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Plenarprotokoll 16/27

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

27. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2137 D


a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . 2140 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes-
haushaltsplans für das Haushaltsjahr Einzelplan 30
2006 (Haushaltsgesetz 2006)
(Drucksache 16/750) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2097 A Bundesministerium für Bildung und
Forschung
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 Dr. Annette Schavan, Bundesministerin
(Drucksache 16/751) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2097 B BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2142 D

c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2145 B
rung eingebrachten Entwurfs eines Haus- Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2146 D
haltsbegleitgesetzes 2006 (Haushaltsbe-
gleitgesetz 2006 – HBeglG 2006) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2149 B
(Drucksache 16/752) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2097 B Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
Peer Steinbrück, Bundesminister DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2151 C
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2097 D Ilse Aigner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2153 A
Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2107 D Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2154 C
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2111 C Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2155 D
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2115 A Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2158 A
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2116 C Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . 2159 A
Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 2119 D Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2160 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2120 D Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2161 D
Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2124 D
Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 2127 C Einzelplan 16
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 2129 C Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2132 A Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . 2163 A
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2133 B Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2165 D
Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2135 D Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU) . . . 2167 B
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 2169 A Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2186 D
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2170 B Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2188 A
Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2171 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2189 C

Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2172 D Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2190 B


Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2191 D
Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . . 2174 A
Inge Höger-Neuling (DIE LINKE) . . . . . . . . 2193 C
Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2175 B
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2194 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2176 D
Jella Teuchner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2195 C
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2177 A
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2196 C
Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2178 D Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2197 A
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/
Einzelplan 15 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2198 A

Bundesministerium für wirtschaftliche Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/


Zusammenarbeit und Entwicklung DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2199 A

Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . 2180 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2199 D


Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . . 2181 D
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . 2183 B Anlage
Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 2185 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2201 A
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2097

(A) (C)

Redetext

27. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Beginn: 10.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Die Sitzung ist eröffnet. die heutige Aussprache im Anschluss an die Einbrin-
gung des Haushaltes siebeneinhalb Stunden, für Mitt-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle woch achteinhalb Stunden, für Donnerstag neuneinhalb
herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns eine Stunden und für Freitag nicht, wie jetzt zu befürchten ist,
hoffentlich gute, intensive und konstruktive Haushalts- zehneinhalb Stunden, sondern vier Stunden vorgesehen.
beratungswoche. Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint so zu sein.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 c auf: Dann ist das so beschlossen.

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Das Wort zur Einbringung des Haushaltes hat der
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2006 (Jürgen Koppelin [FDP]: Früher gab es Bei-
(B) fall! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt hel- (D)
(Haushaltsgesetz 2006) fen wir ihm mal! – Beifall bei der SPD, der
CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordne-
– Drucksache 16/750 –
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung Ich bedanke mich für die Unterstützung durch die
FDP. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehr-
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 ten Damen und Herren! Auch der modernen Politik kann
es nicht schaden, manchmal bei den alten Griechen
– Drucksache 16/751 –
nachzuschlagen. Kein Geringerer als der Philosoph
Überweisungsvorschlag: Sokrates lehrt uns, dass Selbsterkenntnis dem Menschen
Haushaltsausschuss
meistens Gutes gibt, die Selbsttäuschung aber meistens
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- von Übel ist. Bevor wir heute in die finanzpolitische De-
gebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleit- batte eintreten, möchte ich deshalb dafür plädieren,
gesetzes 2006 Wege in die Realität zu suchen. Das bedeutet einerseits,
dass die Regierung nichts beschönigt, und andererseits,
(Haushaltsbegleitgesetz 2006 – HBeglG 2006) meine Damen und Herren von den Oppositionsfraktio-
– Drucksache 16/752 – nen, dass die Opposition auch nichts verzeichnet und
überzeichnet.
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss Maßlosigkeit im Urteil führt uns ebenso wenig weiter
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wie künstliche Aufgeregtheit oder eilfertige Empörung,
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und insbesondere auf dem Resonanzboden schneller Nach-
Verbraucherschutz richtenverwertung. Die Politik soll die Menschen aufklä-
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
ren; sie soll sie nicht verunsichern.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung FDP)
2098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) Wege in die Realität – das ist weit mehr als eine Än- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (C)
derung des politischen Stils. Das ist – in Anlehnung an bei Abgeordneten der FDP)
einen Leitartikel in der „Süddeutschen Zeitung“ vom
12. November des letzten Jahres – eine Vorgehensweise, Es ist sogar hervorzuheben, dass wir internationale
die sich von Rechthaberei, einem pathetischen Verbesse- Spitzenpositionen belegen. Wir haben heute eine Steuer-
rungsanspruch, der Überbetonung von Risiken gegen- quote von nur noch knapp 20 Prozent gemessen am
über den Chancen, dem schrecklichen Lamento, das in Bruttoinlandsprodukt. Eine andere Frage ist, ob wir ein
dieser Republik so verbreitet ist, und manchem flam- zu kompliziertes Steuersystem haben und ob wir in dem
boyanten Auftritt von Globalisierungseliten und ihren einen oder anderen Besteuerungssystem Wettbewerbs-
Knappen unterscheidet. Nur wenn wir wissen, wo unser nachteile haben. Die Antwort lautet Ja. Aber wir haben
Land wirtschaftlich steht, können wir glaubhaft um den im internationalen Vergleich eine sehr geringe Steuer-
Kurs der Finanzpolitik ringen. quote.
Wir haben uns bei den Lohnstückkosten im Ver-
Ich habe bereits in meiner ersten Rede vor dem gleich zu den 15 Kernländern der Europäischen Union in
Hohen Hause darauf hingewiesen, dass eine Standortbe- den letzten Jahren um sage und schreibe 8 Prozent ver-
stimmung unerlässlich ist, auch um das Vertrauen der bessert. Das ist das Ergebnis eines sehr robusten Wachs-
Menschen in das nach wie vor riesige Potenzial unseres tums der Produktivität und bemerkenswert moderater
Landes und ihr Vertrauen in die Politik dort zurückzuge- Lohnabschlüsse, die sich allerdings umgekehrt auch ne-
winnen, wo es verloren gegangen ist. Neben strukturel- gativ in einer zumindest stagnierenden Kaufkraft der ab-
len Problemen und Modernisierungsdefiziten, die es un- hängig Beschäftigten niederschlagen.
zweifelhaft gibt, haben wir es offensichtlich mit einem
mangelnden Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Unsere Staatsquote ist mit 46 Prozent auf dem nied-
Deutschland zu tun, das sich ökonomisch nicht zuletzt in rigsten Stand seit 15 Jahren, und zwar trotz der Kosten
einer nach wie vor schwachen Binnennachfrage und ei- der Wiedervereinigung, die wir zur Vollendung der Ein-
ner sehr hohen Sparneigung ausdrückt. heit unseres Landes gerne tragen.
Verloren gegangenes Vertrauen gewinnen wir nur zu- Mit einem Anteil von 50 Prozent der kombinierten
rück, wenn wir den Menschen ohne Umschweife die Re- Ex- und Importe ist Deutschland schlechthin die Loko-
alität so beschreiben, wie sie ist. Wir dürfen ihnen keine motive des innereuropäischen Handels. Deutschland
raschen Lösungen versprechen, wo es sie gar nicht gibt. wird immer stärker Drehscheibe für die sich rasant ent-
Aber wir müssen Wege aufzeigen – auch wenn sie stei- wickelnden Märkte Mittel- und Osteuropas. Mit fast
nig sind –, die in die Zukunft weisen. 130 Milliarden Euro lag das Volumen unseres Handels
(B) mit den EU-Beitrittstaaten im Jahr 2005 bereits deutlich (D)
Wo also steht unser Land wirtschaftlich? Zunächst höher als das Volumen unseres Handels mit den USA.
einmal hat sich in den letzten Jahren viel mehr verändert,
als wir offenbar wahrzunehmen fähig oder auch bereit Wir schreiben mit der Einführung einer staatlich un-
sind. Der Journalist Thomas Hanke beschreibt dies in terstützten Eigenvorsorge für das Alter, der so genannten
seinem Buch „Der neue deutsche Kapitalismus – Repu- Riesterrente, in Ergänzung zur umlagefinanzierten
blik im Wandel“ umfänglich. Auf einen Nenner ge- Rente eine Erfolgsgeschichte, die kaum jemand zur
bracht: Die alte Deutschland AG löst sich auf, der Kor- Kenntnis nimmt.
poratismus nimmt ab, der Staat weicht zurück und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Markt rückt vor. Es gibt bereits eine stille Revolution in der CDU/CSU)
den Betrieben.
Es gibt 5,5 Millionen Verträge und nur die Versiche-
Wir sind viel mutiger, als wir denken. Seit Beginn rungswirtschaft redet davon und freut sich darüber.
dieses Jahrtausends haben wir erhebliche Anpassungen Richtig ist, dass dieses Angebot von den untersten Ein-
vollzogen. Wir verändern unsere Sozialsysteme unter kommensetagen zu wenig in Anspruch genommen wird,
dem demografischen Druck. Die Tarifverträge enthalten weshalb wir, wie ich glaube, über einen Verbesserungs-
Hunderte von Ausnahmeklauseln, von denen man Ge- bedarf in diesem Bereich nachdenken sollten.
brauch machen kann. Wir verbessern die Bedingungen
für unternehmerisches Handeln und wir investieren er- Diese und andere Nachrichten – ich könnte die Liste
hebliche Summen in die Familienförderung, in Bildung, fortsetzen – werden durchaus anerkannt und honoriert,
Forschung und Entwicklung, also in die Zukunft unseres allerdings vornehmlich im Ausland und in der ausländi-
Landes. schen Presse. Erst kürzlich konnte ich mich in New York
bei einer amerikanischen Unternehmensgruppe davon
Andere berechtigte Fragen sind, ob das ausreicht und überzeugen. Sie sind neugierig auf den Standort Bundes-
vor allen Dingen ob diese Mittel effizient genug einge- republik Deutschland. Was ich zu hören bekam, waren
setzt werden. Wir machen beileibe kein bequemes Well- keine aufgesetzten Nettigkeiten für den Gast aus
nessprogramm, sondern ein hartes Krafttraining für den Deutschland, sondern sehr harte Fakten. Bis heute haben
Standort Deutschland, das manche für unzureichend hal- sich 2 000 amerikanische Unternehmen mit 110 Milliar-
ten, das aber für viele bereits eine Zumutung ist. Dass es den Euro Investitionssumme – in der Folge sind das
noch nicht abgeschlossen ist, ist uns allen klar. Aber es 850 000 Arbeitsplätze in Deutschland – diesen Standort
zeigt Wirkung. Es ist nicht alles schlecht in Deutschland, für ihre Investitionen ausgesucht. Der großen Koalition
wie uns Berufsnöler einzureden versuchen. wird in den USA politisch viel zugetraut.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2099
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) Genauso groß wie die Aufgeschlossenheit amerika- Anders ausgedrückt: Abrupte Einschnitte, schnittige (C)
nischer Investoren ist ihr Erstaunen darüber, wie nega- Paradigmenwechsel und brachiale Politikwechsel – das
tiv wir Deutschen selbst über den Standort Deutschland rufe ich allen Anhängern großer Entwürfe zu – führen in
diskutieren. Man wird dort als Finanzminister gefragt: unserer hoch komplexen Gesellschaft zu Verwerfungen
Wie kommt es, dass bei euch das Klagen über Deutsch- und sozialen Asymmetrien, die nicht zu verantworten
land in den letzten Jahren zu einem beliebteren Volks- sind.
sport geworden ist als der Fußball?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Es war Johannes Rau, der den Mangel an Zukunfts- der CDU/CSU)
vertrauen in unserer Gesellschaft nicht nur anprangerte,
sondern auch die Ursachen dafür nannte: die fatale Lust Sie würden unsere Gesellschaft desintegrieren und
an der Schwarzmalerei, die die Entfremdung der Bürger Fliehkräfte verstärken, die die soziale Stabilität unseres
von Staat und Politik noch befördert, aber auch die An- Landes gefährden würden. Das lernen einige offenbar
spruchsmentalität nicht zuletzt in Teilen der gesellschaft- erst, nachdem sie sich Fotos oder Fernsehbilder der Ge-
lichen Eliten. schehnisse in Paris und seinen Vororten angesehen
haben. Wer beim Bundeszuschuss zur Rentenkasse
Die Lage der öffentlichen Finanzen ist ernst; da gibt Milliardenkürzungen fordert, der muss wissen, was Ren-
es kein Vertun. Rund 20 Prozent der Ausgaben des Bun- tenkürzungen von 5 Prozent aufwärts allein für die
deshaushalts, also ziemlich genau 50 Milliarden Euro, 50 Prozent der Rentenbezieher bedeuten, die auf die ge-
sind nicht durch nachhaltige Einnahmen gedeckt. Die setzliche Rentenversicherung angewiesen sind.
Haushalte der Bundesländer sehen nicht besser aus: Im
letzten Jahr konnte die Hälfte aller Länder, acht von 16, (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)
die verfassungsrechtliche Regelgrenze für die Neuver- Unsere 80-Millionen-Gesellschaft ist schließlich kein
schuldung bei der Haushaltsaufstellung – ich rede noch Labor, in dem man mal eben ordnungs- und sozialpoli-
nicht einmal über den Haushaltsvollzug – nicht einhal- tisch riskante Versuche unternehmen kann. Man sollte
ten. In diesem Jahr sieht es keineswegs besser aus. Die die Menschen für den Effekt eines Interviews nicht hin-
Verschuldung aller öffentlichen Haushalte hat mittler- ters Licht führen.
weile die Summe von 1,5 Billionen Euro überschritten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist der CDU/CSU)
enorm!)
Das will ich an einem konkreten Beispiel, das ich zu-
Die dadurch entstehenden Zinsausgaben, für die inzwi- fällig gesehen habe, deutlich machen. Sie, Herr
schen jeder sechste Euro des Bundeshaushalts bereitge- Westerwelle, haben im ZDF ein Interview gegeben.
(B) (D)
stellt werden muss, schnüren jeder Bundesregierung un-
abhängig von der Farbenlehre, der sie folgt, den (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die kosten-
Spielraum für notwendige Zukunftsinvestitionen ein. losen Kindergärten wollten Sie ansprechen!
Wann machen Sie das denn?)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Leider wahr!)
– Bleiben Sie ganz ruhig und werden Sie doch nicht so
Damit verbunden ist ein weiteres eklatantes Problem,
nervös!
das sich nicht erst in den letzten Jahren, sondern in den
letzten Jahrzehnten herausgebildet hat: die Verkarstung (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber natür-
der Ausgabenseite des Bundeshaushalts. Entgegen vie- lich! Wieso denn auch?)
lerlei Einwendungen und obwohl wir Jahr für Jahr
4 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für die Voll- Ich habe an Ihre Adresse noch gar nichts gesagt.
endung der deutschen Einheit zur Verfügung stellen, haben (Heiterkeit bei der SPD – Dr. Guido
wir auf der Ausgabenseite kein Niveauproblem, sondern Westerwelle [FDP]: Doch, haben Sie! – Zuruf
ein Strukturproblem. Allein der Anteil der Sozialausga- von der SPD: Das stimmt allerdings! – Jürgen
ben am Bundeshaushalt ist seit Beginn der 90er-Jahre Koppelin [FDP]: Aber wer weiß, was da noch
von einem Drittel auf heute knapp über die Hälfte gestie- kommt!)
gen. Rechnet man die Ausgaben für Zinsen, Personal
und Arbeitsmarktpolitik hinzu, sind fast drei Viertel der – Vielleicht wissen Sie ja, was jetzt kommt. Dann haben
Bundesausgaben fest gebunden, während die Investitio- Sie wohl bemerkt, dass Sie sich vergaloppiert haben.
nen geringer sind als die Zinsausgaben. Dabei sind es (Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle
genau diese Investitionen, die maßgeblich über unseren [FDP]: Ich habe doch gar nichts gesagt!)
zukünftigen Wohlstand entscheiden.
Herr Westerwelle, Sie haben in einem Interview, das
Ich kann nicht zu viel versprechen. Dennoch sage ich: am 28. Februar im „heute-journal“ ausgestrahlt wurde
Der Prozess des Umsteuerns im Hinblick auf die Struk- und in das ich mich zufällig hineingezappt habe, mit gro-
tur der Ausgabenseite kann nicht abrupt erfolgen, allein ßer Emphase behauptet, dass sich in den nächsten Jahren
schon aufgrund der volkswirtschaftlichen und sozialen durch das Herunterfahren der Steinkohlebeihilfen Mil-
Verwerfungen, die unvermeidbar wären, wenn man aus liardenbeträge einsparen ließen.
den großen, feststehenden Ausgabeblöcken des Bundes-
haushaltes mal eben 10, 15 oder 20 Milliarden Euro „he- (Zuruf von der SPD: Aha! Das ist ja
rausschneiden“ würde. interessant!)
2100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) Was er dem Publikum allerdings verschweigt, ist, dass es Wie ich zugebe, ist das unter Beachtung aller ins Ge- (C)
bis zum Jahr 2008 rechtskräftige Bewilligungsbescheide wicht fallenden Faktoren – davon gibt es eine Reihe und
gibt. niemand wird sie ignorieren können – für die Zukunft je-
denfalls überlegenswert.
(Dr. Peter Struck [SPD]: So ist es! Richtig!)
Bei allen notwendigen Veränderungen ist es aller-
Das wird mal eben unter den Tisch gekehrt. Das ist im dings wichtig, den Zusammenhalt unserer Gesell-
günstigsten Fall eine Veralberung des Publikums. schaft nicht zu gefährden. Wir wollen die Menschen
(Jürgen Koppelin [FDP]: Na, wenn das das mitnehmen.
Beispiel war! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie brauchen sie
Was für ein starkes Beispiel!) auch zum Abkassieren!)
Das lässt sich fortsetzen: Im selben Interview sagte Deswegen wird die große Koalition einen verlässlichen
Herr Westerwelle, man müsse den Zuschuss des Bundes Kurs steuern und den Menschen immer wieder erklären
an die Bundesagentur für Arbeit auf null fahren. Er ver- müssen, warum sie heute gegebenenfalls auf etwas ver-
säumt allerdings, zu sagen, dass wir genau das tun. zichten müssen, damit es ihnen und ihren Kindern in Zu-
(Joachim Poß [SPD]: Das weiß er doch gar kunft wieder besser geht. Wir schulden unseren Kindern
nicht!) und Enkeln jede Anstrengung für tragfähige, solide und
verlässliche öffentliche Finanzen.
Im selben Interview behauptet er auch – jetzt kommt
es –, dass die Steuern in Deutschland durch diese Ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sparung weiter gesenkt werden könnten. Das geht so Wir wissen doch, dass sich der demografische Wan-
sehr an den Fakten und der Lage vorbei, dass ich noch del jetzt gerade erst einstellt. Wir wissen auch, was auf
einmal behaupte: Das ist im günstigsten Fall eine Veral- unsere Kinder und Enkelkinder zukommt. Wie sollen
berung des Publikums. wir ihnen in zehn oder 20 Jahren erklären, dass wir dies
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alles im Jahre 2006 zwar wussten und es uns – jedenfalls
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE weitestgehend – nicht egal war, dass es aber doch fol-
GRÜNEN) genlos geblieben ist und dass wir nicht die Kraft hatten,
die Wünsche der gegenwärtig in der Verantwortung ste-
Haben Sie einmal dieses kleine Buch von Harry henden Generation gegen die berechtigten Interessen der
Frankfurt in den Händen gehabt? zukünftigen Generationen abzuwägen?
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: „Bullshit“!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D)
(B)
– Ich habe es nicht zitiert, Herr Präsident. Das gilt insbesondere, da die Zahl der Vertreter der Zu-
kunftsinteressen nachfolgender Generationen im Ver-
(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU – gleich zur Zahl der Sachwalter und der Vertreter der Sta-
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es heißt halt tus-quo- und Gegenwartsinteressen anteilsmäßig immer
so!) geringer wird.
Meine Damen und Herren, ich will umgekehrt nicht Deswegen müssen wir unsere Ansprüche an den Staat
missverstanden werden: Strukturreformen und das Um- heute zurückstellen und gleichzeitig für mehr Wachstum
steuern in Bezug auf die Struktur des Haushaltes sind und Beschäftigung sorgen. Langfristig tragfähige Finan-
notwendig. Ich werde dort keine Entlastung vertreten zen werden wir nur erreichen, wenn uns beides gelingt:
können. Sie sind Voraussetzungen für unseren zukünfti- strukturelle Konsolidierung der öffentlichen Haus-
gen Wohlstand. Ich halte die Frage für mehr als zulässig, halte und das Stellen der Weichen für mehr Wachstum
ob die bloße Alimentation von Bedürftigen in den letzten und Beschäftigung.
Jahrzehnten in vielen Fällen nicht zu einer Verfestigung
der Bedürftigkeit geführt hat. Wenn uns die finanzpolitischen Erfahrungen der ver-
gangenen Jahre eines gezeigt haben, dann die Tatsache,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass ein restriktiver Ausgabenkurs alleine nicht aus-
Ich halte auch die Frage für zulässig, ob der Anreiz unse- reicht, um unsere Haushaltsprobleme in den Griff zu be-
rer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu eigenen Anstren- kommen. Trotz der konjunkturbedingt stark gestiegenen
gungen ausreichend und nachhaltig ausgeprägt ist. Ich Arbeitsmarkt- und Sozialausgaben sind die Bundesaus-
scheue mich an dieser Stelle auch nicht, die weitere gaben zwischen 1999 und 2005 nominal nämlich gerade
Frage für politisch korrekt zu halten, ob der kostenfreie einmal um durchschnittlich 0,9 Prozent pro Jahr gestie-
Zugang zu Infrastruktureinrichtungen und kommu- gen. Das ist deutlich weniger, als die Volkswirtschaft
nalen sowie staatlichen Leistungsangeboten von Fall insgesamt gewachsen ist, nämlich um durchschnittlich
zu Fall wirkungsvoller und zielgenauer sein kann als in- 1,3 Prozent. Deswegen ist der Anteil der Bundesausga-
dividuelle Transferzahlungen oder Steuervergünstigun- ben am Bruttoinlandsprodukt trotz der höheren Ausga-
gen. ben für Arbeitsmarkt und Soziales von 12,3 Prozent auf
11,6 Prozent zurückgegangen. Gelegentlich hat man den
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Eindruck, dass in der Öffentlichkeit der absolut gegen-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- teilige Eindruck besteht. Hieran erkennt man die enorme
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Sparleistung, für die ganz wesentlich auch mein Vorgän-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2101
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) ger Hans Eichel die politische Verantwortung getragen Der konjunkturunterstützende Bundeshaushalt 2006 (C)
hat. verschafft uns den nötigen Rückenwind, den wir brau-
chen, um 2007 die beiden zentralen finanzpolitischen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hartmut Ziele der Bundesregierung zu erreichen, nämlich die
Koschyk [CDU/CSU]) Einhaltung der Regelgrenze des Art. 115 des Grundge-
Trotzdem oder gerade deswegen haben die letzten setzes und die Einhaltung des Verschuldungskriteriums
Jahre allerdings auch gezeigt, dass wir uns aus den Defi- des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
ziten nicht nur heraussparen können; vielmehr brauchen Dazu trägt auch bei, dass wesentliche Konsolidierungs-
wir für das Gelingen der Konsolidierung Wachstum. An- beiträge, wie zum Beispiel die Rückführung des Bundes-
ders ausgedrückt: Es gibt keine nachhaltige Konsolidie- zuschusses an die gesetzliche Krankenversicherung, die
rung ohne Wachstum, aber es gibt auch kein nachhalti- Anhebung der Umsatz- und Versicherungsteuer – darauf
ges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen. Das eine ist komme ich zurück – und die Einsparungen bei der
ohne das andere nicht zu haben. Grundsicherung für Arbeitssuchende, ganz bewusst erst
im nächsten Jahr greifen und, bezogen auf die Entwick-
Deswegen verfolgt die große Koalition eine Finanz- lung ihrer vollen Jahreswirkung, auch erst greifen kön-
politik der doppelten Tonlage: Wir bringen die Konsoli- nen. Im Jahre 2006 ist dies schon technisch gar nicht
dierung genauso voran, wie wir durch Impulse Weichen möglich.
für mehr Wachstum und Beschäftigung stellen wollen.
Gleichzeitig werden wir die sozialen Sicherungssysteme Bezogen auf die gesamte Legislaturperiode sind die
robuster auf die Veränderungen des Arbeitsmarktes und Konsolidierungsmaßnahmen beachtlich. Zur nachhalti-
auf den demografischen Wandel einstellen müssen. gen Stabilisierung der Bundes- und Staatsfinanzen tra-
gen bis zum Jahre 2009 unter anderem Ausgabenkürzun-
Mit dem Bundeshaushalt 2006 und dem Finanzplan gen von 32 Milliarden Euro im Bundeshaushalt, der
bis 2009 setzen wir unsere Finanzpolitik der doppelten Abbau von Steuervergünstigungen in der Größenord-
Tonlage und wichtige Eckpunkte des Koalitionsvertra- nung von 19 Milliarden Euro und Steuermehreinnahmen
ges konsequent um. Ich verschweige nicht, dass wir dem in Höhe von 28 Milliarden Euro bei. Das heißt, das Kon-
Haushaltsplan sehr konservative Annahmen zugrunde solidierungsprogramm beträgt insgesamt, bezogen auf
gelegt haben. Das ist auch gut so, und zwar nicht, weil den Bundeshaushalt, 80 Milliarden Euro. Damit stellen
sich der Finanzminister bewusst arm rechnen will, um wir den Bundeshaushalt auf eine solide bzw. – vorsichti-
Ansprüche abzuwehren – diesem Verdacht ist offenbar ger formuliert – solidere Grundlage.
jeder Finanzminister ausgesetzt –, sondern – das betone
ich – weil die Menschen wieder Vertrauen in die Planun- Nimmt man die Länder- und Gemeindehaushalte
(B) gen und Entscheidungen der Politik gewinnen müssen. hinzu, kommt man sogar auf ein Volumen von (D)
117 Milliarden Euro, was mit Blick auf die Finanzlage
Ich sehe keinen plausiblen Grund, weshalb das Vor-
sichtsprinzip nur für die Buchführung privater Unterneh- der anderen Gebietskörperschaften von erheblicher und
auch wachstumspolitischer Bedeutung ist, weil dann ei-
men gelten soll und nicht auch für die Rechnungslegung
nige Kommunen – ich sage nicht: alle Kommunen – end-
des Staates.
lich wieder die Rolle des kommunalen Investors über-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nehmen können, was für das örtliche Gewerbe und
bei Abgeordneten der FDP) Handwerk von besonderer Bedeutung ist.
Doppelte Tonlage bedeutet, sowohl Konsolidierung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
als auch Wachstum zu fördern. Da das eine ohne das an- Von den Einmaleffekten zugunsten des Bundeshaus-
dere nicht gelingt, haben wir den Haushalt 2006 – darauf halts in Höhe von rund 50 Milliarden Euro will ich in
setze ich den Akzent – konjunkturunterstützend ange- diesem Zusammenhang gar nicht reden. Sie alle wissen,
legt. Das heißt, wir unterlassen auf der Ausgabenseite dass diese nicht maastrichtrelevant sind.
und auf der Einnahmenseite alles, was der konjunk-
turellen Aufhellung schaden könnte. Diese Logik ver- Diese Zahlen belegen, dass wir, beginnend mit dem
tritt die Bundesregierung gegenüber allen Kritikern, die vorliegenden Haushalt, kraftvolle Anstrengungen unter-
in diesem Jahr weiter reichende Haushaltskürzungen nehmen. Ohne die Berücksichtigung des durchlaufenden
verlangen oder – das tut wahrscheinlich auch in diesem Postens der Zuweisung an die Bundesagentur für Arbeit
Hohen Hause eine Minderheit – Steuererhöhungen für steigen mit Blick auf den weitergereichten Mehrwert-
den Königsweg halten. Ab 2007 werden wir dann konso- steuerpunkt zur Absenkung der Arbeitslosenversiche-
lidierungsgerechte Haushalte vorlegen müssen. rungsabgaben die Ausgaben über den gesamten Finanz-
planungszeitraum um durchschnittlich nur noch
Dabei bedeutet konjunkturunterstützend keineswegs, 0,7 Prozent pro Jahr, also weniger als in den letzten sie-
dass wir in diesem Jahr nicht sparen würden. Auch beim ben Jahren. Real, das heißt unter Berücksichtigung der
Abbau von Steuersubventionen legen wir eine hohe Inflationsrate, gehen die Ausgaben des Bundes zurück.
Schlagzahl vor. Ich nenne den Abbau der Eigenheimzu-
lage, die Beschränkung der Verlustverrechnung bei Steu- Dadurch wird es uns gelingen, das strukturelle ge-
erstundungsmodellen und auch den Einstieg in ein steu- samtstaatliche Defizit bis Ende 2007 um 1 Prozent des
erliches Sofortprogramm. Im Mai, spätestens Anfang Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen. Da die Verände-
Juni wird dazu der Gesetzentwurf der Bundesregierung rungen des strukturellen Defizits in der Finanzwissen-
folgen. schaft gemeinhin als Indikator für den fiskalischen
2102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) Impuls gelten, wird unsere Finanzpolitik mit Blick auf Auf der anderen Seite wollen wir keinen Staat, der (C)
ihre volkswirtschaftliche Wirkung damit eindeutig restrik- das Wirtschaftswachstum und die Eigeninitiative bremst
tiv sein. und den Menschen mehr wegnimmt, als er ihnen zurück-
gibt. Das wäre das Ergebnis, wenn wir manchen Alimen-
Damit nicht genug: Trotz des restriktiven Ausgaben- tationsforderungen nachgeben würden, wie sie insbeson-
kurses halten wir die Investitionen des Bundes auf dem dere aufseiten der PDS-Linken erhoben werden.
Niveau von 23 Milliarden Euro. Ich sage sehr bewusst:
Wann immer sich diese Investitionen im Zuge der kon- (Zuruf von der LINKEN: Dann müsst ihr die
kreten wirtschaftlichen Entwicklung und der Einnahme- Deutsche Bank besteuern!)
entwicklung des Staates aufstocken lassen, wird dies mit
– Jetzt habe ich endlich mal etwas von Ihnen gehört! Das
Unterstützung des Bundesfinanzministers geschehen.
bewerte ich so, dass Sie bisher mit allem einverstanden
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) waren.
Lassen Sie mich unsere Entschlossenheit zu einer (Heiterkeit bei der SPD – Dr. Gesine Lötzsch
nachhaltigen Konsolidierung am konkreten Beispiel der [DIE LINKE]: Das Haus schläft ja schon! We-
Personalausstattung des Bundes verdeutlichen, auch nigstens wir schlafen schon!)
weil es hier viele Vorurteile gibt. Gegenüber 1998 haben Nein, wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der
wir den Bestand an zivilen Stellen um rund 15 Prozent dadurch Vertrauen und Sicherheit schafft, dass er die
zurückgefahren. Im Vergleich zum einigungsbedingten großen Lebensrisiken der Menschen absichert und ihnen
Höchststand von 1992 beträgt die Rückführung sogar mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Bildungs-
fast 27 Prozent. Mittlerweile gibt es auf Bundesebene einrichtungen garantiert, damit sie ein selbst verantwor-
weniger Stellen als vor der Wiedervereinigung im we- tetes Leben führen können, und zwar ohne Alimentation.
sentlich kleineren Westdeutschland. Diese Entwicklung
hat es bei den Betriebskosten des Bundes gegeben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kurt
Zynisch gesagt: Wäre der Bund ein börsennotiertes Un- Segner [CDU/CSU])
ternehmen, dann hätte es sicherlich ein Kursfeuerwerk Das erwarten die Menschen und das haben sie uns – je-
gegeben. denfalls nach meiner Wahrnehmung – auch mit dem
Trotzdem oder gerade deswegen nähern wir uns – das Wahlergebnis vom 18. September vergangenen Jahres
mag aus meinem Mund merkwürdig klingen – in Sachen aufgetragen.
Personalabbau langsam dem Ende der Fahnenstange; es (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sehr
sei denn, man glaubt, dass man selbst oder die eigene richtig!)
(B) Klientel umso besser fährt, je weniger handlungsfähig (D)
und effizient die Regierung ihre Aufgaben wahrnehmen Sie wollen den Markt als Ordnungsprinzip für die
kann. Dieser Gedanke scheint bei der FDP umzugehen. Wirtschaft; aber sie wollen nicht die Übertragung des
Anders kann ich mir nicht erklären, was ich in der Marktprinzips – schon gar nicht in Radikallösungen –
„Financial Times“ vom 13. März dieses Jahres gelesen auf alle gesellschaftlichen Bereiche.
habe: Da forderte Frau Homburger allen Ernstes, man (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
möge die Bundesbeamten doch bitte schön so lange ohne
Bezahlung nach Hause schicken, bis der Bundeshaushalt Sie glauben auch nicht, dass der Markt alle gesellschaft-
verabschiedet sei. lichen Probleme löst. Sie wollen den Staat nicht als Vor-
mund; aber sie wollen einen Staat, der Spielregeln für
(Widerspruch bei der SPD – Dr. Guido unser Zusammenleben setzt. Sie erkennen, dass die
Westerwelle [FDP]: Quatsch!) Globalisierung unausweichlich ist und dass man sich
Das nennt man in den USA „Government Shut-down“. ihr nicht entziehen kann, indem man an den Landesgren-
zen die Rollos herunterlässt; aber sie wollen nicht, dass
Ich halte dem ganz bewusst ein modernes Staatsver- dies zur Aufkündigung der bewährten Sozialpartner-
ständnis entgegen. Der Staat benötigt Ressourcen, um schaft in der Bundesrepublik Deutschland führt.
seine Aufgaben erfüllen zu können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
Sie sind bereit, Eigenverantwortung zu übernehmen;
GRÜNEN)
aber sie wollen – wie ich schon sagte – eine Absicherung
Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat; denn die gegen die großen Lebensrisiken erhalten sehen. Deshalb
Menschen erwarten zu Recht, dass wir Infrastruktur fi- trete ich auch der verbreiteten und modischen Diskredi-
nanzieren, äußere und innere Sicherheit gewährleisten, tierung des Staates und seiner Institutionen entgegen, die
Daseinsvorsorge betreiben, die Menschen gegen die gro- gerne unter dem Deckmantel ordnungspolitischer Argu-
ßen Lebensrisiken absichern, Familienförderung betrei- mente daherkommt.
ben und in Forschung, Entwicklung und Bildung inves- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tieren. Sie erwarten auch, dass wir Kultur- und der CDU/CSU)
Sportförderung betreiben. All diese Erwartungen richten
sich an die staatliche Leistungsbereitstellung. Ich habe Es geht nicht nur um unsere nationale Zukunft.
selten gehört, dass sich diese Erwartungen reduzieren. Deutschland trägt vor allem in Europa auch ökonomi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2103
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) sche Verantwortung. Deutschland war einer der wesent- wird, und zwar aus zwei unterschiedlichen Richtungen (C)
lichen Architekten des Stabilitäts- und Wachstums- mit demselben Ergebnis. Die eine Debatte wird in etwa
paktes. Deswegen und nicht zuletzt wegen unserer so verlaufen: Das Wirtschaftswachstum entwickelt sich
ökonomischen Größe tragen wir auch eine besondere ja besser als veranschlagt, genauso wie die Einnahmen.
Verantwortung dafür, dass dieser Stabilitäts- und Wachs- Bereits anderthalb Monate vor der nächsten Steuerschät-
tumspakt nicht relativiert wird oder an Glaubwürdigkeit zung im Mai wissen einige deutsche Professoren sehr
verliert.Dieser Pakt stellt eine wichtige Grundlage für genau, dass die Mehreinnahmen 5 Milliarden bis 6 Mil-
den wirtschaftlichen Wohlstand in Europa und insbeson- liarden Euro betragen. Weiter wird argumentiert werden:
dere für die Stabilität des Euro dar, der eine Erfolgsge- Weil die Entwicklung so günstig sei, könne doch auf die
schichte schreibt und inzwischen die zweitwichtigste geplante Mehrwertsteuererhöhung verzichtet werden.
Weltwährung ist. Deshalb dürfen wir den Pakt durch un- Die andere Debatte wird folgendermaßen verlaufen:
ser Handeln, durch das Handeln der Bundesrepublik Oje! Das wirtschaftliche Wachstum entwickelt sich doch
Deutschland, in meinen Augen nicht beschädigen. nicht so wie geplant; es läuft ungünstiger. Deshalb
müsse auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichtet wer-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
den. Ob so oder so: Ich weiß, dass es genügend Gründe
Der vorliegende Haushalt ist ein erster Schritt, mit gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gibt.
dem wir sicherstellen werden, dass Deutschland 2007
das Maastrichter Verschuldenskriterium in Höhe von (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
3 Prozent wieder erfüllt. Ob dies schon in diesem Jahr Sie wird trotzdem kommen, unabhängig davon, wie sich
gelingt, mag im Zuge einer günstigen Wirtschaftsent- die Konjunktur entwickelt; denn es ist kein konjunktu-
wicklung und des konkreten Haushaltsvollzugs gelin- relles Problem, das wir hier zu schultern haben, sondern
gen. Ich würde mich freuen. Ich kann dies aber nicht zu ein strukturelles Problem des Haushaltes auf der Ein-
Beginn dieses Jahres versprechen, es sei denn, ich träfe nahmenseite.
dazu auf der Einnahmenseite und auf der Ausgabenseite
konkrete Vorsorge. Das müsste ich dann auch nach Brüs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
sel melden. Genau dies widerspräche aber unserer Lo- Dr. Guido Westerwelle [FDP], an die SPD-
gik, den Haushalt 2006 konjunkturstützend zu fahren Fraktion gewandt: Genossen, klatscht!)
und – ich wiederhole das – alles zu unterlassen, was auf Wenn Sie mir nicht glauben, lese ich Ihnen mit Er-
der Einnahmenseite oder auf der Ausgabenseite zu einer laubnis des Präsidenten den ersten Absatz eines „Han-
Beeinträchtigung der Konjunkturentwicklung beitragen delsblatt“-Artikels vor: Die wesentliche Ursache für das
könnte. deutsche Staatsdefizit sind fehlende Einnahmen.
(B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D)
(Zuruf von der LINKEN: Genau!)
Das aktualisierte deutsche Stabilitätsprogramm be-
Zu diesem Ergebnis kommt die Bundesbank in einer
schreibt die wachstumsorientierte zeitliche Abfolge un-
Analyse der strukturellen Entwicklung der öffentlichen
serer Maßnahmen im Detail. 2006 ist die Finanzpolitik
Finanzen.
strukturell neutral ausgerichtet. Das heißt, die Defizit-
quote bleibt nach Lage der Dinge – jedenfalls in der Vo- (Beifall bei der LINKEN)
rausschau – dieselbe wie 2005, nämlich bei 3,3 Prozent.
Demnach sind seit dem Jahr 2000 die Lohnsteuer und
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sozialbeiträge deutlich weniger gewachsen als das Brut-
7 Milliarden mehr Schulden!) toinlandsprodukt. Zudem seien die Einnahmen aus ge-
Ab 2007 wird die Entwicklung der Defizitquote insbe- winnabhängigen Steuern nach dem Ende des Börsen-
sondere durch unsere Konsolidierungsmaßnahmen be- booms eingebrochen. – Damit haben Sie eine relativ
stimmt. Das heißt, 2007 wird die Defizitquote auf etwa unverdächtige Beschreibung.
2,5 Prozent zurückgehen. Das Stabilitätsprogramm mit (Zuruf von der LINKEN: Und Ihre Schluss-
seinem Konsolidierungspfad wird übrigens von der EU- folgerung?)
Kommission explizit unterstützt. Wir haben dort Aner-
kennung gefunden. Vor diesem Hintergrund haben wir Ich sagte bereits, dass ein Fünftel des Bundeshaus-
die Verschärfung des Defizitverfahrens mit einer In-Ver- halts, das heißt rund 50 Milliarden Euro, nicht nachhal-
zug-Setzung bewusst akzeptiert. Dadurch stärken wir die tig gegenfinanziert ist. Diese Lücke müssen wir schlie-
Glaubwürdigkeit des reformierten Stabilitäts- und ßen. Die berechtigte Frage ist, wie. Um diese Frage zu
Wachstumspaktes. Wir wollen eine Vorbildfunktion in beantworten, müssen wir uns die denkbaren Alterna-
Europa insbesondere mit Blick auf andere Länder in der tiven, aber auch deren Folgen genauer ansehen. Genau
Eurozone einnehmen. dies haben wir in den Koalitionsverhandlungen getan,
bevor wir uns für die Mehrwertsteueranhebung entschie-
Ich will nicht darum herumreden. Damit uns das ge- den haben. Die Alternativen wären entweder massive
lingt, werden wir eine Erhöhung der Mehrwertsteuer Einschnitte bei den Leistungsgesetzen und infolgedessen
vornehmen müssen. Ich kann keinerlei Hoffnung darauf die Kürzung von Transferzahlungen oder Kürzungen bei
machen, dass die Erhöhung nicht kommt. Wir haben die den Investitionen gewesen.
Anhebung der Umsatz- und der Versicherungsteuer zum
1. Januar 2007 beschlossen. Dabei bleibt es, auch wenn (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Oder andere
ich genau weiß, wie die Debatte in diesem Jahr verlaufen Steuern!)
2104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) – Herr Lafontaine, ich habe den Eindruck, dass Sie glau- Für die Unternehmen werden die Arbeitsplätze kosten- (C)
ben, dass sich die Bundesrepublik Deutschland nicht in günstiger, was sie in der Tendenz, wie ich hoffe, wieder
einem internationalen Steuerwettbewerb befindet und etwas sicherer macht. Auch dies wird durch die Mehr-
dass Kapital besonders immobil ist. Das sind die beiden wertsteuererhöhung geleistet. Damit will ich nicht relati-
Denkfehler in den vielen Beiträgen, die Sie von dieser vieren oder in Abrede stellen, dass die Erhöhung der
Stelle aus gemacht haben. Mehrwertsteuer konjunkturdämpfend wirkt. Natürlich
tut sie das; das lernen Sie im zweiten Semester; völlig
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
klar. Wie stark dieser Effekt ist, lässt sich allerdings nur
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
unter vielen Annahmen abschätzen. Nach Lage der
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen
Dinge kann man nicht davon ausgehen, dass die Mehr-
Kampeter [CDU/CSU]: Trivialökonomie!)
wertsteuererhöhung kurzfristig vollständig auf die
Wenn Sie mit Ihrem Sachverstand gelegentlich auf Elas- Preise abgewälzt werden kann – das verhindert nicht zu-
tizitäten oder auf wechselseitige Abhängigkeiten zu letzt der sehr intensive Wettbewerb, den wir auf vielen
sprechen kämen, dann würde das Ihre Beiträge substan- Märkten in Deutschland haben. Der Übergangszeitraum
zieller machen als diese einseitige ökonomische Ausle- bis zur Erhöhung der Mehrwertsteuer wird außerdem
gung. dazu führen, dass nicht alle Preise auf einen Schlag,
gleichzeitig, angehoben werden. Auch deshalb haben
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wir als große Koalition darauf verzichtet, diese Mehr-
CDU/CSU) wertsteuererhöhung bereits im Jahre 2006 zu realisieren.
Wenn wir mehr einsparen sollen – das ist der Vor- Schließlich: Wer meint, die Anhebung der Mehrwert-
schlag der FDP –, müssen wir die 17 Milliarden Euro, steuer hätte massive Verteilungswirkung, dem sage ich,
die im Bundeshaushalt fehlen, entweder dadurch erzie- dass beispielsweise die Mieten weiterhin umsatzsteuer-
len, dass wir an Leistungsgesetze herangehen, zum Bei- frei bleiben und die meisten Güter des täglichen Bedarfes
spiel an den Zuschuss zur Rentenkasse, oder dadurch, nur dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen –
dass wir bei den Investitionen kürzen. Ich bin mir ziem- der unverändert bleibt.
lich sicher, alle in diesem Haus stimmen überein: Die
Investitionen sind tabu, weil wir uns sonst den Wohl- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
standsast absägen würden, auf dem wir sitzen. Wenn wir
Ich weiß, dass das Handwerk Argumente gegen die
die Renten oder das Arbeitslosengeld in einem Jahr um
Erhöhung der Mehrwertsteuer vorbringt, die ernst zu
zweistellige Milliardenbeträge kürzen, rufen wir mas-
nehmen sind. Das Hauptargument lautet, dass in der
sive soziale Verwerfungen hervor. Auch das hätte Aus-
Tendenz der Flucht in die Schwarzarbeit Vorschub ge-
wirkungen auf die Konjunktur – oder glaubt irgendje-
(B) leistet werden könnte. Dies ist ein sehr gewichtiges Ar- (D)
mand in diesem Saal, dass die damit verbundene
gument. Man muss allerdings – das sage ich an die Ver-
Schmälerung der Kaufkraft keine negativen Auswirkun-
treter des Handwerks gerichtet – das Gesamtpaket der
gen auf die Binnennachfrage hätte? Das schlägt sich in
großen Koalition betrachten: Wir machen Schwarzarbeit
der volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung doch genauso
unter anderem dadurch weniger attraktiv, dass wir die
nieder wie der Entzug von Kaufkraft durch eine Erhö-
Lohnnebenkosten senken. Mit dem Wachstumspaket ha-
hung der Mehrwertsteuer; es ändert sich überhaupt
ben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen,
nichts.
die eindeutig zugunsten des Handwerks und auch des
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gewerbes wirken; ich will das im Einzelnen nicht auflis-
ten.
Ein Verzicht auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer er-
möglicht auch nicht den weiteren Einstieg in eine grö- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
ßere oder – ich sage es bescheidener – sukzessiv stärkere
Ja, wir brauchen Schwung in diesem Jahr, um über
Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme bei
die konjunkturdämpfende Wirkung der Mehrwertsteuer-
gleichzeitiger Entlastung der Arbeitsplätze von Lohnne-
erhöhung zum 1. Januar 2007 hinwegzukommen. Des-
benkosten. Denn – was in der Debatte häufig unerwähnt
halb stärken wir die Wachstumskräfte in unserem Land
bleibt – ein Drittel dieser Mehrwertsteuererhöhung,
mit dem schon mehrfach erwähnten 25-Milliarden-Euro-
sprich 1 Prozentpunkt, wird vollständig zur Absenkung
Programm, das sich auf Zukunftsbereiche richtet: For-
des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung verwendet.
schung und Entwicklung, Familie, Verkehr, Wirtschafts-
Das heißt, der Arbeitslosenversicherungsbeitrag sinkt in
förderung, Familie als Arbeitgeber. Deshalb ist dies kein
der Summe um 2 Prozentpunkte. Die Sozialabgabenlast
Konjunkturprogramm, sondern es ist ein Programm, mit
sinkt damit netto um insgesamt 1,6 Prozentpunkte; diese
dem strukturell wichtige Impulse für Wachstum und Be-
Zahl erklärt sich dadurch, dass die Erhöhung des Ren-
schäftigung gegeben werden.
tenversicherungsbeitrages um 0,4 Prozentpunkte gegen-
zurechnen ist. Ich führe das an, damit die Rechnung voll- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
ständig ist und keinem Sand in die Augen gestreut wird.
Es gerät in diesem Zusammenhang immer wieder in
Durch diese Operation am Arbeitslosenversiche- Vergessenheit, dass es nicht alleine diese
rungsbeitrag steigt das Realeinkommen der Beschäftig- 25 Milliarden Euro sind. Vielmehr führen die Beiträge
ten. Nun behaupte ich nicht, dass das die Verluste durch der anderen Gebietskörperschaften – sprich: der Länder
die Mehrwertsteuererhöhung auch nur annähernd kom- und der Kommunen – zu weiteren 12 Milliarden Euro.
pensiert, aber immerhin steht es dem positiv entgegen. Das sind insgesamt immerhin 37 Milliarden Euro. Das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2105
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) ist nicht so wenig, wie alle tun. In alten D-Mark-Beträ- Deshalb wollen wir die nominalen Steuersätze senken; (C)
gen ausgedrückt, die vielen noch vertraut sind, reden wir denn sie sind ein wichtiges Signal für Investoren. Ich
über ein 70-Milliarden-Programm zur Unterstützung von füge allerdings sehr bewusst hinzu: Nettoentlastungen in
Wachstum und Beschäftigung. Wer dies kleinredet, folgt Milliardenhöhe, die manche Vorschläge enthalten, hält
einer Tendenz, die wir in Deutschland oft haben, näm- der Fiskus nicht aus.
lich der, dass das Wasserglas als halb leer und nie als
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
halb voll bezeichnet wird.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir wollen das System reformieren. Wir wollen es trans-
Im Startjahr 2006 werden davon ungefähr parenter, einheitlicher und rechtsformneutral gestalten.
3,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Die Verbes- Wir wollen weg von dem alten Dualismus der unter-
serung der Abschreibungsbedingungen, die Aufstockung schiedlichen Besteuerung von Personengesellschaften
der Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, und Kapitalgesellschaften. Hierfür entwickeln wir zur-
Erleichterungen bei der Erhebung der Umsatzsteuer und zeit in meinem Haus die Eckpunkte. Es wird dazu von
die Erhöhung der Verkehrsinvestitionen werden und sol- mir innerhalb der nächsten zwei Monate kein Sterbens-
len schon kurzfristig, noch in diesem Jahr, die Situation wörtchen geben, weil ich meine, dass sich die Politik die
verbessern. Daran ändert auch nichts – das betone ich notwendige Reifezeit nehmen sollte, um ein solches
sehr deutlich – die vorläufige Haushaltsführung. Ich Werkstück gut zu bearbeiten,
könnte das jetzt am Beispiel des CO2-Gebäudesanie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
rungsprogramms oder auch an anderen Beispielen
durchdeklinieren, tue dies aber aus Zeitgründen nicht. und nicht dazu beitragen sollte, dass Woche für Woche
mit irgendwelchen Wasserstandsmeldungen die gesamte
Ein wesentlicher Teil dieses Programms von 25 Mil- deutsche Öffentlichkeit verunsichert wird.
liarden plus 12 Milliarden Euro – ungefähr 14 Milliar-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
den Euro, alleine was den Bundesanteil betrifft – kommt
dabei unmittelbar kleinen und mittleren Unternehmen Die Unternehmensteuerreform ist nicht das einzige
zugute. Vorhaben, das wir zur Stärkung der Wirtschaft in Gang
setzen wollen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, wie sehr
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!) gerade den kleineren und mittleren Unternehmen das
Sie profitieren besonders von den Verbesserungen bei Problem der Regelung der Unternehmensnachfolge auf
den Abschreibungsbedingungen und von der Neurege- den Nägeln brennt. Häufig ist das eher ein subjektiv
wahrgenommenes Problem und nach dem deutschen (D)
(B) lung der Umsatzsteuer – Stichwort: Istbesteuerung –,
aber auch in den Bereichen Gebäudesanierung und Ver- Steuerrecht, wie ich glaube, objektiv keineswegs gege-
kehrsinfrastruktur wird ein wesentlicher Anteil des Auf- ben. Hier geht es aber oft um nicht weniger als den Fort-
tragsvolumens auf die mittelständischen Unternehmen bestand des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze. Wie
entfallen. im Koalitionsvertrag vereinbart werden wir daher, wenn
möglich unter Berücksichtigung des anstehenden Urteils
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) des Bundesverfassungsgerichtes, zum 1. Januar 2007 die
Erbschaftsteuer so reformieren, dass diese nach zehnjäh-
Neben der Senkung der Lohnzusatzkosten soll die riger Unternehmensfortführung nicht mehr anfällt.
Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2008 zu
mehr Wachstumsdynamik in unserem Lande beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Sie ist deshalb eines der wichtigen Reformprojekte, die Dr. Guido Westerwelle [FDP])
mein Haus bis 2008 gerne mit Ihnen zusammen zum Er- Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen bereits da-
folg führen will, weil wir im internationalen Maßstab rauf hingewiesen, dass wir uns den demografischen und
unsere Unternehmensbesteuerung wettbewerbsfähiger sozioökonomischen Veränderungen stellen und unsere
gestalten müssen. Ich behaupte, dass das wesentliche sozialen Sicherungssysteme durch Strukturreformen ro-
Problem nicht bei den Personengesellschaften liegt. buster machen müssen. Dies ist eine wichtige Grund-
Durch die Maßnahmen der vergangenen Bundesregie- voraussetzung für langfristig tragfähige öffentliche
rung mit der Absenkung des Spitzensteuersatzes, der Finanzen. Die Sicherung der sozialversicherungspflichti-
Absenkung des Eingangssteuersatzes und höheren Frei- gen Beschäftigung ist dabei eine vordringliche Aufgabe.
beträgen haben wir dazu beigetragen, dass sich die Wir wissen, dass wir alle eher dem Risiko ausgesetzt sind,
Durchschnittsbesteuerung, also die effektive Besteue- dass dieser Anteil sozialversicherungspflichtiger
rung der Personengesellschaften, in Deutschland deut- Beschäftigungsverhältnisse vor dem Hintergrund geän-
lich verbessert hat. Zu dem Bild gehört aber auch, dass derter Berufsbiografien erodiert und dass damit die we-
die Besteuerung der Kapitalgesellschaften und der Kör- sentliche Finanzierungsgrundlage unseres sozialen Si-
perschaften in Deutschland im internationalen Vergleich cherungssystems unter Druck gerät.
mit am schlechtesten ist. Mit einem Körperschaftsteuer-
satz von 25 Prozent, mit Gewerbesteuer und Soli ist die Zur Modernisierung des Sozialstaates gehören aller-
Besteuerung dieser Unternehmen nicht wettbewerbsfä- dings auch Einsichten, die nicht immer bequem sind. Wir
hig. brauchen mehr Chancengerechtigkeit als heute. Ergebnis-
gleichheit kann und sollte die Politik nicht garantieren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir dürfen in diesem Zusammenhang grundlegenden
2106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) Fragen nicht ausweichen, zum Beispiel: Wieso verlassen Die Rentenbezugsdauer verlängerte sich im Durch- (C)
pro Jahr über 80 000 Schüler die Hauptschule ohne Ab- schnitt um sieben Jahre. Das hat natürlich auch Folgen
schluss? Wieso sind pro Jahr fast 250 000 Berufsschul- für den Bundeshaushalt: Fast ein Drittel des Bundes-
abgänger ohne Abschluss? Sie sind die vorprogrammier- haushaltes, rund 78 Milliarden Euro, muss mittlerweile
ten Verlierer in der Dynamik des Arbeitsmarktes. für die Rentner und für die Pensionäre verwendet wer-
den, Tendenz steigend. Diese Zahlen machen deutlich:
Die Bundesagentur für Arbeit steht zunehmend vor Die Lasten der demografischen Entwicklung müssen in
der Aufgabe, die Vermittlung der für den Einstieg in das einem ausgewogenen Verhältnis von allen Teilen der Ge-
Berufsleben notwendigen Fähigkeiten, die nicht in der sellschaft, also von den Beziehern unterschiedlicher Ein-
Schulzeit vermittelt worden sind, nachzuholen. Das ist kunftsarten, getragen werden, damit wir dieses System
eigentlich nicht ihre Aufgabe. Das zeigt mit aller Drama- stabilisieren können. Diese Zahlen machen deutlich,
tik: Wir brauchen dringend zielführende Reformen im dass die Dynamik der Zuweisungen aus dem Bundes-
Bildungssystem. Zielführend sind solche Reformen nur haushalt so jedenfalls nicht fortgeführt werden kann. Es
dann, wenn sie die Startchancen unserer Kinder verbes- kann und darf keinen Automatismus für einen immer
sern. weiter steigenden Zuschuss aus dem Bundeshaushalt für
Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des die Sozialkassen geben. Dies ist ein wichtiger Beitrag,
modernen Sozialstaates ist in Zeiten wachsender demo- der Verkarstung des Bundeshaushalts, von der ich ein-
grafischer Herausforderungen notwendiger denn je. Die gangs gesprochen habe, entgegenzuwirken und langsam
Rentenbezugsdauer ist im Vergleich zu 1960 bereits um finanzpolitischen Gestaltungsspielraum für Zukunfts-
zwei Drittel höher. Als 1957 die dynamische Rente ein- investitionen zurückzugewinnen.
geführt wurde, gab es neun Beitragszahler, die mit ihren (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Beiträgen in den damaligen drei Säulen des deutschen CDU/CSU)
Sozialversicherungssystems dazu beigetragen haben,
dass ein Leistungsempfänger finanziert werden konnte. Für den Erfolg unserer Konsolidierungsstrategie ist
Dieses Verhältnis ist von 9 : 1 auf 3,3 : 1 gesunken und die Entwicklung im Gesundheitswesen ebenso wichtig
es wird in den nächsten Jahren auf unter 3 : 1 sinken. wie der Arbeitsmarkt und die Rente. Deutschlands Ge-
sundheitswesen ist modern und leistungsfähig, leider
Damit ist völlig klar, dass wir mit Blick auf die Finan- aber auch sehr teuer. Gute medizinische Versorgung war
zierung dieser jetzt vier Säulen unseres sozialen Siche- schon immer ein Grundwert unserer Gesellschaft. Nie-
rungssystems – die Pflegeversicherung ist hinzugekom- mand sollte von dieser guten medizinischen Versorgung
men – es mit einem Problem der politischen Mathematik ausgeschlossen werden, nur weil er arm ist, und niemand
zu tun haben und dass irgendwelche Empörungen auf sollte arm werden, nur weil er krank ist. (D)
(B)
Tagungen, Verbandstagungen und wo auch immer nicht
weiterhelfen. Es ist, wie gesagt, eine Frage der politi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
schen Mathematik, dass wir uns mit diesem Problem
Deshalb müssen sich die Reformmaßnahmen daran mes-
auseinander setzen müssen.
sen lassen, ob sie die von den Menschen grundsätzlich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gewünschte Solidarität erhalten.
CDU/CSU)
Natürlich müssen wir dabei auch die Einnahmeseite
Die Anzahl der Personen im Rentenalter steigt bis sehen. Ein Gesundheitssystem, das überwiegend über
2030 von gegenwärtig 13,5 Millionen auf über Lohnnebenkosten finanziert wird, gefährdet natürlich
22 Millionen. Gleichzeitig sinkt der Anteil der jungen Arbeitsplätze.
Menschen dramatisch. Die Menschen leben bis 2030 im
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Durchschnitt rund drei Jahre länger. Je älter ich werde,
desto besser finde ich das. Besonders deutlich zeigen Zudem hört die Solidarität bei der Finanzierung schnell
sich die Lasten der demografischen Alterung in der auf. Ausgerechnet Spitzenverdiener und Beamte, auch
gesetzlichen Rentenversicherung. Der Anteil der über Minister, können in die privaten Kassen ausweichen, wo
60-Jährigen an der Bevölkerung wird bis 2050 von sie meist weniger zahlen müssen als in der gesetzlichen
24 Prozent auf knapp 40 Prozent steigen. Das Renten- Krankenversicherung.
eintrittsalter ist, bezogen auf die alten Bundesländer, von
1960 bis 2004 bei den Männern um zwei Jahre und bei (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nur bedingt
den Frauen um ein Jahr gesunken. Die Lebenserwartung richtig!)
ist jedoch um 8,5 Jahre bei Männern und um neun Jahre
Sorge muss zudem machen, dass immer mehr Menschen
bei Frauen gestiegen.
aus dem System der gesetzlichen Krankenversicherung
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Nur kein entweichen, während die schlechten Risiken in der ge-
Neid!) setzlichen Krankenversicherung bleiben.

– Das kommt ja in den Gleichberechtigungsdiskussionen Auf der anderen Seite dürfen wir dabei nicht verges-
nie vor. sen, dass Reformen auf der Ausgabenseite des Gesund-
heitssystems nicht minder dringlich sind. Die Fragen lie-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der gen auf der Hand: Verfügen wir über geeignete
CDU/CSU und der FDP) Instrumente bei der Ausgabensteuerung? Wieso gibt es
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2107
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) in diesem Bereich nur einen unzureichenden Wettbe- auch Courage. Wir brauchen über die Grenzen der Fach- (C)
werb? politiken hinweg einen gemeinsamen Sinn für das Ganze
und auch für die Prioritäten. Dafür möchte ich mit dieser
Meines Erachtens sind weitere Schritte zu wettbe- Rede werben.
werblichen und effizienzsteigernden Strukturen auf der
Ausgabenseite und der Leistungsseite unabdingbar, Es wäre schließlich hilfreich, wenn wir die Menschen
wenn beispielsweise jährlich schätzungsweise 4 000 Ton- nicht durch sich widersprechende Nachrichten oder wö-
nen Arzneimittel im Wert von mindestens 2 Milliarden chentliche Wasserstandsmeldungen verunsichern wür-
Euro auf dem Müll landen, wenn jede dritte von den oder wenn wir unsere Vorhaben nicht selbst infrage
120 Millionen Röntgenaufnahmen überflüssig ist und stellen würden, bevor wir sie überhaupt begonnen haben.
wenn für die Versicherten der gesetzlichen Krankenver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
sicherung bei den Kosten völlige Intransparenz herrscht.
Verlässlichkeit in der Finanzpolitik könnte ein Mar-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da hilft die Prä- kenzeichen dieser großen Koalition sein. Das schließt
mie!) keineswegs aus, Notwendiges zu tun und auch neue
Die Maßnahmen der Vergangenheit zur Steigerung Wege zu gehen, wenn wir es denn erklären. Ich glaube,
wir unterschätzen die Offenheit, die Aufgeschlossenheit
der Einnahmen oder Deckung der Ausgaben haben den
der Bürgerinnen und Bürger für solche Erklärungen. Die
gesetzlichen Krankenversicherungen immer nur kurz-
meisten von ihnen wissen: Wenn wir vieles von dem er-
fristig Luft verschaffen können. Es war lediglich eine
halten wollen, was uns wichtig ist, auch und gerade für
Frage der Zeit, bis die Entlastungen im System wieder
nachfolgende Generationen, dann müssen wir vieles ver-
von Kostensteigerungen sozusagen überholt wurden. ändern.
Aus diesem Mechanismus müssen wir heraus, weshalb
ich meine Kollegin Ulla Schmidt in den Anstrengungen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
die auf eine weitgehende Reform des Gesundheitssys- Der Haushaltsentwurf 2006, die mittelfristige Finanz-
tems zielen, nachhaltig unterstützen möchte. Als Finanz- planung, das Stabilitätsprogramm und das Haushaltsbe-
minister habe ich ein massives Interesse daran, dass die- gleitgesetz sind das erste finanzpolitische Paket dieser
ses Reformvorhaben nicht scheitert. Denn sein Scheitern Koalition. Es werden noch einige Bewährungsproben
würde in Form von steigenden Zuschüssen negativ auf auf uns zukommen, die wir meistern werden.
den Bundeshaushalt zurückschlagen.
Herzlichen Dank.
Ich komme zum Schluss. Die große Koalition wird
von vielen Menschen als eine gute Chance begriffen, (Anhaltender Beifall bei der SPD und der
CDU/CSU)
(B) zentrale Reformen in Deutschland mit einem langen (D)
Haltbarkeitsdatum auf den Weg zu bringen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Chance ist Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
da!) der Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.
Das würde Vertrauen begründen. Diese Kategorie ist be- (Beifall bei der FDP)
kanntlich von großer Bedeutung für Investoren wie auch
für Konsumenten. Die große Koalition wird auch als
Jürgen Koppelin (FDP):
Chance begriffen, Gruppeninteressen entgegenzuwirken,
weil keine der beiden großen Parteien mehr auf der Basis Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundesfinanzminister hat für die Bundesregierung den
von mir aus legitimer, aber durchaus nicht immer mit
Entwurf für den Bundeshaushalt 2006 und das Haus-
dem Allgemeininteresse identischer Gruppeninteressen
haltsbegleitgesetz eingebracht. Der Deutsche Bundestag
gegeneinander ausgespielt werden kann.
wird in dieser Woche eine erste Bewertung vornehmen.
Eine solide Haushaltsführung, so wie sie Millionen Ich will Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, vonseiten der
privater Haushalte auch betreiben müssen, wenn sie FDP ausdrücklich zusagen, dass wir, was den Bundes-
denn den Gerichtsvollzieher nicht im Haus haben wol- haushalt und auch das Haushaltsbegleitgesetz angeht, in
len, ist eine wesentliche Erwartung der Menschen. den Ausschüssen konstruktiv mitarbeiten werden. Wir
sind der Auffassung, dass, wie der Bundeshaushalt zeigt,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die finanzielle Situation unseres Landes so ernst ist, dass
Die Flucht aus unangenehmen Entscheidungen in die sich die Opposition einer Zusammenarbeit nicht verwei-
sich immer weiter drehende Verschuldensspirale wird gern kann. Deshalb bieten wir ausdrücklich unsere Mit-
immer weniger akzeptiert, schon gar nicht von der jün- arbeit an.
geren Generation, die den Kapitaldienst für unsere Herr Bundesfinanzminister, wir beide kennen uns ja
Schuldenaufnahme auf sich zurollen sieht. schon lange, auch aus Schleswig-Holstein.
Die Koalition ist gefordert, die Weichen für eine (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Haushaltskonsolidierung zu stellen, ohne deswegen Zu-
Ich weiß, dass Sie ein sehr kluger Mann sind.
kunftsinvestitionen zu vernachlässigen. Der Finanz-
minister versteht sich in dieser Hinsicht als Gestalter und (Abg. Dr. Peter Struck [SPD] begibt sich zur
nicht als Verhinderer. Um beidem zu entsprechen, brau- Regierungsbank und spricht mit Bundeskanz-
chen wir Mut, Durchhaltevermögen und gelegentlich lerin Dr. Angela Merkel – Dr. Guido
2108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jürgen Koppelin
(A) Westerwelle [FDP]: Gibt es noch eine Chance, Pikant ist, Frau Bundeskanzlerin, bei dieser schweren (C)
dass man hier diskutieren kann?) Hinterlassenschaft allerdings, dass die stärkste Partei in
der früheren Koalition, die SPD, nun der Juniorpartner in
Präsident Dr. Norbert Lammert: der neuen Koalition ist. Die Erblast, die sozialdemokrati-
Verehrter Herr Fraktionsvorsitzender, es wäre schön, sche Finanzminister in sieben Jahren Rot-Grün hinterlas-
wenn die ungeteilte Aufmerksamkeit der Regierung für sen haben, wird uns nicht nur bei dieser Haushaltsbera-
die Rede des ersten Oppositionsredners sichergestellt tung beschäftigen, sondern auch zukünftig.
wäre. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)
(Beifall bei der FDP und der LINKEN) Frau Merkel, Sie müssen sich schon fragen lassen,
wieso Sie es bei der Bildung der neuen Koalition trotz
Jürgen Koppelin (FDP): dieser Erblast zugelassen haben, dass ein Sozialdemo-
krat erneut das Finanzministerium übernimmt.
Das gilt auch für den anderen.
(Beifall bei der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE
Präsident Dr. Norbert Lammert: LINKE]: Der ist doch kein Sozialdemokrat!)
Lieber Herr Kauder! Vielleicht, Frau Merkel, hat es daran gelegen, dass Sie
die Erblast so noch nicht gekannt haben und dass da-
Jürgen Koppelin (FDP): mals, als Sie mit den Sozialdemokraten verhandelt ha-
Es ist wirklich sehr unhöflich, wenn der erste Redner ben, Sie und Edmund Stoiber – das war, bevor er die
der Opposition in der Weise von den beiden Fraktions- Flucht nach München antrat – erst die Ministerposten
vorsitzenden gestört wird. verteilt haben, bevor Sie versucht haben, sich in der Sa-
che zu einigen. Das ist wahrscheinlich das Problem;
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der sonst hätten Sie den Sozialdemokraten niemals die wich-
CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der SPD: tige Aufgabe des Bundesfinanzministers überlassen dür-
Mir kommen die Tränen!) fen.
– Das ist nun einmal so, zumal ich den Bundesfinanzmi- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Der ist doch
nister direkt angesprochen habe. kein Sozialdemokrat; der ist SPD-Mitglied!)
Ich wiederhole das gerne. Ich kenne Herrn Steinbrück Viele finanz- und haushaltspolitische Fehler sind in
als einen wirklich sehr klugen Mann und ich schätze ihn, den sieben Jahren der rot-grünen Koalition gemacht
worden. Ich will nicht verleugnen, dass der frühere Bun-
(B) auch wenn wir hin und wieder unterschiedliche Auffas- (D)
sungen haben. Ich habe mir überlegt, wie er seine heu- desfinanzminister Eichel viele Probleme richtig erkannt
tige Rede vorbereitet haben könnte. Da gab es zwei hat. Er hat auch die große Belastung für die kommenden
Möglichkeiten: Sie konnten die kluge Version wählen, Generationen gesehen. Trotzdem war er nicht in der
Herr Bundesfinanzminister, indem Sie offen und ehrlich Lage, umzusteuern. Das mag auch daran gelegen haben,
sagen, wie die Situation ist. Dann hätten Sie aber anspre- dass er dafür nicht die Unterstützung der eigenen Frak-
chen und begründen müssen, warum Sie heute einen ver- tion bekommen hat.
fassungswidrigen Haushalt vorlegen. Das haben Sie Doch auch der heutige Bundesfinanzminister, Peer
nicht getan. Steinbrück, hat, bereits bevor er Finanzminister wurde,
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt erkannt, wo die Kernprobleme auf dem Weg zu einer so-
auch gar nicht, Herr Kollege! Gucken Sie doch liden Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland lie-
vielleicht mal in die Verfassung!) gen.

Sie haben sich für die zweite Möglichkeit entschieden, Herr Bundesfinanzminister, Sie haben als Minister-
nämlich den Nebelwerfer. Sie haben viel Nebel produ- präsident von Nordrhein-Westfalen im Bundesrat gesagt
ziert und sehr viel Lyrik, aber der deutschen Bevölke- – das ist durchaus richtig –:
rung nicht konkret gesagt, was für einen Haushalt Sie Das Kernproblem in Deutschland ist die Steuer-
hier vorgelegt haben. und Abgabenquote; das heißt die spezifische Finan-
(Beifall bei der FDP) zierung der sozialen Transfersysteme über ein
Umlagensystem, das an Normalarbeitsverhältnisse
Deswegen erlauben Sie mir, aus meiner Sicht eine gekoppelt ist. Im Ergebnis haben die Sozialver-
Bewertung für beide Gesetze vorzunehmen. Dabei sicherungsabgaben und damit die Bruttoarbeitskos-
kommt man nicht darum herum, eine haushaltspolitische ten ein zu hohes Niveau erreicht.
Bilanz dessen zu ziehen, was Rot-Grün gemacht und
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch ein Zitat
– das muss man fairerweise sagen – Rot-Schwarz über-
von Ludwig Erhard anführen. Die Kanzlerin zitiert ihn
nommen hat. Allerdings muss sich auch die neue Bun-
immer gern. Deswegen will auch ich es tun. Ludwig
desregierung fragen lassen, was sie unternehmen wird,
Erhard sagte 1958 – es ist in der „Zeit“ nachzulesen –:
um aus der schwierigen haushaltspolitischen Situation
herauszukommen. Es steht außer Frage, dass der Haus- Nichts ist in der Regel unsozialer als der so ge-
halt und die Finanzen, die die neue Regierung übernom- nannte „Wohlfahrtsstaat“ ... Solche „Wohltat“ muss
men hat, eine schwere Erblast sind. das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat sei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2109
Jürgen Koppelin
(A) nen Bürgern mehr zurückgeben kann, als er ihnen die Anfänge dieser Fehlentwicklung liegen weit zu- (C)
vorher abgenommen hat. rück. Die lassen sich im Übrigen ganz gut bei der
ersten großen Koalition verorten.
(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter
[CDU/CSU]: Sehr wahr!) Jetzt wissen Sie, wo die Gründe liegen, lieber Herr Kol-
lege. Wo Frau Merkel Recht hat, hat sie Recht.
Das ist die Krux unserer Haushaltspolitik. Darum dreht
sich vieles. (Beifall bei der FDP)
Peer Steinbrück weiß ebenso wie früher Hans Eichel Frau Merkel hat dann in ihrer Regierungserklärung
ganz genau, wo die Probleme liegen. Doch das spiegelt einen Kurswechsel in der Haushaltspolitik angekün-
sich nicht – das war schon unter Eichel so – in den digt. Frau Merkel, ich kann bei diesem Bundeshaushalt
Haushaltsplänen wider. Insofern ist das, was Sie, sehr keinen Kurswechsel erkennen. Beim Bundeshaushalt
geehrter Herr Bundesfinanzminister, uns heute als Bun- 2006 übersteigt die Neuverschuldung sogar noch die des
deshaushalt 2006 vorgelegt haben, eine Taschenbuch- letzten Etats von Hans Eichel um 7 Milliarden Euro. In
ausgabe der früheren Haushaltspläne von Hans Eichel – der mittelfristigen Finanzplanung sind 16 Milliar-
nicht mehr und nicht weniger. den Euro in Ansatz gebracht. Das soll der angekündigte
Kurswechsel sein? Statt Kurswechsel bleibt also alles
(Beifall bei der FDP – Dr. Peter Ramsauer wie gehabt: noch mehr Schulden, höhere Steuern, aber
[CDU/CSU]: Aber ehrlicher!) keine Korrektur bei den Ausgaben.
Peer Steinbrück kennt die Probleme, aber er hat nicht ge- Auch bei Rot-Schwarz ist der Bundeshaushalt wie bei
handelt. Rot-Grün verfassungswidrig und setzt den geplanten
Verfassungsbruch der letzten Jahre fort. Da gibt es
Unter sozialdemokratischen Finanzministern wurden
nichts zu beschönigen. Der Finanzminister hat dies zwar
200 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen. Da-
mit dem Werfen von Nebelkerzen versucht. Aber Verfas-
bei sind die Steuereinnahmen nicht etwa zurückgegan-
sungsbruch bleibt Verfassungsbruch.
gen. Sie sind vielmehr gestiegen. Durch die hohe Schul-
denaufnahme gibt es eine zweite Hinterlassenschaft. Das (Beifall bei der FDP)
sind die hohen Zinsbelastungen: 39 Milliarden Euro
pro Jahr. Der Bundesfinanzminister und auch der Bundeswirt-
schaftsminister erzählen uns immer wieder, die Kon-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie viele junktur werde anspringen, die Koalition mache eine
Jahre war die FDP daran beteiligt?) tolle Stimmung und die Menschen würden wieder Mut
fassen. Wenn dem so ist, dass sich die Konjunktur erholt (D)
(B) – Ich komme gleich darauf zurück. – Diese hohe Zinsbe-
und dass es Wirtschaftswachstum gibt, dann muss man
lastung ist nicht zu verantworten. Wir müssen davon he- sich doch fragen, warum Sie einen verfassungswidrigen
runter. Haushalt vorlegen. Wenn Sie nämlich optimistisch wä-
Die dritte Hinterlassenschaft von Rot-Grün ist die ren, dann könnten Sie doch nicht von einer Störung des
hohe Abgabenlast mit fast 40 Prozent. Wen wundert es gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgehen und
da, wenn es keine Bewegung auf dem Arbeitsmarkt gibt damit einen verfassungswidrigen Haushalt rechtfertigen.
und wenn die Arbeitslosigkeit weiterhin bei 5 Millionen Wenn man positiv eingestellt ist, dann braucht man doch
Arbeitslosen auf Rekordhöhe bleibt? nicht zu erklären, dass das gesamtwirtschaftliche Gleich-
gewicht gestört ist. Man muss vielmehr den eigenen
Ich will nun nicht allein der früheren rot-grünen Ko- Zahlen vertrauen. Aber Sie glauben nicht an Ihre eige-
alition – damit komme ich auf den Zuruf zurück – die nen Zahlen, Herr Bundesfinanzminister. Das ist Ihr Pro-
Fehler in der Haushalts- und Finanzpolitik anlasten. blem.
(Zurufe von der SPD: Aha!) Die FDP hat den Eindruck, dass Sie mit voller Ab-
sicht einen stabilitätswidrigen Haushalt vorlegen. Mit
Lieber Kollege Schneider, die FDP teilt dazu die Aus-
steigenden Steuereinnahmen und entschlossenen Sparan-
sage der Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung.
strengungen wäre es durchaus möglich gewesen, einen
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist gut, stabilitätsgerechten Haushalt vorzulegen. Nur, das wol-
aber verdächtig!) len Sie gar nicht. Denn auf diesem Umweg wollen Sie
Ihre Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte be-
Die Bundeskanzlerin – es ist auch Ihre Kanzlerin; denn gründen.
sie wird von Ihnen in der Koalition getragen – sagte in
ihrer Regierungserklärung: Wer wie Peer Steinbrück im Bundesrat erklärt, dass
das Kernproblem in Deutschland die Steuer- und Abga-
Wir brauchen … einen Kurswechsel in der Haus- benquote sei, um nun auf einmal als neues Mitglied der
haltspolitik. Bundesregierung für die Erhöhung der Mehrwertsteuer
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten um 3 Prozentpunkte einzutreten, zeigt, dass er die Situa-
der CDU/CSU) tion zwar richtig erkannt hat, aber dann das Gegenteil
macht, genauso wie es sein Vorgänger, Hans Eichel, ge-
Ich sage ganz ausdrücklich: Die Ursachen, tan hat.
– jetzt kommt es – (Beifall bei der FDP)
2110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jürgen Koppelin
(A) Nicht Steuern hoch, sondern Steuern runter! Das belebt Eine Steuererhöhung wäre Gift für die Konjunktur, (C)
die Konjunktur und würde neue Arbeitsplätze schaffen. deswegen kann eine Steuererhöhung nicht infrage
Das Entscheidende, was uns von Ihnen, Herr Bundes- kommen. Dies gilt für jede Steuer, damit auch für
finanzminister, unterscheidet, ist: Wir wollen, dass die die Mehrwertsteuer.
Steuern gesenkt und nicht erhöht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrwertsteuer-
Der Bundesfinanzminister muss doch ein Interesse erhöhung, die Sie planen, ist unsozial gegenüber
daran haben, dass das Konsumklima in Deutschland er- 21,8 Millionen Rentnern, 1,4 Millionen Pensionären und
heblich verbessert wird. Ein besseres Konsumklima in Versorgungsempfängern, 5 Millionen Arbeitslosen so-
Deutschland bringt auch dem Finanzminister im Bun- wie gegenüber 2 Millionen Studenten. Diese Zahlen
deshaushalt mehr Einnahmen. Mit der Erhöhung der stammen nicht von mir, sondern ebenfalls aus einem
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte werden Sie das Flugblatt der Sozialdemokraten. – Herzlichen Dank,
Konsumklima in Deutschland auf keinen Fall verbes- dass Sie mir dieses Material zur Verfügung gestellt ha-
sern. ben. Das ist Ihr großer Wortbruch.
Wie heißt es in einem Flugblatt der Sozialdemokraten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zur letzten Bundestagswahl: der LINKEN)

Allein schon die Möglichkeit einer Steuererhöhung Was machen Sie jetzt? Auf der einen Seite legen Sie,
trübt das Konsumklima deutlich ein. Herr Bundesfinanzminister, ein Programm mit Mitteln in
Höhe von 25 Milliarden Euro, verteilt auf zwei Jahre,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) auf und auf der anderen Seite ziehen Sie den Bürgern
150 Milliarden Euro Kaufkraft aus der Tasche. Hinzu
So die Sozialdemokraten. Was machen Sie jetzt? Sie trü- kommen 20 Milliarden Euro, weil in diesem Jahr für ei-
ben das Konsumklima ein, wenn ich Ihrem Flugblatt nen Monat zusätzlich Sozialabgaben abgeführt werden
glauben darf. müssen. Ihre Politik ist: ein Konjunkturprogramm von
Ich zitiere wörtlich aus einem weiteren Flugblatt der 25 Milliarden Euro, das, was Sie auf Ihrer Klausurta-
Sozialdemokraten zur Bundestagswahl: gung beschlossen haben, und gleichzeitig Abzocke bis
zum Gehtnichtmehr. Wie soll da die Konjunktur ansprin-
Alle Bürger haben durch eine Mehrwertsteuererhö- gen?
hung weniger in der Tasche. Das bedeutet: Sie kön- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nen weniger konsumieren. Angesichts einer ohne- der LINKEN)
hin zu geringen Binnennachfrage ist dies Gift für
(B) unsere Konjunktur. Ich habe es schon gesagt: Mit dem Haushaltsent- (D)
wurf 2006 liegt ein eindeutiger Verfassungsverstoß vor.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist erheblich zu bezweifeln, dass mit der Inanspruch-
Warum machen Sie genau das Gegenteil? Es war nahme der Ausnahmeregelung in Art. 115 des Grundge-
doch alles richtig, was Sie – es gibt weitere Zitate zur setzes und der erhöhten Kreditaufnahme die Störung
Mehrwertsteuererhöhung – gesagt haben. Die Sozialde- des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abgewen-
mokraten müssen sich fragen lassen, warum sie diesen det werden kann. Auch in den vergangenen Jahren ist
Wortbruch gegenüber ihren Wählern begangen haben. das alles so begründet worden. Auch in den vergangenen
Sie säßen doch heute nicht in dieser Stärke im Deutschen Jahren waren die Haushalte verfassungswidrig. Es hat
Bundestag, wenn Sie nicht vor allem einen Wahlkampf sich nichts getan. Bei der Arbeitslosenzahl ist nichts pas-
gegen die Mehrwertsteuererhöhung geführt hätten. Sie siert. Sie ist auf gleicher Höhe geblieben bzw. sogar ge-
hätten mindestens 50 Abgeordnete weniger im Deut- stiegen. Die Konjunktur hat sich nicht belebt. Jedes Jahr
schen Bundestag. erfolgt die gleiche Begründung für einen Verfassungs-
verstoß und jedes Jahr hat es zu nichts geführt. Sie haben
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sich neu verschulden müssen. Die Neuverschuldung mit
der LINKEN) 38 Milliarden Euro in diesem Jahr ist – daran geht kein
Weg vorbei – ein Armutszeugnis für eine große Koali-
Ich fand es sehr interessant, dass in den Wahlsendun- tion. Statt Ausgabenminderungen gibt es nur Ausgaben-
gen am Sonntagabend plötzlich alle Parteien die niedrige steigerungen.
Wahlbeteiligung bedauert haben. Angesichts dessen,
dass die Menschen von den Sozialdemokraten bei der Der Bundeshaushalt ist das Schicksalsbuch der Na-
Bundestagswahl so betrogen wurden, verzweifeln sie tion. Lassen Sie uns die Investitionen anschauen: Sie
allmählich und sagen sich: Ich brauche gar nicht mehr sind so niedrig, wie es in den vergangenen Jahren nicht
zur Wahl zu gehen. einmal der Fall gewesen ist. Sie werden bis 2009 auf
etwa 8,5 Prozent sinken. Dies zeigt, dass wir weiterhin
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mit einer hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland rechnen
der LINKEN – Joachim Poß [SPD]: Das haben müssen.
Sie gerade nötig!)
Alles, was Sie uns bisher vorgelegt haben, das Ausga-
Sie befinden sich aber in bester Gesellschaft. Der benprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden
Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, erklärte Euro und der Bundeshaushalt, wird nicht den notwendi-
ebenfalls im Mai letzten Jahres: gen Aufschwung bringen. Sie als Bundesregierung wol-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2111
Jürgen Koppelin
(A) len uns einreden, dass man nur beim Bürger abkassieren Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
und ein staatliches Ausgabenprogramm auflegen muss Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister
und schon entstehen Arbeitsplätze und der Haushalt für die CDU/CSU-Fraktion.
kann saniert werden. Nein, so geht das nicht. Unserer
(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter
Auffassung entspricht das, was die große Koalition uns [CDU/CSU]: Ein echter Meister kommt jetzt!)
vorlegt, nicht.
(Beifall bei der FDP) Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Diese Bundesregierung wird nicht umhinkommen Herren! Ich möchte zum Auftakt der Debatte über den
– das haben Sie nur andeutungsweise angesprochen, Haushaltsplan 2006 zunächst einmal dem Bundesfinanz-
Herr Bundesfinanzminister –, wenn es mit der Sanierung minister im Namen meiner Fraktion Dank sagen, dass er
des Haushalts Ernst wird, die Leistungsgesetze auf den mit diesem Haushaltsentwurf und dem Haushaltsbegleit-
Prüfstand zu stellen. Auch hier biete ich der Koalition gesetz die Vorgaben des Koalitionsvertrages zur Haus-
an, offen und fair darüber zu sprechen, um unseren Bei- haltskonsolidierung umsetzt und gesetzgeberisch auf den
trag leisten zu können. Denn wir alle wissen doch, dass Weg bringt.
wir den Haushalt sonst nicht werden sanieren können.
Nur durch Kürzungen beim Bundeshaushalt – das will (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
ich eingestehen – wird eine Sanierung nicht möglich Mir sind bei der Entscheidungsfindung fünf Punkte
sein. wichtig, auf die ich im Nachfolgenden eingehen möchte.
Ein Bundesfinanzminister hat die Aufgabe, seinen Wir erleben heute einen Wendepunkt in der Haus-
Haushalt auf realistischer Basis aufzubauen und den haltspolitik des Bundes. Wir begeben uns auf den Weg,
schweren, steinigen Weg aus der Staatsverschuldung zu den Haushalt des Bundes zu sanieren und die Beendi-
gehen. Herr Bundesfinanzminister, mit Ihrer Rede und gung der steigenden Staatsverschuldung mit Entschlos-
dem Haushaltsentwurf, den Sie heute vorgelegt haben, senheit anzugehen. Für diesen Beginn ist heute der rich-
sind Sie diesen steinigen Weg nicht gegangen. Sie hätten tige Tag.
die große Chance gehabt, der Mehrheit in diesem Parla- (Beifall bei der CDU/CSU)
ment ehrlich und offen zu sagen, wie die haushaltspoliti-
sche Situation ist. Es tut mir Leid, aber ich finde, Sie ha- Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir diesen Weg
ben diese Chance vertan. Dieser Haushalt – und auch nicht in einem einzigen Schritt gehen können. Der
Ihre Rede – hätte ein Startzeichen sein können, ein Start- Bundeshaushalt 2006 ist der erste Schritt in die richtige
zeichen für einen Staat der Bescheidenheit. Auch diese Richtung; es müssen weitere Schritte in Richtung Haus-
(B) Chance haben Sie vertan. haltskonsolidierung folgen. Dies ist nicht nur notwen- (D)
dig, weil wir hier interessante Debatten miteinander
Wie sagte die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungs- führen, sondern auch, weil dies im Interesse einer nach-
erklärung: Überraschen wir uns damit, was möglich ist, haltigen Finanzpolitik ist. Ich hätte mir gewünscht, dass
überraschen wir uns damit, was wir können. – Dieser eine Partei – jetzt schaue ich in die Mitte dieses Hau-
Bundeshaushalt wäre eine gute Gelegenheit gewesen, ses –, die das Wort „Nachhaltigkeit“ immer als erste auf
unter Beweis zu stellen, was Politik kann. Davon ist der Zunge führt, diese Nachhaltigkeit in ihrer Politik der
nichts zu spüren. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Re- vergangenen sieben Jahre realisiert hätte.
gierungserklärung gesagt: Lassen Sie uns mehr Freiheit (Beifall bei der CDU/CSU)
wagen. – Steuern erhöhen ist nicht „mehr Freiheit wa-
gen“, Frau Merkel. Steuererhöhungen bedeuten ein wei- Wir können nicht weiterhin planlos Lasten in die Zu-
teres Stück Unfreiheit für die Menschen in unserem kunft verschieben und damit gegen die Generationenge-
Lande. rechtigkeit handeln. Wir müssen dafür sorgen, dass auch
die künftigen Generationen Gestaltungsmöglichkeiten in
(Beifall bei der FDP) diesem Lande haben. Deshalb beginnt die große Koali-
tion damit, den Bundeshaushalt wieder auf ein sicheres
Mancher hat erkennen müssen, dass der Tag der Bundes- Fundament zu stellen. Wir nehmen uns ausdrücklich
tagswahl für ihn zum Zahltag geworden ist. nicht nur den Bundeshaushalt vor, sondern wir kümmern
uns in unserem Sanierungskonzept auch um den födera-
Der Sozialdemokrat Hans Apel, einer der Vorgänger len Ansatz. Auch für die Haushalte der Länder und
von Minister Steinbrück im Amt des Bundesfinanz- Kommunen wollen wir einen Beitrag zur Konsolidie-
ministers, hat einmal gesagt, wichtig wäre es, den Sach- rung leisten.
verstand zu mobilisieren, die ideologischen Scheuklap-
pen abzulegen, hart zu arbeiten. Das ist auch der Rat der (Beifall bei der CDU/CSU)
Freien Demokraten an diese Bundesregierung. Der Unser Ziel ist: Wir wollen einen ausgeglichenen Bun-
Bundeshaushalt 2006, den Sie uns als Entwurf vorgelegt deshaushalt. Diesen halten wir als Union für richtig. Un-
haben, spiegelt eine solche Anstrengung leider nicht wi- ser Ziel können wir aber in dieser Wahlperiode nicht
der. Es wäre gut, wenn Sie den Rat von Hans Apel, ei- mehr erreichen. Wir können es deshalb nicht erreichen,
nem Ihrer Vorgänger, beherzigen würden. weil die Ausgangssituation zu weit von diesem Ziel ent-
Herzlichen Dank für Ihre Geduld. fernt ist. Wir können aber beginnen und die Vorausset-
zungen dafür schaffen, das Ziel eines ausgeglichenen
(Beifall bei der FDP) Haushalts in der nächsten Wahlperiode zu erreichen.
2112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Michael Meister


(A) (Beifall bei der CDU/CSU) noch nicht gegeben hat. Wir wollen innerhalb von (C)
14 Monaten 30 Milliarden Euro im Bundeshaushalt be-
Der Konsolidierungsbedarf ist enorm: Über wegen. Manche schlagen vor, die Eigenheimzulage zu
50 Milliarden Euro an Ausgaben sind nicht durch regel- streichen, weil man damit sechs bis sieben Milliarden
mäßige Einnahmen gedeckt. Mehr als jeder fünfte Euro, Euro bewegen könne. Ich möchte darauf hinweisen, dass
den wir ausgeben, ist nicht durch regelmäßige Einnah- die Streichung der Eigenheimzulage im ersten Jahr ge-
men gedeckt. Wenn man von diesem gigantischen Fehl- rade einmal 100 Millionen Euro einbringt.
betrag, der sowohl außerhalb als auch innerhalb dieses
Hauses offenkundig nicht wahrgenommen wird, aus- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Dorthin
geht, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir schauen!)
sparen müssen. Sparen heißt: Wir können uns nicht mehr
Ich bitte darum, an dieser Stelle eine realistische Debatte
alles Wünschenswerte leisten. Wir müssen also Prioritä-
zu führen.
ten setzen und klare Aufgaben und Ziele definieren. Es
kann nicht nach der altbekannten Methode „Es muss et- (Beifall bei der CDU/CSU)
was geschehen, aber es darf sich nichts ändern“ gehen.
Herr Westerwelle, ich bedanke mich für Ihre Inter-
Vielmehr werden auch die Bürger in unserem Land das
vention, aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: Ich
Sparen und Konsolidieren spüren. Ich glaube aber, ange-
habe mit Blick auf die notwendigen Steuererhöhungen,
sichts unserer Verantwortung für die künftigen Genera-
die wir beschließen müssen, weil wir das Problem nicht
tionen ist das, was wir tun, nicht unsozial. Vielmehr han-
allein auf der Ausgabenseite lösen können, was uns na-
deln wir in höchstem Maße sozial.
türlich am liebsten wäre, im November, als wir über die
(Beifall bei der CDU/CSU) Regierungserklärung der Bundeskanzlerin debattierten,
Ihre Fraktion gebeten, uns eine Alternative zu benennen,
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Die wie wir das Finanzvolumen, das über die Mehrwert- und
Strukturdebatte, die Herr Bundesfinanzminister Versicherungsteuer finanziert werden soll, kompensieren
Steinbrück zur Frage der Familienförderung begonnen sollen. Ich darf Ihnen berichten, dass ich auf diesen Al-
hat, ist unter dem Aspekt „Wie setzen wir vernünftige ternativvorschlag immer noch warte.
neue Prioritäten in unserem Land?“ eine richtige De-
batte. Wir sollten etwas seriöser werden: Wenn man das
Ziel der Haushaltskonsolidierung verfolgt, darf man
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht nur sagen, was man nicht will, sondern muss auch
Wir brauchen solche Strukturdebatten und dürfen sie konkrete und konstruktive Vorschläge machen und sa-
nicht, bevor sie überhaupt begonnen haben, zerschlagen. gen, welche Alternative man vorschlägt. Darum habe ich
(B) im November gebeten. Es wäre schön, wenn meiner (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bitte im Rahmen dieser Haushaltsdebatte nachgekom-
neten der SPD) men würde.
Diese Diskussion muss ergebnisoffen geführt werden; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
denn sonst fordert jeder nur weitere Ausgaben und über- neten der SPD)
lässt es den Finanzpolitikern, zu prüfen, wie durch Ein-
nahmesteigerungen die neuen Ausgaben finanziert wer- Im Rahmen der Debatte über den Entwurf dieses
den können. Das ist der falsche Weg, deshalb brauchen Haushaltsgesetzes werden wir nicht nur über Ausga-
wir Strukturdebatten in diesem Land. Wir alle sollten bensenkung, Korrektur vorhandener Steuergesetze und
uns konstruktiv mit den Argumenten in diesen Debatten Mehrwertsteuererhöhung diskutieren, sondern auch über
auseinander setzen. die Senkung der Lohnnebenkosten.

Ich möchte etwas zur Zeitschiene sagen. Es wird (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nicht möglich sein, eine Lücke in der Größenordnung Und bei der Renten- und Krankenversiche-
von 50 Milliarden Euro innerhalb kürzester Zeit zu rung? Die steigen!)
schließen. Wir werden daran in dieser und auch in der Wir schlagen vor, den Beitrag zur Arbeitslosenversiche-
nächsten Wahlperiode arbeiten müssen. Jeder, der be- rung zum 1. Januar 2007 um 2 Prozentpunkte zu senken.
hauptet, man könne die Lücke in kürzerer Zeit schließen, Ein Teil davon wird über die Mehrwertsteuererhöhung
ist kein Realist, sondern Populist. Herr Steinbrück hat finanziert werden. Wir senken die Lohnnebenkosten
vorhin zu Recht vorgetragen, dass 85 Prozent der Ausga- – das sage ich ausdrücklich –, um für bessere Beschäfti-
ben des Bundeshaushaltes durch Verbindlichkeiten wie gungschancen in Deutschland zu sorgen. Wir dürfen
Zinsausgaben und Ähnliches fixiert sind. Wer meint, er aber nicht bei einer reinen Umfinanzierung stehen blei-
könnte kurzfristig daran etwas verändern, ist nicht von ben, sondern müssen auch in den Sozialsystemen Struk-
dieser Welt. turreformen durchführen. Das gilt für den Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- markt. Wir haben die Bundesagentur für Arbeit
neten der SPD) – außerhalb der Beratungen über dieses Haushaltsgesetz –
gebeten, dafür zu sorgen, dass dort Strukturreformen
Wir haben uns deshalb vorgenommen, kassenwirk- durchgeführt werden. Ich glaube, dass durch die Umstel-
sam für das Jahr 2007 30 Milliarden Euro zu bewegen. lung von Zuschuss auf Darlehen der für die Durchfüh-
Ich möchte klar und deutlich sagen: Das ist eine An- rung von Reformen notwendige Druck erzeugt wird. Ich
strengung, wie es sie in der Geschichte dieser Republik glaube, es ist notwendig, nicht nur umzufinanzieren,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2113
Dr. Michael Meister
(A) sondern die Senkung von Lohnnebenkosten mit Struk- Damit beenden wir die Verunsicherung. Damit schaffen (C)
turveränderungen zu verbinden, damit das Ganze nach- wir Vertrauen. Damit sorgen wir dafür, dass in unserem
haltig ist. Land wieder konsumiert und investiert wird.
Wenn wir die strukturelle Lücke des Bundeshaushal- (Beifall bei der CDU/CSU)
tes bis zum Ende dieser Wahlperiode halbieren – das ha- Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir
ben wir vorgeschlagen –, dann wird das auch Einfluss eine offene Volkswirtschaft in einer globalisierten Welt
auf die Staatsquote haben. Wir werden die Staatsquote sind. Es gibt in dieser Welt keine offene Volkswirtschaft,
in dieser Wahlperiode auf ein Niveau von etwa die sich durch eine steigende Staatsverschuldung saniert
43,5 Prozent zurückführen. Auf diesem Niveau befand hätte. Das Gegenteil ist richtig: Überall dort, wo Haus-
sie sich vor der deutschen Einheit. Das heißt, wir landen halte saniert wurden, sind die Beschäftigung und das
auf einem Niveau, auf dem sich die Staatsquote vor der Wachstum gestiegen. In offenen Volkswirtschaften fließt
Wiedervereinigung befand. Das Gleiche haben wir in jeder Impuls seitens der öffentlichen Kassen in der Regel
den 80er-Jahren schon einmal getan. Damals ging damit über die Grenze ab. Dann steigt im Inland die Staatsver-
ein Aufwuchs an Beschäftigung einher: Es wurden schuldung, aber Sie haben nicht von den Wachstums-
2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse geschaf- und Beschäftigungseffekten profitiert. Deshalb kann
fen. Ich glaube, dass diese Politik in die richtige Rich- man davon nur dringend abraten.
tung führt. Wir sollten zu der Finanzpolitik zurückkeh-
ren, die wir vor der deutschen Einheit gemacht haben. Ich will etwas zu unserem Impulsprogramm sagen.
Diesen Weg müssen wir gehen, weil wir dort wieder hin- Es wird oft so getan, als sei es ein rein keynesianisch ge-
wollen. prägtes Programm.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das würden
neten der SPD) wir nie machen!)
Ich will einmal alle Kollegen hier fragen, die das Pro-
Heute Morgen wurden behauptet, wir hätten im Bun-
gramm unter diesem Blickwinkel kritisch sehen: Sind
deshaushalt nur ein Einnahmeproblem. Einige Geister,
Sie denn der Meinung, dass mit Blick auf das 3-Prozent-
die offenbar nur kurzfristig denken, glauben, man müsse
Ziel von Lissabon eine Erhöhung der Ausgaben für For-
nur die Belastung des Einzelnen erhöhen, um dieses Pro-
schung und Entwicklung der falsche Weg ist? Wer
blem zu beheben. Ich glaube, wir müssen auch über die
glaubt denn, dass uns das schadet? Ich persönlich bin da-
Zahlerbasis, über diejenigen, die überhaupt Beiträge in
von überzeugt, dass dies unser Wachstumspotenzial als
die Steuer- und Sozialkassen zahlen, nachdenken. Des- Volkswirtschaft massiv verbessert,
(B) wegen sage ich: Wir haben sehr wohl ein Einnahmepro- (D)
blem; wir müssen das Einnahmeproblem aber lösen, in- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
dem wir für mehr Wachstum und Beschäftigung und
damit für mehr Steuer- und Beitragszahler sorgen. weil wir dann in vielen Bereichen wieder auf einem ho-
hen Niveau wettbewerbsfähig werden. Deshalb müssen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir dafür Geld in die Hand nehmen und uns an dieser
neten der SPD) Stelle stark machen.

Haushaltskonsolidierung und Förderung von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wachstum und Beschäftigung – das sage ich ausdrück- neten der SPD)
lich – schließen sich nicht aus, sondern sind zwei Seiten Wer von Ihnen will denn behaupten, dass wir über
derselben Medaille. Deshalb leisten wir einen wesentli- bessere Mobilitätsmöglichkeiten in unserem Land dafür
chen Beitrag zur Förderung des Wirtschaftswachstums, sorgen, dass unsere Wirtschaft weniger wächst? Das Ge-
wenn wir dafür sorgen, dass die Haushaltskonsolidie- genteil ist doch der Fall: Mehr Mobilität bedeutet bes-
rung vorankommt. Jedem Investor ist doch klar, dass er sere Wachstumsbedingungen. Deshalb ist es richtig, dass
als Bürger dieses Landes neue Staatsschulden durch in wir mehr tun, um die Mobilitätsbedingungen zu verbes-
der Zukunft höhere Abgaben oder Steuern bedienen sern, und für Verkehrsinfrastrukturinvestitionen im
muss. Inland mehr Geld bereitstellen. Das hat nichts mit Kon-
junktur zu tun. Das sind Strukturveränderungen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie machen mehr Schulden!) Das nächste Beispiel, das ich anführen möchte, ist der
Privathaushalt als Arbeitgeber. Wir überlegen, wo in
Wir tun etwas für das Konsumklima, wenn wir die Men- unserer Volkswirtschaft neue und mehr legale Arbeits-
schen nicht im Ungewissen darüber lassen, wann und plätze entstehen können. Dies ist ein Beitrag, um mehr
wie sie diese Staatsschulden bedienen müssen, sondern Wachstum und Beschäftigung in diesem Land zu för-
ihnen konkret einen Weg aufzeigen, wie wir diese dern. Ich glaube, deshalb muss man dieses Programm
Staatsschulden begleichen können. aus einem etwas anderen Blickwinkel sehen und darf
nicht einfach sagen: Hier werden ein paar Milliarden
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Euro auf den Markt geworfen.
Sie machen 7 Milliarden mehr Staatsschulden
als letztes Jahr! Dummes Zeug, was Sie da re- Ich möchte die Behauptung aufgreifen, hier würde
den!) heute ein verfassungswidriger Haushalt vorgelegt. Ich
2114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Michael Meister


(A) möchte ausdrücklich sagen: Ich halte diesen Haushalt Ich hoffe, dass wir beim Bürokratieabbau, bei der Be- (C)
nicht für verfassungswidrig. schleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfah-
ren – dafür müssen wir kein Geld in die Hand nehmen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sondern Strukturen verändern, damit mehr Wachstum
der SPD)
und Beschäftigung entstehen –, vorankommen und bes-
Aus unserer Sicht wird Art. 115 Grundgesetz beachtet. sere Rahmenbedingungen schaffen.
Was wir nicht beachten, ist die Regelgrenze, dass die In-
vestitionssumme höher sein muss als die Nettoneuver- Ich hoffe, dass wir hinsichtlich der Lohnnebenkos-
schuldung. ten nicht bei der Absenkung des Beitrages zur Arbeitslo-
senversicherung um 2 Prozentpunkte stehen bleiben,
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist sondern dass wir es tatsächlich schaffen, in diesen Tagen
doch das Kriterium!) eine Debatte über unser Gesundheitswesen zu begin-
– Ja, das ist Teil des Kriteriums. Aber in Art. 115 steht nen, die dazu führt, dass wir zu einer Entkopplung der
ein bisschen mehr. Ausgabenseite des Gesundheitswesens von den Lohnne-
benkosten kommen, damit wir auf der einen Seite die
Jetzt kommen wir zur Frage, was die Alternativen positiven Effekte der gestiegenen Nachfrage nach Ge-
hierzu wären. Die Alternative eins wäre gewesen, dass sundheit für mehr Wachstum und Beschäftigung nutzen
wir im Bundeshaushalt Einsparungen in Höhe von mehr und auf der anderen Seite den Negativeffekt steigender
als 30 Milliarden Euro vornehmen. Jetzt überlegen Sie Lohnnebenkosten eingrenzen können. Das ist die zen-
einmal: Wenn Sie 30 Milliarden Euro von Novem- trale Herausforderung, vor der wir stehen und der sich
ber 2005 bis Januar 2006 kassenwirksam bewegen wür-
auch die Unionsfraktion stellen will.
den, dann würden Sie in der Volkswirtschaft eine
Schockwelle auslösen, die zu Nullwachstum und Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schäftigungsrückgang führen würde. neten der SPD)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den Baustein
Deshalb wäre es ein Irrweg, dies zu tun. der Unternehmensteuer betonen. Wir müssen unsere Zu-
sage einhalten, dass in Deutschland am 1. Januar 2008
Die zweite Alternative wäre, in diesem Volumen Bun-
eine umfassende, große Unternehmensteuerreform in
desvermögen kurzfristig zu veräußern. Dann wäre es
Kraft treten wird. Das betrifft eine ganze Reihe von Fra-
aber nicht werthaltig und führte dazu, dass wir die Zu-
kunft der Bundesrepublik Deutschland aus kurzfristigen gen: Wird es uns gelingen, ein modernes, zukunftsfähi-
ges Steuerbilanzrecht für Unternehmen zu schaffen und
(B) Erwägungen auf den Markt werfen. ihnen international wettbewerbsfähige Steuersätze zu (D)
Wir sind der Meinung: Beide Wege sind falsch. Das bieten? Behandeln wir Familienunternehmen, Personen-
Vermögen brauchen wir noch für die Zukunft und eine gesellschaften und Kapitalgesellschaften zusammen, da-
Schockwelle können wir uns in der Lage, in der wir uns mit es ein Entwurf aus einem Guss wird? Schaffen wir
befinden, nicht leisten. Deshalb ist es sehr wohl begrün- es, das Vertrauen der kommunalen Mandatsträger zu ge-
det, zu sagen, dass die Ausnahmeregel des Art. 115 an winnen, um auch mit Blick auf eine Reform der kommu-
dieser Stelle greift. Wir sagen aber klar und deutlich: nalen Finanzen einen Schritt nach vorne zu machen,
2006 machen wir zum letzten Mal von der Ausnahmere- sowohl im Interesse der Zukunftssicherung der Einnah-
gel Gebrauch. Ab 2007 werden wir die Regelgrenze des meseite der Kommunen als auch im Interesse der Wett-
Art. 115 – Neuverschuldung niedriger als Investitions- bewerbsfähigkeit unseres Standortes, also neuer Investi-
summe – einhalten. Ich bitte darum, etwas ehrlicher zu tionen und Unternehmensansiedlungen?
sein. Auch hier geht es ein Stück weit um Vertrauen,
Glaubwürdigkeit und nachhaltige Finanzpolitik. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich glaube, wir sind mit dem Dreiklang, den wir ver-
neten der SPD) folgen, auf einem richtigen Weg: Wir wollen den Bun-
Wir werden nicht nur mit dem Sparen im Haushalt deshaushalt konsolidieren, um wieder Vertrauen und
bzw. seiner Konsolidierung und dem Impulsprogramm, Verlässlichkeit zu schaffen. Wir wollen Impulse setzen,
das für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgt, voran- um unserer Volkswirtschaft zu mehr Wachstum zu ver-
kommen, sondern wir müssen auch einen dritten Schritt helfen. Und wir wollen strukturelle Korrekturen vorneh-
gehen. Wir brauchen eine durchgreifende Veränderung men, damit unsere Volkswirtschaft auch langfristig auf
unseres Staates, um die eigentlichen Strukturprobleme einen höheren Wachstumspfad einschwenkt. Unser Ziel
– auch das ist heute Morgen schon angesprochen worden – ist dabei nicht, den Menschen in unserem Land wehzu-
anzugehen. Es geht nicht um reine Konjunkturfragen. tun oder ihnen etwas wegzunehmen, sondern dafür zu
Der überwiegende Teil unserer Probleme ist strukturell sorgen, dass es ihnen wieder besser geht. Wir wollen,
bedingt. Deshalb hoffe ich, dass die Debatte über die dass unser Wohlstand langfristig gesichert und in
Modernisierung unserer bundesstaatlichen Ordnung, die Deutschland wieder ein höheres Wirtschaftswachstum
wir vor wenigen Wochen begonnen haben, zu einem er- zu verzeichnen ist. Dazu wird es notwendig sein, die Ar-
folgreichen Ergebnis geführt wird, weil dies zeigen wird, beitslosenzahl signifikant zu senken und so einen Bei-
dass Politik in Deutschland in der Lage ist, notwendige trag dazu zu leisten, dass unsere Sozialsysteme auch
Strukturveränderungen durchzuführen. langfristig auf einer sicheren, tragfähigen Basis stehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2115
Dr. Michael Meister
(A) Ich weiß, dass die Sanierung des Bundeshaushalts in kasse einzahlen. So viel zu den Strukturreformen. Sie (C)
diesem Zusammenhang ein wichtiger Eckpfeiler ist. Ich gehen alle zulasten der Menschen in unserem Lande.
wünsche mir, dass sich alle konstruktiv in die jetzt anste-
(Beifall bei der LINKEN)
hende Debatte einbringen. Neinsager und Bedenkenträ-
ger gibt es in unserem Land genug. Jetzt brauchen wir Auch von einer Haushaltskonsolidierung sind wir
Menschen, die neue Vorschläge und neue Ideen ent- meilenweit entfernt. Im Gegenteil – es ist schon ange-
wickeln. sprochen worden –, der Haushalt ist verfassungswidrig,
weil die Regierung zu wenig investiert und den Staat
Vielen Dank.
durch die gewaltigen Steuergeschenke immer weiter in
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Verschuldung treibt. Die alte und die neue Regierung
neten der SPD) haben bewiesen, dass sie mit dem Geld der Steuerzahler
nicht ordentlich umgehen können und wollen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine [CDU/CSU]: Aber Sie können das!)
Lötzsch, Fraktion Die Linke.
– Selbstverständlich. – Zum Dreiklang sollten auch
(Beifall bei der LINKEN) Wachstumsimpulse gehören. Bei dieser niedrigen Inves-
titionsrate ist von Wachstumsimpulsen aber nichts zu
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): spüren.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten Meine Damen und Herren, sehr geehrte Gäste,
Damen und Herren! Jedes Jahr wird das Unwort des Jah-
res gekürt. Heute sollten wir die Lüge des Jahres küren. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir alle sind
Sie lautet: Es gibt nichts mehr zu verteilen. Es gilt noch Parlamentarier und keine Gäste!)
immer der Satz: Die Lüge muss nur groß genug sein, da-
wir als Linke sagen ehrlich, dass auch wir für Umvertei-
mit sie geglaubt wird. Die ehemalige rot-grüne Regie-
lung sind. Der Unterschied zu allen anderen Parteien be-
rung hat zusammen mit CDU und CSU die größte Um-
steht nur darin, dass wir die Richtung der Umverteilung
verteilungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik
um 180 Grad ändern wollen. Das ist nötig in diesem
eingeleitet. Mit der Mehrwertsteuererhöhung im Jahre
Land.
2007 ist der nächste Umverteilungscoup in Planung.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Das nehmen uns die Politiker der anderen Parteien und
Die große Steuerreform entlastet die Unternehmen
(B) ihre bestellten Professoren und Gutachter natürlich übel. (D)
und vor allem die Besserverdienenden um jährlich
Wir als Linke wollen ein Zukunftsinvestitionsprogramm,
52 Milliarden Euro. Jährlich werden 52 Milliarden Euro
das diesen Namen wirklich verdient und durch das schon
von unten nach oben verteilt. Das sind 52 Milliarden
heute Arbeitsplätze geschaffen werden.
Euro, die nicht zur Verfügung stehen für neue Kinder-
gärten, für modernere Schulen, für bessere Universitäten Damit wirklich markante Wachstumsimpulse gesetzt
und neue Arbeitsplätze. Damit können wir uns nicht ab- werden können, wollen wir die Investitionsausgaben
finden. verdoppeln. Die Bundesregierung will lediglich 25 Mil-
liarden Euro investieren. Das ist viel zu wenig.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Exfinanzminister Eichel sprach gern von einem Drei-
klang von Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung Wir wollen im gleichen Zeitraum ein Zukunftspro-
und Wachstumsimpulsen. Wie wir sehen, gibt es diesen gramm Jugend und Innovation in Höhe von 50 Milliar-
Dreiklang nicht. Im Augenblick klingelt es nur in den den Euro auflegen. Das ist immer noch weniger als die
Kassen von Herrn Ackermann und in den Kassen der jährliche Steuerentlastung von Unternehmen und Bes-
Vorstände der DAX-Unternehmen. Das ist wirklich un- serverdienenden. Ziehen Sie diesen Vergleich bitte
anständig. selbst.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Die Arbeitsmarktreformen von Herrn Hartz haben Für die Zukunft unseres Landes wollen wir – das ist
keine Arbeitsplätze geschaffen, die Verantwortlichen nötig – mehr Mittel für die Bildung, nämlich
wurden von den Wählern abgewählt. Die Gesundheitsre- 2 Milliarden Euro, wir wollen Mittel für unentgeltliche
form von Frau Schmidt führt nicht zu einer besseren Ge- Kindergärten und wir brauchen eine kommunale Investi-
sundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger, son- tionspauschale in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, damit
dern treibt die Ärzte auf die Straße und sogar außer die Kommunen wieder handlungsfähig werden. Das sind
Landes. unsere drei großen Ausgabeposten.
(Beifall bei der LINKEN) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Jetzt gehen wir zu den Einnahmen!)
Durch die Rentenkürzungen kommt es nicht zu mehr Si-
cherheit, sondern zur Enteignung der Aufbaugeneration Diese Investitionen werden in Zukunft mehr Rendite für
und der Menschen, die heute noch fleißig in die Renten- die Menschen in diesem Land abwerfen als jede DAX-
2116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Aktie. Darauf können Sie heute schon Wetten abschlie- Die große Koalition ist die Fortsetzung der rot-grünen (C)
ßen. Umverteilungspolitik mit den gleichen Mitteln und den
gleichen Resultaten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die Linke will Hartz IV überwinden. Dazu haben wir Jetzt aber! Dummes Zeug!)
Anträge eingebracht und Finanzierungsvorschläge auf
den Tisch gelegt. Hartz IV ist eine Fehlkonstruktion. Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Frau
Dieses Gesetz führt zu Enteignung, Demotivation und Merkel aus ihrer Haushaltsrede im Jahr 2005:
zur Drangsalierung von Arbeitslosen, ohne dass neue Die Menschen in diesem Land sind auch ärmer ge-
Arbeitsplätze geschaffen werden. Dem stellen wir uns worden: ärmer an Hoffnung in eine Politik aus ei-
entgegen. nem Guss durch diese Bundesregierung und – das
(Beifall bei der LINKEN) ist vielleicht das Bedrückendste – ärmer an Ver-
trauen in die Gestaltungskraft der Politik insgesamt.
Den Haushaltsentwurf, der von Herrn Steinbrück vor-
gelegt und von dem abgewählten Herrn Eichel erarbeitet Frau Merkel, seit Sie Kanzlerin sind, ist dieser Satz
wurde, lehnen wir ab: aktueller denn je.
Vielen Dank.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Über-
raschung!) (Beifall bei der LINKEN)
Erstens. Durch diesen Haushalt werden keine ausrei-
chenden Wachstumsimpulse gesetzt und es wird zu we- Präsident Dr. Norbert Lammert:
nig Geld in die Zukunft investiert. Die Linke will die In- Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß,
vestitionen verdoppeln. SPD-Fraktion.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Die so genannten Arbeitsmarktreformen Joachim Poß (SPD):


verschlingen sehr viel Geld, ohne dass durch sie neue Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kolle-
Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Linke will gen! Lieber Herr Präsident Lammert, Sie begrüße ich
Hartz IV überwinden und nicht durch schlechte Refor- heute Morgen besonders freundlich, weil ich finde, dass
men verschlimmbessern. Sie Opfer einer üblen Kampagne der Zeitung mit den
(B) (Beifall bei der LINKEN) großen Buchstaben sind. (D)
Drittens. Der Rüstungshaushalt ist der drittgrößte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Ausgabeposten dieser Regierung. Das verkennt die Be- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
drohungslage. Arbeitsplätze in der Bundesrepublik NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland werden nicht durch die Taliban in Afgha- Parteiübergreifend sind wir der Auffassung, dass sich die
nistan, sondern durch eine falsche Wirtschafts- und Politik nicht alles gefallen lassen darf, wenn so gemobbt
Finanzpolitik gefährdet. Sie gehört geändert. wird wie hier im Einzelfall geschehen. Das ist auch nicht
der erste Fall.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Meine Damen und Herren, die finanzpolitischen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
Handlungsspielräume der Regierung sind unter anderem NISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg.
deshalb so eng, weil die alte wie die neue Regierung die Oskar Lafontaine [DIE LINKE])
Sozialsysteme mit ihren Reformen zerstört haben bzw.
zerstören. Jetzt wundern sie sich, dass sie gigantische Aber das ist nicht das Thema unserer heutigen De-
Beträge aus dem Bundeshaushalt in diese Systeme pum- batte. Thema ist der Entwurf des Bundeshaus-
pen müssen. haltes 2006. Die Rede von Peer Steinbrück hat deutlich
gemacht, dass die Leitlinie bei der Aufstellung des
Ein wirkliches Desaster in diesem Zusammenhang ist Bundeshaushaltes 2006 die Frage war: Was ist in der ak-
die systematische Zerlegung von versicherungspflichti- tuellen wirtschaftlichen Situation Deutschlands ökono-
gen Arbeitsplätzen in Minijobs. misch notwendig und vernünftig
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Herr Steinbrück, Sie haben völlig zu Recht davon ge- CDU/CSU)
sprochen, dass wir versicherungspflichtige Arbeitsplätze und was sollte in dieser Lage eher unterbleiben? Ich
brauchen, aber Sie haben den Unternehmen das Tran- habe ihn so verstanden, dass sich vieles um diese Kern-
chierbesteck doch selbst in die Hand gegeben, um hoch- frage gerankt hat.
wertige Arbeitsplätze in Mc-Jobs zu zerlegen. Das ist
der wesentliche Grund für die riesigen Löcher in der Bereits in ihrem Wahlmanifest zur Bundestags-
Rentenkasse. wahl 2005 hat die SPD erhebliche staatliche Impulse zur
Unterstützung der wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung
(Beifall bei der LINKEN) gefordert. Die Zustimmung des neuen Koalitionspart-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2117
Joachim Poß
(A) ners CDU/CSU in den Koalitionsverhandlungen zu die- Zur Ehrlichkeit gehört doch auch, dass plötzlich in (C)
ser Politik hat zu dem Impulsprogramm für Wachs- der Öffentlichkeit manches als Gold empfunden wird,
tum und Beschäftigung in Höhe von 25 Milliar- das früher eher als schlecht galt. Die von Herrn
den Euro bzw. – einschließlich der Länder – 37 Milliar- Steinbrück angesprochenen makroökonomischen Daten,
den Euro geführt. Die Finanzierung dieses Programms die in der Standortdebatte in der Bundesrepublik
wird, beginnend mit dem Bundeshaushalt 2006, in den Deutschland eine Rolle spielen, haben sich schließlich
Haushalten der nächsten Jahre sichergestellt. nicht über Nacht geändert. Der Standort – das zeigt auch
der Jahreswirtschaftsbericht – wird jetzt viel freundli-
Die neue Koalition wird zur Belebung der wirtschaft- cher gesehen.
lichen Entwicklung das tun, was möglich und sinnvoll
ist und was ein Staat machen kann, nämlich einen Bei- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erst, seit
trag leisten; mehr nicht. Im Gegensatz zu meiner Vorred- Angela Merkel Kanzlerin ist!)
nerin, die den Menschen in diesem Lande den Eindruck
vermitteln will, als könne der Staat einen Hebel umlegen Ich glaube, auch das sollte nicht ausgeklammert werden.
und dann seien über Nacht alle Probleme aus der Welt
Von einem Wendepunkt in der Finanzpolitik, Kollege
geschaffen, erheben wir nicht diesen dogmatischen An-
Meister, den Sie in Ihrer koalitionsfreundlichen Bemer-
spruch. So etwas ist Volksverdummung; das muss man
kung angesprochen haben, kann jedenfalls nicht die
einmal in aller Deutlichkeit sagen.
Rede sein. Das will ich für die SPD deutlich sagen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) (Beifall bei der SPD)

Die SPD als Partei der Aufklärung will diesen Zustand Die Vorstellung, die auch von der Bundesbank, von
der Verdummung überwinden und in diesem Parlament der FDP und heute Morgen von dem Kollegen Kuhn in
dazu einen Beitrag leisten. n-tv genährt wurde – ich will nicht auf Einzelvorschläge
eingehen, Kollege Kuhn, aber vieles, was Sie in n-tv an-
(Beifall bei der SPD) gesprochen haben, waren Luftbuchungen –, man könne
Mit dem Koalitionspartner konnte auch Einigung da- in 2006 zusätzliche Einsparungen in Höhe von 6 Milliar-
rüber erzielt werden, dass es ökonomisch notwendig und den bis 8 Milliarden oder wie hoch auch immer erzielen,
damit vernünftig ist, im Haushaltsjahr 2006 auf weiter ohne die beginnende wirtschaftliche Aufwärtsbewegung
gehende, harte Konsolidierungsschritte zu verzichten. wieder zu bremsen, ist irrig. Deswegen haben wir uns
Die Gründe dafür hat Peer Steinbrück in seiner Rede er- auf das von mir erwähnte Konzept verständigt.
läutert. (Beifall bei der SPD)
(B) (D)
Nun wissen wir, dass dies einer der Punkte war, die
auch in den Koalitionsverhandlungen eine große Rolle Natürlich wäre es gut – das ist doch unbestritten –,
gespielt haben und durchaus streitig waren. Wir sind zu wenn es uns schon in diesem Jahr gelingen würde, die
einem zufrieden stellenden Ergebnis gekommen, Kol- Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
lege Meister. Deswegen sage ich zu Ihrer Formulierung, zu unterschreiten. Aber das wäre – wie der Finanzminis-
wir hätten es bei diesem Haushaltsentwurf mit einem ter zu Recht festgestellt hat – nur bei nachhaltigen Ein-
Wendepunkt in der Finanzpolitik zu tun: Das kann nicht schnitten in die sozialen Transferleistungen wie der
gemeinsame Grundlage der Betrachtung sein. Rente oder durch ein Vorziehen der Mehrwertsteuerer-
höhung möglich. Letzteres wäre rein rechnerisch eine
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Alternative, aber angesichts der teilweise sicherlich be-
rechtigten Kritik an dieser Maßnahme will das wohl nie-
Wir Sozialdemokraten sehen uns in der Kontinuität mand in diesem Lande. Beides macht ökonomisch kei-
der Finanzpolitik, die wir in den letzten sieben Jahren zu nen Sinn; denn unser Hauptproblem ist bekanntlich
verantworten hatten. Peer Steinbrück hat einen Bericht immer noch die Binnenkonjunktur, die sich in diesem
des „Handelsblatts“ zitiert, wonach die Bundesbank Jahr stabilisieren soll.
Herrn Eichel Recht gibt. Nun bin ich weiß Gott nicht an
jeder Stelle einig mit der Bundesbank; Der harte Winter hat die Lage nicht vereinfacht. Wenn
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deswegen jetzt die Zahlen für das erste Quartal vorgelegt werden,
wäre ich vorsichtig, Herr Kollege!) müssen wir das realistisch sehen.

aber wenn diese erklärt, das strukturelle Defizit im (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bundeshaushalt habe einen nachhaltigen Einbruch bei Jetzt ist Frühling!)
den Einnahmen des Bundes als Ursache, so ist das im – Wir hatten aber einen harten Winter, der sich nicht nur
Wesentlichen das, was wir immer gesagt haben. Abgese- auf den Baubereich, Kollege Kuhn, sondern auch auf
hen davon kritisiert die Bundesbank die große Koalition vieles drumherum auswirkt.
durchaus immer wieder. Insofern ist sie schon zuverläs-
sig; da können wir ganz ohne Sorge sein. Die Binnennachfrage muss gestärkt werden, anstatt
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) dieses Ziel durch staatlich verordneten Kaufkraftentzug
zu konterkarieren. Das wäre der falsche Weg. Deswegen
Ich wollte deutlich machen, dass man sich nicht ir- suchen wir sozusagen den Weg der ökonomischen Ver-
gendwelchen Trugschlüssen hingeben soll. nunft in der Mitte.
2118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Joachim Poß
(A) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD) (C)
Das ist doch Volksverdummung!)
Mit dieser Strategie, diesem Policy Mix, erreichen wir
Dabei ist der Zusammenhang zwischen diesem Haus- einen bemerkenswerten Erfolg; denn auf absehbare Zeit
haltsjahr 2006 und den Folgejahren – insbesondere dem wird der Bund weiterhin enorme Beträge insbesondere
Jahr 2007 – ganz klar. Wir brauchen das Jahr 2006, um für die Alterssicherung, die europäische Integration und
der wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung in Deutschland die Überwindung der Folgen der deutschen Teilung be-
Stärke und Stabilität zu verschaffen. Erst dann wird die reitstellen müssen und auch bereitstellen wollen. Das ist
Mehrwertsteuererhöhung ökonomisch verkraftbar sein. hoffentlich unser gemeinsamer Wille in diesem Hause.
Der vorliegende Haushaltsplanentwurf bietet genau Wer jetzt meint, die Verschuldung des Bundes müsse
die Haushaltspolitik, die zu der derzeitigen wirtschaftli- – und vor allen Dingen könne – in wenigen Jahren auf
chen Situation Deutschlands passt. Trotzdem wahrt die- null zurückgeführt werden, der verkennt die realen An-
ser Haushalt Ausgabendisziplin. Denn angesichts einer forderungen oder betreibt die Durchsetzung eines ande-
Steigerung der Gesamtausgaben von 0,7 Prozent wird ren Gesellschaftsmodells.
doch niemand infrage stellen, dass wir restriktiv vorge-
hen – so restriktiv, wie es die aktuelle ökonomische Lage (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gerade noch zulässt. Der Kollege Meister hat es etwas
anders formuliert. Wer die solidarischen Sicherungssysteme in der Konse-
quenz kaputt machen will und so den Staat auf einen rei-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Im Zweifel nen Nachtwächterstaat reduzieren möchte, der mag ei-
hat Herr Meister Recht!) nen ausgeglichenen Haushalt für kurzfristig erreichbar
– In dem Fall wollte ich ihm gar nicht widersprechen, halten. Aber das ist nicht die Politik der SPD und, so
Herr Kampeter. denke ich, auch nicht die der großen Koalition.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich wollte nur Der von der großen Koalition bereits seit dem letzten
richtig stellen, dass Herr Meister Recht hat!) Jahr eingeschlagene haushaltspolitische Weg sorgt nicht
nur dafür, dass die Regelgrenze des Art. 115 des Grund-
Ich will es so ausdrücken: Wir stehen vor einer kompli- gesetzes ab dem Jahre 2007 erreicht wird. Ab dem Jahre
zierten Dreifachaufgabe. Wir müssen die Stärkung der 2007 werden wir vielmehr auch die Vorgaben des
Binnenkonjunktur mit der Finanzierung von Zukunfts- Maastrichtvertrages einhalten. Daher gibt es keinen
aufgaben und einer glaubwürdigen Haushaltskonsolidie- Grund, das Haushaltsdefizit 2006 als zu hoch zu kritisie-
rung verbinden, und zwar alles gleichzeitig. Die ren.
Parteien, die meinen, wir bräuchten nur die Haushalts- (D)
(B) Mit knapp 120 Milliarden Euro verwaltet das Bundes-
konsolidierung zu bewältigen, oder die meinen, es sei
damit getan, die Binnenkonjunktur anzukurbeln, greifen ministerium für Arbeit und Soziales 46 Prozent des ge-
zu kurz. Sie werden der ökonomischen und sozialen samten Haushaltsvolumens. Die Vereinbarungen, die die
Lage dieses Landes nicht gerecht. Unsere Antwort auf Minister Müntefering und Steinbrück getroffen haben,
die bestehenden Probleme hingegen ist ökonomisch und sind damit ein prägendes Element des gesamten Haus-
sozial richtig. haltsentwurfs. Nach meinem Dafürhalten sind die ge-
troffenen Vereinbarungen gelungen und stellen einen
(Beifall bei der SPD) sehr guten Ausgleich zwischen ökonomischen, sozial-
Der Weg zu einer dauerhaften Rückführung der Kre- und gesellschaftspolitischen sowie fiskalischen Erfor-
ditaufnahme des Bundes wird bereits beschritten: mit dernissen dar. Die beschlossene Senkung des Rentenver-
dem Haushaltsbegleitgesetz 2006, das die Erhöhung der sicherungsbeitrags für Arbeitslosengeld-II-Empfänger
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte vorsieht; mit der von 78 Euro auf 40 Euro findet mit gutem Grund noch
seit Dezember realisierten Abschaffung von nicht mehr nicht im laufenden Jahr 2006, sondern erst zum 1. Januar
gerechtfertigten Steuervergünstigungen und Steuerge- 2007 statt. Ansonsten hätte der Rentenversicherungsbei-
staltungsmöglichkeiten; mit dem, was noch kommen trag von derzeit 19,5 Prozent bereits im laufenden Jahr
und was uns nicht nur Freude machen wird – Stichwort leicht angehoben werden müssen.
„Steueränderungsgesetz“; es enthält sicherlich einige
Ab dem laufenden Jahr soll es zudem den bisherigen
Dinge, die die Öffentlichkeit bewegen werden –;
Bundeszuschuss an die Bundesagentur für Arbeit zur
schließlich mit dem Bundeshaushalt 2007, der Anfang
Defizitdeckung nicht mehr geben. Hierdurch und durch
Juli dieses Jahres vom Bundeskabinett beschlossen wird.
die Vereinbarung, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag
Damit wird die jährliche Kreditaufnahme des Bun- um 2 Prozentpunkte zu senken, wird erheblicher Druck
des ab dem Jahre 2007 auf Dauer die von Art. 115 des auf die Bundesagentur für Arbeit ausgeübt, ihre Instru-
Grundgesetzes vorgegebene Obergrenze unterschreiten. mente und Leistungen scharf zu bewerten sowie massive
Das hat Kollege Meister ausreichend dargelegt. Herr Effizienzsteigerungen zu erwirtschaften. Die finanzielle
Koppelin, machen Sie doch die Bürgerinnen und Bürger Luft für die Bundesagentur für Arbeit ist auf absehbare
mit solchen Begriffen wie „verfassungswidriger Haus- Zeit sehr dünn geworden. Da ich für Ehrlichkeit bin,
halt“ nicht närrisch! Das, was Sie hier machen, ist falsch spreche ich auch an dieser Stelle aus, was die reale
und irreführend. Natürlich legen wir einen Haushalt Situation ist. Hier gehen also die Konsolidierungsbestre-
nach den Regeln unseres Grundgesetzes vor, nichts an- bungen ebenfalls bis an die Grenze des Möglichen und
deres. des Akzeptablen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2119
Joachim Poß
(A) Im Zusammenhang mit dem Etat des Bundesministe- schreiben, und wie wir sie, jedenfalls kurzfristig, gelöst (C)
riums für Arbeit und Soziales wurde in den Medien noch haben.
die Frage eines eventuellen Finanzierungsbedarfs beim
Bundeszuschuss zur Rentenversicherung für 2008 aufge- Andererseits wird dadurch der Reformdruck bei der
worfen. Ob die in die Modellrechnungen des Rentenver- gesetzlichen Krankenversicherung bzw. im Gesundheits-
sicherungsberichts eingestellte Erhöhung des Bundeszu- system enorm erhöht. Deswegen ist das Projekt der Ge-
schusses im Jahre 2008 – das sind rund 600 Millionen sundheitsreform von herausgehobener Bedeutung. Wir
Euro – überhaupt erforderlich sein wird, wird erst im werden in den nächsten Wochen jede Einzelmaßnahme
Jahre 2007 zu entscheiden sein. Dann können wir auch des Haushaltsbegleitgesetzes 2006 auch in den einzelnen
die wirtschaftliche Entwicklung in 2008 in ihrem Ein- Fachausschüssen eingehend diskutieren. Ich bin ganz si-
fluss auf die Rentenfinanzen viel besser abschätzen. cher, dass wir für alle Punkte Lösungen finden werden,
die auf der einen Seite den Konsolidierungserfordernis-
Hier ist zudem ein schwieriger Abwägungsprozess sen gerecht werden, aber gleichzeitig nicht zu einer
angesprochen, der sich auf absehbare Zeit bei der Auf- Überforderung der Betroffenen führen werden.
stellung jedes Haushalts ergibt und der uns teilweise – je
Wohl wissend um die Vorgeschichte der Mehrwert-
nachdem, ob wir Finanz- und Haushaltspolitiker sind
steuererhöhung und wohl wissend, was meine Partei
oder uns als Sozialpolitiker verstehen – hin und her rei-
und auch ich persönlich in diesem Zusammenhang an
ßen wird: In der Größenordnung von 80 Milliarden Euro
Aussagen getroffen haben, halte ich eines für unerträg-
fließen jedes Jahr aus dem Bundeshaushalt Zuschüsse in
lich: die Art und Weise, wie die FDP sich in der Debatte
die sozialen Sicherungssysteme, vor allem in die ge-
über die Mehrwertsteuererhöhung in Szene setzt. Diese
setzliche Rentenversicherung. Damit ist der größte Aus-
Kampagne ist schwer erträglich.
gabenblock im Bundesetat beschrieben. Eine Reduktion
dieser Zuschüsse würde zwar zu einer geringeren Neu- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Was habt ihr denn
verschuldung führen, aber gleichzeitig einen entspre- im Wahlkampf gemacht?)
chenden Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge nach
sich ziehen. Bei der Entscheidung über die Höhe der Das ist nämlich das einzige politische Thema, das der
Bundeszuschüsse, die in die Sozialkassen fließen, gibt es FDP geblieben ist.
also eine echte Zielkonkurrenz: zwischen der gewünsch- (Lachen bei Abgeordneten der FDP)
ten und notwendigen Senkung der Nettokreditaufnahme
und der gewünschten Stabilisierung bzw. Senkung der Das ist übrigens auch das Gute an den Wahlergebnissen
Sozialversicherungsbeiträge. vom letzten Sonntag:

Bei der Abwägung dieser beiden Ziele hat die Bun- (Beifall bei der SPD) (D)
(B)
desregierung entsprechend dem Koalitionsvertrag in das Das Erpressungspotenzial, das Sie sich versprochen ha-
Haushaltsbegleitgesetz 2006 den stufenweisen Abbau ben davon, dass Sie da, wo Sie mitregieren, auf den Mi-
des Bundeszuschusses an die gesetzliche Krankenversi- nisterpräsidenten Einfluss nehmen können, steht Ihnen
cherung aufgenommen. Die Reduktion dieses Zuschus- nicht länger zur Verfügung.
ses beginnt allerdings noch nicht im laufenden Jahr, son-
dern erst im nächsten. (Beifall bei der SPD)

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:


Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dann steigen halt die Beiträge! – Gegenruf des
Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ab- Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
warten!) des Kollegen Koppelin?

– Ja, Herr Kuhn, man muss eben Prioritäten setzen. Wir Joachim Poß (SPD):
wollen, der finanzpolitischen Glaubwürdigkeit wegen, Natürlich.
die genannten Ziele in 2007 erreichen, mit Blick auf das
Grundgesetz, mit Blick auf die Maastrichtkriterien und,
so muss ich hinzufügen, mit Blick auf die Finanzmärkte, Jürgen Koppelin (FDP):
weil Deutschland als größte Volkswirtschaft der Euro- Herr Kollege Poß, ich will mich mit Ihnen gar nicht in
päischen Union große Bedeutung für die Finanzmärkte der Sache streiten, ich greife nur auf, was Sie als „Kam-
hat. pagne“ der FDP bezeichnen. Waren denn die Wahl-
kampfplakate der SPD im Bundestagswahlkampf oder
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber nicht die entsprechenden Flugblätter – ich habe einige davon
bei Herrn Lafontaine!) hier zur Hand –, auf denen Sie eine mögliche Mehrwert-
steuererhöhung geißeln, keine Kampagne?
Deswegen ist es richtig, die Priorität bei der Haushalts-
konsolidierung zu setzen. Man muss sich entscheiden.
Joachim Poß (SPD):
(Beifall bei der SPD) Das war Gegenstand der Wahlauseinandersetzung des
Jahres 2005.
Man kann dieser Frage nicht ausweichen; man muss zu-
mindest zeitlich Prioritäten setzen. Diese Konflikte, mit (Lachen bei der FDP sowie bei Abgeordneten
denen wir es zu tun haben, wollte ich hier ganz offen be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
2120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Joachim Poß
(A) Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deswegen gilt: Trotz Mehrwertsteuererhöhung und (C)
NEN]: „Merkel-Steuer“!) trotz des Haushaltsbegleitgesetzes können wir in den
nächsten Jahren an keiner Stelle draufsatteln. Das betrifft
Ich habe eben selbst gesagt – und Sie können das als die großen Projekte, die diskutiert werden. Die Gesund-
Wahlkampagne bezeichnen –: Davon ist überhaupt heitspolitik wurde schon genannt, ebenso die Unterneh-
nichts zurückzunehmen, das ist Teil der politischen Aus- mensteuerreform. Bund und Länder haben kein zusätzli-
einandersetzung im Bundestagswahlkampf gewesen, ches Geld, um die Senkung der Unternehmensteuern zu
Herr Koppelin. finanzieren. Nettoentlastungen kann es nicht geben. Das
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- ist eine wesentliche Rahmenbedingung für die Unterneh-
Eckardt) mensteuerreform.

Was Sie, Herr Kollege Koppelin, hier in Kenntnis der (Beifall bei der SPD)
damaligen finanzpolitischen Einschätzung des Jahres
2005 und des Jahres 2006 machen, ist nicht richtig. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, würden Sie Ihren letzten Satz jetzt an-
(Lachen bei der FDP) fangen?
Sie wissen, dass zu diesem Zeitpunkt die Belastungen
durch Hartz IV noch nicht bekannt waren. Die Zahlen Joachim Poß (SPD):
sind im Wesentlichen in den Monaten September bis No- Wir müssen alles tun – nicht nur im Interesse des
vember aufgewachsen. Herr Koppelin, es ist nicht zu Bundes, sondern auch im Interesse der Investitionsfähig-
rechtfertigen, dass Sie sich mit diesem Einwand, den ich keit der Kommunen; wir haben für diese schon einiges
durchaus ernst nehme, als FDP im wahrsten Sinne des mit der Stabilisierung der Gewerbesteuer getan –, damit
Wortes auf eine Einpunktpartei reduzieren und diese mehr investiert wird und Arbeitsplätze bei kleinen und
Maßnahme attackieren. mittleren Unternehmen gesichert werden. Dazu haben
wir uns in der großen Koalition verpflichtet. Ich bin vom
Sie werden vor allem Ihrem Verständnis als Sachwal- Erfolg dieses Weges überzeugt.
ter des Mittelstandes nicht gerecht. Sie erreichen keine
Vertrauensbildung, die notwendig wäre, um die Binnen- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
konjunktur zu beleben, sondern genau das Gegenteil. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sie, Herr Koppelin, versündigen sich mit dieser Kampa- der CDU/CSU)
gne an den Interessen des Mittelstandes.

(B) (Beifall bei der SPD – Fritz Kuhn [BÜND- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war peinlich, Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Herr Poß!) Die Grünen.
Ich bin froh, dass Ihr Einfluss durch die Wahlergeb-
nisse des letzten Sonntags stärker beschnitten wurde. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ähnlich agiert auch die so genannte Linkspartei bzw. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
PDS, auch in den beiden Landesregierungen, an denen Kollegen! Herr Poß, an der Tatsache, dass Sie so lange
sie beteiligt ist. Auch das ist – das sage ich deutlich – un- über die Mehrwertsteuer gesprochen haben, merkt man
erträglich und nicht hinnehmbar. richtig, dass Sie damit Verdauungsprobleme haben. Das
Scharmützel, das Sie mit der FDP geführt haben, war ein
Die Mehrwertsteuererhöhung hat nicht nur für den komplettes Eigentor. Das hätten Sie sich schenken kön-
Bund eine Bedeutung. Es geht doch darum, dass wir auf nen.
gesamtstaatlicher Ebene einen föderalen Finanzpakt hin-
bekommen, der Bund, Länder und Kommunen umfasst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Von diesem Geist ist der Koalitionsvertrag beseelt. Wir sowie bei Abgeordneten der FDP)
können das in dieser Konstellation auch schaffen. Von Ich möchte nicht nur auf den Haushalt 2006 eingehen,
dieser Mehrwertsteuererhöhung – das müssen Sie, die sondern auch auf Sie, Herr Steinbrück, unseren Finanz-
Sie in einigen Ländern mit an der Regierung sind, auch minister. Wir Hamburgerinnen und Hamburger kennen
sagen – profitieren auch die Länder. Die haben Einnah- Sie als sehr sachlichen Menschen.
men dringend nötig. Schauen Sie sich an, welche Aufga-
ben in den Ländern zu finanzieren sind! (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alle kennen
ihn! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wer ihn
Selbst wenn man diese sicherlich unpopuläre Maß- nicht kennt, wird ihn noch kennen lernen!)
nahme der Mehrwertsteuererhöhung in Rechnung stellt,
wissen wir, dass wir, was die hier schon diskutierte Re- Die anderen kennen ihn auch so. Sie äußern immer den
gelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes, also das Ver- Wunsch nach Klartext. Da muss ich ganz schlicht anfan-
hältnis von Krediten zu Investitionen, betrifft, nur um gen. Klartext im Haushalt 2006 heißt: 38 Milliarden
wenige hundert Millionen Euro in der sicheren Zone lie- Euro Nettokreditaufnahme. Das sind 7 Milliarden
gen. mehr als im Jahr 2005. Herr Meister, ich schaue Sie an.
Sie haben in Ihrer Rede versprochen, heute sei der Tag,
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- an dem ein anderer Weg in der Haushaltspolitik in Rich-
Eckardt) tung Konsolidierung beschritten werde.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2121
Anja Hajduk
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nehmen eben einmal 5 Milliarden, 10 Milliarden oder (C)
15 Milliarden Euro aus dem Haushalt heraus; dann ist er
Ich muss sagen: 7 Milliarden Euro mehr im Jahr 2006 verfassungskonform; das geht ganz einfach. Das wäre
als im Jahr 2005, in dem die wirtschafts- und arbeits- uns zu billig. Deswegen will ich Sie nicht dafür kritisie-
marktpolitische Situation viel schwieriger war, ist kein ren, dass Sie nicht eben mal 15 Milliarden Euro weniger
Ausweis von Haushaltskonsolidierung. Das ist leichtfer- Schulden machen. Wenn Sie aber sagen: „Brachiales
tiges Schuldenmachen auf Kosten der jungen Genera- Vorgehen beim Einsparen verunsichert die Menschen
tion. und zerstört das Vertrauen in die Politik“, dann muss ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie schon fragen: Was haben Sie eigentlich am 1. Januar
und bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ 2007 vor, wenn die Mehrwertsteuer auf einen Schlag um
CSU]: Sieben Jahre lang Zeit gehabt und sich 3 Prozentpunkte erhöht wird? Das passt nicht zusam-
jetzt hier aufblasen! Was ist das denn?) men: einerseits brachiale Vorschläge ablehnen und ande-
rerseits mit dem Hammer auf die Konjunktur einschla-
Ich wähle bewusst so ein hartes Wort. Sie müssen gen. Das ist keine gute Argumentation und keine
nämlich einmal bedenken, welche „Gunstfaktoren“ auf vertrauensvolle Politik.
Ihrer Seite sind: Sie haben das bessere Wachstum und
eine stabilere wirtschaftliche Erholung, auf die Sie ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
stolz sind – Stichwort „Merkel-Aufschwung“ –, Sie ha- und bei der FDP)
ben bessere Steuereinnahmen, Sie haben in diesem Jahr
Ich möchte nun auf die Haushaltspolitik der großen
einen höheren Bundesbankgewinn. Trotzdem treiben Sie
Koalition eingehen, auch gemessen an den eigenen
die Schulden in die Höhe. Sie mogeln sich über das Jahr
Maßstäben, die Sie – ich würde sogar sagen: zu Recht –
2006 hinweg. Man merkt es der großen Koalition auch
formuliert haben. Ich darf aus der Vorlage des Finanz-
an: Am liebsten wollen Sie immer über das Jahr 2007 re-
ministers zum Bundeshaushalt zitieren:
den, wenn Sie über den Haushalt sprechen; denn das
Jahr 2006 wird verschenkt. Mittelfristig muss es daher gelingen, einen ausge-
glichenen Gesamtstaatshaushalt vorzulegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dies wird insbesondere begründet mit der Verantwor-
Das Argument „Stärkung der Konjunktur“ möchte ich
tung gegenüber den kommenden Generationen. Sie sag-
nicht übergehen. Der Bundesbankpräsident, Axel Weber,
ten an anderer Stelle in einer Grundsatzrede:
hat in einer Sitzung des Haushaltsausschusses mit sehr
vornehmen und nüchternen Worten davon gesprochen, Unumstößliche Geschäftsgrundlage der großen
dass die Konjunktur schon auf zwei Zylindern läuft: Koalition ist der Erfolg bei der Haushaltskonsoli-
(B) Nicht nur der Export, sondern auch die Ausrüstungs- dierung. (D)
investitionen ziehen an.
Diese Maßstäbe lege ich jetzt einmal an Ihre Finanz-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist keine planung an; schließlich macht es Sinn, Haushaltspolitik
öffentliche Sitzung gewesen!) nicht nur jährlich zu betrachten. Ich stelle Folgendes
Deswegen wäre es sinnvoll und notwendig, in 2006 bei fest: In der Finanzplanung von 2006 bis 2009 ist auf der
gutem Wachstum die Schulden nicht derart hoch zu trei- steuerlichen Seite eine deutliche Erhöhung vorgesehen.
ben und in 2007 die Mehrwertsteuer nicht so drastisch zu Das ist hier schon vielfach erwähnt worden. Sie haben
erhöhen, wo doch die Wachstumsprognose für 2007 im von einem Kraftakt in der Haushaltskonsolidierung ge-
Vergleich zu 2006 schon jetzt schlechter ist. So wie Sie sprochen. Dazu sage ich Ihnen: Es ist kein Kraftakt,
vorzugehen, ist nicht nur haushaltspolitisch unseriös, wenn man Haushaltskonsolidierung so einseitig auf der
sondern auch wirtschaftspolitisch inkonsequent, ver- Steuereinnahmenseite betreibt wie Sie. Aber trotz der
kehrt und riskant. massiven Steuererhöhungen gelingt es Ihnen nicht, die
Nettokreditaufnahme ab 2007 über vier Jahre hinweg
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abzusenken.
und bei der FDP)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist das
Herr Steinbrück, ich möchte noch auf eines Ihrer Ar- strukturelle Defizit! Sie haben es immer noch
gumente eingehen. Leider kann ich Sie nicht anschauen, nicht begriffen, Frau Hajduk!)
weil mir jemand im Wege steht. – Kann sich der Kollege
bitte setzen? Sie bleiben stabil knapp an der Grenze, die die Verfas-
sung vorgibt. Die Investitionsquote dagegen sinkt stetig
Jahr für Jahr. Das ist keine Finanzplanung, die im Inte-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: resse kommender Generationen ist. Das ist keine Finanz-
Herr Kollege Fischer (Göttingen), Gespräche an der planung, die dieser großen Koalition überhaupt die Per-
Regierungsbank sind sicherlich immer sehr interessant, spektive einer mittelfristigen Konsolidierung des
aber behindern manchmal die Kommunikation. Haushalts gibt. Das sind Ihre Zahlen. Das ist ein Armuts-
zeugnis.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Steinbrück, ich halte die sachliche Erwägung
auch in der Haushaltspolitik für notwendig und richtig. Wir haben die Haushaltsberatungen vor uns. Wenn es
Wir Grünen gehören nicht zu denjenigen, die sagen: Wir in diesem Jahr „Gunstfaktoren“ gibt, etwa bessere
2122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Anja Hajduk
(A) Steuereinnahmen – ich habe auch schon auf den Bundes- (Joachim Poß [SPD]: Aber Sie waren doch im- (C)
bankgewinn und auf die wirtschaftliche Erholung hinge- mer für die Mehrwertsteuererhöhung! Sie ha-
wiesen –, dann können wir – davon bin ich überzeugt – ben sich doch letztes Jahr für die Mehrwert-
mit einer geringeren Nettokreditaufnahme auskommen. steuererhöhung ausgesprochen!)
Ich sage das auch mit Blick auf das Maastrichtkriterium
Mittlerweile gibt es kaum noch Leute, die glauben, man
und auf die EU.
könne die 3-Prozent-Grenze nicht einhalten – es sei
Ich denke da weiter an Ihre Äußerung, Herr denn, man besteht auf einer so hohen Nettokreditauf-
Steinbrück, zum Politikstil. Man soll Maß halten und nahme, wie sie die große Koalition will.
man soll auch einmal etwas durchargumentieren. Zum Ich komme nicht umhin, nur eine Interpretation dazu,
Maß im Ton gehört ebenfalls Aufrichtigkeit, die ich jetzt dass Sie so viel Wert darauf legen, Herr Finanzminister,
keinesfalls grundsätzlich infrage stellen will. Aber Sie sich durch die EU in Verzug setzen zu lassen, als stich-
haben gesagt: Deutschland trägt Verantwortung dafür, haltig zu empfinden. Sie lassen sich durch die EU-Kom-
dass wir den reformierten Stabilitäts- und Wachstums- mission in Verzug setzen, weil Sie ein Druckmittel
pakt nicht beschädigen. – Dieser Pakt ist durchaus unter gegen ihr politisches Umfeld brauchen, damit die Erhö-
maßgeblichem Einfluss von Rot-Grün in der Weise re- hung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte nicht wie-
formiert worden, dass er stärker auf die Wachstumsdyna- der gekippt wird.
mik bzw. auf mangelnde Wachstumsdynamik Rücksicht
nehmen soll. Wenn wir über die gesamte Finanzplanung (Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜND-
mit 1,5 Prozent auf der Höhe unseres Potenzialwachs- NIS 90/DIE GRÜNEN])
tums liegen – dieses Argument habe ich vorhin schon So sieht es nämlich aus! Damit die Mehrwertsteuererhö-
strapaziert –, dann frage ich Sie: Wann haben wir eigent- hung nicht verhindert wird, brauchen Sie dieses takti-
lich die guten Zeiten, in denen man sich im Sinne des re- sche Manöver nach dem Motto: Damit mir die Leute
formierten Stabilitäts- und Wachstumspakts um mehr nicht von der Fahne gehen, wenn es uns in 2006 wieder
Konsolidierung bemühen sollte? besser geht, lasse ich mich jetzt, bevor ich im Juli den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2007er Haushalt unter Dach und Fach habe, durch die
EU in Verzug setzen. – Wenn das nämlich nicht einge-
Auch hierzu ein Zitat. Das Bundesfinanzministerium halten wird, muss jemand 10 Milliarden Euro bereitstel-
hat den Haushaltsausschuss mit einem Ex-post Bericht len. So halten Sie die Kritiker klein. Ich betrachte das als
zum Ecofin-Rat vom 14. März dieses Jahres unterrichtet. ein fahrlässiges Manöver. Es ist auch nicht redlich vor
Im Kernpunktepapier werden die aus Sicht des Ecofin- dem Hintergrund des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
(B) Rats prioritären wirtschaftspolitischen Aktionsfelder für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
2006 formuliert. Ganz oben steht: „Nutzung der wirt- sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
schaftlichen Erholung zur Konsolidierung der öffentli-
chen Haushalte“. Sie machen in diesem Jahr das Gegen- Ich möchte zu einem nächsten Punkt kommen, zur
teil. Die große Koalition genehmigt sich am Anfang Struktur des Haushalts. Eine kleine Vorbemerkung noch
ihrer Regierungszeit einen kräftigen Schluck aus der zu dem Wachstumsprogramm. Ein Wachstums- und
Pulle. Das ist wirtschaftspolitisch nicht zu erklären. Konjunkturprogramm, wie es die Koalition mit einem
Volumen von 25 Milliarden Euro aufgelegt hat, wird für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – unabdingbar gehalten.
Joachim Poß [SPD]: Genau umgekehrt wird
ein Schuh daraus! Ich habe es zu erklären ver- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir machen
sucht!) keine Konjunkturprogramme!)
Ich würde sagen, lassen wir die Kirche im Dorf.
– Nein, Herr Poß. Sie sind nicht richtig im Zeitrhythmus. 25 Milliarden Euro bedeuten 6 Milliarden Euro im Jahr
Das ist Ihr Problem. und 3,5 Milliarden Euro in diesem Jahr; das sind
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Darüber, dass
Joachim Poß [SPD]: Nein!) das keine Konjunkturbombe ist, sind wir uns sicher ei-
nig; das ist Blödsinn.
Sie sind auch nicht richtig im Argumentationsrhythmus. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Das ist Ihr nächstes Problem. SES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [CDU/CSU]: Strukturell!)
und bei der FDP) Wenn das jedoch kein Konjunkturprogramm ist, son-
dern, wie der Finanzminister sagt, ein strukturelles Pro-
Ich möchte noch etwas sagen, was mir wichtig ist.
gramm – auch Herr Kampeter hat das jetzt als Vokabel
Die EU erwartet von uns selbstverständlich – das wird
drauf –, dann muss dieses durch Prioritätenneusetzung
durch die Blume gesagt –, dass wir uns an den Pakt hal-
und darf nicht durch höhere Neuverschuldung finanziert
ten und unser strukturelles Defizit in 0,5-Prozent-
werden; denn sonst setzen Sie die höhere Neuverschul-
Schritten abbauen. Wir werden es in diesem Jahr leider
dung strukturell fort. Das ist ein Widerspruch, der auch
nicht abbauen. Sie streben es jedenfalls nicht an. Wir
aufzeigt, dass Sie hier keine klare Linie verfolgen.
Grüne halten das 3-Prozent-Kriterium in diesem Jahr für
einhaltbar. Wir sind da in guter Gesellschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2123
Anja Hajduk
(A) Grundsätzlich finde ich es aber gut, dass Sie in der Schon seit 2003 gibt es nur noch eine leichte Aufwärts- (C)
großen Koalition – da will ich insbesondere die SPD und entwicklung des Rentenanteils im Haushalt von rund
den Finanzminister loben – offen dafür argumentieren 1 Prozent.
und in der Öffentlichkeit dafür werben, zu verstehen,
dass wir in erster Linie kein Ausgabenproblem haben. Wenn Sie jetzt behaupten, Sie dämpfen die Renten-
Das ist eine alte Mär, die die Union früher, häufig mit entwicklung, dann müssen Sie auch den Nachweis er-
der FDP zusammen, verbreitet hat, dass nämlich die Un- bringen. Sie aber legen lediglich ein Haushaltsbegleitge-
wucht in den öffentlichen Finanzen durch die Ausgaben- setz vor, das eine Kürzung des Rentenzuschusses mit
seite bedingt sei. Da folge ich Ihnen, Herr Finanzminis- einem Volumen von 77 Milliarden Euro um 340 Millio-
ter; das ist nicht das grundsätzliche Problem, sondern nen Euro vorsieht. Jetzt könnte man meinen, dies hätten
eher die Einnahmeseite. Richtig ist auch, dass wir im Sie mit dem Dämpfen des Zuwachses bei der Rente ge-
Haushalt eine Strukturveränderung brauchen. Wir müs- meint. Aber hier handelt es sich nur um einen schlechten
sen sehen, wie viel Mittel gebunden sind und wie viel Verschiebebahnhof; denn diese Dämpfung finanzieren
wir umschichten können, gerade mit Blick auf Zukunfts- Sie, indem Sie die Sozialversicherungsbeiträge bei der
herausforderungen und Innovation. geringfügigen Beschäftigung von 25 auf 30 Prozent er-
höhen. Das ist keine kluge Einsparstrategie; das ist be-
Wir finden manches gut, was fortgesetzt wird. Das schäftigungspolitischer Unsinn.
CO2-Gebäudesanierungsprogramm haben wir Grünen
mit angestoßen. Dass Sie für dieses Programm jetzt das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Volumen erhöhen, findet nicht unsere Kritik, sondern
unsere Unterstützung. Dass Sie den engen Zusammenhang zwischen Be-
schäftigungsförderung und Haushaltskonsolidierung
Wir finden auch gut, dass Sie die Strategie verfolgen, nicht sehen, ist ein gutes Beispiel dafür, dass die große
die Forschungsmittel zu erhöhen. Aber eines kann ich Koalition ein großes strategisches Problem in der Haus-
dann nicht verstehen; es macht deutlich, dass Sie in ei- haltspolitik hat. Jeder hier weiß: Man wird den Haushalt
nem sehr wichtigen Modernisierungsbereich keine klare und die öffentlichen Finanzen in Deutschland nicht kon-
Linie haben. Wenn Sie die Forschungsmittel erhöhen, solidieren können, wenn es nicht mehr Beschäftigung
wenn Sie Bildung und Forschung für so wichtig halten, gibt.
dass dieser Bereich durch öffentliche Finanzen und
durch den Bundeshaushalt in Zukunft erfolgreich finan- Man muss sich einmal anschauen, was Sie machen.
ziert werden soll, dann müssen Sie die Föderalismus- Ich habe vorhin schon ein Beispiel für die Ausgaben-
reform, die Sie durch den Bundestag bringen wollen, konsolidierung genannt. Sie rühmen sich teilweise, dass
(B) dringend ändern; sonst werden Sie das Modernisierungs- Sie in den nächsten Jahren die Ausgaben um 30 Milliar- (D)
potenzial, das wir brauchen, nicht mehr aus dem Bun- den Euro verringern würden. Der größte Teil davon, über
deshaushalt bedienen können. 20 Milliarden Euro, sind steuerliche Einsparungen bei
der Krankenversicherung und bei der Rentenversiche-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung. Sie betreiben einen reinen Verschiebebahnhof, der
und bei der LINKEN) zulasten der Beitragssätze der Rentenversicherung und
der Krankenversicherung geht. Dieser Verschiebebahn-
Das ist ein eklatanter Mangel angesichts eines dringli- hof geht daher zulasten der Beschäftigungschancen.
chen Modernisierungsdefizits der Gesellschaft. Diese Politik ist ohne Perspektive und weist in die fal-
sche Richtung.
Leider gibt es in der Haushaltspolitik der großen Ko-
alition noch ein Strukturproblem. Es kreist darum, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Renten und die Altersversorgung in diesem Haus-
halt einen großen Anteil ausmachen. Ich möchte, da es Sie wollen mit der Senkung des Beitrages zur Ar-
um Stilfragen, um Maß und Offenheit geht, deutlich da- beitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent das Ziel
für werben, dass Sie nicht verbreiten, Sie würden es mit verfolgen, bei den Lohnnebenkosten auf eine Quote
Ihren jetzigen Vorschlägen schaffen, die Rentenentwick- von unter 40 Prozent zu kommen. Wir Grünen sehen das
lung im Haushalt zu dämpfen, indem Sie behaupten, im Verfolgen dieses Ziels als notwendig an. Aber Sie wer-
Durchschnitt der letzten zehn Jahre hätte es bei der Ren- den da nie landen; das sehen wir schon heute.
tenentwicklung 6-prozentige Steigerungen gegeben und
Sie würden die Steigerungen auf 1 Prozent senken. Das Der eine Prozentpunkt der Beitragsabsenkung bei der
ist Volksverdummung; das sage ich ganz klar. Die 6-pro- Arbeitslosenversicherung beruht auf der rot-grünen Re-
zentigen Steigerungen in den letzten zehn Jahren waren formdividende. Es sei Ihnen gegönnt, dass Sie der Bun-
durch die rot-grüne Strategie bedingt, durch Ökosteuer- desagentur für Arbeit keinen Zuschuss mehr zahlen müs-
mittel gleichzeitig den Beitragssatz abzusenken. Deswe- sen. Wir ärgern uns nicht über das, was wir gemeinsam
gen haben wir vor der Wahl versprochen und nach der richtig gemacht haben. Aber der andere Prozentpunkt
Wahl gehalten, dass Steuermittel in die Rentenfinanzie- wird durch die Mehrwertsteuererhöhung finanziert.
rung fließen. Das hat bis 2003 regelmäßig Steigerungen Gleichzeitig müssen Sie den Rentenversicherungsbeitrag
zur Folge gehabt. wegen Ihrer falschen Sparvorschläge um 0,4 Prozent-
punkte erhöhen und gleichzeitig legt die Kollegin
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt Schmidt den Haushältern in den Beratungen Folgendes
doch gar nicht!) vor – das darf nicht unerwähnt bleiben –:
2124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Anja Hajduk
(A) Die GKV wird durch die Absenkung des pauscha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
len Bundeszuschusses
Wir haben auch die Chance, beim Ehegattensplitting
– es geht um bis zu 4,2 Milliarden Euro pro Jahr – zu reformieren. Es gibt noch Steuervergünstigungen im
produzierenden Gewerbe.
für die versicherungsfremden Leistungen sowie die
Erhöhung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel und Unsere Priorität ist eine bessere Politik für Kinder
weitere Medizinprodukte um jährlich 5 Milliarden und Familien. Diese sollte bei der Infrastruktur für Kin-
Euro belastet (rund 0,5 Beitragssatzpunkte). Damit der ansetzen. Darauf legen wir einen Schwerpunkt.
droht der GKV – trotz der vom Deutschen Bundes- Diese Priorität brauchen wir und können wir auch finan-
tag … am 17. Februar 2006 beschlossenen kurzfris- zieren.
tig wirksamen Maßnahmen des Gesetzes zur
Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arznei- Als Letztes möchte ich sagen: Wir werden im Rah-
mittelversorgung – bereits ab 2007 eine erneute De- men der Arbeitsmarktpolitik alternative Möglichkeiten
fizitentwicklung. vorlegen, damit nicht allgemein Lohnnebenkosten ge-
senkt werden, sondern gezielt der Niedriglohnbereich
Wenn wir zu diesem Beitragssatzrisiko von 0,5 Pro- angepackt wird; es würde jetzt aber zu weit führen, das
zentpunkten die Steigerung der Beiträge in der Renten- auszuführen. Die Grünen werden eine Politik vorlegen,
versicherung um 0,4 Prozentpunkte und das Risiko in die sich an dem Maßstab messen lässt: Wirtschaftspoli-
der Pflegeversicherung hinzurechnen, dann haben wir tik und Haushaltspolitik greifen ineinander. Auch Inves-
schon heute eine Egalisierung der durch die Mehrwert- titionen in die Zukunft gehören zur Konsolidierung.
steuererhöhung finanzierten Beitragssatzsenkung in der
Arbeitslosenversicherung. Mit Blick auf die Lohnneben- Die große Koalition fängt in 2006 leider ganz klein
kosten ist das, was Sie veranstalten, ein Nullsummen- an. Das ist traurig, besonders für die junge Generation.
spiel. Denn eine Einigung bei der Gesundheitsreform ist Ich danke Ihnen.
überhaupt noch nicht in Aussicht.
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN)
Ich bleibe deswegen dabei: Der großen Koalition
mangelt es daran, den Zusammenhang zwischen Haus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
haltskonsolidierung und Beschäftigungschancen in dem Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/
notwendigen Maß zu erkennen. Sie sollten bei der Steu- CSU-Fraktion.
erfinanzierung versicherungsfremder Leistungen nicht
(B) den Rückwärtsgang einlegen, sondern Sie sollten andere (Beifall bei der CDU/CSU) (D)
Lösungen finden.
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Herr Steinbrück, Sie sagen selbst, dass das Verhältnis Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
von Sozialabgaben zu Steuern von 70 : 30 perspekti- Herren! Der bisherige Verlauf der Haushaltsdebatte, die
visch in eine andere Richtung gedreht werden muss. Ihre stark auch von wirtschaftspolitischen Aspekten geprägt
Politik muss sich daher Punkt für Punkt daran messen ist, hat gezeigt, dass die Haushaltspolitik keine reine
lassen. Sie machen aber genau das Gegenteil. Das ist Zahlenschieberei ist. Haushaltspolitik kann – das ist der
eine düstere Perspektive sowohl für die Beschäfti- Anspruch der unionsgeführten Bundesregierung – gute
gungschancen wie auch für den Haushalt. Wirtschaftspolitik sein. Die große Koalition, die unions-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – geführte Bundesregierung leiten mit der Vorlage der
Peer Steinbrück, Bundesminister: Welche heute erstmals im Parlament debattierten Gesetzesvorha-
Steuern meinen Sie?) ben und Unterrichtungsvorlagen die Wende in der Haus-
haltspolitik ein. Der Haushalt 2006, die Finanzplanung
Ich komme zum Schluss. Die Grünen werden Alter- bis 2009, das Haushaltsbegleitgesetz 2006, aber auch
nativen vorlegen. Wir sind davon überzeugt, dass wir im das vom Bundesfinanzminister eingeführte Stabilitäts-
Haushalt 2006 mit weniger als 38 Milliarden Euro programm gegenüber der Europäischen Union dienen
Schulden auskommen werden. Wir werden das zu bele- der Wiedergewinnung des Vertrauens und der Verläss-
gen haben; das weiß ich. Aber es gibt noch eine ganze lichkeit in der Finanzpolitik.
Reihe von Subventionen, die man energischer abbauen
kann. Wir wollen der Realität nicht mehr das Prinzip Hoff-
nung gegenüberstellen. Wir wollen langfristige, auch
Noch eine kurze Bemerkung zur Kohle. Unantastbar über den Tag hinaus gültige finanzielle Prognosen erstel-
ist die Kohle zwischen 2006 und 2008 keinesfalls, Herr len. Die Finanzpolitik soll der Vertrauensanker der gro-
Steinbrück. ßen Koalition sein. Dies ist insbesondere der Anspruch
(Zuruf von der FDP: Eben!) der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Wir haben einen Mechanismus vereinbart, der dafür (Beifall bei der CDU/CSU)
sorgt, dass der Weltmarktpreis subventionsmindernd
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben diese Wende in
wirkt. Ich hoffe, dass Sie das unterstützen, auch wenn
der Finanzpolitik – – Wo ist er denn? –
Sie einmal Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
waren. (Zurufe von der FDP: Der ist weg!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2125
Steffen Kampeter
(A) Auch in Abwesenheit des Bundesfinanzministers ist strategie verfolgt wird. Die große Koalition macht mit (C)
festzustellen, dass er in seiner Rede diese Wende in der diesem Gesetzespaket ein entsprechendes Angebot.
Finanzpolitik durch einen Rekurs auf die antike Philoso-
phie sehr deutlich beschrieben hat. Herr Bundesfinanz- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
minister, bei dieser Neuausrichtung der Finanzpolitik Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt haben wir
haben Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestags- wieder alles beieinander!)
fraktion. Drei Ziele wollen wir in dieser Legislaturperiode er-
reichen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Erstens wollen wir dauerhaft und nachhaltig die Vor-
Die Hauptaufgabe der Finanz-, Haushalts- und Steu- gaben unserer Verfassung einhalten. Dabei geht es zu-
erpolitik in dieser Legislaturperiode ist die Wiederge- nächst einmal um Haushaltsklarheit und Haushaltswahr-
winnung des Wachstumsfaktors Vertrauen. Dieses heit. Bei den Haushalten, die wir gemeinsam mit Peer
Vertrauen, das den Investoren und Konsumenten verlo- Steinbrück einbringen, beraten und beschließen werden,
ren gegangen ist, gilt es durch Verlässlichkeit in diesem soll bezüglich der finanziellen Rahmenbedingungen lie-
Politikbereich wiederzuerlangen. ber ein bisschen konservativer geschätzt werden. Es ist
(Beifall bei der CDU/CSU) besser, wenn wir am Ende dieses Jahres gut aussehen,
als jetzt zu viel anzukündigen. Das ist die Grundlage un-
Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass es sinnvol- serer Strategie bei den Haushaltsplanungen.
ler ist, zu konsumieren, als Geld auf die hohe Kante zu
legen. Die Investoren sollen wissen, dass Investitionen Außerdem wollen wir die in Art. 115 GG vorgege-
aufgrund verlässlicher Rahmenbedingungen und einer bene Regelgrenze vom kommenden Jahr an einhalten
verlässlichen Form der Haushalts-, Finanz- und Wirt- und letztmalig in diesem Jahr die Ausnahmeregelung in
schaftspolitik rentabel sind. Dies ist das Signal, das wir Anspruch nehmen. Wir verhalten uns verfassungskon-
mit dem Haushalt und den ihn begleitenden Maßnahmen form. Wir wollen aber nicht ausnahmsweise verfas-
in Deutschland setzen wollen. sungskonform sein, sondern dauerhaft und nachhaltig.
Das ist der Anspruch der großen Koalition.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich bin einigermaßen verwundert darüber, dass insbe-
sondere die Rednerin vom Bündnis 90/Die Grünen kriti- Der zweite Zielkomplex ist, die stabile Währung eu-
siert, dass der Haushalt 2006 noch keinen Schönheits- ropaweit zu sichern. Gerade wir Christdemokraten und
preis verdient und er nicht alle Anforderungen der Christsozialen wissen, dass die Inflation die Geißel des
(B) Finanzpolitik mit einem Schlag erfüllen kann. Frau Kol- kleinen Mannes ist. Deswegen legen wir Wert auf eine (D)
legin Hajduk, Sie waren in den vergangenen sieben Jah- stabile Währung. Zwei Instrumente sind uns in diesem
ren an jedem der Vorgängerhaushalte beteiligt. Dies, was Zusammenhang wichtig: Erstens. Wir wollen die Unab-
wir heute anfangen abzubauen, ist wesentlich durch Ihre hängigkeit der Europäischen Zentralbank weiter auf-
Erblast bestimmt, meine sehr verehrten Damen und rechterhalten. Ratschläge vonseiten der deutschen oder
Herren von den Grünen. auch der ausländischen Politik bezüglich der Zins- und
Währungspolitik sind nicht hilfreich für eine stabile
(Beifall bei der CDU/CSU) Währung. Zweitens. Wir wollen den europäischen Stabi-
litäts- und Wachstumspakt einhalten. Gerade wir Deut-
Sich dann hier aufzublasen und so zu tun, als ob man in schen stehen hier in einer besonderen Verpflichtung.
den vergangenen Jahren niemals an der Haushaltspolitik
beteiligt war, ist unredlich und nicht solide. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Und warum dieses Jahr nicht?)
Unsere Konsolidierungspolitik hat eine horizontale
und eine vertikale Dimension. Der Bundesfinanzminis- Wir haben die D-Mark aufgegeben. Um die neue Wäh-
ter hat die horizontale Dimension deutlich gemacht, in- rung, den Euro, so stark und so stabil wie die D-Mark zu
dem er nicht nur zur Finanzpolitik im engeren Sinne, halten, haben wir den europäischen Stabilitäts- und
sondern auch zu anderen Politikbereichen sehr dezidiert Wachstumspakt. Deswegen ist es gerade für unsere Na-
Stellung genommen und klargestellt hat, dass die Konso- tion eine moralische ebenso wie eine finanzpolitische
lidierung eben nicht allein Aufgabe des Finanzministers Verpflichtung, die Vorgaben dieses Pakts dauerhaft ein-
ist, sondern auch Aufgabe aller Ausschuss- und Kabi- zuhalten. Das ist Wunsch und Wille der großen Koali-
nettsmitglieder. Wir machen mit dem hier vorgelegten tion.
Gesetzespaket deutlich, dass auch die vertikale Dimen- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
sion der Konsolidierung unser Anliegen ist. Wir sparen
nicht zulasten der Länder und Kommunen, sondern ma- Das dritte Ziel, um das es uns in dieser Legislatur-
chen insbesondere mit dem Haushaltsbegleitgesetz ein periode geht, ist die Absenkung der Staatsquote. Ge-
Konsolidierungsangebot, durch das die finanzielle Situa- rade die Union hält die Tätigkeit des Staates nicht für
tion der Länder und Gemeinden wesentlich verbessert allein selig machend. Es entspricht nicht unserer Auffas-
wird; wir lassen sie bei ihren Konsolidierungsanstrengun- sung, wenn man ein Problem hat, zuvorderst nach dem
gen nicht alleine. Wir wissen, dass die gesamtstaatliche Staat zu rufen. Deshalb lautete ein Leitsatz der Regie-
Konsolidierung nur gelingen kann, wenn in Bundestag rungserklärung von Angela Merkel „mehr Freiheit wa-
und Bundesrat eine gleichgerichtete Konsolidierungs- gen“; den Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates soll
2126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Steffen Kampeter
(A) mehr zugetraut werden. In der Finanzpolitik ist die sem Haushalt und den ihn begleitenden Gesetzen struk- (C)
Staatsquote der Indikator dafür, wie viel der Staat in die- turelle Wachstumsimpulse.
sem Land regelt und wie viel die Bürgerinnen und Bür-
ger eigenverantwortlich leisten. Im Rahmen dieser Le- Der wichtigste Impuls in diesem Zusammenhang lau-
gislaturperiode wird es eine Absenkung der staatlichen tet: Wir machen Arbeit durch die Absenkung der Bei-
Aktivität sowohl im Rahmen der Gebietskörperschaften träge zur Arbeitslosenversicherung wieder bezahlba-
als auch im Rahmen der Sozialversicherungen auf ein rer in Deutschland. Das ist das manifeste Signal der
Niveau geben, wie wir es zuletzt im Jahr 1989 hatten, als großen Koalition, der unionsgeführten Bundesregierung
Gerhard Stoltenberg, einer der erfolgreichsten Finanz- gegen die kontinuierliche Abwanderung von Arbeit ins
minister in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die Ausland. Wir wollen Arbeit in Deutschland wieder ren-
Bundesfinanzpolitik zu verantworten hatte. Das „Projekt tabler machen. Diesem Ziel dienen auch die vorliegen-
Stoltenberg“ ist auch ein Projekt der großen Koalition. den Gesetzentwürfe.

(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass das Unser zweiter wichtiger Impuls: Wir wollen kleine
Ziel der Absenkung der Staatsquote nicht verfolgt wird, und mittlere Unternehmen in Deutschland wieder för-
weil wir zwangsläufig an einem Mangel an Steuerein- dern. Die Fixierung auf große Betriebseinheiten mag in
nahmen leiden, sondern deshalb, weil wir in den vergan- bestimmten Bereichen richtig und wichtig sein; wir als
genen Jahren ein Stück weit über unsere Verhältnisse ge- unionsgeführte Bundesregierung wollen aber klare Im-
lebt haben. pulse für die kleinen und mittleren Unternehmen setzen.
Deswegen ist es richtig, dass wir mit diesen Gesetzen die
(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen
Eine Verschuldung in Höhe von 1 500 Milliarden Euro ausweiten und den kleinen und mittleren Unternehmen
ist doch kein Indikator dafür, dass wir bei den Bürgerin- durch das CO2-Programm zusätzliche Arbeits- und Be-
nen und Bürgern zu wenig Steuern abkassiert haben, sie schäftigungsmöglichkeiten eröffnen. Es ist uns ein An-
ist vielmehr ein Indikator dafür, dass der Staat und die liegen, die Abschreibungsbedingungen für Investitionen
Sozialversicherungssysteme zu viel Geld ausgegeben auch für kleine und mittlere Unternehmen zu verbessern.
haben. Wir machen Angebote an die kleinen und mittleren Un-
ternehmen und an die Beschäftigten in Deutschland.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Diesen Mentalitätswandel wollen wir gemeinsam mit neten der SPD)
Bundesfinanzminister Steinbrück organisieren.
(B) Wir investieren mit diesem Haushalt und der mittel- (D)
Wachstum und Steuereinnahmen müssen wieder ins fristigen Finanzplanung auch in Bildung und For-
Gleichgewicht geraten. Deswegen ist die Unternehmen- schung, weil wir glauben, dass unsere Intelligenz, un-
steuerreform nicht nur ein Instrument zur Entlastung sere Kreativität und unser geistiges Eigentum die
von Unternehmen; als ein solches wird es von manchen zentralen Wachstumsfaktoren in unserem Land sind. Wir
fehlverstanden. Nein, im Rahmen der Unternehmensteu- glauben, dass darin Zukunftschancen für Arbeitsplätze,
erreformen wollen wir die steuerliche Attraktivität des und zwar nicht nur in der chemischen Industrie, sondern
Standortes Deutschland für unternehmerische Aktivitä- auch in allen wissensbasierten Dienstleistungen und
ten wiederherstellen. Dies ist nicht nur für den Haushalt, Technologien, liegen. Deswegen ist die Verpflichtung
sondern auch für die Arbeitsplätze in Deutschland eine des Bundeshaushalts, gerade die Investitionen für For-
existenzielle Herausforderung. Das deutsche Steuersys- schung und Bildung zu steigern, ein richtiges und wich-
tem muss für Investitionen und Gewinnbesteuerungen tiges Signal der Bundesregierung, zu dem auch wir
attraktiv sein. Unter dem Strich werden davon die Haus- Haushaltspolitiker stehen.
halte und die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes
profitieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
sowie bei der FDP) Allerdings – auch das muss klar gesagt werden –: Um
diese Ziele zu erreichen, müssen wir auch unange-
Deswegen setzen wir uns engagiert für die Unterneh- nehme Voraussetzungen erfüllen, die an dieser Stelle
mensteuerreform, die über das hinausgehen muss, was nicht verschwiegen werden sollen. Wir müssen im Laufe
wir auf dem Jobgipfel vereinbart haben, ein. dieser Legislaturperiode einen nicht unerheblichen An-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- teil von Einmalerlösen, Privatisierungen und sonstigen
neten der FDP) Finanzmarktinnovationen verwenden, um den Konsoli-
dierungskurs zu flankieren.
Unsere Strategie griffe zu kurz, wenn sie sich aus-
schließlich in Sparbemühungen, Kürzungsansätzen und Wir müssen gemeinsam mit dem Bundesrat eine
Effektivitätssteigerungen erschöpfen würde. Wir spa- Reihe von steuerlichen Gesetzgebungsmaßnahmen, die
ren; das ist auch richtig und notwendig angesichts der nicht nur Freude bei den Betroffenen auslösen werden,
dramatischen Schieflage der Finanzen von Bund, Län- umsetzen. Wir müssen das Haushaltsbegleitgesetz ver-
dern und Gemeinden. Darüber hinaus setzen wir aber abschieden, in dem die Mehrwertsteueranpassung ein
auch klare Impulse für die Zukunft. Wir setzen mit die- wichtiges Element ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2127
Steffen Kampeter
(A) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vergangenheitsbetrachtungen erschöpfen, sondern den (C)
Aha! „Anpassung“ heißt das jetzt!) Zauber genießen. Herr Steinbrück, Sie haben die Unter-
stützung der Union. Bei allen ehrlichen und anständigen
Die Mehrwertsteueranpassung stellt eine Belastung des Konsolidierungsbemühungen arbeiten wir in dieser gro-
Konsums dar. Wir alle waren interfraktionell der Auffas- ßen Koalition gemeinsam.
sung, dass es besser ist, den Konsum als die Arbeit zu
belasten. Jetzt setzen wir diese Überzeugung um. Wir Herzlichen Dank.
denken, dass wir diese Maßnahme im Rahmen einer
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
konjunkturverträglichen Umsetzung im Laufe dieser Le-
gislaturperiode zum Erfolg führen werden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die Union muss sich im Übrigen nicht verstecken: Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms,
Wir waren die Einzigen, die an diesem Punkt vor der FDP-Fraktion.
Wahl ganz klar gesagt haben, was wir nach der Wahl ma-
chen wollen. Das ist Ehrlichkeit und Klarheit. Wir setzen (Beifall bei der FDP)
das um, was wir hierzu vor der Wahl angekündigt haben.
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
(Beifall bei der CDU/CSU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Wir müssen in dieser Legislaturperiode auch die Ar- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
beitsmarktreformen vorantreiben. Wer in dieser Regie- Kampeter, diesem Anfang wohnt nun wirklich kein Zau-
rung eine hohe Etatverantwortung hat, hat auch eine ber inne. Das können Sie niemandem weismachen;
hohe Konsolidierungsverantwortung. Deswegen wollen
wir im Bereich Arbeit in dieser Legislaturperiode einen (Beifall bei der FDP)
Konsolidierungsbeitrag leisten, indem wir 15 Milliarden denn der erste Haushalt der schwarz-roten Koalition
Euro einsparen. Dieser Konsolidierungsbeitrag muss folgt offenkundig einer rot-schwarzen Philosophie:
noch durch gesetzliche Maßnahmen abgesichert werden.
Wir sind sicher, dass sowohl der Bundesfinanzminister (Beifall bei der FDP)
wie auch der Bundesminister für Arbeit im Laufe der keine Reformen, kein Mut zum Sparen, keine Verände-
nächsten Woche die dafür erforderlichen Gesetzge- rungen bei den Arbeitsmarktbedingungen, keine grund-
bungsinitiativen einleiten. sätzlichen Veränderungen in den Sozialsystemen; aber
Wir wollen die Gesundheitsreform unterstützen, in- dem Bürger wird kräftig in die Tasche gegriffen.
dem wir den Reformdruck auf das System erhöhen. (Beifall bei der FDP)
(B) Schon vor der letzten Bundestagswahl haben wir im (D)
Haushaltsausschuss interfraktionell festgestellt, dass die Wenn Sie das als Zauber betrachten, dann frage ich
gefundene Lösung, über den Steuertopf in den Gesund- mich, wie das Ende aussehen wird.
heitsbereich hineinzuregieren, falsch war. Deswegen war Die jetzige Neuverschuldung übersteigt sogar die
es nur konsequent und richtig, im Rahmen der Koali- Neuverschuldung im letzten Haushalt von Hans Eichel
tionsvereinbarung die Absenkung dieses Steuerzuschus- um 7 Milliarden Euro. Übrigens habe ich heute Morgen
ses zu vereinbaren. So erhöhen wir den Reformdruck, festgestellt, dass Herr Eichel dem Vortrag des neuen
fördern den Wettbewerb im Gesundheitssystem und Bundesfinanzministers, der jetzt schon wieder die Flucht
schaffen schrittweise eine Abkopplung der Beiträge ergriffen hat, gar nicht beigewohnt hat. Das kann ich gut
– das hat auch der Bundesfinanzminister gesagt – vom verstehen. Es ist zu ärgerlich, wenn er erleben muss,
System Arbeit. Das ist unser Angebot an die Gesund- dass der Nachfolger es noch schlechter macht als er
heitspolitik. Ich glaube, es ist ein ehrliches und anständi- selbst.
ges Angebot.
(Beifall bei der FDP – Waltraud Lehn [SPD]:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Das ist falsch! Er war da!)
Joachim Poß [SPD])
Es ist unehrlich, wenn man den Bürgern diesen Ent-
Ich komme zum Schluss. Im Rahmen der Haushalts- wurf als Neuanfang verkaufen will. Es bleibt alles wie
beratungen werden wir alle Ausgabeansätze noch einmal gehabt: Die Schulden steigen stärker, die Ausgaben wer-
überprüfen. Wir werden schauen, wo noch Einsparpo- den nicht eingedämmt und die Situation wird in der Zu-
tenziale vorhanden sind. Die Richtung aber scheint aus kunft noch schwieriger. Die katastrophale Situation wird
Sicht der Union zu stimmen. durch hinter Haushaltsentlastungen verborgene Steuer-
Bisher hat jeder betont, welche guten Erfahrungen er erhöhungen geschönt. Die Erhöhung der Mehrwert- und
mit dem Bundesfinanzminister in früheren Positionen der Versicherungsteuer werden dazu beitragen, dass es
hatte. Der Bundesfinanzminister war in Nordrhein-West- auf Dauer nicht zu einer Ankurbelung der Binnenkon-
falen Ministerpräsident. Wir haben ihn dort abgelöst. junktur kommen kann. Die Binnenkonjunktur wird im
nächsten Jahr einbrechen. Das ist das zentrale Problem.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Aber nicht allein!) Mittelfristig verschlechtern sich die Aussichten für mehr
Beschäftigung und nachhaltige Haushaltskonsolidie-
Daher hält sich mein Mitleid mit ihm in Grenzen. Ich
rung.
weiß aber, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will sich nicht in Ich will auf einige Punkte eingehen:
2128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Hermann Otto Solms


(A) Erstens. Der Bundeshaushalt 2006 ist – Bundes- steht unter Sparen: mehr Geld ausgeben. Das ist, glaube (C)
finanzminister Steinbrück hat das gerade bei der Rede ich, aber nicht die Auffassung der Bürger in diesem
meines Kollegen Jürgen Koppelin bestritten – erneut Lande. Von Sparhaushalt kann nun wirklich keine Rede
vorsätzlich verfassungswidrig. Er setzt den planvollen sein.
Verfassungsbruch der letzten vier Jahre fort. Es ist doch
Viertens. Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts
ganz einfach und jeder kann es verstehen. Schauen Sie
hat die Bundesregierung völlig aus den Augen verloren.
sich Art. 115 des Grundgesetzes an – der Blick ins Ge-
Denn selbst in den Folgejahren bis 2009 verharrt die mit-
setzbuch erleichtert die Rechtsfindung; das ist eine alte
telfristige Finanzplanung auf einer Neuverschuldung
Lehre –:
von über 20 Milliarden Euro.
(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter
Fünftens. Der Investitionsverfall findet in der mittel-
[CDU/CSU]: Ja! Sehr gut!)
fristigen Finanzplanung seine Fortsetzung. Die Inves-
Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der titionsquote – das ist konjunkturpolitisch wichtig – sinkt
im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für In- weiter. Sie sinkt von 8,9 auf 8,5 Prozent. Zur Erinne-
vestitionen nicht überschreiten; rung: Im Jahre 1998 lag die Investitionsquote noch bei
12,5 Prozent. Da sieht man, wie sich die Strukturen des
Das ist nicht schwer zu verstehen. Jetzt kommt die Aus-
Haushalts laufend verschlechtert haben und weiter ver-
nahme:
schlechtern.
Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer
Sechstens. Die skandalösen Steuer- und Abgabener-
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-
höhungen im Haushaltsbegleitgesetz und in anderen
wichts.
Gesetzen sind unsozial und führen zu einer Kaufkraftab-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die wehren schöpfung und zu Mehrbelastungen von mindestens
wir jetzt ab!) 117 Milliarden Euro. Das hat der Bundesfinanzminister
heute selbst bestätigt. Hinzu kommen 20 Milliarden
Das heißt, die Ausnahme muss die Störung des gesamt-
Euro, die in diesem Jahr durch die 13. Monatsrate bei
wirtschaftlichen Gleichgewichts bekämpfen, verhindern
den Sozialabgaben abgeschöpft worden sind. Dazu ge-
und verändern.
hören die Erhöhungen der Abgaben für die Minijobs, die
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! natürlich die Möglichkeiten der Minijobs einschränken
Genau das machen wir!) werden. Das heißt, es wird eine umfassende Kaufkraft-
abschöpfung von rund 140 Milliarden Euro in dieser Le-
Vier Jahre lang hatten wir eine hohe Neuverschuldung.
gislaturperiode geben. Das können Sie mit dem Kon-
(B) (Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!) junkturprogramm, das Sie auf den Weg gebracht haben, (D)
überhaupt nicht ausgleichen.
In dieser Zeit ist die Arbeitslosigkeit gestiegen und mit
der Konjunktur ist es abwärts gegangen. Die Neuver- Damit sind wir beim eigentlichen Kern des Problems.
schuldung hat also nicht den vorgesehenen Beitrag ge- Die Frage ist: Was ist die Basis für stabile Haushalte?
leistet. Offenkundig ist das Argument nicht stimmig. Die Basis für stabile Haushalte ist eine hohe Beschäfti-
gungsquote. Denn die Beschäftigten erbringen durch
(Beifall bei der FDP) ihre Steuern und ihre Abgaben in die Sozialsysteme die
Deswegen haben wir vor dem Bundesverfassungsgericht Einnahmen des Staates und der Sozialkassen.
geklagt. Die Klage hat übrigens die CDU/CSU damals (Beifall bei der FDP)
mit uns veranlasst. Sie kann sich heute nicht abseilen,
weil wir das gemeinsam eingereicht haben. Nun warten Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist aber
wir einmal ab, was die Verfassungsrichter dazu zu sagen in den letzten zehn Jahren um knapp 2 Millionen Be-
haben. schäftigte gesunken. Sie sinkt stetig weiter, auch in die-
sem Jahr. Wenn es nicht gelingt, diesen Trend umzukeh-
Zweitens. Die Bundesregierung legt zum fünften Mal
ren, werden Sie die öffentlichen Haushalte niemals in
und in voller Absicht einen stabilitätswidrigen Haus-
Ordnung bringen können, weil die Einnahmebasis im-
halt vor. Im letzten Jahr wurde das Stabilitätsziel mit
mer schmaler wird. Wenn jetzt noch zusätzliche Belas-
etwa 3,2 Prozent im Vollzug beinahe erreicht. Nun soll
tungen durch hohe Abgaben hinzukommen, dann wird
das Defizit wieder das des letzten Jahres überschreiten.
die Binnenkonjunktur dadurch natürlich nicht gestärkt,
Mit einem Defizit von 3,3 Prozent wird das Stabilitäts-
sondern gedämpft bzw. in ihrer Entwicklung unter-
ziel nicht erreicht. Es fehlen 7 Milliarden Euro. Die
drückt. Dann werden auch keine neuen Beschäftigungs-
Steuereinnahmen scheinen etwas besser zu sprudeln. Sie
verhältnisse entstehen.
werden doch in der Lage sein, noch 5 Milliarden Euro
einzusparen, um in diesem Jahr das Stabilitätsziel zu er- Sie können sagen, was immer Sie wollen, aber die
reichen! Aber Sie vermeiden das. Gesetze der Ökonomie können auch Sie nicht außer
Kraft setzen.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP)
Drittens. Trotz vollmundiger Sparversprechungen
steigen die Bundesausgaben von 2006 bis 2009 erneut Wenn Sie 140 Milliarden Euro abschöpfen, wird da-
um 13,6 Milliarden Euro. Ich verstehe unter Sparen: we- durch die Binnenkonjunktur abgewürgt. Dann werden
niger Geld ausgeben. Die schwarz-rote Koalition ver- nicht mehr Beschäftigungsverhältnisse entstehen, dann
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2129
Dr. Hermann Otto Solms
(A) werden nicht mehr Beschäftigte Sozialabgaben und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
Steuern zahlen können, und dann werden sich auch die Als Nächster spricht der Kollege Carsten Schneider,
im Inland tätigen Unternehmen nicht entwickeln kön- SPD-Fraktion.
nen. Das wird zur Folge haben, dass die Haushaltslöcher
trotz höherer Belastungen Jahr für Jahr größer werden. Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
Dann können Sie allerdings nicht wieder zum gleichen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Trick greifen und erneut die Mehrwertsteuer um SPD steht für politischen Mut und für eine Haushalts-
3 Prozentpunkte, die Versicherungsteuer und die Ein- konsolidierung, durch die wir dazu beitragen, dass in den
kommensteuer erhöhen. Jahren 2006 und 2007 das Maastrichtkriterium, also der
europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, und die
Im Übrigen befinden wir uns ja noch nicht am Ende Vorgaben des Grundgesetzes eingehalten werden. Ich
der Diskussion. In vielen Zeitungen steht – Ihr neuer Ge- danke dem Bundesfinanzminister dafür, dass er heute
sundheitsexperte hat diesen Vorschlag in die Öffentlich- Vormittag den Haushalt eingebracht hat. Nunmehr ste-
keit gebracht –, hen wir als Parlament in der Verantwortung. Kollege
Solms, diese Verantwortung nehmen wir als große Ko-
(Joachim Poß [SPD]: Ja! Sein Name fällt mir
alition auch wahr. Es ist aber nicht so, dass die Schulden
jetzt auch nicht ein!) nur unsere sind. Sie sind die Schulden unserer gesamten
dass Sie jetzt über die Einführung eines Gesundheits- Gemeinschaft, der auch Sie als Politiker und als Staats-
solis diskutieren. Das Wort „Gesundheitssoli“ klingt bürger angehören. Daher ist es unsere Gesamtverantwor-
zwar niedlich. Aber was bedeutet es? Sie müssen knapp tung, wie wir mit dieser Situation umgehen.
14 Milliarden Euro abdecken, um die Beiträge für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Kinder auszugleichen. Wenn Sie dies aus Steuermitteln
tun wollen – durch einen Soli oder einen Zuschlag auf Ich habe die heutige Debatte sehr gespannt verfolgt
die Einkommensteuer –, müssen Sie die Einkommen- und mich vor allen Dingen über die eine oder andere
Deutung gewundert, die es noch zu klären gilt. Damit
steuer in ihrer ganzen Breite erhöhen. Berücksichtigt
meine ich zum Beispiel die Frage, ob es einen Wechsel
man den schon heute existierenden Soli, wäre es not-
bzw. eine Wende in der Finanzpolitik gibt,
wendig, auf einen Gesamtsoli von etwa 12 Prozent zu
kommen. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Oh ja! Aller-
dings!)
Das heißt, dass der Eingangssteuersatz wieder von
15 auf 17 Prozent und der Spitzensteuersatz einschließ- und manche Vorschläge, die dazu dienen, die Haus-
(B) lich der Reichensteuer auf 50 Prozent steigen müssten. haltskonsolidierung voranzutreiben. Über dieses Ziel (D)
Dadurch wären alle Vorteile, die durch die Steuerreform scheint sogar zwischen Liberalen und Möchtegern-Lin-
von Rot-Grün erreicht worden sind, kompensiert. Dann ken Einigkeit zu herrschen. Die entscheidende Frage ist
hätten wir in Deutschland erneut eine überproportional allerdings die nach dem richtigen Weg und den geeigne-
ten Instrumenten. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:
hohe Steuerbelastung: für alle Arbeitnehmer, alle Selbst-
Hierzu habe ich bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine
ständigen und alle Unternehmen. Außerdem würden wir
entscheidenden Vorschläge gehört. Aber wir sind ja auch
im internationalen Wettbewerb weiter zurückfallen. Das
erst am Beginn der Haushaltsberatungen; vielleicht än-
würde unserer konjunkturellen Entwicklung genauso dert sich das ganze noch.
wenig helfen wie die übrigen Steuererhöhungen.
Kollege Koppelin, der heute als erster Oppositions-
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass Sie kon- redner gesprochen hat, hat sich zur Verantwortung für
junktur- und strukturpolitisch auf dem falschen Weg die Verschuldung geäußert und zu Beginn seiner Rede
sind. Sie brauchen mehr Mut zu Reformen. Der vergan- eine Zahl in den Raum geworfen, die ich so nicht stehen
gene Wahlsonntag hat dazu geführt, dass Sie jetzt auch lassen kann. Sie sagten, die SPD habe in der Zeit von
im Bundesrat die Mehrheit haben. Damit haben Sie auch 1998 bis 2005, also während der letzten beiden rot-grü-
Verantwortung. Die 5 Millionen Arbeitslosen sind jetzt nen Regierungskoalitionen, Schulden in Höhe von
Ihre Arbeitslosen, die Schulden von 1,5 Billionen Euro 200 Milliarden Euro gemacht.
sind jetzt Ihre Schulden, und die anstehenden Zinszah-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Mit diesem Haushalt
lungen in Höhe von 50 Milliarden Euro sind jetzt Ihre zusammen! SPD-Minister!)
Zinsverpflichtungen.
Ich kann Ihnen sagen: Von 1998 bis 2005 waren es
(Ortwin Runde [SPD]: So etwas! Das darf 144 Milliarden Euro. Das ist nichts, worauf man stolz
doch wohl nicht wahr sein!) sein kann; aber ich denke, es ist eine Frage der Gesamt-
verantwortung, der auch Sie sich stellen müssen.
Jetzt haben Sie also die Verantwortung. Machen Sie et-
was daraus! Ich habe mir einmal heraussuchen lassen, wie hoch
die Neuverschuldung war, für die die FDP verantwort-
(Beifall bei der FDP und der Abg. Anja lich war. Wenn man die gesamte Neuverschuldung wäh-
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – rend Ihrer Regierungszeit, die die Bundesrepublik lange
Joachim Poß [SPD]: Das heißt, dass er sich Zeit erschüttert hat – also von 1969 bis 1998 –, zusam-
jetzt ganz verantwortungslos benehmen kann!) menrechnet, dann kommt man auf 711 Milliarden Euro.
2130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Carsten Schneider (Erfurt)


(A) Wenn man die Summe seit 1982, also während der (Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
schwarz-gelben Dominanz, zusammenrechnet, dann Und dann bleiben sie stehen!
kommt man immer noch auf 565 Milliarden Euro. Das
– Dann entwickeln sie sich auf einem gleich bleibenden
ist deutlich mehr, Herr Koppelin.
Niveau, Frau Kollegin Hajduk. – Sie sagen, dass sich die
(Jürgen Koppelin [FDP]: Kann es sein, dass Quote bezogen auf den Haushalt verändert; das ist rich-
die deutsche Einheit auch noch dabei war?) tig. Der Redlichkeit halber muss man aber dazusagen,
dass es einen Bilanzverlängerungseffekt gibt. Ab 2007
Ich sage das nicht verbunden mit einer Vorhaltung, son- werden wir 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuer, die wir
dern wegen der politischen Redlichkeit. einnehmen – das sind knapp 7 Milliarden Euro –, zur
Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages an die
(Beifall bei der SPD)
Arbeitslosenversicherung durchreichen. Das ist politisch
Ich glaube, dass es uns allen gut anstehen würde, wenn gewollt und auch richtig.
wir auf dem Weg, den der Finanzminister vorgegeben (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist zu
hat, folgende Ziele in den Haushalten des laufenden und kompliziert für die Grünen!)
des nächsten Jahres erreichen würden: erstens, die
Wachstumskräfte in unserer Volkswirtschaft zu stärken, In der Konsequenz führt das rein mathematisch dazu,
und zweitens, 2007 die Regelgrenze nach Art. 115 dass wir zwar die Investitionen nicht senken, dass aber
Grundgesetz einzuhalten, ohne von den Ausnahmemög- die Investitionsquote bezogen auf die Ausgaben im Ge-
lichkeiten Gebrauch zu machen. Auch hierzu habe ich samthaushalt natürlich sinkt. Das ist logisch. Von daher
eine andere Rechtsauffassung als die, die der Kollege glaube ich, dass das vertretbar und auch ein richtiger
Solms vorgetragen hat. Weg ist.
Der Haushalt selbst, der uns zur Beratung vorliegt, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
beruht auf einer sehr konservativen Schätzung. Wir neh- Der Name des Kollegen Eichel hat heute in der De-
men an, dass das Wachstum bei 1,4 Prozent liegen wird. batte schon öfter eine Rolle gespielt. Ich komme jetzt auf
Ich glaube, dass dies ausreichend ist, uns genügend die Deutungshoheit zurück, die die Kollegen Meister
Raum gibt und dass nicht mit bösen Überraschungen zu und Kampeter hier angesprochen haben. Ich habe eine
rechnen ist. Das Ausgabenwachstum liegt mit Blick auf gänzlich andere Auffassung bezüglich der Fortsetzung
einen Vierjahreszeitraum bei 0,7 Prozent pro Jahr. Herr der Finanzpolitik der Bundesregierung bzw. der Wende
Kollege Solms, die Inflationsrate wird bei 1,5 bis in derselben.
2 Prozent pro Jahr liegen. Wir werden sehen, wie sie sich
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist völlig
(B) entwickelt. Zumindest, wenn man den Auguren glauben (D)
kann, wird sie nicht deutlich darüber liegen. Das heißt, richtig!)
es wird eine reale Kürzung der Ausgaben des Bundes ge- Herr Kollege Solms, in diesem Punkt stimme ich Ihnen
ben. Wie Sie trotzdem davon reden können, dass wir das zu. Sie haben deutlich gemacht, dass es eine Kontinuität
Geld verschwenden und Konjunkturprogramme fahren, gibt.
die von uns falsch angedacht worden seien, ist mir wirk-
lich ein Rätsel. (Jürgen Koppelin [FDP]: Schulden sind keine
Wende!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Das, was hier im Deutschen Bundestag beschlossen
wurde, wird nun endlich umgesetzt. Ich will nur die
Sie haben die Investitionsquote angesprochen; auch Eigenheimzulage nennen, deren Abschaffung jetzt end-
darauf will ich noch eingehen. Die Investitionsquote ist lich das gesamte Haus dankenswerterweise zugestimmt
ein wichtiger Indikator für die Zukunftsfähigkeit und die hat. Das war die größte Einzelsubvention des Bundes.
Struktur der Ausgaben. Ich widerspreche nicht, dass es Dieses Haus hat unter rot-grüner Regierung manches be-
in den vergangenen Jahrzehnten – auch unter Ihrer Be- schlossen, das aber niemals umgesetzt wurde, weil es im
teiligung; das will ich noch einmal hervorheben – insge- Bundesrat eine Blockade gab. Diese Blockade ist nun
samt eine Strukturveränderung hin zum sozialen Bereich aufgelöst. Von daher sind die Maßnahmen, die wir schon
gab. Nicht umsonst ist der Etat für den Arbeits- und früher angedacht haben, nun im Vollzug. Deswegen
Sozialbereich der größte. Franz Müntefering hat mit der kann ich nicht von einer Wende, sondern nur von einer
Aufstellung des Haushaltes die Verantwortung wahrge- Fortsetzung des Regierungshandelns reden, das seinen
nommen, die Herr Kollege Kampeter hier spitzfindig an- Niederschlag in der Gesetzgebung findet.
gesprochen hat.
(Beifall bei der SPD)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So bin ich!) Die Ausgaben des Bundes im Zeitraum von 1999 bis
Die Sozialdemokraten haben innerhalb der Bundesregie- 2004 sind im Vergleich zu dem, was real prognostiziert
rung die entscheidenden Ministerien übernommen. Wir worden ist, niedriger gewesen, nämlich 0,4 Prozent.
sind bereit, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Auch hier zeigt sich eine deutliche Kürzung der Ausga-
ben, womit wir damals einen Beitrag zur Konsolidierung
Ich will zur Investitionsquote zurückkommen. Allein geleistet haben. Das ist uns auf der Einnahmenseite lei-
von 2005 auf 2006 steigen die Investitionen real um der nicht gelungen. Die Einnahmen sind – das hat die
1 Milliarde Euro. Bundesbank am gestrigen Tag in ihrem Monatsbericht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2131
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) festgestellt – in den letzten Jahren eingebrochen. Wir (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir wollen (C)
werden alles tun, um insbesondere dieses Einnahmen- länger regieren!)
problem zu lösen.
Für diese Legislaturperiode werden wir ein Konsoli-
Hinsichtlich der nächsten Kennziffer, die haushalts- dierungsvolumen von 30 Milliarden Euro beisteuern.
und wirtschaftspolitisch wichtig ist, der Steuerquote, (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
hat der Finanzminister heute Morgen darauf hingewie- Das ist ein Schlag: 30 Milliarden! Das wird
sen, dass sie auf einem international sehr niedrigen brachial!)
Niveau ist. Europaweit hat nur noch die Slowakei mit
20,1 Prozent eine niedrigere Steuerquote als die Bundes- Das ist politisch schwer handhabbar. Es wird uns viel
republik Deutschland. Mit den Entlastungsmaßnahmen abverlangen. Sie alle werden viele Briefe von Interes-
bei der Einkommensteuer im Jahre 2000 durch die große senverbänden bekommen, die, für sich genommen, si-
Steuerreform haben wir diese Quote bewusst angestrebt. cherlich ein berechtigtes Interesse haben, aber für die
1999 lag die Steuerquote noch bei 22,5 Prozent. Das Allgemeinheit und für den Staat Einzelinteressen sind.
mag nun sehr abstrakt klingen. Aber in realen Zahlen
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es geht um
entspricht das einer Mindereinnahme von 50 Milliar-
Deutschland!)
den Euro. Das Defizit des Bundes entspricht in etwa die-
ser Zahl. Mit all dem werden wir uns auseinander setzen müssen.
Die Maßnahmen, die wir nun mit dem Haushaltsbe- Für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes muss – ohne
gleitgesetz einleiten, das die SPD-Fraktion in Gänze un- pathetisch klingen zu wollen – meines Erachtens immer
terstützt und sowohl auf der Einnahmenseite durch die im Vordergrund stehen, dass wir den nachfolgenden Ge-
bedingten Steuermehreinnahmen – etwa bei der Versi- nerationen nicht nur Zinslasten und ein Sozialversiche-
cherungsteuer und der Mehrwertsteuer, zu denen wir po- rungssystem überlassen, das zu hohe Anforderungen an
litisch stehen – als auch auf der Ausgabenseite durch sie stellt, sondern dass wir ihnen auch Zukunftschancen
Kürzungen und Strukturreformen langfristig wirken bieten.
wird, führen letztendlich dazu, dass wir 2007, nach dem
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Jahr des Anschubs in 2006, einen Haushalt vorlegen
können, der sowohl den Maastrichtkriterien als auch der Von daher bietet der Haushalt mit den vorgesehenen
Verfassung voll und ganz entspricht. Konsolidierungsmaßnahmen und den neuen Schwer-
punkten insbesondere im Forschungsbereich – was ich
Das Bund-Länder-Verhältnis, das auch im Zusam- ausdrücklich unterstütze –, aber auch bei den Investi-
(B) menhang mit der Debatte um die zweite Föderalismusre- tionen die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche (D)
form gesehen werden muss, ist nun so, dass wir nunmehr Wirtschafts- und Finanzpolitik in den nächsten Jahren
sowohl hier im Bundestag mit einer Mehrheit durch die bis 2009.
große Koalition als auch im Bundesrat die Möglichkeit
haben, langfristig stabile Rahmenbedingungen vorzuge- Ich will noch kurz einige Maßnahmen auf der Aufga-
ben. Ich bin gespannt, wie insbesondere die Maßnahmen benseite nennen, die für Diskussionen sorgen werden,
des Haushaltsbegleitgesetzes wirken werden. Ich denke die aber für mich als Haushälter unabdingbar sind. So ist
da an die Regionalisierungsmittel die Absenkung der Zuwendungen aus dem Bundes-
haushalt an die gesetzliche Krankenversicherung auf
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) 1,5 Milliarden Euro im Jahr 2007 und das Auslaufen
dieser Zuwendungen im Jahr 2008 eine Voraussetzung
und andere Mittel, die den Ländern zugute kommen, wie dafür, dass wir vorhandene Effizienzreserven im System
etwa durch die Mehrwertsteuererhöhung – 1 Prozent- der gesetzlichen Krankenversicherung heben, statt uns
punkt bringt Einnahmen in Höhe von 7 Milliarden Euro – mithilfe von Steuermitteln um die Reform zu drücken.
und den Abbau von Steuervergünstigungen. Das bringt Ich glaube, dass wir mit dieser Maßnahme den richtigen
allein dem Bund Mehreinnahmen von 19 Milliar- Weg gehen.
den Euro. Dadurch werden die Ausnahmen – das ist
richtig so –, durch die sich viele Menschen arm rechnen Aber auch die Maßnahmen im Arbeitsmarktbereich
konnten und keine Steuern zahlen mussten, abgeschafft. – Herr Kampeter hat von 15 Milliarden Euro gespro-
Das wird dazu führen, dass die Finanzierungsbasis des chen; ich gehe von 7 Milliarden Euro per annum aus –,
Staates, der für uns Sozialdemokraten ein Fundament die Verringerung des allgemeinen Bundeszuschusses zur
unserer Gemeinschaft ist, tatsächlich gegeben ist. Rentenversicherung und die Halbierung des Weihnachts-
gelds werden langfristig zur Absicherung und Konsoli-
Der Haushalt 2006, über den wir in den nächsten Mo- dierung des Haushalts beitragen.
naten diskutieren werden, ist ein Haushalt des Über-
gangs; das habe ich bereits erwähnt. Wir sanieren, refor-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mieren und investieren. Dieser politische Dreiklang folgt
unserer Grundüberzeugung, nach der wir nicht gegen die Herr Kollege Schneider, wollen Sie eine Zwischen-
Konjunktur sparen können, weil wir Wachstumsimpulse frage von Anja Hajduk zulassen?
brauchen, um in der Perspektive – diese Perspektive ist
für mich die nächste Legislaturperiode – einen ausgegli- Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
chenen Haushalt vorzulegen. Ja, bitte.
2132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

(A) Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stimmung über dieses Thema; Sie haben dadurch die (C)
Herr Kollege Schneider, zu dem Bundeszuschuss zur Hälfte Ihrer Wähler verloren –, ist falsch. Nur ein Bei-
gesetzlichen Krankenversicherung möchte ich Sie Fol- spiel: Bei einer Steuerquote von 20 Prozent müsste das
gendes fragen: Stimmen Sie nicht mit mir überein, dass BIP der Bundesrepublik um 100 Milliarden Euro wach-
jenseits dieses auslaufenden Zuschusses ein Modernisie- sen, wenn wir Mehreinnahmen in Höhe von 20 Milliar-
rungsdruck für die Kassen gegeben ist? Dieses Jahr wer- den Euro erzielen wollten. 100 Milliarden Euro entspre-
den durch das Vorziehen der Überweisungen der Arbeit- chen 5 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.
nehmerbeiträge zusätzliche Einnahmen erzielt, die im Wenn ich die von uns prognostizierten 1,4 Prozent noch
nächsten Jahr fehlen. Es ist doch eine Mär, dass allein addiere, dann komme ich auf einen Wert von
durch die Kürzungen bei versicherungsfremden Leistun- 6,4 Prozent. Herr Kollege Koppelin, ich wäre froh, wir
gen, die nicht länger aus Steuermitteln finanziert wer- hätten ein solch starkes Wachstum. Aber ich glaube, dass
den, ein Modernisierungsdruck ausgelöst würde. Sie ge- das fernab jeder realistischen Schätzung ist und eines se-
hen vielmehr das Risiko einer Beitragssatzsteigerung im riösen Haushälters und ehemaligen Finanzministers
nächsten Jahr ein. Ich finde, Sie sollten das nicht so ver- nicht würdig ist.
kürzt darstellen. Aber vielleicht sehen Sie den Sachver-
Die Debatte der vergangenen Tage darüber, wie wir
halt anders.
entweder auf der Ausgabenseite oder auf der Einnah-
menseite zu Verbesserungen kommen können – das hat
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): die Kollegin Hajduk vorhin angesprochen –, und die
Frau Kollegin Hajduk, sicherlich besteht unabhängig Vorschläge der Opposition dazu sind bislang nicht ziel-
von der Senkung des Bundeszuschusses an die gesetz- führend. Ich hoffe, dass sich das noch ändert. Wir wer-
liche Krankenversicherung Modernisierungsdruck. den als Haushälter in den Haushaltsberatungen in den
Nichtsdestotrotz wird er durch die Verringerung der Ein- nächsten zwei Monaten jedes Ressort unter die Lupe
nahmenbasis infolge der Rückführung des Bundeszu- nehmen.
schusses an die Krankenversicherung in Milliardenhöhe
und der Prioritätensetzung zugunsten eines ausgegliche- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jede Haus-
nen Haushalts – das hat Herr Kollege Poß vorhin ausge- haltssteuer!)
führt – noch verstärkt. Ich kann den Steuerzahlern versichern, dass wir als
Wir alle wissen, dass einmal gewährte Zuschüsse den Haushälter sehr genau darauf achten, dass kein Geld un-
Ruf nach weiteren Steuermitteln nach sich ziehen und nütz ausgegeben wird. Ich unterstelle nichts. Aber in der
dadurch Reformmaßnahmen, über die die Koalition Regel finden wir die eine oder andere überflüssige Aus-
noch nicht in Gänze entschieden hat, unterdrückt wer- gabe. Wir werden die Vorschläge, die von Ihnen kom-
(B) den. Ich glaube aber, dass wir als große Koalition mit men, gerne aufgreifen. Wenn ich aber die vergangenen (D)
Frau Ministerin Schmidt an der Spitze ein ausgewogenes Jahre Revue passieren lasse, bin ich nicht sehr positiv
Konzept der gesetzlichen Krankenversicherung vorlegen gestimmt. Nichtsdestotrotz bin ich für Vorschläge in der
werden, das den vorhin genannten Maßgaben genügt, Sache offen.
was das Leistungsniveau, die Ausgabenseite und vor al- Der Punkt Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit
len Dingen die Lohnnebenkosten betrifft. Ich glaube ist bereits angesprochen worden. Unsere Priorität in den
nicht, dass es letztendlich zu einer deutlichen Beitrags- Haushaltsberatungen ist, die im Haushalt vorgegebenen
satzsteigerung kommen wird. Das wird eher nicht der globalen Minderausgaben zu reduzieren. Wir wollen
Fall sein. Wie es konkret weitergehen wird, werden die die Wachstumskräfte und die Investitionstätigkeit zulas-
Debatten in diesem Hause zeigen. ten der konsumtiven Ausgaben stärken, wo es möglich
ist und in der Gesamtverantwortung darstellbar ist. Wir
Klar ist für uns – das hat die Regierung mit dem vor-
wollen außerdem – das ist mir ein persönliches Anliegen –
liegenden Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes gezeigt,
das Bund-Länder-Verhältnis, insbesondere die Verwen-
den wir als Koalition in diesem Punkt auch so beschlie-
dung der Solidarpaktmittel in den ostdeutschen Bun-
ßen werden –, dass wir den Bundeszuschuss reduzieren
desländern, unter die Lupe nehmen.
müssen und dies auch tun werden.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Da darf es keinen Regelverstoß geben!)
der CDU/CSU)
Ich glaube, dass wir als Bundesgesetzgeber, der für den
Ich will noch auf einen anderen Punkt eingehen, der
Bundeshaushalt verantwortlich ist, hier die Zügel anzie-
in den vergangenen Tagen in der öffentlichen Debatte
hen müssen. Wir müssen darauf achten, dass die ostdeut-
eine Rolle gespielt hat, und zwar die Frage möglicher
schen Bundesländer die zur Verfügung gestellten Mittel
Mehreinnahmen durch eine positive Entwicklung des
so investieren, dass es dort bis 2019 eine sich selbst tra-
Steueraufkommens. Am vorigen Sonntag wurden meh-
gende wirtschaftliche Entwicklung gibt.
rere einschneidende Wahlergebnisse erzielt. Eines davon
ist, dass uns der Kollege Paqué als Finanzminister in Ich möchte positiv erwähnen: Wenn man den Jahres-
Sachsen-Anhalt erspart bleibt. Seine Aussage, dass wir abschluss 2005 der westdeutschen Flächenländer mit
die geplante Mehrwertsteuererhöhung nicht bräuchten, dem der ostdeutschen Flächenländer vergleicht, dann
weil wir aufgrund der besseren Konjunkturentwicklung stellt man fest, dass es deutliche Unterschiede gibt. Das
20 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen hätten – die Ausgabenwachstum in den ostdeutschen Flächenländern
Wahl in Sachsen-Anhalt war letztendlich eine Volksab- beträgt nur 0,4 Prozent und ist geringer als das in den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2133
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) westdeutschen. Das heißt, dort gibt es bereits die Ein- Auch die neuen Parolen aus der SPD nach einem hand- (C)
sicht in die Notwendigkeit. Ich bin bestrebt, Reformbe- lungsfähigen Staat finden unsere Unterstützung.
mühungen, sofern vorhanden, zu unterstützen und dort,
wo es keine gibt, zu initiieren. Ich glaube, dass das not- Nun kommt Steinbrück II. Er spricht eine ganz andere
wendig ist. Sprache. Nach der Agenda 2010, nach jahrelangen Spar-
runden und Nullrunden bei den Rentnerinnen und Rent-
Der Blick nach Europa offenbart für die Bundesrepu- nern, nach jahrzehntelanger Umverteilung von unten
blik Gutes. Der Ecofin-Rat hat das Stabilitätsprogramm, nach oben, nach alledem fordert Steinbrück II: Der Staat
das die Bundesregierung unter Federführung von Fi- muss Leistungen kürzen, die „übertriebene Anspruchs-
nanzminister Steinbrück nach Brüssel gemeldet hat, haltung“ muss im Zaum gehalten werden, der Staat muss
nicht nur zur Kenntnis genommen. Vielmehr sieht der sich „auf seine Kernaufgaben konzentrieren“ und auf
Rat die Haushaltsentwicklung des Jahres 2006 im Zu- „Eigenverantwortung“ setzen; so der Wortlaut seiner
sammenhang mit der des Jahres 2007. Grundsatzrede von Anfang Januar.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ignoriert So heißt es auch im Deutschen Stabilitätsprogramm
die FDP!) vom Februar 2006 wörtlich:
Einer der entscheidenden Punkte ist, dass wir als die Ohne eine Rückführung der Sozialleistungsquote
größte Volkswirtschaft Europas und als diejenigen, die können die … Konsolidierungsziele … nicht er-
den Stabilitätspakt auf den Weg gebracht haben – die- reicht werden.
sen halte ich für absolut notwendig und richtig –, den
Vorgaben genügen. Das heißt, dass wir im Jahr 2007 die „Reduktion auf die Kernaufgaben“ hieß aber immer
Maastrichtvorgaben erfüllen werden, zumindest was die schon Sozialabbau. Das war stets die Kampfparole der
Neuverschuldung betrifft. Das gesamtstaatliche Defizit FDP und des Arbeitgeberflügels der CDU/CSU, Herr
wird dann voraussichtlich 2,5 Prozent des Bruttoinlands- Minister. Was heißt denn, man könne nicht mehr „einen
produkts betragen. Ich halte dies insbesondere deswegen vornehmlich konsumtiv ausgerichteten Sozialstaat“
für wichtig, weil in anderen Ländern – viele sehen finanzieren? Wann begreifen Sie endlich, dass Sozial-
Deutschland in gewisser Weise als Leitindikator – die leistungen im Sozialstaat entwickelter Industriegesell-
Daumenschrauben angezogen werden müssen. Auch in- schaften kein Geschenk, keine Befriedigung von Bedürf-
nerhalb der Europäischen Union muss klar sein, dass tigkeit bedeuten, sondern einen Rechtsanspruch auf
Haushaltskonsolidierung, das heißt eine zukunftsfähige, soziale Sicherheit darstellen?
verantwortungsvolle Finanzpolitik, eine der Prioritäten (Beifall bei der LINKEN)
ist, für die die Bundesrepublik steht, für die die
(B) Sozialdemokraten stehen und allen voran Finanzminister In diesem Verständnis von Sozialstaat unterscheiden wir (D)
Peer Steinbrück. uns auch von den Kolleginnen und Kollegen von der
SPD fundamental.
Vielen Dank.
Jetzt komme ich zum Haushalt. Welcher Minister hat
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ihn nun entworfen, Steinbrück I oder Steinbrück II? In
Ihrem 25-Milliarden-Sofortprogramm werden zusätz-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: liche Investitionen in Verkehr, Forschung, Energie und
Das Wort hat Dr. Axel Troost, Die Linke. Umweltsanierung angekündigt. Das klang in Genshagen
sehr beeindruckend. Ob das alles übrigens zusätzlich er-
(Beifall bei der LINKEN) folgt, sei noch dahingestellt.

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ihr Haushalt spricht aber eine andere Sprache: Die in-
vestiven Ausgaben des Bundes steigen gerade einmal
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
um eine halbe Milliarde Euro: von 22,7 Milliarden Euro
Herren! Manchmal habe ich den Eindruck, auf der Re-
in 2005 auf 23,2 Milliarden Euro in 2006 bis 2009.
gierungsbank sitzt nicht ein Minister Steinbrück, son-
dern dort sitzen zwei; der doppelte Steinbrück sozusa- Das bedeutet erstens: Sie liegen immer noch unter-
gen. Steinbrück I sagt, wie in der Sonntagsausgabe der halb des Niveaus der Jahre bis 2004 und damit auch
„FAZ“ zu lesen ist – ich zitiere –: „Man spart sich aus deutlich unterhalb des Durchschnitts der Eurozone. Mit
Haushaltsstrukturproblemen nicht heraus.“ Derselbe Mi- diesem investiven Teil Ihres Sofortprogramms stoppen
nister sagt auch: „Der Haushalt muss das noch labile Sie gerade einmal den Abwärtstrend der öffentlichen In-
Wachstum stützen.“ Und im Monatsbericht seines Hau- vestitionen in den letzten 20 Jahren. Eine Trendwende
ses vom letzten Dezember heißt es: „Die Konsolidie- zur Verbesserung von Straßen und öffentlichem Verkehr,
rungslast muss solidarisch von allen in unserer Gesell- von Schulen und Universitäten ist das nicht. Wo da der
schaft getragen werden.“ Aufbruch im Land bleibt, den Frau Merkel feierlich ver-
kündet hat, bleibt mir schleierhaft.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Wenn ich das höre und lese, muss ich sagen: Weiter so, Wir begrüßen uneingeschränkt, dass die Bundesregie-
Herr Minister! Bei diesen Aussagen steht die Linksfrak- rung endlich auf Forderungen nach Zukunftsinvestitio-
tion hinter Ihnen. nen eingeht, die unsere Fraktion, kritische Wissenschaftler,
aber auch die IG Metall, Verdi und andere Gewerkschaf-
(Beifall bei der LINKEN) ten seit langem erheben. Es gibt nur ein kleines Problem:
2134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Axel Troost


(A) IG Metall und Verdi fordern mindestens 20 Milliarden Steinbrück I, dem zufolge man sich eben nicht aus der (C)
Euro bzw. 40 Milliarden Euro pro Jahr. Was sagen Sie zu Krise heraussparen kann.
der Aussage der „Financial Times“ vom 10. Januar, dass
(Beifall bei der LINKEN)
eine Konjunkturpolitik mit einem Volumen von 60 Mil-
liarden Euro pro Jahr notwendig wäre, wollte die Bun- Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, die in
desregierung, bezogen auf das jeweilige Bruttoinlands- Brüssel seit längerem stattfindende Diskussion über die
produkt, eine ähnliche Finanzpolitik wie die USA wachstumsorientierte Neuinterpretation der Kriterien zu
machen? beschleunigen. Man hört in der Öffentlichkeit sehr we-
nig davon.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir wollen keine
Finanzpolitik wie die USA machen!) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Die Verän-
derungen haben Sie nicht mitgekriegt?)
60 Milliarden Euro jährlich, nicht 6 Milliarden Euro wä-
ren geboten. So ist die Lage in unserem Land. Die öffentlichen Investitionen sind mit gerade einmal
1,3 Prozent des BIP ein kümmerlicher Rest. Das ist ein
(Beifall bei der LINKEN)
historischer Tiefstand. So wie die Dinge bei uns stehen,
Aber es bleibt zweitens leider nicht bei der Kritik der kommen wir an einer Kreditfinanzierung solcher Investi-
Miniexpansion. Bezogen auf das laufende Jahr ist Ihr tionen nicht vorbei. Kreditfinanzierung ist für eine anti-
Haushalt im Saldo gerade nicht expansiv, sondern res- zyklische Finanzpolitik unverzichtbar. Abbau von
triktiv. Ich verweise hier auf eine Analyse des Instituts Verschuldung über eine Spar-, Schrumpfungs- und Um-
für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Sie ha- verteilungspolitik zulasten breiter Teile der Bevölkerung
ben nämlich Ihre Kürzungen vergessen, Herr Minister, wirkt ökonomisch verheerend.
wenn Sie von Expansion reden. Kürzungen bei den
Das Problem bei der Verschuldung ist ein ganz ande-
Hartz-IV-Empfängern, Steuererhöhungen für Pendler
res: Unter Rot-Grün ist mit voller Zustimmung von
und Bezieher von Abfindungen, Kürzungen bei den
Schwarz-Gelb – das wurde heute hier noch einmal deut-
Nahverkehrspauschalen für die Länder, Kürzungen im
lich – die Verschuldung zur Lückenbüßerin für eine mas-
öffentlichen Dienst, Beitragserhöhungen für Rentnerin-
sive Senkung der Steuerquote verkommen.
nen und Rentner. Das macht zusammen insgesamt
4,5 Milliarden Euro. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oh Gott! Oh
Gott!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn das al-
les wäre, wäre es in Ordnung!) Klar wird damit, dass der Rückgang der Steuerquote
nicht nur auf die schwache wirtschaftliche Entwicklung
Bei aller keynesianischen Rhetorik: Sie bleiben letztlich
(B) der vergangenen Jahre zurückzuführen ist, sondern ers- (D)
bei dem Schrumpfkurs Ihres Vorgängers. Dieser Kurs ist
tens auf eine völlig verfehlte Steuersenkungspolitik seit
aber gnadenlos gescheitert und bei der letzten Bundes-
2000
tagswahl gerade abgewählt worden.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
und zweitens auf die katastrophalen Wirkungen der Steu-
Nun kommt im nächsten Jahr die Mehrwertsteuerer-
erentlastungen zugunsten der Wirtschaft. Zur Erinnerung:
höhung mit 15 bis 17 Milliarden Euro jährlich, die noch
Hätten wir heute die Steuerquote des Jahres 2000, dann
zusätzlich die Binnennachfrage belastet und – das wol-
wäre die nötige Neuverschuldung null. Auf Basis der
len wir nicht vergessen – in erster Linie auf Kosten der
Steuerquote von 2000 hätte der Staat circa 65 Milliarden
unteren Einkommensschichten geht, die immer noch die
Euro mehr. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen
Hauptlast von Mehrwertsteuererhöhungen tragen müs-
und Herren.
sen. Wir bleiben deshalb dabei: Unter dem Strich ist die-
ser Haushalt kein Haushalt für Wachstum und Beschäfti- (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter
gung, sondern für Schrumpfung und Arbeitslosigkeit, [CDU/CSU]: So statisch funktioniert das alles
ein Haushalt der sozialen Ungerechtigkeit. nicht!)
(Beifall bei der LINKEN) Insofern ist es ein Treppenwitz, jetzt das zu schwache
Steuersubstrat zu beklagen. Das ist geradezu eine dreiste
Nun zum Thema Schulden. Die Staatsschulden in
Verhöhnung der Öffentlichkeit. Sie haben doch das Steu-
Deutschland haben 2005 das vierte Mal in Folge die
ersubstrat verkommen lassen.
Maastrichtkriterien verletzt. Vermutlich wird es auch
dieses Jahr wieder geschehen. Im vorliegenden Haushalt (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie
liegt die Neuverschuldung in der Tat um 65 Prozent über sind doch erst zufrieden bei 100 Prozent Steu-
den Investitionen. erquote! – Weiterer Zuruf des Abg. Steffen
Kampeter [CDU/CSU])
Unsere Position hierzu ist klar: Wir lehnen die
Maastrichtkriterien ab. Sie sind ein Produkt monetaristi- Schließlich ein Wort zu internationalen Zusammen-
scher Ideologie. hängen: Die Wirkungen Ihres Haushalts lassen sich na-
türlich ohne die gesamtwirtschaftlichen und weltwirt-
(Beifall bei der LINKEN)
schaftlichen Zusammenhänge nicht angemessen
Sie sind, um mit Prodi zu sprechen, dumm und töricht. beurteilen. Wir haben es heute weltweit mit einem quali-
Sie wirken prozyklisch und sie widersprechen tativen Wandel des Kapitalismus zu tun. Der so genannte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2135
Dr. Axel Troost
(A) organische oder organisierte Kapitalismus – bei uns auch Das ist ein verteilungspolitischer Skandal. (C)
Deutschland AG genannt – wird vom Finanzmarkt-
kapitalismus abgelöst. (Beifall bei der LINKEN)

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wollen Sie den Norbert Walter von der Deutschen Bank bezeichnet
umkehren, oder was soll das heißen?) die Finanzmärkte als die vierte Gewalt im Staat.
Tietmeyer zufolge haben die Politiker immer noch nicht
Wir haben es mit einer explosionsartigen Anhäufung pri- gemerkt, wie sehr sie von den Finanzmärkten insgesamt
vater Vermögen und Anlage suchender Liquidität zu tun. beherrscht werden.
Schätzungen besagen, dass weltweit inzwischen insge-
samt 36 Billionen Euro, also 36 000 Milliarden Dollar, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Verfüh-
an privaten Finanzvermögen vorhanden sind. rungstheorie der Finanzmärkte! Das hat doch
so einen Bart!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wollen Sie
die enteignen, oder was?) Ich komme zum Schluss. Herr Fischer hat auf eine
provokante Frage von Delegierten auf einem Verdi-Kon-
– Nein. gress mit einer Gegenfrage geantwortet: Wollt ihr etwa
Dies ist natürlich ein Problem. Dafür gibt es drei eine Politik gegen das internationale Finanzkapital
Gründe: Erstens. Die Ausweitung der privaten Alters- machen? Diese Frage beantworten wir eindeutig: Ja, ge-
sicherung bedeutet einen entsprechenden Zuwachs der nau das wollen wir.
Pensionsfonds. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja und? Das SPD)
ist doch im Interesse der Arbeitnehmerinnen Wir wollen es, weil es gar keine andere Wahl gibt. Die
und Arbeitnehmer!) Menschen sind immer weniger bereit, sich zur Geisel der
Zweitens. Die Umverteilungspolitik bewirkt einen Renditeansprüche der Vermögensbesitzer und der Ver-
Anstieg der Geldvermögen. Drittens. Es gibt unzurei- armung der öffentlichen Hand zu machen.
chende Verwertungsbedingungen, die ebenfalls zu ent- (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter
sprechenden Anlagen in Finanzkapital führen. [CDU/CSU]: Sie stehen in einer unguten poli-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wahr- tischen Tradition!)
scheinlich profitabler für die älteren Herr-
Genau das zeigen die Streiks im öffentlichen Dienst,
schaften als die gesetzliche Rentenversiche-
der Kampf bei AEG, der Widerstand gegen Privatisie-
rung!)
(B) rungen, die Proteste der sozialen Bewegungen. Sie las- (D)
– So ist das, ja. Aber dann muss man sich darüber Ge- sen dies alles einfach so weiterlaufen. Wir sind in der Tat
danken machen, welche Alternativen man bietet. Ich der Ansicht: Hier muss eingegriffen werden. Wir wollen
versuche gleich noch, das zu erklären. mit dafür sorgen, dass die Gewerkschaften, dass die so-
zialen Bewegungen mit unserer Fraktion wieder ein
(Beifall bei der LINKEN) Sprachrohr haben, um gegen diese Entwicklungen ein-
Alles zusammen führt zu neuen Finanzierungsformen zuschreiten.
der Unternehmensinvestitionen, weg vom Bankkredit
Danke schön.
hin zu Aktien, Anleihen, Investmentfonds und privaten
Investmentfirmen, zur konsequenten Profitsteuerung (Beifall bei der LINKEN)
sämtlicher Unternehmensbereiche.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herzlich will- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
kommen im 21. Jahrhundert!) Das Wort hat der Herr Kollege Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
Weltweit vorgegebene Renditeziele werden zum ent-
scheidenden Bezugspunkt der Unternehmensentschei- (Beifall bei der CDU/CSU)
dungen. Das „Durchregieren“ immer flatterhafterer Fi-
nanzmärkte in die nationalen Ökonomien, in einzelne Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
Unternehmen und Unternehmensteile führt zu wachsen-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
der Abhängigkeit von spekulativen Entwicklungen der
und Kollegen! Wenn man den Finanzplan 2002 bis 2006
Absatz- und Finanzkonjunkturen. Die Folge sind immer
zur Grundlage der heutigen Debatte gemacht hätte, dann
kurzfristigere Ad-hoc-Reaktionen des Managements.
wäre der Bundeshaushalt im Jahre 2006 eigentlich ein
Strategische Planung wird zur Nebensache.
überaus positives Signal gewesen, und zwar einerseits
Folge ist die Unterwerfung der Unternehmensführun- für den Standort Deutschland und andererseits insbeson-
gen unter das Diktat der Finanzvorstände und nicht zu- dere für die junge Generation; denn ursprünglich – so
letzt die Explosion der Managergehälter, die 1980 noch waren die Planungen von Rot-Grün – sollte das
das 40fache des Facharbeitergehaltes ausmachten, in Jahr 2006 das Jahr sein, in dem der Bund erstmals wie-
2003 aber sage und schreibe das 400fache. der ohne neue Schulden auskommt.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Unglaublich!) Ja!)
2136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Georg Fahrenschon
(A) Dass diese rot-grünen Planungen völlig aus dem Ruder Das ist gleichzeitig die problematische Anfangsbilanz (C)
liefen, beweist unsere heutige Situation. Es ist nicht nur der großen Koalition.
so, dass wir 2006 keine Null-Neuverschuldung errei-
chen, sondern auch so, dass der Bund das Unter diesen Vorzeichen sind der von der großen Ko-
Haushaltsjahr 2005 im Ist mit einer historisch hohen alition vorgelegte Haushaltsentwurf 2006 und das dazu-
Neuverschuldung von 31,2 Milliarden Euro abschloss. gehörige Haushaltsbegleitgesetz zu sehen. Vor diesem
Es bedarf größter Anstrengungen, den Haushalt 2006 Hintergrund glaube ich – da befinde ich mich in Über-
überhaupt zu organisieren. Das ist – so viel gehört zum einstimmung mit dem Kollegen Schneider –, dass wir es
Stichwort „Klarheit und Wahrheit“ auch bei der Einbrin- hier mit einem Haushalt des Übergangs zu tun haben.
gung des Bundeshaushalts 2006 gesagt – die Schlussbi- Er enthält einen wichtigen Zweiklang, nämlich sanieren
lanz der rot-grünen Vorgängerregierung. und gleichzeitig Impulse für Wachstum und Beschäfti-
gung setzen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU)
Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist Unsinn! Herr Fahrenschon, Sie wissen Er wurde in dem Bewusstsein aufgestellt, dass ohne
das doch besser!) Wachstum keine Sanierung und ohne Konsolidierung
kein Wachstum möglich ist.
Der Bundesetat befindet sich in einer dramatischen
Schieflage, in der dramatischsten der Nachkriegsge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
schichte. In den vergangenen sieben Jahren wurden ins- Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ist das
gesamt 200 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. mit Ihrer Fraktion abgestimmt?)
Das strukturelle Defizit, also die ständige Differenz
Weil wir dringend wirtschaftliches Wachstum brauchen,
zwischen den regelmäßigen Einnahmen und den Ausga- nur deshalb liegt die Nettokreditaufnahme 2006 mit
ben, liegt bei rund 60 Milliarden Euro. Die Zinszahlun- rund 38 Milliarden Euro deutlich über der Grenze, die
gen auf Schulden des Bundes sind mittlerweile der
das Grundgesetz als Regel vorgibt.
zweitgrößte Posten bei den Staatsausgaben Deutschlands
geworden und machen damit 15 Prozent aller Ausgaben (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
des Bundeshaushalts aus. Die Summe der Ausgaben Das glaubt kein Mensch!)
für Soziales, Zinsen und Personal allein liegt schon
deutlich über den Steuereinnahmen der Bundesrepublik Denn man muss sich damit auseinander setzen, dass
Deutschland. 198 Milliarden Euro müssen wir oder wol- man den aufkeimenden Aufschwung und das ge-
len wir für Soziales, Zinsen und Personal ausgeben, wir wünschte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht ka-
puttmacht. Aus dem Grunde gehen wir absolut sachge-
(B) haben aber nur noch Steuereinnahmen von 192 Milliar- recht im Rahmen des Grundgesetzes vor. Wir nehmen (D)
den Euro. Im Gegenzug wurden 2005 für Investitionen
nur noch 23 Milliarden Euro ausgegeben. Das sind weni- für das Jahr 2006 die Ausnahmeregelung des Grund-
ger als 10 Prozent des Ausgabenvolumens. gesetzes in Anspruch, um 2007 – das ist die Argumenta-
tion – einerseits den Vertrag von Maastricht und anderer-
Das Fazit, die bittere Wahrheit, lautet deshalb: Ers- seits die Vorgabe des Art. 115 Grundgesetz einhalten zu
tens. Die Investitionsquote befindet sich auf einem histo- können.
rischen Tiefstand. Zweitens. Jeden fünften Euro, den der
(Beifall bei der CDU/CSU)
Bund heute ausgibt, hat er eigentlich gar nicht.
Eine weitere bittere Wahrheit ist, dass die aktuelle
(Lothar Mark [SPD]: Sehr richtig! Die Schul- Struktur des Bundeshaushalts, zum Beispiel die hohe
den haben wir übernommen!) Sozialausgabenquote mit rund 134 Milliarden Euro
Drittens. Der wirtschaftspolitische Handlungsspielraum – das ist in etwa die Hälfte der für das Jahr 2006 geplan-
ist mittlerweile auf ein Minimum reduziert. ten Ausgaben –, absolut nicht zufrieden stellend ist. Zu-
sammen mit Zinsen und Personalausgaben sind bereits
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt müssen drei Viertel der Bundesausgaben als konsumtive Ausga-
die Konsequenzen gezogen werden!) ben gebunden. Im Ergebnis bedeutet das, dass wir kei-
nerlei Spielraum mehr für Zukunftspolitik haben. Vor
Das muss uns schon zum Nachdenken bringen. dem Hintergrund kommen wir an einer – nicht zufrieden
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) stellenden, aber finanzpolitisch notwendigen – Erhö-
hung der Mehrwertsteuer nicht vorbei.
Wer die Steuereinnahmen allein für Zinsen, Personal und
langfristige gesetzliche Verpflichtungen ausgeben muss, Dabei muss es allerdings gerecht zugehen. Keiner soll
der kann den Auftrag des Wählers zur aktuellen Politik- unnötig und übermäßig belastet werden. Aus dem Grund
gestaltung nicht mehr erfüllen. Uns muss klar sein, dass ist es unbedingt notwendig, dass wir zum Beispiel die
das Haushaltsproblem mittelfristig zu einem Demokra- Vorsteuerpauschale für land- und forstwirtschaftli-
tieproblem werden kann. Das ist die finanzpolitische Re- che Betriebe entsprechend der 3-prozentigen Mehrwert-
alität. Das ist die bittere Schlussbilanz der Regierung steuererhöhung anpassen.
Schröder. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Lothar Mark [SPD]: Was Sie da erzählen, Die CSU-Landesgruppe wird sich im weiteren Verlauf
glauben Sie doch selbst nicht!) der Haushaltsberatungen insbesondere dafür einsetzen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2137
Georg Fahrenschon
(A) Der Haushalt 2006 und der Finanzplan bis 2009 sind dass sein Haus engagiert an der Abarbeitung dieses Ziels (C)
der in Zahlen gegossene Fahrplan der großen Koalition des Koalitionsvertrags arbeitet.
zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Ich
versichere Ihnen: CDU und CSU werden es gemeinsam Um das noch einmal zu unterstreichen: Allein in Bay-
mit den Kollegen von der SPD schaffen, dass wir ab dem ern stehen nach einer Studie des bayrischen Wirtschafts-
Bundeshaushalt 2007 die Regelgrenze der Neuverschul- ministeriums in den kommenden fünf Jahren rund
dung nach Art. 115 des Grundgesetzes und den Stabili- 63 000 Unternehmensübertragungen von mittelstän-
tätspakt wieder einhalten werden. disch geführten Betrieben an. Das bedeutet, eine halbe
Million Arbeitsplätze sind von dem Wechsel in der Be-
Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass das ein triebsführung betroffen. Eine zügige Umsetzung der
schwieriger Weg sein wird. Der Koalitionsvertrag gibt Erbschaftsteuerreform ist eminent wichtig, um den Füh-
hierfür eine klare, dreistufige Marschroute vor: Erstens. rungswechsel in mittelständischen Unternehmen optimal
Auf der Ausgabenseite werden Einsparungen im öf- zu unterstützen und um die Arbeitsplätze nachhaltig zu
fentlichen Dienst, in der Bundesverwaltung und im sichern.
Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende vorge-
nommen. Zweitens schließt sich dem ein spürbarer Ab- (Beifall bei der CDU/CSU)
bau von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen an. Für den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung ist auch
Drittens ist im darauf folgenden Schritt eine sozial ver- diese Reform alternativlos.
tretbare Erhöhung der Einnahmen vorgesehen, wobei
am ermäßigten Satz der Umsatzsteuer nicht gerüttelt Meine Damen und Herren, ich komme zu einer ab-
wird. schließenden Bewertung. Wenn man sich den Bundes-
haushalt 2006 anschaut, dann muss man feststellen, dass
Die Bewältigung der zweigeteilten Operation – Kon- dieser Haushalt des politischen Übergangs und die Fi-
solidierung einerseits und Erhöhung der Investitions- nanzplanung bis 2009 in struktureller Hinsicht sehr er-
quote andererseits – bedarf dauerhafter wirtschaftlicher nüchternd sind. Die hohe Sozialausgabenquote bleibt na-
Erholung. Nur ein langfristig höheres Wirtschafts- hezu unangetastet. Die Innovationsquote sinkt bis 2009
wachstum aktiviert wieder die entscheidenden Hebel auf nur noch 8,5 Prozent. Ein Signal, die Neuverschul-
des Wirtschaftsmotors Deutschlands: Durch ein höheres dung in den kommenden Jahren auf null zu senken, fehlt.
Wirtschaftswachstum entstehen dauerhaft mehr Arbeits- Das liegt zum Teil daran, dass wir im Finanzplan nur
plätze. Mit jedem neuen Arbeitsplatz sinken die Ausga- vier Jahre abdecken können.
ben für den Arbeitsmarkt. Mit jedem neuen Beitragszah-
ler steigen die Einnahmen in den Kassen der sozialen Aber auch in diesem Punkt möchte ich dem Kollegen
(B) Sicherungssysteme. Last, but not least steigt mit jedem Schneider unsere Unterstützung signalisieren: Es muss (D)
neuen Arbeitsplatz natürlich auch das Steueraufkommen unser Ziel sein – bezogen auf einen Zeitraum von acht
für Bund, Länder und Gemeinden. Jahren –, die Null-Neuverschuldung anzupeilen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Um Investitionen in Deutschland wieder zu entfa-
chen, ist neben der Aufstellung des Bundeshaushalts die Wir müssen die Haushaltsberatungen dazu nutzen, in ei-
Reform der Unternehmensbesteuerung von zentraler nem ersten Schritt die geplante Nettokreditaufnahme zu
Bedeutung. Die Belastung der unternehmerischen Ein- reduzieren. Wir werden jede Möglichkeit dazu nutzen.
künfte ist im internationalen Vergleich zu hoch. Die Es bleibt viel zu tun.
durchschnittliche Steuerbelastung für Kapitalgesell- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
schaften liegt in der Europäischen Union bei rund
25 Prozent; in Deutschland liegt sie derzeit bei etwa (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
39 Prozent. Damit unsere Unternehmen auch weiterhin neten der SPD – Steffen Kampeter [CDU/
international wettbewerbsfähig bleiben, ist es daher nö- CSU]: Sehr gute Rede!)
tig, die steuerliche Belastung ihrer Einkünfte deutlich zu
senken. Zielmarke dabei ist eine Ertragsteuerbelastung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
von höchstens 30 Prozent. Dies wird die große Koalition
mit einer umfassenden Unternehmensteuerreform ange- Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg-
hen und damit einen weiteren wirtschaftlich wichtigen Otto Spiller.
Impuls für die deutschen Unternehmerinnen und Unter- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nehmer geben. Jetzt gibt es die Gegenrede dazu!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jörg-Otto Spiller (SPD):
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass jährlich für Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
eine große Anzahl von Unternehmen der Generations- Herren! Herr Kollege Fahrenschon, ich finde es gut, dass
wechsel ansteht, wurde im Koalitionsvertrag zusätzlich wir in einer großen Koalition sind.
die Reform der Erbschaftsteuer spätestens zum 1. Ja-
nuar 2007 vereinbart. Ich bedanke mich an dieser Stelle (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
beim Bundesfinanzminister für seine klaren Zusagen, DIE GRÜNEN]: Aber?)
2138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jörg-Otto Spiller
(A) Denn das trägt dazu bei, dass sich auch Ihre Fraktion der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
finanziellen Wirklichkeit erheblich angenährt hat, auch der CDU/CSU)
wenn sich das nicht in jedem Redebeitrag wiederfindet.
Das wollten wir. Herr Dr. Troost, es gab für diese Politik
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) auch gute Gründe. Denn der Spitzensteuersatz von
53 Prozent ist faktisch von so gut wie keinem einzigen
Ich finde es auch hervorragend, dass auf der Bundes- privaten Haushalt gezahlt worden. Es gab genügend
ratsseite die Weisheit erheblich zugenommen hat, Möglichkeiten, durch Steuersparmodelle seine Steuer-
pflicht sogar legal zu vermindern. Tatsächlich gezahlt
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wurde der Spitzensteuersatz eigentlich nur von ertragrei-
Ja, das sieht man! – Weiterer Zuruf: Da ist gar chen Personenunternehmen. Die wollten wir entlasten
keiner!) und die haben wir entlastet.
seit die Länder nicht mehr durch die Parteidisziplin da- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber andere
von abgehalten werden, eigenen Interessen mehr Ge- Privatpersonen eben auch!)
wicht zu geben und auch auf die Stabilisierung ihrer Ein-
nahmen zu achten. Insgesamt ist das ein gutes Ergebnis. Wir haben gleichzeitig etwas gemacht, was überfällig
war: Wir haben Steuerschlupflöcher dicht oder zumin-
Im Rahmen der laufenden Einnahmen haben der dest deutlich enger gemacht. Wir haben durch diese Poli-
Bund und die Länder gleichmäßig Anspruch auf tik erreicht, dass der Tarif wieder Gültigkeit hat. Ein
Deckung ihrer notwendigen Ausgaben … Die De- Blick auf die Entwicklung der veranlagten Einkommen-
ckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind steuer belegt das. Leider ist die amtliche Steuerstatistik
so aufeinander abzustimmen, dass ein billiger Aus- eher verwirrend als erhellend, weil in Bezug auf die ver-
gleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflich- anlagte Einkommensteuer immer nur Salden mitgeteilt
tigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebens- werden. In der Statistik wird nämlich nicht die veran-
verhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird. lagte Einkommensteuer erfasst, die tatsächlich gezahlt
worden ist. Vielmehr werden alle Lohnsteuererstattun-
So steht es in Art. 106 des Grundgesetzes. gen, die Eigenheimzulage und die Investitionszulagen,
Es ist selten, dass über den finanziellen Bedarf unse- die Personenunternehmen zufließen, abgezogen. Am
res Gemeinwesens so viel in den Debatten gesprochen Ende kommt dann ein erstaunlich niedriger Betrag he-
wird. Beliebter ist natürlich die Frage, wie man eine raus.
Überbelastung der Steuerbürger vermeiden kann. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die unberei-
Herr Kollege Dr. Solms, das ist Ihr Spezialgebiet. Mit nigten Zahlen, die Bruttozahlen, das tatsächliche Auf-
(B) diesem Thema beschäftigt man sich auch in vielen Talk- (D)
kommen bei der veranlagten Einkommensteuer zu
shows. Aber die eigentlich aktuelle Frage lautet: Wie errechnen. 1998 betrug es 31 Milliarden, 2005 fast
kommen wir zu einer Stabilisierung der Einnahmen un- 39 Milliarden. Trotz der Senkung des Satzes ist ein kräf-
seres Gemeinwesens insgesamt, also des Bundes, der tiger Anstieg des Aufkommens festzustellen, weil die
Länder und der Gemeinden? Schlupflöcher zugemacht worden sind.
(Beifall bei der SPD) Wir hätten in dieser Richtung noch mehr erreichen
können. Die Fantasie der Erfinder von Steuersparmodel-
Dies ist notwendig, damit dieser Staat handlungsfähig len ist – das ist leider so – nahezu unerschöpflich. Da ist
bleibt und seine Aufgaben erfüllen kann, damit er ein Stück Wettlauf dabei. Manchmal ist das wie bei dem
Sozialstaat bleibt und damit er ein guter Standort für Un- Märchen vom Hasen und dem Igel. Wir wären schneller
ternehmen ist, die im Wettbewerb stehen. gewesen, wenn der Bundesrat nicht so häufig blockiert
Wir haben in den vergangenen fünf Jahren beim Ab- hätte.
bau von teilweise als übermäßig empfundenen Belastun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gen der Steuerbürger Großes geleistet. Es ist bei der Ein- DIE GRÜNEN)
kommensteuer – querbeet durch die Gesellschaft, also
für Arbeitnehmer, Selbstständige und mittelständische Es ist ein großer Vorteil der großen Koalition, dass wir
Unternehmen – eine deutliche Entlastung erreicht wor- an einem Strang ziehen, dieselbe Richtung verfolgen
den. In ähnlicher Weise gilt das auch für die Kapitalge- und uns von Vernunft leiten lassen
sellschaften. (Ulrike Flach [FDP]: Na, na!)
Ich erinnere daran, dass der Eingangssteuersatz bei und nicht von Streitsucht.
der Einkommensteuer 1998 bei 25,9 Prozent lag. Heute
Wir hatten, so finde ich, im Dezember 2005 einen
liegt er bei 15 Prozent. Der Spitzensteuersatz lag damals
sehr guten Einstieg. Wir haben damals die ersten Finanz-
bei 53 Prozent. Er liegt heute bei 42 Prozent. Die Grund-
gesetze verabschiedet. Das war zum einen der endlich
freibeträge und andere Freibeträge sind deutlich angeho-
fällige Abbau der Eigenheimzulage, der vom Bundes-
ben worden und die Gewerbesteuer – das ist für die
tag längst beschlossen war.
mittelständischen Unternehmen, die als Personenunter-
nehmen geführt werden, besonders wichtig – ist mit der (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Einkommensteuerschuld verrechenbar, was eine wirk- Da war noch der rot-grüne Geist drin! Der hat
lich massive Entlastung des Mittelstandes bewirkt hat. da noch gut gewirkt!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2139
Jörg-Otto Spiller
(A) – Der möge Ihnen bewahrt bleiben. Ich hoffe, dass er Ih- gestellt, wie die weiseste Verteilung der Kompetenzen (C)
nen gut tut. zwischen Bund, Ländern und Gemeinden bei diesen
Schlüsselfragen der Gesellschaft aussieht. Aber dass der
Zum anderen haben wir im Dezember etwas gemacht, Staat insgesamt, also Bund, Länder und Gemeinden,
was auch überfällig war: Wir haben die ausufernden Geld braucht, um diese Aufgaben angemessen wahrneh-
bzw. wuchernden Steuerstundungsmodelle im Bereich men zu können, sollte doch zumindest zwischen uns, in-
der Medienfonds und Umgebung – leider hat Herr Trittin nerhalb der großen Koalition, unbestritten sein.
ein bisschen gebremst – ausgetrocknet. Auch das war ein
großer Vorteil. Wir nähern uns unserer Verpflichtung, Ich will nicht nur vom Guten und vom Schönen re-
dafür zu sorgen, dass die öffentliche Hand das Geld be- den. Ich weiß, dass die notwendige Anhebung der
kommt, das sie für die Erfüllung der öffentlichen Aufga- Mehrwertsteuer, die wir heute mit der Einbringung des
ben braucht. Entwurfs eines Haushaltbegleitgesetzes ankündigen,
(Beifall bei der SPD) nicht nur Jubel auslösen wird. Ich sage auch ganz offen,
dass das nicht mein Traum war. Auch die Kollegen von
Das passt ganz schön zu meinem nächsten Punkt. Es der Union hätten sich Schöneres vorstellen können; da
ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass wir eine bin ich ganz sicher. Dass man aber auch unbequeme
der niedrigsten Steuerquoten in Europa haben. Sie be- Wege gehen muss, um die Einnahmen zu stabilisieren,
trug im Jahr 2005 20,1 Prozent. Damit ist unsere Steuer- ist bei allem Streit um Einzelheiten sicherlich eindeutig.
quote niedriger als die Steuerquote in der Schweiz, in Ir- Auch im Steueränderungsgesetz, das angekündigt ist,
land, in Österreich oder in Luxemburg. Ich zögere werden einige Belastungen enthalten sein, die für den
manchmal, das einfach so im Raum stehen zu lassen; Bundestag, wenn er sie beschließt, nicht bequem sein
denn bei Diskussionen erlebe ich gelegentlich, dass ge- werden, ebenso wenig wie für viele Bürger, denen wir
sagt wird: Wenn die Steuerbelastung in der Volkswirt- diese Belastungen zumuten. Aber es gehört auch zur
schaft insgesamt 20 Prozent beträgt, dann mache ich Ehrlichkeit, dass man nicht nur abstrakt darüber redet,
vielleicht etwas falsch. Meine Steuerbelastung ist we- wie man stabilisiert, konsolidiert und eine ökonomisch
sentlich höher. – Diese Aussage ist legitim. vernünftige Finanzpolitik betreibt. Der Kollege
Dr. Troost hatte das einfache Rezept: Von den USA ler-
(Zuruf von der CDU/CSU: Dann braucht er ei- nen heißt siegen lernen.
nen besseren Steuerberater!)
– Es geht nicht um den Steuerberater, Herr Kollege. – Es (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So habe ich
das nun nicht gesagt! – Georg Fahrenschon
ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Durchlöche-
rung des Steuerrechts aufhört. Dabei müssen aber nicht [CDU/CSU]: So will er das nicht verstanden
(B) nur beim Steuerrecht die Lücken geschlossen werden, wissen!) (D)
sondern auch beim Vollzug des Rechtes. Das ist deswegen so pikant, weil deren Konjunkturpro-
(Beifall bei der SPD) gramm insbesondere in umfangreichen Rüstungsausga-
ben besteht; aber das müssen wir vielleicht nicht vertie-
Ich will jetzt nicht die ganze Palette dessen, was wün- fen.
schenswert und erforderlich ist, aufzählen. Eines aber
kann ich mir nicht verkneifen. Es ist kein Ruhmesblatt (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)
des deutschen Föderalismus, dass es die 16 Landes-
Bei der FDP – das ist Tradition, das werfe ich Ihnen
finanzverwaltungen in den letzten 20 Jahren nicht ge-
nicht vor – ist die Hoffnung sehr groß, dass man durch
schafft haben, ein einheitliches EDV-System einzurich-
die Rücknahme des Staates sehr viel erreicht.
ten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ulrike Flach [FDP]: Das sollte man uns auch
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des nicht vorwerfen!)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihnen empfehle ich die Lektüre des jüngsten Bundes-
Wir werden beim Abbau ungerechtfertigter Steuersub- bankberichts. Es wird ja, was auch verständlich ist, gern
ventionen weiter voranschreiten müssen. Wir müssen mit aus dem Kurzbericht zitiert, weil er sich leichter lesen
Blick auf die Handlungsfähigkeit des Staates – nicht lässt. Darin gibt es auch ein paar kritische Anmerkungen
nur, aber auch des Bundes – altbekannte Vergünstigun- zur Koalition, zum Finanzminister und zum Haushalts-
gen auf den Prüfstand stellen. gesetzgeber.
Ich glaube, dass in diesem Hause und auch in weiten (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])
Teilen der Gesellschaft Konsens darüber besteht, dass
die Zukunft unseres Landes zu einem guten Teil dadurch Darüber hinaus steht darin aber auch etwas, was für die
bestimmt werden wird, ob es uns gelingt, auf zwei Fel- FDP hoch spannend wäre: eine sehr sorgfältige Analyse
dern erfolgreich zu operieren. Bildung, Wissenschaft, der Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben im Ge-
Forschung und Innovation stellen das eine Feld dar, samtstaat.
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie das andere. (Ulrike Flach [FDP]: Natürlich!)
Auf dem zweiten Feld haben wir im Rahmen der Steuer-
gesetzgebung gerade etwas sehr Vernünftiges beschlos- Diese Analyse spricht dafür, dass unser Problem im We-
sen. Bezüglich des ersten Feldes lasse ich einmal dahin- sentlichen ein Einnahme-, nicht ein Ausgabeproblem ist.
2140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jörg-Otto Spiller
(A) (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Zu Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): (C)
dem Schluss kommt die Bundesbank aber Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nicht!) Die große Koalition hat die Meinungsunterschiede zwar
nicht beseitigt – die bleiben –, aber sie zwingt zum Kom-
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu ei- promiss. Vor allen Dingen hat sie für den Einzug von
nem wichtigen Vorhaben machen, das auch jenseits der Realität gesorgt. Das ist wichtig und das ist, glaube ich,
Finanzpolitik im engeren Sinne von großer Bedeutung schon der erste Erfolg.
ist, weil es auf die wirtschaftliche Entwicklung aus-
strahlt: die Unternehmensteuerreform. Wir haben sie Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf streben wir
nicht erst im Koalitionsvertrag festgelegt; die Grundidee den Dreiklang von Konsolidieren, Reformieren und
dazu gab es schon ein Jahr vorher. Bereits im März 2005 Investieren an. Das ist genau der richtige Weg und ge-
gab es die Verabredung, die Unternehmensteuersätze zu nau der richtige Einstieg. Ich will verdeutlichen, was Sa-
senken, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit nieren eigentlich heißt. Sanieren heißt, Einnahmen und
des Standortes zu stärken. Ausgaben in Einklang bringen. Dafür gibt es theoretisch
zwei Möglichkeiten: Ich kann die Ausgaben senken oder
Inzwischen gibt es zusätzliche Ideen, wie man die Re- die Einnahmen erhöhen. Manch einer will natürlich lie-
form ausgestalten kann. Die Stiftung Marktwirtschaft, ber die Einnahmen erhöhen. Wenn ich Sie auf der linken
der Sachverständigenrat und auch andere haben sich zu Seite des Hauses ansehe, sage ich: Sie sind erst bei
Wort gemeldet. Der Sachverständigenrat ist dazu auch 100 Prozent Staatsquote zufrieden, weil Sie dann alles
ausdrücklich ermuntert worden. Ich finde alle Vor- verteilen können. Sie scheinen nichts gelernt zu haben.
schläge sehr bedenkenswert, und man wird sie sorgfältig Das hat uns schon einmal in den Abgrund geführt.
prüfen müssen. Das Ei des Kolumbus jedoch habe ich,
offen gestanden, noch nicht entdeckt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Es gibt insbesondere einen Punkt, den man nicht so Ein Teil unserer Probleme rührt nämlich daher, dass wir
schnell beiseite schieben kann. Es wird nicht möglich für die Folgen von 40 Jahren Kommunismus bezahlen
sein, Steuermindereinnahmen in Höhe von 10 oder müssen.
20 Milliarden Euro einfach hinzunehmen, wie uns Sach-
verständige und Stiftung Marktwirtschaft schmackhaft Entscheidend ist jedoch nicht die Staatsquote – da-
machen wollen. Irgendjemand muss auch die Miete für rüber müssen wir uns im Klaren sein –, sondern die
den Elfenbeinturm bezahlen. Das Beiseiteschieben wird Abgabenquote. Das ist das, was die öffentliche Hand
nicht funktionieren. ausgibt. Alles, was die öffentliche Hand ausgibt, muss
erst eingenommen werden. Da wir in Deutschland als
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D)
Land ohne Rohstoffe von dem leben, was wir anderen
verkaufen, heißt das: Alle Kosten, die der Staat produ-
Wir werden im vorgegebenen Zeitrahmen eine Unter- ziert, müssen auf die Preise aufgeschlagen werden. Dies
nehmensteuerreform machen, die sich nicht nur an den behindert uns, wenn es zu viel wird. Deswegen muss die
Zielen Attraktivität des Standortes, weitestgehende Staats- und Abgabenquote sinken. Das muss ein Kern
Rechtsformneutralität und ausreichende Finanzierung unserer Politik sein. Das müssen wir uns immer wieder
der Gemeinden durch eine wirtschaftskraftbezogene Ge- vergegenwärtigen.
meindesteuer mit Hebesatzrecht – wir wollen das Inte-
resse der Gemeinden am Gewerbe erhalten – orientieren (Beifall bei der CDU/CSU)
wird. Wir werden darüber hinaus darauf zu achten ha- So wie wir in den letzten Jahren, und zwar nicht nur
ben, dass die Einnahmen, die aus der Unternehmensbe- in den letzten sieben – die waren besonders schlimm –,
steuerung erzielt werden, ein angemessener Preis für die gearbeitet haben, können wir nicht weitermachen, weil
Bereitstellung eines guten Standortes sind. Das Preis- wir immer mehr ausgegeben als eingenommen haben.
Leistungs-Verhältnis muss stimmen. Das gilt in beide Einnahmen und Ausgaben müssen in Einklang gebracht
Richtungen; denn es wäre uns nicht geholfen, wenn wir werden.
nur die Einnahmen senkten, nicht aber die Qualität des
Standortes aufrechterhalten könnten. So einfach ist das aber nicht. Natürlich hätten auch
wir lieber – das sage ich an die Adresse der Grünen und
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit hängt auch da- der FDP – schneller konsolidiert und die Schulden he-
von ab, dass die staatlichen Aufgaben erfüllt werden und runtergefahren. Man muss sich aber die Blöcke im Haus-
die öffentlichen Infrastrukturen in Ordnung sind oder halt verdeutlichen, um zu sehen, welche Möglichkeiten
nach Möglichkeit verbessert werden. man hat:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
der CDU/CSU)
Von Ausgaben in Höhe von circa 250 Milliarden Euro
– wenn ich die Durchbuchung eines Mehrwertsteuer-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: punktes abziehe – entfallen 80 Milliarden Euro auf die
Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der Rente, 40 Milliarden Euro auf Zinsen, 24 Milliarden
Kollege Jochen-Konrad Fromme. Euro auf die Verteidigung und 8,5 Milliarden Euro auf
die Versorgung. Das heißt, es sind bereits circa 150 Mil-
(Beifall bei der CDU/CSU) liarden Euro in Blöcken festgelegt, die man nur langfris-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2141
Jochen-Konrad Fromme
(A) tig verändern kann. Wenn man konsolidieren will und die Qualität der Betreuung gerade in den ersten Lebens- (C)
die nicht von vornherein festgelegten Ausgaben in Höhe jahren verbessert werden muss.
von 100 Milliarden Euro – das ist die Differenz – um
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
60 Milliarden Euro verringern will, dann geht das nicht
wie des Abg. Otto Fricke [FDP])
von heute auf morgen, sondern nur durch den Einstieg in
ein richtiges System. Deswegen gibt es zur Konsolidierung und Sanierung des
Staatshaushaltes keine Alternative.
Darum geht es: Auf Dauer sind nur gesunde Staats-
finanzen ein gutes Fundament für eine starke Konjunk- Wenn so getan wird, als ob es erst jetzt nach den
tur. All die Länder, deren Haushalte in Ordnung sind, Landtagswahlen mit den Reformen losgehe, dann kann
stehen wirtschaftspolitisch besser da als die anderen. Ge- ich dazu nur sagen: Da muss jemand etwas verschlafen
sunde Staatsfinanzen müssen unser Ziel sein. Wir wer- haben. Wir haben jede Menge Gesetze in den Bundestag
den es aber nur mittelfristig erreichen können. eingebracht, beraten und beschlossen, die schon Verän-
derungen bewirkt haben. Natürlich weiß jeder, dass man
Klar ist, dass sich jede Veränderung auch auf die
vor komplizierten Wahlen manche Dinge nicht auf die
Nachfrageseite auswirkt. Deswegen ist Konsolidierung
Tagesordnung setzt. Das heißt aber nicht, dass nichts
immer ein Spagat: Auf der einen Seite müssen Fort-
passiert ist. Es ist viel passiert. Wir haben drei große Ge-
schritte bei der Konsolidierung gemacht und auf der an-
setzentwürfe eingebracht und einer der nächsten Schritte
deren Seite darf die Binnenkonjunktur nicht kaputt ge-
muss die Unternehmensteuerreform sein. Wir müssen
macht werden. Man muss das richtige Gleichgewicht
die Bedingungen für das Arbeiten und das Wirtschaften
finden. Dieser Spagat ist kompliziert, aber machbar. Das
verbessern.
wissen wir aus eigener Erfahrung. Das haben wir in den
Jahren 1982 bis 1989 schon einmal bewiesen, wo wir die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Staatsquote gesenkt haben. Wir hatten 1989, vor der der SPD)
Wiedervereinigung, die niedrigste Staatsquote seit vielen
Übrigens reicht der Jobgipfel nicht aus, wenn wir
Jahrzehnten. Deswegen ging es uns 1989 so gut. Übri-
wirklich nachhaltige Verbesserungen erreichen wollen.
gens war das das Fundament, auf dem wir die Wieder-
vereinigung überhaupt nur verkraften konnten. Es geht um zwei Dinge. Es geht zum einen um die
Struktur der Abgaben und es geht zum anderen um die
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
Menge der Abgaben. Wir können im Augenblick bei der
SPD: Aber dann wurde sie falsch finanziert,
Entlastung nur langsam vorwärts gehen. Das darf uns je-
leider!)
doch überhaupt nicht davon entheben, die Strukturfragen
Das müssen wir wiederholen. Wir müssen aber scharf anzupacken und zu lösen. Man muss nur die Stellschrau-
(B) (D)
darauf achten, wo es langgeht. Diese Haushaltskonsoli- ben anders drehen, sodass man am Ende Aufkommens-
dierung ist ein Ritt auf der Rasierklinge. neutralität oder das gewünschte Entlastungsergebnis
bekommt. Man darf nicht nachlassen, über die Struktur-
(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])
veränderungen zu reden und diese auch umzusetzen.
Ich habe gehört, dass wir Mehreinnahmen zu erwar-
Ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit der Steu-
ten haben, weil die Wirtschaft besser läuft; darüber
erreform ist der Bürokratieabbau. Es ist doch ein
freuen wir uns. Wir müssen aber aufpassen, dass nicht
Wahnsinn, dass wir vonseiten des Staates und der Be-
die ersten kommen und sagen: „Wir brauchen doch gar
triebe in Deutschland 23 Milliarden Euro für die Verwal-
nichts zu verändern, das Problem löst sich ja von al-
tung der Steuern ausgeben.
leine.“ Das ist nicht so. Das ist nämlich eine konjunktu-
relle Veränderung; wir brauchen aber eine strukturelle (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!)
Veränderung.
Wenn wir es schaffen würden, diesen Verwaltungsauf-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wand durch Veränderungen der Strukturen um lediglich
20 Prozent zu verringern, wäre das mehr als eine Sen-
Deswegen rate ich all denjenigen, die darüber nach-
kung der Steuersätze um 3 oder 4 Prozent. Darum müs-
denken, wie man mehr Geld ausgeben kann, sehr zur
sen wir uns bemühen.
Vorsicht. Wir müssen zunächst weniger Geld ausgeben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich sage einmal Folgendes an die Populisten gerich-
tet: Natürlich, wer möchte Kindertagesstätten nicht Deswegen sehe ich die Vorschläge, die auf dem Tisch
kostenlos haben? Ich frage mich aber, ob das der richtige liegen – ganz anders als mein Kollege Spiller –, als wirk-
Weg ist. Denn bei den Studiengebühren überlegen wir lich gute Anregung. Darin kann man vieles finden. Ich
uns gerade den strukturell anderen Weg. fordere alle Beteiligten auf, konstruktiv daran mitzuwir-
ken. Es kann nicht angehen – ich sage das ganz deut-
(Zuruf von der SPD: Ihr! Wir nicht!)
lich –, dass wir uns wegen einer Blockade bei den
Wir können das Geld doch nur dann ausgeben, wenn wir Gemeindesteuern dieses wichtigen Themas nicht anneh-
es haben. Wenn wir jetzt aus populistischen Gründen die men.
Kindertagesstättenbeiträge für die Eltern abschaffen,
(Otto Fricke [FDP]: Sehr gut!)
aber das Geld dafür nicht in den Haushalten haben, dann
schadet das der Qualität der Kindertagesstätten. Genau Ich sage den Kommunen von dieser Stelle: Das, was im
das wollen wir nicht. Denn wir sind uns doch einig, dass Augenblick auf dem Tisch liegt, hat Qualität; das hat es
2142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jochen-Konrad Fromme
(A) so noch nicht gegeben. Wir hätten eine viel breitere und Wir müssen die Dinge langfristig betrachten. Jede (C)
bessere Streuung der Bemessungsgrundlagen. Das Maßnahme, die wir ergreifen, muss daraufhin überprüft
würde zu einer besseren Verteilung der Steuern und zu werden, ob sie langfristig für mehr Arbeit und Beschäfti-
viel mehr Stabilität führen und trotzdem würden die He- gung sorgt. Es darf nicht entscheidend sein, ob sie uns
besätze beibehalten. Nicht umsonst hat der Sachverstän- heute einen Liquiditätsvorteil verschafft. Diesen Weg
digenrat – er wurde immerhin von der Vorgängerregie- müssen wir gehen. Mit diesem Haushalt beschreiten wir
rung personell maßgeblich bestimmt – gesagt: Das ist diesen Weg an genau der richtigen Stelle und in kleinen,
richtig. Deswegen lassen Sie uns an diesem Punkt kon- aber gezielten und sicheren Schritten. Ich lade alle in
struktiv arbeiten. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass diesem Hause ein, dabei mitzuwirken. Wir sollten nicht
wir da die Strukturen verändern. über einzelne Punkte, die uns selbst betreffen, meckern
– als Beispiel nenne ich die Regionalisierungsmittel –,
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Schein-
So schön für die mittelständischen Betriebe die Ver- debatte ist das! Ja, sogar eine scheinheilige
rechnung der Gewerbesteuer ist: Es ist doch ein Wahn- Debatte!)
sinn, dass wir mit riesigem Aufwand eine Steuer feststel-
len, die wir dann wieder zurückzahlen. sondern wir müssen aufpassen, dass alles, was wir tun,
in ein Gesamtkonzept passt. Dieses Gesamtkonzept
(Otto Fricke [FDP]: Jawohl!) muss am Ende dazu führen, dass die Struktur des Haus-
Zwei Senate beim Bundesfinanzhof beschäftigen sich halts verbessert wird. Das ist der einzige Weg, um auf
mit der Abgrenzung von Gewerbe und Nichtgewerbe. Dauer mehr Arbeit und Beschäftigung zu schaffen und
Dieses Thema kann man auch anders und mit weniger die Verhältnisse in Deutschland zu verbessern. Ich lade
Bürokratie zum Wohle aller lösen. Sie alle herzlich ein, uns auf diesem Weg zu folgen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der FDP) neten der SPD und des Abg. Otto Fricke
[FDP])
Ich freue mich, dass wir jetzt möglicherweise besser
dastehen, als wir es geplant haben. Denn wir sind jetzt
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
mit dem, was wir in die Haushaltsentwürfe schreiben,
vorsichtig. Es ist doch besser, wenn am Ende etwas In der allgemeinen Finanzdebatte liegen nun keine
übrig bleibt und wir weniger Kredite aufnehmen müs- weiteren Wortmeldungen mehr vor.
sen, als wenn wir uns etwas vorlügen und am Ende (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Also, Frau
(B) schlechter dastehen. Deswegen ist es der richtige Weg, Präsidentin, wir könnten noch reden, wenn Sie (D)
dass hier jetzt Realismus eingetreten ist – der Finanzmi- das wollen!)
nister hat es heute Morgen so erklärt – und wir bei der
Veranschlagung ganz vorsichtig sind. Interfraktionell wird die Überweisung des Haushalts-
begleitgesetzes 2006 auf Drucksache 16/752 an die in
Natürlich könnte man noch mehr einsparen, wenn der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
man nachhaltigen Subventionsabbau betreiben könnte. gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist
Aber wie hoch sind denn eigentlich die Subventionen? der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nach Aussagen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft
betragen sie 170 Milliarden Euro, andere sprechen von Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
50 bis 60 Milliarden Euro. So einfach ist das Thema ministeriums für Bildung und Forschung, Einzel-
nicht, dass man sozusagen mit einem Federstrich die plan 30. Das Wort hat für die Bundesregierung die Bun-
Dinge erledigen könnte. Es wäre schön, wenn wir desministerin Frau Dr. Annette Schavan.
schneller vorwärts kämen. Aber es geht eben nur in klei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
nen, aber sicheren und sorgfältigen Schritten. Dr. Uwe Küster [SPD])
Natürlich gibt es auch Dinge, die man sofort machen
könnte. Dafür haben wir aber keine Mehrheit gefunden. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
Jedem ist zum Beispiel klar, dass es sich bei der Steuer- dung und Forschung:
freiheit der Nacht- und Feiertagszuschläge um eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Subvention handelt. Für ihre Abschaffung hat es aber Meine Damen und Herren! Deutschland soll sich zu ei-
keine Mehrheit gegeben. Also können wir hier nichts ner Talentschmiede entwickeln. Das ist unser Weg zur
tun. Man sollte sich daher nicht aufplustern und sagen, Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation.
wir würden nicht alles, was möglich sei, unternehmen. Das ist die Voraussetzung für innovative Entwicklun-
Wir brauchen auch Mehrheiten. gen in Deutschland.
Natürlich kann man fordern, dass Großprojekte ge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo sind wir
strichen werden. Aber wenn wir weniger Eurofighter be- jetzt eigentlich?)
stellen, müssen wir eine Konventionalstrafe zahlen. Un-
– Bei Bildung und Forschung. –
ter dem Strich müssten wir also den gleichen Betrag
zahlen. Deswegen ist das alles nicht so einfach. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist die Quelle künftigen Wohlstands.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2143
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- titionen in Forschung und Entwicklung erreicht. Wir (C)
neten der SPD) brauchen in dieser Frage ein klares und starkes Bündnis
zwischen dem Bund, den Ländern und der Wirtschaft in
Bis zum Jahr 2010 – so haben wir es in der neuen Deutschland. Dieses 3-Prozent-Ziel muss erreicht wer-
Bundesregierung vereinbart und auch die entsprechen- den.
den Weichen gestellt – wollen wir bei Wachstum, Be-
schäftigung und Investitionen in Forschung und Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
wicklung wieder unter die besten drei in Europa der Abg. Ulrike Flach [FDP])
kommen. Wir bauen auf Spitzenforschung, auf Exzel-
lenz, auf Ideenreichtum und auf ein Bündnis für gute 4 Milliarden Euro davon stehen dem Bundesministe-
Bildung und Ausbildung, die an internationalen Maßstä- rium für Bildung und Forschung zur Verfügung. Wir
ben orientiert ist. Wir sind davon überzeugt, dass die werden damit insbesondere Querschnitts- und Spitzen-
Kreativität der Menschen, die in unserem Land leben, ar- technologien fördern, durch die der Standort Deutsch-
beiten und forschen, das Fundament für die Zukunftsper- land gestärkt und unser Gang in eine moderne Wissens-
spektiven unseres Landes und für die Zukunftschancen gesellschaft beschleunigt wird. Entlang der gesamten
der jungen Generation ist. Innovationskette bis hin zu marktreifen Produkten und
Dienstleistungen erwarten wir Impulse. Zu den beson-
(Beifall bei der CDU/CSU) ders zukunftsträchtigen Technologien, die Teil der
Mit dem Haushalt 2006 setzen wir ein klares Signal. Hightechstrategie sein werden, zählen die Informations-
Der Plafond des Einzelplans meines Hauses steigt ge- und Kommunikationstechnologien, die Biotechnologie
genüber dem Haushalt 2005 um 5,6 Prozent. Schon jetzt und die Nanotechnologie. Allein bei der Biotechnologie
lässt sich für diese Legislaturperiode sagen: Nie zuvor werden wir in diesem Jahr ein Plus von rund 14 Prozent
hat eine Bundesregierung so viel in Forschung und Ent- verzeichnen. Die Mittel für den Titel „Vernetzte Welt“
wicklung investiert. steigen um mehr als 17 Prozent. Die Mittel für die Le-
benswissenschaften erhöhen wir um insgesamt annä-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – hernd 10 Prozent und die Mittel für umweltgerechte
Ulrike Flach [FDP]: Das wollen wir erst mal nachhaltige Entwicklung und für neue Technologien um
genau nachrechnen! – Zuruf von der SPD: jeweils circa 7 bis 8 Prozent.
Nicht die Bundesregierung, Frau Ministerin,
sondern der Bundestag hat das getan! Das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg
muss einmal klar gesagt werden!) Tauss [SPD]: Gute Signale! – Steffen
Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Diese Steigerung um 5,6 Prozent gegenüber dem ver-
(B) gangenen Jahr entspricht einem Plus von fast 430 Millio- – Jawohl, Herr Tauss, das finde ich auch. (D)
nen Euro. Davon wird vor allem die Projektförderung
profitieren. Dieser Bereich ist uns wichtig, weil von der Durch Bündelung exzellenter interdisziplinärer For-
Projektförderung eine Hebelwirkung ausgeht. Wir wis- schung und Entwicklung werden wir die Gesundheits-
sen, dass jeder vom Staat investierte Euro, der mobili- forschung verstärken. Durch so genannte Leuchttürme,
siert wird, weitere Euro von der Privatwirtschaft gene- die den Weg von der medizinischen Spitzenforschung
riert. Allein in der Projektförderung erhöhen wir die zur Krankenversorgung mittels einer Bündelung von
Mittel gegenüber dem Vorjahr um 14 Prozent. Kräften schaffen, soll auch eine raschere Umsetzung von
Forschungsergebnissen ermöglicht werden. Ich bin da-
(Beifall bei der CDU/CSU) von überzeugt, dass der Beitrag der Gesundheitsfor-
Wir wissen: Langfristig werden wissensintensive schung – die Brücke zwischen der Forschung und der
Dienstleistungen und Produkte der Spitzentechnik das Krankenversorgung – auch ein wichtiger Beitrag in un-
wirtschaftliche Wachstum und den Wohlstand unserer seren anstehenden Debatten über die Zukunftsperspekti-
Gesellschaft bestimmen. Das war der Grund dafür – der ven des Gesundheitssystems in Deutschland sein wird.
Finanzminister hat das heute Morgen ja bereits ange- (Beifall bei der CDU/CSU)
sprochen –, dass wir ein einzigartiges Investitionspro-
gramm aufgelegt haben. Von den 25 Milliarden Euro Wir wollen Lösungen für drängende – auch gesell-
dieses Investitionsprogramms für mehr Wachstum schaftliche – Probleme anbieten und Antworten auf Fra-
und Beschäftigung entfallen allein 6 Milliarden Euro gen des Umweltschutzes und der Gesundheit – das sei
– das heißt, der größte Posten überhaupt – auf zukunfts- noch einmal gesagt – geben. Mit dem Leuchtturm High-
trächtige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. tech in der Gesundheit werden wir dazu beitragen,
unsere gute Position in der Medizintechnik weiter zu fes-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tigen. Wir wollen den Prozess, dass mithilfe von Hoch-
neten der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Wenn ihr technologien frühzeitigere Diagnosen und schonendere
es nur schon hättet!) Therapien möglich werden, ganz stark befördern. Durch
Das ist zugleich ein klares Signal an die 16 Länder und alle Leuchttürme soll die Umsetzung von Ergebnissen
die Unternehmen in Deutschland. der Forschung und Entwicklung beschleunigt und die
Krankenversorgung verbessert werden. Das wird der
Wir haben damit die Voraussetzung dafür geschaffen, rote Faden in der Gesundheitsforschung sein.
dass Deutschland im Rahmen der Lissabonstrategie bis
zum Jahre 2010 das 3-Prozent-Ziel bezüglich der Inves- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)
2144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) Vom weiteren Zeitplan her werden wir die Hightech- Ich beginne ganz bewusst nicht mit dem Begriff Tech- (C)
strategie bis zur Sommerpause vorlegen. Es hat ein gutes nologie, sondern mit dem Begriff Talentschmiede, weil
Gespräch begonnen. Sie wissen, dass aus unseren Frak- Sinn und Zweck dessen, was wir tun, und Voraussetzung
tionen heraus vielfach bemängelt worden ist, die For- für Innovationsfähigkeit ist, dass junge Leute in allen
schungspolitik sei in der ganzen Bundesregierung Teilen Deutschlands mit einem guten Gefühl in die Zu-
verstreut. In diesen ersten Monaten der neuen Bundes- kunft gehen können und das Signal bekommen, dass wir
regierung haben wir das erreichen können, was überfäl- sie nicht vergessen.
lig war: Wir sind nämlich in der Forschungs- und Tech-
nologiepolitik zu einem stimmigen Gesamtkonzept (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
gekommen und es gibt eine Koordination, sodass nicht Wissenschaft und Forschung sind Teil der intellektu-
jedes Haus seine eigenen Projekte unabhängig vom Ge- ellen Kultur unseres Landes. Deshalb gehört zu diesem
spräch mit dem Nachbarhaus durchführt; es gibt viel- Haushalt die Steigerung der Mittel in den Geistes-, Kul-
mehr eine Gesamtstrategie Hightech für Deutschland, tur- und Sozialwissenschaften um fast 6 Prozent. Je
die im Sommer vorgelegt wird und durch die deutlich mehr Technologie, umso mehr Kultur ist notwendig. Erst
gemacht wird, dass das unser Konzept ist, durch das klar wenn beides zusammenkommt, werden wir gute, verant-
wird: Innovation ist der rote Faden dieser Bundesregie- wortungsbewusste Entwicklungen in Deutschland errei-
rung. chen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
In unseren Reden ist vielfach zu hören, Deutschland
sei ein Land der Ideen. Das ist richtig; aber das alleine Unser gemeinsames, im Koalitionsvertrag veranker-
reicht nicht. Eine Idee wird erst dann richtig fruchtbar, tes Leitbild der Exzellenz beginnt nicht erst bei der Ex-
wenn sie umgesetzt wird. Angesichts der 6 Milliarden zellenzinitiative. Deshalb erhöhen wir die Mittel für die
Euro für die Hightechstrategie ist es ganz entscheidend, Begabtenförderung um 8 Prozent. Wer eine Talent-
dass der Weg von der Idee bis zur Umsetzung in der schmiede will, muss dafür Sorge tragen, dass mindestens
Wertschöpfungskette verkürzt wird. Das heißt, wir wer- 1 Prozent eines Jahrgangs in die Begabtenförderung auf-
den noch stärker als in der Vergangenheit Brücken zwi- genommen werden kann. Das ist mit den vielen Leis-
schen Wissenschaft und Wirtschaft brauchen. tungswettbewerben, mit „Jugend forscht“ und mit der
Arbeit der Begabtenförderung in der beruflichen Bil-
Wir wollen Forscherinnen und Forschern Mut ma- dung ein wichtiger Baustein.
chen, ihre Ideen zu realisieren und Unternehmen zu
Exzellenzinitiative und Pakt für Forschung und Inno-
(B) gründen. Wir wollen Forschungsförderung und rechtli- vation sind weitere Bausteine, die deutlich machen: Von (D)
che Rahmenbedingungen für Zukunftsmärkte in wichti-
gen Technologiefeldern verbinden. Wir wollen es klei- diesen 6 Milliarden Euro profitieren unsere Hochschu-
nen und mittelständischen Unternehmen ermöglichen, len, wodurch wir die universitäre Forschung stärken
dieses Potenzial besser zu nutzen; denn sie sind das wollen. Davon profitieren auch die außeruniversitären
Rückgrat und Innovationspotenzial unserer Wirtschaft. Forschungsorganisationen mit Blick auf innovative Wei-
terentwicklung und internationale Vernetzung.
Das führt übrigens auch dazu, dass wir in dieser Le- Die Gespräche über den Hochschulpakt 2020, die
gislaturperiode die Forschungsmittel für Fachhoch- angesichts wachsender Studierendenzahlen Perspektiven
schulen deutlich erhöhen und bis 2009 sogar verdreifa- schaffen sollen, werden bis Ende des Jahres abgeschlos-
chen und dass wir die Rolle der Fachhochschulen in sen sein. Auch hierbei gilt für mich – ich habe das schon
Kontakt mit den kleinen und mittelständischen Unter- einmal gesagt –: Es geht nicht um Studentenmassen, die
nehmen stärken wollen. Auch sie sind eine Quelle für uns erwarten; mehr Studierende in Deutschland bieten
die Umsetzung innovativer Ideen. Sie sind ein ganz vielmehr eine Chance, die wir wahrnehmen müssen.
wichtiger Faktor für angewandte Forschung in unserer Bund und Länder tragen hierfür gemeinsam Verantwor-
Hochschullandschaft. tung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
der Abg. Ulrike Flach [FDP] – Priska Hinz
Wir wollen neue Instrumente zum Wissens- und [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Technologietransfer sowie zur Förderung regionaler Wir sind gespannt, wie das funktioniert! – Ulla
Cluster einsetzen. Ich sage ausdrücklich noch einmal mit Burchardt [SPD]: Der Bund auch!)
Blick auf die neuen Bundesländer: Hier gab es in den
vergangenen Jahren interessante und wichtige Entwick- – Ja, auch der Bund; denn eine Universität ohne For-
lungen. Wir müssen alles dafür tun, um diese Entwick- schung ist nicht denkbar. Für die Lehre waren immer die
lungen in den neuen Bundesländern mit Blick auf Inno- Länder zuständig. Ich bin davon überzeugt, dass wir in
vationspotenzial fortzusetzen und zu verstärken. Dabei Zukunft – übrigens auch strukturell – noch zu einer
müssen wir uns immer wieder fragen: Mit welchen Ak- Menge neuer Ideen kommen werden, aus denen deutlich
zenten erreichen wir eine positive Entwicklung da, wo wird, in welchem Maße wir auch noch im Forschungsbe-
wir aufgrund der bisherigen vielfältigen Geschichte mit reich Entwicklungen ermöglichen können, die der Lehre
Blick auf die Zukunftschancen der jungen Generation zugute kommen. Das ist der Sinn der Anstrengungen des
große Sorgen haben? Bundes.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2145
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) (Beifall bei der CDU/CSU) Den Schritt, 3 Prozent des BIP für Forschung und (C)
Entwicklung auszugeben, haben wir, wie Sie wissen, in
Die Talentschmiede beginnt weit vor der Hochschule.
den letzten Jahren immer wieder gefordert. Wir werden
Deshalb wird die Bundesregierung – so, wie wir es im
Sie in den nächsten Jahren – sofern es diese für die große
Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbart haben; auch das
Koalition gibt – kritisch begleiten, um zu sehen, wie Sie
wird in diesem Haushalt deutlich – in den kommenden
Ihr Vorhaben umsetzen.
Jahren Impulse im Bereich der beruflichen Bildung set-
zen. Allein das Jobstarter-Programm mit einem Volumen Sie haben verständlicherweise den Aufwuchs von
von 100 Millionen Euro ist ein wichtiger Faktor. Die 5,6 Prozent im Haushalt 2006 gelobt. In Ihrer Presse-
weitere Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes erklärung haben Sie festgestellt: „Wir setzen Kräfte für
kommt hinzu. Innovationen frei.“ Zur Haushaltswahrheit und -klarheit
gehört aber auch, dass Ihr Kollege Steinbrück über die
Mit Blick auf die nächsten Jahre bin ich mir ziemlich
globale Minderausgabe bereits die Hälfte davon wieder
sicher, dass ein Ausbildungspakt allein die Probleme
einkassiert hat. Auch die Inflationsrate von 2 Prozent
nicht löst – weder die Probleme derjenigen, die zu Mo-
werden Sie mit einrechnen müssen.
dernisierungsverlierern zu werden drohen, noch das Pro-
blem der steigenden Zahl von Bewerbern um Ausbil- Zur Wahrheit und Klarheit gehört auch, Frau Ministe-
dungsplätze. Deshalb gilt: Wir brauchen beides, sowohl rin, dass Sie zurzeit Schwierigkeiten haben, Ihre Gelder
einen Ausbildungspakt als auch die weitere Modernisie- freizubekommen. Es gibt entsprechende Briefe Ihrer be-
rung im Bereich der beruflichen Bildung mit einer amteten Staatssekretäre, in denen diese sehr deutlich
Stärkung der dualen Ausbildung, um zu einer wirklich darauf hinweisen, dass sie im Rahmen der vorläufigen
überzeugenden und zukunftsfesten Berufsbildungspoli- Haushaltsführung nicht vorankommen. Der Bürger in
tik zu kommen. diesem Land soll wissen: Wenn wir Pech haben – ich
rede in diesem Zusammenhang ganz bewusst von Pech;
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
denn wir wollen es ja nicht –, wird der Weg für die von
neten der SPD)
Ihnen gepriesenen zusätzlichen Mittel erst Mitte dieses
Ich komme zum Schluss. Wir werden gemeinsam mit Jahres frei sein. Das so zu sagen, ist nicht nur gute Rhe-
den Ländern die Leistungsfähigkeit des Bildungssys- torik, sondern auch Klarheit und Wahrheit. Ich wäre
tems bewerten, Empfehlungen abgeben und die Bil- froh, wenn es anders wäre, Frau Ministerin. Aber so
dungsforschung deutlich verstärken; sieht leider die Realität aus.
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Priska
[SPD]) Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) NEN]) (D)
denn ob schulischer Bereich, Bildung oder Weiterbil-
dung – zur Talentschmiede Deutschland gehört ein Ge- Der reale Aufschwung hinkt also den rhetorischen
samtkonzept. Für dieses Gesamtkonzept wird der Bund Kraftmeiereien gewaltig hinterher. Wie sagte Helmut
wesentliche Impulse liefern, die dieser Haushalt bereits Kohl immer so schön: Es ist entscheidend, was hinten
widerspiegelt. rauskommt. – Frau Schavan, es ist zwar nett, was bei Ih-
nen hinten rauskommt. Aber es ist nicht gewaltig.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Debatte über
unseren Haushalt und danke für alle Unterstützung in (Heiterkeit bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]:
Sachen Bildung und Forschung schon bei der Aufstel- Also jetzt wirklich! Das war stillos!)
lung dieses Haushaltsplanentwurfs.
Die Bezeichnung „Schwerpunktsetzung Forschung und
Vielen Dank. Entwicklung“ hat es jedenfalls nicht verdient.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der FDP)
neten der SPD)
Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die von Ihnen
so gelobte Gestaltung des Ministeriums. Frau Reiche,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ich erinnere mich sehr genau, was Sie über Jahre hinweg
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach von der ständig dargelegt haben. Damals war nicht von einem
FDP-Fraktion. Ministerium für Bildung und Forschung die Rede, das
den Großteil seiner Abteilungen bzw. wichtige Abteilun-
Ulrike Flach (FDP): gen an das Wirtschaftsministerium abgibt, in dem sie
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- dann sozusagen festsitzen.
legen! Forschung und Entwicklung wie auch Bildung
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das muss
und Wissenschaft sind Schlüsselfaktoren in diesem
jetzt Frau Reiche erklären!)
Lande. Ich glaube, Frau Ministerin, in diesem Raum gibt
es keinen einzigen Parlamentarier, der diese Meinung Dort wird nun darüber nachgedacht, wie man mit den
nicht mit Ihnen teilt. Forschern der Helmholtz-Gemeinschaft umgehen soll.
Frau Reiche, ich hätte mich gefreut, wenn Sie sich mit
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
Ihren Konzepten durchgesetzt hätten. Diese neue Regie-
[SPD])
rung beginnt so jedenfalls mit einer schweren Misskal-
Darin sind wir von der FDP uns mit Ihnen einig. kulation bei der Strukturierung des Ministeriums. Das
2146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Ulrike Flach
(A) tut mir Leid für Sie sowie für die Forschung und Bildung Aber was haben wir uns jahrelang in diesem Haus alles (C)
in diesem Lande. zum Thema KMK und dazu anhören müssen, was wir
abgeben sollen! Frau Ministerin, ich bin erstaunt.
(Beifall bei der FDP)
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und wir
Sie sprachen eben davon, dass Sie sich in guten Ge- freuen uns!)
sprächen über die Koordinierung der Hightech-Strate-
gie befinden. Ich wünsche Ihnen, dass diese Gespräche Zum Abschluss meiner Rede kann ich ihnen nur eines
gut verlaufen; darüber wäre ich sehr froh. Wir haben mit empfehlen: Tun Sie das, was Sie uns jahrelang gesagt
Interesse festgestellt, dass im Haushalt 15 Millionen haben! Nehmen Sie die Mittel, die bei den Bundeslän-
Euro für die Koordinierung angesetzt werden. Aber auf dern angeblich besser aufgehoben sind – sie sollen sie ja
unsere Frage, was sich denn dahinter verbirgt, hat man behalten; ich will sie ihnen nicht wegnehmen –, und set-
im Ministerium leider keine Antwort geben können. Ich zen Sie sie konzentriert für das ein, was Ihnen nach der
befürchte daher, dass Sie bislang über gute Gespräche erbärmlichen Föderalismuskommission übrig geblieben
noch nicht hinausgekommen sind. So muss ich mich auf ist, nämlich für die Forschung, Frau Schavan!
das beschränken, was anhand Ihrer Haushaltstitel mo- (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ich
mentan sichtbar wird. Sie verstehen unter massivem denke, Ihr wärt dafür! – Dr. Uwe Küster
Mitteleinsatz bei den Hochtechnologien Folgendes: Die [SPD]: Neidhammelei!)
Ansätze für Softwaresysteme und die Mikrosystemtech-
nik weisen jeweils ein Plus von 1,5 Millionen Euro auf. Dann haben wir eine Chance in diesem Lande. Ich wün-
Bei den optischen Technologien legen Sie 2,5 Millionen sche Ihnen sehr, dass Ihnen das gelingt. Unsere Unter-
Euro drauf. Der Ansatz für die Nanoelektronik weist ein stützung haben Sie.
Plus von 3,5 Millionen Euro auf. Liebe Frau Schavan, (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wo
das ist schön. Aber das ist wirklich kein technologisches ist Westerwelle? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die
Erdbeben. FDP, klein, aber gemein!)
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Schauen Sie sich einmal die internationale Konkur- Ich erteile das Wort für die SPD-Fraktion dem Kolle-
renz an! Wir alle haben heute Morgen sicherlich im Ra- gen Klaus Hagemann.
dio gehört, was Japan zurzeit auf dem Gebiet der Nano-
technologie macht. Angesichts dessen wird einem angst (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und bange. Aber die Mittel, die jetzt bereitgestellt wer- der CDU/CSU)
(B) den, haben nichts damit zu tun, dass die Welt nun plötz- (D)
lich für Forschung und Entwicklung bei uns offen wäre. Klaus Hagemann (SPD):
Sie werden entscheidend draufsatteln müssen. Sie wer- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
den sich an Herrn Steinbrück vorbeischummeln, mit Ih- Herren! Da wir über den Zukunftsetat sprechen, heiße
ren eigenen Haushältern fertig werden ich ganz besonders die vielen Jugendlichen, die von der
Besuchertribüne aus unserer Debatte folgen, herzlich
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir sind nette willkommen. Es freut mich, dass ihr gekommen seid
Leute, Frau Kollegin, kein Angst!) bzw. dass Sie gekommen sind, gerade wenn dieser Haus-
halt beraten wird.
und auch darüber nachdenken müssen, ob Sie Ihr Minis-
terium nicht so führen wollen, wie Sie es uns über Jahre (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
in diesem Hause gesagt haben. Sie haben uns ständig er- CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND-
klärt, der Föderalismus müsse im Vordergrund stehen NISSES 90/DIE GRÜNEN)
und die Bundesländer seien zuständig. Sie haben das ge-
rade wiederholt. Nun schaue ich mir Ihren Haushalt an Im Einzelplan 30 ist in Zahlen gegossen, welche
– ich war jahrelang anderer Meinung; Frau Burchardt, Geldbeträge die große Koalition vorsieht, um die He-
Sie werden das bestimmt bestätigen – und was sehe ich rausforderungen der Zukunft in Bildung und Forschung,
voller Erstaunen? Die gute alte Edelgard Bulmahn in Ausbildung und Weiterbildung anzupacken. Damit
kommt uns quasi in allen Titeln wieder entgegen. will sie einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit
unseres Landes leisten – und sie wird das auch; davon
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jörg bin ich überzeugt, sehr verehrte Frau Flach.
Tauss [SPD]: Das mit dem „alt“ nehmen Sie Heute findet die erste Lesung des Regierungsentwurfs
zurück! Das mit dem „gut“ ist ja okay!) statt. Frau Ministerin Schavan, wir von der SPD-Frak-
Frau Schavan, Sie haben im Prinzip nur die SPD-Haus- tion sind der Meinung, dass die Weichen in die richtige
haltstitel fortgeschrieben. Sie haben sogar etwas drauf- Richtung gestellt sind, nämlich in Richtung Zukunft. Da-
gesetzt. für finden Sie unsere Unterstützung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der SPD: Die sind immer noch
gut! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/ Aber in einem muss ich Frau Flach Recht geben: Wir
DIE GRÜNEN]: Rot-Grün hat eben gute Poli- Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stellen na-
tik gemacht!) türlich fest, dass in dem Entwurf des Einzelplans 30, den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2147
Klaus Hagemann
(A) Sie uns vorgelegt haben, Frau Schavan, sehr viel Konti- nanzminister gehört, dass das Volumen des Bundeshaus- (C)
nuität zu den zurückliegenden Jahren festzustellen ist, halts in diesem Jahr um 0,7 Prozent wächst – während
der Etat für Bildung und Forschung um 5,6 Prozent
(Ulla Burchardt [SPD]: Gutes setzt sich
steigt. Wenn wir die Forschungsmittel zusammenneh-
durch!)
men – die im Einzelplan 30 und die für die Ressortfor-
zu sieben erfolgreichen Jahren in der Bildungs- und in schung in anderen Einzelplänen –, so kommen wir auf
der Forschungspolitik. immerhin 7,2 Milliarden Euro, die für den Forschungs-
bereich zur Verfügung stehen, davon allein 4,2 Milliar-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den Euro im Einzelplan 30. Auch in den anderen Einzel-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg
plänen sind entsprechende Mittel vorgesehen. Die
Tauss [SPD], an die CDU/CSU gewandt: Klat-
mittelfristige Finanzplanung bis zum Jahre 2009 ver-
schen Sie doch mal! Freut euch doch! – Ge-
deutlicht, dass dieses Programm in den nächsten Jahren
genruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])
verstärkt weitergeführt werden soll. Wenn ich mir alleine
Sehr viele erfolgreiche Projekte werden weitergeführt. die Verpflichtungsermächtigungen ansehe, dann muss
Ferner werden neue Maßnahmen erstmals finanziert, die ich sagen: Darin steckt noch sehr viel finanzielle Musik.
bereits in der letzten Legislaturperiode von Rot-Grün be-
Der Koalitionsvertrag sieht – darauf wurde schon hin-
schlossen worden sind und jetzt umgesetzt werden. Das
gewiesen – 6 Milliarden Euro zusätzlich für den Zu-
ist auch gut so.
kunftssektor Forschung vor. Wir warten mit Spannung
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des darauf, Frau Ministerin, dass Sie bis kurz vor Ostern die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesamtplanung für diese 6 Milliarden Euro vorlegen,
damit wir darüber debattieren können. Wir sind jeden-
Wenn ich mich an diese Projekte erinnere, muss ich fest-
falls sehr darauf gespannt.
stellen, dass sie sehr schwer erkämpft werden mussten,
nämlich gegen die CDU/CSU-geführten Länder. Bei (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
manchen dieser Länder waren Sie von der FDP leider Wir auch!)
auch mit in der Regierung.
In den Erläuterungen zu den einzelnen Titeln heißt es öf-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ter: „Mehr wegen besonders zukunftsträchtiger For-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schungs- und Entwicklungsvorhaben.“ – Ich glaube,
Bekanntlich zeigen drei Finger auf den zurück, der auf dass dadurch deutlich wird, welche Bedeutung der Be-
andere mit dem Finger zeigt, Frau Flach. reich Bildung und Forschung hat.

(B) Aber schließlich sind diese Projekte doch beschlossen Ich möchte auf die Äußerung von den hart umkämpf- (D)
worden. Deswegen ein ganz besonderes Kompliment an ten Zielen und auf die Projekte zurückkommen, die
die frühere Bundesministerin für Bildung und For- heute auch von Ihnen, Frau Ministerin, zu Recht als
schung, Edelgard Bulmahn. Ihr an dieser Stelle ein Dan- Leuchttürme herausgestellt worden sind. Da ist zuerst
keschön für ihren Einsatz in diesem wichtigen Bereich! das wirklich erfolgreiche Ganztagsschulprogramm in
Höhe von 4 Milliarden Euro zu nennen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist sie denn?) DIE GRÜNEN)
Aber auch Ihnen, sehr geehrte Frau Bundesministerin Die Mittel sind am Anfang sehr zögernd abgerufen wor-
Schavan, möchte ich noch einmal unsere Anerkennung den, insbesondere von den CDU-geführten Ländern.
dafür aussprechen, dass Sie den Bereich Bildung und Meine Empfehlung ist, dass Sie ein bisschen Druck ma-
Forschung stärken – das wollen wir ja gemeinsam – und chen, damit in Ihren Ländern diese Mittel abgerufen
dass Sie sich gegen das Konzept durchgesetzt haben, das werden.
Ihr Vorgänger, der letzte CDU/CSU-Bundesbildungs- (Ulrike Flach [FDP]: Damit habt ihr gespart!)
minister, nämlich Herr Rüttgers, verfolgt hat: Er hat den
Etat für Forschung und Bildung als Finanzsteinbruch be- Wir in Rheinland-Pfalz haben festgestellt, dass die Be-
nutzt. Die FDP war damals auch mit beteiligt – 1996, völkerung dies so wollte. Wir haben das Ganztagsschul-
1997, 1998 –, als diese Mittel heruntergefahren wurden. wesen sehr weit ausgebaut. Ich glaube, dass durch das
Wahlergebnis, das wir am vergangenen Sonntag in
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist jetzt so lange her, Rheinland-Pfalz eingefahren haben, deutlich wird, dass
davon reden schon meine Enkelkinder!) die Wählerinnen und Wähler dies honorieren. Wir sind
Ihnen Anerkennung, Frau Schavan, dafür, dass Sie dem den richtigen Weg gegangen, weil es notwendig war.
Konzept, das Herr Rüttgers damals vorgegeben hat,
(Beifall bei der SPD)
nicht weiter folgen!
Auch die umstrittene, aber erfolgreiche BAföG-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Reform ist in diesem Zusammenhang als Leuchtturm zu
Aber richten wir den Blick nicht zurück, sondern bli- bezeichnen. Es gibt mehr BAföG-Berechtigte und mehr
cken wir nach vorne! Ich will an einigen Zahlen noch Studenten, die unterstützt werden. Es sind mehr Mittel
einmal deutlich machen, welche Bedeutung Bildung und im Einzelplan vorgesehen, nämlich 1,1 Milliarden Euro.
Forschung für uns haben. Wir haben heute früh vom Fi- Wir gehen damit einen Schritt in die richtige Richtung.
2148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Klaus Hagemann
(A) Es wurde im Übrigen im Koalitionsvertrag festgeschrie- Mit all diesen Maßnahmen kann der Bund nur An- (C)
ben, dass die BAföG-Gesetzgebung erhalten bleibt. reize schaffen und Brücken zwischen der Forschung an
Hochschulen oder Forschungsinstituten und der Wirt-
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
schaft bauen. Die Forschungsergebnisse müssen von der
[SPD])
Wirtschaft in Produkte umgesetzt werden, die auf den
Wir müssen aber auch noch genauer hinschauen. Die Zukunftsmärkten angeboten werden können. Als Negativ-
Zahlen beim Schüler-BAföG steigen sehr stark an. Man beispiel ist sicherlich der MP3-Player zu erwähnen. Die-
muss nach den Ursachen fragen und dieses Problem nä- ses Produkt ist ein Forschungsergebnis der von uns geför-
her beleuchten. Wir haben das im Berichterstatterge- derten Fraunhofer-Gesellschaft. Professor Bullinger hat
spräch schon getan. Es muss untersucht werden, ob sich mir gestern in einem Gespräch eindeutig erklärt: Man
beispielsweise in den Berufsschulen mehr Schüler in der hat dieses Forschungsergebnis, dieses Produkt, den In-
Warteschleife befinden, weil sie keinen Ausbildungs- dustrieunternehmen wie Sauerbier angeboten und keiner
platz erhalten haben. wollte es.
Auch die viel diskutierten Mittel für den dringend er- (Jörg Tauss [SPD]: Nicht nur das! Noch vieles
forderlichen Ausbau der Hochschulen will ich in diesem andere mehr!)
Zusammenhang erwähnen. Hierfür ist in den kommen-
den Jahren eine knappe Milliarde Euro pro Jahr vorgese- – Und vieles andere mehr. Ich habe das nur als Beispiel
hen. Ich hoffe, dass das Geld entsprechend eingesetzt erwähnt.
wird und wir nicht dasselbe wie bei den Regionalisie- Die Produktion findet jetzt in den USA statt. Die ent-
rungsmitteln beobachten, die nicht immer für die Regio- sprechenden Arbeitsplätze sind also in den Vereinigten
nalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs einge- Staaten geschaffen worden. Zum Glück bekommt die
setzt werden. Gut sind die ersten Ansätze in der Fraunhofer-Gesellschaft dafür Lizenzgebühren im drei-
mittelfristigen Finanzplanung für den Hochschulpakt stelligen Millionenbereich. Ich wünsche mir, dass diese
2020. Sie, Frau Ministerin, haben hier die Richtung vor- Mittel von der Fraunhofer-Gesellschaft auch weiterhin
gegeben. Ich bin überzeugt, dass dies der richtige Weg für Forschung und Bildung eingesetzt werden können.
ist. Auch darin steckt viel finanzielle Musik.
Lassen Sie mich noch – mein Kollege Tauss wird auf
Ein weiteres positives Beispiel, ein Leuchtturm, ist si- den Bereich Forschung und Bildung noch näher einge-
cherlich die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich, hen – die berufliche Bildung ansprechen. Sie ist einer
nämlich die Universitäten, die besonders erfolgreich der Schwerpunkte im Einzelplan 30. 368 Millionen Euro
sind, verstärkt zu fördern. Die Voruntersuchungen sind stehen für diesen Bereich zur Verfügung. Es sei hervor-
abgeschlossen. Die ersten Entscheidungen sind gefällt gehoben, dass das Meister-BAföG in der letzten Legisla- (D)
(B)
worden. In diesem Haushalt sind 142 Millionen Euro turperiode reformiert, geändert, verbessert worden ist.
vorgesehen. Wenn man die Verpflichtungsermächtigun-
gen für die nächsten Jahre hinzurechnet, ergibt sich eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Summe von weit über 700 Millionen Euro, die zur Ver- Wenn man von den 368 Millionen Euro die 118 Millio-
fügung stehen werden. Frau Flach, Sie haben die vorläu- nen Euro für das Meister-BAföG abzieht, so zeigt sich,
fige Haushaltsführung angesprochen. Wir wissen, dass dass für die Förderung, die Unterstützung im Bereich der
erlaubt ist, 45 Prozent der Ausgaben zu tätigen. Deswe- beruflichen Bildung immer noch 250 Millionen Euro im
gen würde ich das nicht so negativ sehen, wie Sie es dar- Haushalt zur Verfügung stehen.
gestellt haben,
Wir wissen, Ausbildungsplätze müssen in erster Linie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) in der Wirtschaft geschaffen werden und die schulische
zumindest was die Projekte betrifft, die schon im letzten Betreuung muss durch die Länder in den Berufsschulen
Jahr veranschlagt waren und wo die Mittel entsprechend erfolgen. Aber ein starkes Engagement des Bundes auf
verausgabt werden können. Liebe Frau Flach, wir sollten diesem Gebiet ist trotz Ausbildungspakt festzustellen
hier beide Seiten der Medaille darstellen. und wir haben hier entsprechende Mittel zur Verfügung
gestellt.
Im Zusammenhang mit den erwähnten Leuchttürmen
ist auch der Pakt für Forschung und Innovation zu nen- Stichwort „Ausbildungspakt“: Dazu gehört, zu for-
nen, der in der letzten Legislaturperiode beschlossen dern, dass hier noch ein bisschen nachgelegt wird. Ange-
worden ist. 3 Prozent mehr in diesem Bereich, das ist der sichts der Zahlen des letzten Jahres und dessen, was ich
richtige Weg. in meinem Wahlkreis zurzeit höre, meine ich: Es sieht
nicht so rosig aus, was Lehrstellen, was Ausbildungs-
Eines der erfolgreichsten Programme, das ebenfalls in plätze angeht. Da ist in erster Linie die Wirtschaft gefor-
der letzten Legislaturperiode aufgelegt worden ist, war dert. Wir unterstützen die Maßnahmen, die vorgesehen
das Programm zur Stärkung der Biotechnikindustrie. Ich sind: Allein in die Unterstützung zur Schaffung von
wiederhole: Es war eines der erfolgreichsten Pro- Ausbildungsplätzen in den neuen Bundesländern sollen
gramme. Gerade kleine und mittlere Unternehmen in 95 Millionen Euro fließen.
diesem Bereich haben großes Interesse angemeldet. Die-
ses Programm wird umgesetzt. Auch das sei an dieser (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Stelle erwähnt.
Der Finanzminister hat in seinem Beitrag heute Vor-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) mittag auf die vielen jungen Menschen hingewiesen, die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2149
Klaus Hagemann
(A) ihre Ausbildung abbrechen oder die keinen Hauptschul- Die gemeinsten Meinungen und was jeder für aus- (C)
abschluss haben. Angesichts dessen ist es sehr sinnvoll, gemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu
das Projekt „Zweite Chance“ zu unterstützen. Es ist gut, werden.
hier mehr Mittel in die Hand zu nehmen, um Jugendli-
So ist es schon notwendig, in diesem Haushalt Irrtü-
chen eine zweite Chance zu geben, damit sie in den Aus-
mer oder – sagen wir es etwas freundlicher – Illusionen,
bildungsmarkt hineinkommen können.
denen die Bundesregierung erliegt, aufzudecken.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]:
CDU/CSU) Lichtenberg dachte nicht an uns bei dem
Schauen wir uns an, welche große Unzufriedenheit bei- Satz!)
spielsweise in Frankreich festzustellen ist! Wir müssen – Nur so viel als Hinweis: Er war nicht Mitglied der
uns auf diesem Feld wesentlich mehr engagieren und die Linksfraktion.
infrage kommenden Projekte herausarbeiten, damit die
jungen Menschen eine Zukunft haben. Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, wohin ich mit
dieser Feststellung eigentlich will;
Wenn man mit den Trägern der Maßnahmen redet,
stellt man fest, dass es eine Menge U-25-Programme (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Genau!)
gibt: beim Wirtschaftsminister, bei der Bildungsministe- denn – da haben Sie völlig Recht –: Dieser Einzelplan
rin, beim Minister für Arbeit und Soziales. Man verliert immerhin hat Aufwüchse. Es gibt höhere Ausgaben. Er
die Übersicht. Deswegen ist die Frage, Frau Ministerin, stärkt Forschung und Projektförderung für Bereiche wie:
ob man nicht auch hier, organisiert durch die Bundes- Lebenswissenschaften, neue Technologien sowie um-
regierung, eine Evaluation vornehmen sollte, um zu klä- weltgerechte nachhaltige Entwicklung. Die Exzellenzini-
ren, wie die Mittel eingesetzt werden und wie sie gezielt tiative „Spitzenunis“ und der Pakt für Forschung werden
eingesetzt werden können, damit wir nicht auf der einen finanziert. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
Seite doppelt fördern und auf der anderen Seite Bereiche und die Begabtenförderung bekommen mehr Geld. Das
vernachlässigen. Deswegen möchte ich hier die Anre- ist doch alles okay.
gung geben, entsprechend vorzugehen.
(Ulrike Flach (FDP): Schön wärs! – Dr. Ernst
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dieter Rossmann [SPD]: Das ist mehr als
okay! – Jörg Tauss [SPD]: Das ist sogar sehr
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie gut!)
mich jetzt zum Schluss kommen. Heute ist die erste Le-
„Ja!“, sage ich auch. – Wo sollen da Irrtum und Illusion
(B) sung des Regierungsentwurfs. Wir werden in den Haus- (D)
haltsberatungen in den Ausschüssen, im Haushaltsaus- liegen? Zahlen lügen doch schließlich nicht. – Stimmt!
schuss und im Bildungsausschuss, in die Detailarbeit Mit Zahlen kann man sich sehr gut beruhigen. Man kann
einsteigen. Es wird sicherlich noch Umschichtungen ge- sich auch selbst auf die Schulter klopfen. Aber
ben. Wir sind aber auf einem guten Weg. Wir müssen (Ulrike Flach [FDP]: Jetzt kommt es!)
uns – da haben Sie völlig Recht, Frau Flach – noch mit
der globalen Minderausgabe befassen. Die Koalition – richtig! –: Dieser Haushalt leistet nicht, was sich die
wird mit dem Ministerium zusammen entsprechende Koalitionsparteien im Wahlkampf noch ganz groß auf
Vorschläge erarbeiten, damit wir die globale Minderaus- die Fahnen geschrieben haben.
gabe an den richtigen Stellen umsetzen. Bei der SPD war im Wahlkampfprogramm zu lesen:
(Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) Jedem und jeder Einzelnen wollen wir unabhängig
Der Regierungsentwurf geht in die richtige Richtung. von der sozialen Herkunft Zugang zu guter Bildung
Er ist eine gute Basis, auf der wir aufbauen können, um ermöglichen.
für die zweite und dritte Lesung einen guten Vorschlag (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Steffen
vorzulegen. Kampeter [CDU/CSU] – Zuruf von der SPD:
Klasse Satz!)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
– Ist in Ordnung.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Bei der CDU las sich das so:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wohlstand für alle setzt Bildung für alle voraus. Die
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte, Frak- Teilhabe aller an Bildung und Ausbildung ist die
tion Die Linke. zwingende Voraussetzung dafür, dass keine Bega-
bung ungenutzt bleibt.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Ministerin hat selbst darauf hingewiesen. – So weit
bin ich einverstanden. Aber nun machen Sie auch etwas
Danke schön. – Frau Präsidentin! Meine Damen und
draus!
Herren! Georg Christoph Lichtenberg hat uns Folgendes
mit auf den Weg gegeben: (Beifall bei der LINKEN)
2150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Petra Sitte


(A) Dieser Haushalt blendet das Erreichen aller jedoch ländern zu sprechen. Wo leben wir denn, dass wir das (C)
aus. Es finden sich in diesem Haushalt keine neuen tun, dass wir das vor allem widerspruchslos tun können?
Zeugnisse für das Erreichen aller. Das Ganztagsschul-
programm wird lediglich zu Ende geführt. (Beifall bei der LINKEN)

(Jörg Tauss [SPD]: Was heißt hier In allen Bundesländern, unabhängig davon, ob sie reich
„lediglich“?) oder arm sind, gibt es Kindertagesstätten, Schulen,
Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen. Wenn
Berufsbildung, Weiterbildung, BAföG folgen den alten wir die Feststellung treffen, dass es reiche und arme
Spuren. Wir alle kennen die Misere; wir haben hier oft Länder gibt, wissen wir, dass in diesen Ländern auch je-
genug darüber geredet. weils völlig unterschiedliche Voraussetzungen dafür
Das Hauptproblem unseres Bildungssystems besteht herrschen, für diese Bereiche Gelder zur Verfügung zu
darin, dass Bildungserfolge von Kindern und Jugendli- stellen und damit Bildungs- und Innovationsressourcen
chen vor allem durch ihre soziale Herkunft geprägt zu mobilisieren. Also werden Kinder natürlich am Ende
werden. auch völlig unterschiedliche Startchancen haben, nicht
nur, weil ihre Eltern in unterschiedlichen Einkommens-
(Ulla Burchardt [SPD]: Stimmt!) gruppen sind, sondern auch, weil sie zufällig in einem
reicheren oder einem ärmeren Bundesland geboren sind.
Dieser Zusammenhang und die höchst unterschiedliche
Wenn zeitgleich auch Bildungsausgaben, wie durch die
Leistungsfähigkeit von Bundesländern haben Ungleich-
Studiengebühren geschehen, privatisiert werden, wird
heiten und Ungerechtigkeiten zu einem Markenzeichen
sich diese Situation noch weiter verschärfen.
auch unseres Bildungssystems werden lassen. Dagegen
müsste der Haushalt konsequent und selbstbewusst Zei- Auch die Exzellenzinitiative, die hier so oft als
chen setzen. Leuchtturm gerühmt wird, konnte sich – das wussten
(Beifall bei der LINKEN) Sie – nur an einen Teil der Hochschulen bzw. Universitä-
ten richten. Das war von Anfang an klar. Die logische
Ich will diese Ungleichheiten auch belegen. Die Abi- Folge ist, dass jetzt Universitäten gewonnen haben, die
turientenquoten in den Ländern liegen in einer Spann- in reicheren Bundesländern liegen. Das heißt, wir wer-
breite von 28 bis 48 Prozent. Die Studienanfängerquoten den nicht nur reichere und ärmere Bundesländer haben,
liegen zwischen 40 Prozent in Bremen und circa sondern auch reichere und ärmere Universitäten. Das
29 Prozent in Bayern. Der Zuschussbedarf pro Studie- kann man doch so nicht stehen lassen!
renden liegt zwischen 9 260 Euro im Saarland und
5 650 Euro in Hessen. Dagegen haben Brandenburgs (Beifall bei der LINKEN)
(B) Universitäten nun wiederum die geringsten und die nie- (D)
Am Ende bleiben alle trotzdem unterfinanziert; da ste-
dersächsischen Universitäten die höchsten Ausgaben pro hen die Leuchttürme glatt im Nebel.
Studierenden. Die Wanderungssalden bezogen auf die
einzelnen Länder sind gewaltig. Ebenso deutlich sind die Das alles kann und wird nicht ohne schwerwiegende
Unterschiede bei den Ausgaben für öffentliche Schulen. Auswirkungen auf unsere Forschung bleiben. Auch
Berufsschulen gehen zunehmend in freie und private wenn sie heute mit diesem Haushalt mehr Geld be-
Trägerschaft über; in Sachsen sind es bereits 50 Prozent. kommt: Forschung funktioniert nicht ohne wissen-
schaftlichen Nachwuchs. Auf EU-Ebene werden wir in
Das alles sind klare Belege für ungleiche quantitative den nächsten Jahren 1,2 Millionen Forscherinnen und
Entwicklungen. Wir alle wissen, dass es parallel dazu Forscher mehr benötigen. Wissenschaftlichen Nach-
sehr unterschiedliche qualitative Standards gibt. Beides wuchs wiederum gibt es nur mit mehr und besser ausge-
zusammen segmentiert das Bildungswesen der Bundes- bildeten Studierenden. Diese wiederum bedürfen eines
republik Deutschland immer mehr zum Nachteil von vernünftigen, gut ausgestatteten, leistungsfähigen allge-
Kindern und Jugendlichen. meinen öffentlichen Schulwesens, das möglichst viele
Vor diesem Hintergrund führen soziale Armut und Kinder zur Hochschulreife bringt. Wenn sich aber schon
Kinderarmut letztlich verstärkt zu Bildungsbenachteili- in der Grundschule die deutlichen Leistungsunterschiede
gung. – das belegen insbesondere Studien vom Kinderschutz-
bund – allein aus dem sozialen Umfeld erklären, in dem
(Beifall bei der LINKEN) die Kinder aufwachsen, dann machen weder der frühzei-
Armut ist ein Mangel an Chancen. Das ist ein zutiefst so- tige Beginn der gymnasialen Stufe Sinn noch die Ein-
ziokulturelles Problem für friedliches Zusammenleben schränkung des Ganztagsanspruchs auf einen Kinderta-
und Wirtschaften in einem Gemeinwesen. gesstättenplatz für Kinder arbeitsloser Eltern.

Was passiert in diesem Land? Zunehmend entwickelt Wer allen gute Bildungschancen und soziale Perspek-
sich ein Regionaldarwinismus. Unter diesen Vorzeichen tiven bieten will, muss auf die bestehenden Ungleichhei-
geht es doch schon lange nicht mehr um Wettbewerbsfö- ten und Ungerechtigkeiten anders reagieren, als es dieser
deralismus; machen wir uns doch nichts vor! Was übrig Haushalt tut.
bleibt, ist gnadenlose Rivalität zwischen den Regionen. (Beifall bei der LINKEN)
Statt Bildungsplanung in gesamtstaatlicher Verantwor-
tung kommen immer stärkere Unterschiede zum Tragen. Stattdessen geben Sie im Zuge der Föderalismusreform
Es ist normal geworden, von reichen und armen Bundes- noch mehr Kompetenzen ab.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2151
Dr. Petra Sitte
(A) Man muss sich das einmal vorstellen: Das Bildungs- ist, dieser Aufgabe angemessen nachzukommen; Förde- (C)
system der Bundesrepublik Deutschland steht auf rung und Sicherung der dualen beruflichen Ausbildung
16 Säulen, die in ganz unterschiedlicher Weise die Trag- – qualitativ und quantitativ –; Förderung von wissen-
lasten aufnehmen können. Sie wollen ein belastbares schaftlichem Nachwuchs und Graduierungsmöglichkei-
Gesamtgebäude und müssen sich daher mit 16 Baumeis- ten über alle Wissenschaftseinrichtungen hinweg, Fach-
tern einigen, die auch noch für das Fundament zuständig hochschulen und innovative kleine und mittelständische
sind. Das alles geschieht vor dem Umbau auf EU-Ebene, Unternehmen eingeschlossen. Juniorprofessuren müss-
parallel zum Bolognaprozess und parallel zur Einfüh- ten ebenfalls mit einbezogen und fortgeführt werden.
rung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Natürlich gibt es noch viel mehr Punkte. Ich kann aber
nur einen Auszug präsentieren.
Ganz dramatisch wird es beim Hochschulbau. Da
werden die Ausdifferenzierungen zwischen den Bundes- Wenn wir all diese Aufgaben nicht mit diesem Haus-
ländern noch zunehmen. Es werden Millionenbeträge halt oder zumindest mit dem nächsten Haushalt angehen,
insbesondere in den Bundesländern verloren gehen, die dann ergibt sich ein verfassungsrechtliches Problem. Das
eben nicht in der Lage sind, kozufinanzieren. Das geht alles hat nämlich die Revision des Grundsatzes der
zulasten der Hochschulen, der Studierenden und der For- Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur Folge. Die
schungseinrichtungen. Minister der Bundesregierung haben vor diesem Haus
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. einen Eid geleistet. Sie sollten also genau an diesem
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Punkt das Grundgesetz beachten.

In einer neuen Architektur zu bauen heißt, Projekte Danke schön.


anzugehen und Impulse zu setzen, die jede Ebene fest (Beifall bei der LINKEN)
und verlässlich mit der anderen verbindet. Man kann
nicht auf Bundesebene Bildung und Forschung zu einer
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Priorität erklären – wie Sie das vorhin aus meiner Sicht
vollkommen zutreffend getan haben –, aber dann im Als nächste Rednerin hat nun die Kollegin Priska
Rahmen der Föderalismusverhandlungen diesen Bereich Hinz, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
als Bauernopfer auf den Altar der Befriedung der Länder
legen. Das geht doch nicht. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
SES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Willsch richtig und erfreulich, dass der Etat für Bildung und For-
(B)
[CDU/CSU]: So ein Quatsch! – Dr. Ernst schung um 5,6 Prozent erhöht wird. Das sind (D)
Dieter Rossmann [SPD]: Gut beobachtet!) 424 Millionen Euro. Es ist auch erfreulich, dass davon
292,5 Millionen Euro noch sozusagen rot-grünes Geld
Aus unserer Sicht müssten vor allem in folgenden sind.
Feldern neue Impulse für ein qualitativ besseres Bil-
dungs- und Forschungssystem gesetzt werden: Ausbau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
des BAföG als Bildungs-BAföG zur sozialen Öffnung sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
der Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrich- [SPD])
tungen. Meinem Vorredner, der sich wundert, warum die Die verbleibende Erhöhung um 131,5 Millionen Euro
Anzahl der Empfänger von Schüler-BAföG zugenom- entspricht einem Aufwuchs von 1,74 Prozent. Allein
men hat, kann ich nur sagen, dass das „vielleicht“ mit dieser Teil ist Ihr Verdienst, Frau Schavan. Aber auch
der sozialen Situation der Eltern zu tun hat. darüber freuen wir uns mit Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich nenne weiterhin: stärkere Unterstützung der Fach- sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
hochschulen zum Ausbau ihrer Forschungen; Förderung [SPD])
von Kindertagesstätten bzw. von Kinderbetreuungs- und Es ist sicher richtig, dass dieser Aufwuchs auf be-
Bildungsangeboten vor allem in den westlichen Bundes- stimmte Schwerpunkte verteilt werden soll. Diese sind
ländern; Förderung von Modellstudiengängen für eine im Haushalt verankert. Frau Ministerin, Sie haben sich
Hochschulausbildung von Kindertagesstättenerzieherin- vor allen Dingen drei Schwerpunkte für diese Wahl-
nen und -erziehern. In Finnland gilt das Motto „Das periode vorgenommen. Das sind die Bereiche „Ausbil-
Beste für die Kleinen!“. Wieso eigentlich nicht auch dung“, „Weiterbildung“ und „Forschung“.
hier?
Schauen wir uns einmal die einzelnen Bereiche an.
(Beifall bei der LINKEN)
Warum werden eigentlich jenseits des Jobstarterpro-
Weitere Punkte sind: Ausbau und Qualifizierung von gramms, mit dem noch unter der alten Regierung begon-
Lehramtsstudiengängen; Fortschreibung des Projektes nen wurde, die Mittel für den Titel „Berufliche Bil-
Ganztagsschulen für ein längeres gemeinsames Lernen; dung“ um 9 Prozent gekürzt? Warum kann im
Unterstützung von Schulsanierungen, weil durch die Ab- Berichterstattergespräch nicht erläutert werden, aus wel-
senkung sowohl von Bundes- als auch von Landeszu- chem Titel und wie die so genannte „Zweite Chance für
weisungen die kommunale Ebene nicht mehr in der Lage Schulabbrecher“ finanziert wird? Das haben Sie zwar
2152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Priska Hinz (Herborn)


(A) zur Chefinnensache gemacht; aber Ihr Ministerium kann einmal im Parlament geklärt werden müsste. Das halten (C)
nicht erklären, wie dieses Programm aussehen soll. wir für falsch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man kann zwar sagen: Von einer Ministerin, die nicht Wenn man sich diesen Haushalt und das ansieht, was
weiß, wie viele junge Menschen Ende letzten Jahres die Bundesregierung vorhat, ist besonders merkwürdig,
ohne Ausbildungsplatz dastanden, ist nichts anderes zu wie mit dem Thema Bildungsföderalismus umgegan-
erwarten. Aber es ist beschämend, dass sich das im gen wird. Die Bildungsforschung muss sicherlich ge-
Haushalt fortsetzt, was wir schon beim Ausbildungspakt stärkt werden; das ist richtig. Aber dass dies auf Kosten
gesehen haben: dass es keinerlei Ideen für eine Fortent- von Projekten geschieht, die zur Schaffung gleichwerti-
wicklung des Paktes und zur Schaffung von zusätzlichen ger Lebensverhältnisse führen sollen, zeigt, dass Sie hier
Ausbildungsplätzen gibt. Denn die derzeitige Situation völlig auf dem Holzweg sind.
behindert die Zukunftsperspektiven der jungen Men- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber das ist
schen in diesem Land. doch ein nachwachsender Rohstoff! Das fin-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Sie doch gut!)

Hinzu kommt, dass die Mittel für die Benachteiligten- Sie wollen nicht nur in der Föderalismusreform, sondern
förderung gekürzt werden. Wenn man das mit Ihrem Be- auch bei Projekten, die dazu führen sollen, gleiche Stan-
dards zu erhalten und Mobilität in Deutschland zu ge-
griff der Talentschmiede verbindet, dann kann ich dazu
währleisten, den Bereich der Bildungsforschung rasie-
nur sagen: Es ist völlig daneben, wenn Sie mit Ihrer Vor-
ren. Dann dürften Sie aber kein Geld mehr in die Hand
stellung von Talentschmiede nur bei den Hochschulen
nehmen, um die Ergebnisse, die sich aus der Bildungs-
und der Begabtenförderung ansetzen. Der Begriff „Ta-
forschung ergeben, umzusetzen. Ich sage Ihnen: Da sind
lentschmiede“ muss auch diejenigen jungen Menschen Sie gänzlich auf dem Holzweg.
umfassen, die in die berufliche Ausbildung gehen. Da
haben Sie bislang nichts vorzuweisen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein nachwach-
Der zweite Schwerpunkt, der bei Frau Schavan rheto- sender Rohstoff!)
risch ganz oben angesiedelt ist, ist die Weiterbildung. Der Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung
Hier stehen wir angesichts der demografischen Situation hat gezeigt, dass die Ganztagsschulen ein Erfolgsmodell
vor großen Herausforderungen. Allerdings werden die sind. Wir bräuchten weitere solcher Modelle. Pro-
(B) Mittel für den Titel „Weiterbildung und Lebenslanges gramme wie die für Wissenschaft und Hochschule müss- (D)
Lernen“ um 12 Prozent gekürzt. Weiterbildung ist eine ten fortgeführt und dürften nicht eingestampft werden.
Innovation. Frau Schavan, Sie sind nur in den Bereichen Gerade die Hochschulen in den neuen Ländern haben
„Warme Worte verteilen“ und „Kompetenzen abgeben“ sehr davon profitiert.
im Rahmen der Föderalismusreform innovativ; aber Ta-
ten zeigen Sie nicht, jedenfalls nicht im Bereich der Wei- (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/
terbildung, der Ihnen noch nicht einmal einen Satz in Ih- DIE GRÜNEN])
rer Rede zum Haushalt wert gewesen ist. So etwas wird nach der Föderalismusreform nicht mehr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möglich sein.

Ich komme zum dritten Schwerpunkt: zur For- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
schung. Die dortige Mittelsteigerung begrüßen wir. Un- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
geklärt ist allerdings bis heute, ob wir ein Forschungs- Kollegin Flach?
förderungsgesetz brauchen. Unbeantwortet bleibt die
Frage, wie die Sozial- und Geisteswissenschaften in die-
sem und in weiteren Haushalten über das alte rot-grüne Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Programm hinaus gestärkt und gefördert werden sollen. NEN):
Falsch ist, dass die Nachhaltigkeit in der Forschung bei Nein, ich bin beim letzten Satz. Meine Kollegin
der Weißen Biotechnologie und Bioindustrie keine Rolle möchte auch noch sprechen.
mehr spielen soll. Falsch ist auch, dass es keine Mittel Meine Damen und Herren, bei aller Freude über den
für die ökologische und ethische Begleitforschung, zum Aufwuchs der Mittel für den Bereich Bildung und For-
Beispiel bei der Nanotechnologie, geben soll. schung ist der Haushalt, wie er jetzt als Entwurf vorliegt,
keine Antwort auf die Zukunftsfragen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Machen wir (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich denke, er
doch alles!) ist von Rot-Grün!)
Kritisch sehen wir die Finanzierung des Ethikrates. Wir hoffen sehr, dass er im Laufe der Beratungen noch
Den haben Sie von der CDU/CSU immer scharf als Re- verändert wird.
gierungsinstrumentarium, als Beratungsgremium der Danke schön.
Regierung kritisiert. Jetzt soll er finanziert und damit die
Struktur vorweggenommen werden, die eigentlich erst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2153

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C)
Nun hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion die Kol- Klaus Hagemann [SPD] und der Abg. Ulrike
legin Ilse Aigner. Flach [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU) Alle großen Quantensprünge der Innovation basieren
letztendlich auf Grundlagenerkenntnissen: Das GPS
würde sich um Meter vermessen, gäbe es nicht die
Ilse Aigner (CDU/CSU):
einsteinsche Relativitätstheorie. Die moderne Gentech-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nik wurde erst möglich durch die Aufklärung und Ent-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die schlüsselung der DNS-Struktur.
Stimmung in der Wirtschaft und bei den Menschen
steigt. Der Bundesregierung ist es gelungen, wieder Ver- Der Pakt hieße aber nicht Pakt, wenn wir nicht auch
trauen in unser Land zu bringen. etwas erwarten dürften. Die Forschungseinrichtungen
müssen drei entscheidende Punkte als ihre eigenen An-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! – liegen begreifen: Nachwuchsförderung, Karrierechancen
Ulrike Flach [FDP]: Ach, Frau Aigner!) für Frauen und eine Vernetzung mit den Hochschulen.
Diese positive Stimmung müssen wir nutzen. Wir müs- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)
sen den Leerlauf verlassen, den Vorwärtsgang einlegen
und die Anfangsbewegung in einen kräftigen Schub ver- Damit komme ich zum Haupttriebwerk, zu den Hoch-
wandeln. schulen. Die Hochschulen sind letztendlich das Herz-
stück des Wissenschaftssystems. Die jungen Nach-
(Beifall bei der CDU/CSU) wuchswissenschaftler sind der Treibstoff für die
Dazu müssen wir den Wettbewerb um die besten Köpfe Forschung. Mit der Exzellenzinitiative haben wir einen
aufnehmen. Ob wir künftig in der Weltspitze mitspielen wirklich guten Weg eingeschlagen. Wir entwickeln so
oder uns in der Qualifikantenliga wiederfinden, hängt im die Stärken unserer Hochschullandschaft. Die erste Vor-
Wesentlich von zwei Faktoren ab, nämlich davon, wie auswahlrunde ist beendet und hat einen Paradigmen-
erfolgreich wir hoch qualifizierte Menschen aus- und wechsel eingeleitet. Früher war die Mehrheit in Deutsch-
weiterbilden und wie erfolgreich wir die Schlüsseltech- land darauf bedacht, eine Illusion aufrechtzuerhalten:
nologien des 21. Jahrhunderts entwickeln. Alle Universitäten sind gleich. Gleich schlecht war ihr
lieber als unterschiedlich gut. Der Exzellenzwettbewerb
Innovation ist die Schubkraft unserer Zukunft. Des- gibt der Hochschulentwicklung nun einen enormen
halb investieren wir in diesen Bereich. Das ist nicht hoch Schub. Auch diejenigen, die nicht zu den Gewinnern
(B) genug einzuschätzen, da wir gleichzeitig in anderen zählen, haben ihre Stärken erkannt; sie haben eine (D)
Bereichen sparen müssen. Bis zum Ende der Legislatur- zweite Chance, bei den Schwächen etwas nachzubes-
periode werden wir zusätzlich 6 Milliarden Euro für For- sern.
schung und Entwicklung aufwenden. Dies ist ein Kraft-
akt, der sich zum ersten Mal in diesem Haushalt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
manifestiert. Die Ausgaben für Bildung, Forschung und neten der SPD)
Entwicklung zeigen unsere Bereitschaft, über den Tag
Der Betrag von 1,4 Milliarden Euro aus der Bundeskasse
hinaus zu denken. Wir wollen die Zukunft gestalten.
ist bei der Exzellenzinitiative sehr gut angelegt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Mit der Vollkostenfinanzierung werden wir die
Wir bauen auf drei Säulen. Wie vielleicht der eine Hochschulen zusätzlich stärken. Bisher belasten Wissen-
oder andere von Ihnen weiß, war ich früher in der Raum- schaftler, die bei der DFG Drittmittel einwerben, die
fahrt engagiert. Leider hat uns ein Parteikollege dieses Universitäten mit den entstehenden Gemeinkosten für
Themenfeld weggeschnappt. Trotzdem passt ein Bild Räume, Strom, Material usw. Künftig sollen über die
aus der Raumfahrt sehr gut zu diesen drei Säulen: die DFG-Förderung hinaus diese Kosten übernommen wer-
Ariane-Rakete. Sie hat drei Triebwerksstufen. Als erste den. Wir wollen mit einer Förderung in Höhe von
Stufe dienen die Feststoffbooster. Sie sind außerhalb des 10 Prozent beginnen und später 20 Prozent übernehmen,
Haupttriebwerkes angebracht und eignen sich deshalb was zusätzlichen Ausgaben in Höhe von 300 Millionen
hervorragend für einen Vergleich mit der außeruniversi- Euro entspricht. Das ist eine sehr deutliche Entlastung
tären Forschung. für die Hochschulen.
Damit bin ich beim Pakt für Forschung. Er wurde (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
im letzten Jahr vereinbart. Wir stellen ihn jetzt auf eine GRÜNEN]: Der Koalitionspartner wird unru-
solide finanzielle Basis. hig, Frau Aigner!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mit der finanziellen Untermauerung kann man die Le-
neten der SPD) gende widerlegen. Der Bund zieht sich eben nicht aus
seiner Verantwortung für die jungen Menschen zurück.
Die geförderten Forschungseinrichtungen von Max Das Gegenteil ist der Fall.
Planck bis Helmholtz können sich auf uns verlassen. Sie
bekommen bis 2010 jährlich 3 Prozent mehr. Grundla- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
genforschung braucht Planungssicherheit. neten der SPD)
2154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Ilse Aigner
(A) Der Bund entlastet die Länder bei der Forschung. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
Länder müssen sich im Gegenzug selbst verpflichten: neten der SPD – Steffen Kampeter [CDU/
Sie müssen die Kapazitäten ausbauen und die Lehre stär- CSU]: Wir sind bereit!)
ken. Eben diese Verpflichtung wäre das wirklich Neue
und Wirkungsvolle. Das wäre ein wirklicher Pakt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der CDU/CSU) Das Wort hat nun der Kollege Uwe Barth, FDP-Frak-
tion.
Kommen wir zur Oberstufe, die die Satelliten im
Weltraum platziert. Ich will sie mit den wissenschaftli- (Beifall bei der FDP)
chen Leuchttürmen vergleichen. In den letzten Jahren
war viel von Innovationsoffensiven und Leuchttürmen Uwe Barth (FDP):
die Rede. Bei der Projektförderung wurde aber leider Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
real gekürzt. Nun gibt es endlich einmal wieder Steige- und Kollegen! Frau Ministerin, „Deutschland soll sich
rungen im Haushalt, die das Wort Innovationsoffensive zu einer Talentschmiede entwickeln“. So haben Sie
rechtfertigen. heute Ihre Rede begonnen, so haben Sie auch Ihre Re-
Das zeigt sich exemplarisch am Titel „Vernetzte gierungserklärung begonnen. Niemand hier im Raum
Welt“. Die Mittel steigen allein hier um 18 Prozent. Da- würde Ihnen widersprechen. Allerdings müssen sich Ihr
hinter verbergen sich zum Ersten Projekte wie zum Bei- Haushaltsansatz und die Politik der gesamten Bundes-
spiel die Entwicklung hoch leistungsfähiger Grids. Das regierung an diesem Anspruch messen lassen.
sind neuartige Telekommunikationsnetze. Sie ermögli- (Beifall bei der FDP)
chen die rasche und preiswerte Bearbeitung von höchst
komplexen Computeraufgaben. Zum Zweiten geht es Meine Kollegin Flach hat die Einschätzung der FDP
beim Titel „Vernetzte Welt“ um Sicherheitstechnologien, schwerpunktmäßig zu den Bereichen Forschung und
um zum Beispiel eine vertrauenswürdige Übermittlung Entwicklung dargelegt. Deshalb möchte ich mich auf ei-
von Daten zu ermöglichen. Bei diesem Problem gibt es nige andere Punkte konzentrieren. Sie haben – auch in
leider offensichtlich bei den Hackergemeinschaften Ihrer Regierungserklärung – gesagt, die soziale Her-
mehr FuE als bei der Wissenschaft. Auch die Geheim- kunft darf nicht die persönliche Zukunft entscheiden.
dienste interessieren sich dafür; naturgemäß veröffentli- Auch das ist richtig. Wo sind aber die neuen Ansätze zur
chen sie aber leider nicht ihre Ergebnisse. Deshalb müs- Umsetzung dieser Erkenntnis? Jeder weiß, dass die frühe
sen in Deutschland auch hier die Kompetenzen Förderung über Bildungschancen entscheidet: Im vor-
ausgebaut werden. „Vernetzte Welt“ ist ein wirkliches schulischen Bereich und in der Grundschule fällt die
(B) Leuchtturmprojekt. Entscheidung, nicht im Bereich der Studiengebühren. (D)
Wo sind Ansätze oder gar Programme für frühkindliche
Auch die Geisteswissenschaften gehören eindeutig Bildung? Wo sind Modelle wie zum Beispiel die engli-
zu den Leuchttürmen. Eine innovative Gesellschaft schen Early-Excellence-Centers?
braucht unbedingt die Reflexion der Geisteswissenschaf-
ten. Auch deshalb erfahren sie eine Steigerung der Mittel (Beifall bei der FDP)
um über 13 Prozent.
Ihre Kollegen Steinbrück und von der Leyen reden
Die große Koalition geht mit diesem Haushalt in Vor- über kostenlose Kinderbetreuung. Gerade die Verbin-
leistung. Das ambitionierte Ziel, die Ausgaben für For- dung von frühkindlicher Betreuung und frühkindlicher
schung und Entwicklung auf 3 Prozent des Brutto- Bildung entscheidet ganz grundlegend über die persönli-
inlandsprodukts zu steigern, bedeutet in nackten Zahlen: chen Chancen im Bildungssystem. Gerade der Bereich
Wir müssen die Ausgaben für Forschung und Entwick- der frühkindlichen Bildung muss aus unserer Sicht ganz
lung von momentan 55 Milliarden Euro Jahr für Jahr auf entscheidend verbessert werden.
67 Milliarden Euro in 2010 steigern.
(Beifall bei der FDP – Ulla Burchardt [SPD]:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deswegen haben wir auch das Tagesbetreu-
neten der SPD) ungsausbaugesetz gemacht! Das gibt es
schon!)
Die Aufwendungen in Höhe von 3 Prozent sollen zu
zwei Dritteln von der Wirtschaft und zu einem Drittel Ich frage mich, wo in dieser Debatte die eigenen Kon-
von der öffentlichen Hand, also von Bund und Ländern zepte der Bundesbildungsministerin bleiben. Wo bleibt
finanziert werden. Deshalb geht heute mein Appell weit der bildungspolitische Akzent der Bundesregierung in
über dieses Haus hinaus an die Wirtschaft und an die dieser Debatte? „Die soziale Herkunft darf nicht die per-
Länder, sich an dieser gemeinsamen Kraftanstrengung sönliche Zukunft entscheiden.“ – Richtig. Dann schaffen
zu beteiligen. Sie aber auch Möglichkeiten. Tun sie gerade im Bil-
dungsbereich etwas.
Die Rakete ist fertig.
Sehr verehrte Frau Kollegin Hinz, das Ganztags-
(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) schulprogramm hat nicht den Erfolg, den Sie gerne be-
tonen.
Sie steht auf der Startrampe. Wir müssen sie nur noch
gemeinsam auf eine gute und richtige Bahn bringen. (Beifall bei der FDP )
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2155
Uwe Barth
(A) Im Jahr 2005 wurde die globale Minderausgabe zu gro- verehrte Frau Ministerin, aber Sie werden den Hoch- (C)
ßen Teilen aus dem fehlenden Mittelabruf aus diesem schulen gar nichts einräumen. Denn Sie wollen die
Programm realisiert. Hochschulen komplett der Länderbürokratie überant-
worten und lehnen unseren Vorschlag, die Hochschulau-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erklären Sie tonomie im Grundgesetz zu verankern, ab.
mir doch einmal, was eine globale Minderaus-
gabe ist!) Sie planen, die Mittel für den Hochschulbau an den
Investitionen der Jahre 2000 bis 2003 zu orientieren
Das widerspricht Ihrer Darstellung ganz erheblich. bzw. festzuschreiben. Damit schwächen Sie in ganz er-
(Beifall bei der FDP) heblichem Umfang gerade die Hochschulen in den fi-
nanzschwächeren Ländern und Sie schwächen damit
Nicht Bauten, sondern Bildung ist eine Investition. auch die Möglichkeiten für eine dynamische Entwick-
Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, gerade lung der Hochschulen in ganz Deutschland.
im Bildungsbereich mehr zu tun.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Jörg Tauss [SPD]: Aber Bildung im Freien der SPD)
wollen wir auch nicht!)
Wir brauchen aber keine Schwächung der Hochschu-
Wahrscheinlich wird dies aber wie Ihre eigenen, viel be- len, sondern eine Verbesserung der Rahmenbedingungen
scheideneren Ansätze an der Föderalismusreform kläg- für Bildung und Forschung in unserem Land. Dann wird
lich scheitern. sich unser Land im Sinne dessen, was Sie, sehr verehrte
Leider ist festzustellen, dass sich in den ersten Mona- Frau Ministerin, eingangs gesagt haben und was auch Ih-
ten nach der Amtsübernahme, in – wie wir seit vorges- rer Regierungserklärung zu entnehmen war, zu einer in-
tern wissen – Phase 1, in der Bildungspolitik noch nichts ternational anerkannten Talentschmiede entwickeln. Für
Wichtiges getan hat. Der Haushaltsentwurf ist letztlich alles, was zur Erreichung dieses Ziels beiträgt, kann ich
ein Abbild der Konturlosigkeit des bisherigen Regie- Ihnen die Unterstützung der FDP-Fraktion zusagen.
rungshandelns. Vielen Dank.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ (Beifall bei der FDP)
CSU und der SPD)
Die Ministerin hat den Entwurf als Aufbruch und Herr Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Hagemann hat ihn gleichzeitig als Fortschreibung der Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jörg Tauss von
rot-grünen Regierungspolitik bezeichnet. Herr der SPD-Fraktion.
(B) Hagemann, ich gestehe, dass ich näher bei Ihnen bin. (D)
Das ist aber gerade nicht der Aufbruch, den wir brau- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ilse
chen. Aigner [CDU/CSU] – Uwe Barth [FDP]: Mit
neuer Frisur!)
Liebe Frau Kollegin Aigner, Sie haben Herrn Einstein
und seine Relativitätstheorie bemüht. Mir kommt die Si- Jörg Tauss (SPD):
tuation in der Koalition ein bisschen so vor wie bei der
Das ist keine neue Frisur; ich war bei einem anderen
heisenbergschen Unschärferelation: Die einen wissen
Friseur.
nicht, wo wir stehen, und die anderen wissen nicht ge-
nau, wie schnell wir uns bewegen. (Heiterkeit)
(Beifall bei der FDP) Lieber Kollege Barth, ich bin von manchem, was Sie
gesagt haben – auch zum Thema Föderalismus-
Sehr verehrte Frau Ministerin, wir von der FDP haben
reform –, angetan. Bis Sonntag hatte sich das allerdings
Ihr Wort von der zweiten Chance ganz ausdrücklich be-
noch anders angehört. Kollege Meinhardt – wir haben
grüßt. Jedes Jahr verlassen 8 bis 9 Prozent aller Schüle-
schon beim Rotwein im Nachtzug zusammengesessen –,
rinnen und Schüler die allgemein bildenden Schulen
auch bei Ihnen hat sich das anders angehört.
ohne jeden Abschluss. Wir brauchen gerade für diese
Schülerinnen und Schüler mehr Ausbildungsplätze. Wa- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
rum aber, so frage ich mich, kürzen Sie die Zuschüsse LINKE]: Hört! Hört!)
für die überbetrieblichen Ausbildungsstätten um
5 Millionen Euro und den Ansatz für Jugendliche mit – Ja, man pflegt ja die Kommunikation mit der Opposi-
besonderem Förderungsbedarf um weitere 4 Millio- tion auf allen Ebenen, auch zu mitternächtlicher Stunde
nen Euro? Akzentsetzung für eine zweite Chance sieht im Speisewagen.
für mich etwas anders aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis Sonntag haben
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir noch von Herrn Burgbacher und Herrn Westerwelle
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gehört, dass die Föderalismusreform das Gelbe vom Ei
sei. Daher bin ich gespannt – Kollege Kauder sitzt weiter
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wol- hinten –, wie Baden-Württemberg sich zu diesem Thema
len den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in outen wird. Ich bin in der Tat der Auffassung, dass wir
Deutschland mehr Freiraum einräumen. Das hat die Mi- das eine oder andere hier sachlich und real besprechen
nisterin wiederholt geäußert. Bei allem Respekt, sehr müssen.
2156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jörg Tauss
(A) (Zuruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Grundgesetz und so war es bis heute – für die Schulen, (C)
für die Bildung zunächst einmal die Länder zuständig
– Frau Flach, ich nehme Sie ausdrücklich aus. Es scheint sind, die hier für sich mehr Kompetenzen einfordern.
ja hier einen Wechsel zu geben. Nur, wenn Sie sagen, Sie
wollen mit uns zusammenarbeiten, dann möchte ich wis- Aus diesem Grunde nehme ich mit großer Freude zur
sen, für welchen Teil der FDP Sie sprechen. Ich weiß, Kenntnis, was sich in dem einen oder anderen Land tut.
dass „liberal“ heißt, dass jeder das sagen darf, was er ge- In dem einen Land redet man nur über das Ziel „Kinder-
rade sagen will. Aber das führt bei einem Thema wie der land“, in Rheinland-Pfalz macht man etwas:
Föderalismusreform natürlich zu nichts.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dort ist beispielsweise das letzte Kindergartenjahr bei-
Es wird spannende Diskussionen geben. Das ist völlig tragsfrei, genauso wie in Berlin gegenwärtig darüber dis-
klar. kutiert wird, das dritte Kitajahr beitragsfrei zu stellen.
Das ist eine praktische Förderung, nicht nur für benach-
(Uwe Barth [FDP]: Auf die freuen wir uns!)
teiligte Kinder, sondern für alle Kinder.
Kollege Struck hat hier einiges zu diesem Thema ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sagt und dazu, über welche Punkte man sachlich reden
muss. Kollege Kauder, ich halte es für vernünftig, wenn Denn gemeinsames Spielen und Lernen werden in unse-
wir über das alles miteinander und mit den Ländern dis- rer Gesellschaft zunehmend wichtiger und sind eine der
kutieren. Das passt genau zu dem, was Sie, liebe Kolle- wesentlichen Voraussetzungen für den späteren Bil-
gin Aigner, über die Raketen gesagt haben. Das ist ein dungserfolg.
wunderbares Bild. Man kann sich das richtig vorstellen.
Aber bei Raketen ist es so: Je höher sie steigen wollen, (Ulrike Flach [FDP]: Sagen Sie doch auch mal
desto mehr Ballast müssen sie abwerfen. Stück um Stück etwas dazu, wie Sie das alles finanzieren wol-
fällt da etwas ab. Jetzt müssen wir nur aufpassen, dass len!)
vor lauter föderalem Ballast die Rakete nicht in eine
Liebe Kollegin Flach, Sie haben berechtigterweise
Umlaufbahn gelangt und sie dort mit großem Brimbo-
auf die Kontinuität zwischen der alten und der neuen
rium verglüht. Das wäre in der Tat nicht das, was wir bil-
Bundesregierung hingewiesen. Allerdings sollten Sie es
dungspolitisch wollen.
der Kollegin Aigner nicht vorwerfen, dass sie ihre Rhe-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) torik etwas mehr ändern musste als ich meine.

(B) Kollegin Sitte – wo sie Recht hat, hat sie Recht –, der (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (D)
Abstand zwischen guten und schlechten Schülerin-
nen und Schülern ist eine Tatsache. Das hat die PISA- Das ist ja nicht schlimm. Denn wenn man einen neuen,
Studie ergeben. Das ist ein viel dramatischerer Befund lieben Koalitionspartner hat, muss man versuchen, or-
als das Problem, dass der eine oder andere nicht recht- dentlich mit ihm zusammenzuarbeiten. Das ist völlig
zeitig Rechnen und Schreiben lernt. Das kann man noch klar und gilt auch für die Ministerin. Wir versuchen, ge-
lernen. Das hat nichts mit Bildung zu tun. Das ist Kultur- meinsam Erfolg zu haben.
technik. Aber dass in der Tat der Abstand zwischen gu- Kollegin Aigner, Sie haben die Begehrlichkeiten ei-
ten und schlechten Schülerinnen und Schülern in keiner nes räuberischen Landes aus dem Süden der Republik
vergleichbaren Industrienation so groß ist wie in angesprochen. Dort wollten sich die alten Republikler
Deutschland und dass vor allem die soziale Herkunft der im gesamten Bereich der Technikentwicklung breit ma-
entscheidende Punkt bei der Frage ist, ob jemand zu den chen.
Schlechten oder zu den Guten gehört, das ist das eigent-
lich Dramatische, was aus den PISA-Ergebnissen he- (Heiterkeit bei der SPD)
rauszulesen ist.
Diesen Versuch haben wir gemeinsam abgewehrt; denn
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es ist vernünftig, dass das Forschungsministerium für die
der LINKEN und der Abg. Ulrike Flach Grundlagenforschung zuständig ist.
[FDP])
In diesem Bundeshaushalt werden insgesamt 7,2 Mil-
Deshalb müssen wir uns um diese Punkte kümmern und liarden Euro für die Bildung aufgewendet. Dies ge-
sehen, was Bundeskanzler Schröder schon früher sagte: schieht über alle Ressorts hinweg. Zwar kommt dem
Bildung ist eine nationale Aufgabe. Wir sollten darüber Wirtschaftsministerium hier eine besondere Bedeutung
reden, wer an welcher Stelle in sinnvollen Kooperatio- zu; aber alle Ressorts sind betroffen. Deswegen kommt
nen – nicht mit Kooperationsverbot – etwas bewirken es darauf an, dass wir – das wollen wir auch tun – Res-
kann. Vor genau dieser Aufgabe stehen wir. sortforschung betreiben und alle Maßnahmen, die in den
verschiedenen Ressorts anstehen, weiterhin evaluieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Ulrike Flach [FDP]: Das solltet ihr auch tun!)
GRÜNEN)
Wir werden uns genau ansehen, was dort getan wird.
Das heißt dennoch – hier will ich keine Vermischung Denn wir wollen für das Geld, das wir zur Verfügung
haben –, dass selbstverständlich – so steht es in unserem stellen, ein Höchstmaß an Forschung erreichen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2157
Jörg Tauss
(A) Eines wissen wir – das muss ich sagen, wenn wir Was mich immer schmerzt, ist, dass wir in einigen (C)
schon über Geld und Forschung reden –: Forschung Bereichen – das ist bei Jugend und Familie genauso der
kommt nicht ohne Geld aus. Fall wie bei Bildung und Forschung – für Leistungs-
gesetze, die wir zu erbringen haben, vom Finanzminister
(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Das ist richtig!) relativ wenig Anerkennung erfahren.
Das, was bei der Forschung herauskommt, ist in einer
(Karl Diller, Parl. Staatssekretär: Was? Wie
Volkswirtschaft wieder Geld. Genau deshalb lohnt es
bitte?)
sich, in Bildung, Wissenschaft und Forschung zu inves-
tieren. – Lassen Sie es mich so sagen, Herr Staatssekretär
Diller: Hier könnten wir uns seitens des Finanzministers
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
noch mehr Freundlichkeit vorstellen. Denn es ist doch
Das, was in diesem Bereich geschieht, ist für die Zukunft so: Wenn andere Ressorts die Leistungsgesetze, die sie
unseres Landes sehr wichtig und für den Erhalt unserer zu erbringen haben, überziehen, bekommen wir die glo-
sozialen Sicherungssysteme sogar existenziell. bale Minderausgabe. Ich fände es prima, wenn wir ein-
mal anderen – beispielsweise beim BAföG – eine glo-
Aus diesem Grunde ist es richtig, dass wir uns vor- bale Minderausgabe auferlegen könnten. Das ist jetzt
nehmen, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen: Bis 2010 soll aber natürlich reiner Egoismus. Die entscheidende Frage
der Anteil der öffentlichen und der privaten Investitio- aber ist: Wer soll für Leistungsgesetze aufkommen? Wir
nen in Bildung, Forschung und Entwicklung auf 3 Pro- müssen die Ausgaben für das BAföG beispielsweise im-
zent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Im mer aus unserem Etat finanzieren. Das ist ein Punkt, der
Rahmen dieses Einzelplans kann das nur teilweise reali- sicher nicht ganz unproblematisch ist.
siert werden. Daher sind wir darauf angewiesen, dass
uns auch die anderen Ressorts bei der Realisierung des (Ulrike Flach [FDP]: Sie können es ja
3-Prozent-Ziels helfen. abschaffen!)
Auch die Wirtschaft muss ins Boot. Denn das 3-Pro- Natürlich sind in Bezug auf den Haushalt noch ein
zent-Ziel bedeutet nicht, dass diese 3 Prozent aus staatli- paar Fragen offen. Wir haben beispielsweise noch nicht
chen Mitteln kommen sollen. Vielmehr soll 1 Prozent- geklärt, wie es bei der Begabtenförderung in der berufli-
punkt aus staatlichen Mitteln – aufgeteilt zwischen Bund chen Bildung aussieht. Dieses Thema müssen wir einmal
und Länder – aufgewandt werden und 2 Prozentpunkte ansprechen, Frau Ministerin; denn das ist ein wichtiger
sollen aus der Wirtschaft beigesteuert werden. Kollege Punkt, der über die Wirtschaft abgewickelt wird. Wenn
Riesenhuber und ich haben uns bereits ein paar Gedan- wir für diesen Bereich schon so viel Geld ausgeben,
(B) ken gemacht, wie man die Rahmenbedingungen in die- möchte ich – gerade da wir ja über die Evaluierung (D)
sem Bereich verbessern kann. Noch sind nicht alle un- reden – ganz gerne erfahren, wofür dieses Geld eigent-
sere Vorschläge bei den Wirtschaftspolitikern auf großes lich verwendet wird und was das Ergebnis dieser Begab-
Interesse und auf große Freude gestoßen, vor allem nicht tenförderung ist.
bei den Finanzpolitikern, wie ich der Korrektheit halber
sagen muss. Auch darüber werden wir miteinander dis- Anderes Thema: Bildungskredite. Hier werden in er-
kutieren müssen. Ich denke, der Grundsatz, dass wir in heblichem Maße Ausfälle erwartet. Wir müssen einmal
unserem Land etwas für Bildung, Wissenschaft und For- schauen, ob das wirklich so ist. Wenn die Ausfälle bei
schung tun müssen, ist anerkannt. Das halte ich für aus- den Bildungskrediten wirklich erheblich wachsen, dann
gesprochen wichtig. kann ich all denen, die kreditfinanzierte Studiengebüh-
ren einführen wollen – ich will es nicht, damit das völlig
Die Mittel für die Projektförderung haben wir um klar ist –, viel Vergnügen mit den dadurch in den nächs-
278 Millionen Euro aufgestockt; das ist ein wichtiges ten Jahren entstehenden Belastungen für die Haushalte
Signal. Für die Projektförderung außerhalb der Hoch- wünschen.
schulen haben wir 140 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt, auch jenseits der bekannten Bereiche, zum Bei- (Beifall bei der SPD)
spiel für die Gesundheitsforschung. Wir werden unter Das ist also ein interessanter Punkt, den wir behandeln
anderem ein neues IT-Forschungsprogramm auflegen, da werden.
das Programm „IT-Forschung 2006“ der alten Bundes-
regierung ausläuft. Auch diesem Sektor werden wir uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
in diesem Jahr, dem Jahr der Informatik, zuwenden. Das
ist ein spannender Forschungsbereich. Liebe Haushälterinnen und Haushälter – der von der
Union ist gerade nicht da – –
Natürlich gibt es auch ein paar Probleme; das ist völ-
lig klar. Auch diese Probleme sind von den Haushälte- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Er sitzt bei der
rinnen und Haushältern angesprochen worden. Zu nen- SPD!)
nen ist hier zum Beispiel die globale Minderausgabe. – Entschuldigung, Frau Aigner, ich hatte nur einen Blick
Aber auch bei diesem Thema sind wir uns einig, dass wir für Sie. Der Kollege Kampeter hat sich schon der SPD
diese globale Minderausgabe, die uns zum Teil von an- angeschlossen. Ganz prima.
deren Häusern auferlegt wird – das ist kritisch anzumer-
ken –, im Rahmen der Haushaltskonsolidierung erbrin- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Den
gen wollen und müssen. nehmen wir nicht!)
2158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jörg Tauss
(A) – Nun sei doch nicht so. Wenn er Geld mitbringt, dann – Ja, gut: Ob sich jemand mit diesem Kredit ein Auto (C)
nehmen wir auch den. kauft oder sonst irgendetwas finanziert, kann ich natür-
lich nicht mit polizeilichen Mitteln ermitteln.
(Heiterkeit bei der SPD)
Es geht darum, einem Studierenden ein Kreditpro-
Kollege Kampeter, es gibt natürlich Themen, über die gramm zur Verfügung zu stellen. Am besten ist es natür-
wir auch künftig streiten wollen. Es geht hier konkret um lich für denjenigen, der in ein sozialdemokratisch regier-
innovative Dienstleistungen. Wir haben immer darüber tes Land geht, in dem Studiengebühren nicht erhoben
gesprochen. Das ist ein wichtiger Punkt. Hier müssen werden. Das ist doch völlig logisch. Wenn er zu den
wir selbstverständlich etwas tun. Schwarzen geht – Entschuldigung, lieber Koalitionspart-
ner –, ist er in diesem Punkt eher der Betrogene.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist – das
Herr Kollege Tauss, gestatten Sie eine Zwischenfrage geht übrigens nicht auf eine Idee von mir, sondern von
der Kollegin Flach? der KfW zurück –: Wir haben die KfW gebeten, mit den
Ländern, die Studiengebühren erheben, einen Vertrag
abzuschließen – das hat die KfW nach meiner Kenntnis
Jörg Tauss (SPD):
übrigens auch vor –, in dem steht: Liebe Freunde, wenn
Das wäre mir recht, weil mir die Zeit ein bisschen wir aufgrund der Tatsache Ausfälle haben, dass ihr Stu-
davonrennt. – Bitte schön, Kollegin Flach. diengebühren erhebt, wodurch ihr staatliche Einnahmen
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der erzielt, die ihr den Hochschulen in der Regel nicht zulei-
SPD und der CDU/CSU) tet – diese Studiengebühren bleiben nach allen Erfahrun-
gen ja an den klebrigen Fingern der Finanzminister
hängen –, dann übernehmen wir die Risiken dafür nicht,
Ulrike Flach (FDP): dann muss das jeweilige Bundesland, das Studiengebüh-
Mir auch, Herr Tauss. – Herr Tauss, ich mache mir ren erhebt, die Risiken dafür übernehmen. Das halte ich
natürlich auch meine Gedanken über Ausfallrisiken. für eine logische Politik der KfW. Dies hat der Bund
Noch mehr interessiert mich aber, wie Sie mit Ihrer sehr aber nicht in irgendeiner Form zu verantworten. Für uns
kritischen Einstellung zu dem Thema Studiengebühren gilt der Grundsatz: Es ist ein KfW-Programm, es bleibt
damit umgehen konnten, dass das Ganze jetzt von der ein KfW-Programm und die Ausfälle sind nicht vom
KfW für die von Ihnen getragene Bundesregierung ver- Bund zu verantworten.
antwortet wird. Hierauf hätte ich gerne eine Antwort von War dies eine Antwort auf Ihre Frage, liebe Kollegin
Ihnen. Flach?
(B) (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Ulrike Flach [FDP]: Die KfW ist Ihre Bank,
der LINKEN) lieber Herr Tauss!)
– Wenn es meine Bank wäre, dann ginge es mir besser.
Jörg Tauss (SPD): Ich schaue mir jeden Tag den Stand meines Girokontos
Schade, ich habe geschaut, welche Teile meiner Rede an und bin deprimiert. Leider ist es nicht so. Diese Bank
ich in der Beantwortung Ihrer Frage unterbringen kann. gehört zu großen Teilen dem Bund und zu einem kleine-
Aber dieses Thema wollte ich leider nicht streifen. Des- ren Teil den Ländern. Aus diesem Grunde hat der Bund
wegen ist das nicht möglich, aber die Frage beantworte ganz klar gesagt: Wir wollen keine Risiken übernehmen,
ich gerne. die aus der sonstigen Geschäftspolitik der KfW hervor-
gehen. In diesem Punkt sind wir uns mit den Haushältern
Auch zur Erläuterung für diejenigen, die sich noch völlig einig.
nicht mit dieser Frage beschäftigt haben: Die KfW wird
künftig Bildungskredite vergeben. Diesen Punkt halten Ich komme zu den Themen zurück, die uns betreffen.
wir für selbstverständlich und für gut. Bei dem Thema Deutsche Stiftung Friedensforschung ist
vorhin jemand zusammengezuckt. Aber in diesem
(Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koali-
CSU]) tion, werden wir euch ein bisschen quälen. Ich sehe, dass
auch der Kollege Heinz Schmitt anwesend ist. Wir wol-
Darüber haben wir hier diskutiert. Wir haben allerdings len, dass diese Stiftung auf ein solides Fundament ge-
gesagt – das erwarten wir ganz klar –, dass wir aus die- stellt wird, sodass sie eine gute Arbeit leisten kann. An-
sem Kreditprogramm keinerlei Risiken in irgendeiner gesichts der zunehmenden internationalen Konfliktherde
Form für den Bundeshaushalt hinnehmen werden und ist das ein wichtiger Punkt. Liebe Frau Ministerin
wollen. Schavan, natürlich werden wir unsere Wunschzettel zu
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ilse den Gesprächen, die heute Abend beginnen, mitbringen.
Aigner [CDU/CSU]) Ich sehe gerade, dass der Kollege Riesenhuber, den
Die Kalkulation der KfW ist in der Tat so, dass sie mit ich sehr schätze, in Ihrer Nähe steht. Das ist ein Übeltä-
dem Zinssatz, den sie erheben will, die Kredite und auch ter; denn er hat uns mit seinen Verträgen dazu gebracht,
die Ausfälle finanzieren wird. dass wir viele Milliarden Euro in die Abwicklung der
Kernkraft, die wir gar nicht haben wollten, stecken müs-
(Otto Fricke [FDP]: Wunschkredit!) sen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2159
Jörg Tauss
(A) (Heiterkeit bei der SPD) Ich gebe zu, dass es Irrtümer auf allen Seiten gab. (C)
Auch Sozialdemokraten haben sich hinsichtlich der
Das belastet den Haushalt. Wie ich sehe, will der Kol-
Kernkraft geirrt. Aber wenn wir wissen, dass wir heute
lege Riesenhuber eine Frage stellen. Das ist gut; denn
Hunderte von Millionen, ja Milliarden allein für den Ab-
das ist ein Teil meines Manuskriptes. Bitte fragen Sie.
bruch des Schrotts aufwenden müssen, dann sollten wir
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) uns vielleicht darauf verständigen – im Koalitionsvertrag
haben wir das erfreulicherweise gemacht –, dass wir den
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ausstieg wollen. Einige rennen jedoch noch immer
Herr Kollege Riesenhuber, bitte sehr. durchs Land und fordern die Weiterführung dieses Un-
fugs, der zu teuer ist.
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Hochverehrter Herr Kollege Tauss, sind Sie bereit, DIE GRÜNEN)
zur Kenntnis zu nehmen, dass die vorzüglichen Verträge Aus diesem Grunde, lieber Kollege Riesenhuber, waren
zu den Reaktoren, beispielsweise zu dem in Karlsruhe, die Verträge damals sicherlich einer Entwicklung ge-
von meinen Vorgängern abgeschlossen worden sind? schuldet, die heute so nicht mehr akzeptiert werden
(Ulla Burchardt [SPD]: Auf diese Frage hat er würde. Aber das Geld fehlt uns nichtsdestotrotz.
gewartet, Herr Riesenhuber!) Neben diesen Investitionen für den Ausstieg haben
Das waren unter anderem Herr Bülow und Herr Hauff wir auch ein paar erfreuliche Investitionen. Beispiels-
– beide verdiente Minister der SPD –, deren großartige weise werden wir in PETRA III, X-FEL, FAIR und
Leistungen bis in die heutige Zeit, wie man deutlich HALO investieren. Ich weiß jetzt nicht, ob alle hier im
sieht, fortwirken. Saal etwas mit diesen Fachbegriffen anfangen können.
Aber weil Frau Kollegin Aigner hinsichtlich der For-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schungsmöglichkeiten im Weltraum vorhin so eupho-
risch war, sage ich nur: Es gibt auch tolle Forschungs-
Jörg Tauss (SPD): möglichkeiten auf der Erde.
So ganz können Sie sich nicht herausmogeln. Ich PETRA III ist eine Lichtquelle der Superlative, die
weiß von einem Vertrag, der Ihre Unterschrift trägt. Was im Moment bei der Helmholtz-Gemeinschaft DESY in
die Wiederaufbereitungsanlagen betrifft, hieß es damals: Hamburg errichtet wird. Mit dieser Synchrotronstrah-
1 Milliarde von der öffentlichen Hand – damals noch D- lungsquelle werden wir – ganz nebenbei kostet das
Mark –, 1 Milliarde von der Kernenergiewirtschaft. Zwi- 225 Millionen Euro – die weltweit brillanteste Quelle für
(B) schenzeitlich zahlt die öffentliche Hand nicht 1 Milliarde (D)
harte Röntgenstrahlen haben. Dies eröffnet Möglichkei-
DM, sondern 1 Milliarde Euro, während der Beitrag der ten der Betrachtung, die heute noch außerhalb des
privaten Hand sich nicht verändert hat. menschlichen Ermessens liegen.
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Blabla! Gleiches gilt für X-FEL. X-FEL ist ein Röntgenlicht-
Blabla!) Freie-Elektronen-Laser, der es ermöglicht, chemische
– Von wegen Blabla, lieber Kollege. Dass das für Sie ein Reaktionen künftig zu filmen. Wir werden also zukünf-
unangenehmes Thema ist, kann ich verstehen. Es wider- tig nicht mehr nur auf ein Papier schauen, um uns eine
legt nämlich maßgeblich die Legende, die gerade auch in chemische Formel anzusehen, sondern wir können che-
Baden-Württemberg gestreut wird, Atomkraft sei eine mische Reaktionen filmen. Wir können atomare Details
billige Energie. von Molekülen entschlüsseln und dreidimensionale Auf-
nahmen aus dem Nanokosmos machen. Das sind also
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des faszinierende und spannende Dinge.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das alles gilt auch für FAIR, das Beschleunigerzen-
Lieber Kollege Hagemann, wie viele Millionen vom Etat trum, in dem es um Antiprotonen und Ionen geht. In
brauchen allein wir für den Abbruch? Darmstadt werden wir diese Wissenschaftsszene zusam-
(Klaus Hagemann [SPD]: 320 Millionen!) menführen, sodass dieses Zentrum ein weiterer Leucht-
turm des Wissenschaftsstandortes Deutschland wird.
– 320 Millionen Euro! Wenn wir schon in die Höhe gehen – wenn auch nicht
ganz so hoch wie die Rakete von Frau Aigner –, ist auch
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das Höhenforschungsflugzeug HALO zur wissenschaft-
Herr Kollege, Sie sind bei der Beantwortung der lichen Untersuchung der Erdatmosphäre und der Um-
Frage. weltveränderungen zu nennen, an dem sich – auch das
ist eine Erfolgsgeschichte – das BMBF mit 47,5 Millio-
nen Euro beteiligt. Das sind die spannenden Maßnah-
Jörg Tauss (SPD):
men, die wir aus unserem Forschungshaushalt finanzie-
Ich wollte dem Kollegen Riesenhuber lediglich kor-
ren.
rekte Zahlen präsentieren. Allein 320 Millionen Euro
brauchen wir aus öffentlichen Forschungsmitteln, um Die Hochschulen sind bereits von unserem Kollegen
den Abbruch zu finanzieren. Was könnten wir mit diesen Hagemann angesprochen worden. Erlauben Sie mir dazu
320 Millionen Euro alles machen! noch eine Bemerkung. Es hilft uns nicht, in die
2160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jörg Tauss
(A) schönsten Sphären im Weltraum zu fliegen und über die auch auf Sie komme ich gleich noch in Ruhe zu spre- (C)
tollsten Geräte zu verfügen, wenn wir keinen hinrei- chen.
chend ausgebildeten Nachwuchs haben, für den es auch
entsprechende Stellen gibt. (Heiterkeit bei der SPD)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Denn wenn in der Haushaltspolitik von Generationenge-
der CDU/CSU) rechtigkeit die Rede ist, dann denkt man gewöhnlich an
die Staatsverschuldung und ihren Abbau. Das ist ein sehr
Darum müssen wir uns kümmern. Deshalb begrüße ich wichtiges Ziel. Aber es kommt auch darauf an, wofür
Ihre Äußerung sehr, Frau Kollegin Aigner, dass Kapazi- Geld ausgegeben wird. Beim Bildungs- und For-
täten Teil des Paktes sein könnten. Ich fand diesen Vor- schungsetat könnte man meinen, dass hierbei Geld für
schlag, den auch wir bereits eingebracht haben, bemer- Zukunftsaufgaben, für die junge Generation und für Ar-
kenswert. beitsplätze eingesetzt wird.
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang über die (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es ja auch!)
Verpflichtungen der Länder – ich denke, sogar über das
Jahr 2013 hinaus – reden. Ich kann nicht ganz einsehen, Aber auch in diesem Etat schlummern gewaltige Las-
dass wir bis 2013 die Mittel zweckgebunden zuweisen, ten der Vergangenheit, die ich in meiner fünfminütigen
danach aber im Zuge der Föderalismusreform nicht Redezeit kurz zur Sprache bringen möchte. Ich spreche
mehr. Ich sage dies auch deshalb, lieber Kollege Kauder, von der Titelgruppe 35, bei der es um den Rückbau von
weil Sie immer meinen, die Reform sei das Gelbe vom kerntechnischen Versuchsanlagen geht. Abgesehen
Ei. Wir können uns vielmehr vorstellen – das hat auch von den enormen Risiken, die diese Anlagen, der damit
heute Morgen ein Gespräch mit Vertretern von Wissen- verbundene Müll und auch ihr Rückbau für Umwelt und
schaftsorganisationen bestätigt –, die Mittel für den Gesundheit bedeuten, gehen damit auch beträchtliche
Hochschulpakt kapazitätsbezogen auszugeben, damit Kosten einher. Allein in diesem Jahr wurden 220 Millio-
wir in diesem Bereich über das Jahr 2013 hinaus zu einer nen Euro für den Rückbau von kerntechnischen Ver-
vernünftigen Aufteilung der Mittel kommen, die den suchsanlagen eingestellt.
Hochschulen auch weiterhin zur Verfügung stehen müs-
sen, statt in andere Bereiche wie in den Straßenbau oder (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wollen Sie sie
die Beamtenpensionen zu fließen. Diese Bereiche sind nicht zurückbauen, Kollegin Lührmann?)
zwar ebenfalls wichtig, aber wir brauchen das Geld für Ich will das vor allem für die anwesenden Gäste in
die Hochschulen. Relation zu zwei anderen Beispielen bringen. Denn un-
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann ter 220 Millionen Euro kann sich der Normalbürger zu-
(B)
[SPD]) nächst einmal nichts vorstellen. Zum Vergleich: Im ge- (D)
samten Kapitel Information, Kommunikation und neue
Last but not least – ich sehe gerade, dass Sie mich an Technologien – eine Titelgruppe, in der wir Geld für die
meine Redezeit erinnern, liebe Frau Präsidentin – wird Erforschung von neuen Bereichen ausgeben, in denen
uns auch das BAföG in den nächsten Monaten und Jah- auch in Deutschland Arbeitsplätze entstehen können –
ren beschäftigen. Wir wollen nicht, dass das BAföG aus- geben wir 560 Millionen Euro aus. Das bedeutet: Die
gezehrt wird. Wir wollen – das haben wir auch kürzlich Ausgaben, die für den Abbau der strahlenden Ruinen
in der BAföG-Debatte deutlich gemacht – die Weiterent- notwendig sind, betragen etwa die Hälfte der Ausgaben
wicklung des BAföG. Wir wollen den Koalitionsvertrag für Zukunftstechnologien, in denen Arbeitsplätze entste-
einhalten und jungen Menschen, die sich aus finanziel- hen. Das halte ich für einen Skandal.
len Gründen kein Studium leisten können, mit dem
BAföG die Perspektive bieten, ihr Studium zu finanzie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ren. Ein weiteres Beispiel zum Vergleich: Die Regierung
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit. will mehr Geld für Forschung ausgeben. Das unterstüt-
zen wir als Grüne ausdrücklich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Uwe Barth [FDP]: Aber nur für die For-
schung, die ihr für richtig haltet!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber auch hier werden – dies zeigt ein genauer Blick auf
Nun hat die Kollegin Anna Lührmann, Fraktion des die Zahlen – 10 Prozent des Aufwuchses, den Frau
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. Schavan so stolz verkündet hat, für die gestiegenen Kos-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Kollegin ten aus dem Abbau der kerntechnischen Versuchsanla-
Lührmann, Sie haben nur fünf Minuten Rede- gen eingesetzt werden müssen. Auch das halte ich für ei-
zeit!) nen Skandal;
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– Ich halte mich auch gewöhnlich an die Redezeit. denn dadurch wird kein Arbeitsplatz, kein zukunftsfähi-
ges Produkt und keine neue Form der Energieerzeugung
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und geschaffen, die in Zeiten begrenzter Ressourcen drin-
Kollegen! Sehr geehrter Herr Professor Riesenhuber, gend notwendig sind. Hier wurde in der Vergangenheit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2161
Anna Lührmann
(A) klar auf Kosten der Zukunft gewirtschaftet und wir müs- ein Controllinginstrument vorhanden ist. Das heißt, der (C)
sen die Suppe jetzt auslöffeln. WAK wurde ein Blankoscheck ausgestellt. Das ist so, als
ob man einer Handwerksfirma, die ein Haus abreißen
Insgesamt wurden allein für den Rückbau kerntechni-
soll, eine Zusage über eine bestimmte Summe gäbe und
scher Versuchsanlagen 3 Milliarden Euro einkalkuliert.
sagte: Wenn das nicht ausreicht, dann geben wir euch
3 Milliarden Euro! Das muss man sich einmal auf der
noch mehr Geld; wie und in welchem Zeitraum ihr das
Zunge zergehen lassen. So hoch ist die Summe der Aus-
Haus abreißt und wofür ihr das Geld ausgebt, ist uns
gaben für den Abbau der kerntechnischen Anlagen, die
egal; macht das einfach irgendwie; hinterher bekommt
in der Vergangenheit getätigt worden sind, und der Aus-
ihr wieder Geld von uns.
gaben, die in Zukunft erwartet werden. Darin sind noch
nicht die Kosten für die Behebung von Umwelt- und Ge- (Willi Brase [SPD]: Das muss doch gemacht
sundheitsschäden, die in Zukunft vielleicht entstehen werden!)
werden, und erst recht nicht die Kosten für das noch
nicht gefundene Endlager enthalten. – Natürlich muss das Zeug weg, Herr Kollege. Aber das
muss so effizient wie möglich geschehen und nicht
Nun könnte man angesichts einer solchen Summe durch einen Blankoscheck, den man einem Unterneh-
meinen, dass der Rückbau so effizient und so günstig für men ausstellt.
den Steuerzahler wie möglich durchgeführt würde. Aber
Fehlanzeige! Als Beispiel nenne ich die schon von Herrn An diesem Beispiel wird noch einmal deutlich: Die
Tauss angeführte Wiederaufbereitungsanlage in Karls- Atomenergie ist nicht nur gefährlich, sondern ist auch
ruhe. 1991 wurde ein Vertrag geschlossen; diesen habe unter finanziellen Gesichtspunkten ein Fass ohne Boden.
ich dabei, Herr Riesenhuber. Damals waren Sie bekannt- Deshalb muss so schnell wie möglich ausgestiegen wer-
lich Minister für Forschung und Technologie. Es stimmt den.
zwar, dass die Vorgängerregierungen Ihnen diese Suppe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrockt haben, weil sie diese Anlagen zu Konditio- sowie bei Abgeordneten der SPD)
nen aufbauen ließen, die Sie hinterher nicht mehr ändern
konnten. Aber der Vertrag von 1991 enthält die Klausel, Frau Schavan, ich fordere Sie auf, dafür zu sorgen, dass
dass die Wirtschaft ab einer bestimmten Höhe der Ab- die Altlasten so schnell und so kostengünstig wie mög-
bruchkosten aus der Finanzierung herauskommt. Ein lich beseitigt werden; denn wir brauchen dieses Geld
ziemlich dickes Ding! Das heißt, der Steuerzahler trägt dringend für die Forschung und andere zukunftsträchtige
diese Kosten allein. Bereiche – zum Beispiel für erneuerbare Energien –, in
denen Arbeitsplätze für junge Menschen entstehen kön-
(Jörg Tauss [SPD]: Die Mehrkosten!) nen.
(B) (D)
– Stimmt, die Mehrheit der Kosten, vor allen Dingen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kosten, die in Zukunft entstehen werden und die man sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
noch nicht beziffern kann. [SPD])
(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Sie meinen
bestimmt die Mehrkosten! – Gegenruf des Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Abg. Jörg Tauss [SPD]: Die Mehrheit und die Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus-Peter
Mehrkosten!) Willsch, CDU/CSU-Fraktion.
Der Bundesrechnungshof hat kritisiert, dass hier eine (Beifall bei der CDU/CSU)
Gesellschaft mit der eigenen Abwicklung beauftragt
wurde. Das kann doch gar nicht funktionieren; denn Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
keine Gesellschaft der Welt hat ein Interesse daran, sich
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
selber abzuwickeln.
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lührmann, noch so jung und schon so rückwärts ge-
wandt in der Diskussion! Sie haben sich nur mit der Ver-
Es wurde nicht auf eine solide Finanzierungsgrundlage gangenheit beschäftigt, als ob das bei Ihnen anders ge-
und darauf geachtet, dass das Ganze möglichst günstig laufen wäre. Ich finde, das ist bedauerlich. Wir sollten
für den Steuerzahler abgewickelt wird. Das hat der Bun- uns im Wesentlichen mit der Zukunftsfähigkeit des Lan-
desrechnungshof ebenfalls kritisiert. Darauf ist schon im des auseinander setzen.
Februar dieses Jahres im Haushaltsausschuss eingegan-
gen worden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Was macht nun die große Koalition? Sie macht dort
munter weiter, wo die Vorgängerregierung aufgehört hat. Der Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 steht unter
Sie haben den Ausstieg der Wirtschaft nach einer geleis- der Überschrift „Wachstumsorientierte Haushaltspoli-
teten kleinen Ablasszahlung besiegelt. Damit ist die tik: Sanieren, Reformieren, Investieren“. Wenn wir uns
Wirtschaft draußen, was die zukünftigen Kosten angeht. diesen Dreiklang der großen Koalition vor Augen füh-
Die Koalitionsfraktionen haben außerdem eine halbe ren, dann stellen wir fest, dass wir es vor allem mit zwei
Milliarde Euro freigegeben – das muss man sich einmal Bereichen dieser drei Schlagworte zu tun haben. Zum
vorstellen –, ohne dass ein Kostenvoranschlag bzw. ein Thema Reformieren: Herr Tauss, Sie sollten noch ein-
Kostenkonzept vorliegt oder ein Sanktionierungs- bzw. mal die Koalitionsvereinbarung und alles andere lesen,
2162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Klaus-Peter Willsch
(A) was schon festgelegt ist. Natürlich brauchen wir eine Fö- ausschussberatungen noch im Einzelnen durchgehen (C)
deralismusreform, die die Zuständigkeiten von Bund werden. Dabei werden wir sicherlich auch noch Mittel
und Ländern klärt; denn vieles von dem, was bei der und Wege finden, die überzogene GMA auf ein erträgli-
Vorgängerregierung völlig falsch gelaufen ist, ist der ches Maß zurückzuführen.
Tatsache geschuldet, dass die Kompetenzen nicht klar
waren Ich freue mich gleichwohl darüber, dass wir endlich
einmal einen Haushalt haben, in dem das BAföG mit re-
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Protest! alistischen Ansätzen kalkuliert ist und in dem wir auch
Was erzählt da der Willsch? – Steffen neue Wege gehen, zum Beispiel indem wir versuchen,
Kampeter [CDU/CSU]: Das ist alles die Erb- mit den Mitteln, die wir zur Verfügung stellen, ein Pro-
last von Herrn Tauss!) zent eines Jahrgangs als Hochbegabte zu fördern. Dass
und dass man sich in unproduktiven Rechtsstreitigkeiten wir darüber auch diejenigen, die eine zweite Chance
– von Juniorprofessur über Studiengebühren bis hin zur brauchen, nicht vergessen, ist ein wichtiger Punkt. Da-
Auseinandersetzung zwischen Bundestag und Bundesrat rum kann man sich aber vor allen Dingen in den Ländern
über die Verteilung der Exzellenzmittel – ergangen hat. kümmern. Frau Hinz, weil Sie gejammert haben über all
Das ist alles eine Folge dessen, dass die Zuständigkeiten das, was nicht geschieht: Als wir in Hessen die Verant-
unklar waren. Deshalb tun wir als große Koalition gut wortung übernommen und Sie endlich abgelöst haben,
daran, im Zuge der Föderalismusreform die Zuständig- haben wir gesagt, dass keiner mehr in die Grundschule
keiten im Bereich der Bildung – auch bei den Hochschu- kommt, der kein Deutsch kann; denn das war die größte
len – im Wesentlichen wieder auf die Ländern zu kon- Gruppe derer, die in der Schullaufbahn gescheitert sind.
zentrieren; denn da gehört das hin, weil es da ordentlich (Beifall bei der CDU/CSU – Priska Hinz [Her-
erledigt wird. born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 30 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter zent mehr Sonderschüler, seitdem Sie die
Rossmann [SPD]: Das sehen wir anders!) Regierung übernommen haben! Das ist das Er-
gebnis!)
Deshalb verstehe ich auch nicht den Irrglauben an die
Kompetenz der höheren Ebene, der bei einigen immer Jetzt werden diejenigen, die kein Wort Deutsch können,
noch fest in den Köpfen ist. gefördert und bekommen Deutschkurse im Grundschul-
alter. Wenn sie in sechs oder sieben Jahren aus dem
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir sind für Schulsystem herauskommen, wird ihre Leistung entspre-
Subsidiarität!) chend positiv sein. Dann haben wir einen wesentlichen
Beitrag geleistet.
(B) Gerade wenn wir uns die PISA-Ergebnisse anschauen, (D)
haben wir klar festzustellen, dass es Länder gibt, die dort Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
gut mitspielen, weil sie über Jahrzehnte eine ordentliche heute in der „Welt“ auf der Titelseite eine erfreuliche
Bildungspolitik gemacht haben. Wenn wir uns am guten Überschrift gelesen – vielleicht haben das andere auch
Beispiel orientieren – das ist es ja, was wir wollen: dass gelesen. Ich will das nicht sofort der Bilanz der neuen
sich die guten Beispiele im Wettbewerb, auch im födera- Regierung zuschlagen, aber vielleicht hängen die Dinge
len Wettbewerb, durchsetzen –, dann sind wir auf dem doch zusammen. Jedenfalls ist in der „Welt“ heute auf
richtigen Weg. Ich bin überzeugt, dass wir das so mit- der ersten Seite aus einer britischen Studie zu lesen:
einander vereinbaren.
Deutsche haben die leistungsfähigsten Gehirne
(Beifall bei der CDU/CSU)
Europas.
Wir haben uns – das liegt in der Natur der Konstella-
tion, die wir jetzt eingegangen sind – dafür entschieden, Nun wollen wir den Menschen die Möglichkeit ge-
das Vier-Milliarden-Programm weiter durchzuführen, ben, diese Gehirne im Rahmen einer sinnvollen Innova-
gleichwohl die Art und Weise, wie es durchgeführt wird, tions- und Forschungspolitik zu entwickeln, damit wir
für uns nicht hundertprozentig sinnhaft ist. Die Länder auch in Zukunft – da spreche ich auch die jungen Men-
und die Kommunen haben sich aber auf das Geld einge- schen, die auf der Tribüne sitzen, ganz gezielt an – ent-
richtet und sollen es jetzt auch bekommen. Wir hätten sprechende Arbeitsplätze und Möglichkeiten in unserem
das anders gemacht, wenn wir in der Verantwortung ge- Land haben.
wesen wären, aber es gehört zur Kontinuität von Regie- All das, was wir heute nicht säen, werden zukünftige
rungshandeln, dass wir dieses Programm jetzt durchfi- Generationen nicht ernten können.
nanzieren und weiter zu den Aussagen stehen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Säen und
(Beifall bei der CDU/CSU)
ernten, ein schönes Bild!)
Der wichtigste Rohstoff, den wir haben, ist das Wis-
sen, also das, was die Menschen in Deutschland zwi- Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen großen Hieb
schen den Ohren haben. Deshalb ist es so wichtig, dass machen und die 6 Milliarden Euro für Forschung und
der Staat gerade in der Grundlagenforschung seine Entwicklung in diesem Lande einstellen.
Aufgaben erledigt. Dementsprechend finden sich we- Danke für die Aufmerksamkeit.
sentliche und wichtige Initiativen im Regierungsentwurf
für den Einzelplan 30, die wir im Zuge der Haushalts- (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2163

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: niedrigen Einkommen mit Energie, ohne dass diese (C)
Zu diesem Geschäftsbereich liegen keine weiteren Haushalte immer mehr von ihrem verfügbaren Einkom-
Wortmeldungen vor. men nur für eine warme Wohnung oder eine Tankfüllung
ausgeben müssen? Wie versorgen wir eine vom Export
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir könnten abhängige Volkswirtschaft wie die deutsche mit sicherer
noch, Frau Präsidentin!) und preiswerter Energie, sodass die Produkte, die in die-
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des ser Volkswirtschaft entstehen, weltweit verkauft werden
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und können und dadurch Arbeitsplätze bei uns im Lande
Reaktorsicherheit, Einzelplan 16. bleiben. Das ist eine der riesigen Herausforderungen der
Energiepolitik, wie wir wissen.
Ich erteile das Wort für die Bundesregierung Herrn
Bundesminister Sigmar Gabriel. Die zweite Herausforderung ist der Klimaschutz, der
unmittelbar mit der Frage, wie wir Energie produzieren,
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der wird ein zusammenhängt. Wie schaffen wir es, dass der voran-
gewichtiges Wort mitreden!) schreitende Klimawandel in Grenzen gehalten wird und
wir ihn womöglich sogar rückgängig machen können?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Das ist eine Menschheitsaufgabe, die wir weder in
schutz und Reaktorsicherheit: Deutschland alleine noch in Europa werden lösen kön-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier nen, die wir aber in Europa und in Deutschland ener-
macht sich jemand über Gewichtsklassen lustig. Ich gisch angehen müssen, wenn wir wollen, dass uns an-
habe einmal einem früheren Bundeskanzler gesagt: Lie- dere nachfolgen. Wir müssen mit gutem Beispiel
ber dick als doof. Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht vorangehen. Die Klimaschutzpolitik hatte schon bei der
noch zunehmen. Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode einen
ganz hohen Stellenwert gehabt, aber auch schon seiner-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich spiele in zeit unter der damaligen Umweltministerin Angela
einer ähnlichen Liga, glaube ich!) Merkel, der heutigen Bundeskanzlerin. Der Klimaschutz
– Sie sind einen Meter größer als ich, wenn ich das rich- ist ein wirklich großes Menschheitsthema. Es muss die
tig sehe. Frage beantwortet werden, wie eigentlich unsere eigenen
Kinder in den Alpen noch wandern gehen sollen, wenn
Meine Damen und Herren, ich bitte vorab um Ent- die Permafrostgebiete zurückgehen und Dörfer verschüt-
schuldigung für meine angeschlagene Stimme. Ich habe tet werden. Wie sollen unsere Kinder und Enkelkinder
ein Bonbon im Mund, weil ich etwas vergrippt bin, und an der Nordsee aufwachsen, wenn dort die Sturmfluten
(B) hoffe, dass Sie das entschuldigen. Das ist keine Unhöf- immer höher werden? Letztens hatten wir in Hamburg (D)
lichkeit. einen Tornado. Ich weiß nicht, ob es so etwas schon ein-
(Jörg Tauss [SPD]: Gute Besserung!) mal gab und ob das etwas mit dem Klimawandel zu tun
hat.
– Vielen Dank.
(Zuruf von der SPD: 25 im Jahr! – Weitere Zu-
Der Umwelthaushalt, der vorzustellen ist, beinhaltet rufe von der CDU/CSU)
– das wissen Sie – aufgrund des Koalitionsvertrages eine
Vielzahl von Aufgaben und Themen, die wir in den – Ich kann Sie leider nicht verstehen, würde Ihnen aber
kommenden Jahren gemeinsam in der Koalition und hier gerne zuhören. Wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann
im Parlament abarbeiten wollen. machen Sie es.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Frage ist,
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto
ob das etwas mit den Mehrheitsverhältnissen
Solms)
in Hamburg zu tun hat!)
Dazu zählen Themen wie die Errichtung einer Stiftung
– Das wird wohl eher etwas mit den Nachwirkungen der
Nationales Naturerbe, wir haben Probleme im Bereich
Ereignisse, in die der Justizsenator verwickelt war, zu
der Wasserrahmenrichtlinie aufzuarbeiten, wir müssen
tun gehabt haben.
uns mehr im Bereich der Biodiversitätsstrategie engagie-
ren, wir haben Aufgaben bei der Gentechnik, im ÖPNV Im Ernst: Wir wissen, dass Hurrikans in Regionen
und in der Abfallwirtschaft. All das ist Gegenstand der entstehen, in denen es nie welche gab. Wir wissen, dass
Umweltpolitik. Ich gestatte mir trotzdem, dass ich auf Menschen in Afrika und Asien, die nichts für den Klima-
die Aufzählung dessen, was wir im Koalitionsvertrag wandel können, darunter zu leiden haben und dass nicht
verabredet haben und was sich auch im Haushalt wieder nur bei uns, sondern in vielen Teilen der Welt große Sor-
findet, verzichte und versuche, den Haushalt anhand von gen bezüglich der Frage existieren, ob man diesen Kli-
zwei Punkten darzustellen, die für mich und für uns in mawandel beherrschbar gestalten kann und ob die Erd-
der Koalition die größten Herausforderungen der kom- erwärmung mehr als 2 Grad betragen wird und damit die
menden Jahre darstellen. Folgen unbeherrschbar sind. Schon heute gibt es mehr
Flüchtlinge wegen Wassermangels aufgrund des Klima-
Die erste große Herausforderung, über die wir in die-
wandels als wegen Krieg und Bürgerkrieg.
sen Tagen besonders reden, ist die Frage, auf welcher
Grundlage wir für sichere und kostengünstige Energie Das sind zwei gigantische Herausforderungen. Wie
sorgen. Wie versorgen wir Haushalte mit mittleren und vereinbaren wir Energiesicherheit und Klimaschutz? In
2164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Bundesminister Sigmar Gabriel


(A) den letzten Jahren und Jahrzehnten hatten wir die typi- Es geht auch nicht darum, in die Blindheit der 60er-Jahre (C)
sche Strategie, dass wir aus meiner Sicht immer defensiv zurückzufallen. Genauso wenig geht es darum, der For-
reagiert haben. Wir kennen solche Bedrohungen schon schungseuphorie „Alles ist möglich“ zu verfallen.
seit längerer Zeit. Wir wissen, dass etwas auf uns zu-
Vielmehr müssen wir begreifen, dass man bei der Be-
kommt. Wir haben immer sehr defensiv reagiert, wir ha-
wältigung menschheitsbedrohender Entwicklungen auf
ben über Grenzen des Wachstums geredet und wir haben
die Qualifikation von Menschen setzen muss, auf ihre
Konsumverzicht gepredigt. Wir haben den Menschen
Fähigkeit, Lösungen zu erarbeiten, auf ihre Fähigkeit zur
vor allen Dingen große Sorgen vor ihrer Zukunft ge-
Innovation und zur Integration. Ich glaube, eine Kern-
macht. Wir haben ihnen beispielsweise gesagt: Konsu-
kompetenz hat unser Land, Deutschland, in den letzten
miert nicht so viel! Verhindert weiteres Wachstum! Seid
150, vielleicht auch 200 Jahren sehr stark und sehr groß
vorsichtiger! Seid skeptischer, was Technik angeht!
bei der Annahme von Herausforderungen gemacht, ab-
Ich glaube, dass man angesichts der Entwicklung, mit seits von Kriegen und Diktaturen: die Fähigkeit zur In-
der wir es zu tun haben, sagen muss: Diese defensive novation, zum Erfinden neuer Produkte und neuer Ver-
Strategie ist gescheitert. Wir können weder den Brasilia- fahren, aber auch zur Integration neuer Produkte und
nern noch den Indern noch den Chinesen sagen: Stoppt neuer Verfahren in die vorhandene Produktions- und
eure Wachstumserwartungen! Zahlreiche Menschen ha- Dienstleistungsstruktur. Damit meine ich übrigens auch
ben bis heute keine Schuhe und keinen Zugang zur Ener- den weltweiten Verkauf dieser Produkte.
gie. Sie werden sich von uns nicht vorschreiben lassen, In der Umweltpolitik geht es im Kern um die Wieder-
ihr soziales, ihr wirtschaftliches, ihr kulturelles Wachs- entdeckung der Idee der Fähigkeit zur Innovation und
tum zu bremsen und nicht so viel Energie zu verbrau- Integration. Es kommt darauf an, die Fähigkeit, techni-
chen, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. schen Fortschritt herbeizuführen, anzuwenden, um die
mit dramatischen Entwicklungen in den von mir geschil-
Wir werden das übrigens auch unserer eigenen Bür- derten Bereichen – Energieversorgung, Klimaschutz –
gern nicht wirklich nahe bringen können. Viele von uns verbundenen Probleme zu lösen.
leben nicht im Konsumparadies, sondern haben mittlere
und niedrige Einkommen und sind auf Wachstum ange- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
wiesen, um beschäftigt zu werden. Außerdem müssen CDU/CSU)
sie Energie verbrauchen, zum Beispiel um zur Arbeit zu Das stellt übrigens den Menschen in den Mittelpunkt.
kommen. Das Predigen von Grenzen des Wachstums Es geht nicht nur darum, seine Probleme zu lösen, son-
und von Konsumverzicht allein ist in der Vergangenheit dern auch um seine Kompetenz, seine Qualifikation,
keine Strategie gewesen, die dazu geführt hat, dass wir seine Fähigkeit zur Mitarbeit, zur Mitbestimmung, zur
(B) die Herausforderungen haben bewältigen können. (D)
politischen Aktion, seine Fähigkeit, sich ausbilden zu
Die eigentliche Frage ist: Wie sieht eine offensive lassen, Forschung zu betreiben. Ich verweise auf Inge-
Strategie aus, die nicht ausschließlich darauf setzt, den nieure, Wissenschaftler, Facharbeiter, Manager.
Menschen zu sagen: Kauft nicht so viel! Fahrt nicht so (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Ingenieurinnen!)
viel Auto! Produziert nicht so viel! Verbraucht nicht so
viel Energie! Haltet euch in eurer Entwicklung zurück! – –„Ingenieurinnen“ hat jemand zugerufen. Natürlich! Es
Mit einer anderen, offensiven Strategie sollte man viel- gibt sowieso mehr kluge Studentinnen als Studenten,
mehr versuchen, die mit Energieknappheit und Klima- habe ich gelesen. Das muss uns Männer ein bisschen be-
wandel verbundenen Herausforderungen zu bewältigen, unruhigen. Wir müssen uns mehr anstrengen. Das zeigt
indem man klar macht: Wir werden Energieverbrauch aber auch, dass es notwendig ist – wir haben vorhin kurz
und Wachstum entkoppeln müssen. Wir müssen Wohl- über Ganztagsschulen geredet –, mehr dafür zu tun, dass
stand, soziales, wirtschaftliches, kulturelles Wachstum Frauen nach Schule und Studium ins Berufsleben eintre-
von der Zerstörung des Klimas entkoppeln. ten und dort bleiben.
Es geht also um die Frage: Wie setzen wir auf Qualifi-
Ich glaube, dass es wirklich eine Idee gibt, die diese kation, auf Forschung, auf Entwicklung? Ich glaube,
offensive Strategie beinhaltet. Im Umweltsektor, in der dort liegt Deutschlands Chance, dort kann es sich ein-
Wirtschaftspolitik, in der Forschungspolitik müssen wir bringen. Wir sehen auch, dass wir damit Erfolge haben.
sie gemeinsam aufgreifen: Im Kern geht es um die Wie- Wir sehen, dass in Freiburg in der Grundlagenforschung
derentdeckung der Idee des technischen Fortschritts. des Fraunhofer-Instituts in der Fotovoltaik mit den Her-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der stellern kooperiert wird. Wir sehen, dass in Thalheim in
CDU/CSU) der Fotovoltaik in Sachsen-Anhalt schon mehr als
1 000 Arbeitsplätze entstanden sind und noch über 2 000
Ziel ist, die Chancen zu nutzen und zugleich die Heraus- entstehen werden. Wir sehen, dass es in einer struktur-
forderungen anzunehmen. Hier vorne sitzt ein frivoler schwachen Region, in Ostfriesland, inzwischen mehr als
Zwischenrufer, der glaubt, das, worüber wir hier reden, 5 000 Arbeitsplätze rund um die Windenergie gibt, und
sei ganz lustig. Herr Kollege, es geht nicht darum, in die zwar nicht nur im Bau solcher Anlagen, sondern auch in
Blindheit des Fortschrittsglaubens der 70er-Jahre zu- der Forschung und in dem, was darüber hinaus entstehen
rückzufallen. kann. Wir sehen, dass bei Choren in Freiberg oder auch
in Mecklenburg-Vorpommern neue Kraftstoffe entwi-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Will keiner!) ckelt werden, und zwar auf industrieller Basis. Das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2165
Bundesminister Sigmar Gabriel
(A) heißt: weg vom Öl, weniger Schadstoffausstoß und eine Wir müssen die Energieeinsparung voranbringen. Wir (C)
gigantische Perspektive für Arbeitsplätze. wollen der Standort werden, wo zur Produktion einer
Einheit Bruttoinlandsprodukt am wenigsten Energie ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
braucht wird. Wir wollen im Bereich neuer Kraftstoffe,
der CDU/CSU und des Abg. Thilo Hoppe
vor allem derjenigen der zweiten Generation, vorankom-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
men. Wir wollen synthetische Kraftstoffe herstellen. Das
Der Haushalt des Umweltministeriums spiegelt dieses bedeutet industrielle Arbeitsplätze und Jobs in der Land-
Setzen auf Innovationsfähigkeit, auf Integrationsfähig- wirtschaft. All das setzt auf dieses Thema „Innovation
keit, auf die Wiederentdeckung der Idee des technischen und Integration“.
Fortschritts wider. Wir haben etwas geschafft, das von
Im Bereich der Energieeffizienz wollen wir eine
uns nicht erwartet worden ist, auf das wir aber durchaus
Strategie verfolgen, die am Ende Megawattstunden und
stolz sind. Wir haben den Haushalt für Forschung und
nicht immer nur Menschen arbeitslos macht. Das ist eine
Entwicklung im Bereich erneuerbarer Energien prak-
Modernisierungsstrategie für die Volkswirtschaft, bei der
tisch verdoppelt. Wir werden hier am Ende der Legisla-
wir international wettbewerbsfähig sein können, bei der
turperiode bei knapp unter 100 Millionen Euro an Mit-
wir weniger Energie verbrauchen und trotzdem mehr Ar-
teln für Forschung und Entwicklung liegen. Das ist mehr
beitsplätze schaffen. Ich glaube, dass der Koalitionsver-
als eine Verdopplung gegenüber der letzten Legislatur-
trag der Regierungspolitik hier einen guten Schwung
periode – ein gewaltiger Erfolg –,
gibt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir setzen auf Innovation
was übrigens auch insofern gut ist, als wir den zweiten
und Forschung, auf Qualifizierung und Bildung. Ich sage
wichtigen Teil im Bereich erneuerbarer Wärmetechnolo-
offen, weil das ein Punkt ist, der in der Koalition immer
gien, das Marktanreizprogramm, stabil bei 180 Millio-
wieder zu Debatten führt: Wir setzen auf erneuerbare
nen Euro halten; es gibt hier keine Kürzung. Dieses
Energien, auf Energieeffizienz und auf neue Technolo-
Marktanreizprogramm muss zudem nicht mehr, wie in
gien bei Kohle und Gas. Wir wollen nicht auf eine Alter-
der Vergangenheit, den Titel für Forschung und Ent-
native setzen, die wir für gefährlich halten. Dem, der uns
wicklung nutzen – das war bisher sozusagen gegenseitig
heute die Klimaprobleme vorhält und sagt: „Setzt doch
deckungsfähig –, weil bei Forschung und Entwicklung
auf Kernenergie; die emittiert kein CO2“, muss ich ent-
ab diesem Jahr und in den Folgejahren genug Geld für
gegenhalten, dass ich nicht vor die Wahl gestellt werden
den Bereich der erneuerbaren Energien vorhanden ist.
möchte, das Leben der Menschen entweder durch CO2-
Von daher sind die Verdoppelung des F-und-E-Etats für
(B) Emissionen oder durch Radioaktivität zu riskieren. (D)
die erneuerbaren Energien und die Kontinuität bei der
Finanzausstattung im Bereich des Marktanreizpro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gramms zwei große Erfolge. Hier geht es um den schla- der CDU/CSU)
fenden Riesen der erneuerbaren Wärmetechnologien;
Sie wissen, dass in dem Koalitionsvertrag das Ziel ent- Ich glaube, dass das die Wahl zwischen Pest und Cholera
halten ist, auf diesem Gebiet in den kommenden Jahren wäre. Aber wir wollen gesund werden und nicht an einer
deutlich voranzukommen – zwei große Erfolge. dieser beiden Krankheiten leiden.

Daneben sind Haushaltsmittel für Klimaschutzpolitik Es stimmt aber auch – ich wiederhole das –, dass
im Ressort des Kollegen Tiefensee veranschlagt: Vier- beide Koalitionsparteien, egal wie sie zur Kernenergie
mal 1,4 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesanie- stehen, die Endlagerfragen lösen müssen. Wir haben uns
rungsprogramm. Viermal 1,4 Milliarden! Ich erinnere das gemeinsam vorgenommen und werden das sehr
mich daran, dass wir darüber in den Koalitionsverhand- sachgerecht tun. Ich glaube, dass wir auch in diesem Be-
lungen zum Umweltbereich verhandelt haben. Sozusa- reich auf einem guten Wege sind.
gen das Erste, was CDU/CSU und SPD miteinander ver- Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld mit meiner
abredet hatten, war diese gewaltige Steigerung. Ich Stimme und für Ihre Aufmerksamkeit.
erinnere mich an Äußerungen von den Oppositionspar-
teien dazu; da hat man nicht geglaubt, dass wir auch nur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
die Hälfte dessen hinbekommen. Es ist wirklich ein rie-
siges Gewinnerprogramm. Wir senken den Energiever- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
brauch der Haushalte und damit auch der einzelnen Ver- Als nächster Redner hat der Kollege Michael Kauch
braucher. Wir senken den CO2-Ausstoß. Wir senken vor von der FDP-Fraktion das Wort.
allem die Arbeitslosigkeit, weil hier Aufträge entstehen,
die an die kleinen Handwerksbetriebe gehen, durch die (Beifall bei der FDP)
10 000, 20 000, 30 000 Jobs gesichert werden.
Michael Kauch (FDP):
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Sie wissen, dass wir gemeinsam mit Frau Schavan an Gabriel, Sie haben am Schluss dann doch noch ein paar
der Hightechstrategie arbeiten, weil wir natürlich auch in Aussagen zum Haushalt gemacht; den größten Teil Ihrer
anderen Bereichen, bei Kohle und Gas, neue Technolo- Redezeit haben Sie darauf verwendet, die umweltpoliti-
gien brauchen. Wir müssen zu mehr Effizienz kommen. sche Situation im Allgemeinen in Deutschland und in
2166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Michael Kauch
(A) der Welt zu erklären, und haben relativ wenig dazu ge- sind, auch versteigern. Aber die Versteigerungserlöse (C)
sagt, was die Bundesregierung eigentlich zu tun gedenkt. dürfen dann eben nicht zum Stopfen von Haushaltslö-
Hier hätten wir mehr von Ihnen erwartet. chern genutzt werden, sondern müssen beispielsweise
dazu dienen, die Stromsteuer abzusenken und die priva-
(Beifall bei der FDP)
ten Haushalte deutlich zu entlasten.
Für die Liberalen stehen zwei Themen auf der
(Beifall bei der FDP)
Agenda: die Sicherstellung der nuklearen Entsorgung
und neue Offensiven zum Klimaschutz. Dabei geht es Eine Nettoentlastung der Verbraucher ist möglich; denn
uns vor allem um neue Initiativen für Energieeffizienz, die Versteigerung der Zertifikate erhöht den Strompreis
um alternative Antriebe und um eine Weiterentwicklung nicht. Der Preis dieser verschenkten Zertifikate ist näm-
des Emissionshandels. Zugleich erwarten wir aber, dass lich von den großen Energieversorgern längst in die
endlich auch die Themen der Umweltpolitik vernünftig Strompreise einkalkuliert. Die Frage, die wir uns stellen
angegangen werden, die in den letzten Jahren eher Stief- müssen, lautet: Landet der Profit des Emissionshandels
kinder waren. Dazu gehört beispielsweise die Liberali- bei den Verbrauchern oder ausschließlich bei einigen
sierung der Entsorgungswirtschaft. Wir brauchen Wett- wenigen Konzernen? Das ist eine Gerechtigkeitsfrage,
bewerb im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die die der sich gerade die Sozialdemokratie stellen muss.
Gebühren zu zahlen haben.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP)
Meine Damen und Herren, der Emissionshandel
Wir brauchen auch eine längst überfällige Schwer- macht den Klimaschutz so kostengünstig wie möglich.
punktsetzung im Bereich des Lärmschutzes. Die Mo- Deshalb wollen wir den Luftverkehr und, soweit mit ak-
dernisierung des Fluglärmgesetzes reicht hier nicht aus. zeptablem Aufwand möglich, den gesamten Verkehrs-
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist für viele An- und Gebäudesektor integrieren. Wir brauchen ein umfas-
wohner schlichtweg eine Enttäuschung; denn er schafft sendes Energiekonzept für den Gebäudebereich mit ei-
Anwohner erster, zweiter und dritter Klasse beim Lärm- ner stärkeren Nutzung der erneuerbaren Energien im
schutz, nur weil die Bundesregierung nicht bereit ist, bei Wärmebereich. Das Gebäudesanierungsprogramm ist
ihren Militärflughäfen das Gleiche an Schallschutz zu ein Anfang, aber eben nur ein Anfang. Wir brauchen
leisten, was sie den Verkehrsflughäfen auferlegt. Das ist mehr privates Kapital, wenn wir das Potenzial, das in der
nicht fair, meine Damen und Herren. energetischen Sanierung des Gebäudebestandes steckt,
tatsächlich heben wollen.
(Beifall bei der FDP – Ingbert Liebing [CDU/
CSU]: Kommen Sie denn auch noch einmal (Beifall bei der FDP)
(B) zum Haushalt?) (D)
In diesem Zusammenhang bitte ich den Umweltmi-
Die Enttäuschung geht beim Schienenlärm weiter. nister, einmal in den Jahresbericht der von ihm geförder-
Auch hier gibt es nichts Neues von der großen Koalition. ten Kampagne „Klima sucht Schutz“ zu schauen. Dieser
Die FDP will dagegen mit ihren Anträgen, die wir ein- enthält einen konkreten Vorschlag. Bei der jetzigen Pro-
bringen werden, neue Akzente setzen. Wir wollen Mittel grammgestaltung haben die Banken keinen Anreiz, für
aus dem Umweltetat in das Lärmsanierungsprogramm dieses Programm zu werben, weil sie daran nichts ver-
des Verkehrsministers stecken und dieses Programm für dienen. Wenn wir wollen, dass die Banken ihre Kredite
die technische Nachrüstung von Güterwaggons öffnen; für Gebäudesanierung bei den Häuslebauern und bei den
denn Lärmschutz an der Quelle ist der Schlüssel zum Hausbesitzern entsprechend vermarkten, dann müssen
Lärmschutz an der Schiene. wir von der Zinsverbilligung und den kleinen Durchlauf-
margen wegkommen und hinkommen zu Zuschüssen für
(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
die getätigten Investitionen. Das Programm sollte also
Von wo abziehen?)
entsprechend umgestaltet werden.
– Das werden Sie im Ausschuss sehen.
(Beifall bei der FDP)
Meine Damen und Herren, so langsam werden die
Wir brauchen alternative Kraftstoffe und Antriebs-
Ungereimtheiten innerhalb der Bundesregierung auch
technologien, um uns langfristig vom Öl zu lösen. Bio-
hinsichtlich des Klimaschutzes offenbar, konkret bei der
kraftstoffe allein können allerdings schon wegen der
Verabschiedung des Allokationsplans für den CO2-
Nutzungskonkurrenzen mit der Stromerzeugung oder
Emissionshandel ab 2008. Während Umweltminister
wegen der Verwendung des Biogases nicht die Lösung
Gabriel laut einer Agenturmeldung die Versteigerung der
sein. Wasserstofftechnologie zu fördern, ist deshalb eine
Emissionsrechte negativ kommentiert, hat der Finanzmi-
der Schwerpunktaufgaben, die die Forschung im Um-
nister im Haushaltsausschuss gerade dies in Aussicht ge-
weltbereich leisten muss.
stellt. Was gilt denn nun? Und wie, wenn nicht durch die
Versteigerung der Zertifikate, will der Umweltminister Zu den Biokraftstoffen muss ich noch eine Anmer-
die so genannten Windfall-Profits der vier großen Ener- kung machen. Was die Bundesregierung hier betreibt, ist
gieversorger abschöpfen? doch schädlich; denn sie handelt nach dem Motto „Rein
in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“. Zunächst
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
einmal haben vor zwei Jahren alle Fraktionen gemein-
Wir Liberale haben große Sympathie dafür, dass wir sam eine Steuerbefreiung beschlossen. Jetzt wollen Sie
die 10 Prozent der Zertifikate, die EU-rechtlich zulässig sie abschaffen. Als Alternative führen Sie eine Beimi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2167
Michael Kauch
(A) schungspflicht ein, die nichts anderes ist als erstens ein Es ist richtig, dass man Anstrengungen unternimmt, um (C)
planwirtschaftliches Element und zweitens eine Mineral- möglichst vielen Menschen den Zugang zu Wasser zu er-
ölsteuererhöhung durch die Hintertür, und das zum Wohl möglichen. Hier ist die Hilfe zur Selbsthilfe die beste
des Finanzministers auf Kosten der Verbraucherinnen Entwicklungshilfe.
und Verbraucher. Auch das muss an dieser Stelle einmal
Zweites Beispiel. Der Verlust an biologischer Viel-
deutlich gesagt werden.
falt ist nach wie vor dramatisch. Derzeit tagt in Brasilien
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef eine Vertragsstaatenkonferenz mit dem Ziel der Weltge-
Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) meinschaft, den Verlust an biologischer Vielfalt bis zum
Jahr 2010 erheblich zu reduzieren. Viele Tier- und Pflan-
Herr Minister Gabriel, Sie haben kaum neue Akzente zenarten sind akut gefährdet. Mit dem Verlust der Tier-
mit diesem Haushalt gesetzt. Die FDP wird deshalb in und Pflanzenarten gehen deren genetische und physiolo-
den nächsten Wochen in den Haushaltsberatungen ent- gischen Baupläne verloren, die für die Medizinfor-
sprechende Anträge einbringen, die aufzeigen, wie wir schung, aber auch für die Naturstoffchemie von großem
klug kürzen und umschichten wollen, damit mehr Um- Wert sind. Wichtige Chancen für die Weiterentwicklung
weltschutz als bisher durch diesen Haushalt möglich von Forschung und Technologie verschwinden damit.
wird. Wir erwarten von der großen Koalition, dass sie Ich hoffe deshalb, dass diese Konferenz ein Erfolg wird.
unsere Anträge nicht einfach beiseite wischt, weil sie
von uns kommen, sondern dass sie sie zumindest ernst- Für uns in Deutschland hat dieses Thema eine ganz
haft prüft. praktische Bedeutung; denn auch wir haben beim Schutz
der biologischen Vielfalt einen Nachholbedarf. Somit ist
Vielen Dank. die Schaffung eines nationalen Naturerbes unser wich-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tiger Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt. Die
der CDU/CSU) Errichtung des nationalen Naturerbes ist für uns eine
Herzenssache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Drittes Beispiel: Die weltweite Nachfrage nach
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von Energie und Rohstoffen steigt weiter. Die Internatio-
der CDU/CSU-Fraktion. nale Energieagentur rechnet damit, dass die weltweite
Energienachfrage in den nächsten 25 Jahren um mehr als
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
50 Prozent steigen wird. Drei Viertel dieses Anstiegs
neten der SPD)
werden in den Entwicklungsländern erfolgen. Mehr als
60 Prozent dieses weltweiten Energiebedarfs soll durch
(B) Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU): Öl und Gas gedeckt werden. Das wird einen erheblichen (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Einfluss auf den Klimawandel haben. China und auch
Kollegen! Wohlstand hat mehrere Dimensionen und kei- zunehmend Indien haben einen schier unstillbaren Hun-
neswegs nur eine materielle. Die Verfügbarkeit von Roh- ger nach Energie. Die Krise um russisches Gas Anfang
stoffen und Ressourcen, die Sicherung unserer natürli- dieses Jahres hat uns sehr deutlich vor Augen geführt,
chen Lebensgrundlagen sowie eine intakte Umwelt sind wie fragil die Situation auch in Deutschland ist, einem
für uns Grundvoraussetzungen für den Wohlstand im Land, das rund 60 Prozent des Energieverbrauchs durch
Lande. Umweltschutz ist damit auch Zukunftssicherung. Energieimporte abdeckt. Diese Krise hat uns deutlich
gemacht, dass es ein „Weiter so“ auch in Deutschland
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
nicht geben kann.
Klaus Töpfer hat einmal treffend formuliert, das
Für Deutschland und Europa rückt damit eine konsis-
Raumschiff Erde sei in Atemnot. Der weiterhin massive
tente Energiestrategie immer mehr in den Mittelpunkt.
Anstieg der Weltbevölkerung und die wirtschaftliche
Es ist deshalb wichtig, dass nächste Woche unter der
Dynamik in den Industriestaaten, aber auch in den Ent-
Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Ener-
wicklungs- und Schwellenländern stellen uns vor große
giegipfel mit dem Ziel stattfinden wird, eine tragfähige
Herausforderungen.
nationale Energiestrategie zu erarbeiten.
Die Erde als vernetztes Natursystem hat einen erheb-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lichen Erschöpfungszustand erreicht. Der „Spiegel“ die-
neten der SPD)
ser Woche titelt sehr bewusst: „Der neue Kalte Krieg –
Kampf um die Rohstoffe“. Der Handlungsbedarf und die Bedeutung der Energie-
politik sind erkannt, zumal in dieser Bundesregierung.
Erstes Beispiel: Mangel an Süßwasser. In verschie-
Häufig mangelt es noch an konkreten Umsetzungen, was
denen Regionen der Welt ist dieser Mangel bereits er-
ich keineswegs nur auf die Politik reduziere.
schreckende Wirklichkeit. Das 4. Welt-Wasser-Forum
der Vereinten Nationen, das in der vergangenen Woche Erstens. Energie muss intelligenter und effizienter ge-
getagt hat, hat uns noch einmal die dramatischen Zahlen nutzt und der Verbrauch reduziert werden. Zweitens. Die
vor Augen führt: 1 Milliarde Menschen auf der Welt ha- Strategie „Weg vom Öl“ muss dazu führen, dass mehr
ben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 2,6 Milliarden erneuerbare Energien zur Strom-, Wärme- und Kraft-
Menschen sind von sanitären Einrichtungen abgeschnit- stoffgewinnung eingesetzt werden. Drittens. Die Ener-
ten. Damit ist die Versorgung mit sauberem Wasser eine gieforschung muss gestärkt werden, um innovative Pro-
ökologische, ökonomische und soziale Frage zugleich. dukte auf den Markt zu bringen.
2168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Katherina Reiche (Potsdam)


(A) Wir werden uns also daran machen, die Energiefor- Vor allem müssen wir sicherstellen, dass der Emissions- (C)
schung in den kommenden Jahren zukunftsfähig zu ge- handel Anreize zur Modernisierung und Effizienzsteige-
stalten. Hierfür hat sich die große Koalition einige ehr- rung schafft.
geizige Ziele gesetzt und bereits konkrete Maßnahmen
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, und zwar
ergriffen. Die Energieeffizienz soll bis zum Jahr 2020 im
die Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen, also
Vergleich zu 1990 verdoppelt werden. Wir wollen den Energiepflanzen. Im Prinzip sind es drei Dinge auf ein-
Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch mal, die diese Pflanzen können: Sie sind einheimische
bis zum Jahr 2020 auf mindestens 20 Prozent anheben. Energieträger, schaffen Wertschöpfung in diesem Land
Wir wollen eine Innovationsoffensive „Energie für und leisten einen Beitrag zur Verringerung der CO2-
Deutschland“ dazu nutzen, uns im Bereich der Energie- Emissionen, weil sie nach dem Kreislaufprinzip funktio-
technologien an der Stelle an die Weltspitze zu setzen, nieren. Es gibt aber noch Hemmnisse, die ihre Anwen-
wo wir noch nicht Weltspitze sind. Der Gebäudebestand dung ein Stück weit erschweren, zum Beispiel im Gen-
in Deutschland wird modernisiert. 1,4 Milliarden Euro technikrecht. Hier stehen die Ampeln leider noch im
werden dafür in die Hand genommen. Angesichts einer wahrsten Sinne des Wortes auf Rot.
angespannten Haushaltslage ein wirklicher Kraftakt!
(Ulrich Kelber [SPD]: Schöne Farbe!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir müssen vor allem in Forschung und Entwicklung
Auch die – zugegebenermaßen geringen – Steigerungen investieren; das ist richtig. Ohne eine konsequente För-
der Mittel im Umwelthaushalt um knapp 1 Prozent sind derung der Forschung im Bereich der Grünen und Wei-
ein wichtiges Zeichen. ßen Gentechnik wird es nicht machbar sein, diese Res-
source zu nutzen. Jede Äußerung, die einen Keil
Aber dass nicht nur im Umweltministerium, sondern zwischen Forschung und Anwendung treibt, ist kontra-
dass auch in anderen Ressorts massive Anstrengungen produktiv und hilft dem gesamten System nicht.
für Umweltschutz und Nachhaltigkeit unternommen
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber
werden, ist ein Beweis dafür, dass der Koalition insge-
[SPD]: Die Kritik kann der Bauernpräsident
samt der Umweltschutz ein Anliegen ist. nicht teilen!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich finde, wir brauchen eine grüne Welle für die nach-
neten der SPD) wachsenden Rohstoffe. Wir sollten das Ziel haben, uns
zur führenden Nation in der biobasierten Wirtschaft zu
Wir sollten uns in den kommenden Monaten ganz genau entwickeln. Andere Länder schlafen nicht. Schweden hat
(B) anschauen, welche Impulse durch das Gebäudesanie- hier massive Anstrengungen unternommen. Auch die (D)
rungsprogramm ausgelöst werden. Denn vielleicht ist USA – mag man es belächeln – haben schon sehr viel
dieses Programm zusammen mit dem Marktanreizpro- Geld in die Hand genommen, um ihre Abhängigkeit vom
gramm so erfolgreich, dass weitere, zusätzliche Instru- Öl zu reduzieren.
mente im Wärmebereich nicht notwendig sind. Wir soll-
ten uns zumindest die Zeit nehmen, diese Entwicklung (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Durch
zu beobachten. Kriege!)

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Deutschland gehört zu den führenden Ländern in der
Umweltpolitik. Das hohe Schutzniveau kommt nicht
Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein paar Worte zum nur der Umwelt und den Menschen zugute. Es ist zu-
Emissionshandel. Wir müssen bis zum 30. Juni den na- gleich Motor für qualitatives Wachstum und Beschäfti-
tionalen Allokationsplan melden. Die Ausstattung der gung. Basierend auf dem hohen Umweltschutzniveau,
deutschen Wirtschaft mit Emissionsberechtigungen wird das wir in Deutschland erreicht haben, müssen wir die
entscheidenden Einfluss auf unsere Wettbewerbsfähig- Umweltpolitik weiterentwickeln und modernisieren. Es
keit und damit auch auf Investitionen und weitere Ar- muss langfristige Leitlinien geben, auf die sich die Un-
beitsplätze haben. Dabei muss man berücksichtigen, ternehmen einstellen können und mit denen sie Pla-
dass die Situation in Deutschland nun einmal anders ist nungs- und Investitionssicherheit haben.
als in anderen europäischen Staaten. Ich glaube, es be- Wir waren in Deutschland schon einmal so weit. Die
darf noch vieler Gespräche mit der Europäischen Kom- frühere Bundesministerin Angela Merkel hat 1998 ein
mission. Schwerpunktprogramm vorgelegt, an dem es sich, wie
ich meine, zu orientieren lohnt. Wir brauchen eine Art
Wir müssen bei der Aufstellung des Allokationsplans Masterplan, in dem systematisch quantifizierbare Ziele,
darauf achten, dass es nicht zu Wettbewerbsverzerrun- Zeitvorgaben und Maßnahmen formuliert werden. Wir
gen kommt und dass Wachstum möglich ist. Deshalb müssen uns abgewöhnen, aktuellen Gefahren hinterher-
wollen wir schon noch einmal über das Thema Verstei- zulaufen. In diesem Sinne ist Umweltschutz ein Mara-
gerung reden, auch darüber, ob eine Versteigerung wirt- thon. Ob Sie sich zum Ironman eignen, Herr Minister,
schaftlich sinnvoll und notwendig ist. werden wir sehen. Auf jeden Fall hilft es der Fitness.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Gerd Bollmann [SPD]: Wenn Sie mitlaufen!
wie der Abg. Ulrike Flach [FDP] – Ulrike Sie haben heute dafür aber die falschen
Flach [FDP]: Nicht nur reden, Frau Reiche!) Schuhe an!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2169
Katherina Reiche (Potsdam)
(A) Deutsche Unternehmen sind in den Bereichen Um- Mehr Sicherheit kann man in unseren Augen nur (C)
welttechnik, Wasserreinigung und Abfallentsorgung schaffen, indem man den Bezug von Rohstoffen und
weltweit führend. 1,5 Millionen Menschen sind hier be- Materialien aus anderen Teilen der Erde drastisch verrin-
schäftigt. Allein im Bereich der erneuerbaren Energien gert. Als Beispiel nenne ich den Kongo. Dort lagern die
bestehen mittlerweile 170 000 Arbeitsplätze. weltweit bedeutendsten Vorkommen an Coltan, aus dem
das begehrte Metall Tantal gewonnen wird. Tantal ist ein
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- strategisch wichtiger Rohstoff für die Herstellung von
NEN]: Das ist wahr! Aber Sie schmücken sich Handys und Computern.
mit fremden Federn!)
Coltan ist nun neben Diamanten einer der Rohstoffe,
Dem deutschen Ingenieur ist bekanntlich nichts zu
mit denen die Warlords im Kongo ihre Kriege finanzie-
„schwör“. Deshalb wollen wir daran arbeiten, dass diese
ren und derentwegen sie Kriege führen. Die unstillbare
innovative Zunft sich in Deutschland weiterhin entfalten
Nachfrage nach Rohstoffen für Mikroelektronik – alle
und vernünftige Produkte entwickeln kann.
paar Wochen wird das für unbrauchbar erklärt, was ges-
Meine Damen und Herren, ich habe zu Anfang mei- tern noch up to date war – dürfte sicher zu den dramati-
ner Rede gesagt, dass Wohlstand mehrere Dimensionen schen Verhältnissen im Kongo beitragen.
hat, nicht nur eine materielle. Deshalb lohnt sich jedes
Engagement auf diesem wichtigen Feld. Wir werden die Bei Erdöl und Erdgas liegt der Sicherheitsaspekt noch
Regierung bei ihren Handlungen unterstützen. eindeutiger auf der Hand. Schon heute werden viele
Auseinandersetzungen um diese Rohstoffe mit militäri-
Vielen Dank. schen Mitteln geführt. Die Kriege im Mittleren Osten
oder die innerstaatlichen Konflikte in Nigeria und im
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Tschad sind Beispiele dafür. In diesem Sinne ist jede
neten der SPD) Energiepolitik „Weg vom Öl“ eine sicherheitspolitische
Investition. Leider werden auch hierzulande eher frag-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: würdige Multimilliardeninvestitionen, etwa in Eurofigh-
Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter ter oder in das umstrittene Luftabwehrsystem MEADS,
von der Fraktion Die Linke. mit dem Argument der nationalen Sicherheit durchge-
setzt. Eine konsequente Politik, die den Einsatz fossiler
(Beifall bei der LINKEN) Rohstoffe drastisch reduziert, ist nicht zu erkennen.
Die Mittel im Haushalt, die beispielsweise für die
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
(B) energetische Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt (D)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! werden, reichen angesichts des Energieeinsparpotenzials
Wie wir alle wissen, ist der Umwelthaushalt kein Inves- in diesem Bereich längst nicht aus. Die Mittel für die
titionshaushalt wie etwa der Verkehrshaushalt. Der Um- Titel zur Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet
weltminister bewegt keine Milliarden; die Finanzierung der erneuerbaren Energien im Umwelthaushalt sollen
von Umweltschutzausgaben ist im Wesentlichen Auf- zwar erhöht werden, im Vergleich zu den Kohlesubven-
gabe der Länder. Entsprechend klein ist das Budget des tionen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro und den Ausga-
Einzelplans 16. Gleichwohl ist der Bundeshaushalt ins- ben für die nukleare Energie- und Sicherheitsforschung
gesamt von erheblicher Bedeutung dafür, ob und wie in Höhe von 150 Millionen Euro, die zum Beispiel nach
weit sich Deutschland in Richtung einer ökologisch und Garching oder zur Internationalen Atomenergiebehörde
sozial nachhaltigen Entwicklung bewegt, sei es im schon wandern, sind die Ausgaben von insgesamt 43 Millionen
erwähnten Verkehrshaushalt, im Forschungs- und Wirt- Euro kein Ruhmesblatt im Hinblick auf eine ökologische
schaftsetat oder beim Budget zur Förderung von Ener- Energiewende.
gieeffizienz und erneuerbaren Energien im Umwelthaus-
halt selbst. Unter dem Strich ist die Bundesrepublik noch Wenn Herr Steinbrück nun auch noch beim zarten
weit von einer umweltverträglichen Entwicklung ent- Pflänzchen Biokraftstoffe zulangen will, indem er
fernt. Das gilt insbesondere für die gigantischen Res- selbst reine Pflanzenöle besteuert, kann das an dieser
sourcen, die unsere Volkswirtschaft täglich verschlingt. Stelle schon fast als Boykott zukunftsfähiger Politik gel-
„Der Spiegel“ hat zufällig in dieser Woche mit diesem ten.
Thema aufgemacht, „Die Zeit“ in der letzten Woche.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Ich sage Ihnen: Dieses Jahrhundert wird – muss – das Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Jahrhundert der Ressourcen- und Energieeffizienz NEN] – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eva,
sein. Schon aus sicherheitspolitischen Gründen ist es Eva, Eva!)
zwingend notwendig, Deutschland hinsichtlich der Roh-
stoffbereitstellung aus Abhängigkeiten zu befreien, aller- – Lieber Steffen, wir meinen: Gerade dezentral herge-
dings nicht mit einem Bundeswehreinsatz im rohstoffrei- stellten Biokraftstoffen, die in Reinform in den Tank
chen Kongo, wie es Herrn Stoiber und anderen kommen, muss zum Durchbruch verholfen werden. Die
vorschwebt. Stoiber hat das unsinnige Abenteuer zuletzt geplante Beimischungspflicht nutzt deren Herstellern
tatsächlich mit der Notwendigkeit der Sicherung von naturgemäß überhaupt nichts. Die neue Steuer wird sie
Rohstoffen für die deutsche Volkswirtschaft begründet. wirtschaftlich erdrosseln. Bitte überlegen Sie sich das
Da war er also einmal ehrlich. noch einmal!
2170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Eva Bulling-Schröter
(A) Die Strategie der Bundesregierung in Sachen Bio- Aber was ist mit dem Tun, Herr Minister? Was heißt (C)
treibstoffe wird vor allem die großen Mineralölkonzerne es zum Beispiel, wenn Sie sagen, dass Sie die rot-grüne
freuen; denn sie können sich problemlos mit der Beimi- Energiepolitik fortführen wollen, und den Atomausstieg
schungsquote arrangieren. Nebenbei wird das Ganze bisher verteidigen? Man muss nicht an den in der
noch als Leistung für den Klimaschutz gemäß der „Financial Times“ angeführten Deal zwischen Ihnen und
Selbstverpflichtung der Automobilindustrie angerech- der Union zu Kohle und Atomkraft glauben. Wenn man
net. Ein guter Deal! aber sieht, dass Ihre Partei nicht weg will von der Kohle
und die Union nicht weg will von der Atomkraft, dann
Auch mit dem geplanten Börsengang der Bahn oder
kann man nicht daran glauben, dass daraus unter dem
mit der Verwirklichung des nunmehr bayerischen
Strich eine zukunftsfähige Energiepolitik entstehen und
Wunschtraums, des Baus einer Transrapidstrecke, wird
eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung erfolgen kann
eine zukunftsfähige Verkehrspolitik nicht befördert, son-
und dass eine Politik gemacht wird, die auf ökonomisch
dern blockiert. Die Folge wird sein: weniger Geld und
schädliche Subventionen verzichtet.
Chancen für den öffentlichen und schienengebundenen
Verkehr in der Fläche, dafür mehr Verkehr auf der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Straße. Mehr Gerechtigkeit heißt für uns: Ölverbrauch Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erzählen Sie
vermindern, um dadurch dem Klimawandel und Kon- uns nichts von Haushaltskonsolidierung! Hier
flikten vorzubeugen, sowie die Rohstoffe auf einem Ni- ist keine Märchenstunde!)
veau halten, damit sie sich auch ärmere Länder leisten
können. – Doch, ich erzähle Ihnen etwas vom Haushalt. – Dass
Sie dazu in der Lage sind, zeigen Sie an anderer Stelle,
(Beifall bei der LINKEN) nämlich bei dem erfreulichen Abschied von der Zersie-
Der Energiegipfel in der nächsten Woche wird nicht delungsprämie, sprich: Eigenheimzulage.
zu einer Energiewende führen. Die Rahmenbedingungen Zukunftsfähige Energiepolitik muss aber heißen:
für die Kohleverstromung sollen verbessert werden. Ich weg vom Öl, weg von der Kohle, weg von Emissionen
finde diese Forderung reichlich unverschämt. Der Koh- ausstoßenden Kohlekraftwerken, weg von der Atom-
leverstromung geht es blendend. Das sieht man schon al- kraft – hin zu erneuerbaren Energien, hin zur Effizienz
lein an den astronomischen Gewinnen der Konzerne. und hin zur Einspartechnologie. Das alles gehört zusam-
Das ist kein Wunder. Bei der Zuteilung und Übertragung men und gelingt nur zusammen.
von Emissionszertifikaten wurden RWE und Co. groß-
zügig bedacht. Die verschenkten Zertifikate haben sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
trotzdem in die Tarife eingespeist. Von den direkten Sub- Iris Gleicke [SPD]: Das tun wir doch! Wir re-
(B) ventionen wollen wir gar nicht erst reden. den nicht nur, wir tun es!) (D)
Wir sind gespannt, inwieweit die Bundesregierung Beim Gebäudesanierungsprogramm setzt sich die Ko-
hierbei Rückgrat beweist und ob sie – das wäre noch alition ehrgeizige Ziele. Ich will jetzt überhaupt nicht
besser – die Bevorteilung der Kohleverstromung, die darauf herumreiten, dass der grüne Teil von Rot-Grün
durch Rot-Grün im NAP I festgezurrt wurde, endlich be- immer für eine Aufstockung der Mittel war und sich die
endet. SPD immer dagegen verwahrt hat. Wenn die im Haus-
halt veranschlagten Mittel in Höhe von 1,4 Milliar-
(Beifall bei der LINKEN) den Euro tatsächlich zeitnah zur Verfügung stehen und
eingesetzt werden, dann freut sich darüber niemand
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mehr als jeder einzelne Grüne.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Das ist aber auch der einzige Punkt, an dem Sie die
Strategie „Weg vom Öl“ offensiv verfolgen. Nehmen wir
die Biotreibstoffe und die Steuerfrage. Rot-Grün hatte
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit der Steuerbefreiung für Biotreibstoffe bis Ende 2009
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die richtigen Rahmenbedingungen für innovative Ent-
Herr Minister Gabriel, zunächst einmal meinen herzli- wicklungen geschaffen. Die jetzt vom Kabinett be-
chen Glückwunsch! Sie haben im Haushalt für den Be- schlossene Besteuerung der Biokraftstoffe in Höhe von
reich Umwelt von Ihrem Koalitionspartner mehr Zuge- 10 bis 15 Cent pro Liter macht nicht nur einem wachsen-
ständnisse bekommen als wir in den letzten Jahren von den heimischen Wirtschaftsbereich den Garaus, sondern
unserem. ist vor allem eine völlig falsche Richtungsentscheidung,
Die entscheidende Frage ist aber nicht, wie viel man sie führt nämlich hin zum Öl. Was Sie mit der Strategie
bekommt, sondern was man damit macht. „Weg vom Öl“ und mit dem Gebäudesanierungspro-
gramm aufbauen, reißen Sie mit der zu hohen Besteue-
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) rung der Biokraftstoffe wieder ein.
Welchen Wert hat die Umwelt also im Haushalt und wel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
chen Stellenwert hat sie im politischen Tun? Am Stellen- sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
wert der Umweltpolitik haben wir, gemessen an Ihren LINKE])
Worten, selten etwas auszusetzen. Das klingt meistens
richtig gut. Das heißt, beim Thema Ökologie klingt das Herr Minister, Ihr Engagement beim Klimaschutz
nach Fortführung grüner Umweltpolitik. – Sie haben in Montreal unbestritten eine gute Figur ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2171
Sylvia Kotting-Uhl
(A) macht – wirkt auf den zweiten Blick nur zur Hälfte Deshalb erwarten wir, Herr Minister, Ihren aktiven (C)
glaubwürdig. Es wird jetzt darauf ankommen, wie der Widerstand. Umweltpolitik lebt nicht vom Wort allein,
zweite Nationale Allokationsplan, den die Bundes- auch nicht von einem leicht aufgestockten Haushalt und
regierung bis zum Sommer vorgelegt haben muss, ausse- auch nicht von der bekundeten Absicht, eine erfolgrei-
hen wird, ob sich anspruchsvolle Klimaschutzziele und che Linie irgendwie weiterzufahren. Umweltpolitik
nicht Aufweichungswünsche der Industrie, wie wir das braucht Innovationen, Ideen, Leidenschaft und einen Mi-
an anderen Beispielen schon erfahren mussten, durchset- nister, für den sie ganz oben steht. Wenn das alles erfüllt
zen werden. ist, dann können wir von einer gelungenen Fortführung
der bisherigen Umweltpolitik sprechen.
Lassen Sie mich nur an Ihre erste Amtshandlung,
Stichwort REACH, erinnern. Da wurden die Gesund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
heits- und Umweltinteressen der Allgemeinheit und zu-
künftige Marktchancen den kurzsichtigen Lobbyinteres- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
sen der chemischen Industrie geopfert. Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Hinz von der
SPD-Fraktion.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch
Quatsch! – Gegenruf des Abg. Hans-Josef Fell (Beifall bei der SPD)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich war
das so!) Petra Hinz (Essen) (SPD):
Ökologische Rhetorik, Herr Minister und Kollegen von Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
der Union, ist nicht verkehrt. Wir pflegen sie selbst gern. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Gabriel,
Aber sie muss von entsprechendem Tun begleitet wer- eigentlich wollte ich Ihnen jetzt über Staatssekretär
den. Vieles Ihrer Rhetorik ist bisher Ankündigung ge- Müller Genesungswünsche ausrichten lassen, aber es ist
blieben oder von nicht entsprechendem Tun überholt umso schöner, dass Sie selber da sind.
worden. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Von Schön-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Trittin war heit wollen wir da nicht reden!)
der größte Ankündigungsminister in der deut- Von hier aus auch von uns alles Gute und gute Gene-
schen Nachkriegsgeschichte!) sung!
Zu dem Beispiel Feinstaub. Am 22. Februar 2006 hat (Beifall bei der SPD)
die Bundesregierung zwar endlich die Emissionskenn-
Sie haben uns, dem Parlament, heute in erster Lesung
(B) zeichnung von Fahrzeugen beschlossen, aber das im Ko- den Regierungsentwurf für den Haushalt des BMU vor- (D)
alitionsvertrag angekündigte Förderprogramm zur Nach-
gelegt. Das heißt, das ist auch der erste Entwurf der gro-
rüstung von Altfahrzeugen vermissen wir immer noch,
ßen Koalition. Sie haben hier sehr zutreffend dargestellt,
und das, obwohl die Grenzwertüberschreitung an vielen
welche Herausforderungen es gibt, wo Kontinuität
Orten die zulässige Anzahl von Tagen bereits erreicht
herrscht, dass Sie mit Kraft und Dynamik in die Beratun-
hat.
gen gehen, welche Schwerpunkte Sie da, wo es sich
Zu dem Beispiel Naturschutz. Einerseits kündigen lohnt, fortführen bzw. welche Veränderungen Sie da, wo
Sie an, den grünen Ansatz im Naturschutz fortschreiben es notwendig ist, vornehmen wollen.
zu wollen, andererseits wollen Sie – das stand erst ges- Mit dem Haushalt 2006 und dem Finanzplan bis 2009
tern wieder im „Focus“ – der so genannten Grünen Gen- wird die große Koalition dafür sorgen, dass Deutschland
technik den Weg bereiten, und das, obwohl vorliegende ab 2007 die Maastrichtdefizitgrenze deutlich und dauer-
Studien zu der Auswirkung der Agrogentechnik auf die haft unterschreiten wird.
Artenvielfalt zu einem verheerenden Ergebnis kommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Herr Minister, unter einem wirksamen Naturschutz der CDU/CSU)
verstehen wir – im Gegensatz zu Ihnen – mehr als nur
die Ausweisung von Schutzgebieten. Wem der Natur- Dies haben wir heute mehrfach in der Debatte über die
schutz wirklich ein Anliegen ist, der macht sich nicht Einzelpläne gehört. Ich bin der Überzeugung, dass wir
zum Anwalt der Agrogentechnikindustrie mit ihren gemeinsam im Rahmen des Einzelplans 16 einen Beitrag
kurzsichtigen Profitinteressen. dazu leisten werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der BMU-Haushalt ist nur eine Teilmenge der Um-
weltschutzausgaben des Bundes insgesamt. Der Um-
Wird das so weitergehen oder werden Sie, Herr weltschutz ist eine Querschnittsaufgabe. Das Gesamt-
Minister, wenigstens bei der Föderalismusreform Ih- volumen des BMU-Haushaltes beträgt im Jahr 2006
rem angekündigten Unmut über die Vorschläge zum rund 774,8 Millionen Euro. Diese 774,8 Millionen Euro
Umweltrecht Taten folgen lassen? Umweltpolitische sind nur ein Teil dieser Querschnittsaufgabe. Das Ge-
Kleinstaaterei und ein womöglicher Wettlauf der Länder samtvolumen des Umweltschutzes im Bundeshaushalt
um die niedrigsten Umweltstandards wären der GAU für beträgt 4,052 Milliarden Euro. Zu Recht hat der Minister
eine funktionierende Umweltpolitik. Vernachlässigte auf die kontinuierliche Zusammenarbeit aller Ressorts
Umweltpolitik kommt uns nicht nur haushalterisch teuer hingewiesen. Nur gemeinsam werden wir beim Umwelt-
zu stehen. schutz erfolgreich sein können.
2172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Petra Hinz (Essen)


(A) Die nominale Steigerung, die in diesem Jahr rund In diesem Zusammenhang mache ich darauf aufmerk- (C)
0,7 Prozentpunkte beträgt, lässt sich mit 4,498 Millionen sam, dass ich jeden Zukunftsscheck unterschreiben
Euro im Stammhaushalt und mit 1,236 Millionen Euro werde, gerade wenn es um den Umweltschutz geht. Aber
im Endlagerbereich erklären. Umweltschutz ist, wie ich ich vergesse nicht die Hypothek der Altlasten bzw. – an-
bereits ausgeführt habe, eine Querschnittsaufgabe, von ders ausgedrückt – die Rückstellungen. Ein Beispiel:
der viele Ministerien betroffen sind. Wenn wir Neubaumaßnahmen beschließen, dann müssen
wir die Finanzkraft für Sanierungs- und Nachrüs-
Da ich es genauso sehe, wie der Minister gerade aus- tungsmaßnahmen bereitstellen. Daran müssen wir den-
geführt hat – dass alle Ressorts für den Umweltschutz ken. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Sanierungs-
verantwortlich sind –, möchte ich die einzelnen Positio- bzw. Nachrüstungsfragen werden auf den Sankt-
nen aufführen: Das Wirtschaftsministerium trägt mit Nimmerleins-Tag verschoben. Hier muss ein Umden-
399 Millionen Euro unter anderem zur Förderung der ra- kungsprozess stattfinden. An dieser Stelle spreche ich
tionalen und sparsamen Energienutzung bei. Das Bun- insbesondere die Fachpolitiker an, die sich mit Infra-
desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und strukturmaßnahmen beschäftigen. Ein anderes Vorha-
Entwicklung beteiligt sich mit 689 Millionen Euro. Das ben, das Ein-Endlager-Konzept, wird in den nächsten
möchte ich betonen; denn insbesondere im Bereich der vier Jahren, wenn wir unseren Koalitionsvertrag umset-
Entwicklungshilfe gilt es, eine nachhaltige Umweltpoli- zen, noch in Angriff genommen.
tik und wichtige Umweltprojekte zu fördern. Dafür ist
im Haushalt ein Betrag von 689 Millionen Euro veran- Nun komme ich zum Schluss. Ich sage ganz deutlich:
schlagt. Im Zuge der Haushaltsberatungen kommen alle Ein-
nahme- und Ausgabepositionen auf den Prüfstand. Un-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sere Haushaltspolitik wird konsequent sein. Wir werden
der CDU/CSU) aber keine Erbsenzählerei betreiben und auch nicht nach
dem Gießkannenprinzip verfahren. Alle Ausgaben ste-
Der Beitrag des Finanzministeriums zum Umweltschutz hen auf dem Prüfstand. Dennoch bleiben wir im Rahmen
ist mit einer Summe von 404 Millionen Euro im Rahmen der getroffenen Abkommen und Vereinbarungen auf
der Altlastensanierung zu finden. Hier geht es um die nationaler und internationaler Ebene ein verlässlicher
Altlastensanierung im Bereich des Braunkohlenbergbaus Partner. Wir werden Verträge nicht kündigen, sie aber
in den neuen Ländern. Auch das Ministerium für Bil- hinterfragen. Wir werden Optionsrechte und damit Opti-
dung und Forschung – dieser Bereich hat in der heutigen mierungsmöglichkeiten ausloten und nutzen. Wir wer-
Diskussion bereits breiten Raum eingenommen – be- den die Anregungen des Bundesrechnungshofs aufgrei-
schäftigt sich vor allem unter dem Gesichtspunkt der fen und sie prüfen.
(B) Forschung intensiv mit dem Umweltschutz. Hier reden Zur Wahrheit, Klarheit und Ehrlichkeit dieses Haus- (D)
wir über 689 Millionen Euro. Liebe Kolleginnen und
halts gehört, dass wir auch sehr intensiv über Haushalts-
Kollegen, beim Umweltschutz geht es also nicht ledig-
ausgabereste und ihre weitere Nutzung sowie über die
lich um 774 Millionen Euro, sondern um 4,052 Milliar-
gegenseitige Deckungsfähigkeit im Rahmen des Haus-
den Euro. Das sollten wir nicht klein reden.
haltsgesetzes reden müssen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Daran wird aber auch deutlich, dass sich die Heraus- Dadurch können und werden Prioritäten verschoben.
forderungen für eine nachhaltige und innovative Um-
Das ist eine nachhaltige Finanz- und Haushaltspolitik
weltpolitik verändert haben. Wie wichtig der Ausbau der
und damit ermöglichen wir Planungen für die Zukunft
erneuerbaren Energien ist, muss ich für die Fachpoliti-
des Umweltschutzes. Anders gesagt: Das ist nachhaltige
ker nicht hervorheben. Wir sanieren und setzen gleich-
Generationengerechtigkeit.
zeitig Impulse für Wachstum und Beschäftigung. Ein
Herzstück des Einzelplans 16 ist der Titel „Erneuerbare Danke schön.
Energien – Forschung und Entwicklungsvorhaben“,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
kurz: das Marktanreizprogramm. Dieses Vorhaben wird
mit 180 Millionen Euro veranschlagt. Es ist eine Investi-
tion für und in die Zukunft und sichert rund 30 000 Ar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
beitsplätze. Allein die Zahl der Antragsteller im Jahr Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der
2005 zeigt, dass der Bedarf vorhanden ist. FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Die erneuerbaren Energien sind weltweit ein Zu-
kunftsmarkt. Die deutschen Ingenieurinnen und Inge-
nieure werden nachgefragt. Auf diesem Gebiet haben Ulrike Flach (FDP):
wir unser Potenzial und unser Know-how. Im Rahmen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
der Umsetzung unseres Koalitionsvertrages werden wir Einzelplan 16 war in den letzten Jahren eigentlich immer
genau hier einen Schwerpunkt setzen: bei Forschung und ein Schlachtfeld, bei dem man schon vorher genau
Entwicklung, bei Innovation und bei Integration. wusste, dass es dort eine sehr starke Konstellation
Schwarz-Gelb auf der einen und Rot-Grün auf der ande-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren Seite gab. Wir alle erinnern uns noch gut an die
der CDU/CSU) Schlachten zwischen Herrn Clement und Herrn Trittin.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2173
Ulrike Flach
(A) Man hätte jetzt eigentlich erwarten können, dass die- Lieber Herr Gabriel, Sie sind Bundesumweltminister (C)
ser Haushalt angesichts einer neuen großen Konstella- einer Regierung, die nach wie vor von tiefen ideologi-
tion mit viel CDU und CSU in Ihren Reihen eine völlig schen Gegensätzen geprägt ist. Wir haben das in den
andere Gestalt angenommen hätte. Man schaut in den letzten Tagen sehr deutlich verfolgen können. Herr Glos
Entwurf und stellt fest: Fehlanzeige. Das Prinzip der hat selbst noch aus Japan erklärt, dass er bezüglich der
grünen Gießkanne bleibt uns erhalten. Das gilt sowohl Energiepolitik nicht Ihrer Meinung ist. Insofern sind wir
bei der Forschungsförderung und bei den Investitionszu- gespannt, wie sich das weiterentwickeln wird. Sehr opti-
schüssen als auch bei den Zuschüssen für die Natur- mistisch sind wir nicht.
schutzverbände. Auf diesem Haushalt steht zwar Gabriel
Bis wir etwas Klareres erkennen können, haben wir
drauf, aber Trittin ist drin.
uns natürlich genau wie Frau Hinz intensiv mit dem
(Beifall bei der FDP) Haushalt befasst. Die FDP wird das tun, was Herr Kauch
eben angekündigt hat: Wir werden umschichten, wir
Liebe Kollegin Hinz, Sie haben eben sehr viel über
werden neue Schwerpunkte setzen und wir werden uns
den Haushalt gesprochen. Mit diesem Haushalt haben
von dem loslösen, über das wir uns inzwischen sieben
Sie offenbar an den Leitlinien des Kollegen Steinbrück
Jahre lang erfolglos geärgert haben, nämlich von so
vorbei agiert. Ehrlich gesagt kann ich hier weder die
schönen Projekten wie den sozialwissenschaftlichen
Koch/Steinbrück-Liste wiederfinden – es wäre in diesen
Umweltfragen und der Förderung umweltverträglicher
Tagen interessant, sich diese noch einmal anzuschauen –
Nahrungsmittelerzeugnisse, sprich: von Produkten und
noch kann man erkennen, dass hier saniert, gespart oder
Projekten, bei denen wir ganz sicher sind, Frau Hinze,
anders verteilt wird. Herr Gabriel, auch in diesem Falle
dass sie weiß Gott nichts mit Innovation zu tun haben,
haben Sie den Pfad Ihres Vorgängers schlicht und ein-
sondern dass mit ihnen über viele Jahre hinweg gezielt
fach weiter beschritten.
eine bestimmte Klientel versorgt wurde. Dies werden
(Otto Fricke [FDP]: Trampelpfad!) wir aufgreifen und in der zweiten und dritten Lesung
entsprechend klar darstellen.
Lieber Herr Minister, das muss Ihnen aus dem Munde
einer Liberalen ganz einfach den Vorwurf eintragen (Beifall bei der FDP)
– Sie tragen ja den Namen eines Erzengels –, dass Sie
Nun hat der Minister eben gesagt, er stehe zum End-
offensichtlich fest vorhaben, in den nächsten Jahren mit
lager und wisse, was da auf ihn zukomme. Ich möchte
dem Füllhorn der Subventionen durch dieses Land zu
an dieser Stelle deutlich sagen: Es hat bei den Berichter-
gehen. Es wird unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen,
stattern zu großer Irritation geführt, dass uns in dem Ge-
dass wir Ihnen das an jeder Stelle nachweisen und dass
spräch, an dem Sie leider nicht teilnehmen konnten – ich
dieser Haushalt die Kontur erhält, die er eigentlich haben
(B) wünsche Ihnen gute Genesung, Herr Gabriel –, Ihr (D)
muss: Er muss schlank, straff und innovativ sein und er
Staatssekretär erklärt hat, dass er erstens die Situation
darf nicht in die Klientelpolitik von Rot-Grün hineinwu-
des Schachts Konrad zwar schon richtig einschätzt, dass
chern, die Sie offensichtlich gemeinsam übernommen
er aber zweitens beabsichtigt, wenigstens noch ein Jahr
haben.
zu prüfen, wie das Ganze werden soll, und dass er drit-
(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: tens in keiner Weise beabsichtigt, Verpflichtungsermäch-
Erzengel Gabriel hat aber ein Schwert und tigungen für eventuell auf uns zukommende milliarden-
kein Füllhorn!) schwere – wenn man Gorleben einbezieht – bzw.
millionenschwere Belastungen für den Haushalt zu be-
– Ja, er trägt schwer an sich.
rücksichtigen. Auf dieses Haushaltsrisiko steuern Sie se-
(Ulrich Kelber [SPD]: Ein Schwert und kein henden Auges zu. Das werden wir als FDP mit Sicher-
Füllhorn! – Lothar Binding [Heidelberg] heit nicht mittragen.
[SPD]: Das geht ihr mühelos über die Lippen!)
(Beifall bei der FDP)
Frau Reiche hat eben schon etwas zur Energiepolitik
Herr Gabriel, als Sie angefangen haben, zu reden, ha-
gesagt. Ich glaube, Sie hat sehr Recht. Es war zwar nicht
ben Sie – das hat auch Herr Kauch gesagt – sehr lange
ganz so, wie Sie das früher gesagt haben, aber im Prinzip
gebraucht, bis Sie auf das Thema Umwelt kamen.
sieht die Zukunft genauso schlecht aus wie das, was wir
schon früher bedauert haben. Die Zuständigkeit für die (Ulrich Kelber [SPD]: Das hat er nicht
Energiepolitik liegt bei Herrn Glos, sie liegt zu allem Er- gesagt!)
staunen sogar bei Herrn Seehofer,
Die SPD hat auf dem Weg zu sich selbst sehr viel Zeit
(Jörg van Essen [FDP]: Noch ein Sozial- verloren. Es ist erstaunlich, dass wir jetzt einen Umwelt-
demokrat!) minister haben, der zumindest erkannt hat, dass der tech-
nologische Fortschritt sehr wichtig ist und uns nach
sie liegt auch bei Ihnen und sie liegt bei Frau Schavan.
vorne bringt. Auf diesem Weg, Herr Gabriel, werden wir
Das heißt, die Energiepolitik, das wichtigste politische
Sie begleiten. Diesen Schwerpunkt sieht die FDP ge-
Feld, welches wir in den nächsten Jahren zu beschreiten
nauso. Hierbei erwarten wir, dass Sie in den nächsten
haben, wenn wir Europa weg vom Öl führen wollen, ist
Jahren wirkliche Akzente setzen. Lassen Sie die alten
in dieser neuen Regierung zersplittert, zerschlagen und
trittinschen Pflänzchen bitte im Garten. Pflegen Sie sie
offensichtlich auch ideologisch „verkämpft“.
nicht mehr, zumindest nicht hier in Berlin. Dafür wären
(Beifall des Abg. Jörg van Essen [FDP]) wir Ihnen dankbar.
2174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Ulrike Flach
(A) (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Ukraine –, die zunehmende Knappheit an fossilen Roh- (C)
Das war ein Plädoyer für extensive Landwirt- stoffen wie Öl und Gas und der Klimawandel sind alles
schaft!) Argumente für die verstärkte Förderung von erneuerba-
ren Energien.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege der SPD)
Bernhard Schulte-Drüggelte von der CDU/CSU-Frak-
tion. Die erneuerbaren Energien schaffen auch zukunftsfähige
Arbeitsplätze in Deutschland.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer hätte das gedacht! – Gegenruf des Abg.
Ulrich Kelber [SPD]: Die FDP nicht!)
Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- – Ja, das stimmt.
gen! Auch ich möchte zuerst meinen Respekt dafür aus-
Die Energieversorgung aus erneuerbaren Energien hat
drücken, dass Sie trotz Ihres gesundheitlichen Handicaps
sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, und zwar
Ihren Haushalt und das Ministerium vertreten haben,
nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Selbst die
Herr Gabriel.
USA beabsichtigen erhebliche Umstellungen. Die Ent-
Der Haushalt 2006 ist der Beginn einer langfristig an- wicklung von Bioenergie, Biokraftstoffen und biobasier-
gelegten Konsolidierungsstrategie. Er soll die Staatsfi- ten Produkten soll mit 360 Millionen US-Dollar jährlich
nanzen sanieren und durch Innovationen und Investitio- gefördert werden, um die Energieversorgung der Zu-
nen Wachstumskräfte freisetzen und Beschäftigung kunft zu sichern.
sichern. Dieses politische Konzept wird mit Sanieren,
(Iris Gleicke [SPD]: Es hat bei den Amerika-
Reformieren und Investieren umschrieben. Der Finanz-
nern lange genug gedauert!)
minister, Herr Steinbrück, hat am Anfang dieses Jahres
ganz deutlich gesagt: – Aber es ging immerhin.
Eine der unumstößlichen Geschäftsgrundlagen der Minister Steinbrück hat heute Morgen Sokrates zi-
großen Koalition ist der Erfolg bei der Haushalts- tiert. Auch ich darf einen älteren Griechen, nämlich Peri-
konsolidierung. kles, zitieren, der gesagt hat:
Generationengerechtigkeit – das ist angesprochen Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusa-
(B) worden – und Nachhaltigkeit sind die Leitlinien bei die- gen, (D)
sem Vorhaben. Das Ziel bleibt ein ausgeglichener Staats-
– das können wir wahrscheinlich nicht –
haushalt. Ich weiß, dass das ein schwieriges Ziel ist. Ich
weiß auch, dass das nicht von heute auf morgen zu errei- sondern auf sie vorbereitet zu sein.
chen ist. Aber dieser Haushalt 2006 ist ein Neuanfang.
Ich meine, diese Weisheit kann man unterstützen.
Er ist auch ein Übergangshaushalt. Deshalb müssen die
Einnahmen und Ausgaben auf den Prüfstand gestellt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
werden.
Viele Technologien zur Nutzung erneuerbarer Ener-
(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) gien werden erst seit kurzem eingesetzt. Es ist zu vermu-
ten, dass darin hohe Innovations- und Entwicklungspo-
In diesem Fall sind das die Einnahmen und Ausgaben
tenziale liegen. Herr Gabriel hat deutlich gemacht, dass
des Einzelplans 16. Das Gesamtvolumen von 774 Mil-
die technischen Fortschritte genutzt werden sollten,
lionen Euro für das Ministerium für Umwelt, Natur-
wenn Deutschland in Zukunft bei den modernen Ener-
schutz und Reaktorsicherheit wurde gerade genannt. Die
gietechnologien Weltspitze bleiben will. Das bedeutet
Steigerung um 0,7 Prozent gegenüber 2005 ist, wie ich
Mehrausgaben für die Energieforschung.
finde, vom Sparwillen gekennzeichnet. Das ist eine mo-
derate Steigerung. Aber diese moderate Steigerung bein- Die Grundlage muss aber auch ein tragfähiges ener-
haltet auch eine deutliche Veränderung bei den For- giepolitisches Gesamtkonzept sein, dem ein ausgewoge-
schungsmitteln für erneuerbare Energien, und zwar ner Energiemix zugrunde liegt. Die Dringlichkeit und
eine Erhöhung in diesem Bereich um 43 Millionen Euro. Notwendigkeit alternativer Energien möchte ich nicht
infrage stellen. Aber aus der Sicht des Haushälters soll-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
ten auch in Zukunft die Ausgaben in diesem Bereich
Dies ist eine positive Entwicklung und begründet sich kontinuierlich auf ihre Effizienz überprüft werden. Die-
im Koalitionsvertrag. Dort steht: ser Aufgabe sollten wir uns auch in Zukunft stellen.
Ein wichtiges Element unserer Klimaschutz- und (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Energiepolitik ist der ökologisch und ökonomisch Ulrike Flach [FDP] – Ulrich Kelber [SPD]:
vernünftige Ausbau der erneuerbaren Energien. Null Kosten für den Haushalt! Das ist doch
gut!)
Die steigenden Energiepreise, die Abhängigkeit unse-
rer Energieversorgung von Importen – ich denke dabei – 0,7 Prozent ist ein relativ kleiner Wert. In dem Bereich
an die Auseinandersetzung zwischen Russland und der wird ja viel mehr gemacht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2175
Bernhard Schulte-Drüggelte
(A) Wir sollten darauf achten, dass die Mittel auch künf- Weiter heißt es: (C)
tig ökonomisch sinnvoll eingesetzt werden. Dies erfor-
Wichtiger Baustein einer schlüssigen Energiepolitik
dert meines Erachtens eine bessere Koordination zwi-
ist die Intensivierung und Ausweitung der Ener-
schen den beteiligten Ministerien. Es wurde bereits
gieforschung bei weiterer Mittelausstattung.
angesprochen, auf wie viele Ministerien die Energiefor-
schung aufgeteilt worden ist. Dafür sind neben dem Beim ersten Blick könnte man denken, dass der Zug in
Umweltministerium auch das Bundesministerium für Er- diese Richtung fährt. Der Haushalt des Bundesministeri-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, das ums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Bundesministerium für Bildung und Forschung und das wird um 5,7 Millionen Euro aufgestockt. Immerhin flie-
Wirtschaftsministerium zuständig. ßen 23 Millionen Euro mehr in die Forschung und Ent-
wicklung erneuerbarer Energien. Um 20 Millionen Euro
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, der werden Investitionszuschüsse im Bereich der erneuerba-
schon erwähnt worden ist, und zwar die Endlagerung
ren Energien aufgestockt.
radioaktiver Abfälle. In diesem Bereich bestehen nach
Einschätzung des Bundesrechnungshofes erhebliche Wenn wir allerdings einen Schritt zurückgehen und
Kostenrisiken für den Bund. Das Oberverwaltungsge- das Gesamtkunstwerk betrachten, dann stellen wir fest,
richt Lüneburg hat Anfang März ein wichtiges Urteil ge- dass das Bild Risse bekommt. Der Haushaltsplan des
fällt, das die Einrichtung eines Endlagers für schwach Umweltministeriums umfasst knapp 775 Millionen
Wärme entwickelnde Nuklearabfälle im Schacht Konrad Euro. Gemessen am Gesamthaushalt sind das lediglich
sehr wahrscheinlich macht. Staatssekretär Müller hat 0,3 Prozent. Das halten wir in Anbetracht der Aufgaben,
sich im Berichterstattergespräch sehr klar dazu geäußert, vor denen wir stehen – Klimaschutz und Rohstoffknapp-
dass jetzt der Knoten zerschlagen und eine Lösung ge- heit, um nur zwei zu nennen –, gelinde gesagt für nicht
funden werden soll – ich fand das sehr positiv –; deshalb angemessen.
muss ein Gesamtkonzept für die Entsorgung und Endla-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
gerung radioaktiver Abfälle gefunden werden. Das sollte
auch für ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle gel- Wenn man sich aber andere Einzelpläne anschaut
ten. Entsprechend der Vereinbarung im Koalitionsver- – Sie brauchen nicht überrascht zu sein, dass von mir
trag muss es in dieser Legislaturperiode zu einer Lösung dieses Beispiel kommt –, dann stellt man fest, dass keine
kommen. Geldknappheit herrscht. Zum Beispiel gibt es im Vertei-
digungsetat, der mit 23,9 Milliarden Euro der zweit-
Ich darf zum Schluss kommen. größte Einzelplan ist, das Kapitel „Wehrforschung,
wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung
(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: und Erprobung“. Allein dieses Kapitel umfasst 1,12 Mil- (D)
Sie müssen auch. liarden Euro. Das sind 342 Millionen Euro mehr als der
gesamte Einzelplan des Umweltministeriums.
Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hört! Hört!)
Die intensiven Beratungen über den Haushalt gehen
weiter. Wir sind noch in der ersten Lesung. Wir wollen Dieses Kapitel wurde außerdem um 153 Millionen Euro
die Konsolidierung weiterhin im Auge behalten und aufgestockt. Zur Erinnerung: Der Einzelplan des Um-
gleichzeitig im Interesse unseres Landes zur Finanzie- weltministeriums wurde lediglich um 5,7 Millionen
rung von Investitionen und Ausgaben für Forschung und Euro aufgestockt. Diese Prioritätensetzung halten wir
Entwicklung beitragen. Linken für absolut falsch und genial kontraproduktiv.
(Beifall bei der LINKEN)
Danke schön.
Sie wissen genau – das steht ebenfalls in der Koali-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
tionsvereinbarung; das ist auch in den Verteidigungspoli-
tischen Richtlinien nachzulesen –, dass die Rohstoff-
Präsident Dr. Norbert Lammert: knappheit eine der Ursachen für internationale Konflikte
Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert, Frak- ist. Wenn das eine der Ursachen ist, sollten wir genau
tion Die Linke. dort ansetzen und das im Haushalt in Zahlen ausdrücken.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Unser Aufruf ist: Rüsten Sie im Umweltbereich auf
Michael Leutert (DIE LINKE): statt beim Militär!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich habe nur drei Minuten Redezeit. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Das tut ja
Trotzdem: Auch die Linke kämpft für Ihre Gesundheit. weh!)
Herzliche Genesungswünsche! Bislang haben wir nicht den Eindruck, dass es eine Kurs-
korrektur in der Umweltpolitik unter dieser Regierung
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart:
geben wird.
Eine ambitionierte Umweltpolitik gehört für uns zu
Ich danke.
einer modernen Gesellschaft und leistet einen Bei-
trag zum weltweiten Klimaschutz. (Beifall bei der LINKEN)
2176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: schauen, wo Eigenlob besonders dick aufgetragen wird. (C)
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Josef Fell, So sollen die Mittel des Umweltministeriums für die
Bündnis 90/Die Grünen. Energieforschung auf fast 84 Millionen Euro angeho-
ben werden. Auf den ersten Blick ist das ein imposanter
Während er zum Podium schreitet, übermittle ich dem Anstieg: um 38 Millionen Euro. Diesem Anstieg steht
Minister im Namen des ganzen Hauses Genesungswün- allerdings eine Kürzung der Deckungsfähigkeit des
sche. Alle folgenden Redner sparen dann Zeit. Titels für das Marktanreizprogramm in Höhe von
(Heiterkeit) 35 Millionen Euro gegenüber. Dieses Geld kam bislang
der Forschung zugute.
Bitte schön, Herr Fell.
(Ulrich Kelber [SPD]: Na, na!)
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von dem Aufwuchs für die Forschung im Bereich er-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und neuerbare Energien bleiben am Ende 3 Millionen Euro
Herren! Sie haben mir tatsächlich das Wort aus dem übrig. Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass Herr
Mund genommen. Auch von unserer Seite darf ich Ih- Seehofer die Mittel für die Bioenergieforschung einge-
nen, Herr Minister Gabriel, Genesungswünsche übermit- froren hat und Frau Schavan sogar Kürzungen vorsieht,
teln und den Dank aussprechen, dass Sie an dieser De- bleibt unter dem Strich nicht einmal ein Inflationsaus-
batte trotz Krankheit teilnehmen. gleich übrig. Kurz vor dem Energiegipfel ist das ein Gip-
fel an Täuschungsarithmetik und nicht angemessen an-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gesichts der Herausforderungen des Klimawandels und
Das geht aber zu Recht von Ihrer Redezeit ab. der Ressourcenverknappung, die Sie in Ihren Reden im-
mer wieder – völlig richtig – betonen.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Umweltgerechtes Verhalten muss prinzipiell vom
Staat belohnt werden und umweltschädliches Verhalten Schauen wir einmal, wofür die Bundesregierung
darf eben nicht belohnt werden. Ein besonders wirksa- wirklich Geld lockermacht: Bei Ministerin Schavan stei-
mes Instrument dafür sind steuerliche Anreize. Doch gen die Mittel der Titelgruppe „Stilllegung und Rückbau
was tut die große Koalition in dem vorliegenden Haus- kerntechnischer Versuchs- und Demonstrationsanlagen“
halt? Statt in ihrer großen Finanznot höhere Steuerein- um 60 Millionen Euro auf 220 Millionen Euro. Das
nahmen durch den Abbau von ökologisch schädlichen heißt, sie gibt 2,5-mal so viel für den Abriss und die Ent-
Subventionen zu erzielen, wie durch den Abbau der Ke- sorgung alter Forschungsmeiler aus, wie Herrn Gabriel
(B) rosinsteuerbefreiung in der Luftfahrt, des steuerbefreiten für die Zukunftsforschung im Bereich erneuerbare Ener- (D)
Schiffsdiesels, des Agrardiesels, der Kohlesubventionen gien zur Verfügung steht.
oder der Rückstellungen für Atomkraftwerke, traut sich Hinzu kommt beim Umweltministerium die Kürzung
die große Koalition, eine Antiökosteuer einzuführen. des Titels für die Markteinführung von erneuerbaren
Jetzt endlich verstehen wir, wieso die Union gegen Energien um 13 Millionen Euro. Damit stehen für diesen
die Ökosteuer war: „Steuer“ fand sie gut, das Problem Titel gerade noch 180 Millionen Euro zur Verfügung.
war das „Öko“. Jahrelang hat die Union die Erhöhung Wenn man das mit den über 700 Millionen Euro zuzüglich
der Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel scharf kriti- Mehrwertsteuer vergleicht, die die erneuerbaren Ener-
siert. Jetzt erhöht sie die Steuer auf Biodiesel und gien in diesem Jahr zur Stromsteuer beitragen werden,
Pflanzenöle. In einem ersten Schritt soll die Energie- muss man feststellen: Die Diskrepanz ist gigantisch.
steuer gleich 10 bzw. 15 Cent betragen; netto, muss ich Dank Herrn Steinbrück und Herrn Gabriel müssen die
an dieser Stelle hinzufügen. Inklusive Mehrwertsteuer Bürger an Steuern auf erneuerbare Energien ein Vielfa-
beträgt die Besteuerung sogar über 17 Cent. Die Bio- ches von dem zahlen, was sie über Förderprogramme zu-
kraftstoffe sollen also auf einen Schlag so stark besteuert rückerhalten. Dabei wurde das Marktanreizprogramm
werden, wie Diesel und Benzin über fünf Jahre verteilt bekanntlich eingeführt, um die Mittel aus der Besteue-
schrittweise höher besteuert wurden. Aber es soll noch rung der erneuerbaren Energien für ebenderen Marktein-
schlimmer kommen: In einem zweiten Schritt sollen die führung einzusetzen.
Biokraftstoffe ab dem 1. Januar 2007 vollständig besteu- Meine Damen und Herren von der großen Koalition,
ert werden. Mit dieser Antiökosteuer der großen Koali- Umweltpolitik muss sich auch in der Haushaltspolitik
tion werden damit zugleich all diejenigen bestraft, die wiederfinden. Der von Schwarz-Rot vorgelegte Haus-
auf die Sonntagsreden vieler schwarzer oder roter Politi- haltsentwurf wird den umweltpolitischen Herausforde-
ker zur Einführung von Biokraftstoffen vertraut haben. rungen nicht gerecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Minister Gabriel, gerne höre ich Ihre Worte zum
technologischen Fortschritt. Gerade die Energiefor- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schung, so sagen Sie, habe einen großen Stellenwert. Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber,
Wir hören nur Gutes über die Energieforschungsmittel SPD-Fraktion.
des Bundesumweltministeriums. Nach meiner Lebenser-
fahrung als Parlamentarier muss man aber genau dorthin (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2177

(A) Ulrich Kelber (SPD): setzt hat, insbesondere der erneuerbaren Energien. Das (C)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ist die richtige Medizin gegen Importabhängigkeit, ge-
ren! Zu einer Debatte gehört, dass man auf die Vorredne- gen Monopolabhängigkeit, gegen belastende Preis-
rinnen und Vorredner eingeht. Ich mache das beim Kol- sprünge, gegen todbringende nukleare Abfälle, gegen
legen Fell besonders gerne. Sie waren in Ihren eine verwundbare Infrastruktur und gegen ökologische
Ausführungen zwar geschickt, lieber Kollege, aber eine und ökonomische Langzeitschäden. Die Zeichen der
Sache können Sie nicht wegreden: Im letzten Haushalt Zeit zu erkennen heißt, diese Technologien noch schnel-
wurden Mittel des Marktanreizprogramms zur Stopfung ler einzuführen. Das ist ein Unterschied in unserem
von Löchern bei der Forschung verwendet, Technologieverständnis. Auch ich bin ein Technikfreak.
Auch ich habe das studiert. Ich möchte aber nicht nur
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- forschen, sondern die Technologien auch auf dem Markt
NEN]: Zur Erhöhung der Forschungsbemü- einführen und nicht gegen eine Förderung der Marktein-
hungen haben wir sie verwendet!) führung stimmen. Das Kreuzfeuer, das in Deutschland
was zur Folge hatte, dass die Mittel des Marktanreizpro- vor allem von Ihrer Seite ausgeht und ideologisch moti-
gramms ausgegangen waren, wodurch Anträge liegen viert ist und das auch von Wirtschaftsverbänden, die ge-
geblieben sind. Eine ganze Branche ist dadurch gefähr- gen erneuerbare Energien sind, ausgeht, muss endlich
det worden. Da ist das jetzige Verfahren, Extratitel zu aufhören.
schaffen und diese zu erhöhen, der bessere Weg.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
der CDU/CSU) GRÜNEN)
Frau Kollegin Kotting-Uhl, zwei Punkte: Erstens. Es Der zweite große Punkt der Umweltpolitik ist, dass
gibt keine Nebenabsprache zum Atomausstieg. Das mag die Effizienz in den Mittelpunkt rücken muss. Wir müs-
Ihnen nicht gefallen. sen aus weniger Energie- und Rohstoffeinsatz mehr
Wohlstand erwirtschaften. Das ist die Schlüsselkompe-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
tenz unserer Zeit. Nur so kann man steigende Energie-
GRÜNEN]: Ich habe gesagt: Man muss es
und Rohstoffrechnungen vermeiden. Wer den Leuten er-
nicht glauben!)
zählt, sie könnten die Weltmarktpreise beeinflussen, der
– Nein, Sie haben von der „Financial Times Deutsch- streut ihnen Sand in die Augen.
land“ und angeblichen Nebenabsprachen des Bundesum-
weltministers gesprochen. Sie wissen, dass alle gesagt Es gibt noch einen zweiten Faktor in der Rechnung,
nämlich die Frage, wie viel von der teureren Energie und
(B) haben, dass es diese nicht gibt. Auch wenn es einem den teureren Rohstoffen verbraucht wird. Deswegen ist (D)
nicht gefällt, dass einem die Kompetenz für das Thema
nicht mehr solitär zugesprochen wird, so ist das trotzdem es richtig, dass wir die Anreize zu ineffizientem Verhal-
die Realität. ten abbauen und über deutliche Preissignale und klare
ordnungsrechtliche Vorgaben die Energieeffizienz stei-
Zweiter Punkt: Der Herr Umweltminister hat von sei- gern. Ich habe wie Frau Reiche als Kind den Schüttel-
ner ersten Amtshandlung in Bezug auf REACH gespro- reim gelernt: Dem Ingenieur ist nichts zu schwör. Ich
chen. Sie selber würden wahrscheinlich Probleme haben, würde mich freuen, wenn sich der eine oder andere Wirt-
die beiden kleinen Punkte zu erläutern, die das, was Um- schaftsverband daran erinnern würde, wenn wir uns über
weltminister Gabriel gemacht hat, von dem unterschei- die Vorgaben zur Effizienzsteigerung unterhalten, und
den, was Umweltminister Trittin ausgehandelt hat. Es nicht immer in kleinkindliche Jammerei verfallen würde.
würde sehr schwierig werden, das darzustellen. Wir soll-
ten also bei der Wahrheit bleiben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD – Sylvia Kotting-Uhl DIE GRÜNEN])
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es gibt
einen Unterschied!) Umweltpolitik ist längst eine Querschnittsaufgabe ge-
worden. Von Umweltpolitik kann man lernen. Es sind
Es ist in der Tat kein Zufall, dass in dieser Woche die Denkmodelle der Umweltpolitik, die nicht nur öko-
mehrere Zeitschriften und Zeitungen das gleiche Thema logisch, sondern wirtschaftlich, finanziell, gesundheits-
behandeln, so der „Spiegel“, die „Zeit“ und „Focus“. politisch und gesellschaftspolitisch die richtigen Ansätze
Das Thema lautet: Kampf um Rohstoffe und Gefährdung liefern.
der herkömmlichen Energieversorgung. Eines ist klar:
Das gefährdet die Grundlagen unseres Wohlstands. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
in den letzten Jahren dominierenden Denkschulen der
herkömmlichen Wirtschaftspolitik haben auf diese He- Dazu einige Beispiele. Mein Lieblingsbeispiel ist im-
rausforderung keine Antwort. Es ist vielmehr die Um- mer das Toprunnerprogramm, also das energieeffi-
weltpolitik, die seit vielen Jahren die richtigen Antwor- zienteste Gerät zum Standard erheben, den dann alle an-
ten bietet. Diese Ansätze bekommen jetzt zu Recht eine deren Geräte in wenigen Jahren erreichen müssen.
stärkere Aufmerksamkeit. Dadurch wird ein toller Innovationswettbewerb ausge-
löst. Der nützt vor allem den Premiummarken aus
Es war die Umweltpolitik, die die Nutzung neuer, de- Deutschland, weil diese sich gegen die Billigkonkurrenz
zentraler und nachhaltiger Energieformen durchge- über solche Vorgaben der Standards wehren können.
2178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Ulrich Kelber
(A) Deswegen ist moderne Umweltpolitik moderne Wirt- (Michael Kauch [FDP]: Aber wer will das (C)
schaftspolitik. denn?)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Umweltpolitik ist also der Kern moderner Innova-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE tionspolitik. Das hat Bundesumweltminister Sigmar
GRÜNEN) Gabriel klar zum Ausdruck gebracht. Dieser Fakt ist
auch mir wichtig. Damit auch Herr Kauch zufrieden ist,
Beispiel zwei: Wir brauchen eine scharfe Malusrege- verweise ich auf Folgendes – das kann man übrigens
lung im Emissionshandel, die besagt, dass die ältesten auch gut dem Haushalt 2006 entnehmen –: mehr Geld
und ineffizientesten Kraftwerke nicht mehr voll mit für die Forschung, mehr Geld für die Einführung innova-
Emissionszertifikaten ausgestattet werden. Das übt tiver Technologien. Hinzu kommt, was man manchmal
Druck aus in Richtung auf eine Neuausstattung. Um- mit wenig Geld bewerkstelligen kann, beispielsweise
weltpolitik ist somit Investitionsförderung. das nationale Naturerbe. Derartiges lässt sich nicht an
Überschriften in Einzelplänen des Haushaltsgesetzes
Drittes Beispiel: Ausstieg aus der Atomenergie. Wir
festmachen. Man muss manchmal auch zwischen den
haben jetzt die schöne Situation, dass viele Wettbewer-
Zeilen lesen können.
ber eigene neue Kraftwerke bauen. Stadtwerke, Finanzin-
vestoren usw. setzen darauf, dass wir diese Regelung Der Haushalt 2006 kann sich aus Sicht der Umwelt-
beibehalten. So kann man mit Umweltpolitik wunderbar politik sehr gut sehen lassen. Wir Umweltpolitiker kön-
gegen Monopole und Preistreiberei bei Strom vorgehen. nen sehr selbstbewusst in die Debatte mit Politikern ge-
Somit ist Umweltpolitik auch fantastische und moderne hen, die auf anderen Feldern tätig sind. Wir haben die
Wettbewerbspolitik. innovativeren Ansätze. Die anderen können von uns et-
was lernen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank.
Viertes Beispiel: nachhaltige Verkehrspolitik. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sagen, dass man aus Naturschutzgründen bestimmte der CDU/CSU)
Flüsse wie Elbe und Donau nicht beliebig ausbauen
sollte, weil man mit sehr viel weniger Geld parallel auf Präsident Dr. Norbert Lammert:
der Bahnstrecke viel mehr erreichen kann. Damit ist Letzter Redner zu diesem Geschäftsbereich ist der
Umweltpolitik auch moderne Verkehrspolitik. Kollege Josef Göppel, CDU/CSU-Fraktion.
(B) Fünftes Beispiel: präventiver Gesundheitsschutz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
Wir tun etwas dagegen, dass Menschen wegen Chemika-
lien, wegen Luftverunreinigung und Gewässerschäden
Josef Göppel (CDU/CSU):
krank werden. Das ist viel billiger, als nachträglich et-
was aus dem Gesundheitssystem heraus zu machen. Um- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die große
weltpolitik ist also moderne Gesundheitspolitik. Koalition hat ihre Umweltpolitik von Anfang an mit dem
Erhalt und der Schaffung von Arbeitsplätzen verknüpft.
Zum Thema „nachhaltige Generationenpolitik“ hat Bei den Koalitionsverhandlungen hat Minister Gabriel
meine Kollegin Hinz schon etwas gesagt. Die Einfüh- diesen Aspekt von Beginn an besonders betont. Herr Mi-
rung der Nachhaltigkeit geht auf die Umweltseite zu- nister Gabriel, das möchte ich ausdrücklich würdigen.
rück. Es war ein Forstwirt wie Herr Kollege Göppel, der
Ich möchte ebenfalls würdigen, dass Sie die Abgeord-
diesen Begriff damals – 1804 – geprägt hat. Wir haben
neten in Ihrer bisherigen Amtsführung sehr frühzeitig in
das aufgegriffen. Auch Umweltpolitik ist moderne Ge-
Vorbereitungen von Entscheidungen einbezogen haben.
nerationenpolitik.
Auch dafür danke ich Ihnen. Wenn das so weitergeht,
Ein letztes Beispiel. Das nationale Naturerbe ist Vo- dann wird unsere Zusammenarbeit bis zum Jahre 2009
raussetzung für Tourismus und ländliche Entwicklung, – für diesen Zeitraum ist diese Koalition angelegt – sehr
weil so Vielfalt und Aufenthaltsqualität geschaffen bzw. gut sein. Ich hoffe, dass sie für Deutschland viel Gutes
gesichert werden. Umweltpolitik und Naturschutz erreichen kann.
müssen auch der ländlichen Entwicklung dienen. Unsere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Politik muss – das ist eine ihrer größten Herausforderun- der SPD)
gen – das Problem der demografischen Entwicklung in
den ländlichen Regionen lösen. Die Entwicklung dort ist In den Debatten, die jetzt über Rohstoffe weltweit ge-
noch dramatischer als die in den Städten, zumindest im führt werden, wird immer wieder formuliert, dass die
Westen. In den Städten im Osten ist die demografische Entwicklungsländer Indien und China einen anderen
Entwicklung ebenfalls schon sehr dramatisch. Auch hier Entwicklungspfad brauchen. Da muss man schon fragen:
sind es die Ansätze moderner Umweltpolitik, die über- Und wir? Was ist mit unserem Entwicklungspfad? Auch
haupt eine Perspektive liefern. Es geht um die Fragen: für die Union steht die Senkung des Energieverbrauchs
Was finanziert man in der Agrarpolitik? Was macht man an erster Stelle, und zwar durch die Steigerung der Effi-
im Naturschutz? Die Strategien „Weiter so“ und „Wir zienz. Im Koalitionsvertrag ist das Ziel verankert, die
überlassen das vollständig dem Markt“ werden nicht Energieeffizienz bis 2020 gegenüber dem Stand von
weiterhelfen. 1990 zu verdoppeln.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2179
Josef Göppel
(A) Vor wenigen Tagen, am 14. März, hat der EU-Minis- Wer bei Zukunftstechnologien führt, der führt auch bei (C)
terrat in Brüssel die Richtlinie zur Endenergieeffizienz den Arbeitsplätzen. Jeremy Rifkin hat vor einigen Wo-
und zu den Energiedienstleistungen beschlossen mit dem chen, Anfang März, in der CDU-Zentrale hier in Berlin
Ziel, den Energieverbrauch in Europa in den nächsten auf Folgendes hingewiesen – ich darf zitieren –: Eigent-
neun Jahren um 9 Prozent zu senken. Der Energiever- lich ist die deutsche Wirtschaft im Hinblick auf die He-
brauch in Europa soll also in jedem Jahr 1 Prozent weni- rausforderungen der Umweltpolitik besser als jede an-
ger betragen. Wir sollen mit den Rohstoffen und anderen dere aufgestellt, weil sie in Chemie und Maschinenbau
Materialien sparsamer umgehen. Die Richtschnur ist der führend ist.
effizientere Umgang mit Energie und Rohstoffen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm der Koalition
– es wird auf ein Fördervolumen von 1,4 Milliarden Ohne den lenkenden Rahmen der Politik geht es
Euro pro Jahr erhöht – wird sich breit auswirken und nicht. Ich war erstaunt darüber, wie interessant in diesem
dem Handwerk, dem Umweltschutz, den Mietern und Zusammenhang ein Subventionsbericht sein kann. Ich
den Eigentümern viel bringen, darf aus dem Zwanzigsten Subventionsbericht zitieren:

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Begünstigung des gewerblichen inländischen
der SPD) Flugverkehrs ist abzubauen. Wegen des erreichten
Entwicklungsstandes ist diese gegenüber dem mit
allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ba- Mineralölsteuer belasteten Straßenverkehr und
sis eines Energiepasses. Wir unterstützen da die Vorstel- Schienenverkehr … nicht mehr gerechtfertigt.
lungen des Umweltministeriums zu einem bedarfs-
orientierten Energiepass. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Unser Finanzministerium hat hier einen guten und richti-
gen Ansatz. Die gesamte Bundesregierung hat diesen
Dann sollen sich die Hausbesitzer die Maßnahmen he- Subventionsbericht beschlossen.
raussuchen, die ihnen in ihrer speziellen Situation am
geeignetsten erscheinen. Wir müssen das auch in Verbindung mit der Besteue-
rung der Biokraftstoffe sehen.
Auch im Verkehr gilt: Eine Verbrauchssenkung
bringt geringere CO2-Vermeidungskosten mit sich als (Zuruf von der CDU/CSU: Wir werden das in
alle anderen Maßnahmen. Wir haben im Koalitions- Bayern machen!)
vertrag auch das Ziel der Senkung des CO -Ausstoßes
(B) im Kraftfahrzeugverkehr formuliert. Ein2 Wert von Ich möchte zu überlegen geben, ob es wirklich sinnvoll (D)
120 Gramm ist da als Ziel genannt. „Effizienz verbes- ist, diesen Teil des Energiebesteuerungsgesetzes am
sern“ heißt: möglichst geringe Vermeidungskosten in der 1. August in Kraft zu setzen, oder ob es nicht sinnvoller
Realität erreichen. So wie bei den Gebäuden mit dem ist, das am 1. Januar 2007 in Verbindung mit einer or-
Energiepass müssen wir auch bei den Kraftfahrzeugen dentlich durchdachten neuen Gesamtlösung zu tun. Wir
zu einer klaren Kennzeichnung kommen. Das gilt, Herr brauchen für die Bemessung der Biokraftstoffbesteue-
Minister, ebenfalls für die CO2-bezogene Kraftfahrzeug- rung eine nachvollziehbare Grundlage – das könnte zum
steuer. Ich denke, dass wir auch diese Maßnahme bald Beispiel die CO2-Bilanz sein –, aber nicht willkürlich
umsetzen müssen, damit die Bürger den Zusammenhang gegriffene Besteuerungssätze.
zwischen den finanziellen Beanspruchungen und der
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
Umweltwirkung ganz deutlich spüren.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich möchte noch kurz auf einen anderen Bereich der
Vor wenigen Tagen ist die Elektronikschrottverord- Umweltpolitik zu sprechen kommen, liebe Kolleginnen
nung in Kraft getreten. Man glaubt kaum, welche Wir- und Kollegen. Umweltpolitik hat auch eine ethische Di-
kungen etwas hat, wenn es wirklich in Kraft tritt. Nun mension, wenn es darum geht, für die Mitgeschöpfe, die
können die Leute ihre alten Elektrogeräte zurückgeben wild lebenden Pflanzen und Tiere, Lebensräume zu er-
und brauchen dafür nichts zu bezahlen, weil sie das halten. Die Koalition hat mit dem Konzept „Nationales
schon mit dem Kaufpreis erledigt haben. Diese Kreis- Naturerbe“ den Weg dafür bereitet. Ich halte das für ei-
laufwirtschaft führt dazu, dass die Geräte anders kon- nen wichtigen Schritt in die Zukunft.
struiert werden, und zwar so, dass sie eben leichter zu-
rückgenommen werden können, weil die Hersteller Da der Fußball zurzeit überall im Mittelpunkt steht,
dafür finanziell einstehen müssen. darf ich noch ein bekanntes altes Schulbeispiel erwäh-
nen: Wenn unsere Erde ein Fußball wäre – stellen wir sie
Wettbewerbsfähig sein in der Weltwirtschaft mit we- uns einmal so groß vor –, dann wäre die schützende
niger Material und weniger Energieaufwand: Wer im Lufthülle genau 1 Millimeter dick. Das zeigt die Verletz-
Umweltschutz führend ist, ist führend bei Zukunfts- lichkeit unserer Erde. Ich denke, das ist nicht nur für
technologien. Kinder ein gutes Beispiel.
(Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU] (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
sowie bei der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
2180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: In den kommenden Tagen und Wochen werden wir (C)
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich die Einzelheiten dieser Reform erörtern, hier im Parla-
liegen nicht vor. ment, aber auch in den Koalitionsfraktionen und in der
Öffentlichkeit. Alle wissen, dass wir zwischen den
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- Grundkonzepten, die von den beiden Koalitionspartnern
ministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15. Ich er- favorisiert werden, nämlich der Bürgerversicherung
teile das Wort der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla und der Gesundheitsprämie, einen Kompromiss finden
Schmidt. müssen, der die Finanzierungsgrundlagen der Kranken-
kassen so erweitert, dass endlich die Abhängigkeit von
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung reduziert
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wird. Wir brauchen – da sind wir uns einig – eine Re-
Zeiten der Haushaltskonsolidierung Haushalte aufzustel- form, die sicherstellt, dass alle Bürgerinnen und Bürger
len, ist nie einfach. Aber diesmal war die Aufstellung über einen Versicherungsschutz verfügen, und die ge-
unseres Haushaltes auch dadurch erschwert, dass aus währleistet, dass alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu
dem ehemaligen Bundesministerium für Gesundheit und allen medizinisch notwendigen Leistungen auf der Höhe
Soziale Sicherung zwei neue Ministerien mit ihren des medizinischen Fortschritts erhalten, und zwar unab-
Haushalten entwickelt werden mussten, das Bundes- hängig von ihrem persönlichen Einkommen und der
ministerium für Arbeit und Soziales und das Bundes- Höhe des Beitrags, den der oder die Einzelne zahlt.
ministerium für Gesundheit. Wir sind uns in der Koalition einig, dass wir eine Re-
(Unruhe) form brauchen, bei der die starken Schultern mehr tragen
als die schwachen Schultern, weil wir eine gerechte Re-
form wollen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen kleinen Augenblick, Frau Ministerin. – Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
fände es schon hilfreich, wenn diejenigen, die sich nun der CDU/CSU)
noch dringenderen Tätigkeiten zuwenden müssen, das
ohne Störung der weiteren Debatte realisieren könnten, Darüber hinaus planen wir eine Reihe von Maßnah-
damit die nötige Aufmerksamkeit wieder hergestellt men, die ich unter der Überschrift „Mehr Wettbewerb
ist. – Bitte schön, Frau Ministerin. und Flexibilität“ zusammenfassen will. Wir wollen, dass
es in Zukunft beispielsweise möglich ist, dass auch kas-
senartenübergreifende Fusionen erfolgen können. Wir
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: wollen, dass Kassen und Leistungserbringer stärker als
(B) Danke schön, Herr Präsident. – Trotzdem ist es gelun- in der Vergangenheit über Preise und Qualität verhan- (D)
gen, einen Haushalt vorzulegen, der auch den vielfälti- deln können. Wir wollen die integrierte Versorgung stär-
gen Aufgaben des Ministeriums gerecht wird. ken und wir wollen das Vertragsarztrecht liberalisieren.
Wenn man aber einen Blick in die Zukunft wirft, sieht Das Honorarsystem soll so gestaltet werden, dass der
man eine klare Aufforderung zum Handeln; denn der einzelne Arzt und die einzelne Ärztin wissen, was sie für
größte Ausgabenblock des Ministeriums ist quasi ein ihre medizinischen Leistungen bekommen. Wir wollen
durchlaufender Posten. 4,2 Milliarden Euro sind festge- ein Honorarsystem, das transparent ist und bei dem die
legt als Bundeszuschuss für die so genannten versiche- Vertragspartner über Preise, Qualität und Mengenkom-
rungsfremden Leistungen in der gesetzlichen Kranken- ponenten verhandeln können. So wird mehr Gerechtig-
versicherung. Für dieses Jahr schafft uns das ein keit im Gesundheitssystem geschaffen.
bisschen Luft in Bezug auf die Beitragssatzstabilität in
der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch das Arz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
neimittelspargesetz wirkt sich entsprechend aus. Sie alle der CDU/CSU)
wissen aber, dass in der Koalition beschlossen wurde,
den Bundeszuschuss im nächsten Jahr von 4,2 Milliar- Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, werden wir auch
den Euro auf 1,5 Milliarden Euro zurückzuführen, bevor in der Pflege die notwendigen Reformen angehen, damit
er dann 2008 ganz wegfällt. Außerdem wird die Mehr- die Pflegeversicherung dauerhaft finanziell gesichert
wertsteuererhöhung im kommenden Jahr zu Mehrausga- ist. Wir werden gewährleisten, dass die aufgrund der auf
ben von rund 800 Millionen Euro in der GKV führen. uns zukommenden demografischen Auswirkungen ent-
stehenden Belastungen gerecht zwischen den Generatio-
Beide Faktoren machen deutlich, dass wir in diesem nen aufgeteilt werden. Wir wollen zugleich dafür sorgen,
Jahr eine grundlegende Reform der gesetzlichen Kran- dass es eine sozial gerechte Lastenverteilung gibt.
kenversicherung auf den Weg bringen müssen, und
zwar nicht nur eine Reform der Finanzierungsseite, son- Wir werden die Pflegeversicherung inhaltlich fortent-
dern, wenn wir eine nachhaltige, dauerhafte Finanzie- wickeln, zum Beispiel durch die Anerkennung des Be-
rung sicherstellen wollen, auch eine Reform der Struktu- treuungsbedarfs von Menschen mit eingeschränkter All-
ren in Richtung mehr Wettbewerb, mehr Transparenz tagskompetenz. Dabei geht es um den Betreuungsbedarf
und Vertragsfreiheit. von demenzkranken Menschen, von psychisch kranken
Menschen und von geistig behinderten Menschen. Wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen Leistungen dynamisieren und häusliche Versor-
der CDU/CSU) gungsstrukturen stärken.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2181
Bundesministerin Ulla Schmidt
(A) Generell gilt: Besser als die Behandlung von Krank- ein großer Teil auf die erfolgreichen Aufklärungsmaß- (C)
heiten ist es, Krankheiten erst gar nicht entstehen zu las- nahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä-
sen. Deshalb werden wir die Prävention – das Gesetz rung, die sich vor allen Dingen den jungen Menschen
hatten wir schon in der letzten Legislaturperiode auf den widmen, um hier eine Verhaltensänderung zu erreichen.
Weg gebracht – in dieser Legislaturperiode zu einer ei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
genständigen Säule im Gesundheitswesen entwickeln.
der CDU/CSU)
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass diese
wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe angepackt Auch wenn wir hoffen, dass das Vogelgrippevirus
wird. Aber auch unabhängig von diesem Gesetz werden ein Tiervirus bleibt, müssen wir alles dafür tun, dass wir
wir weiterhin in Gesundheitsförderung und Prävention für den Ernstfall, also für den Fall des Falles, dass es
investieren und diesen Bereichen in unserer Politik einen sich verändern sollte und tatsächlich von Mensch zu
hohen Stellenwert einräumen. Mensch übertragen werden könnte, gewappnet sind. Aus
den aktuellen Entwicklungen hat sich neuer Forschungs-
(Beifall bei der SPD) bedarf ergeben. Ich bin sehr froh, dass die Bundesregie-
Die Prävention muss ein fester und selbstverständli- rung in sehr kurzer Zeit in Zusammenarbeit mit der Bun-
cher Teil unseres Lebens werden. Denn jede vermiedene desministerin Frau Schavan und dem Bundesminister
Krankheit bedeutet nicht nur ein Stück mehr Lebensqua- Herrn Seehofer eine Forschungsvereinbarung abge-
lität für den Betroffenen, sie ist auch in Bezug auf die schlossen hat. Das gemeinsame Forschungssofortpro-
Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens wichtig. gramm zur Influenza soll sich vor allem mit praxisrele-
Niemand sollte die Tatsache unterschätzen, dass es in ei- vanten Fragen beschäftigen und Antworten auf die
ner Gesellschaft, in der die Menschen immer länger le- Fragen geben, die uns die Menschen im Hinblick auf den
ben und in der immer weniger junge Menschen nach- befürchteten Ernstfall stellen.
kommen, wichtig ist, dass jeder Einzelne so lange so fit Für den Finanzierungsanteil von 8,4 Millionen Euro,
bleibt, wie es eben geht. Denn wir stehen im Wettbewerb der das Bundesministerium für Gesundheit betrifft, stellt
mit Ländern, deren Gesellschaften mehr jüngere Men- das BMBF bereits in diesem Jahr 3 Millionen Euro di-
schen haben. rekt dem Robert-Koch-Institut und dem Paul-Ehrlich-
Wir sind auf jeden einzelnen Mann und auf jede ein- Institut zur Verfügung. Ich möchte mich an dieser Stelle
zelne Frau in diesem Land angewiesen. Daher sind In- für diese zügige Unterstützung durch die Kollegin
vestitionen in Prävention und Gesundheitsförderung Schavan bzw. das Forschungsministerium bedanken;
wichtige Zukunftsinvestitionen. Darüber muss sich jeder denn das ist nicht selbstverständlich.
im Klaren sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU) Wir als Bundesministerium für Gesundheit werden
die Entwicklung pandemischer Impfstoffe mit
Wie unverzichtbar Aufklärungsarbeit ist, sehen wir
20 Millionen Euro fördern. Davon werden in diesem
aktuell an der Entwicklung von HIV/Aids. Mir macht
Jahr 9 Millionen Euro haushaltswirksam. Wir setzen da-
der Anstieg der Zahl der Neuinfektionen Sorgen. Über
mit das Signal, dass wir als Bundesministerium auch un-
Jahre hinweg lag die Zahl der Neuinfektionen bei unge-
ter schwierigen finanziellen Bedingungen unserer Ver-
fähr 2 000. Im Jahr 2005 gab es aber 2 600 Neuinfektio-
antwortung gerecht werden. Denn es geht uns bei all
nen. Fast alle Menschen in Deutschland wissen über die
diesen Einzelfragen, die wir hier regeln müssen, um den
Infektionswege Bescheid und fühlen sich gut informiert.
Schutz vor Krankheiten, um eine optimale Versorgung
Trotzdem lässt die Bereitschaft, sich vorsichtig zu ver-
bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit und vor allen Din-
halten, nach, weil vor allem jüngere Menschen glauben:
gen darum, dass sich die Menschen in diesem Land si-
Einmal ist keinmal. Deswegen müssen wir in diesem Be-
cher fühlen.
reich weiter in Prävention investieren. Denn es gibt
keine Heilung dieser Krankheit. Es gibt zwar Behand- Vielen Dank.
lungsformen, aber letztendlich sind die meisten Krank-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
heitsverläufe tödlich. Prävention ist das einzige Mittel,
das wirklich hilft. Wir werden deshalb weiterhin auch
unter angespannten finanzpolitischen Bedingungen mehr Präsident Dr. Norbert Lammert:
als 10 Millionen Euro unseres Haushaltes für die Aids- Das Wort hat die Kollegin Frau Dr. Claudia
bekämpfung und -prävention ausgeben. Wir machen da- Winterstein, FDP-Fraktion.
mit deutlich, dass wir dieses Problem ernst nehmen. (Beifall bei der FDP)
Gleiches gilt für den Drogen- und Suchtbereich. Wir
wollen die erfolgreiche Drogen- und Suchtpolitik der Dr. Claudia Winterstein (FDP):
letzten Jahre fortsetzen. Wir wollen, dass die Schäden, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ver-
die heute durch den Missbrauch von Tabak, durch über- ehrte Frau Ministerin, leider haben Sie es sich mit Ihrer
mäßigen Alkoholkonsum und durch illegale Drogen ent- Diagnose zum Gesundheitssystem zu leicht gemacht. Sie
stehen, weiter reduziert werden. Deshalb werden wir zur bleibt unvollständig und die richtigen Rezepte fehlen.
Bekämpfung des Drogen- und Suchtmittelmissbrauchs Die 100-Tage-Bilanz der großen Koalition ist im Ge-
weiterhin 12 Millionen Euro einsetzen. Davon entfällt sundheitssektor eine eindeutige Negativbilanz. Das
2182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Dr. Claudia Winterstein


(A) Herumdoktern an den Symptomen war bisher erfolglos. Genau das aber ist es, worauf die Gesundheitsministerin (C)
Keines der anstehenden Probleme ist ernsthaft in Angriff hinarbeitet.
genommen worden. Die Regierung hat lediglich die
Strategie fortgesetzt, sich von einem Kostendämpfungs- (Elke Ferner [SPD]: Dann erzählen Sie doch
element zum anderen zu hangeln. mal, was Sie machen wollen!)

Inzwischen ist so viel Druck im System, dass die Angesichts der demografischen Entwicklung werden die
Ärzte auf die Straße gehen. Das Arzneimittelversor- Gesundheitsausgaben in Zukunft eher steigen. Auch an-
gungswirtschaftlichkeitsgesetz – man beachte dieses gesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt ist das
Wort – hat letztlich das Fass zum Überlaufen gebracht. umlagefinanzierte System der gesetzlichen Kranken-
Es ist ein Bürokratiemonster, genährt von Verordnungs- versicherung, das an den Löhnen und Gehältern ansetzt,
korridoren, Tagestherapiekosten sowie Bonus- und Ma- den Anforderungen der Zukunft nicht gewachsen.
lusregelungen mit Einschränkungen der Therapiefreiheit (Beifall bei der FDP)
und ethisch problematischen Folgen.
Weil das so ist, müssen wir zumindest dafür sorgen,
(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das dass die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten ab-
stimmt doch überhaupt nicht, Frau Kollegin! – gekoppelt werden und dass die Menschen Einfluss neh-
Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: men können auf Art und Höhe ihres Versicherungsschut-
Falsch!) zes.
Frau Ministerin, wir hatten Sie aufgefordert, dieses Ge- (Elke Ferner [SPD]: Durch risikoabhängige
setz zurückzuziehen. Der Bundesrat hat jetzt den Ver- Prämien, oder wie?)
mittlungsausschuss angerufen. Es wäre verheerend,
wenn Sie das einfach ignorieren würden. Sie müssen Gestaltungsmöglichkeiten haben. Genau das
schlagen wir mit unserem Modell vor: freie Wahl des
(Beifall bei der FDP) Versicherungsschutzes mit der Pflicht, das medizinisch
Wir führen diese Haushaltsdebatte in Unkenntnis der Notwendige abzusichern, bei einem selbst gewählten
kommenden Gesundheitsreform. Die große Koalition Krankenversicherungsanbieter, der über die Bildung von
und ihre Gesundheitsministerin haben bisher mit ihren Altersrückstellungen dafür sorgt, dass die Beiträge im
Vorschlägen hinter dem Berg gehalten. Sie hatten wohl Alter nicht zu stark steigen. Das, Frau Ministerin, ist das
Sorge, sich bei den Landtagswahlen am letzten Sonntag bessere Rezept.
eventuell zu schaden. Auch in unserem Berichterstatter-
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
gespräch haben Sie, Frau Ministerin, sich darauf be-
(B) schränkt, mit Inbrunst zu dementieren, dass irgendetwas SPD) (D)
von dem, was in der Presse steht, stimmt. Bisher wissen Meine Damen und Herren, ich will nun noch auf zwei
wir also nicht, was Sie wollen. Wir wissen aber auch Besonderheiten des Haushalts der Gesundheitsministerin
nicht, ob es irgendeine Bedeutung hat, was Sie wollen. eingehen. Der größte Posten in diesem Haushalt ist der
milliardenschwere Zuschuss an die gesetzliche Kran-
(Beifall bei der FDP)
kenversicherung. Entgegen der Koalitionsvereinba-
Morgen treffen sich nämlich die Spitzen der Koalition – rung, die ein Abschmelzen schon für dieses Jahr vorge-
ohne Sie. Allerdings werden wir danach auch nicht viel sehen hatte, fließt dieser Zuschuss im Jahr 2006 in voller
schlauer sein. Bei diesem Treffen geht es offenbar da- Höhe; das sind 4,2 Milliarden Euro. Mit dem Haushalts-
rum, einen so genannten Fahrplan zu erstellen, ohne die begleitgesetz setzt sich die Regierung hier allerdings un-
Richtung oder gar das Fahrziel festzulegen. ter Reformdruck. Wenn im Jahr 2007 der Zuschuss sinkt
und die Mehrwertsteuer steigt, sind in diesem System,
(Zuruf von der SPD: Was Sie alles wissen!) wenn man sich nicht bewegt, Beitragserhöhungen un-
Die Unklarheit hat Methode; denn der Grundkonflikt ausweichlich.
in der rot-schwarzen Koalition ist bis heute nicht gelöst.
Daneben ist dieser Haushalt von der Abtrennung des
Die Union hatte im Wahlkampf ihr Konzept der
Aufgabenbereichs Soziales vom bisherigen Ministerium
Gesundheitsprämie; das hat sie aber in den Koalitions-
geprägt; Sie haben das erwähnt. Dadurch fallen natürlich
verhandlungen schnell aufgegeben. Demgegenüber ver-
auch hier entsprechende Kosten an: für ein neues Ge-
folgt die SPD ihr noch viel untauglicheres Modell der
bäude, für neue Ausstattung, für 18 neue Stellen. Die fi-
Bürgerversicherung unbeirrt weiter. Die Bürgerver-
nanziellen Auswirkungen dieser Neugliederung, die zu
sicherung wäre aber das glatte Gegenteil einer zukunfts-
einer Aufblähung des Regierungsapparates führt, sind
gerichteten Reform.
mehr als ärgerlich.
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Sie
Die Halbierung des Ministeriums zieht eine Halbie-
haben gar kein Modell!)
rung diverser Haushaltsansätze nach sich, aber leider
Die Diagnose ist doch klar gestellt: Das jetzige Sys- nicht überall. Bei der Öffentlichkeitsarbeit beispiels-
tem ist marode. Weil das so ist, wäre es das falsche Re- weise wünscht sich die Gesundheitsministerin eine Auf-
zept, noch mehr Bürger in dieses System zu zwingen. stockung der Mittel um 1,2 Millionen Euro.
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Erklärungs-
Nein, nein, nein!) kosten!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2183
Dr. Claudia Winterstein
(A) Da möchte man doch gerne wissen, wofür. Das steht Die Industrie hofft, dass der Standort Deutschland (C)
auch im Entwurf: für die Information über die Gesund- wieder ein Innovationsmotor wird und dass der Gesetz-
heitsstrukturreform. geber in Zukunft nicht nur zu weiteren Maßnahmen zur
kurzfristigen Kostendämpfung greift, weil er damit die
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Erklärungs-
unternehmerische Planungssicherheit gefährdet.
bedürftig!)
Sehr verehrte Frau Ministerin, ich glaube, das hat noch Sie sehen: Der Bogen ist weit gespannt, und ich habe
etwas Zeit. Für eine Gesundheitsreform, deren Inhalte noch gar nicht alle, die in diesem System eine Rolle
noch völlig ungeklärt sind und deren gesetzliche Umset- spielen, erwähnt. Es ist die große Kunst, die Vielzahl der
zung noch gänzlich im Nebel liegt, machen Sie bitte Akteure und ihre unterschiedlichen Interessen unter ei-
keine Öffentlichkeitsarbeit. nen Hut zu bringen. Zugegeben, dieses Kunststück ist
bei jeder Gesundheitsreform zu vollbringen. Dieses Mal
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja geht es aber um wesentlich mehr.
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Seit Jahren wachsen die Ausgaben schneller als die
Einnahmen. Seit einigen Jahren müssen wir sogar fest-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
stellen, dass die Einnahmen wegen der anhaltend hohen
Frau Kollegin, Sie denken an Ihre Zeit?
Arbeitslosenzahlen, wegen der rückläufigen Zahl sozial-
versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und
Dr. Claudia Winterstein (FDP): wegen einer steigenden Zahl von Rentnern regelrecht
Frau Ministerin, es geht nicht darum, das Gesund- wegbrechen. Die Frage ist daher, ob es uns gelingt, die
heitssystem mehr schlecht als recht am Leben zu erhal- gesetzliche Krankenversicherung aus ihrer einseitigen
ten, sondern es geht jetzt darum, es endlich wieder auf Anbindung an Löhne und Gehälter zu befreien, damit
stabile und gesunde Beine zu stellen. endlich wieder mehr Arbeitsplätze in Deutschland ent-
(Elke Ferner [SPD]: Sie wollen es umbrin- stehen können und die gesetzliche Krankenversicherung
gen!) auf ein stabiles Fundament gestellt wird.

Vielen Dank. Die nächste Frage betrifft die Entwicklung der Ausga-
ben in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der medi-
(Beifall bei der FDP) zinisch-technische Fortschritt ist für viele kranke
Menschen ein Segen; er bedingt aber einen Ausgabenzu-
Präsident Dr. Norbert Lammert: wachs. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ignoriert
Ich erteile das Wort der Kollegin Annette Widmann- im Grunde diese Dynamik. Deshalb muss bei einer an-
(B) Mauz, CDU/CSU-Fraktion. stehenden Reform politisch auch entschieden werden, ob (D)
der Gesundheitssektor als Wachstums- und Beschäfti-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
gungssektor erschlossen werden soll und wie dies ohne
Elke Ferner [SPD])
zusätzliche Belastungen bei den Lohnnebenkosten ge-
schehen kann.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Schlagzahl der Meldungen über die Inhalte einer
Wenn die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale
möglichen Gesundheitsreform nimmt seit dem vergan-
im Gesundheitswesen gehoben werden, wird dies zur
genen Wochenende spürbar zu.
Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE gungsverhältnisse und zu einer Verbesserung der Ein-
GRÜNEN]: Es gibt Gerüchte, Sie wollten in nahmesituation der öffentlichen Haushalte beitragen.
der Koalition anfangen, Politik zu machen!) Vor allem ist dies aber die Voraussetzung dafür, eine
qualitativ hochwertige Versorgung weiterhin zu ge-
Das Interesse an der bevorstehenden Reform ist groß,
währleisten.
nicht zuletzt, weil die Proteste der Ärzte der Gesund-
heitspolitik zusätzliche Aufmerksamkeit beschert haben. Die große Koalition sollte eigentlich in der Lage sein,
Noch größer sind allerorten die Erwartungen an das auf die genannten Fragen Antworten zu finden.
Ergebnis einer Reform. Während sich Union und SPD (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da sind wir
auf ihre Konzepte berufen, hoffen die Versicherten auf gespannt!)
die Aufrechterhaltung einer auch im internationalen Ver-
gleich qualitativ hochwertigen Versorgung ohne weitere Seit Jahren wird ein Reformstau beklagt. Die Europäi-
finanzielle Belastung. sche Kommission drängt auf die Einhaltung der
Maastrichtkriterien und dabei auf Reformen auch im
Die Ärzteschaft fordert ein Ende des Verfalls der Feld der Sozialpolitik. Die große Koalition hat es jetzt in
Punktwerte und drängt auf eine angemessene Honorie- der Hand, eine Gesundheitsreform zu gestalten, die
rung ihrer Leistungen sowie auf den Abbau von – wie es die „Bild“-Zeitung heute formuliert – „länger
Bürokratie im Gesundheitswesen. Die gesetzlichen hält als von zwölf bis Mittag.“
Krankenkassen verlangen nach stabilen Finanzierungs-
grundlagen. Die privaten Krankenkassen sorgen sich um (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die sollte man
die Erhaltung und die Finanzierbarkeit ihres Systems. nicht zitieren!)
2184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Annette Widmann-Mauz
(A) Daher sollte sich für uns eine Verständigung auf den Darüber hinaus muss die Finanzierungsreform einen (C)
kleinsten gemeinsamen Nenner verbieten. Beitrag zur Nachhaltigkeit und damit zur Demografie-
resistenz der gesetzlichen Krankenversicherung leisten.
CDU, CSU und SPD sind Volksparteien, bei denen Der Wandel der Erwerbsbiografien und die abnehmende
auch parteiintern um den richtigen Weg gerungen wird. Bedeutung von Erwerbseinkommen als Ausdruck wirt-
Deshalb sind sie in der Lage, einen Weg zu finden, der schaftlicher Leistungsfähigkeit führen zu Veränderungen
den Herausforderungen, vor denen unser Gesundheits- in der Struktur der Einkommen und damit eben auch der
wesen steht, gerecht wird und gleichzeitig einen breiten Einnahmebasis der gesetzlichen Krankenversicherung.
gesellschaftlichen Konsens widerspiegelt.
Die Lösung ist eine Erfassung der wirtschaftlichen
Die gesetzliche Krankenversicherung hat nach den Leistungsfähigkeit auf breiterer Basis. Starke Schultern
jetzt vorliegenden vorläufigen Finanzdaten im Jahr 2005 müssen sich an der Finanzierung der Solidarität stärker
einen Überschuss von rund 1,8 Milliarden Euro erzielt. beteiligen als schwache.
Auch im Jahr 2006 kann wegen der Anhebung des Bun-
deszuschusses für die versicherungsfremden Leistungen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
um weitere 1,7 Milliarden Euro auf 4,2 Milliarden Euro bei Abgeordneten der LINKEN)
damit gerechnet werden, dass die gesetzliche Kranken-
Wir brauchen auch mehr Freiheit im System.
versicherung mit einer schwarzen Null abschließt. Den-
noch werden Beitragssatzsenkungen kaum realisiert (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster]
werden. Rein rechnerisch sind immerhin noch circa [FDP])
78 Kassen verschuldet.
– Beifall von der FDP hören wir gerne. – Aus Sicht der
Ich hoffe sehr, dass das Sparpaket, das derzeit im Versicherten bedeutet das mehr Wahlmöglichkeiten hin-
Vermittlungsausschuss liegt, zügig verabschiedet wer- sichtlich des Leistungsumfangs.
den kann, damit die gesetzliche Krankenversicherung in
diesem Jahr nicht ins Defizit rutscht. Mit jeder weiteren (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
zeitlichen Verzögerung verliert das Gesetz an finanziel- Aus Sicht der Leistungsanbieter und der Kostenträger
ler Wirkungskraft. Die zügige Verabschiedung des Arz- bedeutet das mehr Vertragsfreiheit. Das darf aber nicht
neimittelsparpakets ist auch notwendig, damit wir die zu einer Schwächung der Freiberuflichkeit führen, son-
Gesundheitsreform mit Sorgfalt und in Ruhe vorbereiten dern muss zu einer Stärkung der Versorgung – auch über
können und nicht zu kurzfristigen Maßnahmen gezwun- die Sektorengrenzen „ambulant“ und „stationär“ hin-
gen werden. weg – führen.
(B) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz haben wir ab (D)
GRÜNEN]: Ein halbes Jahr Ruhe hattet ihr 1993 den Weg für mehr Wettbewerb in der gesetzlichen
jetzt schon!) Krankenversicherung geebnet. In Zukunft muss es bei
dem Wettbewerb aber nicht nur um die Beitragshöhe,
Uns allen ist bewusst, dass der gesetzlichen Kranken-
sondern auch um Qualität und Leistungen gehen. Damit
versicherung bereits im Jahr 2007 wieder rote Zahlen
leistet der Wettbewerb einen nachhaltigen Beitrag zur
drohen. Allein durch die Maßnahmen im Haushaltsbe-
Steigerung der Effizienz des Systems. Intransparente
gleitgesetz müssten die Beiträge um 0,5 Beitragssatz-
Strukturen werten Leistungsanstrengungen ab und beför-
punkte steigen. Handlungsbedarf ist also klar vorhanden.
dern mangelndes Kostenbewusstsein. Damit müssen wir
In den letzten Tagen ist viel darüber geschrieben wor- Schluss machen; denn diese Strukturen schwächen die
den, was man alles tun könnte, um die Probleme zu lö- Wahrnehmung der jeweiligen Verantwortung und behin-
sen: Ein Gesundheitssoli ist ins Gespräch gebracht wor- dern die Erschließung von Innovationen für die Patien-
den; es war die Rede von einem Dreisäulenmodell, bei ten. Unser Ziel muss sein, das Kostenbewusstsein zu
dem die Versicherten neben einem einkommensabhängi- schärfen und die Eigenverantwortung zu stärken.
gen auch einen Pauschalbeitrag leisten sollen, und man
Schließlich muss eine Reform auch den Anforderun-
hörte immer wieder, die private Krankenversicherung
gen der Globalisierung, den offenen Dienstleistungs-
solle am Finanzausgleich der Kassen beteiligt werden.
märkten und der gestiegenen Morbidität der Menschen
All diese Vorschläge sind mehr oder weniger gut geeig-
Rechnung tragen.
net, das Publikum zu unterhalten. Mit den Inhalten der
Reform haben sie aber nichts zu tun. Die Gespräche über Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte zu
die Reform werden von den Koalitionsspitzen erst mor- den Ärzteprotesten der vergangenen Tage sagen. Die
gen aufgenommen. Letztlich ist entscheidend, in wel- CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat Verständnis für die
chem Gesundheitssystem die Instrumente – sie sind alle Proteste der Ärzte. Die zentralen Forderungen nach einer
bekannt – zur Anwendung gelangen; denn danach be- angemessenen Honorierung mit festen Preisen und einer
misst sich ihre Wirkung. Entbürokratisierung der medizinischen Versorgung fin-
den unsere Zustimmung.
Der Union kommt es bei der anstehenden Reform
vor allem darauf an, dass von ihr Effekte für mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wachstum und Beschäftigung ausgehen. Das muss unser neten der SPD)
wichtigstes Ziel sein.
Wir haben bereits in den zurückliegenden Verhandlun-
(Beifall bei der CDU/CSU) gen zum GKV-Modernisierungsgesetz das Ende der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2185
Annette Widmann-Mauz
(A) Budgetierung und damit der fallenden Punktwerte Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
durchgesetzt. Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Frak-
tion Die Linke.
Allerdings ist es der Selbstverwaltung nicht gelungen,
die Vorarbeiten für die morbiditätsorientierten Regelleis- (Beifall bei der LINKEN)
tungsvolumina rechtzeitig abzuschließen. Daher wird
die Budgetierung noch nicht – wie es im Gesetzentwurf Frank Spieth (DIE LINKE):
formuliert wurde – zum Jahresende erfolgen können. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-
Der Union liegt ungeachtet dessen daran, dass Ärzte nisterin! Finanzminister Steinbrück hat in seiner heuti-
künftig nicht mehr das Morbiditätsrisiko tragen. Des- gen Einbringungsrede zum Bundeshaushalt 2006 ange-
halb wollen wir eine Honorierung der ärztlichen Leistun- kündigt, sich als Finanzpolitiker mit den Ausgaben der
gen mit festen Eurobeträgen. Denn wer Ärzten für ihre gesetzlichen Krankenversicherung verantwortungsvoll
schwierige und verantwortungsvolle Arbeit die dafür an- befassen zu wollen. Aus langjähriger Erfahrung weiß
gemessene Honorierung verweigert, der schadet der me- ich: Wenn sich Finanzpolitiker mit den sozialen Siche-
dizinischen Versorgung aller Patienten. rungssystemen befassen, muss man dies eher als eine
Kampfansage und Bedrohung empfinden denn als ein
(Beifall bei der CDU/CSU) sozial verträgliches Angebot zur Lösung der Probleme in
der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wir wollen darüber hinaus die Auflagen und Regle-
mentierungen, die zu mehr Bürokratie geführt haben, Mit der Erhöhung der Zuzahlung bei Arzneimitteln,
überprüfen und vor allen Dingen entschlacken. Die Vor- der Eintrittsgebühr bei Ärzten und Zahnärzten, der Erhö-
schläge der Bundesregierung für den Bürokratieabbau hung der Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten und
auch im Gesundheitswesen werden von uns nachdrück- Kuren, der Abschaffung des Zuschusses für Brillen, der
Abschaffung des Sterbegeldes und vielen weiteren Maß-
lich unterstützt. Frau Schmidt, da haben Sie unsere volle
nahmen haben Gesundheitsministerin Schmidt, Herr
Unterstützung, insbesondere was die Disease-Manage- Seehofer und die damals noch nicht existierende große
ment-Programme betrifft. Sie gehören auf den Prüf- Koalition massiv in das Leistungsangebot bei Krankheit
stand. Denn die aufwendigen Dokumentationspflichten eingeschnitten und versucht, über Kostendämpfung, also
sind erst aus der Verknüpfung mit dem Risikostruktur- auf der Ausgabenseite, die Probleme in den Griff zu be-
ausgleich entstanden. Wir wollen die Entkopplung von kommen. Die Krankengeldzahlung und der Zahnersatz
den Disease-Management-Programmen erreichen. sind zwar als Leistungen in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung verblieben, müssen aber von den Ar-
Ich denke, es wird deutlich, dass wir die Anliegen der beitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von den (D)
(B) Ärztinnen und Ärzte aufgreifen und dass wir hohen
Rentnerinnen und Rentnern alleine mit 0,9 Prozent Son-
Respekt vor ihrer verantwortungsvollen Aufgabe haben. derbeitrag finanziert werden. Vor diesem Hintergrund
Umgekehrt erwarten wir aber auch, dass die Proteste sage ich: Das Maß ist voll.
nicht auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten
ausgetragen werden. Wir haben kein Verständnis dafür, (Beifall bei der LINKEN)
wenn einzelne Ärzte zum Beispiel krebskranken Men- Kein weiterer Leistungsabbau und keine weiteren
schen, die teure Zytostatika benötigen, das Rezept mit Zuzahlungen mehr, jedenfalls nicht mit uns! Mit der bis-
dem Hinweis aushändigen, dieses Rezept müsse der Pa- herigen Politik wurden Arbeitslose, Sozialhilfeempfän-
tient künftig selbst bezahlen, falls es zu einer Bonus-Ma- ger, Geringverdiener und Rentner mit kleinen Renten
lus-Regelung komme. Dies ist aus unserer Sicht eine zum Teil von der Gesundheitsversorgung abgehängt.
nicht zu verantwortende Verunsicherung der Patientin- Aber die gesetzliche Krankenversicherung ist genau da-
nen und Patienten. für da, allen Menschen bei Krankheit die erforderlichen
und zweckmäßigen Leistungen zur Verfügung zu stellen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) unabhängig davon, wie viel Geld sie im Portemonnaie
haben.
Denn es steht noch überhaupt nicht fest, welche Wirk-
stoffe betroffen sein werden und ob die Bonus-Malus- (Beifall bei der LINKEN)
Regelung überhaupt zum Einsatz kommt, wenn die Wir haben es gemeinsam in der Hand. Wenn wir es
Selbstverwaltung vor Ort keine anderweitigen Vereinba- politisch wollen – ich sage Ihnen: viele Menschen in
rungen trifft. Mit einem solchen Verhalten wie auch mit Deutschland wollen dies –, dann können wir eine gesetz-
der Drohung der Rückgabe der KV-Zulassung schaden liche Krankenversicherung schaffen, die gesund und
sich die Ärzte selbst. nicht krank macht. Eine gesunde Krankenversicherung
ist machbar, wenn wir das eigentliche Problem anpa-
Ich hoffe, dass wir sehr bald zu einer sachlichen Dis- cken: das Einnahmeproblem.
kussion zurückkehren. Für die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion biete ich die Gesprächsbereitschaft an. Ich freue Die seit fast 30 Jahren bestehende Massenarbeitslo-
mich auf die Diskussionen über den Haushalt und eine sigkeit in Deutschland und die völlig verfehlten Rezepte
große Reform. zu ihrer Überwindung haben die Einnahmebasis der ge-
setzlichen Krankenversicherung nachhaltig beschädigt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Darüber hinaus gehen der gesetzlichen Krankenversi-
neten der SPD) cherung erhebliche Einnahmen verloren: durch ständige
2186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Frank Spieth
(A) Kürzungen der Beitragszahlungen für Arbeitslose, durch Zweitens. Für die Bezieher des Arbeitslosengeldes I (C)
den Verlust sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze und II werden, wie bis 1995, wieder Beiträge auf der
und die Zunahme von Minijobs, durch die stagnierenden Grundlage des ursprünglichen Bruttoentgeltes entrichtet.
Löhne und Gehälter, die Streichungen von Sonderzah- Außerdem unterbleibt die Absenkung der Sozialabgaben
lungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld und durch den für Hartz-IV-Empfänger.
Wechsel von gut Verdienenden zur privaten Krankenver-
sicherung. Drittens. Die Bundesregierung erhöht nicht, wie ge-
plant, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte auf
(Zuruf von der LINKEN: So ist es!) 19 Prozent, sondern reduziert sie für Medikamente auf
Der Einnahmeverlust der Krankenkassen wird jetzt 7 Prozent.
noch zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass Ren- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
tenerhöhungen seit 2004 faktisch unterblieben sind. Dies
trifft insbesondere Krankenkassen mit hohem Rentner- Mit diesen vertrauensbildenden Maßnahmen wäre in
anteil. diesem Hause eine offene Debatte über die Zukunft der
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
Angesichts dieser Tatsache ist es aus unserer Sicht ge- möglich.
radezu unverantwortlich, dass die Bundesregierung be-
absichtigt, die Einnahmen aus der erst im Jahre 2004 be- Wir benötigen eine solidarische und soziale Bürger-
schlossenen Erhöhung der Tabaksteuer – mit diesen versicherung, die einen umfassenden Gesundheitsschutz
Einnahmen sollten ja versicherungsfremde Leistungen gewährleistet. Dafür ist von jedem und jeder und von al-
wie solche rund um Schwangerschaft und Mutterschutz len Einkommensarten der gleiche prozentuale Beitrag zu
finanziert werden – im kommenden Jahr zum Teil und entrichten.
ab 2008 komplett zur Sanierung des Bundeshaushalts
einzukassieren. Das Vertrauen in die steuerliche Finan- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Und das über
zierung der nicht beitragsgedeckten Leistungen der die Steuer?)
Krankenkassen wird damit nachhaltig erschüttert. Nur so sind Solidarität und Gerechtigkeit zwischen Gut-
Die Absicht des Kollegen Lauterbach – ich vermute, und Geringverdienern und zwischen Gesunden und
das ist nicht nur seine persönliche Meinung –, für die Kranken zu gewährleisten.
Krankenversicherung der Kinder, die bisher beitrags- Schönen Dank.
frei mitversichert waren, eine Steuerfinanzierung einzu-
führen, hat vor diesem Hintergrund für die Finanzaus- (Beifall bei der LINKEN)
stattung der Krankenkassen und die Solidarität die
(B) Langzeitwirkung eines gefährlichen Blindgängers. Da- (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
durch wird eher die private Krankenversicherung ge- Das Wort hat nun die Kollegin Anja Hajduk,
stärkt. Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir haben volles Verständnis dafür, dass über die Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Krankenversicherung der Kinder und ihre Finanzierung Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
diskutiert und entschieden wird. Allerdings fragen wir nen und Kollegen! Frau Ministerin, wenn man sich die
Sie: Wo bleiben bei Ihren Vorschlägen die bisher bei- Zahlen ansieht, dann erkennt man einen dramatischen
tragsfrei mitversicherten Angehörigen? Millionen Absturz ab 2005. Ihr Haushalt 2005 umfasste 84 Milliar-
Frauen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, ver- den Euro, in diesem Jahr enthält er 4,5 Milliarden Euro,
schwinden in dieser Debatte gleichsam im Bermudadrei- im nächsten Jahr werden es noch 1,9 Milliarden Euro
eck. Für Frau Müller in Rostock, Frau Schmidt in Kon- sein und bis zum Ende der Legislaturperiode wird er auf
stanz, Frau Meier in Erfurt und Frau Schulz in 360 Millionen Euro heruntergefahren.
Saarbrücken gilt eines gleichermaßen: ohne Arbeit kein (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So sparen wir!)
Einkommen und ohne Einkommen keine eigene Kran-
kenversicherung. Man könnte ja denken: So stark sollten wir die Frau
Schmidt gar nicht entlasten. Jetzt geht das alles auf die
(Beifall bei der LINKEN –Elke Ferner [SPD]:
Schultern von Minister Müntefering. Ich will sagen: Bei
So ein Unsinn!)
der Beratung dieses Haushalts stellen wir hier eine große
Denn diese Frauen haben nicht, wie Frau Ackermann, Veränderung fest.
einen vermögenden Ehemann. Sie benötigen auch wei-
Eines einmal vorneweg: Es gibt die große Koalition
terhin den solidarischen Krankenversicherungsschutz
und die gewählte Kanzlerin Merkel hat natürlich die
der Versichertengemeinschaft. Das Vertrauen in die
Organisationshoheit. Sie kann sagen: Wir machen aus
Steuerfinanzierung könnte unserer Meinung nach rela-
ehemals zwei Ministerien drei, weil wir sie in der Koali-
tiv einfach hergestellt werden:
tion brauchen. Wir von der Opposition werden sehr ge-
Erstens. Die Bundesregierung hält an dem Vorhaben nau hinschauen, wie teuer der Spaß ist. Es gibt wirklich
der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus kein Pardon, wenn beim Personal, bei den Mieten, bei
der erhöhten Tabaksteuer fest und nutzt diese nicht zur den Umbauten und bei den Umsetzungen zu hohe Kos-
Sanierung des Haushalts. ten entstehen. Wir werden die Haushaltsseite sehr genau
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2187
Anja Hajduk
(A) unter die Lupe nehmen. Ich bin mir sicher, dass das die Der Haushaltsausschuss hat sich mit der Akzeptanz der (C)
Regierungskoalition natürlich auch tut. Bereitstellung der Steuergelder in Höhe von mehreren
Milliarden Euro schwer getan. Das war auch in meiner
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion durchaus ein Thema. Das will ich hier nicht
und bei der FDP – Volker Beck [Köln] leugnen. Wir haben uns aber eher darüber auseinander
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 19 Stellen bei gesetzt, dass die steuerliche Gegenfinanzierung nicht ge-
Herrn Müntefering!) sichert ist. Wir haben uns also nicht so sehr über die
– Auch bei Herrn Müntefering ist das sehr viel, jetzt sind grundsätzliche Steuerfinanzierung geärgert bzw. diese
wir aber bei Frau Schmidt, die auch 18 zusätzliche Stel- auch ausdrücklich nicht kritisiert.
len bekommen hat.
Wir haben eine Tabaksteuerreform durchgeführt,
Der zweite Punkt, der wirklich sehr wichtig ist und die nur zum Teil Erfolg hatte.
den ich ins Zentrum dieser Rede stellen will, ist die Ent-
(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Viel zu wenig!)
wicklung des Budgets von derzeit 4,5 Milliarden Euro
über zwei Jahre hinweg auf 360 Millionen Euro, also das Am Anfang hat sie auch aufgrund von Ausweichreaktio-
vollkommene Abschmelzen des steuerfinanzierten Bei- nen zu Mindereinnahmen geführt. Wir wissen heute,
trags für die versicherungsfremden Leistungen. dass wir etwas ausgelassen haben, nämlich die Besteue-
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto rung der so genannten Sticks. Erst durch eine Entschei-
Solms) dung des Europäischen Gerichtshofes lassen wir uns
jetzt endlich dazu treiben, hier zu einer vernünftigen
Das ist heute Morgen bei der Auseinandersetzung mit Ausweitung der Besteuerung zu kommen. Wir Grünen
Finanzminister Steinbrück schon Thema gewesen. Ich werden an dieser Stelle darauf drängen – das wird jetzt
finde, die große Koalition macht hier einen kapitalen ja wohl durch eine Verordnung geschehen –, dass die
Fehler. Sie legen den Rückwärtsgang ein. steuerlichen Ausnahmetatbestände dort beseitigt wer-
den. Das wird – ich will nicht zu optimistisch sein und
Frau Ministerin, ich finde es in Ordnung, dass Sie la- gleich mehr als 2 Milliarden Euro versprechen – viel-
chen, leicht zu 1 bis 1,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen füh-
(Ulla Schmidt, Bundesministerin: Ich habe ren. Solche steuerlichen Mehreinnahmen, die nicht
nicht gelacht!) zweckgebunden sind, sollten dazu dienen – ich sehe, Sie
nicken –, versicherungsfremde Leistungen im Gesund-
weil ich weiß, dass wir Ihre Position vielleicht eher un- heitsbereich zu finanzieren.
terstützen, ohne dass Sie jetzt reden oder mir laut ant-
(B) worten können; ich will nicht zu weit gehen. In einer Si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (D)
tuation in Deutschland, in der wir eine höhere des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])
Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leis-
Meine allerletzte Bemerkung zur Gesundheitsreform.
tungen brauchen, ist es ein kapitaler Fehler, hier den
Mir bleibt nicht die Zeit, darauf lange einzugehen, weil
Rückwärtsgang einzulegen und zu meinen, man
meine Redezeit eigentlich abgelaufen ist. Bei aller Un-
bräuchte einfach nur Druck aufs System auszuüben.
terstützung einer Finanzierung durch Steuermittel für die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) soziale Sicherung: Machen Sie nicht den kapitalen Feh-
ler, die Beiträge für Kinder aus Steuermitteln zu finan-
Ich will das begründen: Druck aufs System wollen zieren, solange es die Trennung von PKV und GKV
auch wir Grünen ausüben. Wir glauben, dass es noch Re- gibt.
formen auf der Angebotsseite bedarf. Ich will aber nicht
einfach nur so Druck auf eine große Koalition ausüben, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Warum?)
die sich dann im Zweifel nicht einigt. Wer zahlt dann
den Preis? Das sind die Menschen, die dann auf dem Be- Wir Grünen wollen einen gemeinsamen Markt. Wir
schäftigungsmarkt wegen zu hoher Lohnnebenkosten wollen keinen Schutzzaun um die PKV, sodass nur be-
schlechtere Chancen haben. Sie setzen sich unter einen stimmte Leute eintreten können. Wir wollen einen
Zeitdruck; denn die Gesundheitsreform soll nicht nur bis gleichberechtigten Zugang zu allen Kassen. Dafür muss
zum 1. Januar 2007 verabredet sein, sondern sie soll ab die PKV in einen gemeinsamen gesetzlichen Markt
dem 1. Januar 2007 finanziell greifen. Sie kürzen hier überführt werden. Dann können wir auch über andere
letztlich zulasten der Beschäftigungschancen. Das halten Dinge wie Steuerfinanzierung reden. An dieser Stelle
wir für einen grundsätzlichen Fehler. Nicht, weil wir den müssen Sie Acht geben.
Haushalt nicht in Ordnung bringen wollen, sondern weil
es Sinn macht, sind wir bereit, die Steuerfinanzierung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
versicherungsfremder Leistungen – sie sind ja auch defi- Frau Kollegin Hajduk, bitte kommen Sie zum
niert worden – auch im Gesundheitsbereich vorzuneh- Schluss.
men. Hier ist die große Koalition auf einem ganz fal-
schen Trip. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Schluss und freue mich auf die wei-
teren Haushaltsberatungen.
Ich möchte durchaus auch auf den Streit eingehen,
den wir im letzten Jahr im Haushaltsausschuss hatten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
2188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner von der SPD- der CDU/CSU)
Fraktion.
Zur Kollegin Hajduk möchte ich Folgendes sagen:
Hinsichtlich des Zuschusses – das haben wir im Haus-
Elke Ferner (SPD): haltsausschuss in den letzten drei Jahren miteinander
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es diskutieren können – kann ich mir zugute halten, dass
ist eben schon einiges zu der Frage der Einnahmeent- ich zu denjenigen gehört habe, die diesen Entschlie-
wicklung der Krankenversicherungen gesagt worden. ßungsantrag, den wir damals als Koalition beschlossen
Wir sehen, dass die Einnahmeentwicklung seit einigen haben, nicht wollten, dass nämlich der Zuschuss gekürzt
Jahren nicht mit der Ausgabenentwicklung Schritt hält. wird, wenn die Steuereinnahmen nicht hoch genug sind.
Das zieht eine Erhöhung der Versicherungsbeiträge nach Die Fraktion der Grünen war aber zusammen mit einigen
sich, die sowohl das verfügbare Einkommen der Versi- aus meiner Fraktion an dieser Stelle die treibende Kraft
cherten vermindert als auch den Faktor Arbeit zusätzlich gewesen.
belastet.
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ich sage aber auch zu den Debatten, die wir jetzt füh- Den Zuschuss zu kürzen? Nein, das ist falsch! –
ren müssen: Wer glaubt, man könne sich nur auf die Ein- Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU –
nahmesituation konzentrieren, springt zu kurz; denn wir Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
haben auch ein Problem auf der Ausgabenseite.
Insofern muss ich sagen, liebe Anja Hajduk: Es ist zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
kurz gesprungen, die Kürzung des Zuschusses aus den
CDU/CSU – Zuruf des Abg. Daniel Bahr
Einnahmen der Tabaksteuer zu beklagen und damals an
[Münster] [FDP])
dem Entschließungsantrag mitgewirkt zu haben.
– Wir können darüber gleich noch reden. Herr Platzeck
bestreitet das nicht, werter Kollege. Wenn Sie mir aber (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nicht glauben und das vertiefen wollen, können Sie Das ist eine Falschinformation! Das müssen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Sie belegen! Nehmen Sie das zurück!)

Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversiche- – Wenn dem so ist, dann nehme ich das zurück. Aber ich
rung bemessen sich an den sozialversicherungspflichti- habe das anders in Erinnerung.
gen Lohn- und Gehaltssummen der Pflichtversicherten
(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und den Beiträgen der freiwillig Versicherten. Der Anteil
Ich würde das sonst nicht behaupten!)
(B) dieser Einkommen am Gesamteinkommen geht aller- (D)
dings aus den verschiedensten Gründen zurück; auch Zur Ausgabenseite ist festzustellen, dass wir auch die
dazu ist schon einiges gesagt worden. Gleichzeitig steigt Strukturen effizienter machen müssen. Für das Gesund-
der Anteil anderer Einkünfte am gesamten Volkseinkom- heitswesen muss das gelten, was auch für alle anderen
men. Bereiche gilt: Mit dem vorhandenen Geld muss so ge-
Insofern sage ich: Es ist nicht einzusehen, dass immer wirtschaftet werden, dass ein verantwortungsvoller Um-
weniger die Beitragsbasis dafür liefern sollen, dass alle gang mit den Versichertenbeiträgen bei einer hohen me-
ein vernünftiges und funktionierendes Gesundheitssys- dizinischen Qualität gewährleistet ist.
tem dann vorfinden, wenn sie es brauchen. Was die Ärzteproteste angeht – für die ich in Teilen
(Beifall bei der SPD) Verständnis habe –, kann ich nicht nachvollziehen, dass
sich die Ärzteschaft lediglich die Politik als Sündenbock
Wir sind der Meinung, dass wir, wenn wir in Zukunft die ausgeguckt hat. Es mag zwar an der einen oder anderen
notwendige medizinische Versorgung für alle gewähr- Stelle Kritikpunkte geben, aber die Verteilung der Hono-
leisten wollen, dafür sorgen müssen, dass sich alle nach rare innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen auf
ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an die einzelnen Ärztegruppen wird ebenso wie die steigen-
den Kosten des Systems beteiligen. den Arzneimittelausgaben nicht thematisiert. Angesichts
Der Punkt Tabaksteuer und der damit verbundene der Tatsache, dass im vergangenen Jahr 3,8 Milliar-
Zuschuss zu den Krankenkassen sind schon diskutiert den Euro mehr für Arzneimittel als für ärztliche Hono-
worden. Wir als Gesundheitspolitiker und Gesundheits- rare ausgegeben wurden, sollte man sich vielleicht ein-
politikerinnen sehen das durchaus kritisch; da gibt es mal an die eigene Nase greifen. Denn wir Politiker grei-
überhaupt kein Vertun. Darüber werden wir mit Sicher- fen nicht zum Rezeptblock und verschreiben etwas, was
heit noch zu reden haben. Aber ein finanzpolitischer viel oder wenig Geld kostet; das machen die Ärzte. Des-
Amoklauf, wie er hier von der linken Seite des Hauses halb haben wir das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaft-
vorgeschlagen wird, kommt für uns ebenfalls nicht in- lichkeitsgesetz geschaffen.
frage. Mit den Forderungen nach weniger Steuern hier (Beifall bei der SPD)
und mehr Zuschüssen da im Gesundheitsbereich sowie
mehr Investitionen in den anderen Bereichen kämen wir Wer behauptet, es gäbe ein Arzneimittelbudget je Pra-
locker auf eine Verdoppelung des Volumens des Bundes- xis oder eine Mengenbegrenzung je Patient, der hat ent-
haushalts. Ein bisschen mehr finanzpolitische Seriosität weder das Gesetz nicht gelesen oder versucht bewusst,
hätte ich auf Ihrer Seite des Hauses schon erwartet. die Menschen zu verunsichern. Beides sieht das Gesetz
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2189
Elke Ferner
(A) nicht vor; es ist nicht beabsichtigt und es wird nicht ein- Ich möchte noch etwas zu den medizinischen Leis- (C)
geführt. tungen anmerken. Wir wollen, dass alle notwendigen
medizinischen Leistungen auf einem hohen Niveau ver-
(Beifall bei der SPD) fügbar sind, und zwar unabhängig davon, ob jemand
Insofern rate ich zu mehr Sachlichkeit, als sie derzeit ge- jung oder alt, Mann oder Frau ist, wie der individuelle
geben ist, wo alle nur mehr Geld für das Gesundheitssys- Gesundheitszustand aussieht, wie hoch das Einkommen
tem fordern, ohne zu sagen, wie die Mittel aufgebracht und in welcher Krankenkasse jemand versichert ist. Wir
werden sollen. Denn letztendlich müssten es die Versi- wollen auch, dass jeder einen Versicherungsschutz hat.
cherten tragen. Alle Forderungen zusammengerechnet Zu viele Menschen sind nicht mehr krankenversichert.
machen locker 1,5 bis 2 Beitragspunkte zusätzlich aus. Das ist ein wachsendes Problem in unserer Gesellschaft,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben in den nächsten Wochen auch über die Zu-
kunft des Gesundheitssystems zu diskutieren. Aus unse- das ebenfalls viele Ursachen hat. Es ist für uns ein wich-
rer Sicht muss das Gesundheitssystem in Zukunft auch tiger Punkt, den wir auch in der Koalitionsvereinbarung
weiterhin die notwendige medizinische Versorgung für festgehalten haben.
alle auf einem hohen Qualitätsniveau gewährleisten. Es
muss auch solidarischer finanziert werden und demogra- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
fiefest sein. Ich glaube, dass das Prinzip der Solidari- Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischen-
tät, wie wir es aus der gesetzlichen Krankenversiche- frage des Kollegen Seifert?
rung kennen, nicht gering zu schätzen ist. Es ist kein
marodes System.
Elke Ferner (SPD):
(Beifall bei der SPD) Gerne.
Die privaten Krankenversicherungen könnten die In-
frastruktur – auch die ärztliche Versorgung im ambulan- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ten Bereich – nicht ausreichend bereitstellen, wenn alles Herr Seifert, bitte.
über risikoabhängige Prämien finanziert werden müsste.
Das wissen Sie genauso gut wie ich. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Liebe Frau Kollegin Ferner, können Sie mir bitte ein-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mal erklären, warum Sie – genauso wie viele andere –
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zum x-ten Mal die falsche Behauptung verbreiten, dass
(B) Rechnen Sie doch einfach einmal die Honorare hoch! das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversiche- (D)
Wie viele Milliarden Euro mehr müssten in das Gesund- rung darauf beruhe, dass die Jungen für die Alten und
heitssystem fließen, um nur die bestehenden medizini- die Starken für die Schwachen einstünden? Denn bei der
schen Leistungen aufrechtzuerhalten, wenn für alle ge- gesetzlichen Krankenversicherung geht es ausschließlich
setzlich Versicherten die gleichen Honorare wie für die darum, dass die Gesunden für die Kranken einstehen.
jetzt privat Versicherten bezahlt werden müssten? Das Besondere an dieser Versicherung ist, dass nicht Alt
gegen Jung ausgespielt wird, sondern dass ausschließ-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Zig Milliar- lich diejenigen, die gesund sind – die Gesundheit ist
den! Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Wenn es quasi ihre Prämie –, diejenigen finanzieren, die krank
nicht marode ist, dann können wir es doch sind. Das ist doch etwas anderes als bei der Rentenversi-
auch lassen!) cherung. Dort geht es um das Verhältnis von Alt zu Jung.
Das sind die klassischen Fehlberechnungen, die wir von
Ihrer Fraktion schon kennen. Elke Ferner (SPD):
Herr Kollege Seifert, alles zusammen ist richtig. Na-
Ich glaube, das Prinzip, dass die Jungen für die Älte- türlich stehen die Gesunden für die Kranken ein. Aber
ren, die finanziell Starken für die Schwächeren und die auch die Jungen stehen für die Alten ein; denn ältere
Gesunden für die Kranken einstehen, ist nach wie vor Menschen haben einen höheren Bedarf an medizinischen
tragfähig. Fast 90 Prozent der Versicherten beteiligen Leistungen. Zudem sind die Ausgaben für die Älteren
sich an diesem System. höher und in der Regel sind die Beiträge, die die Älteren
zahlen, geringer. Natürlich stehen in der gesetzlichen
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Krankenversicherung auch diejenigen, die ein höheres
Machen wir 100 Prozent daraus!) Einkommen haben, für diejenigen ein, die ein niedrige-
Ich meine, dass wir auch weiterhin an einer soli- res Einkommen haben. Ich finde, das ist in Ordnung.
darischen Finanzierung festhalten müssen, die – wie ge- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
sagt – eine erweiterte Beitragsbasis erfordert und sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
vor allen Dingen am jeweiligen Einkommen orientiert
statt an einer Pro-Kopf-Berechnung. Insofern ist dem, Denn egal wie alt oder jung jemand ist und egal wie viel
was Matthias Platzeck gestern dargelegt hat, nichts hin- er oder sie verdient, niemand, der heute jung und gesund
zuzufügen. ist und gut verdient, ist davor gefeit, dass er schon mor-
gen oder übermorgen krank ist, möglicherweise nicht
(Beifall bei der SPD) mehr gut verdient und auf die Hilfe und die Solidarität
2190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Elke Ferner
(A) anderer angewiesen ist. Ich glaube, in der Sache sind wir haben nur hinweisenden Charakter, was die eigentliche (C)
uns einig. Aber Ihre Aussage, dass in der gesetzlichen Diagnose, die Krankheit, angeht. Wenn ich als Arzt
Krankenversicherung nur die Gesunden für die Kranken symptomatisch therapiere, also die Symptome behandle,
einstünden, ist sicherlich nicht richtig. ist dies ärztlich nur vertretbar, wenn ich weiß, dass die
Diagnose, die Krankheit, zum Tode führen wird. Das
Wir müssen darüber hinaus noch einmal über die Ver- heißt, ich kann dem Patienten das Leiden erleichtern,
teilung der Risiken diskutieren. Hier gibt es erhebliche zum Beispiel die Schmerzen nehmen. Wir nennen das
Unterschiede zwischen der GKV und der PKV, aber Palliativmedizin.
auch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Risiken in der Versichertenstruktur sind nicht nur im Welches sind die Symptome unseres Gesundheitssys-
Hinblick auf Alter und Einkommen, sondern auch im tems? Tausende von Ärzten sind in den vergangenen
Hinblick auf die Krankheitsbilder unterschiedlich ge- Wochen auf die Straße gegangen; am Freitag der letzten
wichtet. Auch über diesen Punkt werden wir diskutieren Woche waren es 30 000 hier in Berlin. Sie leiden unter
müssen. Bei der Hebung der Effizienzreserven im Sys- einer immer weiter wachsenden Last von Bürokratie. Sie
tem müssen wir uns anstrengen. Aber wir dürfen einen wissen nicht, ob die von ihnen erbrachte Leistung über-
Fehler nicht machen – das sage ich jedem, egal welcher haupt bezahlt werden wird, und sie wehren sich dagegen,
Fraktion er angehört –: Wenn wir beginnen, hier zu wa- Gehilfen einer staatlichen Rationierungspolitik zu wer-
ckeln, und auch nur vor einer Lobbygruppe einknicken, den – wie Ärztekammerpräsident Hoppe es formuliert
dann haben wir alle zusammen schon verloren. Ich wün- hat.
sche uns viel Rückgrat und Mut bei der bevorstehenden
Reform. (Beifall bei der FDP)

In der mir verbleibenden Zeit möchte ich noch einen Das Gesundheitssystem scheint unaufhaltbar immer
weiteren Punkt ansprechen. Die Kollegin von der FDP teurer zu werden. In wechselnder Reihenfolge wurden
hat darauf hingewiesen, dass Ulla Schmidt an dem mor- die verschiedenen Beteiligten in der Vergangenheit ver-
gigen Gespräch nicht teilnimmt. Die Situation ist, dass antwortlich gemacht, das heißt: zur Kasse gebeten, und
wir einen Teil des Koalitionsvertrages noch nicht ausver- werden dies wohl auch in der Zukunft; ich kann das
handelt haben. beurteilen. Einmal waren es die Krankenhäuser – mit
diagnosebezogenen Fallpauschalen und Budgetierun-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE gen –, dann waren es die Ärzte, denen ebenfalls Budgets
GRÜNEN]: Das merken Sie erst jetzt?) verordnet wurden, dann wurden die Patienten mit einer
Schon bei den ersten Gesprächen haben sich nur die Praxismaut, einer Gebühr von 10 Euro für das Betreten
einer ärztlichen Praxis, belegt.
(B) Spitzen der Parteien getroffen. (D)
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
NEN]: War bei den Koalitionsverhandlungen Das jüngste dieser Instrumente ist das „Arzneimittelver-
die Ministerin nicht dabei?) ordnungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz“. Es wird nicht zu
Ulla Schmidt wird bei den anstehenden Verhandlungen der beabsichtigten Kostenreduktion, sondern zu noch
auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielen; das ist ganz mehr Bürokratie und sicherlich auch zu einer erhebli-
normal. Aber es ist auch kein unnormaler Vorgang, dass chen Störung des Arzt-Patient-Verhältnisses führen.
bei den ersten Sondierungsgesprächen nur die Fraktions-
Bisher gab es bei den zahllosen Reformen der Vergan-
und Parteivorsitzenden miteinander reden.
genheit nur einen Gewinner: die ausufernde Bürokratie
Zum Abschluss wünsche ich uns, dass wir über die und die aus dem Misstrauen geborenen Kontrollinstru-
Frage, wie die Reform des Gesundheitssystems weiter- mente. Beide kosten Geld und verteuern das System.
gehen soll, gut diskutieren und hoffentlich zu belastba-
ren und nachhaltigen Ergebnissen kommen werden. Ich (Beifall bei der FDP)
freue mich auf die Diskussionen, insbesondere auf die Über Patienten und kranke Menschen wird schon lange
alternativen Konzepte von der linken und der rechten nicht mehr gesprochen. Es heißt inzwischen sogar „Ge-
Seite des Hauses. sundheitskasse“, nicht mehr „Krankenkasse“. Im Vor-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dergrund der Debatte steht immer das Geld, das nicht
reicht. So hören wir jetzt wieder die scheinmoralische
Rhetorik derer, die über eine Zweiklassenmedizin klagen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und damit eigentlich aussagen wollen, dass es noch
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konrad Schily von Menschen gebe, denen man in die Tasche greifen kann.
der FDP-Fraktion. Ziel dieser Rhetorik ist es, auf die so genannten Reichen
(Beifall bei der FDP) mit dem Finger zu zeigen, also auf die 10 Prozent privat
Versicherten, die oft bis zu 40 Prozent der Kosten in den
Praxen decken. Damit will man davon ablenken, dass
Dr. Konrad Schily (FDP):
man auch in den Taschen der gesetzlich Versicherten
Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine Damen und schon wieder herumfingert nach jedem Euro, der viel-
Herren! Es ist ein uralter ärztlicher Grundsatz, dass der leicht noch zu holen ist.
liebe Gott vor die Therapie die Diagnose gestellt hat. Die
Erkennung von Symptomen reicht da nicht. Symptome (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2191
Dr. Konrad Schily
(A) Das nennt sich dann „Gesundheitssoli“ und/oder „eine Versicherungsbürokratie; entweder gezielte Hilfen für (C)
pauschale Abgabe für jeden Einzelnen“. Dem Bürger diejenigen, die sich aus eigener Kraft keine Gesundheits-
wird also immer mehr Geld aus der Tasche gezogen – versorgung leisten können, oder eine Umverteilung nach
und dafür werden ihm die Leistungen auch noch ge- dem Gießkannenprinzip – mit den bekannten Ungerech-
kürzt! Das System ist so angelegt, dass die Einzelnen tigkeiten.
möglichst wenig mitmachen können und, mit Verlaub,
Die FDP steht für Freiheit, Solidarität, Eigenverant-
für dumm verkauft werden.
wortung und Wettbewerb. Nicht dieses Parlament und
(Beifall bei der FDP) keine Regierung, gleich welcher Couleur, sind die Ärzte
der Nation und sie haben kein Recht, unser Leben vor-
Die Einzelnen können nicht erkennen, was für Kosten
mundschaftlich zu gestalten.
sie verursachen, was also die ärztliche Behandlung kos-
tet und was sie für die hohe Bürokratie an die Kassen zu (Beifall bei der FDP)
zahlen haben. Ein Kostenbewusstsein der Einzelnen
kann sich so nicht herausbilden. Was den Einzelnen Diese Auffassung, auch wenn sie leider nicht häufig
bleibt, ist das ungute Gefühl, für relativ wenig Leistung Mehrheitsmeinung war, gehört zur vornehmsten Tradi-
immer mehr bezahlen zu dürfen. tion der europäischen Aufklärung.

(Beifall bei der FDP) Verabschieden wir uns von der alles durchdringenden
Bevormundung durch den Staat, hier besonders im Ge-
So weit die Symptome. sundheitswesen! Achten wir die freien Berufe und ver-
Und was ist die Diagnose? Es ist uns in Deutschland trauen wir der Individualentscheidung des Bürgers für
gelungen, ein System, das für 10 bis 15 Prozent der Be- seine Vorsorge und seine individuelle Lebensweise! Un-
völkerung entworfen wurde – nämlich für die, die sich sere Pflicht als Parlamentarier ist es, den Rahmen einer
aus eigener Kraft, gleich aus welchem Grund, nicht absi- freien Entwicklung zu schaffen und zu garantieren. Da-
chern können –, auf 90 Prozent der Bevölkerung auszu- mit würden die Mittel frei werden, um den Schwachen in
dehnen. Wir haben damit in großem Maßstabe nichts an- der Gesellschaft wirklich zu helfen. In einem freien Ge-
deres bewiesen, als dass der Staat den Bürgern nicht sundheitswesen ist Platz für Therapiefreiheit, für Zu-
mehr zurückgeben kann als das, was er ihnen zuvor ge- wendung dem wirklich Hilfsbedürftigen gegenüber.
nommen hat – und dies abzüglich der Kosten für die Bü- Nicht zuletzt wird es wieder Raum geben für ein Ver-
rokratie; Herr Koppelin hat das heute Morgen bereits ge- trauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut, ohne
sagt. Wir haben weiter bewiesen, dass unfreie das – auch dies gehört zum gesicherten Kernbestand un-
bürokratische Systeme weder sozial noch effektiv noch seres Wissens – eine Heilung zwar nicht unmöglich, aber
(B) kostengünstig sind, sehr erschwert wird. (D)
(Beifall bei der FDP) Zurück zum Anfang: Vor der Therapie kommt die
Diagnose. Ich hoffe, die Koalition bringt den Mut zur
dass sie den Bürger zu entmündigen trachten und seine ehrlichen Diagnose auf und wird sich nicht als Kurpfu-
freie Entscheidung durch staatliche Maßregeln ersetzen. scher betätigen, der versucht, sich mit symptomatischer
Verehrte Kollegen, insbesondere von der CDU/CSU, Behandlung über die Zeit zu retten.
bevor Sie zustimmen, dieses Zwangskollektiv auf Ich danke Ihnen.
100 Prozent auszudehnen,
(Anhaltender Beifall bei der FDP)
(Zuruf von der LINKEN: Oje, oje!)
erinnern Sie sich an die Väter der sozialen Marktwirt- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
schaft und bedenken Sie, dass Wohlstand und sozialer Herr Kollege Schily, ich gratuliere Ihnen im Namen
Zusammenhang in gegliederten und freien Systemen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
entstehen und nicht in staatlichen Großbürokratien. Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
(Beifall bei der FDP) (Beifall – Dr. Konrad Schily [FDP]: Danke!)
Der Staat kann nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von
Eines muss klar sein: Die Richtungsentscheidung, die der CDU/CSU-Fraktion.
ansteht, heißt: entweder freie Berufe im Gesundheitswe- (Beifall bei der CDU/CSU)
sen oder staatliche Erfüllungsorgane;
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Norbert Barthle (CDU/CSU):
Freie Berufe mit geregelten Einkommen! Wie Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
ist das mit dem Einkommen? Soll das gesetz- Damen und Herren! Verehrte Frau Ministerin! Herr Kol-
lich abgesichert werden?) lege Schily, auch ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Jungfern-
rede, wenngleich ich gestehen will, dass mir dieser Be-
entweder freie, eigenverantwortliche Bürger oder deren
griff aus Respekt vor Ihrer Person und Ihrem Lebensalter
Gängelung – unter dem Deckmantel der Fürsorge und
nur schwer über die Lippen geht. Aber dennoch: Ich gra-
der Solidarität – durch Gesetze, Verordnungen und Maß-
tuliere von Herzen.
regeln; entweder eine Preisbildung zwischen überschau-
baren Versichertengemeinschaften oder eine staatliche (Heiterkeit)
2192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Norbert Barthle
(A) In einem haben Sie Recht: Die anstehende Gesund- hingewiesen: Von den 4,5 Milliarden Euro sind 4,2 Mil- (C)
heitsreform erfordert von uns allen, den Spagat zwischen liarden Euro durchlaufender Posten. Es verbleiben be-
Markt und Menschlichkeit zu leisten. Ich darf Ihnen ver- scheidene 381 Millionen Euro. Das ist wahrlich ein klei-
sichern: Wir von der großen Koalition werden es schaf- ner, aber feiner Etat. Wir Haushälter stehen im Zuge der
fen, eine Reform zu machen, die Markt und Menschlich- notwendigen Haushaltskonsolidierung zu dem Be-
keit unter einem Vorzeichen vereinigt. schluss, den Zuschuss an die gesetzliche Krankenver-
sicherung von 1,5 Milliarden Euro in 2007 auf 0 Euro in
(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin
2008 zurückzuführen, auch wenn wir wissen, dass der
[FDP]: Ohne Seehofer, bitte!)
GKV aufgrund der Zusatzkosten durch die Erhöhung der
Wir müssen an dieser Stelle aber auch ehrlich sein. Ver- Mehrwertsteuer ein Defizit von 5 Milliarden Euro droht.
ehrte Frau Ministerin, wenn wir auf die vergangenen Das entspricht immerhin einem halben Beitragssatz-
Jahre zurückblicken, auch die vor Ihrer Regierungszeit, punkt. Man kann schon sagen: Auch aufgrund dieser
dann stellen wir fest, dass unter immer größerer öffentli- Tatsache erhöht sich der Druck, eine Reform durchzu-
cher Begleitmusik mehrfach reformiert wurde. Viele der führen, ganz von selbst; denn eine Erhöhung der Bei-
Reformen haben sich mit dem Attribut „groß“ geziert, träge ist ausgeschlossen.
ohne auch nur mittelfristig, geschweige denn langfristig
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz die Auffassung
eine wirklich nachhaltige Besserung zu erzielen. Des-
der Haushälter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum
halb wird es Aufgabe der großen Koalition sein, die
Ausdruck bringen. Wir Haushalts- und Finanzpolitiker
wirklich notwendige Neuorientierung für die kommen-
vertrauen auf unsere politische Führung und auf unsere
den Jahre in Gang zu bringen. Das ist die große Heraus-
Fachpolitiker, wenn es darum geht, einen Kompromiss
forderung.
zu finden. Wir bitten aber eindringlich, dabei einen ord-
Deshalb erfüllt es mich mit Zuversicht, dass sich Bun- nungspolitischen Grundsatz nicht aus den Augen zu ver-
deskanzlerin Angela Merkel mit der Ministerin getroffen lieren: Mehr Geld für das System ohne echte strukturelle
hat und in dieser Woche die Koalitionsspitzen zusam- Reformen im System kann es nicht geben. Ich zitiere,
mentreten. Herr Müntefering, selbst wenn es etwas län- was der Bundesfinanzminister heute Vormittag in seiner
ger dauern sollte, aus den recht unterschiedlichen Kon- Einbringungsrede gesagt hat:
zepten einen zukunftsfähigen Wurf zu basteln, so sage
Das heißt, wir unterlassen … alles, was der kon-
ich Ihnen: Nehmen Sie sich die Zeit! Das Motto der gro-
junkturellen Aufhellung schaden könnte.
ßen Koalition lautet: Qualität geht vor Geschwindig-
keit. – Das muss unser Markenzeichen sein. Daran soll- Wir dürfen also keinesfalls den bequemen Weg beschrei-
ten wir uns halten. ten, nur die Einnahmeseite der GKV zu verbessern. Dies
(B) würde die Probleme der laufenden Kostensteigerungen (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
weder mittel- noch langfristig lösen, sondern letztlich
neten der SPD)
nur die Abgabenlast der Bürgerinnen und Bürger erhö-
Ich kann als CDU-Abgeordneter aus Baden-Württem- hen.
berg sagen: Die Landtagswahlen sind vorüber und wir
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
sind mit dem Ergebnis höchst zufrieden. Also: Ran ans
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Werk! Es stehen neue Themen an.
NEN)
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Deshalb muss sich die Reform zunächst aus eigenen
Sie haben aber Stimmen verloren!)
Mitteln und ohne zusätzliche Einnahmen finanzieren.
Schauen wir uns den Einzelplan 15 genauer an, so Eine Finanzierung aus Steuermitteln kommt nur dann in-
fällt mir als Haushälter gleich eine kleine Besonderheit frage, wenn echte, weitreichende Strukturreformen ge-
auf. Obwohl das Bundesgesundheitsministerium nach lingen. Das wird die Aufgabe der Kolleginnen und Kol-
der Trennung vom Bereich Arbeit und Soziales wieder legen sein. Ich bin zuversichtlich, dass sie dies auch
seinen alten Zuschnitt aus der Zeit vor 2002 aufweist, schaffen.
haben sich doch – die Kollegin Hajduk hat darauf auf-
Leitlinie dabei ist: mehr Wettbewerb, mehr Transpa-
merksam gemacht – die Stellen im Leitungsbereich er-
heblich vermehrt. Obwohl das Bundesfinanzministerium renz sowie die Entkopplung der Beiträge von den Löh-
dazu seinen Segen erteilt hat, schauen wir Haushälter der nen. Das sind die grundlegenden Voraussetzungen dieser
großen Koalition sehr sorgsam auf diesen Aspekt. Reform. Wir alle wissen: Im Gesundheitswesen liegen
große Beschäftigungspotenziale. Gerade der Gesund-
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heitsbereich ist ein Sektor, mit dem viele Menschen im
Ich nehme Sie beim Wort!) Lande ihr höchstes Gut verbinden, nämlich die Gesund-
heit. Sie ist allen viel wert. Nebenbei bemerkt: Gesund-
– Ich darf Ihnen versichern, Frau Kollegin: Wir schauen
heit und Wellness sind absolut trendy.
darauf. Dafür brauchen wir die Grünen nicht.
Im Übrigen haben wir Haushälter der Koalition uns
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein,
bemüht, im Rahmen der Berichterstattergespräche, die
das weiß ich! Sie sind da selbstständig!)
bereits stattgefunden haben, die aktuellen Herausforde-
Wie groß die Notwendigkeit einer umfassenden Ge- rungen anzunehmen. Wir sind bereit, Frau Ministerin,
sundheitsreform ist, zeigt ein Blick auf das Gesamtvolu- nach entsprechenden Mitteln zu suchen, um die Aidsbe-
men des Haushalts. Frau Ministerin hat bereits darauf kämpfung intensivieren zu können. Wir sehen bei der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2193
Norbert Barthle
(A) Prävention auch insgesamt Handlungsbedarf und wollen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
nach entsprechenden Ressourcen suchen, um dort mehr Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger-Neuling
tun zu können. von der Fraktion Die Linke.
Dass die nachgeordneten Institute, die ich ebenfalls (Beifall bei der LINKEN)
erwähnen möchte, eine große Bedeutung haben, zeigt
die aktuelle Entwicklung: Bei dem Titel „Beschaffung Inge Höger-Neuling (DIE LINKE):
von Impfstoffen“ und im Haushalt des Robert-Koch-In- Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
stituts – Stichwörter „Vogelgrippe“ und „Gefährdung
durch sonstige globalisierte Seuchen“ – sehen wir even- „Herr Doktor, ich verdurste!“ Eine ständig bettläge-
tuell Mehrbedarf. Wir werden im Verlauf der anstehen- rige Patientin empfängt mich mit diesen Worten.
den Beratungen nach Möglichkeiten zur Gegenfinanzie- Ihre Zunge ist trocken, die Lippen rissig, Klingel
rung suchen. Auch da braucht es nicht der Hilfe der und Flüssigkeit außer Reichweite. Bei meinen
Opposition, Frau Kollegin Winterstein. Die Öffentlich- nächsten Besuchen keine Änderungen! Reaktion
keitsarbeit haben wir da selbst im Blick. der Heimleitung: „Wir haben kein Geld für mehr
Personal.“
Neben dem Robert-Koch-Institut will ich auch das
Paul-Ehrlich-Institut positiv erwähnen. Gerade im Be- Dies ist eine Passage aus der Zuschrift eines Arztes,
reich der Krankheitskontrolle und der Prävention auf der Patientinnen und Patienten in Pflegeheimen betreut.
dem Gebiet der Epidemiologie leistet dieses Institut her- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Aus der ehema-
vorragende Arbeit. Das Paul-Ehrlich-Institut befasst sich ligen DDR, oder wie?)
mit der Zulassung und der staatlichen Chargenprüfung
von Seren, von Impfstoffen und Ähnlichem. Die Vorfälle Es ist ein hilfloser, wütender Aufschrei, aber ein ganz
in London beim Test eines deutschen Medikaments ge- normaler Fall von Vernachlässigung in Pflegeheimen.
gen multiple Sklerose zeigen, wie unverzichtbar diese „Pflegende können an vielen Stellen den ethischen
Aufgabe ist. Konflikt zwischen dem professionellen Anspruch und
dem, was das System heute bereit ist zu finanzieren,
Auch das Deutsche Institut für Medizinische Doku-
kaum noch auflösen“, sagt die Bundeskonferenz der
mentation und Information sowie das Bundesinstitut für
Pflegeorganisationen.
Arzneimittel und Medizinprodukte erfüllen wichtige
Aufgaben. Das sehen wir durchaus. Im Bereich der Bun- Fakt ist: Der Pflegenotstand in diesem Land wächst
(B) deszentrale für gesundheitliche Aufklärung findet vieles ständig. Das sagt auch ein Gutachten des Landespfle- (D)
statt, was mit Prävention, mit Vorsorge, zu tun hat. Da geausschusses Nordrhein-Westfalen. Ich zitiere: Es
sehen wir noch weitere Potenziale für Synergien mit Ih- „lässt sich folgern, dass spürbare Qualitätsverbesserun-
rem Haus, Frau Ministerin. Ihr Haus muss natürlich die gen eine Erhöhung des Leistungsumfangs und damit
Kontrollfunktion und die Lenkungsfunktion ausüben. eine bessere Personalausstattung voraussetzen“.
Dass der dafür notwendige Personalbestand vorhanden
Auf den Punkt gebracht: Wir schulden den alten und
sein muss, sehen wir. Es wird eine Herausforderung für kranken Menschen etwas. Sie brauchen mehr Personal.
die kommenden Wochen sein, einen entsprechenden Sie brauchen besser ausgebildetes Personal. Wir brau-
Ausgleich auch mit den nachgeordneten Behörden her- chen mehr Geld für die Pflege.
zustellen.
Den ganzen Tag schon haben wir uns Reden über
Ich will zusammenfassen: Im Gesundheitsbereich Geld angehört. Auch ich rede hier über Geld, über Geld,
steckt viel Potenzial für Beschäftigung, für zusätzliche das nicht ausgegeben, über Geld, das nicht eingenom-
Arbeitsplätze. Es ist ein heiß umkämpfter Markt mit men wird, weil diese schwarz-rote Regierung genau wie
starken Interessengruppen. Jeder, der einmal Gesund- ihre rot-grüne Vorgängerin ihre Hausaufgaben nicht
heitsminister war – Ihr Vorgänger weiß das wie Sie, Frau macht.
Ministerin –, kann ein Lied davon singen, wie hart die
Auseinandersetzungen sind. Wir drücken Ihnen für die In den vergangenen Jahren gab es wenigstens ein Mo-
anstehenden Verhandlungen die Daumen und sind über- dellprogramm zur Verbesserung der häuslichen Versor-
zeugt: Es wird zu guten Lösungen kommen, immer in gung Pflegebedürftiger. Das läuft nun aus. Aus dem Etat
dem Sinne: Im Zentrum all unseres Interesses steht einer des Gesundheitsministeriums wird nichts, aber auch gar
nichts zur Verbesserung der Pflegesituation gefördert.
und das ist der Patient, der Mensch.
Verbesserungen im Bereich der Demenzerkrankungen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind nur Gegenstand von Verkündungspolitik.
neten der SPD) Es ist auch heuchlerisch, wenn Staatssekretärin
Für die Menschen machen wir unsere Politik. Dafür gilt Caspers-Merk darauf hinweist, dass immer mehr Men-
es, Lösungen zu finden. schen in Heime eingewiesen werden, die es eigentlich
gar nicht nötig hätten. Da mag das CDU-regierte Land
Herzlichen Dank. Baden-Württemberg in einem aktuellen Bundesrats-
antrag noch so deutlich schreiben: „Handlungsbedarf be-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) steht deswegen derzeit in allen Leistungsbereichen der
2194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Inge Höger-Neuling
(A) Pflegeversicherung, vorrangig im ambulanten Be- Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
reich“ – NEN):
(Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, vor gut drei Wochen haben Sie uns offiziell
die schwarz-rote Koalition hier im Bundestag hört ein- bestätigt, dass die Pflegeversicherung im Jahr 2005 ein
fach nicht hin. Defizit von 360 Millionen Euro geschrieben hat. Ange-
sichts dieser Zahlen bestreitet wohl niemand ernsthaft,
Die Koalition hört nur dem ständigen Jammern der dass die Pflegeversicherung reformiert werden muss,
Arbeitgeber zu. Sie will den Kahlschlag bei den Sozial- und zwar dringend.
versicherungen fortsetzen. Dabei leiden gerade die klei-
nen Betriebe stärker unter den Kaufkraftverlusten in- (Hilde Mattheis [SPD]: Wir auch nicht!)
folge ihrer Politik als unter den so genannten
Lohnnebenkosten oder – so heißen sie neuerdings – In welche Richtung das Ganze aber gehen soll, da schei-
Lohnzusatzkosten. den sich die Geister,

Wir Linken im Bundestag wollen eine grundlegende (Hilde Mattheis [SPD]: Stimmt nicht!)
Reform der Kranken- und Pflegeversicherung. Wir übrigens auch zwischen CDU, CSU und SPD. Einig,
brauchen ein Ende des Teilkaskoprinzips in der Pflege. verehrte Kolleginnen und Kollegen, scheinen Sie sich je-
Wir brauchen eine Versicherung, die alles Notwendige denfalls nicht zu sein, sonst hätten wir schon längst et-
übernimmt. Die Menschen brauchen sachgerechte was Konkretes gehört.
Dienstleistungen.
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer soll das Auch weiterhin wird die Pflegeversicherung nur eine
bezahlen?) Teilkaskoversicherung sein, also nur einen Teil des Pfle-
– Dazu, wer das bezahlen soll, komme ich noch. – Alle gerisikos abdecken. Umso wichtiger ist eine gute und
müssen die Pflege bekommen, die sie brauchen. menschenwürdige Pflege. Sie ist finanziell und struktu-
rell eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben unserer Ge-
Dazu müssen alle in die gesetzliche Kranken- und sellschaft.
Pflegeversicherung einzahlen: Vermieter genauso wie
Aktienbesitzerinnen bzw. Aktienbesitzer, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN) Wir können diese Aufgabe nur schultern, wenn die Pfle-
geversicherung ein System der Unterstützung und der
(B) Selbstständige genauso wie Menschen mit Vermögen, Solidarität im besten Sinne bietet. Herr Minister (D)
und zwar ohne Beitragsbemessungsgrenze, ohne Versi- Steinbrück hat dies in seiner Rede heute Morgen selbst
cherungspflichtgrenze. auf den Punkt gebracht: Die Lasten der demografischen
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Also eine Entwicklung müssen solidarisch getragen werden. – Da
Steuer!) hat er vollkommen Recht.

Niemand soll sich aus der Solidargemeinschaft verab- Eine gelungene Pflegereform muss daher im Kern
schieden können. zwei Anforderungen erfüllen:

(Beifall bei der LINKEN) Erstens. Die Pflegeversicherung muss sich künftig
viel mehr als heute an den Bedürfnissen der Pflegebe-
Die sozialen Sicherungssysteme haben auch Kosten- dürftigen und ihrer Angehörigen orientieren. Das bedeu-
probleme; aber diese Probleme sind unverhältnismäßig tet konkret, dass wir Leistungs- und Qualitätsverbesse-
geringer als die Einnahmeprobleme. Wir haben gravie- rungen brauchen. Das heißt etwa Neudefinition des
rende Einnahmeprobleme sowohl in der gesetzlichen Pflegebegriffs, mehr Prävention und Reha, Case-
Kranken- und Pflegeversicherung als auch in den ande- Management, also bedarfsgerechte Einzelfallbetreuung,
ren Solidarsystemen. und bessere Förderung alternativer neuer Wohnformen,
um hier nur einige Punkte zu nennen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Zweitens. Die Finanzierung der Pflegeversicherung
Die Linke fordert Würde für Alte und Kranke. Wir
muss nachhaltig, generationengerecht, vor allem aber so-
fordern sachgerechte Leistungen und mehr Personal so-
zial ausgewogen sein. Im Kern muss die Pflegeversiche-
wohl für die stationäre als auch für die ambulante Pflege.
rung deshalb ein Solidarsystem bleiben.
Wir sind an der Seite der Beschäftigten in den Kliniken
und an der Seite der Ärzte, die für mehr Qualität in der Die große Koalition sollte endlich Mut zur Ehrlich-
Medizin und in der Pflege kämpfen. keit zeigen. Es gibt nämlich zwei Alternativen: Zum ei-
nen wird es bereits kurzfristig mehr Geld kosten, wenn
(Beifall bei der LINKEN)
nur das heutige Leistungsniveau der Pflegeversicherung
gehalten werden soll, erst recht bei einer Ausweitung der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Leistungen. Zum anderen müssen Leistungen gekürzt
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth werden, wenn nicht mehr Geld fließen soll. So einfach
Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen. ist das. Nennen Sie das Kind doch endlich beim Namen!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2195
Elisabeth Scharfenberg
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Bürgerinnen und Bürgern liegt dieses Thema (C)
und bei der LINKEN) nämlich gewaltig auf der Seele. Werden die Beitrags-
sätze steigen? Wenn ja, was bekommen sie an Leistun-
Kurzum, meine Damen und Herren, eine Pflege-
gen dafür? Droht etwa eine Kopfprämie, getarnt als
reform verdient erst dann ihren Namen, wenn sie eine
Demografiereserve, die die sozial Schwachen mehr be-
Finanz- und eine Strukturreform beinhaltet. Im Koali-
lasten wird als die Starken? Müssen wir bald mit weni-
tionsvertrag von Union und SPD finden wir vollmundige
ger Pflegeleistungen rechnen? Was heißt das konkret für
Ansagen zur Pflegeversicherung. Da ist die Rede von
demenzkranke oder behinderte Menschen?
kapitalgedeckten Elementen als Demografiereserve,
Finanzausgleich zwischen privater und sozialer Pflege- Das sind zentrale Fragen, die die Betroffenen schon
versicherung, Leistungsverbesserungen für Demenz- lange stellen, Fragen, die Sie hier und heute beantworten
kranke, Bürokratieabbau usw. sollten. Denn darauf warten die Betroffenen und nicht
nur wir im Parlament.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Eine ganze Menge
schon!) Vielen Dank.
Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie das konkret aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sehen soll – wahrscheinlich nicht weniger gespannt als
die Abgeordneten der großen Koalition selbst. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Besonders optimistisch bin ich nicht. Eines ist näm- Frau Kollegin Scharfenberg, auch Ihnen gratuliere ich
lich verdächtig. Da steht zwar, dass die Koalition bis im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
zum Sommer 2006 ein – ich zitiere – „Gesetz zur Siche- Deutschen Bundestag.
rung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung der (Beifall)
Pflegeversicherung“ vorlegen will. Hier ist aber nur von
der Finanzierung die Rede. Außerdem haben Sie im Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der
Koalitionsvertrag den Absatz zur Finanzierungsseite fein SPD-Fraktion.
säuberlich vom Absatz zur Leistungsseite getrennt. Im
Hinblick auf die Leistungsseite ist kein Wort von einem Jella Teuchner (SPD):
Zeitplan, geschweige denn von einem Gesetzentwurf zu Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
finden. Wenn wir heute den Haushalt des Bundesministeriums
Dass diese Reform kommt, glaube ich erst – das muss für Gesundheit diskutieren, dann wird deutlich, dass Ge-
ich leider sagen –, wenn der Gesetzentwurf auf meinem sundheitspolitik mehr ist als die Finanzierung der gesetz-
(B) Schreibtisch liegt. Als nämlich Frau Ministerin Schmidt lichen Krankenversicherung. Sicher, der Einzelplan 15 (D)
am 9. März das erwähnte Defizit bekannt gab, ließ sie in ist in seinem Volumen geprägt von den Zuschüssen an
der Pressemitteilung verlauten – ich zitiere –: die Krankenkassen für versicherungsfremde Leistun-
gen. Daneben gibt es aber noch eine Reihe von Aufga-
Wir ben, die wir auf hohem Niveau weiterfinanzieren und bei
– also die große Koalition – denen wir Schwerpunkte setzen.

werden bis 2007 dafür sorgen, dass die Pflegeversi- Wir werden – ich denke, das ist uns allen klar – in den
cherung ... an neue Herausforderungen angepasst nächsten Wochen Gesundheitspolitik vor allem in Bezug
und ihre Finanzierung für die Zukunft nachhaltig auf die Frage diskutieren, wie wir die gesetzliche Kran-
gesichert wird. kenversicherung auf ein gesundes Fundament stellen.
Wir dürfen aber nicht übersehen, dass wir abseits dieser
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Es sind doch nur Frage weitere Aufgaben haben, die bei den Beratungen
noch neun Monate!) über den Haushalt des Gesundheitsministeriums im Mit-
telpunkt stehen.
Bis 2007: Das muss man sich einmal auf der Zunge zer-
gehen lassen. Wir werden im Bereich der Prävention vor allem über
die Aidsprävention reden müssen. Auch wenn der neue
Für mich heißt das doch nichts anderes, als dass sich
Spot mit Boris Becker das Thema wieder auf die Titel-
die große Koalition bereits wenige Wochen nach ihren
seiten der Tageszeitungen gebracht hat: Das Bewusst-
Versprechungen im Koalitionsvertrag diese Reform im
sein, sich vor einer Ansteckung schützen zu müssen und
vorgesehenen Zeitraum schon nicht mehr zutraut; sie
zu können, nimmt ab. Für viele ist Aids einfach kein
wird auf die lange Bank geschoben. Das ist nun wirklich
Thema mehr, obwohl die Zahl der Neuinfektionen wie-
das Letzte, was die Pflegeversicherung gebrauchen
der steigt. Nach Angaben des RKI – das hat die Frau Mi-
kann.
nisterin schon ausgeführt – ist die geschätzte Zahl der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Neuinfektionen in Deutschland von circa 2 000 in den
vergangenen Jahren auf circa 2 600 im Jahr 2005 ange-
Ich erinnere noch einmal an die heutige Rede von
stiegen. Das bedeutet eine Zunahme von 30 Prozent.
Herrn Minister Steinbrück. Er hat eindeutig sein massi-
Dem müssen wir begegnen; dem trägt auch der Haushalt
ves Interesse an der Gesundheitsreform bekundet. Diese
Rechnung.
Leidenschaft fordere ich von Ihnen, Frau Schmidt, für
die Pflegereform ein. Verschieben Sie dieses Projekt Wir werden im Zuge der parlamentarischen Beratun-
nicht! Worauf warten Sie noch? gen die Frage prüfen, ob die Mittel erhöht werden
2196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jella Teuchner
(A) können. Sicher ist aber schon jetzt: Die Mittel werden Wir müssen auch im Auge behalten, welche Auswir- (C)
auf dem Niveau von 2005 fortgeschrieben. Auch in Zu- kungen finanzpolitische Entscheidungen an anderer
kunft wird der Bund die notwendigen Aidspräventionen Stelle haben. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer bei
finanzieren. den Arzneimitteln widerspricht dem Ziel, das wir zum
Beispiel mit dem gerade verabschiedeten AVWG verfol-
Prävention ist aber auch Suchtprävention. Hier set- gen. Wir machen die Arzneimittel teurer und sorgen da-
zen wir unser Engagement fort. Wir fördern weiterhin mit für höhere Kosten bei den Krankenkassen. Wir soll-
Aufklärungskampagnen und Modellprojekte. Wir müs- ten noch einmal darüber diskutieren, ob der ermäßigte
sen allerdings darüber diskutieren, wie wir diese Maß- Mehrwertsteuersatz auch für Arzneimittel sinnvoll wäre.
nahmen langfristig absichern. Wir sehen, dass zum Bei-
spiel die Mittel aus der Alkopopsteuer wegfallen. Es ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
ein Erfolg – da sind wir uns sicher einig –, dass die Al- FDP)
kopops vom Markt für Jugendliche praktisch ver- Wie gesagt, das sind Fragen, die sich für die nächsten
schwunden sind. Das heißt allerdings auch, dass keine Haushalte stellen. Heute bringen wir den Haushalt für
Mittel für Maßnahmen zur Suchtprävention fließen. 2006 ein. Mit dem Haushalt des Bundesministeriums für
Auch die Zuschüsse der Zigarettenindustrie zur Sucht- Gesundheit führen wir die gerade in der Prävention er-
prävention werden in naher Zukunft wegfallen. folgreichen Projekte fort. Das ist notwendig. Ich denke,
Für den Haushalt bedeutet dies ganz klar: Wir wollen wir sind hier auf dem richtigen Weg.
die erfolgreiche Suchtprävention fortführen. Das müssen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wir im Haushalt berücksichtigen. Wir brauchen Mittel, der CDU/CSU)
die nicht davon abhängen, ob eine bestimmte Steuer
oder Abgabe auch fließt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Als letztem Redner des heutigen Tages gebe ich das
der CDU/CSU) Wort dem Kollegen Jens Spahn.
Der Gesundheitshaushalt spiegelt wider, dass die Not- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wendigkeit einer Pandemievorsorge erkannt wird. Die neten der SPD)
Vogelgrippe ist in Europa angekommen. Bisher ist es
eine Tierkrankheit, die zwar vom Tier auf den Men- Jens Spahn (CDU/CSU):
schen, aber nicht vom Menschen auf den Menschen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir füh-
(B) übertragen werden kann. Es gibt also keinen Grund, in ren diese Debatte – aktueller können wir kaum sein – in (D)
Panik auszubrechen und eine neue Spanische Grippe he- spannenden Zeiten. Natürlich ist das Ergebnis, über das
raufzubeschwören. Es ist aber notwendig, Vorsorge zu in den nächsten Tagen und Wochen verhandelt wird, un-
treffen. Für den Haushalt bedeutet dies, dass wir Geld klar. Nichtsdestotrotz ist die Ausgangslage klar – ich
für die Vorbereitung eines Influenzaimpfstoffes bereit- stimme dem Kollegen Schily zu; wir müssen erst einmal
stellen. In den Beratungen werden wir prüfen müssen, ob eine Diagnose stellen –: Zum einen geht es um die Fi-
dies ausreicht und wie wir gegebenenfalls zusätzliche nanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung.
Mittel bereitstellen können. Wir haben aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit eine ero-
dierende Einnahmesituation. Zum anderen geht es um
Wir müssen auch eine effektive Forschung sicher-
die Frage, welche Verteilungswirkung es in der gesetz-
stellen. Daran sind mehrere Ministerien beteiligt. Wir
lichen Krankenkasse – Herr Kollege Seifert, Sie haben
werden deshalb prüfen müssen, wie wir die Forschungs-
danach gefragt – geben wird.
mittel möglichst effektiv einsetzen.
2040 wird das Verhältnis von dem, was ein junger
Der Einzelplan 15 des Bundeshaushaltes schreibt die Versicherter im Durchschnitt kostet, zu dem, was ein äl-
gesetzten Schwerpunkte auf einem hohen Niveau fest. terer Versicherter – ich kann beruhigt darüber sprechen;
Ich bin zuversichtlich, dass wir im Zuge der parlamenta- denn dann werde ich zu dieser Gruppe gehören –, wenn
rischen Beratungen die Punkte, bei denen wir einen be- man die Zahlen der letzten Zeit fortschreibt, kostet,
sonderen Bedarf sehen, auch noch klären werden. 1 : 20 betragen. Ich werde dann einer von den Älteren
sein, 2040 nämlich genau 60 Jahre alt. Das macht deut-
Problematisch ist allerdings, was sich bereits für die
lich, dass nicht nur eine Umverteilung zwischen Gesun-
nächsten Jahre abzeichnet. Der Wegfall der pauschalen
den und Kranken, sondern auch zwischen Jüngeren und
Abgeltung für versicherungsfremde Leistungen an die
Älteren stattfindet, weil das Risiko, zu erkranken, und
Krankenkassen und die zusätzlichen Kosten für Arznei-
die damit verbundenen Kosten im Alter schlicht und er-
mittel durch die beschlossene Mehrwertsteuererhöhung
greifend höher sind. Deswegen stehen wir aufgrund der
bedeuten 0,5 Beitragspunkte mehr für die gesetzliche
demografischen Entwicklung vor einer besonderen He-
Krankenkasse. Wir wissen noch nicht, wie wir in Zu-
rausforderung.
kunft die Finanzierung der Krankenkassen organisie-
ren werden. Sicher ist aber, dass wir keine verlässliche
Finanzierung auf Dauer hinbekommen, wenn wir die Fi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nanzierung von der aktuellen Haushaltslage abhängig Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage
machen. des Kollegen Seifert?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2197

(A) Jens Spahn (CDU/CSU): tungen in meinem Wahlkreis. Insofern müssen wir uns (C)
Bitte schön. fragen, ob all das Geld, das wir in das System geben,
auch vernünftig verteilt wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich komme nun von der Ausgangslage – hier kann
Bitte, Herr Seifert. man sicherlich Konsens herstellen – zur Zielbeschrei-
bung. Zum ersten besteht natürlich das Ziel, die gesetzli-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): che Krankenversicherung in Deutschland lohnunabhän-
Lieber Herr Kollege, was Sie sagen, hat doch nichts giger zu machen. Die schlichte Koppelung an den
damit zu tun, in welchem Alter Menschen krank werden. Lohn hat zum einen dazu geführt, dass die Lohneben-
Es ist statistisch erwiesen, dass man, auch wenn man kosten steigen, und zum anderen dazu, dass wir alle ge-
länger lebt, nicht länger krank ist, sondern dass sich die sundheitspolitischen Diskussionen – das bezieht sich
Krankheits- bzw. Pflegephase meistens nur etwas später auch auf das letzte Gesetz, das wir in diesem Bereich be-
einstellt; sie ist aber genauso lang. Demzufolge habe ich schlossen haben – fortwährend unter dem Stichwort Bei-
vorhin die Frage gestellt – und ich bitte Sie, sie zu beant- tragssatzstabilität bzw. Kostendämpfung führen. Aus
worten –, ob nicht gerade die Solidarität zwischen dieser Spirale wollen wir heraus. Natürlich wollen wir
Gesunden und Kranken das entscheidende Kriterium auch in Zukunft Solidarität. Im Grunde geht es bei dem
der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Ich möchte Streit zwischen den Koalitionspartnern an der einen oder
nicht, dass Jung und Alt auch noch in der Krankenversi- anderen Stelle darum, wie diese Solidarität ausgestaltet
cherung gegeneinander ausgespielt werden. Es ist schon werden soll. Darüber werden wir in den nächsten Wo-
schlimm genug, dass dies in der Rentenversicherung ge- chen verhandeln.
schieht. Herr Kollege Schily, ich möchte noch eines sagen.
(Beifall bei der LINKEN) Das eine oder andere dessen, was Sie beschrieben haben,
mag im Grundsatz richtig sein. Nun beginnen wir nicht
Jens Spahn (CDU/CSU):
bei null und können das System nicht so basteln, dass es
in allen Grundzügen am besten ist, sondern wir müssen
Sehr verehrter Herr Kollege, es geht hier gar nicht da-
das bestehende System verändern.
rum, Menschen gegeneinander auszuspielen. Es geht
schlicht und ergreifend darum, die Fakten zur Kenntnis (Dr. Konrad Schily [FDP]: Richtig! – Otto
zu nehmen. Fricke [FDP]: Das Ziel muss man schon be-
schreiben!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) In dieser Situation macht es wenig Sinn, grundsätzliche
(B) (D)
Diskussionen zu führen. Es darf nicht verkannt werden,
Es ist heute so, dass in der Krankenversicherung der
dass es darum geht, ein über 100 Jahre gewachsenes
Rentner nur 40 Prozent der Ausgaben durch das gedeckt
System zu verändern.
werden, was die Rentner selbst einzahlen. 60 Prozent
werden durch die Umverteilung von den Jüngeren zu Es geht – auch aufgrund der gerade geführten Diskus-
den Älteren finanziert. Das wollen wir ja auch; das kri- sion – im Ziel darum, das ganze System auf demografie-
tisiert hier niemand. Man muss aber doch das Faktum feste Beine zu stellen. Es ist mir wichtig, deutlich zu sa-
zur Kenntnis nehmen, dass diese Umverteilung in noch gen – auch wenn es in der Diskussion darüber an der
stärkerem Maße als vor etwa 20 oder 30 Jahren stattfin- einen oder anderen Stelle schwierig wird –: Die private
det, Krankenversicherung, das einzige System in Deutsch-
land, in dem Demografiefestigkeit gegeben ist, muss in
(Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz
ihrer Substanz im Grundsatz auch in Zukunft erhalten
[CDU/CSU])
bleiben. Das eine System sollte eher ein wenig vom an-
weil die Krankenversicherung der Rentner aufgrund der deren – besseren, demografiefesteren – System lernen
demografischen Entwicklung einen zunehmend größe- als umgekehrt.
ren Menschenkreis umfasst.
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Im Kern stimme ich Ihnen zu. Natürlich geht es um Ich glaube, Sie sollten Ihre Aussage noch ein-
die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken. Aber mal überprüfen!)
das Risiko, zu erkranken, insbesondere das Risiko, chro-
Ich glaube, es lohnt sich hierbei, jeden Streit und jede
nische bzw. schwer wiegende Krankheiten zu bekom-
Diskussion, auch innerhalb der Koalition, zu führen.
men, ist im Alter höher als in jüngeren Jahren. Es geht
aber, wie gesagt, nicht darum, Menschen gegeneinander (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
auszuspielen, sondern darum, die Tatsachen zu sehen. der FDP)
Darauf müssen wir Antworten finden.
Auf der Ausgabenseite geht es darum, die Forderung
Zudem stehen wir auf der Ausgabenseite vor der Si- nach mehr Wettbewerb – sie steht seit Jahrzehnten in fast
tuation, dass sich die Ausgaben von Jahr zu Jahr erhö- allen Parteiprogrammen – mit Leben zu füllen, vor al-
hen, gleichzeitig aber Frust und Unlust im System zu- lem, damit wir am Ende zu Vergütungsstrukturen kom-
nehmen. Das sehen wir an den Ärzteprotesten. Wir alle men, die dazu führen, dass es denen, die im Gesund-
spüren Frust und Unlust aber auch bei den Patienten, die heitswesen tätig sind, wieder Freude macht, morgens
stark verunsichert sind; das erlebe ich oft bei Veranstal- den Dienst am Menschen zu beginnen, sodass wir den
2198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006

Jens Spahn
(A) Frust und die Unlust der letzten Zeit nicht weiter erleben Es ist ein Bereich, den die Menschen offensichtlich (C)
müssen. Insofern geht es auch darum, die Strukturen so nutzen wollen; denn fast 50 Prozent der Ausgaben im
zu gestalten, dass sie genau dies fördern. Gesundheitswesen werden nicht von der gesetzlichen
Krankenversicherung, sondern von den Menschen getä-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tigt. Das fängt bei Wellness an und umfasst viele andere
Bereiche, wo freiwillig zusätzliche Ausgaben getätigt
Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage werden. Wir haben in Deutschland jetzt die Chance, ne-
der Kollegin Hajduk? ben dem Wachstumsmotor Mobilität – wir denken an die
Eisenbahn – und dem Wachstumsmotor Kommunikation
Jens Spahn (CDU/CSU): – wir denken an Internet und andere Dinge – den Wachs-
Jawohl, ich erlaube eine Zwischenfrage. tumsmotor Gesundheit und Lebensqualität und damit
Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, dies muss als Vi-
sion, als Idee, als Leitbild für alle künftigen Reformen,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auch bei der Finanzierung, herhalten.
Bitte schön, Frau Hajduk.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte mir als zuständigem Berichterstatter unse-
Herr Kollege Spahn, Sie haben hier gerade das Hohe- rer Fraktion für das Thema HIV/Aids erlauben, meiner
lied auf die Demografiefestigkeit der privaten Kranken- Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass das Thema
versicherung gesungen. Ich will meiner Frage voraus- HIV/Aids und die damit verbundenen Entwicklungen
schicken, dass es hierzu auch unter den Experten hier mehrfach – von den Kolleginnen und Kollegen, aber
unterschiedliche Erkenntnisse gibt. Finden Sie es auch auch von der Ministerin – angesprochen wurden. Wir ha-
vorbildlich, dass man beim Wechsel von einer privaten ben zwar in Deutschland glücklicherweise ein niedriges
Krankenversicherung nicht einmal seine Altersrückstel- Niveau an Infizierungen erreicht;
lungen mitnehmen kann? (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die Zahl steigt!)
Jens Spahn (CDU/CSU):
nichtsdestotrotz muss uns die Steigerungsrate von
Es ist vollkommen unbestritten – das sagen wir in der 20 Prozent binnen eines Jahres umtreiben. Wir müssen
Koalition; das sagt im Übrigen auch die Kommission, die sich daraus ergebenden neuen Herausforderung an-
die Frau Zypries schon in der letzten Legislaturperiode nehmen.
in ihrem Hause einberufen hat –, dass wir beim Versi-
(B) cherungsvertragsrecht zu Änderungen kommen wollen. Es ist ein Kennzeichen von Prävention, dass man sie (D)
Wir wollen – das steht nicht zur Diskussion –, dass diese nicht nur einmal betreibt – wie zu Beginn der 80er-
Altersrückstellungen portabel sind. Jahre –, dass sie nicht für immer vorhält. Es gibt nämlich
immer wieder neue Menschen auf der Welt. Ich selbst
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gehöre dem Jahrgang 1980 an. Ich habe die ganzen De-
neten der SPD und der FDP) batten, weil ich mich dafür interessiere, erst im Nach-
Sie haben das in den sieben Jahren, in denen Sie in der hinein verfolgt. Junge Menschen meines Alters haben
Regierung waren, noch nicht ganz hinbekommen. Wir sich logischerweise mit der Entwicklung in den 80er-
wollen das aber in den nächsten Jahren tatsächlich ange- Jahren gar nicht befasst, weil sie sie gar nicht bewusst
hen. wahrgenommen haben. Umso mehr stehen wir in der
Verantwortung, die Diskussion über HIV/Aids – trotz al-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ler Werbung der Pharmaindustrie ist es noch immer
keine heilbare Krankheit – und über die besonderen He-
Ich möchte eine Frage ansprechen, die mir bei der rausforderungen, vor denen wir stehen, in den Mittel-
ganzen Diskussion im Grundsatz am wichtigsten ist: punkt zu stellen. Das müssen wir insbesondere vor dem
Welche Vision, welche Idee, haben wir für das Gesund- Hintergrund der Entwicklungen in Osteuropa tun, wo
heitswesen in Deutschland? Wollen wir immer nur die zum Teil Steigerungsraten zu verzeichnen sind, wie sie
ganzen Detaildiskussionen zu den Fragen, mit denen wir in der Frühzeit von Aids in Afrika verzeichnet wurden.
uns hier im Alltag beschäftigen, führen oder haben wir Ich bin daher froh darüber, dass die Bundesregierung
auch eine Idee davon, wie sich der Bereich Gesundheit nunmehr offensichtlich geklärt hat, wer für die Zusam-
in Deutschland entwickeln kann? Er ist nämlich ein menarbeit mit unseren osteuropäischen Freunden zustän-
Wachstumsmarkt des 21. Jahrhunderts, in dem schon dig ist.
heute 4,2 Millionen Menschen in der Regel Dienst am
Menschen leisten, in Berufen, die sich nur bedingt nach (Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
China oder sonstwo auslagern lassen, weil der Dienst am GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
Menschen nur vor Ort geleistet werden kann. Trotz aller frage)
Diskussionen ist Deutschland in der pharmazeutischen
– Der Kollege Beck hat eine Zwischenfrage.
Industrie, bei der Medizintechnik, aber auch bei Ablauf-
prozessen in vielen Bereichen weltmarktführend. Wir
haben die Chance, dort weitere Potenziale zu erschlie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ßen. Moment, die Zwischenfragen lasse ich zu.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2199

(A) Jens Spahn (CDU/CSU): besondere schwule Männer, neuerdings aber auch (C)
Entschuldigung. Migranten, insbesondere aus Osteuropa. Natürlich muss
für diese Zielgruppen entsprechendes Material bereitge-
halten werden. Im Einzelfall würde ich das aber gerne
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
bewerten, nachdem ich das entsprechende Material gese-
Ich wollte Sie während der letzten zehn Sekunden Ih- hen habe.
rer Rede eigentlich nicht mehr unterbrechen, weil alle
noch andere Dinge vorhaben. Wenn Herr Beck aber eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
kurze Zwischenfrage stellen will, dann bitte schön. neten der FDP)
Abschließend möchte ich sagen: Die Ausgangslage
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist klar. Das Ziel ist klar. Die Dinge, die anstehen, wer-
Ich bedanke mich für die Großzügigkeit des Präsiden- den wir in den nächsten Wochen, ohne uns von „Spie-
ten. gel“, „Focus“, „Bild“ oder sonstigen Zeitungen nervös
machen zu lassen, diskutieren. Ich würde mich freuen,
Ich finde es gut, wenn für die Aidsprävention mehr wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition
Mittel zur Verfügung gestellt werden. In der Tat kom- – ich schaue von links nach rechts –, uns konstruktiv be-
men neue Herausforderungen auf uns zu und es gibt eine gleiten und am Ende auch unterstützen würden, die nöti-
Veränderung des Verhaltens. Wichtig ist aber, dass man gen Dinge zu tun.
Präventionsmaterialien verbreitet, erreichbar und ver-
fügbar macht, die eine klare Sprache sprechen. Es macht Ich freue mich, weil ich zum ersten Mal die seltene
keinen Sinn, bei den Themen Sexualität und Verhaltens- Ehre habe, als Letzter zu reden, Ihnen allen noch einen
änderung drum herum zu reden. Würden Sie mir zustim- schönen Abend und gute Gesundheit wünschen zu kön-
men, wenn ich behaupte, dass es falsch ist, wenn sich nen.
Unionsabgeordnete bei der Bundeszentrale für gesund- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
heitliche Aufklärung oder der Bundesgesundheitsminis- neten der SPD und der FDP)
terin darüber beschweren, dass es im Internet zielgrup-
penspezifische Materialien gibt, in denen zu Sexualität
und dazu, wie man beim sexuellen Verhalten HIV-Infek- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tionen verhindern kann, eine klare Sprache gesprochen Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind da-
wird? mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Jens Spahn (CDU/CSU): destages auf morgen, Mittwoch, den 29. März 2006, (D)
(B)
Ohne das Material, um das es geht, im Einzelfall zu 9 Uhr, ein.
kennen, stimme ich zumindest im Grundsatz zu. Natür- Die Sitzung ist geschlossen.
lich ist es wichtig, zielgruppen- und risikogruppenspezi-
fische Arbeit zu leisten. Zu diesen Gruppen gehören ins- (Schluss: 19.23 Uhr)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 28. März 2006 2201

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andres, Gerd SPD 28.03.2006 Hilsberg, Stephan SPD 28.03.2006

Bareiß, Thomas CDU/CSU 28.03.2006 Kipping, Katja DIE LINKE 28.03.2006

Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 28.03.2006 Krichbaum, Gunther CDU/CSU 28.03.2006

Bernhardt, Otto CDU/CSU 28.03.2006 Kurth (Quedlinburg), BÜNDNIS 90/ 28.03.2006


Undine DIE GRÜNEN
Dr. Bisky, Lothar DIE LINKE 28.03.2006
Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 28.03.2006
Bülow, Marco SPD 28.03.2006
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 28.03.2006
Dr. Däubler-Gmelin, SPD 28.03.2006 DIE GRÜNEN
Herta
Pflug, Johannes SPD 28.03.2006
Deittert, Hubert CDU/CSU 28.03.2006*
Schmidt (Nürnberg), SPD 28.03.2006
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 28.03.2006 Renate
Joseph DIE GRÜNEN
Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 28.03.2006
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 28.03.2006*
Land), Axel E. Dr. Spielmann, Margrit SPD 28.03.2006
(B) (D)
Gradistanac, Renate SPD 28.03.2006 Stiegler, Ludwig SPD 28.03.2006

Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 28.03.2006 Wegener, Hedi SPD 28.03.2006

Heinen, Ursula CDU/CSU 28.03.2006 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

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