der einmal Mindestlohn bezieht, immer im
Das trifft nicht zu! – Pascal Kober [FDP]: Das
Mindestlohn bleibt. Das ist der Unterschied zwischen Ih-
erinnert mich an Herrn Steinbrück! Reden Sie
nen und uns.
von Herrn Steinbrück?)
(Pascal Kober [FDP]: Sie wollen den Einstieg
Vor allen Dingen ändert es nichts an den Ursachen, Herr
der Leute in den Arbeitsmarkt verhindern!)
(B) Kober. Die Gründe für Altersarmut kennen wir alle. (D)
Menschen mit Erwerbsminderung haben im Alter ein Von Mindestlöhnen würden im Übrigen gerade
hohes Armutsrisiko. Langzeitarbeitslosigkeit ist ein gro- Frauen profitieren. Denn über 70 Prozent der im Nie-
ßes Armutsrisiko. Das Gleiche gilt für Menschen mit driglohnsektor Beschäftigten sind Frauen. Was aber tun
niedrigen Löhnen und mit Minijobs. Das trifft auch auf Sie? Sie tun nichts. Auch Frau von der Leyen, obwohl es
Selbstständige zu, zumindest dann, wenn die Tätigkeit als Arbeitsministerin ihre originäre Aufgabe wäre, tut
nicht wirklich erfolgreich ist und sie nicht entsprechend nichts, um die Entgeltungleichheit zu beseitigen.
vorsorgen können. Ein Grund ist auch eine schlechte
Wo bleibt denn die Initiative der Regierung, was die
Qualifikation, weil diese zu einem geringen Einkommen
Leiharbeit, aber auch die Entgeltungleichheit zwischen
führt. Diese Gruppe ist häufiger von Arbeitslosigkeit be-
Männern und Frauen betrifft? Ich habe bisher noch
droht.
nichts dazu gesehen.
Dass Herr Tauber eben sagte, dass Menschen, die zu
(Diana Golze [DIE LINKE]: Das passt nicht
zweit zusammenleben, ein höheres Einkommen und da-
zu ihrem Weltbild!)
mit ein niedrigeres Armutsrisiko haben, ergibt sich von
alleine. Aber das Partnerschaftsmodell als Mittel zur Be- – Das passt nicht zum Weltbild. Das ist wohl wahr.
kämpfung von Altersarmut darzustellen, ist schon ein
Es gibt auch kaum Initiativen zur Verbesserung der
bisschen skurril; das muss ich ehrlich sagen.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Den Rechtsan-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten spruch auf Kinderbetreuung ab 2013 haben wir in der
der LINKEN) Großen Koalition durchgesetzt. Das ist aber immer noch
kein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. Auch das
Denn viele suchen es sich nicht selber aus, allein alt zu
hat negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten von
werden. Ich finde: Egal, ob ein Mann oder eine Frau
Frauen, vollzeiterwerbstätig zu sein. Viele, die zurzeit
alleine alt wird, ihre Rente sollte zumindest so aus-
teilzeitbeschäftigt sind, würden lieber mehr Stunden ar-
kömmlich sein, dass sie nach langjähriger Arbeit und Er-
beiten als bisher. Teilzeitbeschäftigung ist eine der Ursa-
werbstätigkeit nicht zum Sozialamt oder zur Grundsi-
chen von Altersarmut.
cherungsstelle gehen müssen.
Eine andere Ursache ist, wie gesagt, die geringe Qua-
(Beifall bei der SPD)
lifizierung. Gerade in Zeiten, in denen es wirtschaftlich
Wenn man die Ursachen kennt, dann muss man auch besser läuft und mehr Menschen einer sozialversiche-
fragen: Was tut Schwarz-Gelb, um die Ursachen zu be- rungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, sollte man
kämpfen? Nichts tun Sie. sich eigentlich mehr um diejenigen kümmern, die noch
15534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Elke Ferner
(A) keinen Anschluss am Arbeitsmarkt gefunden haben. Was Dezember über das Thema Rente ausführlich diskutieren (C)
aber macht diese Regierung? Sie machen einen Kahl- und entsprechende Maßnahmen beschließen. Dann wer-
schlag in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. den Sie Gelegenheit haben, hier im Plenum darüber zu
diskutieren. Ich hoffe, dass Sie sich bis dahin auf kon-
Sie haben zu verantworten, dass im nächsten und krete Vorschläge einigen können. Entsprechende Druck-
übernächsten Jahr reihenweise Bildungsträger, die sehr sachen liegen uns bislang nicht vor.
gute Arbeit für benachteiligte Menschen leisten, über die
Wupper gehen werden und dann, wenn sie dringend ge- Schönen Dank.
braucht werden, nicht mehr zur Verfügung stehen. Damit
haben Sie auch zu verantworten, dass insbesondere die- (Beifall bei der SPD)
jenigen, die Nachteile am Arbeitsmarkt haben, es dann
noch schwerer haben werden, wieder Anschluss zu fin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
den, und damit auch ein höheres Altersarmutsrisiko ha- Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-
ben. Das haben Sie zu verantworten. Fraktion.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wenn man sich genauer mit der Zuschussrente be-
fasst, dann zeigt sich: Das ist ein Placebo. Es ist nichts Nicole Bracht-Bendt (FDP):
anderes als die Verlängerung des Kombilohns in die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Rente. Es ist nicht mehr als eine Kombirente. Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Rente ist ein Spiegelbild des Arbeitslebens. Den meisten
Die Anreize gehen nicht unbedingt in die Richtung, Rentnern geht es heute gut. Altersarmut ist also aktuell
möglichst lückenlos und in Vollzeit einer existenzsi- kein verbreitetes Phänomen.
chernden Erwerbsarbeit nachzugehen; es wird vielmehr
der Anreiz gesetzt, Teilzeit zu arbeiten. Man kann sich (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ausrechnen, ob man mit Minijobs unter Verzicht auf die CDU/CSU)
Versicherungsfreiheit und mit 5 Euro Riester-Rente im Der Anteil der Menschen im Alter von 65 Jahren und da-
Monat zu derselben Rente kommt wie eine Verkäuferin, rüber, die auf Leistungen der Grundsicherung im Alter
die Tag für Tag sechs Tage die Woche im Laden steht und bei Erwerbsminderung angewiesen sind, liegt nach
und ihr Leben lang vollzeiterwerbstätig ist. letzten Untersuchungen bei rund 2 Prozent der Alters-
Sie riskieren damit auch ein Stück weit die Beitrags- gruppe. Zudem hat sich die Einkommenssituation der
bezogenheit der Rente. Das ist dem Rentensystem insge- Älteren in den vergangenen 20 Jahren deutlich verbes-
(B) samt mit Sicherheit nicht zuträglich. sert. Das bleibt aber wohl kaum so. Viele Jüngere haben (D)
bis zum gesetzlichen Ruhestand noch eine schwierige
Sie versuchen, möglichst wenige in den Genuss Ihrer Wegstrecke vor sich. Immer mehr Erwerbsbiografien
Zuschussrente kommen zu lassen. Das haben Sie vorges- enthalten Zeiten von Arbeitslosigkeit oder Selbstständig-
tern in Ihrer Antwort auf meine Frage auch zugegeben, keit mit nur geringem Verdienst.
Herr Staatssekretär. Ich hatte gefragt, wie sich die Zu-
schussrente bei denjenigen bemisst, die unter Inkauf- Die Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
nahme von Abschlägen Rente beziehen. Dazu sagt die frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lässt Fragen
Bundesregierung: zur Altersarmut von morgen offen. Genaue Zahlen und
Prognosen helfen allerdings auch nicht weiter, wenn wir
Die „Zuschussrente“ wird dann geleistet, wenn die nicht die Ursachen an den Wurzeln packen. Statt zu la-
vollen Ansprüche aus der eigenen Alterssicherung mentieren, müssen wir die Voraussetzungen verbessern,
nicht ausreichen. Wer wegen der vorzeitigen Inan- um Altersarmut möglichst zu verhindern. Männer und
spruchnahme eine Rente mit Abschlägen bezieht, Frauen müssen in der Lage sein, durch eigene Beitrags-
kann ab dem Erreichen der Regelaltersgrenze eine leistungen ihr Auskommen im Alter zu sichern.
„Zuschussrente“ erhalten, wenn er die Vorausset-
zungen erfüllt. Durch die „Zuschussrente“ sollen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
allerdings die Abschläge nicht kompensiert werden. der CDU/CSU)
Alles klar: Wer unter Inkaufnahme von Abschlägen Deshalb setzt die FDP-Fraktion darauf, die betreffenden
vorzeitig in Rente geht – warum auch immer –, be- Menschen schnell wieder in Beschäftigung zu bringen.
kommt natürlich keine Zuschussrente in Höhe von (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gelingt uns
850 Euro. Ihnen geht es gar nicht darum, möglichst viele sehr gut!)
Menschen in den Genuss der Zuschussrente kommen zu
lassen. Vielmehr geht es Ihnen darum, etwas vorzugau- Das macht den Unterschied zwischen der christlich-libe-
keln, was es gar nicht gibt. ralen Koalition und den Oppositionsfraktionen aus.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Deshalb
Ihre Vorschläge sind wie immer mehr Schein als Sein. kürzen Sie die Arbeitsmarktmittel!)
Wir werden die Vorschläge aus unserem letzten Regie-
rungsprogramm noch einmal in den Bundestag einbrin- – Hören Sie gut zu! – Wir setzen auf Vorsorge, Sie auf
gen. Wir werden auf unserem Parteitag im kommenden Nachsorge.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15535
Nicole Bracht-Bendt
(A) (Elke Ferner [SPD]: Nein, umgekehrt wird ein Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Schuh daraus! – Gegenruf des Abg. Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr habt schon ich Kollegen Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion
brutto und netto verwechselt! – Gegenruf der das Wort.
Abg. Elke Ferner [SPD]: Ich nicht, Herr Kolb!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Frauen sind von Altersarmut überproportional betrof- neten der FDP)
fen. Durch familienbedingte Unterbrechungen, aber
auch durch Teilzeitarbeit – das wurde schon mehrfach Frank Heinrich (CDU/CSU):
angesprochen – ist die Rente von Frauen häufig niedri- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ger als die von Männern. Kollegen! Am Ende einer solchen Debatte sind wir doch
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, nicht am Ende der Debatte, wie wir wissen; denn wir tre-
deutlich!) ten in einen Dialog. Ich unterstütze das, was mein Kol-
lege Lehrieder gesagt hat, nämlich dass wir den Diskurs
Die FDP-Fraktion setzt hier auf bessere Aufklärung. über dieses Thema pflegen wollen. Heute hatten wir eine
Frauen sollten sich nicht auf die Altersabsicherung durch Auseinandersetzung, die teilweise scharf geführt wurde,
den Mann verlassen. in deren Verlauf aber doch Argumente auf den Tisch ka-
(Elke Ferner [SPD]: Richtig!) men, die in die Diskussion einzubeziehen sind.
Das Modell der Versorgerehe in einer Zeit, in der jede Ich möchte, auch in Rückschau auf diese Debatte, ei-
zweite Ehe geschieden wird, ist ein Auslaufmodell. nige Argumente, die mir wichtig sind, zusammentragen.
Wir reden über die Antwort der Bundesregierung auf die
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD Große Anfrage der Grünen, die 278 Fragen umfasst. Das
und der LINKEN) ist kein Thema, das uns, wie Sie vielleicht denken, nicht
Ich halte es für unverzichtbar, schon in der Schule den wichtig wäre.
jungen Menschen dies klarzumachen. Sie müssen wis- (Pascal Kober [FDP]: So ist es nämlich!)
sen, dass sie schon in frühen Jahren an später denken
müssen. Gerade bei Frauen ist auch die Berufswahl ent- Wir wollen es aber auf eine andere Weise als Sie ange-
scheidend. Klassische Frauenberufe führen bei Einkom- hen. Ich habe sehr viel aus den Antworten der Bundesre-
men und Weiterbildung häufig in die Sackgasse. gierung gelernt, ich habe aber auch aus den noch nicht
beantworteten Fragen – das haben Sie, Herr Strengmann-
(Elke Ferner [SPD]: Vielleicht liegt es an der Kuhn zu Recht angesprochen – gelernt. Wir werden die
Bezahlung!) Antworten auf diese Fragen suchen. Diese Fragen jetzt in (D)
(B)
Lehrer und Eltern müssen jungen Frauen deutlich ma- den Mittelpunkt zu stellen und sie dann quasi zu zer-
chen, dass Teilzeitarbeit über einen längeren Zeitraum schießen, würde aber keinen Sinn ergeben.
Abschläge in der Rente bedeutet. (Elke Ferner [SPD]: Was heißt das denn?)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zu Anfang der Debatte sagte mein Kollege Weiß: Es
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: muss in diesem Rentensystem eine auskömmliche Rente
In der Schule muss es losgehen!) für denjenigen geben, der einen Großteil seiner Lebens-
Altersarmut muss keine tickende Zeitbombe sein. Un- zeit gearbeitet hat. – Das Thema der Rente darf aber
ser Ziel muss sein, die Voraussetzungen zu schaffen, nicht dazu missbraucht werden, Ängste zu schüren. Die
dass alle im Alter weiter gut leben können, ohne junge Angst, keine auskömmliche Rente zu erhalten, ist für
Generationen über Gebühr zu belasten. Die FDP hat da- Leute, die in den nächsten ein, zwei oder drei Jahren in
für klare Konzepte. Wer will, soll neben der Rente unbe- den Ruhestand gehen, unbegründet. Die Ängste werden
grenzt hinzuverdienen dürfen. Zusammen mit unserem vielmehr unnötigerweise angeheizt.
Koalitionspartner haben wir die Hinzuverdienstgrenzen (Beifall des Abg. Karl Schiewerling [CDU/
deutlich ausgeweitet. Private Altersvorsorge muss sich
CSU])
lohnen. Deshalb hat die Koalition hier schon gehandelt,
indem sie das Schonvermögen für die private Altersvor- Allerdings sehen wir, dass eine bedenkliche Entwick-
sorge von ALG-II-Beziehern verdreifacht hat; das ist lung am Horizont auftaucht. Sie haben vorhin Zahlen ge-
teilweise schon vergessen. Auf diesem Weg werden wir nannt und unterstellt, die Altersarmut sei jetzt schon
weitergehen. existent. Wir leugnen die Zahlen – 1,8 Prozent in den
neuen Bundesländern
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da ist
Die FDP-Fraktion setzt daneben auf die Eigenverant-
das Armutsrisiko bei 15 Prozent!)
wortung der Bürgerinnen und Bürger. Danach wird der-
jenige, der arbeitet und vorsorgt, immer besser gestellt und 2,8 Prozent im Westen – nicht. Gleichwohl wird die
sein als derjenige, der nicht arbeitet und keine Vorsorge Angst geschürt und so getan, als ob Altersarmut schon
trifft. Freiwillige Altersvorsorge muss sich auszahlen. vorhanden sei. Gestern habe ich einen Artikel in einer
sächsischen Zeitung gelesen, in dem dieses Thema be-
Ganz herzlichen Dank.
handelt wurde. So hieß es, Sachsens Senioren würden ir-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gendwann unbezahlbar werden. Der Bericht als solcher
15536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Frank Heinrich
(A) war dann doch sehr konstruktiv, und es wurde gut argu- Eine Folgerung aus der Krise ist zum Beispiel, dass (C)
mentiert; es dient aber dem Thema nicht, wenn solche die kapitalgedeckten Zusatzrentenversicherungssysteme
plakativen Äußerungen in den Mittelpunkt gestellt wer- sehr stabil geblieben sind. Sie haben die Wirtschaftskrise
den. sehr gut überstanden. Bei uns wurden die Zusatzrenten
– anders als in anderen Staaten – nicht gekürzt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: (Elke Ferner [SPD]: Dazu fällt einem nichts
Das dient der Erhöhung der Auflage der Zei- mehr ein, oder?)
tung!)
Ein Thema, das in den Fragen, die Sie gestellt haben,
Lassen Sie uns also vorsichtig mit der Angst der Leute sehr stark zum Vorschein kam, ist die verdeckte Armut.
umgehen. Wir wollen das Thema fair diskutieren und Ich habe versucht, mich zu erinnern: Sehr viele Leute
dem Problem gerecht werden. haben mir aus persönlicher Betroffenheit erzählt, dass
Lassen Sie mich auf die Definition der Armut einge- sie sich nicht trauen, zum Sozialamt zu gehen und Unter-
hen, über die wir im Ausschuss schon verschiedentlich stützung zu beantragen. Ich habe verdeckte Armut oft
diskutiert haben. Die Bundesregierung stützt sich bei der gemerkt, aber zum letzten Mal vor 10 oder 15 Jahren,
Messung von Armut sehr stark auf die EU-Kriterien, einschließlich der Armut im eigenen Familienumfeld.
nimmt aber auch auf andere Indikatoren Bezug. Die Welt- Ich höre davon in den letzten Jahren je länger umso we-
gesundheitsorganisation definiert denjenigen als arm, der niger, weil Altersarmut inzwischen – das wird in einigen
weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkom- Antworten zum Ausdruck gebracht – nicht mehr in dem
mens bezieht. Nach einer anderen Definition ist derjenige Maße wahrgenommen wird.
arm, der weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens (Elke Ferner [SPD]: Auf welchem Planeten
hat. Lassen Sie uns bei solchen Definitionen vorsichtig leben Sie denn eigentlich?)
sein. Wir haben im Ausschuss schon öfter darüber gere-
det. Wenn jeder Bürger Deutschlands jetzt 1 Million Euro Hinsichtlich der Vermeidung von Altersarmut – da
erhalten würde, dann lebten einige Millionäre gemäß die- spreche ich nicht nur die Antworten der Bundesregie-
sen Definitionen unterhalb der Armutsgrenze. Das muss rung an, sondern auch die Pläne, die wir an der Stelle ha-
man also differenziert betrachten. ben – geht es sehr stark um Prävention und den Arbeits-
markt, um die Stärkung und die Taten, die wir dort
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
hineingeben. Denn die Integration in den Arbeitsmarkt
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
führt dazu, dass auf der einen Seite die Rentenkassen
ein Denkfehler!)
stabiler werden und dass auf der anderen Seite am Ende
(B) Die Ursachen einer möglichen Armutsgefährdung ha- weit weniger Leute mit Brüchen in ihrer Erwerbsbiogra- (D)
ben wir deutlich genannt. Da sind wir uns einig. Die fie zu tun haben.
Hauptursache sind die Brüche in der Erwerbsbiografie.
Diese können mit geringen Einkommen oder Arbeitslo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sigkeit einhergehen. Sie, Frau Krüger-Leißner, haben da- Das hat auch etwas – Sie haben es bereits gesagt – mit
rauf hingewiesen. Die Sorge, dass Niedriglöhne zu nied- der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun. Aber in
rigen Renten führen, ist berechtigt. Ich möchte aber noch diesem Bereich sind schon Sachen auf den Weg gebracht
auf eine andere Sorge hinweisen. Gestern sprach ich mit worden.
einem Herrn, der sagte, dass er es als Gipfel der Unge-
rechtigkeit empfinde, dass derjenige, der 35 oder 40 Jahre Was tut die Bundesregierung
gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt habe,
genauso viel Rente erhalte wie jemand, der nie einen Tag (Elke Ferner [SPD]: Das fragen wir uns schon
gearbeitet habe, aus welchen Gründen auch immer. Man länger!)
darf also bei der Diskussion nicht nur eine Personen- für soziale Integration? Ich habe in meinem Wahlkreis
gruppe der Gesellschaft unter die Lupe nehmen. nicht nur geförderte Projekte der Bundesregierung, son-
Prognosen, wie sich Bedürftigkeit im Alter entwi- dern Projekte aus verschiedensten Bereichen der Gesell-
ckeln wird – einige Fragen, die Sie an die Bundesregie- schaft. Ich halte das Problem der Altersarmut nicht nur
rung gestellt haben, betrafen dieses Thema –, lassen sich für ein bundespolitisches Thema; vielmehr hat die ganze
heute noch nicht seriös abgeben, obwohl wir diese be- Gesellschaft darauf zu reagieren.
drohliche Entwicklung am Horizont sehr wohl ernst neh-
Als eine Forschungsmaßnahme möchte ich auf den
men. Dies hängt von der Beschäftigungs- und Einkom-
modularen Alterssimulationsanzug MAX zu sprechen
mensentwicklung ab und hat mit dem Erwerbs- und
kommen. Man kann diesen Anzug anziehen, bekommt
Vorsorgeverhalten der Bürger zu tun. Da rechnen wir als
noch eine Brille und fühlt sich dann zehn Jahre älter.
christlich-liberale Koalition mit Eigenverantwortung.
Dann darf man damit in Geschäfte gehen und das alles
Uns ist wichtig, zu betonen, dass die Bürger zunächst
aus der Sicht eines älteren Menschen betrachten. Es wer-
selbst verantwortlich sind und erst dann auf die Solidari-
den Möglichkeiten entwickelt, das Leben im Alter und
tät der Gesellschaft zählen dürfen.
die Schwierigkeiten, die damit einhergehen, schon jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke vorherzusehen. In dieses Projekt fließen Fördermittel.
Ferner [SPD]: Selbst dran schuld, wenn sie Ein weiteres Beispiel: Es soll ein Lehrstuhl für Demo-
nicht genug haben, oder wie?) grafie entstehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15537
Frank Heinrich
(A) Sie sehen: Wir forschen auf verschiedensten Gebieten – Drucksache 17/5894 – (C)
unserer Gesellschaft, um dem Thema Altersarmut so-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
wohl finanziell als auch in vielen anderen Bereichen ge-
ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)
recht zu werden.
– Drucksache 17/7170 –
Zum Schluss noch etwas zum „Regierungsdialog
Rente“: Wir sind – das wissen wir aus den Statistiken – Berichterstattung:
der Staat Europas mit der ältesten Bevölkerung. Sach- Abgeordnete Beatrix Philipp
sen, woher ich komme, hat in Bezug auf den Alters- Dr. h. c. Wolfgang Thierse
durchschnitt die älteste Bevölkerung in Deutschland. Reiner Deutschmann
Man unkt, dass Chemnitz in 20 Jahren die Stadt mit der Dr. Rosemarie Hein
ältesten Bevölkerung Europas sein wird. Aber das eröff- Wolfgang Wieland
net uns doch eine Chance, nämlich vor allen anderen et- Hierzu liegt ein gemeinsamer Änderungsantrag der
was zu entwickeln – samt der Sozialsysteme –, woran Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
sich andere dann messen können. vor.
In Bezug auf das Thema Altersarmut sind wir jetzt so- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
gar schneller, als wir am Anfang gedacht haben; denn Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen
erst wollten wir eine Kommission einsetzen. Ich meine, Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es so be-
dass wir – um ein Bild vom Golfen zu bemühen –, mög- schlossen.
licherweise schon beim Putten sind, während Sie gerade
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
erst zum Abschlag gehen.
nerin der Kollegin Beatrix Philipp von der CDU/CSU-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fraktion das Wort.
neten der FDP – Katrin Göring-Eckardt (Beifall bei der CDU/CSU)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verstehe
ich nicht! Ich spiele kein Golf!)
Beatrix Philipp (CDU/CSU):
Ich glaube, dass wir schneller sind, als wir am Anfang Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß
gesagt haben, und dies aus gutem Grund. Wir haben nicht genau, was Sie heute empfunden haben, als Sie in
nämlich begriffen, was unser Auftrag ist. Wir haben den einer großen Berliner Tageszeitung lesen konnten – ich
Regierungsdialog gestartet, werden ihn ernst nehmen zitiere –:
und gehen damit in konkrete Planungen.
… setzte er
(B) Schlusswort. Die Vermeidung von Altersarmut ist (D)
– gemeint ist Roland Jahn –
eine elementare Aufgabe staatlicher Sozialpolitik; wir
und auch die Regierung zeigen dies. Die Risiken, die im eine befremdliche Tradition fort:
Alter zu Armut führen können, sind bekannt. Deshalb
– jetzt kommt es –
muss dieses Problem mit verlässlicher Arbeit und den
von den beiden liberalen Rednern genannten vorsorgli- Die Bürgerrechtler an der Spitze der Behörde sche-
chen Maßnahmen angegangen werden. Es hat mit fairen ren sich wenig um Bürgerrechte und nutzen ihr
Löhnen und mit zusätzlicher privater Vorsorge zu tun. Amt, um politisch Missliebige ins Abseits zu stel-
Das sind unsere erklärten Baustellen bei diesem Thema. len.
Es ist uns wichtig, dass wir trotz der Tatsache, dass (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
die Erstellung von Studien eine lange Zeit, über ein Jahr, Abenteuerlich!)
in Anspruch nehmen kann, schnell unterwegs sind, ob Ich finde das empörend.
Ihnen das nun zu schnell geht oder nicht. Es wird also
eine Kommission arbeiten; das könnte langwierig sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wir treten jetzt in einen Dialog ein, und wir werden ein Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist eine
Ergebnis vorlegen. Die Umsetzung werden wir mithilfe Sauerei!)
konkreter Maßnahmen machen. Dazu bedarf es aber Es ist eigentlich eine Beleidigung aller Bürgerrechtler.
noch Antworten der Bundesregierung.
Jetzt O-Ton von Roland Jahn:
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wer einen Schlussstrich will, hat nicht begriffen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass Aufarbeitung nicht Aufrechnung ist. Aufarbei-
tung ist eine Investition in die Zukunft unserer De-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mokratie.
Ich schließe die Aussprache. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Damit hat er recht!)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
So schreibt Roland Jahn in der evangelischen Wochen-
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
zeitschrift Die Kirche unter der Überschrift „Der lange
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
Schatten der Mauer“.
wurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Christoph Poland [CDU/CSU]: Genau so!)
15538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Beatrix Philipp
(A) Wir wollen keinen Schlussstrich. Richter und Richterinnen zu überprüfen; aber er lehnte (C)
dies ab, obwohl es in der Justiz neue und auch empö-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rende Stasifälle gab, wie ich letztens schon einmal aus-
Wir novellieren heute zum achten Mal das Stasi-Un- geführt habe.
terlagen-Gesetz. Wer sich mit der Entwicklung des Stasi- (Zuruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE
Unterlagen-Gesetzes beschäftigt hat, der wird erkennen, LINKE])
dass dieses Gesetz ein herausragendes Beispiel für le-
bendige Demokratie ist. Es ist gewachsen und verän- – Das können Sie nachlesen, wenn Sie es nicht wissen.
derte sich, sozusagen wie alles im richtigen Leben. Im- Es ist sehr erstaunlich, dass Sie es nicht wissen.
mer wieder wurde das StUG an die Rechtsprechung und
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wieso?
an die Erfahrungen aus der Verwaltungspraxis ange-
Wir wissen das!)
passt. Es wurde aber eben auch an Erfordernisse angegli-
chen, wie sie sich aus der öffentlichen Wahrnehmung Auch das korrigieren wir.
und den Vorkommnissen ergaben, die ich beispielhaft
bei der ersten Beratung am 26. Mai dieses Jahres er- Zurück zum Gesetzentwurf. Mit der neuen Regelung
wähnt habe. sorgen wir für Transparenz, für Integrität und für Ver-
trauen in die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, so
Der vorliegende Gesetzentwurf steht also in der Kon- wie Ulrike Poppe dies in der Anhörung ins Gedächtnis
tinuität der notwendigen Veränderungen. Was sind nun rief. Ich zitiere: „Die Intention des ersten StUG war
diese Veränderungen und diese Neuerungen? Zum einen nicht, die Stasimitarbeiter und -spitzel zu bestrafen, son-
verlängern wir die Dauer der Überprüfungsmöglichkei- dern das Vertrauen in die demokratischen Institutionen
ten um weitere acht Jahre bis 2019. Denn: Immer wieder zu ermöglichen“, Zitatende. Das ist richtig so, und es ist
zeigen neue Stasienthüllungen wie zum Beispiel in auch so geblieben.
Brandenburg und steigende Zahlen von Antragstellun-
gen, dass das Thema Aufarbeitung noch immer aktuell (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ist. Meine Damen und Herren von der SPD und von
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Bündnis 90/Die Grünen, im Grundsatz war das ja wohl
So ist es!) auch Ihre Meinung. Ich zitiere aus der Begründung Ihres
Änderungsantrages:
Wie ich eingangs erwähnte, ist es auch anscheinend des-
wegen nötig, weil einige immer noch nicht wissen, wo- Vertrauen ist das Grundkapital unserer rechtsstaatli-
chen und demokratischen Ordnung. Solches Ver-
(B) rum es geht. trauen kann erschüttert werden. Dann muss es die (D)
Zum anderen erweitern wir den überprüfbaren Perso- Möglichkeit geben, angemessen zu reagieren.
nenkreis. So sollen Beschäftigte des öffentlichen Diens-
tes ab der Besoldungsgruppe A 9 bzw. ab der Entgelt- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
grupe E 9, die eine leitende Funktion ausüben, von nun SES 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht
an auf eine frühere hauptamtliche oder inoffizielle Stasi- [SPD]: Bei Anlass!)
tätigkeit überprüft werden können. Außerdem werden Sehr richtig. Das tun wir auch.
alle Beschäftigten unabhängig von ihrer Vergütungs-
gruppe dann überprüft, wenn – so das Gesetz – „Tatsa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen den Verdacht einer hauptamtlichen oder inoffiziel-
Aber Sie ziehen die falschen Schlüsse. Sie argumen-
len Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der
tieren, dass Wissenschaftler und Journalisten solche Sta-
ehemaligen DDR rechtfertigen“, Zitatende.
sifälle schon aufdecken würden; alles andere wäre ein
Dazu nenne ich ein aktuelles Beispiel. Nachdem An- Generalverdacht oder unverhältnismäßig. Wenn man
fang dieses Jahres bei der Brandenburger Polizei drei diesen Gedanken zu Ende denkt, heißt das, dass der
neue Stasifälle ans Licht kamen, wollte der brandenbur- Dienstherr auf mehr oder weniger zufällige Enthüllun-
gische Innenminister Dietmar Woidke, SPD, immerhin gen von Journalisten und Wissenschaftlern angewiesen
Schutzbereichs- und Wachenleiter der Polizei auf eine und eben nicht mehr Herr des Verfahrens wäre.
frühere Stasitätigkeit überprüfen. Das derzeitige StUG (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ließ eine solche umfassende Überprüfung allerdings NEN]: Das steht nun nicht in dem Änderungs-
nicht zu. Das heißt, der Innenminister wollte, aber er antrag!)
durfte nicht. Deswegen ändern wir das jetzt.
Das halten wir einfach für überhaupt nicht akzeptabel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
NEN]: Bei den Schutzbereichsleitern stimmt neten der FDP – Reiner Deutschmann [FDP]:
das auch nicht! Die wurden überprüft!) Denunziantentum!)
Nächstes Beispiel. Beim brandenburgischen Justiz- Ich denke, dass es Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
minister Volkmar Schöneburg, immerhin Mitglied der durchaus zuzumuten ist, sich überprüfen zu lassen. Auf
Linkspartei – das diskutieren wir jetzt nicht –, war die eine Überprüfung kann eben noch nicht verzichtet wer-
Sachlage anders: Das StUG gab ihm die Möglichkeit, den, wie wir gesehen haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15539
Beatrix Philipp
(A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich halte die Bedingungen, unter denen eine Versetzung (C)
NEN]: Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag! Bis erfolgen kann, wie sie in § 37 a des Stasi-Unterlagen-
alle Schnipsel zusammengesetzt sind!) Gesetzes formuliert sind, für absolut zumutbar.
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wochen wurde in den Medien eine geplante Änderung neten der FDP)
im Stasi-Unterlagen-Gesetz besonders kontrovers disku-
tiert. Die christlich-liberale Koalition spricht sich mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dem neuen § 37 a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ganz Kommen Sie bitte zum Schluss.
klar gegen eine Beschäftigung von ehemaligen Stasimit-
arbeitern bei der Stasiunterlagenbehörde aus. Die Vor-
Beatrix Philipp (CDU/CSU):
stellung, in der Stasiunterlagenbehörde früheren Peini-
gern begegnen zu können, ist den Opfern, aber auch der Ich komme zum Schluss. Mehr Redezeit habe ich
Öffentlichkeit überhaupt nicht zu erklären. nicht.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Konsequenzen aus der Anhörung im Kulturausschuss im
Christine Lambrecht [SPD]: Das hat schon
Juni gezogen. Wir haben viele fraktionsübergreifende
mal anders ausgesehen!)
Gemeinsamkeiten gefunden. Die beiden wesentlichen
– Diese alte Debatte möchte ich hier eigentlich nicht Unterschiede bleiben leider bestehen. Ich bedaure das
wieder aufwärmen. sehr. Vielleicht ist es aber doch noch möglich, zu einer
gemeinsamen Aufarbeitung zu kommen und dafür ein
(Christine Lambrecht [SPD]: Das glaube ich!) Zeichen zu setzen.
Aufgrund der einzigartigen Funktion dieser Behörde, Vielen Dank.
nämlich der Aufarbeitung, halten wir es für richtig, Sta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
simitarbeiter woandershin zu versetzen, wenn ihnen dies Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zuzumuten ist. NEN]: Das glauben Sie doch selber nicht!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, das ist Ihnen unangenehm! Schäuble Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
war es, der hat die dahin geschoben!) Für die SPD spricht nun der Kollege Dr. Wolfgang
Thierse.
Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit wird auf die per-
(B) (D)
sönlichen und familiären Umstände ausdrücklich Rück- (Beifall bei der SPD)
sicht genommen. Ich kenne niemanden, der nicht ver-
wundert ist, wenn er zum ersten Mal hört, dass in der Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
Aufarbeitungsbehörde, also in der Stasiunterlagenbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
hörde, immer noch ehemalige Stasimitarbeiter tätig sind. Lassen Sie mich ein wenig grundsätzlich und zugleich
Mit der Novellierung bringen wir aber zum Ausdruck, persönlich beginnen. Die Aufarbeitung der unseligen
dass wir diese für Opfer unerträgliche Situation, natür- Erbschaft des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
lich unter rechtsstaatlichen Bedingungen, ändern wollen. und des SED-Staates insgesamt ist wesentlich für unser
Wir setzen darauf, dass es zu einvernehmlichen Lösun- demokratisches Selbstverständnis, so wie das auch für
gen kommt. Damit starten wir weder eine Hetzjagd, wie die Nazi-Erbschaft gilt.
gesagt wurde, noch sind wir von Rache geleitet, wie oft-
mals von verschiedenen Seiten behauptet wurde. Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Thierse, auch von Verfolgungsradikalismus kann eigent- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
lich überhaupt keine Rede sein. CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Aufarbeitung ist seit 1990 gemeinsames Anlie-
gen einer breiten Mehrheit des Deutschen Bundestags.
Zum Vorwurf, es handele sich um eine Einzelfallrege-
lung: In Anbetracht von geschätzt 189 000 inoffiziellen (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Mitarbeitern und fast 100 000 hauptamtlichen Mitarbei- Und soll es auch bleiben! – Gegenruf der Abg.
tern ist es völlig unzutreffend, hier von einer Einzelfall- Christine Lambrecht [SPD]: Dann darf man
regelung zu reden. den Konsens nicht auflösen!)
Sie ist mir auch persönlich sehr wichtig. Ich war seit
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
1990 an allen wichtigen Entscheidungen zu diesem
NEN]: Das sind ja nur 45, um die es geht!)
Thema beteiligt. Ich habe mich 1990 in der Volkskam-
Schließlich: Innen- und Justizministerium haben den mer für die Öffnung der Akten des Stasiministeriums
Gesetzentwurf geprüft und halten ihn für verfassungs- ausgesprochen. Ich habe mich 1991 für die Errichtung
konform. der Stasiunterlagenbehörde eingesetzt, und dafür, dass
diese Errungenschaft der friedlichen Revolution auch
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heute noch existiert. Ich habe an allen Novellierungen
NEN]: Das überrascht uns nun nicht!) des Stasi-Unterlagen-Gesetzes mitgewirkt.
15540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Das hat durchaus auch biografische Gründe. Ich Über all diese Punkte sind wir uns mit den Koalitions- (C)
möchte zumindest einen Aspekt erwähnen. Ich bin auf- fraktionen rasch und problemlos einig geworden. Den-
gewachsen als Sohn eines Rechtsanwalts in der DDR. noch wird die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Geset-
Das heißt, ich bin aufgewachsen mit den Niederlagen zes erstmals ohne breite parlamentarische Mehrheit
meines Vaters in politischen Verfahren. Ich will nur ein verabschiedet werden. Ich bedaure dies sehr.
Beispiel erzählen, das zu meinen frühesten politischen
Erinnerungen gehört. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU:
Als im März 1953 Stalin gestorben war, rief ein Mann Wir auch!)
im Suff auf dem Dorfplatz: Hurra, der größte Verbrecher
aller Zeiten ist gestorben. – Mein Vater hat diesen Mann Mit zwei Vorschlägen nämlich sind die Koalitionsfrak-
verteidigt. Er hat acht Jahre Zuchthaus bekommen. Ich tionen so weit über das Ziel hinausgeschossen, dass we-
werde nie das Gesicht meines Vaters vergessen, als er der SPD noch Bündnis 90/Die Grünen zustimmen kön-
beim Abendessen mit Tränen in den Augen davon er- nen. Unser Änderungsantrag spiegelt dies wider.
zählte und sagte: Ich habe nichts für ihn tun können. Dissens herrscht zum Ersten über die Ausweitung des
Wenn man so geprägt ist, wird man nie Kommunist. überprüfbaren Personenkreises im öffentlichen Dienst,
Mein Vater hat Menschen verteidigt – wir haben in der wie Schwarz-Gelb das will. Eine Überprüfbarkeit ohne
Nähe zur Grenze im Thüringischen gewohnt –, die ange- die Voraussetzung eines auf tatsächliche Anhaltspunkte
klagt und verurteilt wurden wegen versuchter Republik- gestützten Verdachts lehnen wir ab.
flucht, wegen der Inanspruchnahme eines elementaren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Menschenrechts. DIE GRÜNEN)
Ich erinnere daran, weil daher eine fast unstillbare
Mehr als 20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist diese Re-
Sehnsucht rührt nach unbedingter Rechtsstaatlichkeit.
gelung schlicht unverhältnismäßig. Die vergangenen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zwei Jahrzehnte müssen bei der Beurteilung einer Person
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und ihrer Tätigkeit genauso zählen wie das möglicher-
LINKEN) weise moralisch falsche Handeln in der DDR zuvor.
Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Stasiunterla- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
genbehörde das werden konnte, was sie heute ist, näm- DIE GRÜNEN)
lich die zentrale Einrichtung zur Aufklärung von DDR-
Unrecht. Die nicht rechtsstaatlich zustande gekommenen Meine Grundüberzeugung lautet – Kollegin Philipp hat
(B) Stasiakten den Opfern, der Wissenschaft und der Öffent- es ebenfalls zitiert –: Vertrauen ist eine wesentliche (D)
lichkeit zugänglich zu machen, dafür haben wir eine Grundlage rechtstaatlicher Demokratie – Vertrauen in
rechtsstaatliche Ausnahmeregelung geschaffen. Mit ih- die Veränderbarkeit von Menschen. Dieses Vertrauen
ren drei Schwerpunkten, nämlich Aufarbeitung, For- kann enttäuscht werden. Wenn dies geschieht und An-
schung und Bildung über die Funktionsweise und Struk- haltspunkte den Verdacht auf eine Tätigkeit für das MfS
tur der SED-Herrschaft, erfüllt diese Behörde eine nahelegen, dann – und nur dann – muss die Überprüfung
unersetzliche Aufgabe. International ist sie zum Vorbild für alle Beamten und Angestellten im öffentlichen
für einen geordneten und zukunftsweisenden Umgang Dienst möglich sein.
mit einer diktatorischen Vergangenheit geworden. Diese Überprüfung dient allen. Sie liegt im Interesse
Dass die SPD für Aufarbeitung steht, daran darf und der arbeitgebenden Behörde, der Öffentlichkeit und
kann kein Zweifel bestehen. Wir sind gegen einen nicht zuletzt der verdächtigten Person selbst. Deshalb
Schlussstrich. Lieber Kollege Kurth, Sie sollten nicht haben wir vorgeschlagen, immer dann die Überprüfung
das Gegenteil öffentlich behaupten. möglich zu machen, wenn ein begründeter Verdacht vor-
liegt, unabhängig von Funktion und Entgeltgruppe des
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Betroffenen. Das war unser Vorschlag, auf den Sie leider
DIE GRÜNEN) nicht eingegangen sind.
Auch die erneute Novellierung des Stasi-Unterlagen- Dissens herrscht zum Zweiten über die Einführung ei-
Gesetzes unterstützen wir. Die Überprüfungsmöglich- nes de facto rückwirkenden Einzelfallgesetzes, mit des-
keiten bis 2019 zu verlängern, halten wir für genauso sen Hilfe sich die Koalitionsfraktionen jener 47 ehemali-
richtig, wie wir der Mehrzahl der Veränderungen im Ge- gen Stasimitarbeiter aus der Behörde entledigen wollen,
setzentwurf ausdrücklich zustimmen. die aber mittlerweile seit über zwei Jahrzehnten in dieser
Konsens herrscht darüber, dass auch ehrenamtliche Behörde arbeiten.
Bürgermeister, Kommunalvertreter und Bewerber für (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
ein Wahlamt auf eine Stasimitarbeit hin überprüft wer- Schlimm genug!)
den können. Sinnvoll ist eine Vereinfachung des Zu-
gangs zu den Unterlagen für Wissenschaftler und Jour- Die mögliche Begegnung mit früheren Tätern ist für Op-
nalisten. Richtig sind auch Regelungen, die klar fer gewiss schwer erträglich. Wenn ehemalige Stasimit-
umrissenen Personengruppen die Einsichtnahme in Ak- arbeiter in der Behörde Opfer von der Einsichtnahme
ten erleichtern, beispielsweise Angehörigen Vermisster ihrer Akten abhalten, dann ist das ohne Zweifel ein gra-
oder Verstorbener. vierendes Problem. Die ehemaligen Stasimitarbeiter sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15541
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) aber unter Schäuble und Gauck eingestellt worden, weil ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Radika- (C)
man sie damals zu brauchen meinte. lität der Beurteilung der DDR-Geschichte mit der zeitli-
chen Distanz zu- statt abnimmt.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Erst mal be-
fristet!) Nach meiner Überzeugung ist das notwendige Ver-
Heute arbeiten diese Mitarbeiter seit über 20 Jahren in trauen in die Demokratie und ihre Institutionen nicht da-
der Behörde und haben sich nichts zuschulden kommen durch zu gewinnen, dass ein latentes Misstrauen gegen-
lassen. Sie haben sich Vertrauensschutz in das Fortbeste- über Mitbürgern ostdeutscher Herkunft in Gesetzen
hen ihrer Arbeitsverhältnisse erworben. Die Fürsorge- festgeschrieben wird.
pflicht der Behörde als Arbeitgeber gilt auch gegenüber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
diesen Mitarbeitern. DIE GRÜNEN)
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Genau das Hier entsteht über 20 Jahre nach dem Fall der Mauer
beurteilen wir anders!) eine Schieflage; denn faktisch ist – auch wenn Sie ande-
Eine Lösung des Dilemmas kann es nur in rechtsstaat- res behaupten – nicht der 1958 in Mannheim Geborene
lich – also arbeits- und dienstrechtlich – einwandfreier gemeint, sondern der 1958 in Leipzig Geborene.
Weise geben.
(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: So
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist das! Ganz genau! Das ist nämlich der
DIE GRÜNEN) Punkt! – Christoph Poland [CDU/CSU]: Nein!
Das ist völliger Unsinn! Es geht um den
Sie muss gemeinsam mit den 47 Mitarbeitern gefunden Mannheimer! Eine öffentliche Falschmel-
werden. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen da- dung!)
gegen schlägt einen verfassungsrechtlich wie rechtspoli-
tisch bedenklichen Weg ein. Wir lehnen ihn deshalb in Um eine Formulierung aus dem Historikerstreit auf-
diesem Punkte entschieden ab. zunehmen: Auch die DDR-Vergangenheit ist eine „Ver-
gangenheit, die nicht vergeht“. Weitere Anstrengungen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bleiben nötig, um diese Geschichte präzise und gründ-
DIE GRÜNEN)
lich zu erforschen und sichtbar zu machen. Akten müs-
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sen zugänglich bleiben. Die Aufklärungsarbeit und die
es ist übrigens eine Illusion, wenn man meint, möglichen politisch-historische Bildung bleiben wesentliche Auf-
arbeitsrechtlichen Konflikten durch eine solche gesetzli- gaben der Zukunft. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-
(B) che Regelung aus dem Weg gehen zu können. gen, dies alles sollte einer wichtigen Unterscheidung fol- (D)
gen, ohne die die historische und politisch-moralische
(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Einvernehm- Aufarbeitung schiefläuft: der Unterscheidung einerseits
lich! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland zwischen dem Urteil über das politische, wirtschaftliche,
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann brau- ideologische System, das falsch war und zu Recht ge-
chen Sie es nicht in ein Gesetz zu schreiben!) scheitert und überwunden ist – dieses Urteil muss hart
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf auch in der Gewiss- und entschieden sein –,
heit ab, dass eine andere Lösung des Problems möglich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ist. Dass die Bundesregierung in nachgeordneten Ein-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
richtungen adäquate Arbeitsplätze für diese Mitarbeiter
anbietet, scheint mehr eine Frage des Wollens als des und andererseits dem Urteil über die Menschen, die in
Könnens zu sein. diesem System gelebt haben,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Über die
DIE GRÜNEN) Täter, Herr Kollege, nicht über die Opfer!)
Dies entnehme ich der Antwort von Staatsminister die Biografien, die in diesem System gelebt worden sind,
Neumann auf meine Anfrage von letzter Woche. Darin die nicht alle falsch waren und nicht alle gescheitert
hat er mitgeteilt, dass er jetzt bereit ist, 19 Stellen in sind. Dieses Urteil sollte sehr differenziert, behutsam
nachgeordneten Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. und menschenfreundlich sein. Es geht um das rechte
Ganz ohne dieses Gesetz ist das möglich. Maß.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Dann stel-
(Beifall bei der SPD)
len Sie doch einen ein! – Gegenruf der Abg.
Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Jetzt sind Sie Deshalb können wir dem Gesetzentwurf der Koalition
sprachlos!) nicht zustimmen. Ich lade Sie ein, dem ausgewogenen
Die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ist ein Kapitel und maßvollen Änderungsantrag von SPD und Bünd-
unserer Geschichte, das nicht abgeschlossen ist und auf nis 90/Die Grünen zu folgen.
absehbare Zeit nicht abgeschlossen werden kann. Hier Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
bedarf es der nötigen Instrumente, gewiss, aber auch des
rechten Maßes. Angesichts der gegenwärtigen Diskus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sionen und Einlassungen auch mancher Kollegen kann DIE GRÜNEN)
15542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setzt werden. Dies ist unser ausdrücklicher politischer (C)
Für die FDP hat jetzt das Wort der Kollege Reiner Wille.
Deutschmann. (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! –
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Genau!)
der CDU/CSU) Zum ersten Punkt. Meine Damen und Herren von der
Opposition, Sie werfen uns vor, mit der Ausweitung der
Reiner Deutschmann (FDP): Überprüfung würden Beamte und Mitarbeiter des öffent-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten lichen Dienstes unter einen Generalverdacht gestellt.
Damen und Herren! Lieber Roland Jahn, auch 21 Jahre Darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, eine Be-
nach der deutschen Wiedervereinigung sind Opfer der wertung der Eignung für einen bestimmten Dienstposten
Stasi noch immer traumatisiert. Eine neue Langzeitstu- vorzunehmen. Das ist eine Kannregelung, und diese gilt
die belegt, dass eine große Zahl der Opfer auch Jahr- sowohl in den alten wie in den neuen Bundesländern.
zehnte danach noch immer unter Angstzuständen und in- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nerer Unruhe litt und weiter leidet. Sie wurden durch
diesen Staat schikaniert, geprügelt und weggesperrt. Le- Gerade in den alten Bundesländern besteht, denke ich,
bensläufe wurden zerstört, Karrieren verhindert und einiger Handlungsbedarf.
Menschen gegeneinander aufgebracht.
(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser]
Womit hatten die Opfer das verdient? Sie wollten [FDP])
nichts anderes als ein Stück Freiheit im sogenannten Ar- Es geht um die Integrität des öffentlichen Dienstes.
beiter- und Bauernstaat. Sie wollten sich nicht verbie- Dazu kann zum Beispiel Brandenburgs Innenminister,
gen; sie wollten ein selbstbestimmtes Leben. Das einfa- Dietmar Woidke, zurzeit nur wenig beitragen; denn trotz
che Verlangen nach Freiheit schien der Führung der vieler Stasialtfälle im Land Brandenburg, beispielsweise
DDR und ihrem schärfsten Schwert, der Stasi, gefährli- bei der Polizei, bliebe ein Überprüfungsantrag beim
cher als der gemeine Schwerverbrecher. So wurden die BStU nach geltendem Recht derzeit ohne Erfolg. Die
Opfer auch behandelt: wie Schwerstverbrecher. Dies ist Koalition sorgt dafür, dass dies ab dem 1. Januar 2012
im ehemaligen Stasiuntersuchungsgefängnis in Berlin- anders ist.
Hohenschönhausen zu sehen, wo die Opfer beispiels-
weise durch Dunkelhaft oder simuliertes Ertränken ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
quält wurden. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Richtig!)
(B) Wenn wir uns dies klarmachen, wenn wir uns in die (D)
Lage der Opfer versetzen, dann wissen wir, warum es in Wir geben dem brandenburgischen Innenminister und
Deutschland keinen Schlussstrich unter der Aufarbei- vielen anderen die Möglichkeit, den von Woidke so be-
tung des Stasiunrechts geben darf. zeichneten Schatten des Verdachts von der Polizei zu
nehmen und das Vertrauen der Bürger wieder herzustel-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len.
Neben der grundsätzlichen Verlängerung des Stasi-Un- Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
terlagen-Gesetzes bis 2019 verfolgt die christlich-libe- SPD, was ist los in Ihren Reihen? Ihr brandenburgischer
rale Koalition zwei zentrale Anliegen: Innenminister und die Landesbeauftragte, Ulrike Poppe,
Erstens wollen wir verhindern, dass die Täter von da- wollen es. Sie stellen sich hier, im Bundestag, dagegen.
mals Karriere im öffentlichen Dienst machen. Deswegen Nun zur zweiten Änderung der letzten Wochen. Uns
haben wir die Überprüfungsmöglichkeit, und zwar auch geht es bei der Umsetzung der stasibelasteten Mitarbei-
ohne Vorliegen eines Verdachts, auf die mittlere Lei- ter nach dem neuen § 37 a Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht
tungsebene ausgeweitet. Der Vorschlag der Opposition, um Rache oder um Vergeltung. Es geht darum, einen
nur bei einem konkreten Verdacht Überprüfungen zuzu- Ausgleich zwischen den Interessen der Opfer – die soll-
lassen, ist aus unserer Sicht unangemessen. So hinge es ten wir vor allem im Blick haben – und der betroffenen
von Journalisten oder sogar von Denunzianten ab, ob zu- Mitarbeiter zu finden. Wir meinen: Kein Opfer sollte ei-
fällig etwas über jemanden an die Öffentlichkeit gelangt. nem ehemaligen Stasimitarbeiter in der Behörde des
BStU gegenübertreten müssen oder das Gefühl haben,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die Stasi säße immer noch in seinem Nacken, sei es im
Zweitens. Es darf nicht sein, dass Opfer der Stasi in Archiv oder auch nur an der Pforte. Dass Mitarbeiter bei
der für sie geschaffenen Behörde auf Täter von damals vollen Bezügen unter Wahrung aller Anwartschaften
treffen oder das Wissen haben, ihre Akten würden von versetzt werden, gehört woanders zum normalen Behör-
denen bearbeitet, die sie damals beschatteten. Ein Opfer denalltag. Das ist meiner Meinung nach auch von den
der Stasi sprach letzte Woche im ZDF-heute-journal da- stasibelasteten Mitarbeitern beim BStU auszuhalten.
von, dass es ein Tritt in die Seele sei, zu wissen, dass (Zurufe von der SPD)
ehemalige MfS-Leute in dieser Behörde arbeiten. Des-
halb haben wir eine Regelung vorgesehen, die das unter- Die Glaubwürdigkeit der Behörde ist angekratzt. Zur
sagt. Die dort verbliebenen Stasimitarbeiter sollen auf Aufarbeitung gehört, dass die Behörde einen respektvol-
gleichwertige Stellen in anderen Bundesbehörden ver- len Umgang mit den Opfern pflegen kann. Das kann sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15543
Reiner Deutschmann
(A) nur, wenn keine ehemaligen Mitarbeiter des MfS in die- deshalb haben wir gesagt: Dann können wir nur diesen (C)
sem Haus tätig sind. Weg gehen. Jetzt muss es ins Gesetz. Wenn die freiwil-
lige Lösung nicht funktioniert, dann kommt unser politi-
(Klaus Hagemann [SPD]: Und das fällt euch
scher Wille so zum Ausdruck.
nach 20 Jahren ein?)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Also
Herr Kollege Deutschmann, erlauben Sie eine Zwi- doch nicht freiwillig! – Burkhardt Müller-
schenfrage? Sönksen [FDP]: Im Geiste der Opfer! –
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wer
hat denn vor 20 Jahren regiert? – Gegenruf des
Reiner Deutschmann (FDP): Abg. Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Fra-
Ja. gen Sie einmal Herrn Thierse!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie glücklicherweise nicht mehr.


Bitte schön. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
CDU/CSU)
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Thierse, Sie sprechen oft von gesellschaftlichem
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich stimme völlig mit Ih- Ausgleich und Versöhnung. Die Zeit mag die eine oder
nen überein, dass es für die Opfer der Stasi, des SED- andere Wunde heilen. Aber aus unserer Sicht gibt es un-
Staates unzumutbar ist, in der Behörde, die diese Ange- ter keinen Umständen eine Rechtfertigung dafür, dass in
legenheiten untersuchen soll, ehemaligen Stasispitzeln einem Unrechtssystem Unrecht begangen wird.
gegenüberzutreten. Darin stimmen wir völlig überein.
Sie wissen aber, wie lang die Einstellung dieser Perso- Ich komme zum Ende meiner Rede. Wenn ich einen
nen schon zurückliegt, und Sie wissen, dass es Schuld Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, dass mehr
des Arbeitgebers und nicht der Betroffenen ist, dass sie Stasitäter dazu bereit wären, sich ernsthaft und aufrichtig
in dieser Behörde beschäftigt sind. bei den Opfern für die Dinge zu entschuldigen, die sie
ihnen angetan haben. Ohne eine solche Entschuldigung
(Zuruf von der CDU/CSU: Das macht es nicht werden ein Ausgleich und eine Versöhnung nur schwer-
besser!) lich möglich sein.
Der Arbeitgeber hätte doch längst, auf jeden Fall bis zur Ich danke Ihnen.
Abfassung dieser Gesetzesnovelle, eine Lösung für die
(B) Betroffenen finden können. Ich frage Sie nun: Wie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
kommt es Ihrer Meinung nach an, wenn dieser Personen-
kreis jetzt kraft Ihres Gesetzes, dessen Verfassungsmä- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ßigkeit durchaus anzuzweifeln ist, in andere Bundesein- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein
richtungen versetzt wird? Wie stellen Sie sich das vor? für die Fraktion Die Linke.
Welchem Stigma werden diese Personen ausgesetzt?
Halten Sie das für rechtsstaatlich vertretbar? (Beifall bei der LINKEN)

(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das ist Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):
doch unglaublich! Jetzt sind wir auch noch für Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es
das Stigma verantwortlich!) gleich am Anfang zu sagen: Die weitere Auseinanderset-
zung mit der Geschichte ist für die Linke gerade wegen
Reiner Deutschmann (FDP): ihrer eigenen Geschichte unverzichtbar.
Ich habe bereits gesagt, dass es unser politischer
(Beifall bei der LINKEN)
Wille ist, dass dies geschieht, weil das den Opfern nicht
zuzumuten ist. Das ist unsere Sicht. Die Aufarbeitung von Geschichte ist nicht nur wichtig
für die, die in der Zeit der DDR Nachteile erlitten und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Unrecht erlebt haben und deshalb Genugtuung erwarten
Hinsichtlich Ihrer Feststellung, dass dieses Problem ei- und zu Recht Rehabilitation einfordern, sie ist auch für
gentlich schon 20 Jahre in diesem Land besteht, kann ich diejenigen wichtig, die in irgendeiner Weise Verantwor-
Ihnen nur zustimmen. Man hätte in dieser Frage viel tung für erlittenes Unrecht tragen oder gar selbst Schuld
eher handeln müssen. auf sich geladen haben. Wer nicht bereit und in der Lage
ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, läuft Gefahr,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
sie zu wiederholen. Das wollen wir nicht, und deshalb ist
Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Höchste
uns an einer ehrlichen Aufarbeitung gelegen.
Zeit!)
(Beifall bei der LINKEN)
Der Kollege Thierse hat angedeutet, dass man den
Weg der Freiwilligkeit hätte wählen müssen. Dazu sage Die Linke befürwortet eine tiefgreifende und differen-
ich: Die Gespräche haben in den letzten Monaten statt- zierte Aufarbeitung von DDR-Unrecht und die Anerken-
gefunden. Es sind schon viel eher Angebote unterbreitet nung des durch dieses Unrecht zugefügten Leids und,
worden. Es ist nur keiner darauf eingegangen. Gerade soweit das überhaupt möglich ist, eine Wiedergutma-
15544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Dr. Rosemarie Hein


(A) chung. Ich habe großen Respekt vor den Erfahrungen der die notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung (C)
Menschen – Herr Thierse hat es eben angesprochen –, die mit Unrecht nicht befördert, sondern eher behindert.
solche Sachen erlebt haben. Ich habe große Achtung vor
ihnen. Opfer der Staatssicherheit müssen darum – daran Ein zweiter Grund. Sie erweitern den Personenkreis
führt kein Weg vorbei – dauerhaft ein Recht auf Akten- der Regelüberprüfung künftig auf alle leitenden Be-
einsicht haben. schäftigten bis zur Entgeltgruppe A 9 bzw. E 9. Sie wei-
ten sie außerdem auf Wahlämter wie Ortsbürgermeister
(Beifall bei der LINKEN) oder Aufsichtsräte in öffentlichen Unternehmen aus.
Dennoch werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Sehr
ablehnen, und ich möchte versuchen, Ihnen zu begrün- richtig!)
den, warum.
Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass alle diese Personen
Unsere Ablehnungsgründe werden durch mehrere künftig ohne Anlass überprüft werden sollen. Auch das
Gutachten von Sachverständigen gestützt, die im Bun- können wir nicht nachvollziehen.
destag angehört wurden.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Natürlich
Erstens. Mehrere Sachverständige kritisieren, dass können Sie das nicht nachvollziehen! Nestbe-
Sie die Geltungsdauer des Gesetzes nunmehr bis zum schmutzung? Wer will das schon machen! –
Jahre 2019 ausweiten wollen. Dadurch wird die Über- Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Ein
prüfungspraxis in Bezug auf Wahlämter und Mandate Schelm, der Böses dabei denkt!)
sowie auf Mitarbeiter im öffentlichen Dienst mit allen
Folgen für die Betroffenen auf 30 Jahre nach der Wie- – Hören Sie mir einfach einmal zu. Ich habe Ihnen auch
dervereinigung ausgedehnt. sehr aufmerksam zugehört.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP) In einem Gutachten von Professor Weberling wird das
berechtigte Interesse betont, zu wissen, wen man wählt
Damit gehen Sie weit über die üblichen strafrechtlichen und wer für ein öffentliches Amt tauglich ist. Ich ver-
Verjährungsfristen hinaus. Wir halten das für unange- stehe das. Aber Regelüberprüfungen finden immer erst
messen. nach der Wahl statt, und Mitarbeiter und Angestellte im
öffentlichen Dienst werden nicht gewählt. Ihr Ziel errei-
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth
chen Sie über diesen Weg also nicht.
[Kyffhäuser] [FDP]: Das ist kein Strafrecht! –
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sehen
(B) Einzelmeinung!) sich viele leider immer noch nicht in der Lage, eine Ver- (D)
strickung oder gar Schuld öffentlich zu bekennen, weil
– Das ist ja das Problem. Es ist nicht einmal Strafrecht,
dieses Bekenntnis auch heute noch zum Verlust des Ar-
es ist ein moralisches Recht,
beitsplatzes führen kann und damit eine existenzielle Be-
(Reiner Deutschmann [FDP]: Genau! Das drohung bedeutet.
wirkt auch noch 20 Jahre danach!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war auch für
das Sie höher als Strafrecht werten. die anderen so!)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eine offene und öffentliche Auseinandersetzung über
Schuld und Verantwortung, ein gesellschaftlicher Dialog
Wir gehen davon aus – Sie offensichtlich nicht –, dass darüber ist so nicht zu führen. Das bedarf einer anderen
auch Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, zu- gesellschaftlichen Atmosphäre, und die schaffen Sie mit
gestanden werden muss, dass sie in den letzten 20 Jahren dieser Gesetzesänderung nicht.
dazugelernt haben, dass sie sich in der Demokratie ge-
wissermaßen bewährt haben. Ich finde, man sollte das (Beifall bei der LINKEN)
auch anerkennen.
Ein dritter Grund. Sie schaffen mit dem neuen § 37 a
(Beifall bei der LINKEN) des Stasi-Unterlagen-Gesetzes eine besondere rechtli-
che Regelung für eine sehr kleine Personengruppe.
Sie wollen Ehrlichkeit, wir auch. Für mich wäre aber
wichtig, dass sich offizielle und inoffizielle Mitarbeite- (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Für eine
rinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit heute ihrer große! Das ist nach vorn gerichtet!)
Verantwortung von damals stellen.
Es geht um Personen, die seit 20 Jahren in der Stasiun-
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth terlagenbehörde arbeiten – und das offensichtlich zuver-
[Kyffhäuser] [FDP]: Das tun Sie nicht! Lug lässig; sonst hätte es ja andere arbeitsrechtliche Möglich-
und Trug! Das ist die Realität! – Dr. Thomas keiten gegeben. Ihre frühere Mitarbeit im Ministerium
Feist [CDU/CSU]: Das machen sie aber nicht! – für Staatssicherheit war immer bekannt. Es gibt aus un-
Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Sie wollen serer Sicht auch heute keinen Grund, eine Versetzung in
eine Gesinnungsprüfung?) andere Behörden sozusagen per Gesetz zu verordnen.
Das aber erfahren sie nicht durch eine derartige Überprü- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das ist gar nicht
fungspraxis. So werden der gesellschaftliche Dialog und wahr!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15545
Dr. Rosemarie Hein
(A) Wir halten das für verfassungsrechtlich höchst bedenk- damit anfangen, und zwar bei den ganz grundsätzlichen (C)
lich. Fragen, wie es zum Beispiel mit dem Mauerbau war,
(Beifall bei der LINKEN – Beatrix Philipp (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
[CDU/CSU]: Falsche Information der Öffent- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
lichkeit! Bewusst falsch!) Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
tun wir auch!)
20 Jahre nach der Wiedervereinigung wäre es eigent-
lich an der Zeit, Frau Philipp, die Unterlagen des Minis- und dann sollte Ihre Partei, die die Stasi als Schild und
teriums für Staatssicherheit in das Bundesarchiv einzu- Schwert eingerichtet hat, sich einmal fragen, welchen
gliedern, so wie es ursprünglich beabsichtigt war. Beitrag sie leistet,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das
NEN]: Und versenken dort!) wissen Sie doch viel besser!)

– Es geht eben gerade nicht darum, sie zu versenken, und zwar täglich, zur Rehabilitierung der Spitzel und zu
Herr Wieland. Eine umfassende Aufarbeitung von Ge- deren gesellschaftlicher Aufwertung, indem sie sie in al-
schichte bedarf nämlich nicht nur des Zugangs zu den len Etagen der Parlamente unterbringt.
Unterlagen der Staatssicherheit, sondern auch des Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gangs zu den Unterlagen der Parteien und Massenorga- bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
nisationen sowie des Staatsapparats. Die aber liegen geordneten der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann
schon im Bundesarchiv. [DIE LINKE]: Wir können uns gern darüber
unterhalten, was wir tun!)
(Beifall bei der LINKEN)
– Frau Enkelmann, es sind immer die Getroffenen, die so
Eine Zusammenführung der Archivbestände könnte schreien und so emotional sind. – Was Ihre jetzige Vor-
eine wissenschaftliche Aufarbeitung erleichtern, würde sitzende, Frau Lötzsch, sagt, wenn sie zu den Alt-Tsche-
sie gerade nicht erschweren. Schon jetzt steht im Gesetz, kisten geht und über Rentenunrecht jammert, und was
dass der Zugriff auf diese Akten ermöglicht werden soll. Ihre designierte Vorsitzende, Frau Wagenknecht, zur
Den Zugang für die Opfer müsste man nicht erschweren. DDR zu sagen hat – der humanste Staat, den es in
Im Gegenteil: Man könnte sogar im Gesetz festschrei- Deutschland je gab –, zu Walter Ulbricht und zu Erich
ben, dass es ein lebenslanges Recht gibt, in diese Unter- Honecker, das sollten Sie einmal aufarbeiten.
lagen einzusehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) Wir bitten Sie nachdrücklich, über eine Zusammen- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – (D)
führung der Archivbestände in absehbarer Zukunft nach- Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: So funk-
zudenken. Das würde den notwendigen gesellschaftli- tioniert es nicht, Herr Wieland!)
chen Dialog befördern, nicht verhindern; eine
Schlussstrich-Mentalität wäre das auch nicht. Das Problem ist tatsächlich, dass es nach der friedli-
chen Revolution in der DDR – das ist wohl die einzige
Zum Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen Revolution, von der man das sagen muss – ganz vielen
und SPD möchte ich noch sagen: Wir stimmen mit Ihnen der Täter materiell besser geht als ganz vielen der Opfer.
bezüglich der Streichung des neuen § 37 a überein. Wir Das ist bitter; das weiß ich.
respektieren auch, dass Sie zumindest die Ausweitung
des Personenkreises im Zusammenhang mit der anlass- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
losen Überprüfung zurücknehmen wollen. Wir würden SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
aber mit einer Zustimmung zu Ihrem Änderungsantrag der FDP)
auch der Ausweitung der Fristen zustimmen, und das Das ist aber auch deswegen so, weil der Rechtsstaat Ra-
können wir nicht. Deshalb wollen wir uns bei der Ab- che und Vergeltung – darüber haben Sie noch in den
stimmung über den Änderungsantrag enthalten. Ausschüssen geredet – nicht kennt. Er nimmt keine Ra-
che, er zahlt sogar Rente an die früheren Stasispitzel. Ja,
(Beifall bei der LINKEN)
ich weiß, dass das für viele Opfer sehr bitter ist. Ich sage
das ganz bewusst und erinnere an den folgenden Satz
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von Bärbel Bohley: Wir haben Gerechtigkeit gewollt
Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege und den Rechtsstaat bekommen. – Dieser Satz ist von ei-
Wolfgang Wieland das Wort. ner sehr klugen und sehr mutigen Frau. Er hat mir aber
wirklich noch nie gefallen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Herren! Frau Kollegin Hein, der Beitrag, den Sie hier ge-
Denn wo soll sich Gerechtigkeit materialisieren, wenn
leistet haben, war ein relativ maßvoller. Im Ausschuss
nicht im Rechtsstaat? Nur dort geht es.
für Kultur und Medien haben Sie noch von Vergeltung
gesprochen. Hier haben Sie die Forderung „Man muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
doch endlich einmal alles aufarbeiten“ formuliert. Wenn sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Sie dieser Meinung sind, dann sollte Ihre Partei einmal SPD und der FDP)
15546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Wolfgang Wieland
(A) Nur dort haben wir die prozessualen und prozeduralen Nun sage ich ganz eindeutig: Auch Sie als CDU/CSU (C)
Mittel. haben bei der Verlängerung im Jahre 2006 das Untersu-
chungsfeld auf Behördenleiter und entsprechende Funk-
Der Rechtsstaat sagt zum Beispiel auch, dass ein ver- tionen eingeengt. Wenn Sie es jetzt so ausweiten, dann
urteilter Mörder – Lebach-Urteil des Bundesverfas- müssten Sie uns eine Begründung dafür liefern, warum
sungsgerichtes – ein Recht darauf hat, dass die Zeitun- das jetzt notwendig ist.
gen ihn nicht mehr Mörder nennen. Der Rechtsstaat sagt
auch – das haben uns die großen alten Männer des Da- (Zuruf von der FDP: Brandenburg!)
tenschutzes Bull und Garstka in der Anhörung erklärt –,
dass er das Vergessen kennt und es beim Datenschutz Stattdessen kommen falsche Beispiele aus Brandenburg.
und an anderen Stellen sogar organisiert. Die Schutzbereichsleiter in Brandenburg wurden nach
dem geltenden Gesetz überprüft. Woidke musste nur
Wenn man das alles weiß, dann kann man nicht, je richtig vortragen, dann hat er die Akten bekommen. An-
länger der Untergang der DDR her ist, mit einem zuneh- sonsten könnte er in die Personalakten der Brandenbur-
menden Furor – Heribert Prantl hat es so genannt – an ger Polizisten sehen, in denen das alles steht. Das hat
diese Fragen herangehen. Wir sind nicht mehr im Jahre zum Beispiel auch den CDU-Innenminister Jörg
eins der deutschen Einheit, wir sind im Jahre 21 der Schönbohm in Brandenburg nicht gehindert, diese Poli-
deutschen Einheit. zeibeamten zu befördern – das nur einmal am Rande.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Frau Kollegin Philipp, wenn Sie hier bedauern, dass LINKEN)
wir aus dem gemeinsamen Boot ausgestiegen sind, dann
muss ich Ihnen ganz deutlich sagen: Ausgestiegen sind Wir haben Vertrauen in die integrative Wirkung des
Sie. Rechtsstaates. Wir sagen: Man muss auch eine 20-jäh-
rige unbeanstandete Tätigkeit, auch die von Polizeibe-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN amtinnen und -beamten in Brandenburg, würdigen. Das
und bei der SPD) fehlt mir bei Ihnen völlig. Sie beschäftigen sich nur mit
Stasiverstrickungen. Diese dürfen nicht verniedlicht
Noch vor der Sommerpause haben Sie gesagt: Wir wer-
werden. Aber es handelt sich hier um einen Abwägungs-
den das doch nicht mit der „Gruppe der 47“ belasten.
prozess. Sollte man eine zweijährige Ausbildung an ei-
Nach der Sommerpause haben Sie es belastet. Dieses
ner Stasihochschule, der keine berufliche Tätigkeit, son-
Sondergesetz, sorry, halte ich in dieser Form für verfas-
dern direkt eine Tätigkeit im Rechtsstaat folgte, so
(B) sungswidrig. bewerten, dass man sagt: Hier geht nichts mehr? (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Roland Jahn hat, als er bei uns und im Ausschuss war,
deutlich gesagt, dass er zukünftig mehr die Abhängigkeit
Es ist ein Gesetz für 47 Mitarbeiterinnen und Mitarbei- der Stasi und das Verhältnis zwischen SED und Stasi in
ter. Gleichzeitig nutzt es überhaupt nichts. Es schreibt den Vordergrund stellen möchte, um die Unwucht aus
die geltende Rechtslage fest. Es macht die Arbeit nicht dieser Debatte zu bekommen. Ich erinnere an Berghofer,
einfacher. der deutlich gemacht hat, dass Modrow und Gysi seiner-
zeit sagten: Wenn wir wollen, dass die Partei fortbesteht,
(Zuruf von der FDP: Ist die geltende Rechts-
brauchen wir einen Schuldigen. Das ist die Stasi. Auf sie
lage verfassungswidrig?)
müssen wir die Volkswut lenken. – Das ist ganz sicher so
Deswegen hat Wolfgang Thierse völlig recht, wenn er gewesen. Aber wir alle sollten darauf achten, was der
sagt: Es geht nur im Einvernehmen, und es geht nur Hund und was der Schwanz ist. So schlimm das, was die
dann, wenn die Bundesregierung andere Verwendungs- Stasi gemacht, auch war, sie hat es im Auftrag und mit
möglichkeiten anbietet. Daran wird auch diese Formu- Wissen und Wollen – sie wurde dazu gegründet – Ihrer
lierung nichts ändern. Sie ist falsch und grundsätzlich Partei getan.
abzulehnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
und bei der SPD)
Zum Schluss – ein ganz schlichter und einfacher Satz
Zum zweiten Streitpunkt. Wir sind Ihnen sehr weit kommt jetzt noch; er wird Ihnen nicht gefallen, aber er
entgegengekommen; das muss ich einmal deutlich sa- ist richtig –: Die Antwort auf die Stasi ist der Rechts-
gen. Wir sind Ihnen in den vielen Verhandlungen, die staat. Oder, wie es Joachim Gauck ausgedrückt hat:
wir geführt haben, sehr entgegengekommen und haben Staatliche Verwaltung muss dem Recht gehorchen. We-
spontan den Vorschlag aufgegriffen, den Hubertus der Gutdünken noch Gutmeinen dürfen das Handeln lei-
Knabe als Sachverständiger in der Anhörung gemacht ten. – Das würde ich Roland Jahn gerne mit auf seinen
hat. Dieser sieht vor, dass bei Verdacht jeder überprüft weiteren Weg geben.
werden kann, sogar ein Pförtner. Dadurch würde der Per-
sonenkreis also viel stärker ausgeweitet werden, als wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
es ursprünglich wollten. Das haben Sie abgelehnt; auch und bei der SPD – Burkhardt Müller-Sönksen
das wollten Sie nicht machen. [FDP]: Das hat er gar nicht nötig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15547

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Ich glaube, der Rest des Hauses hat das so wahrge- (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz nommen.
von der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was leitet uns? Offenbar ist es uns nicht einmal an-
satzweise gelungen, alle Täter zu enttarnen. Die Aufar-
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): beitung in der Behörde geht weiter. Es gibt beispiels-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! weise die sogenannte Schnipselmaschine, mit der es uns
Die jüngsten der verantwortlichen Täter der Jahre 1989 gelingen wird, vernichtete, zerrissene Akten zu rekon-
und davor sind heute Anfang/Mitte 40. Sie stehen also struieren.
noch richtig in Saft und Kraft. Sie werden uns im Rah-
men ihrer Berufsausübung noch die nächsten 20, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
30 Jahre begleiten, möglicherweise in politischen Wahl- Auch das muss sein!)
ämtern, möglicherweise im öffentlichen Dienst. Genau Es spricht ja eine ganze Menge dafür, dass in diesen Ta-
das ist der Grund, warum wir den Deckel nicht einfach gen einiges vielleicht planlos, anderes aber vielleicht
zumachen dürfen, sondern uns noch eine ganze Zeit lang auch mit einem gewissen Plan vernichtet worden ist. Es
sehr genau damit befassen müssen, was damals passiert spricht auch einiges dafür, dass Handakten von aktiven
ist. Vorgängen dabei waren und dass dort auch die Täter der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) letzten Jahre – eben auch die jüngeren verantwortlichen
Täter, die ich am Anfang meiner Rede beschrieben habe –
Nicht wenige dieser Täter – Kollege Deutschmann vermerkt waren. Genau deshalb, weil es neue Erkennt-
hat es schon angesprochen – haben ganz konkret das Le- nisse gibt, glauben wir, dass einiges dafür spricht, in ge-
ben von Menschen ruiniert, die Gesundheit von Men- wissen Momenten, die sich anbieten – das kann zum
schen ruiniert, Familien kaputtgemacht und Berufschan- Beispiel vor einer Beförderung auf einen noch verant-
cen kaputtgemacht. Diese Erfahrungen tragen die wortlicheren Posten sein –, noch einmal hinzuschauen,
Betroffenen ihr Leben lang mit sich herum. Sie haben sie ob da vielleicht doch mehr war.
auch in den neuen Rechtsstaat hinübergerettet. Wenn
man beispielsweise kein Abitur machen oder nicht stu- Es geht nicht um die Privatwirtschaft, sondern es geht
dieren konnte, dann hängt einem das ein Leben lang um Klarheit bei Wahlämtern. Wenn im Angesicht einer
nach. Der Täter von damals, der protegiert wurde und solchen Tat trotz alledem die Wahl stattfindet, dann muss
aufgestiegen ist, profitiert sein Leben lang von dem, was man das in der Demokratie akzeptieren. Wir wollen aber
er damals für seine Tat bekommen hat. Klarheit. Hinsichtlich des öffentlichen Dienstes steht da-
(B) hinter natürlich, wie Reiner Deutschmann schon gesagt (D)
Wir sagen zur Einzelfallprüfung absolut Ja. Natürlich hat, der politische Wille: Wir wollen dort keine Täter.
müssen wir genau hinsehen. Wir sind auch bereit, zu dif-
ferenzieren: zwischen den großen Tätern, denen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ganz vielen Menschen geschadet haben, und denen, die,
Nun will ich es einmal so sagen: Lieber Wolfgang
weil sie in einer Zwangslage waren, zwar mitmachen
Wieland, lieber Kollege Thierse, ich will der Versu-
mussten, aber keinem geschadet haben, die beispiels-
chung, den Konflikt zu suchen, mit der ich vielleicht
weise einen bestimmten Bericht geschrieben haben.
hierhergekommen bin, widerstehen und einfach einmal
Aber: Trotz der Einzelfallprüfungen sind wir nicht be- versuchen, aufzuzeigen, wo die gedanklichen Unter-
reit, kraft Zeitablauf so etwas wie eine Pauschalabsolu- schiede zwischen uns sind, weil ich glaube, dass wir den
tion zu erteilen. guten Willen bei uns allen in diesem Hause sehen kön-
nen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Das will Der erste Denkunterschied ist, dass Sie sagen, man
doch keiner! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] müsse die letzten 20 Jahre mit anschauen. Das verstehe
[CDU/CSU]: Ja! Genau das ist nämlich die ich. Wir reden aber zumindest vorrangig über Leute, die
Absicht!) sich 20 Jahre lang weggeduckt haben. Wir reden jetzt
nicht über die 47, die noch immer in der Stasiunterlagen-
– Herr Kollege Thierse, ich habe nicht in Ihre Richtung behörde arbeiten, sondern über die, die unerkannt im öf-
geschaut, als ich das gesagt habe. fentlichen Dienst arbeiten, die bei der Einstellung gelo-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das gen haben und die wir bis jetzt noch nicht gefunden
will auch bei uns keiner! Das haben Sie bis haben.
heute nicht kapiert!)
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist
– Das Problem an Ihrer Rede, Frau Kollegin, war: Der das!)
erste Teil war die schöne Prosa. Aber ab der Mitte haben
Die haben sich 20 Jahre lang geduckt und werden jetzt
Sie leider in jedem Satz das genaue Gegenteil davon ge-
im Vergleich zu denen, die nicht gelogen haben und da-
sagt.
mit nicht übernommen oder nicht eingestellt worden
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sind, und denen, die wir gefunden haben, dafür belohnt,
ist nicht wahr! Wir haben nur eine andere Auf- dass sie weiter gelogen und sich weggeduckt haben. Das
fassung von Geschichtsaufarbeitung!) kann ich nicht akzeptieren.
15548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Marco Wanderwitz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – denn man kann sie entkräften. Sie sind widerlegbar und (C)
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: widersprüchlich.
Das darf nicht sein! – Patrick Kurth [Kyffhäu-
Sie stehen unter einem Rechtfertigungsdruck.
ser] [FDP]: Sehr gut beschrieben!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Der zweite Punkt, bei dem wir offensichtlich eine an-
NEN]: Ach, Unsinn!)
dere Ansicht haben, ist der – ich nenne es einmal so –
Kollektivverdacht. Wenn ich in meinem Wahlkreis im Sie müssen der Öffentlichkeit und vor allen Dingen den
sächsischen Südwesten mit den Menschen über diese Opfern erklären, warum Sie erstmals Ihre Zustimmung
Thematik rede, dann sagen mir die Opfer unisono: Gut, zu einer Änderung dieses wichtigen Gesetzes verwei-
dass ihr es so macht, dass ihr das noch einmal ausweitet, gern und aus welchen Gründen Sie das machen.
dass ihr noch einmal genauer schaut und dass ihr nicht
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
aufhört. – Die, die nicht konkret betroffene Opfer, aber Christine Lambrecht [SPD]: Weil Sie es über-
eben auch nicht Täter waren, sagen: Ich fühle mich frachtet haben!)
durch diese Regelung in keinster Weise stigmatisiert;
denn sie dient der Findung der Täter. Das könnt ihr gerne Kein Mensch versteht, warum Stasileute in der Stasi-
so machen. unterlagenbehörde arbeiten.
(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen (Christine Lambrecht [SPD]: Warum wurden
[Bönstrup] [CDU/CSU]) sie eingestellt?)
Es mag ja vielleicht sein, dass die Menschen bei mir Sie sollen – bei gleichem Arbeitsort, gleichem Gehalt
zu Hause anders ticken – ich weiß es nicht –, aber in und gleichen Rentenansprüchen – versetzt werden. Die
meinem Wahlkreis ist das jedenfalls die Meinung der allermeisten Arbeitnehmer in diesem Land, die sich üb-
Menschen, und das leitet mich. rigens nichts zuschulden kommen ließen, können von
solchen Versetzungsgründen bzw. Versetzungsbedingun-
Widerstand in der Diktatur muss sich lohnen. Wir ha- gen nur träumen.
ben gesagt, wie schwer es ist, zumindest ein bisschen
von dem wiedergutzumachen. Norbert Röttgen spricht (Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])
hier und da ganz gerne davon, dass man Politik durch die Wir bauen eine Luxusbrücke, über die man offensicht-
Brille der Kinder machen soll. Das gefällt mir grundsätz- lich nicht bereit ist, zu gehen. Es wurden bereits Stellen
lich sehr gut. In dieser Debatte hier will ich das einmal angeboten. Soweit ich weiß, haben die Stasileute in der
ein bisschen umformulieren: Wir versuchen – ich lade Stasiunterlagenbehörde abgelehnt.
(B) noch einmal herzlich dazu ein, den Gedankengängen, die (Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Daran (D)
ich geäußert habe, näherzutreten –, Politik durch die
Brille der Opfer und nicht durch die Brille der Täter zu ändert das Gesetz auch nichts!)
machen. – Freiwillig geht da keiner, Herr Thierse. Es ist auch ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Widerspruch, wenn Sie heute im Radio erklären, Sie
seien für die Versetzung der Mitarbeiter, und einen Satz
später erklären, man müsse die letzten 20 Jahre berück-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sichtigen. Dann dürften Sie auch nicht für die Verset-
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Kurth für die zung der Mitarbeiter sein. Das ist einer von vielen Wi-
FDP-Fraktion. dersprüchen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Nein!)
Sie behaupten, es liege ein rückwirkender Gesetzentwurf
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): vor. Das wird doch kein rückwirkendes Gesetz, sondern
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nach vorne gerichtet. Das, was Sie sagen, ist falsch und
ren! Liebe Kollegen von der Opposition, ich hatte mir widersprüchlich. Wir wollen eine Sachlage klären, die in
heute auch mit Blick auf die Rednerreihenfolge und die Zukunft so nicht mehr Anwendung finden wird. Sie,
Redezeit vorgenommen, nicht auf die inhaltlichen Herr Thierse, spielen – das finde ich nicht in Ordnung –
Punkte einzugehen, sondern Sie noch einmal aufzufor- Ost gegen West aus, obwohl Sie wissen, dass es sich hier
dern, Ihre Fehlentscheidung – Sie begehen hier einen um ein gesamtdeutsches Gesetz handelt.
Fehler – zu revidieren und zuzustimmen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Christine Lambrecht [SPD]: Ein guter Widerspruch bei der SPD)
Einstieg!)
Sie sagen – das hat Herr Wieland noch einmal wieder-
Ich habe mir vorgenommen, dass außer der Linken holt –, wir würden nur geltendes Recht wiederholen. An-
alle anderen vier Fraktionen in diesem Haus gemeinsam schließend erklären Sie, es sei verfassungswidrig. Das
und geschlossen vorgehen und dass wir uns nicht wegen heißt doch, dass die aktuelle Rechtslage verfassungswid-
der Details, die Sie vorgebracht haben, auseinanderdivi- rig ist. Oder was? Auch das ist ein Widerspruch. Sie be-
dieren lassen; haupten, es gehe um ein unzulässiges Einzelfallgesetz.
(Christine Lambrecht [SPD]: Der Rechtsstaat (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist kein Detail!) NEN]: Eben!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15549
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) – Nein, es gilt für jeden. Wir legen endlich ausdrücklich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
und allgemeingültig fest, dass es nicht sein kann, dass in Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Stephan
der Stasiunterlagenbehörde auch in Zukunft Exstasileute Mayer das Wort.
arbeiten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das sind 45!) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Ich stimme da mit Ihrem Exparteifreund Otto Schily Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
überein, der sagte, dass dies unverständlich ist. Das ist es Meine sehr geehrten Kollegen! Von der heutigen Debatte
ja auch. Unverständlich ist, warum ehemalige Stasimit- und von der heutigen Abstimmung über das Stasi-Unter-
arbeiter unbedingt in der Stasiunterlagenbehörde reso- lagen-Gesetz geht wenige Tage vor dem Tag der Deut-
zialisiert werden müssen. Es gibt genügend andere zu- schen Einheit eine positive Botschaft aus: Es gibt weiter-
mutbare Stellen. hin keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung und
Aufklärung der schrecklichen und unmenschlichen Ver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) brechen der Stasi in der DDR.
Auch in Bezug auf die Ausweitung der Überprüfung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gibt es nur Widersprüche. Sie fordern Nachsicht mit den neten der FDP)
Stasileuten und Verjährung.
Das ist gut. Genauso gut ist, dass die Überprüfungs-
(Christine Lambrecht [SPD]: Wer fordert frist bis Ende 2019 verlängert wird und dass auch der
Verjährung?) Kreis der überprüfbaren Personen auf die mittlere
Aber Sie wollen – das geht nicht, wenn Sie diesen Führungsebene erweitert wird, vor allem auch auf kom-
Grundsatz wirklich konsequent weiterführen wollen – munale Wahlbeamte. Allein der Umstand, dass im ver-
trotzdem überprüfen lassen. Wenn Sie das konsequent zu gangenen Jahr 89 000 Neuanträge an die Stasiunterla-
Ende denken würden, unter Berücksichtigung von Ver- genbehörde gestellt wurden, zeigt, dass das Thema – ich
jährung usw., müssten Sie sagen: Schluss mit der Über- sage: leider – nach wie vor hochaktuell ist und deshalb
prüfung. Wir vergeben und vergessen und nehmen keine weiterhin unsere Aufmerksamkeit benötigt.
Überprüfung mehr vor. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
Letztlich werfen Sie uns vor, wir hegten einen Gene- der Opposition, Sie begehen in Ihrer Kritik an unserem
ralverdacht. Dazu möchte ich Ihnen – den Begriff „Ver- Gesetzentwurf meines Erachtens einen groben Fehler:
folgungsfuror“ haben Sie hier auch noch einmal erwähnt – Es geht hier nicht um strafrechtliche Aufarbeitung. Es
(B) nur sagen: Sie geben jetzt praktisch das rechtsstaatliche geht auch nicht um strafrechtliche Vergeltung. Es geht (D)
Instrument, dass der Rechtsstaat sich selber überprüfen um historische Aufarbeitung. Es geht um individuelle
kann, in die Hände der Bürger bzw. der Presse. Das und moralische Verantwortung und Verantwortlichkeit.
heißt, wenn jemand einen Verdacht äußert, dann können
(Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Moralische
wir nach Ihren Vorstellungen auch überprüfen. Damit
Verantwortung kann man nicht durch ein Ge-
fördern Sie ein Klima des Misstrauens. Sie fördern De-
setz regeln!)
nunziantentum.
Dafür darf und wird es auch kein Rückwirkungsver-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
bot geben. Das ist der Grund, warum dieser Gesetzent-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
wurf beileibe nicht verfassungsrechtlich oder rechtspoli-
„Ich habe den Verdacht, dass mein Nachbar, der tisch bedenklich ist, wie Sie, Herr Kollege Thierse,
schon immer an seinem Gartenzaun stand usw., mögli- behaupten. Es ist eine neue Attitüde, bei jedem Gesetz
cherweise …“, diesen Verdacht spreche ich aus, setze stereotyp zu behaupten, es sei verfassungswidrig und
ihn in die Zeitung, und dann darf die Stasiunterlagenbe- man werde es in Karlsruhe überprüfen lassen. Ich for-
hörde untersuchen oder nicht untersuchen: Es kann nicht dere Sie auf: Machen Sie das! Lassen Sie das Gesetz in
im Sinne des Rechtsstaates sein, so etwas zuzulassen. Karlsruhe überprüfen. Ich sage Ihnen ganz offen: Sie
Deswegen bitte ich Sie noch einmal: Überdenken Sie, ob werden Schiffbruch erleiden.
Sie an der Stelle wirklich richtig liegen oder ob Sie nicht
Herr Kollege Thierse, ich bin durchaus bei Ihnen,
doch zustimmen sollten. Ich kann Ihnen sagen, was an-
wenn Sie fordern: Man muss Vertrauen schaffen. Aber
sonsten passieren wird: Wenn bei Unrechtsaufarbeitung
man schafft Vertrauen nicht dadurch, dass man sich
Verjährung einsetzt, hat man keine Nähe mehr zu dem
blind stellt. Ich möchte hier mit Johannes 8, 32 sprechen:
Thema. Dann ist man nicht mehr dran an den Themen,
Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit
es fehlt einem die Sensibilität. Dann schaltet man ir-
wird euch frei machen. – Sonst sind Sie bei allen The-
gendwann auch solche Anzeigen, in denen die Kanzlerin
men immer für größtmögliche Offenheit und größtmög-
– Deutschland 2011 – mit einem Satz von Walter
liche Transparenz. Transparency International ist Ihr
Ulbricht aus dem Jahr 1961 in Verbindung gebracht
größter Ratgeber und Befürworter. Warum sind Sie bei
wird: „Niemand hat die Absicht, …“ Ich bitte Sie: Kom-
diesem wichtigen Thema nicht für größtmögliche Offen-
men Sie davon weg und stimmen Sie heute zu.
heit und größtmögliche Transparenz?
Herzlichen Dank.
Ich möchte ausdrücklich dem neuen Leiter der Stasi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) unterlagenbehörde, Roland Jahn, für seinen Mut und
15550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Stephan Mayer (Altötting)


(A) seine Tatkraft ganz herzlich danken. Er hat deutlich ge- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): (C)
macht, dass es nicht angehen kann, dass weiterhin ehe- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
malige Stasimitarbeiter in der Behörde arbeiten, die der Am Ende dieser Debatte möchte ich für die Koalition
Aufarbeitung und der Aufklärung des Stasiunrechts feststellen: Einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung
dient. der DDR-Diktatur wird es mit uns nicht geben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
der FDP) Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Mit uns auch nicht!)
Herr Kollege Thierse, es ist, gelinde gesagt, euphe-
mistisch, wenn Sie erklären: Es ist für Opfer der Stasi Wir stehen für eine Verlängerung der Arbeit der BStU
schwer erträglich, wenn sie ihren ehemaligen Tätern ins bis 2019.
Gesicht blicken müssen. – Ich muss Ihnen ganz ehrlich (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sagen: Sie müssen sich einmal in die Situation dieser NEN]: Wir auch! Das haben wir immer ge-
Personen versetzen: Sie gehen in das Gebäude der Stasi- sagt! – Christine Lambrecht [SPD]: Wir auch!)
unterlagenbehörde, und dort sitzen vorne freundlich lä-
chelnd als Pförtner diejenigen, die früher die Täter wa- 90 000 Anträge jährlich beweisen: Es gibt einen gro-
ren, die Sie ausspioniert, drangsaliert und schikaniert ßen Bedarf an weiterer Aufklärung.
haben, die Sie vielleicht sogar persönlich an Leib und
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Leben erheblich bedroht und geschädigt haben. NEN]: Genau!)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das Hunderte von Bürgern wollen Woche für Woche wissen,
ist Verleumdung!) wie der Geheimdienst ihr Leben, ihren Beruf und ihre
Das ist an Zynismus und Verhöhnung in keiner Weise zu Familie gewissenlos manipuliert hat.
übertreffen. In den vergangenen 20 Jahren hat es über 6,6 Millio-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen Anträge gegeben. Dahinter steckt millionenfaches
Leid. Zu fast allen Vorschlägen, die heute beraten wer-
Deswegen ist es vollkommen konsequent und richtig, den, besteht zwischen vier Fraktionen fast Einigkeit. Nur
dass wir jetzt mit der gesetzlichen Änderung die Mög- die Linke will die brutale Vergangenheit der DDR ver-
lichkeit zur Versetzung innerhalb der Bundesverwaltung gessen lassen. Das ist typisch für die Linke.
schaffen, um diesen unmöglichen Zustand, der derzeit
noch vorherrscht, zu beenden. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist
eine Unterstellung! Ich habe etwas anderes für
(B) Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Fraktion gesagt!) (D)
Sie begehen meines Erachtens einen weiteren Fehler.
Mit der Fortschreibung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Bei unserer Anhörung über den Entwurf des neuen
ist kein Unwerturteil gegenüber den früheren Bewohne- Stasi-Unterlagen-Gesetzes sprach sich die übergroße
Mehrheit aller Experten für die Neufassung aus: für die
rinnen und Bewohnern der DDR verbunden. Auch wer-
Verlängerung der Frist der Überprüfung, für die Auswei-
den die ehemaligen Bürger der DDR nicht unter Gene-
tung des Personenkreises und für die Erweiterung der
ralverdacht gestellt, sondern es geht um die weiterhin Zugangsrechte für Stasiopfer, Wissenschaftler und Jour-
vorhandene und aus meiner Sicht dringend notwendige nalisten. Eine unterschiedliche Einschätzung gibt es nur
Möglichkeit, dieses schreckliche Unrecht, das von Tau- zu den 47 Mitarbeitern, den Geheimagenten im Dienst
senden von Stasimitarbeitern in 40 Jahren verübt wurde, der DDR, die heute noch weiterhin im Behördendienst
aufzuarbeiten und aufzuklären. tätig sind. Wir lehnen eine weitere Beschäftigung dieser
Deshalb kann ich an Sie nur herzlich, aber umso drin- Mitarbeiter mit Stasivergangenheit ab.
gender appellieren: Steigen Sie wieder ins Boot ein! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir als Gesetzgeber haben das Heft des Handelns in
NEN]: Sie sind ausgestiegen!) der Hand. Die jetzt erzielte Lösung ist personal- und ver-
Noch haben Sie die Möglichkeit. Zeigen Sie Mut und fassungsrechtlich geprüft. Das Gutachten von Weberling
auch die Bereitschaft, an diesem gesamtgesellschaftli- bestätigt diese Rechtsauffassung. Evelyn Finger hat in
chen Thema weiterhin ernsthaft mitzuarbeiten. Dazu ihrem Aufsatz in der Zeit noch einmal deutlich darauf
möchte ich Sie kollegialerweise auffordern. aufmerksam gemacht: Jetzt ist Zeit, zu handeln.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Rechtsstaatlichkeit wird gewährleistet. Die einsti-
gen Mitarbeiter des MfS werden nicht entlassen, sondern
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versetzt. Roland Jahn hat vor seiner Wahl in allen Frak-
tionen des Bundestages erklärt, worauf es ihm ankommt:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Behörde muss das Vertrauen der Bürger genießen.
Sie muss in ihrer Arbeit glaubwürdig sein, und sie darf
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nie die Leiden der Opfer vergessen.
das Wort der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/
CSU-Fraktion. Jetzt gilt es, Roland Jahn den Rücken zu stärken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15551
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(A) Ihn erst im Parlament mit großer Mehrheit in sein Amt Stimmen Sie für eine kluge, weitsichtige und glaubwür- (C)
zu wählen und ihn jetzt, wo es darauf ankommt, in dieser dige Vorlage der Koalition.
entscheidenden Frage alleinzulassen, geht nicht.
Herzlichen Dank.
Bereits die Einstellung von Stasispitzeln in eine Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hörde, die Stasivergehen aufdecken soll, war eine Fehl-
entscheidung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich schließe die Aussprache.
NEN]: Ihres Innenministers Schäuble!)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Sie war gewollt, weil man angeblich auf deren Fach- Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
kunde nicht verzichten konnte. Kritiker bezeichnen diese wurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Un-
Maßnahme zu Recht als naiv, leichtgläubig, folgen- terlagen-Gesetzes. Der Ausschuss für Kultur und Me-
schwer und der Reputation dieser Behörde abträglich. dien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7170, den Gesetzentwurf der Fraktionen
Jahrelang wurde der Sachverhalt unter der Decke ge- der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5894 in der
halten. Erst Ende der 90er-Jahre erfuhr das Parlament Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Än-
erstmalig von diesen Vorgängen. Man hatte nicht nur den derungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
Bock zum Gärtner gemacht, sondern Brandstifter zum ses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7199 vor, über
Feuerlöschen eingesetzt. Das geht nicht. den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Ko-
In die Arbeit der Behörde zog Misstrauen ein. Mit alitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
diesem Misstrauen machen wir heute Schluss. Die BStU und Zustimmung der SPD und der Grünen.
muss von diesem Verdacht befreit werden. Die Umset- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt ge-
zung erfolgt in fairer und gerechter Weise. Dem Einzel- trennte Abstimmung über den Gesetzentwurf.
fall wird Rechnung getragen.
Ich rufe zuerst Ziffer 4 Nr. 12 der Beschlussempfeh-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung auf. Das betrifft die Einfügung eines § 37 a in das
NEN]: Das geht auch jetzt schon!) Stasi-Unterlagen-Gesetz. Wer stimmt dafür? – Wer
Vergünstigungen wird es nicht geben. Das breite Ver- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Maß-
trauen in die Behörde wird wiederhergestellt. gabe der Ziffer 4 Nr. 12 angenommen.
(B) Nun rufe ich die Maßgaben der Beschlussempfehlung (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und unter den Ziffern 1 bis 3, Ziffer 4, soweit Nrn. 11 und 13
der FDP) betroffen sind, und Ziffer 5 auf. Wer stimmt dafür? – Ge-
Wir als Parlament waren zu lange zögerlich. Das gilt genstimmen? – Enthaltungen? – Das ist ebenfalls ange-
für die Veröffentlichung der Rosenholz-Unterlagen über nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
die Auslandsspionage der Stasi ebenso wie für die Auf- Enthaltung von SPD und Grünen und Gegenstimmen der
klärung über die zerrissenen Akten in 16 000 Säcken. Linken.
Auch hier ist Handeln geboten. Schließlich rufe ich die übrigen von der Beschluss-
Die ganze Wahrheit muss auf den Tisch. Aufklärung empfehlung unverändert gelassenen Teile des Gesetzes
und Aufarbeitung dürfen kein Ende haben, wenn wir auf. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
eine Befriedung unserer Gesellschaft erreichen wollen. gen? – Diese sind angenommen mit den Stimmen der
Darum geht es, meine Damen und Herren. Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
Enthaltung von SPD und Grünen. Somit ist der Gesetz-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) entwurf insgesamt in zweiter Beratung angenommen.
Genau diese Zielsetzung leitet inzwischen 14 Partner- Dritte Beratung
organisationen der BStU weltweit. In 14 Ländern, in de- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
nen es Militär- und Parteiendiktaturen gab, wird nach Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
dem Vorbild der BStU und mit großer Unterstützung aus Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
Berlin aufgeklärt und aufgearbeitet. Neu ist Ägypten ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor ange-
hinzugekommen. Insgesamt wird die BStU in ihrer Ar- nommen.
beit international anerkannt. Damit es so bleibt, hat das
Parlament, haben auch wir darauf zu achten, dass es kei- Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 33 auf:
nen Anlass zu Misstrauen gibt, dass unsere Behörde bei- Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
spielhaft arbeitet. Wir handeln auch im Sinne der Bür-
Binder, Andrej Hunko, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
gerkomitees, die am 14. Februar 1991 als Erste einen
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entwurf für ein Stasi-Unterlagen-Gesetz vorgelegt und
gesagt haben: Es muss eine glaubwürdige Behörde sein, Die Bedeutung von Whistleblowing für die Ge-
die den Opfern gerecht wird. sellschaft anerkennen – Hinweisgeberinnen
und Hinweisgeber schützen
Zeigen Sie heute Solidarität mit dieser Behörde! Zei-
gen Sie Solidarität mit den damaligen Bürgerkomitees! – Drucksache 17/6492 –
15552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Überweisungsvorschlag: ger umetikettiert wurde, und so wurden aus Schlachtab- (C)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) fällen plötzlich Dönerspieße. Ohne Herrn Streckers
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) Hartnäckigkeit bei den Behörden wären vielleicht sogar
Rechtsausschuss Menschen zu Schaden gekommen. Dazu kommt der ein-
Petitionsausschuss deutige Betrug mit minderwertigen Lebensmitteln und
Innenausschuss der gravierende wirtschaftliche Schaden für viele unbe-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
teiligte Unternehmen. Auch Herr Strecker wurde danach
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Betrieb gemobbt und verlor seinen Arbeitsplatz. In-
Ausschuss für Gesundheit zwischen hat er glücklicherweise eine neue Stelle, und
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ich wünsche ihm von hier aus alles Gute.
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien (Beifall bei der LINKEN)
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Viele Arbeitgeber setzen sich ungern mit kritischen
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- und couragierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- einander. Sie versuchen, sie loszuwerden. Das macht ih-
schlossen. nen das deutsche Arbeits- und Beamtenrecht auch leicht.
Da wird schnell einmal ein gestörtes Vertrauensverhält-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nis ins Feld geführt, und schon ist die Kündigung durch.
nerin das Wort der Kollegin Karin Binder von der Frak- So bezahlen viele Whistleblowerinnen und Whistleblo-
tion Die Linke. wer für ihre Zivilcourage einen hohen Preis. Spricht sich
das herum, brauchen wir uns über Duckmäusertum in
(Beifall bei der LINKEN) unserer Gesellschaft nicht zu wundern.
Aus aktuellem Anlass möchte ich diese Debatte auch
Karin Binder (DIE LINKE):
nutzen, um Sie auf das Schicksal eines jungen US-ame-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rikanischen Soldaten hinzuweisen: Bradley Manning.
Meine Damen und Herren! Zivilcourage ist ein wichti- Manning war im Irak stationiert. Er wurde im Mai 2010
ges Element unserer Demokratie und notwendig für eine unter dem Verdacht verhaftet, als Whistleblower der In-
funktionierende Gesellschaft. ternetseite WikiLeaks Videos zugespielt zu haben. Da-
(Beifall bei der LINKEN) runter war jenes weltweit bekannt gewordene Video des
US-Hubschrauberangriffs im Irak. Die Zuschauer muss-
(B) Deshalb hat die Linke einen Antrag zur Beratung mit ten zusehen, wie die Besatzung gezielt auf Zivilisten (D)
dem Titel „Die Bedeutung von Whistleblowing für die schoss und sie ermordete. Der junge Mann, dem dafür
Gesellschaft anerkennen – Hinweisgeberinnen und Hin- ein Preis für Zivilcourage gebührt, sitzt stattdessen
weisgeber schützen“ vorgelegt. Noch gibt es keinen schon über ein Jahr in Haft, zeitweilig sogar in Isola-
wirklich zutreffenden deutschen Begriff für Whistleblo- tionshaft. Ihm wurde die Kleidung abgenommen. Er
wing. Das Wort „Hinweisgeber“ trifft es nicht ganz. musste nackt auf dem Boden schlafen. Er soll vor ein
Auch der Begriff „Informantenschutz“ ist nur eine unzu- Militärgericht gestellt werden. Das kann für ihn die To-
reichende Beschreibung. Deshalb reicht auch eine kleine desstrafe bedeuten. Ich bitte Sie dringend: Setzen Sie
Änderung im BGB nicht aus, um das Thema zufrieden- sich für das Leben dieses jungen Mannes ein. Er muss
stellend zu behandeln. Wir meinen, dass Menschen, die entlassen und rehabilitiert werden.
den Mut und die Courage haben, auf Missstände auf-
merksam zu machen, dafür nicht benachteiligt oder gar (Beifall bei der LINKEN)
bestraft werden dürfen.
Ich bitte die Bundesregierung eindringlich, auf die
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) US-Regierung und auf die Regierung Großbritanniens
einzuwirken. Bradley Manning besitzt neben der ameri-
Dies ist in unserer Gesellschaft aber fast die Regel. kanischen auch die britische Staatsangehörigkeit.
Bradley Manning hat schlimmste Menschenrechtsverlet-
Whistleblowerinnen und Whistleblower müssen da- zungen an die Öffentlichkeit gebracht und erfährt sie nun
mit rechnen, dass sie verleumdet werden, dass sie ge- selbst. Dieses Beispiel zeigt eindringlich, wie sehr es an
mobbt werden und dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren. der Zeit ist, Menschen mit Zivilcourage zu schützen.
Dagegen können sie zwar klagen, aber unsere Arbeitsge-
richte versagen ihnen häufig den notwendigen Rückhalt (Beifall bei der LINKEN)
und Schutz.
Die Linke will mit ihrem Antrag eine lange überfäl-
Manche von diesen Hinweisgeberinnen und Hinweis- lige gesellschaftliche Diskussion anstoßen. Bereits seit
gebern wurden für ihre Verdienste schon mit Medaillen November 2010 gibt es einen Beschluss der G-20-Staa-
ausgezeichnet oder erhielten einen Preis, wie zum Bei- ten zur Bekämpfung der Korruption.
spiel Miroslaw Strecker. Vielleicht erinnern Sie sich an
ihn: Ohne diesen Mann wäre der Gammelfleischskandal
vielleicht nie aufgeflogen. Als Lkw-Fahrer einer Spedi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tion hat er beobachtet, wie seine Lieferung vom Empfän- Kommen Sie bitte zum Schluss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15553

(A) Karin Binder (DIE LINKE): Menschen gefährden. Sie sollen alle Rechte haben, aber (C)
Noch zwei Sätze. – Dafür muss der Schutz von keinerlei Pflichten, selbst wenn Menschen in Gefahr ge-
Whistleblowern gesetzlich geregelt werden. Das sagt ein raten wie jetzt. Das finde ich unfassbar.
Beschluss der G-20-Staaten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deshalb fordern wir die Bundesregierung heute auf,
uns bis zum Jahresende einen Vorschlag vorzulegen, da-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
mit das Parlament genügend Zeit hat, die vielen notwen-
digen Gesetzesänderungen angemessen und qualifiziert Frau Connemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage
zu beraten. des Kollegen Jerzy Montag?

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


Gitta Connemann (CDU/CSU):
(Beifall bei der LINKEN) Sehr gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann für Bitte.
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke schön. – Frau Kollegin Connemann, ich habe
Gitta Connemann (CDU/CSU): Ihnen genau zugehört und möchte Sie gerne fragen, ob
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wiki- Sie bei Ihren Überlegungen nicht reflektieren wollen,
Leaks ist spätestens seit dem letzten Jahr wohl jedem dass das, was Sie jetzt als so ungeheuerlich bezeichnet,
von uns bekannt. Die Internetplattform war angetreten, als eine Forderung der Linken betrachtet und hier darge-
die Welt transparenter und damit vermeintlich auch bes- legt haben, der geltenden Rechtslage in Deutschland ent-
ser zu machen. Zu diesem Zweck wurden mehr als spricht. Der Schutz von Dienstgeheimnissen unterliegt
250 000 Berichte aus US-Botschaften aus aller Welt ins bei uns in Deutschland den Polizeibeamten sowie ande-
Netz gestellt. Diese Enthüllung liegt übrigens neun Mo- ren Beamten des Staates und in Ihrem Beispiel den US-
nate zurück. amerikanischen Dienststellen. Wenn Informationen, die
als Geheim eingestuft sind, in die Hände von Journalis-
Heute bedeutet die so gepriesene Transparenz für ten gelangen und in Deutschland veröffentlicht werden,
mehr als 100 Informanten vor allem eines: Angst um dann sind die Journalisten selbstverständlich nicht zu be-
(B) ihre Sicherheit und ein Leben in Angst. strafen. Das ist die Rechtslage. (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Denn die Geheimnisträger müssen um ihre Sicherheit
fürchten. Bislang waren ihre Namen in den Botschafts- Deswegen frage ich Sie, ob Sie das eventuell ändern
depeschen unkenntlich gemacht worden. Jetzt allerdings wollen. Das würde uns doch sehr interessieren.
stehen die Originaltexte mit den Namen aller Geheim-
nisträger im Internet. Grund dafür war eine Datenpanne Gitta Connemann (CDU/CSU):
bei WikiLeaks. Die bittere Erkenntnis lautet: Die Com- Lieber Herr Kollege Montag, natürlich ist mir das be-
puterexperten konnten nicht – ich wiederhole: nicht – die kannt. Wir beide sind Juristen und wissen sehr gut um
Sicherheit der ihnen anvertrauten Daten gewährleisten. die Rechtslage, offensichtlich anders als die Antragstel-
Gerade diese enthüllten Enthüller sollen aber zukünftig ler; denn sie beziehen die Haftungsfreistellung auf jeden,
für gar nichts mehr haften, wenn es nach dem Antrag der der den Hinweis gegeben hat, auf WikiLeaks und auch
Linken geht, über den wir heute debattieren. auf die Beamten, die diese Geheimnisse gegebenenfalls
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) weitergetragen haben und damit unmittelbar Leben ge-
fährden. Das heißt, nach heutiger Rechtslage kann man
In ihrem Antrag fordern die Genossinnen und Genossen diese Beamten haftbar machen und bestrafen. Wenn sich
nämlich den – ich zitiere: die Rechtslage aber zukünftig nach den Vorstellungen
Schutz von Medien und anderen Publizierenden der Linken verändern würde, dann wären sie aus jeder
wie z. B. WikiLeaks, anderen Leak-Plattformen … Haftung heraus. Das wäre unglaublich.
Personen, die Verschlusssachen erhalten und ver- (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag
breiten, dürfen dafür nicht haftbar gemacht werden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Be-
können. strafung von WikiLeaks wollen Sie nicht!)
Ohne Ausnahme, niemals Haftung. Ich finde schon – Ich habe nicht über die Bestrafung von WikiLeaks ge-
das absolut unfassbar; denn Portale wie WikiLeaks wür- sprochen. Ich habe gesagt, dass ich die Beibehaltung der
den nach dem Willen der Linken zukünftig vollkommen strafrechtlichen Normen in dieser Form will.
außerhalb des Rechts stehen, im Guten wie im Schlech-
ten. Das wäre der absolute Freibrief für jegliches Han- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
deln; denn die Linken machen keinerlei Unterschied, ob NEN]: Der Vorsitzende des Rechtsausschusses
diese Plattformen selbst gegen Normen verstoßen oder will es anders!)
15554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Gitta Connemann
(A) Noch schlimmer finde ich allerdings die Begründung. Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Ich empfehle daher wirklich jedem, diesen Antrag zu le- Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Frage der
sen. Die Linke fordert nämlich die totale Haftungsfrei- Kollegin Leidig?
stellung mit der Begründung – ich bitte darum, jetzt ge-
nau zuzuhören –: Gitta Connemann (CDU/CSU):
Jene Enthüllungsplattformen sind zugleich eine le- Auch gerne.
gitime und zeitgemäße Erscheinungsform der vier-
ten Gewalt. Sie müssen auch rechtlich vor Übergrif- Sabine Leidig (DIE LINKE):
fen …, gleich ob durch öffentliche oder private Kollegin Connemann, Sie haben vielleicht zur Kennt-
Stellen, geschützt werden. nis genommen, dass meine Kollegin in ihrem Beitrag
deutlich gemacht hat, dass es durch die G-20-Beschlüsse
Als ich das las, war ich noch fassungsloser. Ich will die Verpflichtung gibt, an einem Schutz für Whistleblo-
hier gar nicht mehr von der bewährten Gewaltenteilung wer zu arbeiten. Mit unserem Antrag, der explizit Anre-
– Exekutive, Judikative und Legislative – sprechen. Da- gung für eine Debatte sein soll, wollen wir dieses Thema
rüber müssen wir mit Ihnen auch nicht mehr reden. Das voranbringen. Meine Frage lautet nun, ob Ihre Fraktion
alles scheint für Sie wirklich nur eine Petitesse zu sein, mit irgendeinem Vorschlag, Gesetzentwurf oder Antrag
weil Sie auf die Schnelle eine neue Gewalt – Sie spre- diese Debatte konkret unterstützen und voranbringen
chen von der vierten Gewalt – generieren. Das ist un- will.
glaublich.
In Ihrem Antrag, den Sie vorlegen, fordern Sie, dass Gitta Connemann (CDU/CSU):
WikiLeaks als höchste Instanz vollkommen unantastbar Meine Fraktion wird zunächst einmal abwarten, was
ist, obwohl in keiner Weise legitimiert. Ich sage Ihnen die G-20-Staaten tatsächlich beschließen. Denn anders,
allen persönlich, meine Damen und Herren von der Lin- als Sie es darstellen – das zeigt einmal mehr Ihre Unge-
ken: Mir graut vor Ihrem Demokratieverständnis. nauigkeit, über die ich manchmal nur den Kopf schütteln
kann –, ist Deutschland nach den Beschlüssen des Euro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) parates und der G-20-Staaten nicht verpflichtet, bis 2012
Schon deshalb ist Ihr Antrag vollkommen unakzeptabel. ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern zu verab-
Das gilt auch mit Blick auf Ihr Rechtsverständnis. Dafür schieden. Ein Gesetz ist auch europarechtlich nicht ge-
gibt es einmal mehr die Note „mangelhaft“. boten. Die Entschließung des Europarates aus dem Jahre
2010 – auch darauf bezog sich Ihre Frage – ist eine un-
Im Mittelpunkt Ihres Antrags stehen die sogenannten verbindliche Erklärung, die die Mitgliedstaaten lediglich
(B) Whistleblower, also Informanten oder Hinweisgeber. dazu einlädt, gesetzliche Regelungen zum Whistleblo- (D)
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, fordern wing zu schaffen.
in diesem Zusammenhang weitreichende gesetzliche Re-
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das war nicht
gelungen. Anlass für Ihre Forderung war im Übrigen
meine Frage! – Kerstin Tack [SPD]: Sie wol-
nicht die jüngste Entscheidung des Europäischen Ge-
len also nichts machen!)
richtshofs für Menschenrechte in der Sache Heinisch.
– Frau Leidig, Sie können ruhig stehen bleiben. Ich
(Karin Binder [DIE LINKE]: Der Antrag war komme nämlich jetzt zu den G-20-Staaten. Ich finde es
schon vorher da!) bemerkenswert, dass sich in diesem Haus Kollegen aus
– Das wollte ich gerade sagen. Es wäre gut, wenn Sie der Opposition inzwischen zwar ständig zu Wort mel-
mich ausreden lassen würden. – Die Entscheidung er- den, um Fragen zu stellen, sich aber dann hinsetzen, um
ging erst nach Vorlage Ihres Antrages. die Antwort nicht bis zum Ende hören zu müssen. Sie
sind manchmal wie bockige kleine Kinder. Anders kann
Sie stützen Ihren Antrag ausschließlich auf Wahrneh- ich das nicht bezeichnen.
mungen. Danach sind Whistleblower, Informanten und
Hinweisgeber, nicht hinreichend geschützt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn Sie stehen geblieben wären, hätte ich Ihnen sagen
(Kerstin Tack [SPD]: Was tun Sie denn für den können
Schutz?)
(Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])
Dumm ist nur, dass Ihr Befund nicht stimmt. Das stelle
ich bei vielen Ihrer Anträge fest. Die Rechtslage ist so – Frau Kollegin, quaken Sie nicht dazwischen; hören Sie
– ich empfehle immer den Blick ins Gesetz, der die zu; auch das gehört zum Erwachsensein –: Das Gleiche
Rechtsfindung erleichtert –, gilt für den im Jahr 2010 von den G-20-Staaten verein-
barten Aktionsplan gegen Korruption, von dem Sie ge-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So rade sprachen. Dieser Plan sieht unter anderem die
ist es!) Schaffung von Regelungen vor, die Personen vor Diskri-
minierung und Vergeltungsmaßnahmen schützen sollen.
dass ein Schutz besteht; das ist auch gut und wichtig. In
Auch diese Erklärung ist unverbindlich. Machen Sie
Deutschland gibt es entsprechende spezialgesetzliche
doch einfach Ihre Hausaufgaben!
Regelungen, beispielsweise das Anzeigerecht in § 17
Abs. 2 des Arbeitsschutzgesetzes. (Beifall der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15555
Gitta Connemann
(A) Wir waren bei den spezialgesetzlichen Regelungen. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja, Entschuldi- (C)
Ich wiederhole es gerne, weil Sie sich damit offensicht- gung!)
lich nicht beschäftigt haben: In Ihrem Antrag gibt es
dazu kein einziges Wort, auch nicht zu § 4 g Abs. 1 Wie ich sehe, wollen Sie, Frau Leidig, eine Zwischen-
Satz 2 Bundesdatenschutzgesetz oder zu § 84 Betriebs- frage stellen, und die Kollegin Connemann gestattet das;
verfassungsgesetz. Das alles sind Regelungen, die schon das habe ich jetzt verstanden.
einen spezialgesetzlichen Schutz beinhalten.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Im Übrigen werden in Deutschland Arbeitnehmer, die Sehr gerne.
den zuständigen Behörden echte oder vermeintliche
Missstände in Betrieben melden, darüber hinaus durch
die allgemeinen Regelungen des Kündigungsschutzge- Petra Pau (DIE LINKE):
setzes geschützt. Schutz erfahren sie auch durch das ar- Ich habe die Zeit angehalten.
beitsrechtliche Maßregelungsverbot. Danach darf der Frau Leidig, bitte.
Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht benachteiligen,
wenn der Arbeitnehmer seine Rechte in zulässiger Weise
nutzt. Das alles sind Regelungen, die wir heute haben, Sabine Leidig (DIE LINKE):
die in Ihrem Antrag aber mit keinem einzigen Wort an- Ich möchte Sie fragen, woher Sie den Optimismus
gesprochen werden; das ist ja auch bequemer, als die be- nehmen, dass Selbstverpflichtungen von Unternehmen
stehende Rechtslage als richtig aufzufassen. Dem liegt zu irgendwelchen nachhaltigen Ergebnissen führen.
ein interessantes Rechtsverständnis zugrunde. Wenn man sich die Erhöhung der Frauenquote in Füh-
rungspositionen anschaut, dann stellt man fest: Trotz der
Die Arbeitnehmer werden durch die Rechtsprechung mindestens zehn Jahre alten Selbstverpflichtung der gro-
des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeits- ßen Unternehmen ist das Ergebnis gleich null.
gerichts geschützt. Diese Gerichte erkennen schon heute
ein ungeschriebenes Anzeigerecht an: Gitta Connemann (CDU/CSU):
Arbeitnehmer können sich an öffentliche Stellen wen- Ich habe nicht von der Selbstverpflichtung der Unter-
den, wenn sie sich vorher ernsthaft um eine innerbetrieb- nehmen gesprochen, sondern von mehr; denn es handelt
liche Klärung bemüht haben und ihre Anzeigen nicht sich um Betriebsvereinbarungen, Frau Kollegin. Sie soll-
leichtfertig erfolgen. Bei Straftaten mit schweren Folgen ten wissen – so viele rechtliche Kenntnisse traue ich Ih-
für den Kollegen oder die Allgemeinheit kann auf eine nen zu –,
(B) innerbetriebliche Klärung verzichtet werden. Keinesfalls (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der (D)
darf eine Anzeige mit dem Ziel ergehen, in erster Linie LINKEN)
den Kollegen oder Arbeitgeber zu schädigen. Die Recht-
sprechung berücksichtigt also die Interessen von Arbeit- dass Betriebsvereinbarungen von den Kolleginnen und
gebern und von Arbeitnehmern ausgewogen. Sie schützt Kollegen in einem Betrieb eingeklagt werden können; es
das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer auf der einen sind einklagbare Rechte. Eine Betriebsvereinbarung ist
Seite, und sie sichert auf der anderen Seite die innerbe- also mehr als eine Selbstverpflichtung.
triebliche, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Deshalb Ich habe zuvor die gesetzlichen Regelungen darge-
existieren in vielen Unternehmen inzwischen interne Re- stellt, die heute schon greifen. Ich wäre dankbar, wenn
gelungen; es ist anders, als in Ihrem Antrag dargestellt; Sie sich diese einfach einmal ansehen und zur Kenntnis
Sie beziehen sich auf eine inzwischen veraltete Untersu- nehmen würden. Dann würden wir sicherlich zu einer
chung einer Unternehmensberatung. In Deutschland ha- versachlichten Diskussion kommen.
ben sich bereits viele Unternehmen entschieden, Whist-
leblowing betrieblich zu regeln, zum Beispiel die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Deutsche Bahn, Daimler, ThyssenKrupp, BASF, Vatten- Reiner Deutschmann [FDP] – Zuruf von der
fall Europe, Hochtief, ABB Deutschland usw. usf., und Linken: Wir kennen die!)
das immer im betrieblichen Miteinander.
Das Abstellen auf Gutgläubigkeit allein, wie es auch
(Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]: Selbstver- in Ihrem Antrag gefordert wird, ist zwar wichtig, aber
pflichtungen sind immer unwirksam!) völlig unzureichend. Es müssen belastbare Informatio-
nen vorliegen. Wir müssen daran denken, dass eine An-
– Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Aber zeige immer ein scharfes Schwert gegenüber dem Be-
dann bleiben Sie stehen und setzen sich nicht gleich wie- troffenen darstellt. Das ist übrigens nicht immer der
der hin. Arbeitgeber, sondern manchmal auch der Arbeitnehmer.
Deshalb dienen diejenigen Regelungen, die wir bis dato
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Darauf können haben, dem innerbetrieblichen Frieden.
wir auch verzichten!)
Ich könnte noch vieles ansprechen. Unter anderem
könnte ich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Petra Pau (DIE LINKE): für Menschenrechte in Sachen Brigitte Heinisch hinwei-
Einen kleinen Moment. Das Wort erteile immer noch sen. Dieser Fall wird sicher in den Folgebeiträgen ange-
ich. sprochen werden.
15556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Gitta Connemann
(A) Diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs Bundesregierung; denn das Urteil richtet sich gegen den (C)
verpflichtet Deutschland nicht dazu, tätig zu werden. Staat und nicht gegen das Pflegeheim.
Vielmehr war das ein Appell an die Arbeitsgerichte.
Die Bundesregierung hat es trotz mehrfacher Ermah-
Diese Entscheidung war übrigens auch eine Bestätigung nungen auch der Opposition versäumt, einen Gesetzent-
der in Deutschland geltenden Beweislastregelung. Das wurf zum besseren Schutz von Informanten vorzulegen.
Gericht hat festgestellt, dass die deutschen Arbeitsge- Wir alle kennen die Fälle, in denen engagierte und cou-
richte die Interessen in diesem Fall nicht abgewogen ha- ragierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren An-
ben. Darin haben sie eine Verletzung von Art. 10 der zeigen den Schutz der Öffentlichkeit vor den Schutz des
Europäischen Menschenrechtskonvention gesehen. Das eigenen Unternehmens gestellt haben, und das war rich-
zeigt aber, dass das Ganze bei uns im Prinzip gut gere- tig so. Der Lkw-Fahrer, der 2007 den Gammelfleisch-
gelt ist und dass bereits heute die Möglichkeit besteht, skandal ins Rollen brachte, die Prokuristin, die Verstöße
dagegen vorzugehen. der damaligen DG Bank gegen Insiderregeln publik
Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der machte, der Revisor, der auf gefälschte Statistiken der
Empfehlung der G-20-Staaten, die wir abwarten sollten, Arbeitsämter aufmerksam machte, sie alle verloren ihre
glaube ich, dass wir uns noch über dieses Thema unter- Jobs.
halten werden. Ich wünsche mir, dass wir diese Diskus- Wenn es um den Schutz von Informanten geht, ist
sion dann auf einer anderen Ebene führen, nämlich auf Deutschland im internationalen Vergleich längst abge-
einer sachlichen und profunden, aber nicht auf einer lai- hängt. Ob in der Parlamentarischen Versammlung des
enhaften Ebene, die letztlich nur dazu geeignet ist, ir- Europarats, beim G-20-Gipfel und in der Europäischen
gendwelche Stimmungen in den Medien aufzunehmen. Sozialcharta, überall werden wirksame Vorkehrungen
für Whistleblower eingefordert. Andere Länder sind
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. längst viel weiter. Ob in Großbritannien, in Belgien, in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frankreich, in Norwegen, in Rumänien, in den Nieder-
landen und in den USA, überall dort gibt es bereits wirk-
Vizepräsidentin Petra Pau:
same gesetzliche Regelungen zum Schutz von Hinweis-
geberinnen und Hinweisgebern.
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD-
Fraktion. Im Jahre 2008 – nach dem Gammelfleischskandal –
legte der Bundeslandwirtschafts- und -verbrauchermi-
(Beifall bei der SPD) nister Seehofer gemeinsam mit Olaf Scholz und Brigitte
Zypries einen Entwurf zur Stärkung des Informanten-
Kerstin Tack (SPD): schutzes vor. Dieser Entwurf ist damals von der CDU/
(B) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und CSU-Fraktion strittig gestellt und zurückgezogen wor- (D)
Herren! Brigitte Heinisch war eine verantwortungsbe- den. Das ist schon deshalb skandalös, weil Bundesver-
wusste Mitarbeiterin. Als sie wegen Personalmangels braucherminister Seehofer zuvor den Lkw-Fahrer mit
ihre Arbeit in einem Berliner Pflegeheim nicht mehr kor- der goldenen Plakette des Bundeslandwirtschaftsminis-
rekt erledigen konnte, informierte sie das Management. teriums für seine couragierten Dienste ausgezeichnet
Als es schlimmer wurde, hielt sie nach außen still, lehnte hatte. Das Ganze hat er dargestellt als einen ganz we-
aber intern die Übernahme jeglicher Verantwortung ab. sentlichen und bahnbrechenden Erfolg im Hinblick auf
die Vermeidung von Lebensmittelskandalen.
Als sie überarbeitet war, ging sie zuerst zum Arzt,
später zum Anwalt. Dieser wandte sich an die Heimlei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tung, aber nichts passierte – anderthalb Jahre lang –, ob- der LINKEN)
wohl auch der Medizinische Dienst der Krankenversi- Wir haben immer wieder, insbesondere im Zusam-
cherung Mängel beanstandet hatte. Daraufhin zeigte sie menhang mit dem Dioxinskandal Anfang dieses Jahres,
ihren Chef an. Sie verlor ihren Job bzw. wurde entlassen – gefordert, dass endlich ein vernünftiges Informanten-
aus wichtigem Grund. schutzgesetz vorgelegt wird. Aber jedes Mal wurde das
Erfolglos versuchte sie, in Deutschland gegen die in den Reihen von CDU/CSU und FDP als Teufelswerk
Kündigung vorzugehen. Jetzt hat ihr der Europäische bezeichnet, das zu Denunziantentum führe.
Gerichtshof für Menschenrechte recht gegeben. Er hat Ich frage deshalb die Regierungskoalition, warum sie
Deutschland wegen der Verletzung ihres Rechts auf Mei- den Schutz des Leiters des Pflegeheimes, in dem Frau
nungsfreiheit verurteilt und ihr Entschädigung zugespro- Heinisch tätig war, vor den Schutz der bedürftigen Se-
chen. niorinnen und Senioren und des Pflegepersonals stellen
will.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sehr gut!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Zwar hätten die Vorwürfe gegen das Pflegeheim eine GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Skandalös!)
rufschädigende Wirkung, aber – so stellt der Gerichtshof
fest – das öffentliche Interesse an Informationen über Ich frage auch, warum denn Ihrer Meinung nach der
Mängel in der Altenpflege überwiegt in einer demokrati- Schutz des Fleischbetriebes, der vergammeltes Fleisch
schen Gesellschaft das Interesse eines Unternehmens am ausliefern wollte und damit unabsehbar viele Menschen
Schutz seines Rufes. Das ist doch eine erstaunliche Be- hätte krankmachen können, vor den Schutz genau dieser
merkung und zudem eine knallende Ohrfeige für die Menschen und des Fahrers gestellt werden soll? Wie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15557
Kerstin Tack
(A) wollen Sie den betroffenen Menschen und dem Personal (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C)
diese Fragen beantworten? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucher-
schutz des Bundesrates hat in seiner Sitzung am 26. Sep- Vizepräsidentin Petra Pau:
tember 2011 einen Antrag des Landes Berlin zur gesetz- Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
lichen Verankerung des Informantenschutzes im BGB Fraktion.
beschlossen. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, (Beifall bei der FDP)
entsprechend tätig zu werden. Auch das Europäische
Parlament hat in seiner Entschließung am 15. September
Pascal Kober (FDP):
2011 beschlossen, weitere Maßnahmen zum Schutz von
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Informanten zu ergreifen. Sie werden also zum Glück
Liebe Frau Tack, Sie haben der Koalition Einseitigkeit in
von außen getrieben; denn Sie selber werden ja nicht tä-
der Argumentation vorgeworfen. Ich finde, das trifft
tig.
nicht zu. Meine Kollegin Gitta Connemann ist das Pro-
Die SPD-Bundestagsfraktion wird in den nächsten blem hier eindeutig sehr differenziert angegangen.
Wochen einen eigenen Gesetzentwurf zum Informanten- (Kerstin Tack [SPD]: Das bleibt noch zu klä-
schutz in den Bundestag einbringen. Einige Bereiche ren, wie eindeutig das war!)
müssen klar geregelt werden: Wann liegt ein Missstand
vor? Wir brauchen eine klare Definition. In welcher Form Ich werde für die Regierungskoalition versuchen, mit
können Missstände geäußert werden? Können die Hin- derselben Differenziertheit fortzufahren, und beginne
weise auch anonym erfolgen? Soll immer eine innerbe- mit einer Wertschätzung für Whistleblower.
triebliche Regelung vorgeschaltet werden, bevor die Be- Da es noch nicht so lange her ist, dass der Papst hier
hörden angesprochen werden oder gar die Öffentlichkeit im Deutschen Bundestag geredet hat, fühle ich mich
informiert wird? Welchen Schutz sollen Hinweisgeber auch als evangelischer Theologe eingeladen, mit einem
neben dem allgemeinen Kündigungsschutz genießen? katholischen Kirchenvater zu beginnen, nämlich mit
Das ist die Frage nach dem Schutz vor Beeinträchtigun- Thomas von Aquin. Er hat einmal eine Handlungsma-
gen von Entwicklungs- und Karrierechancen und vor un- xime formuliert:
gewollten Versetzungen im Betrieb.
Für Wunder muss man beten, für Veränderungen
Es muss auch geregelt werden, welches die jeweils zu- aber arbeiten.
ständige Behörde ist oder ob in Zweifelsfällen auch die
Polizei für die Entgegennahme zuständig sein kann, wenn Es wäre nicht Thomas von Aquin, wenn er seine Hand-
(B) ein Hinweisgeber nicht weiß, wohin er sich wenden soll. lungsmaxime nicht zugleich normativ fundieren würde. (D)
Welche Schulungs- und Bildungspflichten obliegen ei- Diese Norm, diese Fundierung ist bei ihm in genauso
nem Dienstherrn, damit er seine Mitarbeiter über ihre klaren Worten zu finden:
Rechte und ihren Schutz informiert? Die Rolle der Perso- Alles, was gegen das Gewissen geschieht, ist
nal- und Betriebsräte muss geklärt werden. Es muss ge- Sünde.
klärt werden, ob interne Systeme freiwillig oder ver-
pflichtend eingeführt werden sollen und wann ein Viele Whistleblower handeln nach genau diesen bei-
Hinweisgeber Rückmeldung von der zuständigen Stelle den Grundsätzen von Thomas von Aquin: Sie stellen ei-
innerhalb des Betriebes bekommen muss, damit er ent- nerseits ihr Gewissen über Abhängigkeiten und Zwänge;
scheiden kann, ob er weitere Schritte einleiten sollte oder sie handeln andererseits, um für ihre Mitmenschen Ver-
nicht. Schließlich muss geklärt werden, wer die Hinweis- änderungen zum Positiven zu bewirken. Für ihr Streben
geber berät, wer sie rechtlich unterstützt und wer die Be- nach Recht und Gerechtigkeit nehmen sie oft Ausgren-
weislast trägt. zungen, Anfeindungen und weitere, manchmal schwer-
wiegendere Repressalien in Kauf. Aber – Gitta
Das sind noch sehr viele offene Fragen. Der Fall Hei- Connemann hat diese Differenzierung schon sehr gut für
nisch zeigt aber, wie groß die Not und wie wichtig die die Regierungskoalition zum Ausdruck gebracht – sie
Klärung dieser Fragen ist. Insbesondere im Pflege- und finden sich auch in Konfliktsituationen wieder, mit wi-
Gesundheitsbereich, im Lebensmittelbereich und im Fi- derstreitenden Interessen und Rechten.
nanzbereich ist der Informantenschutz sehr wichtig.
Denn es geht um das Leben von Menschen und das Ab- Ich nenne nur einmal das Beispiel des Datenschutzes,
wenden von Krankheiten und körperlicher Beeinträchti- auf das ich jetzt näher eingehen will. Wenn ein Hinweis-
gung, und es geht nicht zuletzt um die Existenzen von geber Verstöße meldet, dann muss er unter Umständen
Menschen im Finanzdienstbereich. auch personenbezogene Daten erheben, speichern und
weitergeben: vielleicht seine eigenen Daten, vor allen
Deshalb fordere ich – so wie der Fachausschuss des Dingen aber die Daten mutmaßlicher Übeltäter. Er stößt
Bundesrates und das Europäische Parlament – die Bun- damit natürlich sehr schnell an die Grenzen datenschutz-
desregierung auf: Hören Sie auf, zu sagen, alles sei gere- rechtlicher Vorgaben. Damit sowohl der Hinweisgeber
gelt; denn das ist es nicht. Legen Sie endlich ein ver- als auch der vielleicht Unschuldige geschützt werden,
nünftiges Gesetz vor! Das ist in Deutschland überfällig. muss an dieser Stelle eine ganze Reihe von Fragestellun-
Wir warten auf Ihre Vorschläge. gen differenziert beantwortet werden,
Herzlichen Dank. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nur zu!)
15558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Pascal Kober
(A) beispielsweise: Inwieweit sind datenschutzrechtliche schwerde nicht zu Nachteilen für den Arbeitnehmer füh- (C)
Vorgaben zu beachten? Inwieweit ist die Datenverarbei- ren.
tung bei Hinweisen rechtlich zulässig? Überwiegt das
Interesse des verdächtigten Mitarbeiters am Schutz sei- Insofern sind die Gerichte nach unserer Ansicht bes-
ner personenbezogenen Daten oder aber die Aufklä- ser geeignet, die besonderen Verhältnisse des Einzelfalls
rungspflicht? Wie können die gegenläufigen Interessen zu berücksichtigen. Ebenso wie bei den sogenannten Ba-
des betroffenen Mitarbeiters am Schutz seiner Daten so- gatellkündigungen ist die Frage der Verhältnismäßigkeit
wie des Hinweisgebers am Schutz vor strafrechtlichen von ausschlaggebender Bedeutung.
und zivilrechtlichen Risiken im Einzelfall abgewogen
werden? Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr vor-
Binder?
liegender Antrag liefert leider nur unzureichende Ant-
worten auf diese Fragen.
Pascal Kober (FDP):
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir sind auch Nein, ich bin gleich fertig. Die übrigen Kolleginnen
nicht die Regierung!) und Kollegen wollen auch noch reden und Debattenzeit
– Aber Sie wollen sich doch am demokratischen Prozess haben,
beteiligen. Sie sind zwar nicht die Regierung; aber Sie (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
können uns doch helfen, indem Sie kluge Anträge for- CDU/CSU)
mulieren und sich am parlamentarischen Prozess beteili-
gen. Immerhin sind wir noch das Parlament. zumal die Kollegin klargestellt hat, dass sie nicht positiv
mitarbeiten, sondern nur Fragen stellen will. Dazu hatten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie schon genügend Gelegenheit.
Ihre Zwischenrufe sind im Hinblick auf Ihr Verständnis (Karin Binder [DIE LINKE]: Wozu legen wir
von Parlamentarismus und von der Oppositionsarbeit einen Antrag vor, Herr Kollege, wenn wir
schon bemerkenswert. nicht positiv arbeiten wollen?)
Wenn wir über Whistleblowing diskutieren, geht es Die Gerichte sind besser dazu geeignet, Entscheidun-
nicht nur um das moralische Handeln von Einzelperso- gen zu treffen. Ich habe gerade die Verhältnismäßigkeit
nen; es geht auch um die freiheitlichen Grundlagen unse- angesprochen. Diese Verhältnismäßigkeit würde bei Er-
rer staatlichen Ordnung: um die Meinungs- und Rede- füllung der in Ihrem Antrag formulierten Forderungen
(B) freiheit einerseits und um den Schutz des Einzelnen vor nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden. (D)
dem Missbrauch personenbezogener Daten andererseits;
beides sind Fundamente eines liberalen Rechtsstaates. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Partei Die
Linke, beteiligen Sie sich doch an der Diskussion über
Folgte man Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kol- die Fragen, die ich hier gestellt habe.
legen der Linken, so würden wir bestimmte Prinzipien
unseres Rechtsstaats opfern, um damit vermeintlich (Karin Binder [DIE LINKE]: Wir stoßen sie
mehr Schutz für eine bestimmte Personengruppe, für gerade an, wenn Ihnen das nicht aufgefallen
eine bestimmte Seite, zu erreichen. So wird in Ihrem ist, Herr Kober!)
vorliegenden Antrag unter anderem gefordert, eine un-
Versuchen Sie einmal, nicht nur anzuklagen, sondern po-
abhängige Ombudsstelle für Whistleblower einzurich-
sitiv am parlamentarischen Prozess mitzuwirken.
ten, die über angemessene Durchsetzungs- und Weiter-
verfolgungsmechanismen verfügen muss. Die Kernfrage Vielen Dank.
lautet aber: Inwieweit dürfen dabei ohne konkrete Ver-
dachtsmomente Daten ohne Zustimmung der betroffe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nen Personen erhoben, gespeichert und weitergegeben der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]:
werden? Diese Kernfrage bleibt im vorliegenden Antrag, Hochmut kommt vor dem Fall!)
wie so viele andere Fragen auch, unbeantwortet.
Vizepräsidentin Petra Pau:
An dieser Stelle ist mal wieder Thomas von Aquin zu
zitieren. Er hat klargestellt, dass das Menschenrecht – da- Die Kollegin Ingrid Hönlinger hat für die Fraktion
mit meint er, wenn ich noch einmal an den Papst erinnern Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
darf, eine naturrechtliche Begründung des Menschen-
rechts – über dem Staatsrecht stehen muss. Das heißt, die Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
staatlichen Gesetze dürfen nicht im Widerspruch zum Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Menschenrecht stehen. In genau diesem Sinn hat der Eu- Kollegen! Das Aufdecken von Missständen in Unterneh-
ropäische Gerichtshof für Menschenrechte gehandelt, als men und Institutionen ist von großer gesamtgesellschaft-
er klargestellt hat, dass sich jeder, der Fehlverhalten mel- licher Bedeutung. Kritikwürdige Zustände im Pflegebe-
det, auf sein Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen reich und Steuerhinterziehung in Millionenhöhe sind nur
kann. Die Rechtsprechung hat also bereits Kriterien für zwei Beispiele von vielen. Oft hat nur ein begrenzter
ein Anzeigerecht des Arbeitnehmers aufgestellt. Auch Personenkreis Zugang zu den relevanten Informationen,
nach § 84 ff. Betriebsverfassungsgesetz darf eine Be- um von Missständen überhaupt erfahren zu können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15559
Ingrid Hönlinger
(A) Deshalb ist die Gesellschaft auf diese Hinweisgeberin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
nen und Hinweisgeber angewiesen. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE
Es gehört viel Mut dazu, Missstände beim eigenen GRÜNEN]: Oder von der Koalition, Herr
Arbeitgeber oder beim Dienstherrn anzuprangern. Umso Kober!)
empörender ist es, dass diesen Menschen in der Folge
auf ihren Hinweis noch immer häufig die Kündigung Den Antrag der Linken zum Thema Whistleblowing
droht. Hierfür gibt es leider viele Negativbeispiele. finden wir prinzipiell berechtigt, aber uns fehlt die Kon-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kretisierung für eine gesetzliche Gestaltung. Der Antrag
ist so unkonkret, dass er sich in dieser Form nicht in ein
Auch die Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, dass Gesetz umsetzen lässt. Zum Beispiel lässt sich nicht er-
skandalöse Zustände aufgedeckt werden. Dieses Inte- kennen, wie Sie den Schutz von Hinweisgeberinnen und
resse ist gewichtig. An dieser Stelle nenne ich nur das Hinweisgebern im Arbeitsrecht und im Beamtenrecht
Beispiel Gammelfleisch. Wir müssen endlich anerken- verankern wollen. Welche Rechtsgüter sollen geschützt
nen, dass Whistleblower einen wichtigen Beitrag für un- werden? Wie kann ein angemessener Ausgleich zwi-
sere Gesellschaft leisten. Whistleblower sind Indikato- schen den verschiedenen Interessen von Arbeitgebern
ren für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Sie haben und Arbeitnehmern gefunden werden?
unseren Schutz verdient, auch den gesetzlichen.
Wir Grünen haben uns intensiv mit dem Problem aus-
Die Bundesregierung scheint diese Problematik ein- einandergesetzt. Wir wollen keinen schnellen Antrag,
fach zu übergehen. Diese Ignoranz ist umso beschämen- sondern einen gründlichen und ausgereiften. Deshalb
der, als erst vor kurzem auch der Europäische Gerichts- werden wir demnächst einen Gesetzentwurf vorlegen
hof für Menschenrechte in Straßburg Deutschland in und zur Diskussion stellen. Er wird eine praktikable Ent-
einem Whistleblower-Fall wegen Verletzung der Mei- scheidungsgrundlage darstellen. Wir meinen nämlich,
nungsfreiheit verurteilt hat. Sie alle haben von dem Fall dass die Regelung zum Schutz von Whistleblowern eine
gehört. Der Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch präzise Diskussion verdient.
wurde von ihrem Arbeitgeber gekündigt. Dabei haben
wir es ihr zu verdanken, dass menschenunwürdige Zu- Vielen Dank.
stände in einer Berliner Pflegeeinrichtung aufgeklärt
wurden. Das ist nur ein Fall von vielen, aber er zeigt, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
welch schwieriger Situation Menschen stecken, die Un- sowie bei Abgeordneten der SPD)
gerechtigkeiten entdecken und aufdecken wollen.
Wir Grünen wollen, dass nicht die Vertuscher von Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) Missständen geschützt werden, sondern die Aufdecker Ich schließe die Aussprache. (D)
von Missständen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/6492 an die in der Tagesordnung aufge-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
der SPD) jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Vor diesem Hintergrund kann ich es einfach nicht verste- wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
hen, dass diese Regierung nach wie vor keine Pläne hat, Soziales. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
um den Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisge- beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
bern gesetzlich zu regeln. Trotz des dringenden Hand- braucherschutz.
lungsbedarfs hält es die Regierung nicht einmal für nö- Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
tig, aktiv zu werden und sich einen Zeitplan zu geben. Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Stattdessen bleibt sie passiv und wartet auf die Empfeh- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
lungen und Diskussionsergebnisse der G-20-Staaten. cherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
Das ergibt sich aus der Antwort auf unsere Kleine An- schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
frage. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
NEN]: Die Regierung sieht sowieso sehr müde Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
aus!) derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
Ich frage mich: Will sich die Regierung hinter dieser stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
G-20-Arbeitsgruppe verstecken? Es muss doch eigent- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
lich allen klar sein, dass eine internationale Arbeits- sungsvorschlag ist angenommen.
gruppe den nationalen Gesetzgeber weder ersetzen noch
ihm die Arbeit abnehmen kann. Für die konkrete For- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
mulierung eines nationalen Gesetzes kann eine interna- Erste Beratung des von der Bundesregierung
tionale Arbeitsgruppe wenig Hilfestellung leisten. Die eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
G-20-Arbeitsgruppe wird kaum Untersuchungen dazu besserung der Versorgung bei besonderen
anstellen, auf welche Weise sich eine gesetzliche Neure- Auslandsverwendungen (Einsatzversorgungs-
gelung am besten in das bestehende deutsche Recht ein- Verbesserungsgesetz – EinsatzVVerbG)
gliedern lässt. Das ist schon Ihre Aufgabe, meine Damen
und Herren von der Regierungsbank. – Drucksache 17/7143 –
15560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Überweisungsvorschlag: Zweitens. Einsatzzeiten werden bei der ruhegehaltfä- (C)
Verteidigungsausschuss (f) higen Dienstzeit in Zukunft doppelt berücksichtigt. Das
Innenausschuss
Rechtsausschuss ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Punkt.
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Drittens. Das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz wirkt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rückwirkend. Diese Änderung ist vielleicht noch wichti-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre ger als die vorige. Wir führen einen Stichtag ein, den
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 1. Juli 1992. Das war, wenn ich das richtig weiß, der
Kambodscha-Einsatz. Das heißt, es gilt für alle, die seit
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- 1992 gefallen sind oder verwundet worden sind. Es wird
minister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière. also niemand benachteiligt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Viertens. Hinterbliebene von im Einsatz gefallenen
Zeitsoldaten werden genauso behandelt, als wenn der
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- Angehörige – meist ist es der Ehemann – Berufssoldat
teidigung: gewesen wäre. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Aus gu-
ten Gründen werden Dienstverhältnisse auf Zeit anders
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
behandelt als unbefristete Dienstverhältnisse. Hier, wenn
legen! Der Deutsche Bundestag hat allein in diesem Jahr
es um das Beklagen eines gefallenen Soldaten geht, wird
siebenmal über die Entsendung von Streitkräften debat-
die Versorgung gleich gestaltet.
tiert und abgestimmt. Dabei stehen naturgemäß die Si-
cherheitspolitik und die Sinnhaftigkeit eines solchen Fünftens. Wir schließen eine Lücke bei den soge-
Einsatzes im Mittelpunkt. Das ist verständlich und gut nannten Kriegsklauseln. Auch bei Lebensversicherun-
so. Wir dürfen aber niemals vergessen, dass es bei diesen gen zur Finanzierung von Immobilien tritt künftig der
Entscheidungen um Menschen geht, um Soldaten, Bund mit einem Schadensausgleich ein.
manchmal auch um zivile Mitarbeiter, die wir in die
Welt schicken, um Menschen, die uns anvertraut sind. Ich will das zum Anlass für eine Bemerkung nehmen.
Deswegen debattieren wir heute über den vorliegenden Wir schaffen diese Regelung gern, und wir halten sie
Gesetzentwurf. auch für richtig. Aber ich möchte von hier aus an unsere
Versicherungen appellieren. Wenn es eine Kriegsklausel
Die Soldatinnen und Soldaten und ebenso die zivilen in einem Lebensversicherungsvertrag gibt und der Sol-
Mitarbeiter werden, wenn auch in unterschiedlicher dat etwa in Afghanistan gefallen ist, dann ist es für die
Form, durch unsere Entscheidung Gefährdungen ausge- Versicherung nicht nur eine Frage der Kulanz, sondern
(B) setzt. Die Soldatinnen und Soldaten wissen das. Sie ken- der selbstverständlichen Ehre, sich in diesem Fall gegen- (D)
nen die Gefährdungen. Sie haben durch Ablegung ihres über den Hinterbliebenen nicht auf die Kriegsklausel zu
Diensteids zugesagt, sich diesen Gefährdungen auszu- berufen.
setzen. Viele sind stolz darauf.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Loyalität und Pflichterfüllung sind für die Mitarbeite- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rinnen und Mitarbeiter aber keine Einbahnstraße. Für
Wenn man sich doch auf die Klausel beruft, steht der
Staat und Politik folgt vielmehr im Gegenzug die Ver-
Bund dafür ein. Das wird hier geregelt.
pflichtung, Verletzte und Hinterbliebene so gut wie mög-
lich abzusichern. Pflichterfüllung der Soldaten und Für- Einzelne Zielvorstellungen, die in dem Beschluss die-
sorgepflicht des Dienstherrn sind zwei Seiten derselben ses Hauses niedergelegt waren, sind in dem Gesetzent-
Medaille. wurf der Bundesregierung nicht umgesetzt worden; dazu
werden wir in der Debatte gleich noch etwas hören. Da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei geht es um die Frage, ab wann eine dauerhafte Wehr-
Die Art und Weise, wie unser Land mit den Veteranen dienstbeschädigung vorliegt, ab einem Schädigungsgrad
der Bundeswehr umgeht, wie es sie nach dem Einsatz von 30 Prozent oder von 50 Prozent, und wie die Be-
wieder aufnimmt, wie ihre Versorgung gestaltet wird, ist weislast ist. Im Rahmen der Ressortabstimmung sind wir
ein zentraler Gradmesser der gesellschaftlichen Aner- zu dem Ergebnis gekommen, das nicht in den Gesetzent-
kennung des soldatischen Dienstes. Hier setzt der Ge- wurf aufzunehmen. Dafür gibt es auch gute Gründe. Es
setzentwurf an, den ich heute hier einbringen darf. wird jetzt versucht – das habe ich gehört; die Koalitions-
fraktionen werden das sicher gleich näher begründen –,
Es ist nicht das erste Gesetz zu diesem Thema. Wir das noch nachzubessern. Wenn es dazu kommt, freut
haben bereits 2004 und 2007 entsprechende Gesetze be- mich das sehr.
raten. Vieles ist besser geworden. Ich bedanke mich aus-
drücklich für die Initiative zu diesem Gesetzentwurf, die Ich will, auch in Richtung der Opposition, noch sa-
vom Parlament und nicht von der Regierung ausgegan- gen: Egal, wie diese Debatte ausgeht – es sind ja hoffent-
gen ist. Ich freue mich, dass wir uns darüber einig sind, lich wenige Fälle, in denen der Schädigungsgrad zwi-
weitere Verbesserungen vorzunehmen. Ich nenne einmal schen 30 und 50 Prozent beträgt –: Wir sollten nicht
fünf: vergessen, dass die großen Maßnahmen, die auf Ihre ge-
meinsame Initiative hin jetzt eine gesetzliche Grundlage
Erstens. Die einmalige Entschädigungszahlung bei finden, als Erfolg bleiben. Ich glaube, das ist ein wichti-
schweren Einsatzunfällen wird deutlich erhöht. ger Punkt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15561
Bundesminister Dr. Thomas
Dr. Thomas de Maizière, de Maizière der Verteidigung
Bundesminister
(A) Ich will abschließend darauf hinweisen, dass diese ge- nalkörpers des Bundes gestellt werden, eine ganz wich- (C)
setzlichen Regelungen nicht nur für Soldatinnen und tige Maßnahme.
Soldaten gelten, sondern auch für alle zivilen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter, für Polizistinnen und Polizisten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
in Einsätzen. Wir haben in dem Bereich weniger Opfer der CDU/CSU und der FDP)
zu beklagen, aber es gibt Opfer. Wer weiß, vielleicht – Ich sehe zwar keinen heftigen Applaus vonseiten der
werden es mehr. Für diesen Personenkreis wird in glei- Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, aber
cher Weise gesorgt. immerhin Applaus. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger
Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung. Ich bin Punkt, den wir hier ansprechen müssen.
sicher, dass dieses Gesetz in zweiter und dritter Lesung Ich will mich nicht in Wiederholungen ergehen und
in diesem Haus mit einer breiten Mehrheit verabschiedet aufzählen, was in diesem Gesetz alles vorgesehen ist.
wird. Das wäre insbesondere für die Soldatinnen und Aber da Herr Minister de Maizière auf die Frage einge-
Soldaten gut. gangen ist, ob die Grenze der Schädigung von 50 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie zent auf 30 Prozent gesenkt werden sollte: Ich zähle in
bei Abgeordneten der SPD) der Tat zu denjenigen, die noch einmal genau darüber
diskutieren wollen, was man an dieser Stelle tun sollte.
Vizepräsidentin Petra Pau: In dem Zusammenhang kommt es mir noch auf einen
Das Wort hat der Kollege Fritz Rudolf Körper für die anderen Punkt an. Wir sollten etwas stärker darauf
SPD-Fraktion. schauen, wie die Wehrdienstbeschädigungsverfahren ab-
gewickelt werden. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass
Fritz Rudolf Körper (SPD): diejenigen, die einen Antrag stellen, relativ zeitnah eine
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich qualifizierte Entscheidung bekommen, sodass den Be-
glaube, das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz ist troffenen geholfen werden kann.
keine Materie, die sich zu einem poltischen Schlagab- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tausch eignet. Herr Minister de Maizière hat darauf hin- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
gewiesen, dass es hinsichtlich der Einsatzversorgung SES 90/DIE GRÜNEN)
schon einige Gesetzgebungsverfahren gegeben hat. Ein
Sprichwort besagt: Man steigt nie zweimal in denselben Wir führen, glaube ich, am 17. Oktober dieses Jahres
Fluss. Das bedeutet: Die Herausforderungen sind immer eine Anhörung zu diesem Gesetzgebungsvorhaben
neu, und man muss gerade hier die Fähigkeit zeigen, auf durch. Wir sollten einmal überlegen, ob wir nicht dem
(B) diese Herausforderungen einzugehen. Gedanken einer Genehmigungsfiktion Rechnung tragen (D)
sollten. Bei anderen Verfahren ist es so, dass, wenn An-
Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten, die ihr Le- träge in einer bestimmten Frist nicht entschieden wer-
ben im Einsatz riskieren, haben ein Anrecht darauf, dass den, dies als positive Entscheidung gilt. Wir sollten ein-
wir uns um sie kümmern und ihnen hilfreich zur Seite mal darüber nachdenken, dieses Verfahren hier
stehen, wenn es beispielsweise zu Verletzungen, Erkran- einzuführen. Ich bin sicher, dass das den Druck erhöhen
kungen oder sogar noch Schlimmerem kommt. und die zeitlichen Abläufe beschleunigen würde. Vor al-
(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) lem in den Fällen, in denen sich Rehamaßnahmen und
Kuren an die Behandlung der Betroffenen anschließen,
Ich könnte jetzt sagen: Der Deutsche Bundestag hat ist es wichtig und im Interesse der Betroffenen, dass es
schon vor etwa zwölf Monaten einen entsprechenden zu zeitnahen Entscheidungen kommt. Diesbezüglich ist
Antrag verabschiedet, aber erst jetzt haben wir den Ge- meine herzliche Bitte, dass wir auch im Zuge dieses Ge-
setzentwurf vorliegen. Diesen Hinweis will ich mir je- setzgebungsverfahrens noch einmal überlegen sollten,
doch verkneifen. Ich hoffe nur: Was lange währt, wird ob wir diesen Gedanken aufgreifen. Ich denke, das wäre
endlich gut. Herr Minister de Maizière hat aufgezeigt, hilfreich, sowohl für die betroffenen Soldatinnen und
welche inhaltlichen Punkte in dem Verbesserungsvor- Soldaten als auch für die betroffenen zivilen Mitarbeite-
schlag enthalten sind; diese begrüßen wir ausdrücklich. rinnen und Mitarbeiter.
Ich hätte mir zu einigen Punkten gerne noch ein Wort ge-
wünscht; vielleicht gehen die Kolleginnen und Kollegen Richtig ist, dass wir den Zeitrahmen, der für die An-
aus den Koalitionsfraktionen noch darauf ein. wendung dieses Gesetzes gilt, bis zum 1. Juli 1992 aus-
weiten. Ich gebe zu, dass ich zuerst gedacht habe: Das ist
Heute steht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein sehr mutiger, waghalsiger Schritt. Aber die Zahl der
ein kleiner Artikel mit der Überschrift „Soldaten werden Betroffenen bzw. die Betroffenheiten sind wohl über-
besser versorgt“. Unter anderem kann man dort lesen: schaubar, sodass man mit Fug und Recht die Zusage ma-
Beamtenbund und Bundeswehrverband begrüßten chen kann, den gesamten genannten Zeitraum einzube-
am Donnerstag eine angebliche Einigung, wonach ziehen. Dies wird von uns ausdrücklich begrüßt. Dem
Kürzungen bei diesen Zahlungen vom nächsten können wir zustimmen.
Jahr an zurückgenommen werden sollten.
In diesem Sinne: Wir werden diesen Gesetzgebungs-
Hier ist insbesondere das Weihnachtsgeld gemeint. Ich prozess weiterhin konstruktiv begleiten. Wir werden da-
denke, das wäre in Anbetracht der Tatsache, dass aus rüber hinaus vielleicht auch die eine oder andere Anre-
dem Bereich der Bundeswehr fast 80 Prozent des Perso- gung geben. Ich finde, die Zielsetzung, die Soldatinnen
15562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Fritz Rudolf Körper


(A) und Soldaten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übung des Soldatenberufes verwundet und verletzt wor- (C)
im zivilen Bereich sowie ihre Angehörigen gleich zu be- den sind, diesen Weg zurück nur unter schwierigsten Be-
handeln, ist völlig richtig. Das ist ein ganz wichtiger dingungen gehen können. Für seelisch verwundete
Grundsatz, der diesem Gesetzentwurf zugrunde liegt. Soldatinnen und Soldaten ist es besonders schwierig, die
50-Prozent-Grenze zu erreichen. Wissenschaft und For-
Ich hoffe, dass das Gesetzgebungsverfahren zügig ab-
schung sind in diesem Bereich nämlich sehr komplex
geschlossen werden kann, sodass dieses Gesetz mög-
und kompliziert. Ich glaube, dass hier das Parlament das
lichst schnell im Bundesgesetzblatt zu finden sein wird.
Signal an die betroffenen Soldatinnen und Soldaten sen-
Wir können es gut gebrauchen. Ich glaube, es ist ein gu-
den muss: Wir wollen euch die Möglichkeit eröffnen,
tes Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten, aber auch
dass ihr weiterhin als Soldaten – natürlich mit den ent-
an die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
sprechenden Einschränkungen – den Dienst für unser
Schönen Dank. Vaterland verrichten könnt. Ich hielte es wirklich für ab-
surd, wenn das Signal ausginge: Wir brauchen euch zwar
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
für den Einsatz, dafür, unser Vaterland zu verteidigen;
der CDU/CSU und der FDP)
aber wenn ihr zurückkommt und nicht mehr hundertpro-
zentig einsatzfähig seid, dann können wir euch nicht hel-
Vizepräsidentin Petra Pau: fen.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff
das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich glaube, wir sind an dieser Stelle zutiefst moralisch
verpflichtet, diesen Anliegen Rechnung zu tragen.
Elke Hoff (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns ist auch wichtig, dass wir gerade gegenüber
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich mache kein den seelisch Beeinträchtigten – ich sage das ganz be-
Hehl daraus, dass heute ein ganz besonderer Tag für wusst so – deutlich machen: Das ist keine Krankheit,
mich ist. Ich glaube, das gilt auch für die meisten meiner sondern eine Verwundung, die ihre Ursache in einem
Kolleginnen und Kollegen, die seit nunmehr weit über Einsatz hat. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir den
sechs Jahren dafür kämpfen, dass wir für unsere im Ein- Männern und Frauen, die mit einer seelischen Verwun-
satz verwundeten Soldatinnen und Soldaten einen opti- dung aus einem Einsatz kommen, helfen können, wenn
malen Rahmen schaffen, um zu vermeiden, dass sie – ich es uns über den Änderungsantrag gelingt, die Glaubhaft-
formuliere das immer so – eine zweite Existenzangst er- machung auf eine andere Grundlage zu stellen. Dazu
(B) leiden bzw. einen zweiten Tod sterben müssen. müssen wir in einer untergesetzlichen Regelung Parame- (D)
ter festlegen, die für den Tatbestand der Verwundung er-
Viele unserer Soldatinnen und Soldaten, die von ei- füllt sein müssen. Der Dienstherr müsste dann den Voll-
nem schwierigen Einsatz nach Hause kommen, wissen beweis erbringen, dass das Gegenteil der Fall ist.
nicht, wie ihre sozialen Grundlagen, ihre soziale Per-
spektive und ihre Zukunft in dieser Gesellschaft ausse- Ich glaube, wenn alle Kolleginnen und Kollegen hier
hen werden. Sie müssen zum zweiten Mal erleben, dass im Parlament mitmachen, werden wir eine faire Lösung
ihre Existenz gefährdet ist. Vor diesem Hintergrund war finden, den Besonderheiten des Soldatenberufes Rech-
uns besonders wichtig, dass wir als Gesetzgeber die Ini- nung zu tragen. Es geht nämlich auch um eine Änderung
tiative ergreifen – der Herr Minister hat das sehr deutlich des Bewusstseins nicht nur in der Gesellschaft, sondern
gemacht – und die notwendigen Rahmenbedingungen auch in der Verwaltung. Ich glaube, dass wir durch Hart-
schaffen, um unseren Soldatinnen und Soldaten klarzu- näckigkeit des Parlamentes die Chance haben, deutlich
machen: Wenn sie wieder zu Hause sind, müssen sie zu machen, dass der Beruf des Soldaten im Einsatz et-
keine Bedrohung ihrer Existenz – als solche wurde die was ganz Besonderes ist und deswegen auch besonders
Situation von vielen wahrgenommen – befürchten. Herr betrachtet werden muss. Insofern bin ich all denen, die in
Kollege Körper, Kolleginnen und Kollegen vom Bünd- der Vergangenheit Kurs gehalten und diese Verbesserun-
nis 90/Die Grünen, ich glaube, dass wir es mit dem vor- gen mit uns gemeinsam auf den Weg gebracht haben,
liegenden Gesetzentwurf, aber auch mit dem bereits an- wirklich dankbar.
gekündigten Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
wie in der Vergangenheit schaffen werden, am Ende ein Herr Minister, wenn wir dieses Gesetz im Parlament
gemeinsames Signal an die Soldatinnen und Soldaten zu verabschiedet haben werden – wie auch immer es ausse-
senden. hen mag –, dann ist es ganz besonders wichtig – und hier
fängt Ihre Arbeit eigentlich erst an –, auch innerhalb der
Uns war wichtig, dass eine geringe Schwelle festge- Strukturen den Geist dieses Gesetzes umzusetzen, damit
setzt wird, wenn es darum geht, Soldatinnen und Solda- ganz deutlich wird, dass es nicht darum geht, durch Bü-
ten, die in einem Einsatz verwundet worden sind, die rokratie und Hinterfragen Hürden aufzubauen, die die
Möglichkeit zu geben, einen Beruf beim Arbeitgeber Soldatinnen und Soldaten als weitere Bedrohung ihrer
Bundeswehr auszuüben. So sollte die Erwerbsfähigkeit Existenz wahrnehmen müssen.
von Soldaten nicht mehr um mindestens 50 Prozent, son-
dern nur noch um 30 Prozent gemindert sein, damit die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bundeswehr zur Weiterbeschäftigung verpflichtet ist. Es der CDU/CSU und der Abg. Agnes Malczak
kann nicht sein, dass Männer und Frauen, die in Aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15563
Elke Hoff
(A) Kollege Körper, vielleicht entscheidet ein Gericht tat- die von den Betroffenen und deren Angehörigen schon (C)
sächlich, dass die eine oder andere Regelung nicht un- so lange geforderte und dringend benötigte Beweis-
umstößlich ist. Uns ist es aber wichtig, dass dieses Parla- lastumkehr noch die versprochene Beschleunigung und
ment den politischen Willen artikuliert, dass wir an effizientere Gestaltung der Anerkennungsverfahren von
dieser Stelle alles tun und nichts unterlassen, was die Si- Wehrdienstbeschädigungen. Gerade dies wären aber
tuation von verwundeten Soldatinnen und Soldaten, die Maßnahmen, mit denen den Geschädigten wirklich ge-
aus einem Einsatz kommen, verbessern kann. holfen werden könnte. Daher muss an dieser Stelle drin-
gend nachgebessert werden.
Ich habe vor kurzem bei Gesprächen mit Soldaten ei-
nen Hauptmann mit über 800 Einsatztagen getroffen. Der Minister hat vorhin davon gesprochen, dass die
Dieser Mann sagte: Ich bin müde, und ich möchte eine Ungleichbehandlung von Berufssoldatinnen und -solda-
Perspektive sehen und wissen, dass mich mein Land auf- ten auf der einen Seite sowie Zeitsoldatinnen und -solda-
fängt. – Ich glaube, es ist an uns, diese Aufgabe zu erfül- ten auf der anderen Seite wohl doch aufgehoben werden
len. Deswegen geht auch von dieser Stelle aus ein ganz wird. Zumindest die Hinterbliebenen hat er erwähnt. Ich
herzlicher Gruß an die Betroffenen, die heute wieder bei habe in meinem Manuskript einen Absatz in Bezug auf
uns sind und diese Debatte verfolgen: Ich glaube, Sie die Privilegierung der Berufssoldatinnen und -soldaten
alle können den Eindruck mit nach Hause nehmen, dass stehen. Diese Privilegierung sollte abgeschafft werden.
dieses Parlament wirklich bereit und willens ist, den An- Ich hoffe nicht, dass es eine Nebelgranate war, die hier
liegen, die Sie berechtigterweise an uns herangetragen verschossen wurde, sondern dass es hier wirklich zu ei-
haben, Rechnung zu tragen. ner Verbesserung kommen wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kollege Koch, gestatten Sie eine Frage?

Vizepräsidentin Petra Pau: Harald Koch (DIE LINKE):


Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak-
Ja, gerne.
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN) Henning Otte (CDU/CSU):
Herr Kollege Koch, am vergangenen Mittwoch hatten
Harald Koch (DIE LINKE): wir eine Vorberatung zu diesem, wie ich finde, sehr
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- wichtigen Tagesordnungspunkt. Sie kritisieren jetzt
(B) legen! Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, nennt enorme Lücken. Leider haben Sie in der Vorberatung im (D)
sich Entwurf eines Einsatzversorgungs-Verbesserungs- Ausschuss kein einziges Wort dazu gesagt. Ich möchte
gesetzes. Seinem Namen wird er jedoch nicht gerecht; gerne wissen, warum Sie am Mittwoch diese Probleme
denn de facto verbessert sich damit für die im Auslands- nicht gesehen haben, aber jetzt vor diesem Hohen Hause
einsatz geschädigten Soldatinnen und Soldaten nicht vor laufender Kamera zu dieser Feststellung kommen.
viel.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Elke Hoff [FDP]: Ach! Sie sollten den Ent- neten der FDP)
wurf mal lesen!)
Das ist – auch wenn die Regierung, wie der Minister Harald Koch (DIE LINKE):
heute angekündigt hat, weitere Anpassungen vornehmen Soweit ich mich erinnern kann, war ich gar nicht da,
will – nicht nur bedenklich, sondern geradezu fahrlässig; weil ich krank war. Aber wir haben dort auch Vertreter.
denn es kann nicht sein, dass die Bundesregierung zwar Es gibt Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiter, die
einerseits auf militärische Intervention und Krieg als daran teilnahmen und mich darüber informiert haben.
Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik setzt, anderer- Letztendlich habe ich noch keine nennenswerten An-
seits für die Versorgung der dabei zu Schaden gekomme- sätze erkannt. Wir werden sehen – heute befinden wir
nen Soldatinnen und Soldaten aber wenig übrig hat. uns in der ersten Lesung; das ist der Beginn der Beratun-
gen –, was dann bei der zweiten und dritten Lesung auf
Vor einem Jahr – daran möchte ich erinnern – haben dem Tisch liegen wird.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition, vollmundige Versprechungen gemacht. Die Linke tritt für die unverzügliche Beendigung des
Ihr damaliger Antrag sollte zügig in eine Gesetzesinitia- Krieges in Afghanistan, den Abzug der Bundeswehr und
tive münden. Erst jetzt, nach einem Jahr, liegt uns ein eine andere, friedensorientierte Ausrichtung der deut-
extrem lückenhafter Umsetzungsversuch vor. Dabei schen Außenpolitik ein. Wenn alle diese Forderungen er-
wollten Sie doch – ich zitiere – „Lücken schließen, Un- füllt werden würden, bräuchten wir heute nicht über
gleichgewichte ausgleichen, großzügig verfahren“ und diese Probleme zu diskutieren.
vor allem „Verantwortung übernehmen“. Im jetzigen
Natürlich hat die Versorgung auch finanzielle As-
Gesetzentwurf findet man davon so gut wie nichts wie-
pekte. Genau das ist wohl der Grund, warum so viele
der.
Forderungen des ursprünglichen Antrags im nun vorlie-
Ich möchte Ihnen nicht die Beweise für diese Behaup- genden Gesetzentwurf nicht mehr enthalten sind. Ange-
tung schuldig bleiben. Der Gesetzentwurf enthält weder messene und dauerhafte Versorgung der Kriegsveteranen
15564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Harald Koch
(A) ist Ihnen schlichtweg zu teuer. Genau das ist nicht ak- Menschen, die nach einem Einsatz im Ausland an ei- (C)
zeptabel. Der Verteidigungshaushalt ist groß genug, um ner posttraumatischen Belastungsstörung erkranken, ha-
daraus problemlos die anfallenden Kosten zu schultern. ben ebenso erhebliche Schwierigkeiten auf dem zivilen
Mit der Streichung einiger aus unserer Sicht sinnloser Arbeitsmarkt wie körperlich Versehrte. Traumatisierte
Beschaffungsprogramme wäre das problemlos machbar. sind darum ebenso auf die Möglichkeiten der Versor-
gung angewiesen wie physisch Beeinträchtigte. Jedoch
(Beifall bei der LINKEN) ist es für sie ungleich schwerer, den Beweis des Zusam-
Ihren selbst formulierten Anspruch, mit diesem Ge- menhangs zwischen Einsatz und Erkrankung zu erbrin-
setzentwurf die Versorgungslage der Soldatinnen und gen. Dann wird ihnen oft nicht der Grad der Schädigung
Soldaten zu verbessern und damit Ihrer Fürsorgepflicht zuerkannt, der Voraussetzung für eine Weiterbeschäfti-
als Dienstherr nachzukommen, haben Sie jedenfalls klar gung ist.
verfehlt. Sollten in diesem Gesetzentwurf nicht noch Der Deutsche Bundestag hat daher im vergangenen
wirksame Verbesserungen im Sinne der Betroffenen ein- Herbst die Forderungen nach einer Absenkung des Schä-
gefügt werden, kann die Fraktion der Linken den Ge- digungsgrades für die Weiterbeschäftigung und einer Er-
setzentwurf nur ablehnen; denn mit diesem Stückwerk leichterung der Beweislast gestellt, und das mit breiter
wäre niemandem geholfen. Zustimmung über die Parteigrenzen hinweg. Niemand
Vielen Dank. hat bei diesem Antrag damals mit Nein gestimmt. Ich
hoffe, dass auch die Linke am Ende bei dem Gesetzent-
(Beifall bei der LINKEN) wurf nicht mit Nein stimmen wird, denn er ist wichtig
und richtig.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
bei der CDU/CSU und der FDP)
Kollegin Agnes Malczak das Wort.
Ich möchte der Kollegin Hoff und auch dem Kollegen
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beck danken, die sich bereits in der Presse mit aller
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ge- Deutlichkeit zu den Mängeln dieses Gesetzentwurfs ge-
schieht äußerst selten, dass ein Gesetz dieser Bundes- äußert haben und Korrekturen ankündigten. Ich danke
regierung eine wirkliche Verbesserung bringt und nur Ihnen auch, dass Sie das heute in Ihren Reden noch ein-
begrüßt werden kann. Beim Einsatzversorgungs-Verbes- mal deutlich gemacht haben. Auch wir halten an dieser
serungsgesetz ist dies der Fall. Kritik fest und werden weiterhin Nachbesserungen ein-
fordern. Ich versichere Ihnen: Wir lassen nicht locker.
(B) An dieser Stelle möchte ich den Organisationen der (D)
Betroffenen danken, die immer wieder auf die schwieri- Beim Begriff der Einsatzversorgung denken die meis-
gen Schicksale aufmerksam gemacht und auf Verbesse- ten Menschen wahrscheinlich ausschließlich an die Sol-
rungen gedrungen haben. datinnen und Soldaten und deren Angehörigen. Aber
nicht nur Angehörige der Bundeswehr, sondern Tau-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ziviler Organisa-
sowie des Abg. Robert Hochbaum [CDU/ tionen setzen sich in Konflikten im Auftrag des Deut-
CSU]) schen Bundestages für Frieden und Sicherheit ein. Auch
sie tragen ein hohes Risiko für ihre Gesundheit. Solda-
Die in diesem Gesetz vorgeschlagenen Verbesserungen
tinnen und Soldaten und zivile Kräfte verdienen glei-
sind dringend notwendig, denn sie sind Ausdruck der
chermaßen unseren Respekt, unsere Anerkennung, aber
Verantwortung, die wir für die Menschen tragen, die sich
vor allem auch unsere Fürsorge.
im Auftrag des Deutschen Bundestages in Einsätzen im
Ausland befinden und dabei zu Schaden kommen. Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Verantwortung tragen wir ebenfalls für die Hinterbliebe- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
nen derer, die diesen Einsatz mit dem Leben bezahlen.
Grundsätzlich haben Sie, liebe Kolleginnen und Kol-
Bereits seit mehreren Jahren wurden die bisher gel- legen von der Koalition, das erkannt. Tatsächlich sehen
tenden Regelungen dieser Verantwortung nur noch be- der Beschluss des Bundestages aus dem letzten Jahr und
dingt gerecht. Heute begrüßen wir also den Gesetzent- der vorliegende Gesetzentwurf Verbesserungen für das
wurf. Aber ich finde, man muss schon kritisch anmerken militärische und zivile Personal im Auslandseinsatz vor.
dürfen, dass es eine geraume Zeit gebraucht hat, bis Sie Aber aus dieser Erkenntnis folgt bei Ihnen leider den-
sich überhaupt auf den Weg gemacht haben, und dass es noch nicht immer konsequentes Handeln.
dann ein bisschen an Mut und vielleicht sogar an politi-
Wir Grüne haben diese Woche einen Antrag einge-
schem Willen gemangelt hat, alle entscheidenden
reicht, der von der Bundesregierung Verbesserungen bei
Schritte zu gehen, denn dieser Gesetzentwurf bleibt in
der Betreuung ziviler Kräfte in Einsätzen zur Konflikt-
zentralen Punkten hinter den richtigen Forderungen Ihrer
bewältigung fordert. Sie, werte Kolleginnen und Kolle-
eigenen Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker zurück.
gen von der Koalition, wollten das heute nicht gemein-
Die Mängel dieses Gesetzentwurfes lassen nämlich ei-
sam mit dem Gesetz über die Versorgung diskutieren.
nige Probleme einer ganzen Gruppe unter den Betroffe-
Versorgung und Betreuung sind zwei Seiten derselben
nen ungelöst. Das ist das Dramatische.
Medaille, nämlich unserer Fürsorgepflicht. Diese tragen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir für militärisches wie ziviles Personal gleichermaßen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15565
Agnes Malczak
(A) Wir dürfen nicht davor zurückscheuen, uns in diesem setzt haben. Hinter jedem einzelnen Schicksal steht auch (C)
Bereich umfassend mit den Mängeln auseinanderzuset- das Schicksal der Angehörigen, die die Last ein gutes
zen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich ein Stück mittragen müssen.
notwendiger Schritt in die richtige Richtung. Aber es
Der Bundesverteidigungsminister hat in der vergan-
bleibt noch viel zu tun.
genen Woche im Zusammenhang mit dem Bericht des
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Wehrbeauftragten davon gesprochen, dass wir uns zum
Begriff des „Veteranen“ bekennen müssen. Ich war da-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rüber sehr erfreut, aber auch kleines bisschen überrascht.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Denn unter Veteranen stellt man sich alte Männer in
SPD und der FDP)
krumpligen Uniformen mit vielen Orden vor, die bei Mi-
litärparaden in der ersten Reihe stehen. Unsere Vetera-
Vizepräsidentin Petra Pau: nen, die aus einem Kriegseinsatz nach Hause kommen,
Für die Unionsfraktionen hat nun der Kollege Jürgen sind häufig junge Männer und Frauen, die mitten im Le-
Hardt das Wort. ben stehen und noch viele Jahrzehnte der Berufstätigkeit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in der Bundeswehr oder im Zivilleben vor sich haben
und ganz und gar nicht aufs Altenteil gehören, sondern
mitten in unserer Gesellschaft stehen. Wir sollten den
Jürgen Hardt (CDU/CSU): modernen deutschen Veteranenbegriff entsprechend prä-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen. Vielleicht können wir alle einen Beitrag dazu leis-
Ich möchte auf das eine oder andere eingehen, das hier ten.
angesprochen worden ist. Der Kollege Körper hat nach
dem Weihnachtsgeld gefragt. Ja, ich glaube, es gibt Be- Ich komme kurz zu den einzelnen Punkten des Ge-
wegung in dieser Frage. Für die Bundeswehr würde das setzentwurfs. Das meiste, was wir letztes Jahr gefordert
bedeuten, dass rund 250 Millionen Euro zusätzlich auf- haben, ist von der Bundesregierung in den Gesetzent-
gebracht werden müssten. Es gibt zu diesem Sachverhalt wurf aufgenommen worden. Auch ich glaube, dass wir
in diesen Tagen und Wochen Gespräche, wie das im hinsichtlich der Grenze für den Grad der Beschädigung
Haushalt so dargestellt werden kann, dass wir unsere bei entsprechender Übernahme noch im Ausschuss und
sonstigen Ziele bei der Bundeswehr dadurch nicht ge- in der Anhörung am 17. Oktober darüber reden müssen,
fährden. Aber ich glaube, es ist eine gute Botschaft – der ob wir nicht doch von 50 Prozent auf 30 Prozent herun-
Bundeswehrverband ist heute durch seinen Vorsitzenden tergehen sollten. Denn gerade für die seelisch Verletzten
vertreten –, dass wir Möglichkeiten sehen, in diesem könnte diese Senkung der Grenze eine deutliche Erleich-
Punkt etwas zu tun. terung bedeuten.
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich glaube des Weiteren, dass wir bei der Beweislast-
Harald Koch [DIE LINKE]) umkehr eine Regelung finden könnten, dass wir im Rah-
men der Richtlinien oder der entsprechenden Rechtsver-
Ich möchte aber nun konkret zu dem vorliegenden ordnung, die die Feststellung solcher Beschädigungen
Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Einsatzversor- regelt, bestimmte Tatbestände definieren, indem wir sa-
gungs-Verbesserungsgesetz kommen. Die Initiative die- gen: Wenn der Soldat oder Zivilist in einer solchen Si-
ses Hauses ist von allen Fraktionen getragen worden. tuation gewesen ist, dann gehen wir immer davon aus,
Die Linke hat sich enthalten. Bei dem einen oder ande- dass seine Beschädigung Folge dieses Einsatzes ist. Um-
ren linken Politiker stellt sich allerdings die Frage, wa- gekehrt bedürfte es des Nachweises, dass es in dem Ein-
rum er sich damals enthalten hat. Denn diesem Gesetz- zelfall nicht zutrifft. Das wäre eine Beweislastumkehr
entwurf könnte man wirklich zustimmen, selbst wenn innerhalb von Grenzen, von denen ich glaube, dass man
man die Einsätze der Bundeswehr im Ausland nicht un- sie gut akzeptieren könnte.
terstützt.
Ich persönlich würde mir auch wünschen, dass wir
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
uns bei der Verdoppelung der Beträge für die Anrech-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nung der Einsatzzeiten für die Rente nicht auf 365 Tage,
Der vorliegende Gesetzentwurf beschäftigt sich mit also ein Jahr, festlegen, sondern dass wir die notwendige
denjenigen, die die größte Solidarität dieses Hauses und Hürde auf 180 Tage reduzieren, damit wir mehr Soldaten
unserer Gesellschaft erfordern, nämlich den Soldatinnen berücksichtigen können. 180 Tage bedeuten immerhin,
und Soldaten der Bundeswehr und den Zivilisten, die in dass man mindestens zweimal in einem Kontingent im
Auslandseinsätzen zu Schaden kommen. Auslandseinsatz gewesen ist. Das halte ich für durchaus
angemessen.
Am 13. Oktober 1993 ist der erste deutsche Soldat,
Alexander Arndt, im Auslandseinsatz gefallen. Das ist Der Gesetzentwurf, den wir sicherlich demnächst mit
immerhin schon 18 Jahre her. Seitdem haben 99 Bundes- großer Mehrheit verabschieden werden, ist ein Gebot der
wehrangehörige bei Auslandseinsätzen ihr Leben verlo- Gerechtigkeit. Es wurde gesagt, dass das auch der Stei-
ren, 36 davon durch Feindeinwirkung. 300 sind körper- gerung der Attraktivität der Bundeswehr dient. Ich
lich verwundet worden, und rund 400, vielleicht sogar glaube, es ist zu kurz gegriffen, das Gesetz als Attrakti-
mehr, sind an der Seele verwundet. Das ist eine große vitätsmaßnahme zu verstehen. Es handelt sich um eine
Zahl von Menschen, die für unser Vaterland in Auslands- Maßnahme der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die
einsätzen ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel ge- den schwierigsten und gefährlichsten Job in unser aller
15566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

Jürgen Hardt
(A) Namen machen, den Soldatinnen und Soldaten sowie Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (C)
den Zivilbediensteten der Bundeswehr, die entsprechend wurfs auf Drucksache 17/7143 an die in der Tagesord-
zu behandeln sind. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Ich wünsche mir, dass die Klagen Einzelner über bü-
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
rokratische oder schwerfällige Prozesse bei der Aner-
kennung von Wehrdienstbeschädigungen ein Ende fin- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
den. Bund und Länder arbeiten daran, das Ganze zu Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
beschleunigen. Ich vertraue darauf, dass das klappen
wird. Wir, die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
werden darauf genau achten. destages auf Mittwoch, den 19. Oktober 2011, 13 Uhr,
ein.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache. (Schluss: 15.11 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15567

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 30.09.2011 Ortel, Holger SPD 30.09.2011


Sabine
Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/ 30.09.2011
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 30.09.2011 DIE GRÜNEN

Brinkmann (Hildes- SPD 30.09.2011 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 30.09.2011


heim), Bernhard
Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 30.09.2011
Burchardt, Ulla SPD 30.09.2011
Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 30.09.2011
Buschmann, Marco FDP 30.09.2011
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 30.09.2011
Dr. Geisen, Edmund FDP 30.09.2011 DIE GRÜNEN
Peter
Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 30.09.2011
Gottschalck, Ulrike SPD 30.09.2011 DIE GRÜNEN

Hempelmann, Rolf SPD 30.09.2011 Dr. Schwanholz, Martin SPD 30.09.2011

Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 30.09.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 30.09.2011
DIE GRÜNEN
(B) Dr. Stinner, Rainer FDP 30.09.2011 (D)
Jelpke, Ulla DIE LINKE 30.09.2011
Süßmair, Alexander DIE LINKE 30.09.2011
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 30.09.2011
Werner, Katrin DIE LINKE 30.09.2011
Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ 30.09.2011
DIE GRÜNEN Wicklein, Andrea SPD 30.09.2011

Kelber, Ulrich SPD 30.09.2011 Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 30.09.2011

Kolbe, Manfred CDU/CSU 30.09.2011 Wolff (Wolmirstedt), SPD 30.09.2011


Waltraud
Korte, Jan DIE LINKE 30.09.2011
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 30.09.2011
Krellmann, Jutta DIE LINKE 30.09.2011
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 30.09.2011
Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 30.09.2011

Leutheusser- FDP 30.09.2011 Anlage 2


Schnarrenberger,
Amtliche Mitteilungen
Sabine
Der Bundesrat hat in seiner 886. Sitzung am 23. Sep-
Lühmann, Kirsten SPD 30.09.2011 tember 2011 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen
zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab-
Meierhofer, Horst FDP 30.09.2011 satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen:
– Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnos-
Menzner, Dorothee DIE LINKE 30.09.2011 tik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimG)
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 30.09.2011 – Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union und zur An-
Nord, Thomas DIE LINKE 30.09.2011 passung nationaler Rechtsvorschriften an den
EU-Visakodex
15568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011

(A) – Gesetz zur Übertragung ehebezogener Regelun- – Gesetz zu dem Abkommen vom 4. Juni 2010 zwi- (C)
gen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspart- schen der Regierung der Bundesrepublik
nerschaften Deutschland und der Regierung der Turks- und
Caicosinseln über den steuerlichen Informations-
– Neunundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des austausch
Abgeordnetengesetzes – Einführung eines Ord-
nungsgeldes – Gesetz zu dem Abkommen vom 21. Juni 2010 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der
– Gesetz zur Umsetzung der Europäischen Dienst- Republik San Marino über die Unterstützung in
leistungsrichtlinie im Gesetz zum Schutz der Teil- Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informa-
nehmer am Fernunterricht (Fernunterrichts- tionsaustausch
schutzgesetz)
– Gesetz zu dem Abkommen vom 5. Oktober 2010
– Gesetz zur Änderung des § 522 der Zivilprozess- zwischen der Regierung der Bundesrepublik
ordnung Deutschland und der Regierung der Britischen
– … Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Jungferninseln über die Unterstützung in Steuer-
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Steuerstrafsachen durch Informationsaus-
tausch
– Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EG)
Nr. 1272/2008 und zur Anpassung der Chemikali- – Gesetz zu dem Abkommen vom 28. Februar 2011
engesetzes und andere Gesetze im Hinblick auf zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
den Vertrag von Lissabon der Republik Ungarn zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
Der Bundesrat hat ferner beschlossen, die folgende vom Vermögen
Entschließung zu fassen:
– Gesetz zu dem Abkommen vom 5. April 2011 zwi-
Zu Artikel 1 Nummer 49 Buchstabe c (§ 28 Absatz 12 schen der Bundesrepublik Deutschland und der
ChemG) Internationalen Organisation für erneuerbare
Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Bundes- Energien über den Sitz des IRENA-Innovations-
regierung entgegen dem Bundesratsvotum (Ziff. 2 der und Technologiezentrums
BR-Drucksache 215/11 – Beschluss –) bei einigen der – Gesetz zur Vierten, Fünften und Sechsten Ände-
neu unter die Meldepflicht fallenden Gemische statt ei- rung des Europäischen Übereinkommens vom
(B) ner Mitteilung nach §16e ChemG an das Bundesinstitut (D)
1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationa-
für Risikobewertung an der übergangsweisen Übermitt- len Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonal
lung von Sicherheitsdatenblättern an eine externe Daten- (AETR)
bank festhält. Der Informationsgehalt in den Sicherheits-
datenblättern ist jedoch vielfach nicht ausreichend, um – Gesetz zur Änderung des Übereinkommens vom
eine adäquate Beratung in Vergiftungsfällen zu ermögli- 11. Oktober 1985 zur Errichtung der Multilatera-
chen. Der Standard eines Sicherheitsdatenblattes darf da- len Investitions-Garantie-Agentur
her nicht als ausreichend bei der noch zu erfolgenden
– Zweites Gesetz zur Änderung des Übereinkom-
Festlegung eines einheitlichen Formats nach Artikel 45
mens vom 4. August 1963 zur Errichtung der
Absatz 4 der CLP-Verordnung (EG) 1272/2008 angese-
Afrikanischen Entwicklungsbank
hen werden.
– Gesetz zur Änderung des Übereinkommens vom
Die Bundesregierung wird somit insbesondere gebe-
29. November 1972 über die Errichtung des Afri-
ten, sich bei den Verhandlungen zur vorgesehenen EU-
kanischen Entwicklungsfonds
Harmonisierung der Mitteilungspflichten dafür einzuset-
zen, dass der Umfang dieser Mitteilungen bei allen Pro- – Steuervereinfachungsgesetz 2011
dukten die vollständige Zusammensetzung (Rezeptur)
unter Angabe der konkreten Konzentrationen der In-
haltsstoffe umfasst, damit im Vergiftungsfall geeignete Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat mitge-
Informationen schnell zur Verfügung stehen. teilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
– Gesetz zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rah- nachstehenden Vorlagen absieht:
menrichtlinie sowie zur Änderung des Bundes-
wasserstraßengesetzes und des Kreislaufwirt- – Unterrichtung durch die Bundesregierung
schafts- und Abfallgesetzes Haushaltsführung 2011
– Gesetz zu dem Abkommen vom 9. März 2010 zwi- Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaus-
haltsordnung über die Einwilligung in eine außerplan-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der mäßige Ausgabe im Einzelplan 05 Kapitel 05 02 Titel
Republik Östlich des Uruguay zur Vermeidung 866 01 – Darlehen an den Nationalen Übergangsrat zur
der Doppelbesteuerung und der Steuerverkür- Sicherung der demokratischen Entwicklung in Libyen
zung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom- in Höhe von 100 Mio. Euro
men und vom Vermögen – Drucksachen 17/6739, 17/6961 Nr. 1.6 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 131. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. September 2011 15569

(A) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben (C)
Haushaltsführung 2011 mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige ner Beratung abgesehen hat.
Ausgabe bei Kapitel 30 03 Titel 687 70 – Leistungen für
die Europäischen Forschungseinrichtungen CERN,
ESO, ESRF und ILL – bis zur Höhe von 10 Mio. Euro Auswärtiger Ausschuss
– Drucksachen 17/6740, 17/6961 Nr. 1.7 –
Drucksache 17/136 Nr. A.10
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 13130/09
Drucksache 17/6176 Nr. A.2
Haushaltsführung 2011 EP P7_TA-PROV(2009)0097
Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- Drucksache 17/6176 Nr. A.3
ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige EP P7_TA-PROV(2011)0227
Ausgabe bei Kapitel 06 25 Titel 671 02 – Außergerichtli- Drucksache 17/6176 Nr. A.4
cher Vergleich mit der Luftverkehrsindustrie zu streiti- EP P7_TA-PROV(2011)0228
gen Luftsicherheitsgebühren seit der Gebührenperiode Drucksache 17/6407 Nr. A.2
2000/2001 – bis zur Höhe von 77 Mio. Euro Ratsdokument 10794/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.4
– Drucksachen 17/6786, 17/6961 Nr. 1.11 –
EuB-BReg 174/2011

Der Bundesrat hat in seiner 887. Sitzung am 30. Sep-


tember 2011 beschlossen, zu dem nachstehenden Gesetz Finanzausschuss
einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundge- Drucksache 17/6985 Nr. A.16
setzes nicht zu stellen: Ratsdokument 11813/11

– Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Über-


nahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Ausschuss für Gesundheit
europäischen Stabilisierungsmechanismus (Stabi- Drucksache 17/6985 Nr. A.53
lisierungmechanismusgesetz – StabMechG) Ratsdokument 13074/11

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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