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Plenarprotokoll 16/65

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

65. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Inhalt:

Tagesordnungspunkt I: Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6404 B


a) Zweite Beratung des von der Bundesregie- Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6407 A
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes- Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6410 A
haushaltsplans für das Haushaltsjahr Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6412 C
2007 (Haushaltsgesetz 2007)
(Drucksachen 16/2300, 16/2302) . . . . . . . 6403 A Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6416 A
b) Beschlussempfehlung des Haushaltsaus-
schusses zu der Unterrichtung durch die Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . 6420 A
Bundesregierung: Finanzplan des Bundes Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 6425 B
2006 bis 2010
(Drucksachen 16/2301, 16/2302, 16/3126) 6403 B Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6426 D
Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6427 B
Einzelplan 01
Bundespräsident und Bundespräsidial- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6430 D
amt Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6432 B
(Drucksachen 16/3101, 16/3123) . . . . . . . 6403 B
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 6432 C
Einzelplan 02 Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6434 A
Deutscher Bundestag Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6435 B
(Drucksachen 16/3102, 16/3123) . . . . . . . 6403 C
Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6437 B
Einzelplan 03 Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6438 A
Bundesrat
(Drucksache 16/3123) . . . . . . . . . . . . . . . . 6404 A Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . 6438 D

Einzelplan 08 Einzelplan 17
Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Familie, Senio-
(Drucksachen 16/3108, 16/3123) . . . . . . . 6404 A ren, Frauen und Jugend
(Drucksache 16/3123) . . . . . . . . . . . . . . . 6440 C
in Verbindung mit Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6440 D
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6442 C
Einzelplan 20
Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6444 A
Bundesrechnungshof
(Drucksache 16/3123) . . . . . . . . . . . . . . . . 6404 A Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6444 D
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Frank Schmidt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6446 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6485 C
Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6446 D
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6486 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6448 D Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6449 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6487 C

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin Jella Teuchner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6488 C
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6450 C Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6490 D
Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6452 B
Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6454 A Einzelplan 07
Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6454 C Bundesministerium der Justiz
(Drucksachen 16/3107, 16/3123) . . . . . . . 6492 B
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6456 A
Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6456 D in Verbindung mit
Elke Reinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 6457 A
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Einzelplan 19
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6458 C
Bundesverfassungsgericht
Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 6459 C (Drucksache 16/3124) . . . . . . . . . . . . . . . 6492 B
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6461 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) 6492 C
Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6462 D Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 6493 B
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6464 B Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . 6495 B
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6497 B
Einzelplan 15
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Bundesministerium für Gesundheit DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6498 C
(Drucksachen 16/3114, 16/3123) . . . . . . . 6466 A
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 6500 A
Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . . 6466 A
Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6467 C Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6501 B

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6469 B Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6502 B
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6470 D Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6504 C
Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . 6471 D
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6505 D
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6473 B
Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . 6475 A Anlage 1
Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6475 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6507 A
Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6478 D
Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . 6479 B Anlage 2
Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . . 6480 A Erklärung des Abgeordneten Volker Beck
(Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . 6481 D
Abstimmung über den Einzelplan 07 – Bun-
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6484 C desministerium der Justiz (Drucksache 16/3107) 6507 D
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6403

(A) (C)

Redetext

65. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Beginn: 10.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Wer stimmt für den Einzelplan 01 in der Ausschuss-
Die Sitzung ist eröffnet. fassung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Das fängt gut an: Der Einzelplan 01 ist ein-
Ich begrüße Sie alle herzlich. Ich wünsche Ihnen ei- stimmig angenommen.
nen guten Morgen und uns eine gute parlamentarische
Woche. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So sind wir,
Ich rufe die Tagesordnungspunkte I.a und b auf: Herr Präsident!)

a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.2 auf:
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Einzelplan 02
Haushaltsjahr 2007 Deutscher Bundestag
(Haushaltsgesetz 2007)
(B) (D)
– Drucksachen 16/3102, 16/3123 –
– Drucksachen 16/2300, 16/2302 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus- Berichterstattung:
haltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrich- Abgeordnete Jürgen Koppelin
tung durch die Bundesregierung Norbert Königshofen
Gunter Weißgerber
Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010 Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
– Drucksachen 16/2301, 16/2302, 16/3126 –
Berichterstattung: Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
Abgeordnete Steffen Kampeter Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab-
Carsten Schneider (Erfurt) stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Dr. Gesine Lötzsch Drucksache 16/3458? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
Anja Hajduk hält sich der Stimme? – Dann ist der Einzelplan 02 mit
breiter Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur Beratung der Einzelpläne, und zwar
zunächst der drei Einzelpläne, zu denen keine Ausspra- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ände-
che vorgesehen ist. rungsantrag! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.1 auf: Über diesen Etat sollten wir wirklich abstim-
men, Herr Präsident! Der ist nicht unwichtig!)
Einzelplan 01
Bundespräsident und Bundespräsidialamt – Meine Vermutung, dass nach der Entscheidung über
den Änderungsantrag, der keine Mehrheit gefunden hat,
– Drucksachen 16/3101, 16/3123 – der Einzelplan 02 eine auskömmliche Mehrheit erhält,
Berichterstattung: wird sich bestätigen. Um das über jeden Zweifel hinaus
Abgeordnete Herbert Frankenhauser sicherzustellen, darf ich fragen, wer dem Einzelplan 02
Klaas Hübner in der Ausschussfassung seine Zustimmung geben
Jürgen Koppelin möchte. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dr. Dietmar Bartsch Dann ist der Einzelplan 02 ebenfalls einstimmig ange-
Anja Hajduk nommen.
6404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.3 auf: Ich nehme gern die Gelegenheit wahr, mich bei allen (C)
Mitgliedern des Haushaltsausschusses herzlich dafür zu
Einzelplan 03 bedanken – das sage ich ohne Ausnahme –, dass wir un-
Bundesrat sere Diskussionen im Haushaltsausschuss trotz aller Dif-
– Drucksache 16/3123 – ferenzen, die wir haben – sie werden vielleicht gleich in
der Debatte zutage treten –, fair und sehr sachlich
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Spahn (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Johannes Kahrs haben führen können. Herzlichen Dank für diese sachli-
Otto Fricke chen Diskussionen!
Dr. Dietmar Bartsch
Alexander Bonde Seit einiger Zeit erleben wir, dass der Bundesfinanz-
minister einen sehr zufriedenen Eindruck macht.
Wer stimmt dem Einzelplan 03 in der Ausschussfas-
sung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – (Dr. Peter Struck [SPD]: Mit Recht!)
Dann ist der Einzelplan 03 mit den Stimmen der Koali-
Aus seiner Sicht ist er auf Erfolgskurs; denn die Einnah-
tionsfraktionen gegen die Stimmen des Bündnisses 90/
men des Haushaltes steigen. Wie gesagt: aus seiner
Die Grünen und bei Enthaltung der FDP und der Frak-
Sicht. Wenn die Koalition davon spricht, dass sie mit
tion Die Linke angenommen.
diesem Haushalt einen beispiellosen Konsolidierungs-
Ich rufe Tagesordnungspunkt I.4 auf: beitrag leistet, dann ist aus unserer Sicht festzustellen:
Nicht der Bundesfinanzminister, nicht die Koalition sa-
a) Einzelplan 08 nieren den Bundeshaushalt – zum Beispiel durch be-
Bundesministerium der Finanzen herzte Ausgabenreduzierung –, sondern der Steuerzahler
– Drucksachen 16/3108, 16/3123 – wird zur Kasse gebeten. Es gibt Steuererhöhungen und
den Abbau einer Vielzahl von Steuervergünstigungen.
Berichterstattung: Der Steuerzahler wird zur Sanierung des Bundeshaus-
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme haltes gezwungen. Von der Koalition kommen keine
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Beiträge dazu.
Ulrike Flach
Dr. Gesine Lötzsch (Beifall bei der FDP)
Anja Hajduk Die Einnahmeseite des Bundes wird dadurch verbes-
b) Einzelplan 20 sert, dass die Bundesregierung Verbraucher und beson-
(B)
Bundesrechnungshof ders – das muss man leider sagen – Familien erheblich (D)
belasten wird. Durch die Belastung der Verbraucher und
– Drucksache 16/3123 – der Familien verbessert sich die Einnahmeseite um
Berichterstattung: 15 Milliarden Euro. Allein die Erhöhung der Mehr-
Abgeordnete Norbert Barthle wertsteuer am 1. Januar nächsten Jahres bringt dem
Petra Merkel (Berlin) Bund über 9 Milliarden Euro. Das bedeutet eine erhebli-
Dr. Claudia Winterstein che Belastung für die Verbraucher und die Familien mit
Michael Leutert geringen Einkommen. Hinzu kommen die Erhöhung der
Anja Hajduk Versicherungsteuer, die Abschaffung der Eigenheimzu-
lage und die Gewährung von Kindergeld und Kinderfrei-
Zum Einzelplan 08 liegt ein Entschließungsantrag der betrag nur noch bis zum 25. Lebensjahr. Selbst die
Fraktion der FDP vor, über den wir am Freitag nach der Abschaffung des Sonderausgabenabzugs bei Steuerbera-
Schlussabstimmung abstimmen werden. tungskosten entlastet den Bundesfinanzminister und be-
lastet den Steuerzahler.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre Damit nicht genug. Zusätzlich geht der Bundesfinanz-
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. minister besonders den Arbeitnehmern ans Portemon-
naie und kassiert ab: fast Halbierung des Sparerfreibetra-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst ges, Abschaffung des Freibetrages für Abfindungen,
der Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion. Abschaffung des Freibetrages für Heirats- und Geburts-
(Beifall bei der FDP) beihilfen, Abschaffung der Aufwendungen für die häus-
lichen Arbeitszimmer usw. Es wird abkassiert, wo es nur
Jürgen Koppelin (FDP):
geht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Habt
erstem Redner in der Debatte erlauben Sie mir, dass ich ihr nicht Subventionsabbau gefordert?)
die Möglichkeit nutze, dem Vorsitzenden des Haushalts-
ausschusses des Deutschen Bundestages, meinem Frak- Zusätzlich kann der Bund laut der Steuerschätzung
tionskollegen Otto Fricke, zu seinem heutigen Geburts- für November mit einer Einnahmeerhöhung von voraus-
tag zu gratulieren. sichtlich über 9 Milliarden Euro rechnen. Noch im Sep-
tember erklärte die Bundeskanzlerin bei der ersten Le-
(Beifall) sung des Bundeshaushaltes:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6405
Jürgen Koppelin
(A) Kaum dass eine Steuermehreinnahme verkündet ten wir aufgrund früherer Erfahrungen eher den Sozial- (C)
wird …, gibt es eine breite Debatte darüber, was demokraten zugetraut. An diese neue Rollenverteilung
man damit machen könnte. Lassen Sie uns erst ein- werden wir uns erst gewöhnen müssen.
mal Geld haben!
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
So die Bundeskanzlerin. Aha! Und bald kommt Rot-Gelb! Eine wahre
Liebe aus Rheinland-Pfalz!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Dass die Union in der Haushaltspolitik vom Pfad der
Bei der ersten Lesung des Haushalts im September Tugend abgekommen ist – das muss ich leider so sagen –,
dieses Jahres sprach sich die Bundeskanzlerin eindeutig mag vielleicht auch daran liegen, dass es in der CDU/
dafür aus, Mehreinnahmen für den Schuldenabbau zu CSU-Bundestagsfraktion keine einflussreichen Finanz-
verwenden. Das war richtig. Hierfür hätte sie auch un- und Wirtschaftspolitiker mehr gibt.
sere Unterstützung bekommen. Doch die Ankündigung
von Steuermehreinnahmen aufgrund der November- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei
steuerschätzung scheint für die Kanzlerin und die Koali- der CDU/CSU)
tion völlig unverhofft gekommen zu sein; denn sonst Ich nutze das Raunen in den Reihen der CDU/CSU-
hätte die Kanzlerin wohl kaum zu einer Sondersitzung Fraktion gerne, um, was ich sonst selten tue, den Kolle-
ins Kanzleramt eingeladen, um darüber zu diskutieren, gen Poß von der SPD zu zitieren.
was man mit den Mehreinnahmen, die man nun plötzlich
und unverhofft erzielt, machen wolle. (Joachim Poß [SPD]: Jetzt wird es aber
gefährlich!)
Bei dieser Sitzung im Kanzleramt hatte man den Ein-
druck, die Kanzlerin habe gedacht, dass Geld allein nicht In diesem Falle tue ich das aber, wie ich glaube, zu
glücklich mache, und sich daher überlegt, welche Wohl- Recht. Kollege Poß sagte, nach der Bekanntgabe der Er-
taten sie verteilen könne. Nun verspricht sie, den gesetz- gebnisse der Steuerschätzung sei es in der Union zu ei-
lichen Krankenkassen aus dem Bundeshaushalt 1 Mil- nem regelrechten „Wünsch-dir-was-Wettbewerb“ ge-
liarde Euro zukommen zu lassen. Frau Bundeskanzlerin, kommen, und er ermahnte die CDU/CSU zu einer
nach unserer Auffassung war die Sitzung im Bundes- nachhaltigen Haushaltskonsolidierung. So weit ist es mit
kanzleramt überhaupt nicht notwendig. Denn wir haben der Union schon gekommen, dass sie sich vom Sozialde-
kein Geld zu verteilen. Sie hätten nur eines tun müssen, mokraten Poß zu einer soliden Haushaltspolitik ermah-
sich nämlich an das halten, was Sie im September dieses nen lassen muss!
Jahres selbst gesagt haben: dass die Schulden des Bun- (Beifall bei der FDP – Dr. Guido Westerwelle
(B) des gesenkt und sämtliche zusätzlichen Einnahmen zum [FDP]: Das ist ja furchtbar! – Joachim Poß (D)
Abbau der Schulden verwendet werden müssen. Nichts [SPD]: Ich glaube, irgendetwas haben Sie
anderes hätten Sie sagen müssen. Denn es geht nicht da- nicht richtig verstanden!)
rum, Geld zu verteilen.
Lassen Sie mich auf Folgendes aufmerksam machen:
(Beifall bei der FDP) Der Bundesfinanzminister hat – ich finde: zu Recht –
Die Sanierung des Bundeshaushalts muss Vorrang darauf hingewiesen, dass die Novembersteuerschätzung
haben. Schauen Sie sich einmal die Veröffentlichung der eben nur eine Schätzung und das Geld noch gar nicht in
Bundesbank vom gestrigen Tage an. Auch sie hat darauf der Kasse ist. Frau Merkel, wie können Sie eigentlich
hingewiesen, dass die Sanierung des Bundeshaushalts Geld ausgeben, das Sie noch gar nicht haben? Ich be-
unser wichtigstes politisches Ziel sein muss. Deshalb ist daure, dass der Bundesfinanzminister eingeknickt ist.
es für die FDP eine Selbstverständlichkeit, dass Steuer- Denn das führt dazu, dass die Politik zur Konsolidierung
mehreinnahmen nur zum Schuldenabbau genutzt werden des Bundeshaushalts halbherzig bleibt.
dürfen. Das sind wir den kommenden Generationen Es bleibt festzustellen, dass die Schulden des Bundes
schuldig. Denn sonst müssten sie unsere Schulden be- auch im Jahre 2007 nicht abgebaut werden, sondern dass
zahlen. Das wollen wir nicht und das können wir nicht der Schuldenberg nur langsamer steigt; aber er steigt. Im
verantworten. Koalitionsvertrag wurde versprochen, alle Ausgaben
Die FDP hat mit Interesse zur Kenntnis genommen des Bundes auf den Prüfstand zu stellen. Im Koalitions-
– das muss ich fairerweise eingestehen –, dass der SPD- vertrag befindet sich sogar der schöne Satz:
Vorsitzende Beck und der Bundesfinanzminister nach Daher werden wir nicht alles im gewohnten Um-
der Bekanntgabe der Ergebnisse der Novembersteuer- fang fortsetzen können.
schätzung darauf gedrungen haben, die Steuermehrein-
nahmen allein zum Schuldenabbau zu nutzen. Diese Trotz erheblicher Mehreinnahmen des Bundes wer-
Haltung hätten wir eher bei Ihnen, liebe Kolleginnen und den Sie die geplante Neuverschuldung um gerade einmal
Kollegen von der Union, erwartet. 2,5 Milliarden Euro senken. Doch die Ausgaben des
Bundes steigen um 9 Milliarden Euro. Einsparungen auf
Mit Interesse und Erstaunen hat die FDP aber auch der Ausgabenseite, wie von der Koalition versprochen,
zur Kenntnis genommen, dass nach Bekanntgabe der Er- finden nicht statt. Der Bundesetat hat ein Volumen von
gebnisse der Steuerschätzung plötzlich Kanzlerin 270 Milliarden Euro. Die Investitionen des Bundes be-
Merkel und die Union diejenigen waren, die gleich ans tragen allerdings nur 24 Milliarden Euro. Das ist ein Ar-
Geldverteilen gedacht haben. Ein solches Verhalten hät- mutszeugnis.
6406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Jürgen Koppelin
(A) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) (C)
Herr Bundesfinanzminister, die FDP hat immer da- Aber die Koalition war dazu nicht fähig. Weil ich genau
rauf hingewiesen, dass man nur dann erhebliche Mehr- weiß, wie der Bundesfinanzminister nachher argumen-
einnahmen erzielen kann, wenn die Konjunktur an- tieren wird – „Diese Anträge der FDP, das ist alles lä-
springt und richtig läuft. Nun beginnt unsere Konjunktur cherlich“ –, darf ich Sie hier und jetzt fragen: Warum
anzuspringen. Aber die Koalition zieht daraus keine war die Koalition denn nicht bereit, bei Subventionen
Lehren. Denn sonst müssten Sie, liebe Kolleginnen und und Zuwendungen auch nur eine einzige Milliarde ein-
Kollegen von der Koalition, aktiv tätig werden und zum zusparen? Warum waren Sie dazu nicht fähig? Warum
Beispiel den Arbeitsmarkt modernisieren, statt ihn in ei- waren Sie nicht in der Lage, bei den Verwaltungsausga-
nem so betonierten Zustand zu belassen, wie er gegen- ben des Bundes über 800 Millionen Euro zu streichen?
wärtig ist. Das wäre durchaus möglich gewesen. Sie hätten außer-
dem im Verteidigungsetat – diese Debatte werden wir
(Beifall bei der FDP) morgen führen – auf unsinnige Beschaffungsmaßnah-
Kein Zeichen dazu von der Koalition, erst recht nicht men verzichten können.
– das muss man leider feststellen – von der Union.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine
Wir als FDP sind der Auffassung: Nur mit beherzten Lötzsch [DIE LINKE])
Reformschritten können wir weitere Einnahmen für den
Da Sie nicht glauben, dass man sparen kann, bringe
Bundeshaushalt bekommen. Denn eines ist klar – da-
ich Ihnen ein ganz aktuelles Beispiel. Gestern war eine
rüber sollten wir alle uns im Klaren sein –: Durch Ab-
große, zweiseitige Anzeige zu lesen, auch im „Spiegel“.
kassieren beim Bürger allein werden Sie die Schulden
Das meiste, was behauptet wird, stimmt überhaupt nicht.
des Bundes nicht abbauen können. Wir brauchen Refor-
men in Deutschland. Das ist dringend notwendig, damit (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Über-
wir weitere Einnahmen haben. schrift stimmt schon einmal: „Es geht voran in
Deutschland“!)
(Beifall bei der FDP)
Ich möchte wissen, was das schon wieder gekostet hat!
Wir müssen die Schere zwischen Ausgaben und Ein-
Das muss der Steuerzahler bezahlen. Und dann gehen
nahmen weiter schließen. Die erhöhten Einnahmen auf-
Sie auch noch leichtfertig mit der Wahrheit um. Sie wer-
grund der verbesserten Konjunktur müssen zusammen
fen das Geld zum Fenster raus. Darauf hätte man zum
mit Ergebnissen weiterer Reformen genutzt werden, um
Beispiel verzichten können, wenn man den Bundeshaus-
die Ausgaben zu reduzieren. Arbeitsmarkt, Pflege, Un-
halt sanieren will.
(B) ternehmensteuer – überall besteht dringender Hand- (D)
lungsbedarf. (Beifall bei der FDP)
Aber die Koalition ist nicht zu Entscheidungen fähig. Der Bundeshaushalt 2007 ist ein Bundeshaushalt der
vertanen Chancen. Die Bundesregierung hat die Chance
(Dr. Peter Struck [SPD]: Was?)
vertan, durch Einsparungen und mit den zu erwartenden
Was ist denn zum Beispiel mit dem Versprechen der Steuermehreinnahmen auf die unsoziale und konjunktur-
Koalition, die Sozialabgaben dauerhaft unter 40 Prozent schädliche Mehrwertsteuererhöhung zu verzichten, was
zu senken? Während der Beitragssatz zur Arbeitslosen- möglich gewesen wäre. Die Bundesregierung hat die
versicherung auf 4,2 Prozent sinken soll, steigen gleich- Chance vertan, die Neuverschuldung von fast 20 Milliar-
zeitig die Beiträge für Renten- und Krankenversiche- den Euro weiter abzusenken. Die Bundesregierung hat
rung. Das ist ein Zickzackkurs, der nicht zu vermitteln die Chance vertan, auf den Steuerzuschuss an die Kran-
ist. kenkassen zu verzichten, mit dem die notwendige Sys-
temveränderung wieder hinausgeschoben wird. Im Übri-
(Beifall bei der FDP) gen – das ist unsere Auffassung – ist dieser Zuschuss
Sie hatten im Koalitionsvertrag versprochen, zur verfassungswidrig.
Haushaltskonsolidierung zunächst alle Einsparpoten- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, was
ziale auf der Ausgabenseite zu prüfen. Davon kann keine Sie sich damit eingebrockt haben, können Sie in diesen
Rede sein. Bei dieser Koalition steht an erster Stelle das Tagen sehen: Ulla Schmidt darf nun verkünden, die Ge-
Abkassieren beim Bürger. Wenn Sie wirklich, wie im sundheitsreform sei ein Zwischenschritt auf dem Wege
Koalitionsvertrag vereinbart, alle Einsparpotenziale auf zur Bürgerversicherung. Ich hoffe, die Union wird Stel-
der Ausgabenseite geprüft hätten, würde dieser Bundes- lung nehmen zu dem, was Frau Schmidt da gesagt hat.
haushalt keine Ausgabensteigerung um 9 Milliarden Euro
aufweisen; vielmehr hätten wir eine Senkung der Ausga- (Beifall bei der FDP)
ben.
Das Ergebnis der Haushaltsberatungen lässt sich wie
Die FDP hat Ihnen in den Haushaltsberatungen Vor- folgt zusammenfassen: Die Konsolidierungspolitik ist
schläge zur Kürzung auf der Ausgabenseite im Umfang nur halbherzig und der Schuldenberg steigt weiter. Beim
von 8,6 Milliarden Euro gemacht; über 500 Anträge mit Kürzen von Ausgaben ist die Koalition ohne Tatendrang,
Kürzungsvorschlägen. Allein mit diesen Einsparungen beim Abkassieren der Bürger hingegen ist sie voller Ta-
hätten Sie auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer verzich- tendrang. Die Schulden steigen langsamer; aber sie stei-
ten können. gen weiter.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6407
Jürgen Koppelin
(A) Da der Bundesfinanzminister gern mit Zitaten arbei- der Koalition, wie ich glaube, gut durch diese Beratun- (C)
tet, möchte ich ihm zum Schluss meiner Ausführungen gen gelenkt und ein gutes Beratungsergebnis herbeige-
ein Zitat ins Stammbuch schreiben – es stammt von führt haben; denn es spricht für sich, dass es gelungen
Berthold Auerbach –: ist, die Nettokreditaufnahme zum ersten Mal seit
Anfang der 90er-Jahre auf unter 20 Milliarden Euro zu
Geld erwerben erfordert Klugheit;
drücken. Mit 19,6 Milliarden Euro erreichen wir den
Geld bewahren erfordert eine gewisse Weisheit,
niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Daran
und Geld schön auszugeben ist eine Kunst.
zeigt sich, dass wir konsequent konsolidieren.
Herr Bundesfinanzminister, ich würde Ihnen diese Ei-
genschaften wünschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Von diesem Bundeshaushalt gehen keine Signale aus,
es ist ein Bundeshaushalt der vertanen Chancen. Sie Herr Koppelin, eigentlich kann in dieser Woche auch
werden nicht erwarten können, dass Sie zu diesem jeder Oppositionspolitiker dieses Ergebnis als ganz
Bundeshaushalt 2007 die Zustimmung der Fraktion der wichtigen und bemerkenswerten Schritt hin zur notwen-
Freien Demokratischen Partei bekommen. digen Konsolidierung des Bundeshaushaltes begrüßen.
Das habe ich in Ihrer Rede vermisst; das fehlte nun wirk-
Vielen Dank. lich.
(Beifall bei der FDP) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das war aber
nicht lustig!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Aus heutiger Sicht sieht es auch so aus, als würde
Das Wort hat nun der Kollege Joachim Poß für die
diese Nettokreditaufnahme auch während des Vollzugs
SPD-Fraktion.
des Haushalts im nächsten Jahr nicht in Gefahr geraten;
(Beifall bei der SPD) denn der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-
samtwirtschaftlichen Entwicklung geht zum Beispiel
Joachim Poß (SPD): von einem höheren Wachstum im nächsten Jahr aus als
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dem, welches wir unseren Haushaltsplanungen zugrunde
Kollegen! Lieber Kollege Koppelin, zunächst möchte gelegt haben. Wir sind auf der sicheren Seite und zeigen
ich Ihnen wie allen Kolleginnen und Kollegen, die in die notwendige Vorsicht, die sich dann auch auszahlen
den letzten Wochen unter hohem Druck, mit hoher Kon- wird, selbst wenn man Haushaltsrisiken nie ganz aus-
zentration und mit großer Intensität gearbeitet haben, für schließen kann.
(B) Ihre Mitarbeit im Haushaltsausschuss herzlich danken. (D)
Zur Mehrwertsteuererhöhung. Das ist auch für die
Ich verstehe es: Diese Haushaltsdebatte ist für Sie als Koalition keine einfache Sache. Ich glaube, in diesem
Abgeordneten der Opposition nicht ganz einfach. Das Bewusstsein diskutieren wir das auch. Herr Koppelin,
hat man Ihnen heute Morgen auch angemerkt. Das sei inzwischen gehen aber fast alle Wirtschaftsforscher da-
Ihnen verziehen. von aus – das ist ein Unterschied zu früher –, dass es
durch sie nicht zu einem konjunkturellen Rückschlag
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen wird. Man wird wohl eher eine kleine Delle in
NEN]: Oh! Das ist aber eine sehr einfache Ein- der wirtschaftlichen Entwicklung hinnehmen müssen;
führung!) aber es ist doch positiv und Sie sollten sich eigentlich
Wir von der Koalition können diese Haushaltsdebatte darüber freuen, dass die Wirtschaft in diesem Land end-
nämlich mit großem Optimismus bestreiten; denn eines lich wächst und damit auch die Arbeitslosigkeit – auch
hat sich herausgestellt: Wir sind auf dem richtigen Weg. die Langzeitarbeitslosigkeit – abgebaut wird. Das sind
Das Ergebnis zählt! Letzen Endes wissen Sie das ja doch die entscheidenden Signale.
auch. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen Wir sorgen für den Aufbau sozialversicherungspflichti-
des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP]) ger Beschäftigung. Das macht sich im Übrigen auch in
– Herr Westerwelle, Sie können noch so viele Zeilen in den Sozialkassen bemerkbar.
der „Bild“-Zeitung schreiben, die Realität, die sich in der Mit einer gewissen Sorge sehe ich die Zinserhö-
Bundesrepublik Deutschland positiv entwickelt hat, wer- hungspolitik der EZB. Ich habe auch in Richtung der
den Sie dadurch nicht verbiegen. EZB die Bitte, sich das genau zu überlegen und nicht zu
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – überziehen.
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Seien Sie mal
Der Bundesfinanzminister hat in den letzten Tagen
nicht neidisch!)
auf die Erkenntnis hingewiesen, dass eine Konsolidie-
Ich möchte natürlich auch allen Mitarbeitern des Aus- rungsschwalbe noch keinen Sommer macht. Deshalb
schusssekretariats und des Bundesfinanzministeriums darf die Nettokreditaufnahme des Bundes nach dem
herzlich danken. Es war ja schon der zweite Haushalt in niedrigen Stand im Jahre 2007 mittelfristig auch nicht
diesem Jahr. Mein besonderer Dank gilt den Kollegen wieder ansteigen, sondern sie muss möglichst weiter sin-
Carsten Schneider und Steffen Kampeter, die das Schiff ken. Das sind das Ziel und die Leitlinie dieser Koalition.
6408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Joachim Poß
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In diesem Jahr fließen fast 20 Milliarden Euro Steuerein- (C)
der CDU/CSU) nahmen mehr in die öffentlichen Kassen als bisher ge-
schätzt. Im nächsten Jahr werden trotz Mehrwertsteuer-
Wir haben also einen klaren Konsolidierungserfolg. erhöhung nicht viel weniger Zusatzeinnahmen erzielt.
Wenn Bundestag und Bundesrat im Sinne eines Wirt-
schafts- und Finanzpaktes für Deutschland in eine Rich- Zur Frage, ob die Mehrwertsteuererhöhung mit Blick
tung marschieren, dann sind die nötigen Politikergeb- auf Bund und Länder verzichtbar oder unverzichtbar ist:
nisse auch erzielbar. Dass ein solches Zusammenwirken Ein ersatzloser Verzicht auf die Mehrwertsteuererhö-
jetzt endlich möglich ist, ist – das muss man offen hung würde sich für die Haushalte von Bund, Ländern
sagen – auch die Rechtfertigung für die große Koalition. und Kommunen nur dann rechnen, Herr Koppelin, wenn
der Verzicht das deutliche Wirtschaftswachstum noch
In diesem Jahr hat sich bestätigt – wir wussten es
einmal so stark steigern würde, dass weitere, zusätzliche
auch schon –, dass Haushaltssanierung ohne wirtschaft-
Steuereinnahmen für den Bund, die Länder und die Ge-
liches Wachstum und Beschäftigungszuwachs nicht
meinden mindestens in der Höhe der Mehrwertsteuerer-
möglich ist.
höhung erzielt würden, und zwar auf Dauer.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deshalb müssen wir – das müssen auch Sie bei Ihren NEN]: Sie sollten beim Eiskunstspringen auf-
Vorschlägen beachten, Herr Koppelin – bei der Haus- treten!)
haltskonsolidierungspolitik auch immer die konjunktu-
Das wäre ein Vabanquespiel, meine Damen und Her-
relle Entwicklung in den Blick nehmen. Deshalb muss
ren von der Opposition.
Haushaltskonsolidierungspolitik auch immer mit Maß-
nahmen zur Stärkung insbesondere der Binnenkonjunk- (Dirk Niebel [FDP]: Was haben Sie denn im
tur verbunden sein. Das zeigt der Erfolg des 25-Milliar- Wahlkampf dazu gesagt?)
den-Euro-Impulsprogramms, das mit dem Anteil der
Länder sogar 37 Milliarden Euro umfasst. Das Im- Wir haben uns in der Koalition darauf verständigt, einen
pulsprogramm der Regierungskoalition hat beim Wirt- solchen riskanten Weg nicht zu gehen. Auch nach der
schaftswachstum in diesem Jahr eine positive Rolle ge- positiven Steuerschätzung bleiben wir bei unserer Linie,
spielt und wird dies auch im nächsten Jahr tun. und zwar mit gutem Grund.

(Beifall bei der SPD) Im Übrigen ist zwar immer vom Bund die Rede; aber
die Länder, in deren Haushalte ein Drittel des Aufkom-
Wir haben also mit den erwähnten Maßnahmen zum Ab- mens aus der Mehrwertsteuererhöhung fließt, werden
(B) bau der Arbeitslosigkeit und zum verbesserten Stellen- schon gar nicht auf diese Zusatzeinnahmen verzichten. (D)
angebot unseren Beitrag geleistet.
Es bedarf keiner besonderen prophetischen Fähigkei-
Ich möchte noch auf einen anderen, umstritten disku- ten, um vorherzusagen, dass die Oppositionsparteien in
tierten Punkt eingehen, der auch in Ihren Vorschlägen dieser Woche der Regierungskoalition mangelnden
angesprochen wird. Ich möchte die Aussage wagen, dass Sparwillen vorwerfen werden.
auch die Umgestaltung von Arbeitsverwaltung und
Arbeitsvermittlung, aktiver Arbeitsmarktpolitik und (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
Leistungsrecht im Rahmen der Agenda 2010 offensicht- Sie haben das auch schon getan, Herr Koppelin.
lich besser ist als ihr Ruf.
Man kann wirklich nicht sagen, dass wir den Men-
(Beifall bei der SPD) schen zugunsten der Haushaltskonsolidierung nichts zu-
Man muss immer abwarten, welche Politikergebnisse muten. Sie haben zu Recht erwähnt, dass wir eine Reihe
sich im Laufe der Zeit tatsächlich einstellen. Das sage von Steuervergünstigungen – zum Beispiel die Pendler-
ich an diejenigen gewandt, die die Hartz-IV-Gesetze am pauschale – abbauen. Wir haben das Haushaltsbegleit-
liebsten wieder abschaffen wollen, gesetz 2006 beschlossen, das auch in den Folgejahren
wirkt. Wir haben allerdings auch beschlossen, dass Spit-
(Beifall bei der LINKEN) zenverdiener einen Zuschlag auf ihre Einkommensteuer
zahlen.
und denjenigen, die immer noch meinen, es bedürfe ei-
ner Verschärfung von Hartz IV auf dem Wege einer Ge- Ihre Vorschläge zu zusätzlichen Einsparungen halten
neralrevision. Für die SPD-Fraktion stelle ich fest: Das wir auch diesmal nicht für brauchbar. Sie sind ein Sam-
ist nicht unser Weg; wir gehen vielmehr den bisher be- melsurium, weder ökonomisch noch sozial verträglich
schrittenen Weg weiter, der sich als erfolgreich heraus- und in vielen Punkten rechtlich nicht realisierbar.
gestellt hat.
Die Mehrwertsteuererhöhung lässt sich nicht durch
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk Einsparungen bei den Staatsausgaben ersetzen. Das
Niebel [FDP]: Wen meinen Sie denn?) sollte niemand behaupten. Damit meine ich nicht nur die
Diese positiven wirtschaftlichen Entwicklungen ha- Opposition, sondern – das sage ich ausdrücklich – auch
ben sich auch in der Steuerschätzung von Anfang des Institutionen wie die Deutsche Bundesbank oder die
Monats niedergeschlagen. meisten Wirtschaftsforschungsinstitute, die ständig öf-
fentlich den Eindruck erwecken, man könne das Konso-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) lidierungsaufkommen aus der Mehrwertsteuererhöhung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6409
Joachim Poß
(A) durchaus durch Einsparungen bei den Sozialtransfers Wir haben auf die Entwicklung in Europa bei den Unter- (C)
und den Subventionen erzielen. Leider werden diejeni- nehmensteuersätzen zu reagieren, aber nicht im Sinne ei-
gen, die so etwas predigen, selten konkret und nennen nes Steuersenkungswettlaufs. Vielmehr hat sich die poli-
nicht die Betroffenen. Dann müssten sie nämlich einge- tische Arbeitsgruppe zur Unternehmensteuerreform, die
stehen: Um das Aufkommen aus der Mehrwertsteuer- von Peer Steinbrück und Roland Koch geleitet wurde,
erhöhung zu ersetzen, müssten die Renten sofort und mit der zentralen Frage beschäftigt, wie wir Steuerge-
massiv gekürzt werden, müsste das Arbeitslosengeld II staltungen verhindern können, die die Steuerbasis in
sofort und massiv gesenkt werden und müssten wohl Deutschland unzulässig verringern. Wir können es uns
auch öffentliche Investitionen gekürzt werden. Das alles nicht leisten und unser Gemeinwesen kann es sich nicht
ist mit uns nicht zu machen. leisten, dass viele Unternehmen das grenzüberschrei-
tende nominale Steuersatzgefälle nutzen, um in
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland mit der hiesigen Infrastruktur erwirtschaf-
der CDU/CSU) tete Gewinne über bestimmte Finanzierungskonstruktio-
nen dem Zugriff des deutschen Fiskus zu entziehen. Das
Zudem sind massive Einschnitte bei den Transferleistun- ist zwar legal, aber politisch nicht akzeptabel, auch nicht
gen nicht gut für die Binnennachfrage. im Hinblick auf die vielen zahlenden Steuerzahlerinnen
Unsere Doppelstrategie, Haushaltskonsolidierung mit und Steuerzahler.
Konjunkturstabilisierung und Wachstumsförderung zu (Beifall bei der SPD)
verbinden, wird auch 2007 fortgeführt, und zwar nicht
nur mit dem 25-Milliarden-Euro-Impulsprogramm. Viel- Hier entgehen dem Staat viele Milliarden, die drin-
mehr senken wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag gend zur Finanzierung von Zukunftsaufgaben benötigt
um 2,3 Prozentpunkte. Trotz des Anstieges des Renten- werden. Nichtstun würde die Lage nicht verbessern, son-
versicherungsbeitrags und der erwarteten Erhöhung des dern auf Sicht sogar verschlechtern. Trotz der aktuell gu-
Krankenversicherungsbeitrags wird der Gesamtsozial- ten Prognosen des Steueraufkommens brauchen wir des-
versicherungsbeitrag damit im nächsten Jahr netto um wegen eine Unternehmensteuerreform.
etwa anderthalb Prozentpunkte sinken. Ich gehe fest da-
von aus, dass die von den Krankenkassen und manchen Dabei geht es darum: „Ja“ zu einer Stärkung der At-
Gesundheitspolitikern an die Wand gemalten Horrorzah- traktivität des Produktions-, Investitions- und Beschäfti-
len über die zu erwartenden Erhöhungen der GKV-Bei- gungsstandortes Deutschland; „Nein“, es geht nicht um
träge übertrieben sind. Der zusätzliche Zuschuss in Steuergeschenke für reiche Konzerne
Höhe von 1 Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau
(B) 2007 an die gesetzliche Krankenversicherung und eine (D)
Entschuldungsfrist für die gesetzlichen Krankenkassen darum geht es!)
bis Ende 2008 werden hier stark dämpfend wirken. Im und nicht um Steuerausfälle auf Dauer. „Ja“, es geht um
Übrigen sind die Krankenkassen im Moment im Protest verstärkte Steuerzahlung derjenigen Unternehmen an
sehr stark. Sie sollten aber endlich zeigen, wie gut sie den deutschen Fiskus, die sich bislang der deutschen Be-
bezüglich effizienter Aufgabenerfüllung und Verwaltung steuerung durch gezielte Gestaltung intensiv entzogen
tatsächlich sind. Hier sollten sich die Krankenkassen haben.
einmal beweisen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Insgesamt bietet der Kompromiss, den wir in der Ar-
In diesem Zusammenhang ist außerdem klar: Wir beitsgruppe von SPD und CDU/CSU gefunden haben,
werden in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode die sehr viele Verbesserungen. Insbesondere für den Mittel-
Frage klären müssen – der Bundesfinanzminister hat es stand gibt es erhebliche Verbesserungen. Die Lage des
am letzten Wochenende in einem Zeitungsinterview an- Mittelstandes wurde steuerlich schon in den letzten Jah-
gesprochen –, wie es um die Finanzierung der vereinbar- ren erheblich verbessert. Verbesserungen gibt es auch für
ten steigenden Bundeszuschüsse an die GKV in den die Kommunen, die sich auf eine stabile Finanzierung
nächsten Jahren bestellt ist. Vor dieser Entscheidung durch eine erweiterte Gewerbesteuer verlassen können.
steht die Koalition. Hier ist eine milliardenschwere Zu- Damit können sie hoffentlich endlich Aufträge vergeben,
sage erteilt worden. Damit gibt es dauerhaft eine zuneh- die auch für den Mittelstand in den Kommunen wichtig
mende Finanzierungslücke. Das müssen wir gemeinsam sind. Letztlich wird es auch Verbesserungen für die öf-
noch vor der nächsten Bundestagswahl regeln. fentlichen Haushalte insgesamt geben.
Ich glaube, dass die Nettosenkung der Sozialversiche- Ich wünsche mir, dass alle hier im Deutschen Bundes-
rungsbeiträge stimmungsaufhellend wirken wird und tag den weiteren Gesetzgebungsprozess zur Unterneh-
dass die Unternehmensteuerreform, die wir bis zum mensteuerreform konstruktiv begleiten und mitgestalten.
Sommer nächsten Jahres in das Bundesgesetzblatt brin- Es lohnt sich.
gen werden, einen Beitrag dazu leisten wird.
Vielen Dank.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mit oder ohne
Entlastung!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
6410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN – Bernhard (C)
Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die Brinkmann [Hildesheim] [SPD], zur FDP ge-
Fraktion Die Linke das Wort. wandt: Das verhindert die FDP mit!)
(Beifall bei der LINKEN) Wir als Linke haben einen Antrag zur Verlängerung der
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I eingebracht. Am
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Donnerstag wird dazu eine namentliche Abstimmung
stattfinden. Dann werden die Bürgerinnen und Bürger
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten wissen, wer wirklich wofür steht. Wir beantragen zusätz-
Damen und Herren! Ein BBC-Reporter fragte mich lich die Anhebung des Arbeitslosgeldes II auf 420 Euro
letzte Woche, warum die Bundesregierung denn in ei- im Monat und übernehmen damit die begründete Forde-
nem Umfragetief sei, wo doch die Konjunktur anspringe rung der Wohlfahrtsverbände. Auch hier, so denke ich,
und die Arbeitslosigkeit sinke. müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, wofür
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) sie stehen.
Die Antwort findet sich unter anderem in einer repräsen- (Beifall bei der LINKEN)
tativen Umfrage unter 600 Führungskräften aus Wirt- Obwohl ich einiges Positive benannt habe, will ich
schaft, Politik und Verwaltung. Mehr als die Hälfte der vor Euphorie warnen, nicht nur was den Linksruck in der
Befragten gab zu Protokoll, dass der wirtschaftliche CDU betrifft, sondern auch was den wirtschaftlichen
Aufschwung nichts mit der Arbeit der Regierung zu tun Aufschwung betrifft. Es gibt eine verbreitete Wahrneh-
habe. In dieser Frage scheint sich also die so genannte mungsstörung bei CDU, CSU und SPD. Es gibt nämlich
Elite ausnahmsweise mit der Mehrheit der Bevölkerung nicht den Aufschwung. Der wirtschaftliche Auf-
einig zu sein. schwung ist klar dreigeteilt. Für einen sehr kleinen Teil
Ich möchte zu Ihrer Überraschung die allgemeine der Gesellschaft geht es immer aufwärts, egal wie die
Kritik etwas relativieren; denn immer dann, wenn die allgemeine wirtschaftliche Lage ist. Ich denke zum Bei-
Regierung den Vorschlägen der Linken folgt, ist sie in spiel an die 300 reichsten Deutschen, die jedes Jahr im
Maßen erfolgreich. „Manager-Magazin“ genannt werden.
(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Koppelin (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Was lesen Sie
[FDP]: Hört! Hört!) denn alles?)
Die Linke fordert seit Jahren mehr öffentliche Investitio- Egal ob Krise oder Konjunktur, es herrscht immer
nen. Die Bundesregierung hat dieser Forderung teilweise Champagnerstimmung und es gibt immer einen Grund
(B)
nachgegeben und es zeigt sich, dass bei deren Umset- für die Vorstände von Siemens, der Deutschen Bank (D)
zung zur kurzfristigen Belebung der Binnennachfrage oder der Deutschen Bahn, sich die Gehälter dramatisch
beigetragen wurde. Ich will Sie daran erinnern, damit Sie zu erhöhen. Dieser Teil der Bevölkerung lebt in Sicher-
Ihre eigene Geschichte nicht vergessen, dass Herr Merz heit, weil es wirtschaftlich und politisch für ihn keine
und die neoliberale Lobby Überraschung gibt. Der Bundesrechnungshof hat in der
letzten Woche kritisiert, dass es vor allem im Süden
(Jürgen Koppelin [FDP]: Klassenkampf!) Deutschlands schon Steueroasen für Millionäre gibt.
noch vor ein paar Jahren heftig gegen öffentliche Inves- Besserverdienende haben dort bei einer normalen Le-
titionsprogramme wetterten und ausschließlich auf Steu- benserwartung Prüfungen des Finanzamtes nicht zu er-
ersenkung für Kapitalgesellschaften und Besser- und warten. Diese Situation ist wirklich obszön, meine Da-
Bestverdienende setzten. men und Herren.

(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: (Beifall bei der LINKEN)


Das wird durch ständiges Wiederholen nicht Für die Mittelschicht wird das Leben immer mehr zu
besser! Das ist immer noch falsch!) einer Fahrt in der Achterbahn. Angst macht sich breit.
Aber alle Erfahrung hat gezeigt: Die Steuersenkungen Immer mehr Menschen stehen vor existenziellen Fragen:
brachten Steuerausfälle und keine neuen Arbeitsplätze. Werden sie ihre Arbeit behalten? Verzichten sie auf ihr
Darum ist die fortdauernde Steuersenkungspolitik für Gehalt, um ihre Arbeitsplätze scheinbar zu sichern und
Besserverdienende falsch und wird von uns abgelehnt. um dann doch, wie die Mitarbeiter von BenQ, entlassen
zu werden?
(Beifall bei der LINKEN)
Und was noch schlimmer ist: Für eine immer größer
Ich will auf eine weitere beachtliche Wirkung der werdende Gruppe von Menschen in unserem Land wird
Linken hinweisen. Inzwischen spricht man sogar von ei- der soziale Abstieg durch den allgemeinen wirtschaftli-
nem Linksruck in der CDU. Das ist natürlich etwas über- chen Aufschwung nicht einmal aufgehalten. Diese Men-
trieben, aber Herr Rüttgers ist nicht dafür zu kritisieren, schen haben trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs kei-
dass er – wie wir als Linke – die Verlängerung der nen Cent mehr in der Tasche. Im Gegenteil, gerade arme
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I fordert; zu kriti- Menschen werden durch die Politik dieser Regierung
sieren ist nur, dass er dafür das Geld den jungen Arbeits- noch ärmer und ihre Chancen, aus der Armut zu entflie-
losen wegnehmen will. Das ist absurd und gesellschafts- hen, noch geringer. Wir teilen diese Einschätzung übri-
politisch kontraproduktiv. gens mit Bischof Huber. Er erklärte in der vergangenen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6411
Dr. Gesine Lötzsch
(A) Woche, es sei skandalös, dass in unserem reichen Land ternehmen um 29 Milliarden Euro entlasten soll. Das ist (C)
Armut wieder erblich ist. Ich glaube, das ist ein Armuts- nicht nur sozial ungerecht, das ist obszön.
zeugnis für unsere Gesellschaft.
(Beifall bei der LINKEN – Bernhard
(Beifall bei der LINKEN) Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Das stimmt
ja auch nicht!)
Besonders bedrückend ist die Konzentration der Ar-
mut in den neuen Ländern. Aber das spiegelt sich im Dabei liegt der effektive Steuersatz für Unternehmen in
Haushalt 2007 nirgends wider. Die meisten vermeiden Deutschland schon jetzt bei nur 16 bis 18 Prozent und
auch, über Armut zu sprechen, sondern sprechen zum damit sind deutsche Unternehmen weltweit mehr als
Beispiel von der Überschuldung einiger Bundesländer wettbewerbsfähig. Es bedarf also keiner weiteren Steuer-
und von der angeblichen Verschwendung von Solidar- entlastung von Unternehmen. Wer das fordert, vertritt
paktmitteln in Ostdeutschland. Der Zusammenhang von Lobbyinteressen und nicht die Interessen des gesamten
Armut und Überschuldung ist offensichtlich noch nicht Volkes, wie es unser grundgesetzlicher Auftrag ist,
allen deutlich geworden. Nicht nur die Herren Stoiber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Koch und Wulff, sondern auch Herr Steinbrück forderte Wer behauptet, dass die Unternehmensteuerreform
nach dem Urteil gegen Berlin Verschuldungsobergren- den Steuerzahler gar nichts kosten wird, der erinnere
zen für die Länder. Das klingt gut, das klingt entschlos- sich bitte an die letzte Steuerreform: Im Jahre 2001 wur-
sen, das ist aber grober Unfug. Damit würde man näm- den in Deutschland zum Beispiel noch 25,5 Milliarden
lich gegen die Erscheinung eines Problems vorgehen, Euro Körperschaftsteuer gezahlt. Ein Jahr später fielen
nicht aber die Ursachen bei den Wurzeln packen. die Einnahmen unter null und die Finanzämter mussten
(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: sogar 426 Millionen Euro an Unternehmen zurückzah-
Das ist Verschwendung, meinen Sie? Das Pro- len. Wenn das nicht eine Umverteilung von unten nach
blem heißt Verschwendung!) oben ist!

Sechs Bundesländer haben verfassungswidrige Haus- Wir als Linke wollen einen politischen Richtungs-
halte. In diesen Ländern ist die Nettokreditaufnahme hö- wechsel. Weitere Steuersenkungen für Unternehmen
her als die Investitionen. Wenn aber sechs von 16 Bun- schaffen keine neuen Arbeitsplätze. Das hat die alte, rot-
desländern, Herr Kollege, ihren Haushalt nicht in den grüne Regierung eindrucksvoll bewiesen. Dafür wurde
Griff bekommen, kann man ja wohl nicht mehr von Ein- sie abgewählt. Die Lasten in unserem Land müssen neu
zelfällen sprechen. Dafür muss es doch wohl gemein- verteilt werden. Starke Schultern müssen wieder mehr
same Ursachen geben. tragen und schwache Schultern müssen entlastet werden.
Wer diesen Richtungswechsel nicht will, der setzt auf
(B) (D)
(Dirk Niebel [FDP]: Kollektive Verschwen- Konfrontation und nimmt das Auseinanderdriften in un-
dung!) serer Gesellschaft billigend in Kauf. Sagen Sie nicht hin-
terher, Sie hätten es nicht gewusst!
Die Finanzkrise des Bundes, der Länder und Gemein-
den ist vor allem ein Ergebnis der falschen Steuerpolitik (Beifall bei der LINKEN)
der alten und der neuen Bundesregierung.
Während der Haushaltsberatungen ging es auch um
(Beifall bei der LINKEN) die Verwendung der zu erwartenden Mehreinnahmen.
Der SPD-Vorsitzende Beck schlug als Erstes vor, dieses
Allein die Steuersenkungen der rot-grünen Bundesregie- Geld in die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu ste-
rung haben jährliche Ausfälle von 60 Milliarden Euro cken. Einen absurderen Vorschlag eines SPD-Vorsitzen-
für Bund, Länder und Gemeinden verursacht. den habe ich lange nicht gehört. Aber er wurde ihm au-
Ein letztes Wort noch zur Finanzsituation Berlins. genscheinlich relativ schnell ausgeredet.
Kulturstaatsminister Neumann wirft Berlin vor, dass es Wir als Linke wollen die Mehreinnahmen nutzen, um
aus der Finanzierung des Stadtschlosses aussteigt. Diese grobe Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft zu be-
Kritik ist mir völlig unverständlich. Die Bundesregie- kämpfen. Wie bereits erwähnt, wollen wir das Arbeitslo-
rung kann doch nicht einerseits behaupten, Berlin spare sengeld II – bekannt als Hartz IV – auf 420 Euro im Mo-
nicht ausreichend, und gleichzeitig erwarten, dass Berlin nat anheben. Weiterhin wollen wir die Zuschüsse für die
ein völlig nutzloses Stadtschloss mit dreistelligen Millio- Krankenkassen erhöhen, um ein Ansteigen der Kassen-
nenbeträgen finanziert. Das wäre wirklich Verschwen- beiträge im nächsten Jahr zu verhindern. Wir haben dazu
dung. Herr Kollege Niebel, an der Stelle hätten Sie „Ver- einen Antrag in die Beratungen eingebracht, der von der
schwendung“ dazwischen rufen können. Koalition abgelehnt wurde. Allerdings hat die Bundes-
(Beifall bei der LINKEN) kanzlerin persönlich unseren Antrag in einer Miniver-
sion übernommen. Ihr ging es dabei allerdings weniger
Meine Damen und Herren, wir müssen uns fragen, ob um höhere Beiträge als vielmehr um die Umsetzung ih-
der Haushalt 2007 einen Beitrag dazu leistet, die Pro- res alten Konzeptes von der Kopfpauschale. Das lehnen
bleme der Gegenwart und der Zukunft in unserem Land wir als unsolidarisch ab.
zu meistern. Der Haushalt 2007 belastet vor allem arme
(Beifall bei der LINKEN)
Menschen, Rentner, Familien und Kinder mit rund
30 Milliarden Euro. Gleichzeitig aber plant die Bundes- Ich will betonen, dass wir in unserem Entschließungs-
regierung eine Unternehmensteuerreform, die die Un- antrag und auch in den Haushaltsberatungen sowohl
6412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Vorschläge für Mehreinnahmen als auch Einsparvor- genauso unsozial wie dieser gesamte Haushalt. Darum (C)
schläge gemacht haben. Auf einige dieser Einsparvor- lehnen wir ihn ab.
schläge möchte ich hier eingehen. Ich kann dabei an den
Vielen Dank.
Kollegen Koppelin von der FDP anknüpfen. Die Bun-
desregierung will im nächsten Jahr noch einmal mehr (Beifall bei der LINKEN)
Geld für Verteidigung ausgeben. Ich sage Ihnen:
28 Milliarden Euro sind eine Stange Geld. Zum Ver- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gleich: Für zivile Investitionen gibt die Bundesrepublik Dr. Michael Meister ist der nächste Redner für die
in der gleichen Zeit nur 24 Milliarden Euro aus, also CDU/CSU-Fraktion.
4 Milliarden Euro weniger als für den Militärhaushalt.
Ich finde, da stimmt es vorne und hinten nicht. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
Ist es nicht völlig verrückt, dass wir in Friedenszeiten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
mehr Geld für Rüstung und Militär ausgeben als für zi- Herren! In dieser Woche werden wir den Bundeshaus-
vile Investitionen? Offensichtlich hat fast niemand in halt 2007 verabschieden.
diesem Lande damit ein Problem. Selbst der Bund der
(Jürgen Koppelin [FDP]: Auf Nimmer-
Steuerzahler, der sich sonst immer meldet, schweigt sto-
wiedersehen!)
isch, wenn es um die Verschwendung von Steuermitteln
bei der Bundeswehr geht. Die Kollegen im Haushaltsausschuss haben eine gute
Grundlage dafür geschaffen, dass die Koalition im Jahre
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 2007 einen entscheidenden Schritt auf dem Konsolidie-
Die Bundesregierung versucht nun, die hohen Ausga- rungspfad vorankommen wird.
ben mit der steigenden Terrorgefahr zu begründen. Doch Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von
schaut man sich die großen Beschaffungsprojekte der der FDP, selbst die kritische Öffentlichkeit erkennt mit-
Bundeswehr an – wir werden darüber morgen ausführ- tlerweile an, dass die Koalition beim Projekt Etatsanie-
lich diskutieren –, erkennt man, dass die meisten dieser rung auf dem richtigen Wege ist.
Projekte noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammen.
Kann mir jemand aus der Koalition erklären, wie man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mit Panzerhaubitzen Terroristen jagen will? neten der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) Auch Herr Kollege Koppelin – man hat es an seinem Re-
(B) debeitrag gemerkt – hat ja keinen richtigen Ansatzpunkt (D)
– Nein, auch der Minister nicht. gefunden, um Kritik zu üben. Populismus, Herr
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Im Zweifel Koppelin, ersetzt keine solide und seriöse Finanzpolitik
kann es der Abgeordnete Jung erklären!) für die Bundesrepublik Deutschland.

Der Innenminister hat mit der gleichen Begründung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
in letzter Sekunde ein 132-Millionen-Euro-Programm in Binnen zwölf Monaten hat diese Koalition die Netto-
den Haushaltsausschuss eingebracht. Dabei setzt man kreditaufnahme im Bundeshaushalt etwa halbiert. Wir
auf flächendeckende Überwachung und auf den Abbau haben sie von einem Niveau von 40 Milliarden Euro auf
von Bürgerrechten. Die SPD hätte ein solches Paket vor unter 20 Milliarden Euro Nettoneuverschuldung ge-
zwei Jahren nur mit spitzen Fingern angefasst und sich senkt. Zwar ist auch in Zukunft eine weitere Absenkung
angewidert abgewandt. Nun hat sie zugestimmt. der Nettokreditaufnahme ein Gebot der Stunde,
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist leider wahr!) (Ulrike Flach [FDP]: Da ist Herr Steinbrück
Abschließend will ich auf eine weitere Einsparmög- aber anderer Meinung!)
lichkeit hinweisen. Wir sind der Auffassung, dass die aber man sollte den gewaltigen Schritt, den wir nach
kostenintensive Teilung der Bundesregierung mit den vorne gemacht haben, anerkennen.
Standorten Bonn und Berlin ein Ende finden muss.
Der Wanderzirkus sollte spätestens bis zum Jahr 2012 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
beendet sein. Es kann doch nicht sein, dass wir uns in ei- Weiterhin reden wir im Zusammenhang mit dem
nem Land, in dem wir von jedem Mobilität und Flexibi- Haushaltsentwurf 2007 – das ist hier schon vorgetragen
lität verlangen, diesen Luxus an ministeriellem Behar- worden – über die niedrigste Nettokreditaufnahme seit
rungsvermögen leisten. der Wiedervereinigung. Auch an diesem gewaltigen
Schritt zeigt sich, wie ich glaube, dass diese Koalition
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
das Thema „Konsolidierung des Bundeshaushaltes“
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
ernst nimmt.
GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, mein letzter Satz: Selbst-
verständlich fordern wir auch an dieser Stelle die Rück- Auch auf Folgendes möchte ich hinweisen: Nachdem
nahme der Mehrtwertsteuererhöhung. Diese Steuererhö- Deutschland fünf Jahre hintereinander, nämlich in den
hung ist unsozial und Gift für die Konjunktur. Sie ist Jahren 2001 bis 2005, Kriterien des Maastrichtvertrages
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6413
Dr. Michael Meister
(A) verletzt hat, unterschreiten wir nun sowohl 2006 als auch schung, Technologie und Entwicklung an der Spitze (C)
2007 das Kriterium der Nettoneuverschuldung und kom- marschieren und damit trotz angespannter Haushaltslage
men in 2007 in die Nähe von 2 Prozent Nettoneuver- einen wesentlichen Beitrag zu Wachstum und Beschäfti-
schuldung. Das ist doch etwas: Wir halten europäisches gung leisten.
Recht ein, eigentlich eine Normalität, aber um dies zu
realisieren, waren gewaltige Anstrengungen nötig. Ich (Ulrike Flach [FDP]: Deswegen kommt es
würde mich freuen, wenn das in dieser Debatte zur auch beim Kunden nicht an!)
Kenntnis genommen würde. – Es kommt sehr wohl beim Kunden an. Es liegt ein
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stück weit an Ihrer Realitätsverweigerung, dass Sie ein-
neten der SPD) fach nicht erkennen, dass wir eine halbe Million Arbeits-
lose weniger,
Der Hinweis, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
dies alles über Maßnahmen auf der Einnahmeseite (Ulrike Flach [FDP]: Aber doch nicht durch die
realisiert wird, ist falsch. Die Konsolidierung erfolgt Hightechstrategie! Das ist doch Quatsch!)
überwiegend auf der Ausgabenseite. 300 000 Sozialversicherungspflichtige mehr und einen
(Jürgen Koppelin [FDP]: Wo denn? Erzählen massiven Aufwuchs bei den Steuereinnahmen haben und
Sie dazu einmal etwas!) dass das Wachstum höher ist, als in den vergangenen
fünf, sechs Jahren überhaupt zu träumen war. Kommen
Dies haben wir vereinbart und nun umgesetzt. Selbst Sie doch mal in die Realität, bevor Sie hier Zwischen-
wenn Sie hundertmal etwas anderes behaupten, wird das rufe machen!
damit nicht richtiger. Fakt bleibt: Wir konsolidieren vor-
nehmlich über Maßnahmen auf der Ausgabenseite. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Ulrike Flach [FDP]: Sie reden doch von High-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tech!)
neten der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Stimmt
doch gar nicht!) Wir haben auch etwas getan, um die Investitions-
bedingungen zu stärken. Denn wir haben doch gelernt,
In der Situation, die wir vorgefunden haben, wäre es dass wir, wenn wir nur sanieren, die Konjunktur abwür-
uns nicht möglich gewesen – das hat uns der Vorsitzende gen würden. Wir müssen neben der Haushaltssanierung
des Sachverständigenrates in der Anhörung zum Haus- und dem Sparen, was richtig und wichtig ist, auch für
haltsbegleitgesetz bestätigt –, sowohl das Neuverschul- mehr Wachstum sorgen. Dazu haben wir zunächst ein-
dungskriterium aus dem Maastrichtvertrag als auch die mal Investitionsanreize gesetzt. Ich nenne nur die günsti-
(B) Vorgaben von Art. 115 des Grundgesetzes einzuhalten, gen Investitionsbedingungen für die Unternehmen über (D)
wenn wir nicht gleichzeitig neben den Sparbemühungen die degressive AfA und die Möglichkeiten im Privat-
auf der Ausgabenseite auch auf der Einnahmeseite etwas haushalt. Das dient der Ankurbelung der Konjunktur.
getan hätten. Wir sind jetzt in der Pflicht – das wird der dritte Schritt
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sein –, dies auch mit strukturellem Wachstum zu unter-
der SPD) füttern. Meine Bitte ist, dass Sie nicht nur Zwischenrufe
machen, sondern gelegentlich auch mit einem konstruk-
Deshalb haben wir uns nicht mit Freude, sondern aus tiven Vorschlag kommen, wie man das eine oder andere
Verantwortung vor der Aufgabe dazu entschlossen, auch Projekt struktureller Reformen nach vorne bringen kann.
etwas auf der Einnahmeseite zu tun.
(Ulrike Flach [FDP]: Da liegt ein Antrag vor!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Ich greife den Einwurf von Herrn Koppelin zum
Jetzt dürfen Sie sich gerne mit uns darüber freuen, Thema Lohnnebenkosten, Arbeitskosten auf. Es ist doch
dass wir die Vorgaben des Art. 115 des Grundgesetzes ein gewaltiger Schritt, wenn wir zum 1. Januar 2007 den
im kommenden Haushalt wieder einhalten werden; denn Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2,3 Prozent-
die Nettokreditaufnahme ist niedriger als die Investi- punkte senken können.
tionssumme, und zwar nicht nur deshalb, weil die Netto-
kreditaufnahme sinkt, sondern auch, Herr Koppelin (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
– das nehmen Sie ja nicht zur Kenntnis –, weil die Inves- neten der SPD)
titionssumme wieder steigt. Das bedeutet, wir tun auch Das dient der Förderung der legalen Arbeit in Deutsch-
qualitativ etwas für den Bundeshaushalt, land. Deshalb können Sie nicht sagen, es geschehe nichts
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – an dieser Stelle.
Jürgen Koppelin [FDP]: Nennen Sie einmal Dann sagen Sie, der Rentenbeitrag steige leider. Ich
den Prozentsatz!) glaube, genauso wichtig wie die Zahlen, die wir nennen,
indem wir zum Beispiel die Bereiche Forschung und ist die Tatsache, dass Politik in Deutschland verlässlich,
Technologie stärken. Ich erinnere an das Programm zur berechenbar und stetig ist.
Hightech-Strategie von Kollegin Schavan. Wir haben (Jürgen Koppelin [FDP]: Was?)
uns als Koalition „committed“, dass dies auch in den
nächsten vier Jahren mit dem entsprechenden Geld un- Mit dem Rentenbeitrag, den wir jetzt festlegen, können
terlegt wird und dass wir dafür sorgen, dass wir bei For- wir über die komplette Wahlperiode hinweg ein stabiles
6414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Michael Meister


(A) Niveau halten. Damit sorgen wir für verlässliche Rah- zurückhaltend; das ist vorhin schon angesprochen wor- (C)
menbedingungen an dieser Stelle. den. Ich warne hier auch vor jeglicher Euphorie. Diese
hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass wir im-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mer wieder am Jahresende mit Negativbotschaften über-
Ich hätte mich gefreut, wenn Sie, Herr Koppelin, in der rascht wurden. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal die
Öffentlichkeit gesagt hätten: Zur Sanierung der Renten- Erfahrung gemacht, dass die Botschaften positiv waren.
versicherung startet die Koalition das Projekt „Rente mit Deshalb ist das der richtige Ansatz.
67“ und die FDP geht, weil sie das für richtig hält, kräf- Auch Herr Engels vom Bundesrechnungshof sagt
tig mit voran. – – ich darf zitieren –:
(Otto Fricke [FDP]: Sie haben ja noch nicht Rechnet euch nicht die Steuern schön, weil sonst
einmal etwas vorgelegt!) der Haushalt sofort wieder in eine Schieflage
Ich habe von Ihnen keinen Ton dazu gehört. Sie verwei- kommt, dieweil alle Welt der Notwendigkeit entho-
gern sich den strukturellen Reformen, sind aber nicht be- ben ist, an der Ausgabenseite zu sparen und Priori-
reit, andere Vorschläge zu machen. Das muss man ein- täten zu setzen.
fach einmal deutlich festhalten. Recht hat er.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Beifall bei der FDP)
Jürgen Koppelin [FDP]: Das liegt doch noch
nicht einmal auf dem Tisch! – Ulrike Flach Die Koalition handelt gemäß dieser These. Deshalb sind
[FDP]: Das ist doch alles virtuell!) wir auf dem richtigen Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sanieren, investie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ren, reformieren – das ist, glaube ich, der richtige Drei- neten der SPD)
klang. Ich sage allerdings deutlich: Wir dürfen nach die- Ich will darauf hinweisen, dass vor 40 Jahren etwa
sem ersten gewaltigen Sanierungsschritt nicht übermütig 27 Prozent der Wirtschaftsleistungen für Investitionen in
werden. Wir müssen der Konsolidierung des Haushalts die Zukunft und 22 Prozent für Sozialausgaben einge-
auch für die folgenden Jahre erste Priorität einräumen, setzt wurden. Heute, also 40 Jahre später, geben wir
damit die Handlungsspielräume künftiger Generationen etwa 10 Prozent weniger für Investitionen und 10 Pro-
nicht noch weiter beschnitten werden. Ein Blick auf die zent mehr für Sozialausgaben aus. An dieser Stelle be-
Zinslasten im Bundeshaushalt – wir geben rund 15 Pro- steht für uns also die große Herausforderung, im Haus-
zent unseres Geldes für Zinsen aus; das heißt, wir kom- halt umzusteuern, die Investitionen wieder zu stärken
(B) men für Ausgaben auf, die in der Vergangenheit zu viel und durch vernünftige Reformen die Aufwendungen (D)
getätigt worden sind, und zwar zulasten der Zukunft – für Sozialleistungen zurückzuführen. Das hat nichts mit
zeigt, dass es dringend notwendig ist, dass wir an dieser Sozialabbau zu tun. Die entscheidende Frage ist, wie
Stelle umsteuern und zu einer Finanzierung der Zukunft wieder mehr Menschen in den ersten Arbeitsmarkt kom-
übergehen, meine Damen und Herren. men. Wenn das der Fall ist, müssen wir weniger für So-
(Otto Fricke [FDP]: Wie wollen Sie das denn zialleistungen ausgeben und haben gleichzeitig mehr
machen?) Möglichkeiten für die Finanzierung unserer gesamtstaat-
lichen Aufgaben. Unser Ansatz ist also, durch Verbesse-
Ich will an dieser Stelle folgenden Einwurf machen. rung der Chancen am ersten Arbeitsmarkt das von mir
Wir haben ja ein außerordentlich niedriges Zinsniveau. soeben beschriebene Problem zu lösen.
Dennoch bin ich der Meinung, dass es für die Menschen
in unserem Land neben der Haushaltskonsolidierung un- (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)
geheuer wichtig ist, dass wir auch eine unabhängige Ich will noch auf einen Punkt eingehen, den meine
Geldpolitik haben, Vorrednerin von der PDS angesprochen hat. Es geht um
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! – das Thema Sicherheit. Ich glaube, es ist die Grundforde-
Ulrike Flach [FDP]: Das müssen Sie Herrn rung an jedes Staatswesen, seinen Bürgern Sicherheit zu
Poß sagen!) gewähren.

die für stabiles Geld und eine niedrige Inflation sorgt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
was die Basis einer vernünftigen Sozialpolitik ist; denn neten der SPD – Dr. Gesine Lötzsch [DIE
es gibt nichts Unsozialeres als steigende Inflationsraten. LINKE]: Sicherheit, aber keine Überwa-
chung!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Ein Staat, der seinen Bürgern keine Sicherheit gewährt,
wird von ihnen nicht mehr akzeptiert. Es ist daher rich-
Wir stellen uns den weiteren Herausforderungen. Bei tig, dass sich diese Koalition dazu entschieden hat, im
einem gesamtstaatlichen Defizit von 2 Prozent ist die Bereich des Bundesministers der Verteidigung und des
Konsolidierung nicht beendet. Vielmehr muss sie weiter- Bundesinnenministers die notwendigen zusätzlichen
geführt werden. Deshalb werden wir in den kommenden Aufwendungen für mehr Sicherheit zu tätigen, um den
Jahren in einer Größenordnung von gesamtstaatlich rund vor uns liegenden Herausforderungen durch den interna-
10 Milliarden Euro weiter konsolidieren müssen. Dabei tionalen Terrorismus gerecht zu werden. Ich sage ein-
sind unsere Annahmen für Wachstum und Beschäftigung deutig: Auch hier ist die große Koalition auf dem richti-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6415
Dr. Michael Meister
(A) gen Wege und handelt im Interesse der Bürger der Ich persönlich glaube, Herr Koppelin, dass über mehr (C)
Bundesrepublik Deutschland. Wachstum und Beschäftigung der Bundeshaushalt und
auch die Haushalte von Ländern und Kommunen dauer-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haft stabilisiert werden. Sie werden nicht durch Einzel-
neten der SPD) maßnahmen stabilisiert, sondern durch die Schaffung
Wir haben die Föderalismusreform I abgeschlossen. von besseren Rahmenbedingungen für Wachstum und
Auch dies war ein gewaltiger Schritt in den ersten zwölf Beschäftigung. In diesem Zusammenhang ist die Unter-
Monaten. nehmensteuerreform ein herausragender Pfeiler.

(Beifall des Abg. Jochen-Konrad Fromme Ich will auf einen weiteren Punkt hinweisen. Wir dis-
[CDU/CSU]) kutieren hier über Geld, also über die Frage: Was kostet
uns diese Reform? Das ist eine sehr statische Betrach-
Wir stehen nun vor einem weiteren großen Projekt. Wir tung. Denn wir unterstellen bei dieser Betrachtung, dass
haben uns nämlich darauf verständigt, eine wir das Steuerrecht ändern und sich alle Mitspieler ge-
Föderalismusreform II auf den Weg zu bringen, bei der nauso verhalten wie vorher, dass kein Einziger sein Ver-
es um die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern halten nach der Reform des Steuerrechts ändert. Das ist
und Gemeinden geht. An dieser Stelle ist es wichtig doch eine Annahme, die nicht von dieser Welt ist. Es ist
– wir reden ja auch über Defizite –, einmal zu überprü- doch folgendermaßen: Wenn ich die Regeln ändere, ver-
fen, ob die heutigen Verschuldungsregeln, die im Grund- halten sich die Spieler auf dem Spielfeld anders. Wenn
gesetz und im Maastricht-Vertrag enthalten sind, über- ich den Fußballern heute erlaube, auch die Hände zu be-
haupt noch konsistent zueinander sind oder ob es nicht nutzen, dann werden sie ab morgen auch mit den Hän-
notwendig ist, sie besser aufeinander abzustimmen und den spielen. Solange dies verboten ist, tun sie es nicht.
sie in der Weise zu gestalten, dass tatsächlich eine Poli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
tik für zukünftige Generationen gemacht wird. Deshalb Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sehr sach-
ist es richtig, dass dieser Punkt an dieser Stelle auf der kundig!)
Tagesordnung steht. Die Koalition wird sich auch dieser
Herausforderung stellen. Das heißt, Regeländerungen führen zu Verhaltensände-
rungen. Das muss zur Kenntnis genommen werden. Des-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und halb müssen wir aufhören, von statischen Betrachtungen
der SPD) auszugehen, und müssen zu dynamischen Betrachtungen
übergehen. Denn unser Land braucht Dynamik und nicht
Ich will abschließend noch auf das Thema Strukturre- Statik.
formen eingehen. Herr Koppelin sagte, die Koalition
(B) käme beim Thema Unternehmensteuerreform nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
voran. Wie auch der Kollege Poß habe ich der Arbeits- neten der SPD)
gruppe angehört, die sich mit dieser Reform befasst hat. Wer eine dynamische Betrachtung durchführt, wird
Die Koalition hat sich trotz dieses hochkomplexen The- sehen, dass es zu Verhaltensänderungen der Steuer-
mas auf schlüssige und tragfähige Eckpunkte geeinigt. pflichtigen kommt. Kollege Poß hat zu Recht angespro-
Man kann also nicht den Eindruck gewinnen, dass es bei chen, dass wir dafür sorgen wollen, dass Gewinne, die in
diesem Thema nicht vorangegangen ist. Jetzt stehen wir Deutschland erwirtschaftet werden, auch hier der Be-
vor der Aufgabe, die Eckpunkte mithilfe eines Gesetzes steuerung unterzogen werden. Wir erwarten Verhaltens-
umzusetzen. Nach den ersten Einschätzungen des ZEW änderungen. Wir stoßen sie durch die von uns getroffe-
aus Mannheim werden wir dann, was die Wettbewerbs- nen Maßnahmen an.
fähigkeit des Standorts Deutschland betrifft, vom letzten
Platz auf einen Platz im Mittelfeld vorrücken. Wenn man vom Tabellenende ins Tabellenmittelfeld
kommen will, dann geht es auch darum, am Standort
Ich hätte mir gut vorstellen können, dass kritisiert Deutschland für mehr Investitionen, mehr Beschäftigung
werden würde, warum wir nur solche Punkte beschlos- und damit natürlich für mehr Einnahmen zu sorgen, die
sen haben, die uns vom Tabellenende ins Mittelfeld füh- wir bei geringeren Tarifen erzielen wollen. Man sollte
ren, und nicht solche Punkte, die uns weiter an die Spitze also keine statische Betrachtung anstellen, sondern die
führen. Eine solche Debatte hatte ich eigentlich erwartet. Dynamik, die erzeugt wird, zur Kenntnis nehmen.
Aber die Debatte in Deutschland verläuft in die andere Das, was wir zur Sanierung des Bundeshaushaltes
Richtung. Es wird die Frage gestellt, ob wir überhaupt aufgelegt haben, ist ein sehr ehrgeiziges Programm. Ich
vom Tabellenende weg müssen. Ich sage dazu eindeutig glaube, dass es uns gelungen ist, die verschiedenen Bau-
Ja. Wenn wir langfristig Wachstum und Beschäftigung steine, nämlich Sanieren, Investieren und Reformieren,
wollen, dann müssen wir etwas für bessere Standortbe- in richtiger Weise zusammenzuführen und zu mischen.
dingungen in Deutschland tun, was uns vom Tabellen- Diese Koalition unter Führung der Union ist auf dem
ende ins Mittelfeld führt. richtigen Wege.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich freue mich auf diese Haushaltswoche und glaube,
neten der SPD – Beifall bei der FDP) dass sowohl das Parlament als auch die Öffentlichkeit
Ich würde mich freuen, wenn diese Unternehmensteu- unseren Weg bestätigen werden.
erreform als eine Zukunftsinvestition verstanden würde. Vielen Dank.
(Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
6416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Euro erhöhen. Das sind knapp 20 Milliarden Euro, je (C)
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat nachdem wie hoch die Privatisierungserlöse ausfallen.
die Kollegin Anja Hajduk das Wort. Sie planen also Mehreinnahmen in Höhe von etwa
20 Milliarden Euro und eine Senkung der Nettokredit-
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aufnahme um circa 11 Milliarden Euro.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Herren! Die große Koalition hat – das kann man feststel- GRÜNEN]: Unglaublich!)
len – Fortune. Im Interesse unseres Landes kann man das
als Opposition auch ertragen. Aber nicht zu akzeptieren Was heißt das? Das heißt, Sie steigern die Ausgaben bei
ist, dass die Kollegen der großen Koalition – das ist bei guter wirtschaftlicher Entwicklung. – Wer angesichts
Herrn Meister gerade wieder deutlich geworden – nicht von Mehreinnahmen in Höhe von 20 Milliarden Euro
zwischen der Fortune, die sie haben, und dem, was sie die Nettokreditaufnahme nur um die Hälfte senkt, Herr
„eigene gewaltige Anstrengungen“ nennen, unterschei- Röttgen, der kann nicht von einem Methodenwechsel in
den können. der Haushaltspolitik der großen Koalition reden. Sie leh-
nen sich zurück und sonnen sich in der rosaroten Kon-
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist wohl wahr!) junkturentwicklung. Das kann dieses Land eigentlich
Das ist schlicht und ergreifend lächerlich. Das sagt nie- nicht gebrauchen.
mand anderes; nur Sie betonen das in Ihren Reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CSU]: Bei Ihnen war es das Dreifache!)
LINKEN) Sie als große Koalition müssten mehr leisten und ehrlich
Ich will das belegen. Schauen wir uns das Haushalts- Zeugnis über Ihre Möglichkeiten ablegen. Das wissen
jahr 2006 an. Sie haben sich in den Koalitionsverhand- Sie auch. Sie lehnen sich stattdessen bei konjunkturel-
lungen für eine Nettokreditaufnahme von 38 Milliar- lem Rückenwind zurück. Sie sind aufgrund Ihrer grund-
den Euro entschieden. Sie haben gesagt, diese brauche sätzlichen Differenzen erschöpft; das verstehe ich natür-
man 2006, damit die Wirtschaft anspringe. Wir werden lich.
in diesem Jahr bei einem Wirtschaftswachstum von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
2,5 Prozent – Deutschland liegt damit deutlich über sei-
nem Potenzialwachstum – Ich komme nun auf einen zweiten Bereich zu spre-
chen. Wie erbringen Sie Ihre Einsparungen? Herr
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
(B) Meister hat wiederholt, was uns Herr Steinbrück im (D)
bei einer gleichzeitigen Nettokreditaufnahme von Sommer gesagt hat: Auf der Ausgabenseite würden
30 Milliarden Euro liegen. Das ist ein klarer Verstoß ge- 60 Prozent konsolidiert und es sei eine Legende der Op-
gen die Verfassung. Das hat Ihnen der Sachverständigen- position, dass die Steuereinnahmen der Hauptkonsolidie-
rat vor einigen Tagen gesagt. rungsbeitrag wären.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will deutlich machen, woraus Ihre Haupteinspa-
sowie bei Abgeordneten der FDP) rungen bestehen: Die erste Verschiebung findet zuguns-
ten des Haushalts und zulasten der Rentenkasse in Höhe
Zumindest im Haushaltsvollzug hätten Sie stärker ge-
von 2 Milliarden Euro statt, weil Sie die Rentenzu-
gensteuern können. Ihre haushaltspolitische Zielsetzung
schüsse für die Bezieher von Arbeitslosengeld II von
in Ihrem ersten Haushaltsjahr war, sich Schulden in
78 auf 45 Euro senken. Der zweite Verschiebebahnhof
Höhe von 38 Milliarden Euro zu gestatten. Dass Sie jetzt
heißt Gesundheitsversicherung. Sie wollten 2,8 Mil-
nur Schulden in Höhe von 30 Milliarden Euro machen,
liarden Euro in diesem Jahr zulasten der Gesundheitsver-
feiern Sie schon als Erfolg. Das bezahlen die Bürgerin-
sicherung zugunsten des Haushalts verschieben. In der
nen und Bürger dieses Landes aber mit steigenden Zin-
Gesundheitsreform ist das Verschieben aber uneindeutig,
sen. Das ist ein Armutszeugnis für Ihre Politik.
weil ständig einer die Weichen umstellt: Mal sollen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keine Steuereinnahmen in die Gesundheitsversicherung
sowie bei Abgeordneten der FDP – Steffen fließen, ein andermal sollen mehr Steuereinnahmen in
Kampeter [CDU/CSU]: Nicht zu selbstge- die Gesundheitsversicherung fließen. Die Kanzlerin fügt
recht, Frau Kollegin!) hinzu: Das findet nur statt, wenn die Steuereinnahmen
das konjunkturell zulassen. Auf diesen Aspekt komme
Das setzt sich fort. Wie ist es denn im Haushalt 2007? ich gleich noch einmal zurück.
Im Haushalt 2007 ist eine Nettokreditaufnahme von un-
ter 20 Milliarden Euro geplant. Das ist besser als in den Im Bereich der Gesundheit gibt es einen Zickzack-
letzten Jahren unter Rot-Grün. Das weiß ich; das leugne kurs und im Bereich der Rente einen Verschiebebahnhof.
ich auch nicht. Aber Sie sollten diese Zielsetzung an den Das sind dann die berühmten strukturellen Einsparungen
Spielräumen messen, die Sie haben. Im Bund wird es von Herrn Steinbrück, die in diesem Haushalt 3,8 Mil-
Steuermehreinnahmen in Höhe von knapp 18 Milliarden liarden Euro ausmachen. Meines Erachtens ist das aber
Euro geben; die Steuereinnahmen steigen laut Steuer- nichts anderes als eine unehrliche Masche, die nicht nur
schätzung im Vergleich zu 2006 um diesen Betrag. Sie die Bürgerinnen und Bürger belastet, sondern auch den
wollen zusätzlich die Privatisierungen um 2,5 Milliarden Faktor Arbeit. Darauf komme ich jetzt zu sprechen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6417
Anja Hajduk
(A) Das selbst gesetzte Ziel, die Lohnnebenkosten auf was die Finanzierung betrifft, gänzlich missraten. Das (C)
unter 40 Prozent zu drücken, wird glatt verfehlt, Frau sagen alle, die davon Ahnung haben und sich als Exper-
Merkel. Ich will Ihnen eine Rechnung vorlegen, die eine ten melden. Das wissen Sie auch. Deshalb haben Sie,
ehrliche Bilanz der Lohnnebenkosten aufweist: Bei der wenn Sie sich dazu äußern müssen, auch einen sehr
Pflegeversicherung bleibt es bei einem Beitrag von schweren Stand. Ich habe das jüngst selbst erlebt.
1,7 Prozent. Das ist von mir freundlich gerechnet; denn
die Reform ist hier überfällig. Bei der Krankenversiche- Wenn an dem Fonds, den Sie einrichten werden, auch
rung liegt der Durchschnittsbeitrag momentan bei die PKV beteiligt wäre, wenn auch andere Finanzie-
14,3 Prozent. rungsmittel einfließen würden, hätte man einen Fonds
vielleicht noch rechtfertigen können. Jetzt ist dieser
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wie hat sich Fonds nichts anderes als eine Form, in die Sie Ihren fau-
das unter grüner Regierungsbeteiligung alles len Kompromiss gegossen haben. Er ist schädlich für das
entwickelt?) Gesundheitssystem. Deswegen ist die große Koalition an
Dieser Beitrag wird, wiederum sehr koalitionsfreundlich dieser Stelle gescheitert.
gerechnet, im nächsten Jahr auf 15 Prozent steigen. Der (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Na! – Dr. Peter
Rentenversicherungsbeitrag liegt zurzeit bei 19,5 Pro- Ramsauer [CDU/CSU]: Haben Sie Halluzina-
zent. Durch die Politik der großen Koalition wird er im tionen, oder was?)
nächsten Jahr bei 19,9 Prozent liegen. Der Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung liegt bei 6,5 Prozent. Die Sen- Ich stelle die These auf, dass Sie die Gründung dieses
kung des Beitrags um 1,3 Prozentpunkte, die aus den Fonds und die Durchführung dieser Gesundheitsreform
Anstrengungen der BA resultiert, kann sich die große deswegen nicht lassen können, weil Sie sie zum Maßstab
Koalition aber nicht auf die eigene Fahne schreiben. für die Handlungsfähigkeit der großen Koalition ge-
macht haben. Wenn Sie auch nur ein bisschen ernst näh-
(Peer Steinbrück, Bundesminister: Sicher! Wer men, was Ihnen Sachverständige zu dieser Reform sa-
denn sonst?) gen, dann müssten Sie sagen: Wir machen diese Reform
5,2 Prozentpunkte in der Arbeitslosenversicherung sind nur hinsichtlich der Ausgaben, nicht jedoch hinsichtlich
Produkt der Reformen von Hartz I bis Hartz IV, die Sie der Finanzierung. Diese wird verschoben, weil es 2009
teilweise bekämpft haben und bei denen Herr Rüttgers sowieso eine Wahlauseinandersetzung über die Gesund-
jetzt schon wieder wackelt, Frau Merkel. Das wird noch heitsreform gibt. Wir verzichten auf diesen Unfug. – Das
zu einem Problem für Sie. wäre souverän. Ansonsten tun Sie dem System keinen
Gefallen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
Überlegen Sie doch: Die Bundesagentur hat durch
ihre Reformanstrengungen einen Eigenbeitrag in Höhe Warum spreche ich das in dieser Haushaltsdebatte an?
von 1,3 Prozentpunkten erbracht. Insofern landeten die Frau Bundeskanzlerin, Ihre Reformkompetenz gerät in
Lohnnebenkosten in diesem Jahr bei 40,7 Prozent. Im ein seltsames Licht. Im Zuge der Koalitionsvereinbarun-
nächsten Jahr werden sie aufgrund der Maßnahmen der gen haben Sie gesagt, es gebe keine Steuermittel mehr
großen Koalition bei 40,8 Prozent liegen. Nun könnte für die Gesundheitsversicherung. Im Sommer dann ha-
man sagen, es handele sich ja nur um 0,1 Prozent. Hinzu ben Sie einen Kompromiss geschlossen und entschieden,
kommt jedoch noch ein weiteres Problem: die Erhö- dass demnächst wieder Steuermittel hineinfließen sollen,
hung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte. Bei ei- aber ehrlich gesagt, dass Sie dafür noch eine Gegen-
ner ehrlichen Gesamtbetrachtung erkennt man, dass die finanzierung brauchen, die Sie derzeit noch nicht hätten.
Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zur In diesem Herbst jedoch beschließen Sie – weil die Steu-
Senkung der Lohnnebenkosten faktisch nichts beiträgt. erquellen so schön sprudeln –, die Steuerfinanzierung
Sie wird vielmehr die Bezieher kleiner und mittlerer Ein- vorzuziehen. – Das ist ein Zickzackkurs ohne solide Ge-
kommen besonders belasten. genfinanzierung. Das spricht auch nicht für das Vorhan-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn man densein von Reformkompetenz.
schon fünf Minuten braucht, um ein so Ich will Ihnen das an einer Stelle verdeutlichen: Im
schlechtes Argument vorzutragen!) Haushaltsausschuss gab es einen heftigen Streit zwi-
Wie sieht die Bilanz aus? Kleinere Einkommen werden schen CDU/CSU und SPD, als ich gefragt habe, was
belastet und die Unternehmensteuerreform wird nicht jetzt eigentlich vorgezogen wird.
aufkommensneutral sein, weil Sie dazu nicht die Kraft (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir hatten
haben. Daran erkennt man die soziale Schieflage, die keinen Streit!)
letztlich Ihre Politik kennzeichnet. Das hat Frau Lötzsch
richtig erkannt. Sie haben erklärt, die steuerfinanzierte Mitversicherung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Kinder würde vorgezogen. Das jedoch sieht die
SPD ganz anders. Solange die GKV und die PKV ge-
Ich möchte auf die Gesundheitsreform zurückkom- trennt sind, wird es mit der SPD – und zwar zu Recht –
men. Einige Entscheidungen, die die Leistungssätze keine Steuerfinanzierung der Mitversicherung der Kin-
betreffen, finden wir gar nicht so falsch. Das Haupt- der geben. Das war ein Kommunikationsgag, den Sie
problem ist die Finanzierung. Die Gesundheitsreform ist, sich da geleistet haben. Es gibt im Moment keine
6418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Anja Hajduk
(A) Grundlage für die steuerfinanzierte Mitfinanzierung von ten wir aber „close to balance“ sein. Sie müssen ja keine (C)
Kindern in der Krankenversicherung. Null versprechen, Herr Steinbrück, wir werden Sie auch
nicht auf 1 Milliarde oder 2 Milliarden Euro festnageln.
Im übernächsten Jahr gibt es einen nicht gegenfinan-
zierten Steuerbeitrag für die Krankenversicherung in (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Na, na!
Höhe von 4 Milliarden Euro. Dadurch ist ein riesiges Das werden wir uns merken!)
Loch im Haushalt entstanden. Im Jahr 2007 beläuft sich
der Steuerzuschuss auf 2,5 Milliarden Euro und da hilft Aber die bisherige Unverbindlichkeit der großen Koali-
die Konjunktur. Herr Steinbrück weiß noch nicht, wie er tion bei der Finanzplanung für die nächsten Jahre ist im
diese 4 Milliarden Euro im Jahr 2008 finanzieren soll. Sinne einer generationengerechten Politik nicht zu ak-
zeptieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich komme noch einmal auf Herrn Röttgen zurück.
Wenn die große Koalition einen Methodenwechsel in der
Mit diesem Zickzackkurs bestätigen Sie leider ein al- Haushaltspolitik will, dann muss sie für die Finanzpla-
tes Vorurteil in Deutschland, dass nämlich die Steuer- nung andere Eckwerte festlegen. Sie dürfen sich nicht
finanzierung sozialer Sicherungssysteme nur nach Kas- nur auf dem Rücken einer schönen Konjunktur ausruhen
senlage ginge und nicht solide zu finanzieren sei. Mit und den Kollegen Kampeter kritisieren, wenn er sagt,
Ihrem Zickzackkurs im Gesundheitsbereich haben Sie dass wir bis 2010 einen ausgeglichenen Haushalt haben
dieses Vorurteil leider aufs Extremste bestätigt. müssen. Daran werden wir die große Koalition messen
müssen; denn das ist im Interesse unserer Gesellschaft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was haben Sie
Ich komme zum Haushalt zurück und möchte über die
in den letzten sieben Jahren dafür getan?)
Finanzplanung sprechen. Herr Meister, Sie haben ge-
sagt, Sie hätten sich sehr angestrengt und das, was hier Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, dass Rot-
vorgelegt würde, sei zukunftsweisend für die Haushalts- Grün das Ziel hatte, in den Jahren 2004 bis 2006 eine
politik. Nettokreditaufnahme von Null zu erreichen. Auch wenn
wir das nicht geschafft haben,
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aha!)
Die Finanzplanung – das habe ich schon vor einigen Mo-
naten kritisiert und der Finanzminister hat mir da Recht war die Zielsetzung doch nicht falsch.
gegeben – ist überhaupt nicht ambitioniert. Sie sieht
heute noch eine Neuverschuldung auf dem Niveau von (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie haben
(B) knapp unter 20 Milliarden Euro bis 2009/2010 vor. sich auch nicht in die Richtung des Zieles be- (D)
wegt!)
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!)
– Hören Sie doch einmal zu! – Weil wir wissen, dass es
Diese fehlende Konsolidierungsperspektive muss man in der deutschen Gesellschaft aufgrund der demografi-
aus heutiger Sicht kritisieren. Vielleicht ist das auch ein schen Entwicklung ab 2015 finanziell schwer wird,
Hinweis darauf, dass wir uns im Parlament mehr um die weil die Entwicklung durch die alternde Gesellschaft
Finanzplanung kümmern sollten. Dass die Neuverschul- erst dann richtig stark auf die sozialen Sicherungssys-
dung innerhalb der nächsten Jahre nicht abgebaut wird, teme durchschlagen wird, müssen wir im Jahr 2010 ei-
ist nicht zu rechtfertigen. nen ausgeglichenen Haushalt haben, um einige Jahre ein
Sie, Herr Steinbrück, haben gesagt, Sie wollten sich bisschen Geld für die richtig schweren Zeiten zurückle-
nicht festlegen, wann in den nächsten Jahren Sie die gen zu können. Diesen Maßstab darf man an eine große
Nettokreditaufnahme auf Null reduzieren können. Koalition anlegen. Diesen Maßstab legen wir auch an.

(Peer Steinbrück, Bundesminister: Genau!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie wollen sich nicht festnageln lassen. Herr Steinbrück, Ich finde, Sie sollten mit der Kritik des Sachverstän-
ich rate Ihnen, sich in diesem Fall an dem Kollegen digenrates etwas wohlwollender umgehen. Herr Poß hat
Kampeter zu orientieren. gesagt, ihm sei die Kritik zu akademisch und zu abgeho-
ben. Meines Erachtens hat der Sachverständigenrat das
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist keine gute sehr höflich formuliert. Er hat gesagt, die große Koali-
Adresse!) tion sei mit Elan gestartet, habe sich dann aber in wider-
streitenden parteipolitischen Interessen verheddert. Das
Wie sehr ist die Reform des Maastrichtvertrages von
ist eine ziemlich freundliche Beschreibung Ihrer Ge-
Herrn Kampeter gescholten worden? Jetzt will er aber,
sundheits- und Arbeitsmarktpolitik. – Ich fordere Sie
dass der Vertrag eingehalten wird. In diesem Jahr beträgt
auf: Nutzen Sie die Konjunktur nicht als Alibi für Ihr
die Defizitquote 2,2 Prozent. Laut Maastrichtvertrag
Zaudern und Zögern! Nutzen Sie die gute Konjunktur
sind wir verpflichtet, die Defizitquote jährlich um
nicht als Wärmeofen! Lehnen Sie sich nicht mit einer
0,5 Prozent abzubauen.
rosaroten Brille zurück! Ich habe gerade deutlich ge-
(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP]) macht, dass große Herausforderungen vor uns liegen.
Wir erwarten, dass Sie konsequent handeln.
Es kann mal einige Abweichungen geben, je nachdem
wie man das strukturelle Defizit definiert. Bis 2010 soll- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6419
Anja Hajduk
(A) Ich möchte Sie auf einen sehr ausführlichen Antrag durch den 2,4 Milliarden Euro eingespart werden. Wir (C)
von uns Grünen zu dem gerade beschriebenen Thema kommen damit insgesamt auf ein Einsparvolumen in
hinweisen. Wir brauchen neue Methoden und Regeln im Höhe von mehr als 6 Milliarden Euro in diesem Haus-
Haushalt. Ich habe gerade gesagt, dass wir eine verbind- halt; dies wäre auch beim letzten Haushalt möglich ge-
lichere Finanzplanung brauchen. Ich bin auch davon wesen. Wir machen unsere Vorschläge auch zugunsten
überzeugt, dass wir eine neue Verfassungsregel brau- von Zukunftsinvestitionen, insbesondere im Klima-
chen. Art. 115 des Grundgesetzes ist nicht nur wirkungs- schutz, in den erneuerbaren Energien sowie in Bildung
los, sondern in seiner jetzigen Form schädlich. Das will und Forschung. Wir wollen, dass die kommenden Gene-
ich an einem Artikel deutlich machen, den ich heute im rationen eine Zukunftsdividende aus der Haushaltspoli-
„Handelsblatt“ gelesen habe. Darin fordert Finanzstaats- tik von heute bekommen.
sekretär Mirow, dass die Verfassungsregel künftig eine
Verpflichtung enthalten soll, den Schuldenabbau in kon- Sie müssen beim Thema Subventionsabbau neu ler-
junkturell guten Zeiten zu beschleunigen. Ich bin ein- nen. Herr Steinbrück, Sie haben uns Grüne für unsere
gangs auf die Nettokreditaufnahme für die Jahre 2006 Anträge im Zusammenhang mit den Kohlesubventio-
und 2007 eingegangen. Hier kann man nur sagen: Die nen sehr angegriffen.
Handhabung des Art. 115 des Grundgesetzes durch die (Joachim Poß [SPD]: Wir haben kräftig abge-
große Koalition ist schädlich, weil sie in konjunkturell baut! Gemeinsam!)
guten Zeiten viel zu viele Schulden macht. Deswegen
muss in der Tat etwas Neues her. Ich möchte Sie auf den Haushalt Ihres Kollegen Glos
hinweisen. Herr Glos schlägt vor, die Kohlesubventio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nen im nächsten Jahr aufgrund der Anrechnung der
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Erkennt- Weltmarktpreise um 114 Millionen Euro zu senken.
nis in der Oppositionszeit!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir machen
Wir haben Ihnen in dieser Woche eine Alternative Subventionsabbau!)
vorgelegt, die noch gesetzlich ausgearbeitet werden
muss. Ich weiß, dass in Ihren Reihen darüber diskutiert Herr Glos hat dem Haushaltsausschuss ein Papier vorge-
wird. legt, in dem steht, dass aufgrund der Zuwendungsverein-
barung, die wir noch unter Rot-Grün ausverhandelt ha-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Metzger ben, die steigenden Weltmarktpreise stärker dazu genutzt
wurde auch immer schlauer, je weniger er zu werden sollen, dass der Steuerzahler weniger Kohlesub-
sagen hatte!) ventionen zahlt.
(B) Ich finde, wir brauchen eine Ausgabenregel, die sich an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
den Einnahmen und der konjunkturellen Entwicklung sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
orientiert. Man kann die Einnahmen mit einem Konjunk- der FDP)
turfaktor kombinieren und einen Ausgabenkorridor
festlegen. Nach einem solchen System funktioniert die Sie haben uns hier bisher immer gesagt, das sei gesetz-
Schuldenbremse in der Schweiz. Wir haben uns in einer lich alles festgezurrt, das müssten wir wissen, wir sollten
Anhörung damit befasst. nicht immer solche Anträge vorlegen.
Ich fordere die große Koalition auf: Verschieben Sie Herr Glos hat in diesem Herbst jetzt selbst dargelegt,
dieses Problem nicht in die Föderalismusreform II! Hier im nächsten Jahr 300 Millionen Euro von der RAG zu-
muss der Bund vorangehen. Die Ministerpräsidenten, die rückzufordern, mit einem Bundesanteil von 230 Millio-
widerstreitenden Interessen zwischen Bund und Ländern nen Euro.
lösen sonst eine Blockade aus. Wenn die große Koalition (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alles unstrei-
einen Methodenwechsel erreichen will, dann muss sie tig, Kollegin Hajduk!)
bis 2009 ein neues Haushaltsrecht schaffen. Sie haben
breite Mehrheiten dafür. Sie bekommen auch unsere Un- Sie ziehen jetzt aufgrund einer Sprechklausel voreilig
terstützung. Verschieben Sie dieses Thema nicht auf die gehorsam zugunsten der RAG Beträge ab und kommen
Ebene eines Gesprächsmarathons. Geben Sie sich einen auf einen Betrag in Höhe von 114 Millionen Euro. Wir,
Ruck und stimmen Sie unserem Antrag am Freitag zu! die Opposition, nehmen Sie in die Pflicht: Das können
Wir würden uns freuen, an dieser Stelle mit Ihnen ge- 230 Millionen Euro für den Bund sein. Wenn man so
meinsam weiterzukommen. handelte, bräuchte man neue Investitionen nicht mehr
auf Pump zu finanzieren, sondern könnte sie durch Sub-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ventionsabbau gegenfinanzieren.
Sie können dann auch zeigen, wie ernst Sie es meinen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
oder ob es sich wieder nur um eine Ankündigung han-
delt. Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle ein bisschen Ehrlich-
keit walten lassen und zugeben, dass so manches heftige
Ich komme zum Schluss. Wir Grünen haben einen ei-
Wort der Kritik von Ihnen nicht immer berechtigt war.
genen Zukunftshaushalt entworfen. Darin haben wir
Einsparungen in Höhe von 3,7 Milliarden Euro vorge- Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich mit unseren haus-
schlagen und einen weiteren Subventionsabbau – da le- haltsrechtlichen Vorschlägen bitte konstruktiv auseinan-
gen Sie in diesem Jahr eine ziemlich große Pause ein –, der! Setzen Sie sich mit unserer Arbeitsmarktpolitik
6420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Anja Hajduk
(A) – wir wollen die Lohnnebenkosten im Niedriglohnbe- Wir werden uns allerdings fragen müssen, wie die (C)
reich deutlich senken – auseinander! Wir haben am Don- finanz- und wirtschaftspolitischen Antworten auf die
nerstag Zeit, darüber zu diskutieren. Ich kann Sie nur Globalisierung zu unserem Gesellschaftsmodell, unse-
aufrufen, ein bisschen mehr oder am besten richtig grün rer sozialen Marktwirtschaft und unserem Sozialmodell
zu handeln statt rosarot zu sehen. passen und wie wir unzweifelhaft vorhandene Verlierer-
positionen und Verlustängste sowie unübersehbare
Ich danke Ihnen. Fliehkräfte, die unsere Gesellschaft auseinander zu divi-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dieren drohen, so eingrenzen zu können, dass weder die
Stabilität unseres Gemeinwesens noch – als Folge einer
Destabilisierung unseres Gemeinwesens – der ökonomi-
Vizepräsidentin Petra Pau:
sche Standort Bundesrepublik Deutschland beschädigt
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer
werden.
Steinbrück.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Unbenommen dieser großen Herausforderungen, die
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: sich, wie ich glaube, von den Problemen, die die erste
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und große Koalition zu meistern hatte, qualitativ unterschei-
Herren! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede Herrn den, wären wir allerdings schlecht beraten, der sehr ver-
Fricke sehr herzlich zu seinem Geburtstag gratulieren. breiteten Neigung zum Lamento und zur Unterschätzung
Ich wünsche Ihnen, dass alle Ihre privaten Pläne gelin- der Potenziale unseres Landes weiterhin nachzugeben.
gen und Ihre beruflichen, politischen Pläne nur so weit, Was in diesem Zusammenhang geschieht, hat gelegent-
dass sie meine nicht beeinträchtigen. lich, auch in der öffentlichen Kommentierung, sadoma-
sochistische Qualitäten.
(Heiterkeit und Beifall)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Es ist fast genau ein Jahr her, dass zum zweiten Mal
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Zum wiederholten Male ist der deutschen Volkswirt-
große Koalition das Mandat für die Regierungsbildung schaft der Titel des Exportweltmeisters verliehen wor-
und die Wahrnehmung der politischen Verantwortung den. Dies allein reicht nicht; das ist richtig. Aber es ist
der Bundesrepublik Deutschland bekommen hat, unter auch kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen
anderem eben auch eine sehr schwergewichtige wirt- von Stärke, und zwar gerade in Zeiten, in denen große
schafts- und finanzpolitische Verantwortung. Die Bedin- asiatische Volkswirtschaften zunehmend als unsere Kon-
(B) gungen für die Politik ganz allgemein, aber insbesondere kurrenten im Welthandel auftreten und unsere Exportak- (D)
für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, unterscheiden tivitäten eher erschweren als erleichtern. Zum ersten Mal
sich allerdings sehr stark von den Bedingungen in den seit langer Zeit ist bei den Ausrüstungsinvestitionen eine
Zeiten, in denen Herr Kiesinger und Herr Brandt, Herr erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen. Die Baukon-
Strauß und Herr Schiller die Verantwortung hatten. Es junktur kommt zum ersten Mal seit Jahren aus ihrem Tal.
haben sich Veränderungen eingestellt, die sich diese wie Langsam springen auch die anderen vier Zylinder des
viele andere Politiker der ersten großen Koalition wahr- Sechszylinders unserer Volkswirtschaft an: die Binnen-
scheinlich nie haben vorstellen können. Heute handelt es nachfrage. All das sind erfreuliche Entwicklungen.
sich eher um strukturelle Herausforderungen, zum Bei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
spiel in Form eines sehr ausgeprägten demografischen
Wandels, von dem ich glaube, dass er noch sehr viel wei- Während Karl Schiller und Franz Josef Strauß mitten
ter reichende gesellschaftliche Auswirkungen haben in einer sehr handfesten Rezession, die sie zu bewältigen
wird, als wir es in unseren Debatten gelegentlich einge- hatten, in der Bundesrepublik Deutschland Regierungs-
stehen. Es ist ein weltweit völlig verändertes Muster von verantwortung übernahmen, freut sich die zweite große
Wettbewerbsbeziehungen festzustellen. Darüber hinaus Koalition – und mit einem angemessenen Gesichtsaus-
haben wir notorische Probleme mit den öffentlichen druck auch der Bundesfinanzminister – über eine sehr
Haushalten. – An dieser Stelle könnte man selbstkritisch robuste Aufschwungbewegung; das ist richtig. Aber
die Frage aufwerfen, ob die Grundlagen für die heutigen diese Zahlen dürfen nicht missverstanden werden. Ich
Probleme nicht vielleicht genau zur damaligen Zeit ge- bin für den Hinweis von Frau Hajduk sehr dankbar: Das
legt worden sind. ist kein Wärmeofen, der es ermöglicht, auf weitere
Strukturreformen, die wir dringend brauchen, zu ver-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider wahr!) zichten. Darauf werde ich noch zurückkommen.
Die Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger an (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
die staatliche Leistungsfähigkeit sind unverändert hoch;
daran hat sich nichts geändert. Dass wir uns einem Den Prognosen zufolge wird unsere Wirtschaft in die-
scharfen Wettbewerb und einer fortgesetzten Globalisie- sem Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Größen-
rung stellen müssen, dass wir also, wie ich es gelegent- ordnung von 2,3 Prozent bis 2,5 Prozent wachsen, so
lich ausdrücke, die Rollos an unseren Grenzen nicht in stark wie selten in den letzten Jahren. Dass wir das
einem protektionistischen Reflex herunterlassen dürfen, Maastrichtkriterium bereits in diesem Jahr deutlich er-
ist, wie ich glaube, inzwischen ein Grundkonsens; exo- füllen werden – die Defizitquote Deutschlands wird
tische Bewertungen lasse ich an dieser Stelle außen vor. circa 2,2 Prozent betragen, vielleicht sogar nur 2,1 Pro-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6421
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) zent – und dass wir im nächsten Jahr die Verschul- Die Erfahrung lehrt übrigens: Immer dann, wenn die (C)
dungsgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes nach lan- Konjunktur gut läuft, gilt dies als Verdienst der Wirt-
ger Zeit erstmals wieder einhalten werden, sind gute schaft und immer dann, wenn die Konjunktur schlecht
Nachrichten. Sie entsprechen den erklärten Zielsetzun- läuft, soll es die Schuld der Bundesregierung sein.
gen und Ankündigungen der großen Koalition.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das ist eine Theorie, die sehr häufig der Opposition zu-
Ich erinnere mich, was für eine tobende Debatte wir zuordnen ist.
bei der Einbringung dieses Haushaltes darüber geführt
Ich nehme für diese Bundesregierung in der Tat in
haben – das gilt übrigens auch für die Einbringung des
Anspruch, dass wir gemeinsam einen wichtigen Beitrag
Haushalts für das Jahr 2006 –, dass wir in diesem Jahr
zur Entwicklung der Konjunktur geleistet haben. Dieser
die Ausnahmeregelungen des Art. 115 des Grundgeset-
robuste Konjunkturaufschwung ist auch ein Beleg dafür,
zes in Anspruch nehmen müssen. dass die von uns entwickelte „Strategie der doppelten
(Dr. Peter Struck [SPD]: Wohl wahr!) Tonlage“ – Konsolidierung und Impulse für Wachstum
und Beschäftigung – richtig gewesen ist, von Anfang
Ich denke, dass die Bundesregierung und die sie tragen- an. Die Widerrede, die es gegeben hat, und die Kritik da-
den Koalitionsfraktionen im Hinblick auf Art. 115 des ran haben sich nicht bestätigt.
Grundgesetzes seinerzeit sehr richtig entschieden haben,
(Ulrike Flach [FDP]: Welche Impulse? – Jürgen
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Koppelin [FDP]: Welche Impulse?)
um den Konjunkturaufschwung zu unterstützen. – Zum Beispiel das Investitionsprogramm mit einem
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Volumen von 25 Milliarden Euro, das eine Vielzahl von
privaten Investitionen ausgelöst hat.
Als ein Finanzminister, der sich nicht ausschließlich
auf eine fiskalische Sichtweise reduzieren lassen (Jürgen Koppelin [FDP]: Das Programm für
möchte, sondern der auch die Notwendigkeit sieht, dass Fliesenleger? – Gegenruf des Abg. Steffen
Haushalts- und Finanzpolitik eine gestaltende Funktion Kampeter [CDU/CSU]: Herr Koppelin sitzt
haben sollten, ist für mich von größter Bedeutung, dass gefrustet im Keller und nimmt die Wirklich-
der stattfindende Aufschwung auch auf dem Arbeits- keit nicht wahr!)
markt ankommt. Und das tut er. Fast eine halbe Million Erkundigen Sie sich einmal nach dem CO2-Gebäude-
weniger Arbeitslose, ein Anstieg der Zahl der sozialver- sanierungsprogramm! Erkundigen Sie sich einmal nach
sicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um den zusätzlichen 6 Milliarden Euro für Forschung und (D)
(B)
250 000, 825 000 als offen gemeldete Stellen und die er- Entwicklung! Alles nicht verkehrt, sondern alles richtig.
freuliche Tendenz, dass wir von September auf Oktober
88 000 weniger ALG-II-Empfänger haben, das sind (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
keine schlechten Zahlen, man darf sich darüber freuen. Deshalb sage ich mit einer Portion Selbstbewusstsein,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) aber fern jeder Überheblichkeit: Diese Bundesregierung
hat in ihrem ersten Jahr Managementqualitäten bewie-
All dies bedeutet nicht nur eine Entlastung für die So- sen.
zialversicherung und die öffentlichen Haushalte, sondern
es bedeutet vor allem soziale und gesellschaftliche Teil- (Lachen der Abg. Anja Hajduk [BÜND-
habe, weniger Verlierer, weniger Verlustängste bei den- NIS 90/DIE GRÜNEN] und weiterer Abge-
jenigen, die wieder einen Job haben. Das ist gut für diese ordneter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Menschen und deren Familien in der Bundesrepublik NEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
Deutschland. GRÜNEN]: Ging schon beim Geist von Gens-
hagen schief!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) – Frau Hajduk, Sie lachen. Wenn ich mir anschaue, mit
welchen Managementfehlern und welchen Fehlentwick-
Mehrfach – um einem Popanz gleich entgegenzuwir- lungen wir es in den Führungsetagen mancher deutscher
ken –, auch von dieser Stelle, habe ich darauf hingewie- Unternehmen zu tun haben, wenn ich mir anschaue, mit
sen, dass ich es für genauso vermessen wie falsch hielte, was für vielen sich widersprechenden Wirtschaftsexper-
wenn dieser Konjunkturaufschwung von der Bundes- tisen wir pro Woche zu tun haben, wenn ich mir an-
regierung für sich allein reklamiert würde. Dies tut kei- schaue, wie undifferenziert und wie platt fordernd man-
ner von uns, auch keiner aus den Koalitionsfraktionen. che Verbände auftreten, und wenn ich mir anschaue, was
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist gut!) an vielen Medienberichten alles richtig zu stellen oder
mit größerem Augenmaß zu versehen wäre, dann glaube
Doch unbeteiligt daran, Herr Koppelin, sind diese Bun- ich sagen zu dürfen: Diese Bundesregierung – die Politik
desregierung, die große Koalition, und ihre Vorgänger- generell – hat viel Anlass, Vorurteilen betreffend Sub-
regierung, die Regierung von Gerhard Schröder, auch stanz und Qualität ihrer Entscheidungen mit größerem
nicht. Selbstbewusstsein entgegenzutreten und die Dinge rich-
tig zu stellen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
6422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) Das wäre für das Vertrauen in die politischen Entschei- Für diejenigen, die hier sehr unbeweglich sind, kann (C)
dungsprozesse und das Vertrauen in staatliche Institutio- man in diesem Zusammenhang vielleicht den Fürsten
nen nicht unwichtig, auch für die weitere Perspektive, Salina aus dem Roman „Der Leopard“ von di Lampedusa
wie sich unser demokratisches Gemeinwesen entwickelt. zitieren, der sinngemäß gesagt hat: Wenn du vieles von
dem erhalten willst, was sich bewährt hat und was du
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das weiß der SPD-
schätzt, dann musst du einiges verändern. – Ich glaube,
Parteitag auch!)
in dieser Situation ist unsere Republik.
Ja, etwas mehr Selbstbewusstsein im Angesicht der
Häme gegenüber denjenigen, die politische Verantwor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tung tragen, wäre nicht schlecht. Bei dieser Gelegenheit will ich allerdings nicht nur
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig! – Volker auf die Länder innerhalb der Europäischen Union
Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) schauen – auf die Niederlande, auf die skandinavischen
Länder und übrigens auch auf Irland, wo sich erstaunli-
Ich bleibe dabei: Der Verzicht auf zusätzliche Konso- che Entwicklungen vollzogen haben –, sondern ich
lidierungsmaßnahmen – über das hinaus, was wir ange- möchte das Augenmerk des Hohen Hauses und der ge-
kündigt haben – im laufenden Jahr war konjunkturpoli- samten deutschen Öffentlichkeit sehr viel stärker auch
tisch gesehen richtig, genauso wie das von mir schon auf die ungeheuer dynamische Entwicklung in anderen
apostrophierte Impulsprogramm. Einen konjunkturel- Weltregionen lenken.
len, also einen temporären wirtschaftlichen Aufschwung
politisch zu unterstützen, das ist das eine – eine Volks- Im September bin ich auf dem Treffen des Internatio-
wirtschaft wieder auf einen dauerhaft höheren Wachs- nalen Währungsfonds gewesen – einige von Ihnen waren
tumspfad zu führen, ist allerdings etwas anderes und dabei: Herr Meister, Herr Michelbach und viele andere;
sehr viel schwieriger. aus meiner Fraktion zum Beispiel Herr Spiller und Herr
Krüger – und gerade bin ich von dem G-20-Treffen aus
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Australien gekommen, sodass ich nach meinem Empfin-
Genau dieses dauerhaft höhere Wachstum brauchen wir. den im Augenblick eine Rede ungefähr zu Mitternacht
Denn ohne ein Erschließen des Wachstumspotenzials halte.
wird es uns weder gelingen, die öffentlichen Haushalte
zu sanieren, noch, die sozialen Sicherungssysteme ro- (Jürgen Koppelin [FDP]: Den Eindruck hatte
buster zu finanzieren, noch, die Arbeitslosigkeit wirk- ich gerade auch! – Joachim Poß [SPD]: Das ist
sam weiter zu bekämpfen. keine schlechte Zeit! – Dr. Uwe Küster [SPD]:
Da kommt man schon einmal auf gute Ideen!)
(B) Die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis, die wir aus (D)
dem gegenwärtig erfreulichen Konjunkturaufschwung – Ja, da kommt man schon einmal auf gute Ideen. – In
ziehen sollten, lautet deshalb, dass die Strukturreformen den letzten Tagen bin ich auch in Dubai gewesen. Ich
der letzten Jahre fortgesetzt werden müssen, damit wir kann Ihnen sagen: Bei diesen Besuchen habe ich eine
endlich wieder ein höheres Potenzialwachstum errei- ungeheure Dynamik wahrgenommen. Diese und andere
chen. Die Rendite solcher Maßnahmen erzielt man im- Staaten bauen große Finanzzentren auf. Sie entwickeln
mer mit einem gewissen Zeitverzug. Ich sage deshalb neue Finanzmarktprodukte, um insbesondere auch Kapi-
voraus – dessen bin ich mir ziemlich sicher –, dass nach talströme zu aktivieren.
einem solchen Zeitverzug auch die Rendite der heute In Dubai habe ich gelernt, was „Islamic Banking“
umstrittenen Reformmaßnahmen – ob es die Gesund- heißt. Man generiert dort völlig neue Finanzprodukte für
heitsreform oder die Unternehmensteuerreform ist – er- ungefähr 1,3 bis 1,5 Milliarden potenzielle Konsumen-
zielt wird. ten in der islamischen Welt. Diese Länder bauen Contai-
Wir fragen uns sehr selbstkritisch, warum das durch- nerhäfen in der Größenordnung derer in Hamburg und
schnittliche Potenzialwachstum der Bundesrepublik Rotterdam. Es geht um Logistik und die Infrastruktur
Deutschland in den letzten Jahren geringer als in anderen des Luftverkehrs. Sie investieren in Forschung und Ent-
europäischen Ländern – auf außereuropäische Entwick- wicklung und in Bildung. Das heißt, Kapital-, Güter-
lungen komme ich auch noch zu sprechen – gewesen ist. und Know-how-Ströme werden in diese verschiedenen
Die Antwort darauf ist relativ simpel: weil andere euro- Weltregionen gelenkt.
päische Länder nach Lage der Dinge sieben bis acht
Natürlich haben einige Länder davon Spielräume auf-
Jahre vor uns mit wichtigen Strukturreformen begonnen
grund der augenblicklichen Hausse auf den Rohstoff-
haben und jetzt eine Rendite erzielen, sodass die freige-
märkten, also sehr spezifischer Entwicklungen, und ich
setzten öffentlichen Mittel insbesondere in Bildung, For-
will gar nicht in Abrede stellen, dass es Ambivalenzen
schung, Entwicklung und Infrastruktur investiert werden
gibt, dass vieles gar nicht auf die Bundesrepublik
können.
Deutschland übertragbar ist. Ich weiß auch, dass die Ur-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der teile über das, was buchstäblich weltweit passiert, sehr
CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die weit auseinander gehen. Wer aber glaubt, dies alles sei
letzten sieben Jahre waren also Renditekiller! – irrelevant und für die Beantwortung der Frage zu ver-
Gegenruf des Abg. Bernhard Brinkmann [Hil- nachlässigen, wie wir unseren zukünftigen Wohlstand si-
desheim] [SPD]: Sieben Jahre vor 1998 hat er chern können, der macht einen fatalen Fehler und streut
gemeint!) uns sehr viel Sand in die Augen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6423
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der seite. Der Staat benötigt zur Erfüllung seiner Aufgaben (C)
FDP) eine strukturell abgesicherte Einnahmebasis oder er ver-
liert seine Funktionsfähigkeit.
Ich glaube, wer den Bürgern vorgaukelt, sie könnten ihr
Wohlstandsniveau und das Niveau unserer sozialen (Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD])
Wohlfahrt dadurch erhalten, dass im Wesentlichen alles
Die meisten Menschen sind daran interessiert, dass unser
so bleibt, wie es ist, und dass wir uns nicht anstrengen
Staat funktions- und handlungsfähig ist.
müssen, der flüchtet aus der Verantwortung für unser
Land. Der Dreiklang von Steuersenkung, null Neuverschul-
dung und Erhöhung öffentlicher Investitionen, der gele-
Meine Damen und Herren, die große Koalition liegt gentlich vonseiten der FDP zu vernehmen ist, kann nur
sehr gut im Zeitplan bezüglich der Umsetzung dessen, auf den Oppositionsbänken angestimmt werden, aber
was sie sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen nicht im politischen Alltag einer Exekutive oder einer
hat. Ich will mich nicht in Details verlieren, aber doch an Regierungspartei.
einige Punkte erinnern, weil es gelegentlich offenbar in
Vergessenheit gerät: erstens an die erste Stufe der Föde- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ralismusreform, zweitens an die Einführung des Eltern- der CDU/CSU)
geldes, drittens an die Erhöhung des Renteneintrittsalters
Ein zentrales Element unserer finanzpolitischen Ge-
auf 67 Jahre, viertens an die Blaupause der Unterneh- samtstrategie ist die Unternehmensteuerreform. Was
mensteuerreform – ich komme noch darauf zurück –, wir als Blaupause vorgelegt haben, ist ein Beleg für die
fünftens an die Fortentwicklung und Optimierung von
Gestaltungskraft und Gestaltungsfähigkeit der großen
Hartz IV, sechstens an das Impuls- und Wachstumspro- Koalition. Die vorgeschlagene Reform ist eine Investi-
gramm, siebtens an die Hightechstrategie Deutschland tion in unser Land. Denn mit ihr schaffen wir eine im
und achtens – last, not least – an die Gesundheitsreform,
internationalen Vergleich attraktive Unternehmensbe-
so umstritten sie sein mag und so einseitig sie bewertet steuerung und gleichzeitig ein Steuerrecht, das Steuer-
wird. Herr Seehofer und Frau Schmidt haben mich übri- umgehung zulasten des Fiskus und der Finanzierung öf-
gens daran erinnert, dass die Gesundheitsreform häufig
fentlicher Aufgaben in Deutschland unattraktiv macht.
mit Begriffen bewertet wird, mit der auch alle vorherge-
henden Gesundheitsreformen in den früheren Jahren Inzwischen bescheinigt uns eine Reihe früherer Kriti-
schon bewertet wurden, was ein gewisses Licht auf die ker, dass unser Konzept die deutsche Wirtschaft wird
Kritiker hier wirft. fördern können. Im internationalen Standortvergleich
machen wir einen großen Sprung nach vorne.
(Ulrike Flach [FDP]: Vielleicht liegt das daran,
(B) dass es nicht besser geworden ist!) Wenn durch diese Reform das Investieren in Deutsch- (D)
land wieder attraktiver wird, dann profitieren hiervon
Ich stelle dabei nicht in Abrede, dass der großen alle: diejenigen, die wieder Arbeit bekommen, und der
Koalition nicht alles gelungen ist, dass manches hand- Gesamtstaat, dem höhere Einnahmen zur Verfügung ste-
werklich fehlerhaft ist, dass wir wahrscheinlich besser hen. Allein darum geht es. Es geht nicht um Steuerge-
kommunizieren müssen und dass vielleicht manche un- schenke. Dieser Begriff dient nur dem Zweck, die Unter-
serer Abstimmungsprozesse zu lange dauern. Ich ver- nehmensteuerreform zu diskreditieren.
hehle erst recht nicht, dass die große Koalition auch eine
Reihe von Entscheidungen getroffen hat, die nicht zur Um es klipp und klar zu sagen: Durch diese Reform
Aufhellung der Stimmungslage der Bevölkerung beige- bekommt niemand etwas geschenkt. Mit dieser Reform
tragen hat. Die Mehrwertsteuererhöhung war ein solches stellen wir vielmehr sicher, dass die Unternehmen auch
Beispiel. in Zukunft einen angemessenen Anteil zur Finanzierung
der Staatsaufgaben beitragen, gerade auch auf der kom-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist wohl wahr!) munalen Ebene, die als Träger öffentlicher Investitionen
Das ist mir sehr bewusst. von erheblicher Bedeutung ist.

Aber wenn die Regierung von einer Sache überzeugt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ist, dann muss sie Entscheidungen treffen und ihre der CDU/CSU)
Gründe erklären. Genau dies ist die Aufgabe der großen Genauso klar ist: Die Unternehmensbesteuerung un-
Koalition. verändert zu lassen, um sich gegen die Kritik vertei-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lungspolitischer Natur zu wappnen, die unter Hinweis
auf Zumutungen an anderer Stelle anführt, die Reform
Ich halte mich dabei an eine Lebensweisheit von keinem gehöre nicht in die jetzige Zeit, ist für Deutschland die
Geringeren als Winston Spencer Churchill, der gesagt ungünstigste Variante. Denn dies würde uns in Deutsch-
hat: „Wer die bessere Einsicht hat, darf sich nicht land jährlich Steuereinnahmen, Arbeitsplätze und Inves-
scheuen, unpopulär zu werden.“ titionen kosten und zusätzliche Investitionen ins Ausland
abdrängen. Der unsägliche Kapitalabfluss, unter dem wir
Die notwendige Konsolidierung der öffentlichen
schon jetzt zu leiden haben, ginge weiter.
Haushalte lässt sich nicht allein auf der Ausgabenseite
durch Haushaltskürzungen ermöglichen, Frau Hajduk. Allerdings – das weiß jeder Steuerpolitiker – lassen
Das wissen Sie genauso gut wie ich. Wir brauchen viel- sich anfängliche Steuermindereinnahmen nicht vermei-
mehr strukturelle Verbesserungen auf der Einnahme- den, wenn man Steuersätze mit sofortiger Wirkung senkt
6424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) und die Bemessungsgrundlage mit einer nachlaufenden und jeder Balance, dass Sie es mir bitte nicht übel neh- (C)
Wirkung zu erweitern versucht. Das ist der entschei- men, wenn ich darauf erst bei unseren nächsten Gesprä-
dende Punkt. Wir haben im Parteirat der SPD mit dieser chen im Haushaltsausschuss bzw. Finanzausschuss eher
Darlegung keine Schwierigkeiten, Herr Koppelin. am Rande eingehe und nicht hier.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Aha! Erzählen Sie Wir haben uns entschlossen, mit der Senkung der
mal!) Nettokreditaufnahme ein deutliches Signal zu setzen.
Es ist die geringste seit der deutschen Wiedervereini-
– Dann machen Sie sich die Schwierigkeiten in der Ar-
gung. Es gibt gegenläufige Entwicklungen, die man in
gumentation noch zueigen!
einer haushaltspolitischen Debatte durchaus anerkennen
(Lachen des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – sollte, insbesondere dass der Aussteuerungsbetrag korri-
Ulrike Flach [FDP]: Gerne!) giert werden muss oder dass wir mit den Kommunen ei-
nen Kompromiss gefunden haben, der im Vergleich zum
Wir haben höhere Steuereinnahmen. Das ist die gute Haushaltsentwurf 2,3 Milliarden Euro mehr kostet. Das
Nachricht. An den Grundproblemen der öffentlichen sollte man bei dieser Gelegenheit erwähnen, damit die
Haushalte hat sich dadurch aber nichts geändert. Gestaltungsspielräume nicht als uferlos dargestellt wer-
Deutschland hat nach wie vor 1 500 Milliarden Schul- den. Ich halte es aber für einen sehr wichtigen Beitrag,
den. Die jährlichen Zinsbelastungen des öffentlichen dass uns beides gelingt: eine deutliche Senkung der Neu-
Haushaltes betragen 40 Milliarden Euro. Die Nettokre- verschuldung und gleichzeitig eine Rückführung der
ditaufnahme beträgt dieses Jahr 30 Milliarden Euro. Das Lohnnebenkosten. Beides ist Zielsetzung dieser Bundes-
heißt, wir geben einen Großteil der finanziellen Mittel regierung; beides machen wir. Dazu trägt insbesondere
für gegenwärtige Bedürfnisse statt für Investitionen in die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags von
unsere Zukunft aus. All dies engt den Handlungsspiel- 6,5 auf 4,2 Prozent wesentlich bei.
raum dieses Parlamentes und der Politik in Deutschland
in Zukunft dramatisch ein. In allem zeigt sich erneut – aus Zeitgründen kann ich
darauf nicht näher eingehen –, dass die Vorschläge der
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Opposition im Wesentlichen sehr virtueller Art sind. Bei
Die erfreuliche Entwicklung in diesem Jahr ist eben der Linken habe ich es allein mit dem Hinweis auf die
nicht der politische bzw. der fiskalische Urknall, mit Unwucht zwischen den geforderten Mehrausgaben und
dem die Haushaltsprobleme auf einen Schlag gelöst wer- den Steuererhöhungen, die dieser Republik auferlegt
den. Deshalb kann es nur eine weitere Marschrichtung werden sollen, deutlich zu machen versucht. Das Glei-
geben: Auch zukünftig muss konsolidiert werden. che gilt für die FDP. Herr Koppelin, Sie halten Ihr „Libe-
rales Sparbuch“ in jeder haushaltspolitischen Debatte
(B) Die ökonomischen und verteilungspolitischen Argu- hoch – obwohl ich den Eindruck habe, dass es das vom (D)
mente derjenigen – das sage ich in Richtung der linken letzten Jahr ist.
Seite dieses Hauses –, die in einer zunehmenden Staats-
verschuldung eine Art Münchhausentrick sehen, mit (Heiterkeit bei der SPD – Jürgen Koppelin
dem man sich am eigenen Haarschopf wieder aus dem [FDP]: Nein, ich überreiche es Ihnen gleich:
Sumpf zieht, teile ich nicht. „Liberales Sparbuch 2006“!)
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir haben unsere – Dann ist es ein neues. Sie sind jedenfalls im letzten
Einnahmevorstellungen dargelegt!) Jahr zur Regierungsbank gekommen und haben es mir
überreicht, damit es ein schönes Foto gibt. Das ist auch
Ich komme darauf gleich noch in einem Satz zu spre- Sinn der Sache. Das kann man respektieren. Herr
chen, weise aber schon jetzt darauf hin, dass verteilungs- Koppelin, ich nehme das Buch nachher gern entgegen,
politisch gesehen eine wachsende Verschuldung das Un- damit es nicht am Foto fehlt.
gerechteste ist, was es gibt, weil sie eine Verschiebung
zugunsten der Kapitalbesitzer und zulasten der „norma- (Heiterkeit bei der SPD)
len“ Steuerzahler zur Folge hat. Ich habe in meiner ersten Rede zum Haushalt 2007
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gesagt – ich setze zum Schlusssprung an –, dass es nicht
alleine Aufgabe des Finanzministers ist, eine Haushalts-
Das ist das größte Umverteilungsprogramm, das man und Finanzpolitik zu betreiben, die uns Spielräume für
sich vorstellen kann. die Zukunft erschließt und unseren Vorstellungen von
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber ge- Generationengerechtigkeit entspricht. Das ist vielmehr
nau gegen eine solche Verschuldung haben wir eine Aufgabe des gesamten Kabinetts, aller Fachpoliti-
uns ausgesprochen!) ker und übrigens auch der Bundesländer.
– Nein. Sie machen Vorschläge, die Mehraufwendungen
in einer Größenordnung von 20 Milliarden bzw. sogar Vizepräsidentin Petra Pau:
25 Milliarden Euro zur Folge haben. Sie wollen das über Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischen-
Steuererhöhungen gegenfinanzieren. Wenn man Ihren frage des Kollegen Kuhn zu beantworten?
Vorschlägen folgen wollte und eine Refinanzierung al-
leine über die Einkommensteuer vornähme, dann müsste Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
der Spitzensteuersatz auf sage und schreibe 73 Prozent Nein. Ich habe nur noch eine halbe Minute Redezeit.
erhöht werden. Das alles ist außerhalb jeder Proportion Das schaffe ich nicht mehr.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6425
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) Die Haushalte der Länder und Kommunen entwickeln Konkreter kann eine Opposition gar nicht arbeiten, Herr (C)
sich deutlich besser. Das erwähne ich, um an dieser Bundesfinanzminister. Das hätten Sie anerkennen sollen.
Stelle denjenigen Zuhörern entgegenzuwirken, die an- Mit einem Einsparvolumen von 8,6 Milliarden Euro
nehmen, dass der Bund eine Art Melkkuh sei und bei ei- steckt hier richtig etwas dahinter.
nem Kompromiss immer nur für das Draufzahlen zu- (Beifall bei der FDP)
ständig. Das funktioniert auf Dauer nicht mehr. Wenn es
Regierungschefs in den Ländern gibt, die im Zusammen- Der Sachverständigenrat hat sein Gutachten mit der
hang mit dem Karlsruher Urteil zur Verfassungsklage Aussage überschrieben: „Widerstreitende Interessen –
Berlins darauf hinweisen, es gehe den Bund nichts an, ungenutzte Chancen“. Besser kann man das Verhalten
wie die Länder ihre Haushalte aufstellten, dann kann der Bundesregierung gar nicht darstellen. Die Kollegin
man das als Einladung an den Bund verstehen, zukünftig Dückert hat das kurz in der Aussage zusammengefasst:
auf seine Leistungen im vertikalen Finanzausgleich zu Gute Lage, schlechte Regierung. – Knapper und treffen-
verzichten. der kann man es nicht sagen. Ich finde, das ist eine gute
Formulierung.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Und diese Aussage zieht sich jetzt durch die Debatte.
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter Es fehlt die ökonomische Grundleitschnur, die Orientie-
[CDU/CSU]: Ein interessanter Vorschlag!) rung, wohin es gehen soll. Herr Bundesfinanzminister,
Sie haben nach meinem Ermessen heute eine sehr ehrli-
– Richtig, das ist ziemlich doppeldeutig. – Ich glaube che Rede gehalten und haben auch auf unangenehme
deshalb, dass eine Neuformulierung des Art. 115 des Dinge hingewiesen. Sie haben angekündigt, dass weitere
Grundgesetzes bei der Föderalismusreform II eine große strukturelle Änderungen im Haushalt auf der Ausgaben-
Rolle spielen sollte. seite vorgenommen werden müssten. Sie haben sich so-
gar lernfähig gezeigt, indem Sie heute erstmals zugege-
Abschließend: Ich glaube, dass die große Koalition ben haben, dass die Haushaltsprobleme nicht alleine auf
wichtige Wegmarken gesetzt hat, um unser Land zu- der Einnameseite liegen. Bislang haben Sie nämlich in
kunftsfähiger zu machen. Die aktuelle, günstige kon- allen Haushaltsdebatten gesagt, das Haushaltsproblem
junkturelle Entwicklung wird keine Ausrede dafür sein, sei allein ein Problem der Einnahmeseite. Das ist eine
bei der Sanierung der Staatsfinanzen nachzulassen. Die fundamentale Veränderung in Ihrer Aussage. Vielen
Bürgerinnen und Bürger sind – ich behaupte: zu Recht – Dank, dass Sie das gemacht haben! Das war ehrlich und
zu ermuntern, in Zukunft mehr eigene Vorsorge für Al- auch mutig.
ter, Pflege und Gesundheit zu betreiben. Aber dies setzt
voraus, dass dann von der Politik glaubhaft deutlich ge- (Beifall bei der FDP)
(B) macht wird, dass sie sich entsprechend verhält und Zu- Ich hatte allerdings den Eindruck, dass viele gerade der (D)
kunftsperspektiven nicht durch die Befriedigung von ehrlichen Aussagen insbesondere an Ihre eigene Frak-
Gegenwartsinteressen verspielt. tion gerichtet waren,
Die große Koalition wird ihren erfolgreichen Weg in (Beifall bei der FDP)
der Steuer- und Finanzpolitik fortsetzen. Ich glaube, dass
weil Sie das Problem haben, dort nicht die notwendige
dieser Anspruch auch durch den von meinem Hause vor-
Unterstützung zu finden. Wenn Sie allerdings unterstel-
gelegten Haushaltsentwurf im Sinne einer gestaltenden len wollen, dass diese Bundesregierung an dem Kon-
Finanzpolitik belegt werden kann. Ich freue mich auf die junkturaufschwung ursächlich beteiligt gewesen ist,
weiteren Beratungen und bin dankbar, dass der Haus- dann ist das schon eine recht kühne Aussage; denn das
haltsausschuss bisher mit dem Bundesministerium so er- kann gar nicht sein, weil fast alle Maßnahmen, die Sie
folgreich zusammengearbeitet hat. beschlossen haben, erst ab 1. Januar nächsten Jahres in
Herzlichen Dank. Kraft gesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei der FDP)
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir wollen Die positive Entwicklung der Konjunktur mit den er-
das fortsetzen!) heblich höheren Steuereinnahmen, die Ihren Haushalt
jetzt so entlasten, sind auf Maßnahmen in den vorange-
Vizepräsidentin Petra Pau: gangenen Jahren zurückzuführen, die die Angebotsbe-
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms dingungen deutlich verbessert und damit für eine wachs-
für die FDP-Fraktion. tumsorientierte Politik gesorgt haben. Dazu gehört
ausdrücklich die Steuersenkung im Rahmen der
(Beifall bei der FDP – Abg. Koppelin [FDP] eichelschen Steuerreform, dazu gehören aber auch die
überreicht Bundesminister Steinbrück das „Li- moderaten Tarifabschlüsse und natürlich die Anpas-
berale Sparbuch 2006“ – Heiterkeit) sungsmaßnahmen, die die Wirtschaft selbst vorgenom-
men hat. Das wirkt jetzt deutlich. Deswegen ist die Aus-
Dr. Hermann Otto Solms (FDP): sage, es sei eine Lebenslüge, dass niedrigere Steuern zu
mehr Wachstum führen müssten, falsch; gerade hier be-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kommen wir den Beweis, dass eine niedrigere Besteue-
Herren! Ich wollte die Übergabe dieses Buches nicht un- rung Wachstum fördert.
terbrechen. Das ist eine stolze Arbeit unserer Haushälter,
die über 500 Einzelvorschläge zum Einsparen vorlegen. (Beifall bei der FDP)
6426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Hermann Otto Solms


(A) Das Problem dieser Regierung ist aber die Uneinig- sprachlich unverständlich, widersprüchlich, irrefüh- (C)
keit, sind die widerstrebenden Interessen. Nun haben rend, unsystematisch aufgebaut und damit in höchs-
Sie, Herr Bundesfinanzminister, von den „Management- tem Maße fehleranfällig.
qualitäten“ der Bundesregierung gesprochen. Man muss
Wie sollen die Bürger denn die Steuergesetze ehrlich an-
schon eine gewisse schauspielerische Begabung haben,
wenden, wenn sie überhaupt keine Möglichkeit haben,
wenn man so etwas verkünden kann, ohne dabei selbst
sie wirklich zu verstehen?
lachen zu müssen. Bei der Diskussion über die Gesund-
heitsreform oder über die Arbeitsmarktreformen war von (Beifall bei der FDP)
Managementqualitäten nicht viel zu spüren. Da ging es
wirklich drunter und drüber. Jetzt kommt die größte Dreistigkeit und Unver-
schämtheit: Im Jahressteuergesetz hat die Koalition be-
(Beifall bei der FDP) schlossen, dass die Bürger für verbindliche Auskünfte
des Finanzamts auch noch Gebühren zahlen müssen.
Der Sachverständigenrat spricht von einem Zick-Zack-
Kurs, der natürlich zu entsprechenden Konsequenzen (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und Unsicherheiten in der Öffentlichkeit führt. NEN]: Eine Frechheit, so etwas!)
Zurück zum Sparen. Es ist richtig: Sparen ist notwen- Das bedeutet: Der Normengesetzgeber bleibt so unklar,
dig. Sie sparen auch hart und konsequent, aber Sie spa- dass der Bürger nicht weiß, wie er sich verhalten soll.
ren beim Bürger und nicht beim Staat. Der Bürger zahlt Fragt er dann das Finanzamt, bekommt er dort eine Aus-
die Zeche. Das ist doch das Problem. kunft nur, wenn er dafür auch noch Gebühren zahlt, ob-
wohl doch jeder weiß, dass die Finanzverwaltung aus
(Beifall bei der FDP) dem Steueraufkommen, das wir täglich selbst erbringen,
Wir werden im nächsten Jahr Steuermehreinnahmen in bezahlt wird.
Höhe von 27 Milliarden Euro gewärtigen, also eine Ab- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
schöpfung von Kaufkraft in dieser Größenordnung in DIE GRÜNEN)
Kauf nehmen müssen. Diese Zahl steigt bis zum Jahre
2010 gleichmäßig an auf 39 Milliarden Euro, die der
Staat mehr abkassiert. Das bedeutet mehr Belastung für Vizepräsidentin Petra Pau:
die Bürger und die Unternehmen, weniger Kaufkraft, Kollege Solms, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu
weniger Investitionsmittel. Damit werden Sie die jetzt beantworten und auf diese Art und Weise gleich die
aufblühende Konjunktur im nächsten Jahr so dämpfen, Überziehung der Redezeit auszugleichen?
dass Sie in wenigen Jahren wieder vor Haushaltslücken
(B) stehen werden, die Sie heute noch gar nicht vorhersehen Dr. Hermann Otto Solms (FDP): (D)
können. Ja, bitte schön.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Wir brauchen eine ökonomische Leitschnur, und die Herr Kollege Solms, ich teile Ihre Einschätzung, dass
kann nur lauten: Wir müssen eine wachstumsorien- unsere Gesetze und Vorschriften zu kompliziert formu-
tierte Angebotspolitik betreiben und die Kosten für Ar- liert sind.
beit und Investitionen deutlich senken, damit durch
Wachstum mehr Arbeitsplätze entstehen können und (Beifall bei der FDP)
dann auch wieder mehr Steuereinnahmen erzielt werden. Wenn die Bürger nicht mehr verstehen, was staatliche
Nur so können die Haushaltsprobleme gelöst werden. Stellen formulieren, dann kostet das nicht nur mehr Geld
Aber die Belastungen beim Bürger steigen weiter, die aufgrund der Nachfragen, sondern dann führt das natür-
betrieblichen Bündnisse für Arbeit sind vergessen, die lich auch zu einem noch stärkeren Vertrauensverlust der
Liberalisierung des Kündigungsschutzes ist passé, die Bürger gegenüber den staatlichen Stellen.
langfristige Absenkung der Lohnzusatzkosten ist Schnee (Beifall bei der FDP)
von gestern, zu einer tragfähigen Gesundheitsreform ist
Fehlanzeige zu vermelden. So kann es natürlich nicht Deshalb hat die große Koalition sich dazu durchgerun-
weitergehen. Würden Sie hier die strukturellen Maßnah- gen, ein Projekt für verständlichere Sprache beim
men, die Sie ankündigen, dann auch durchführen, wäre Bundesministerium der Justiz anzusiedeln, und hat hier-
das schön und gut. für auch Gelder in den Haushalt 2007 eingestellt. Kön-
nen Sie mir nach dem, was Sie eben gesagt haben, jetzt
Zur Steuerpolitik ist zusammenfassend zu sagen: Ein erklären, warum die FDP einen Antrag eingebracht hat,
klarer Kurs fehlt. Es geht nicht nur um Entlastung, son- gerade diese Gelder zu streichen?
dern es geht um Vereinfachung und um Verständlich-
keit, damit die Bürger die Gesetze wieder akzeptieren (Beifall bei der CDU/CSU)
können. Der Bundesfinanzhof schlägt Ihnen in einem Das ist für mich völlig unverständlich.
Urteil Ihre Gesetze um die Ohren:
Gemessen an den vom BVerfG aufgestellten Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Grundsätzen verletzen die … Vorschriften den Diese Information geht schon insoweit fehl, als die
Grundsatz der Normenklarheit; denn sie sind FDP-Fraktion als einzige Fraktion hier im Deutschen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6427
Dr. Hermann Otto Solms
(A) Bundestag ein neues Steuergesetz vorgelegt hat, welches guten Exportleistung; vielmehr stärken die Bürgerinnen (C)
in einfacher, deutlicher und klar verständlicher Sprache und Bürger dieses Landes den Binnenkonsum.
abgefasst ist
Diese positive Entwicklung – sie ist der Rahmen für
(Widerspruch bei der SPD) diese Haushaltsberatungen – macht sich auch auf dem
Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Je-
und dazu führt, dass aus heute 475 Seiten reinem Geset- den Tag gibt es mehr sozialversicherungspflichtige Be-
zestext nur noch 33 Seiten werden. schäftigung in diesem Land. Es kann zu einer Trend-
(Beifall bei der FDP) wende auf dem Arbeitsmarkt kommen, wenn wir mit
dieser Entwicklung in den nächsten Wochen und Mona-
Damit haben wir ein Beispiel gesetzt, dem Sie folgen ten klug umgehen.
sollten. Im Übrigen bin ich nicht der Meinung, dass Fra-
gen der deutschen Sprache vom Justizministerium zu be- Die Steuerschätzung vom 3. November war zum ers-
handeln sind. Dort pflegt man nur eine Rechtssprache. ten Mal seit vielen Jahren kein Tag der Furcht vor dro-
Wir brauchen aber eine allgemein verständliche Sprache, henden Steuerausfällen, sondern ein Tag der Zuversicht,
also eine Sprache, die jeder Bürger versteht. weil wir das Ergebnis der Vorjahresschätzung übertrof-
fen haben und die Einnahmesituation der öffentlichen
(Beifall bei der FDP) Haushalte sich entspannt hat.
Ich komme zum Schluss. Die große Koalition hat ih- Ich will dem zentralen Argument der Kolleginnen und
rer Arbeit das Motto „Lasst uns mehr Freiheit wagen!“ Kollegen von der FDP einige Fakten entgegenhalten.
vorangestellt. Auch Steuern sind ein Freiheitsthema. Die beiden Redner der FDP haben den Eindruck er-
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nicht für den, weckt, dies alles werde durch eine steigende Steuer- und
der zahlt!) Abgabenlast finanziert. Sie sind relativ rasch dabei zu
sagen, hier werde abkassiert.
Durch Steuerentlastungen können Sie den Bürgern mehr
Möglichkeiten geben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie Tatsache ist, dass die EU-Kommission – nachzulesen
es für richtig halten: Sie können mehr Vorsorge betrei- in der heutigen Ausgabe der „Financial Times Deutsch-
ben, mehr konsumieren, mehr investieren. Geben Sie land“ – eine mittelfristige Analyse der Steuer- und
den Bürgern mehr Freiheit, auch finanzieller Art, damit Abgabenquote in der Bundesrepublik Deutschland vor-
sie ihr Leben so gestalten können, wie sie es für richtig gelegt hat. Nicht nach Zahlen des Finanzministeriums,
halten, und nicht, wie es die Administration für richtig sondern nach Zahlen der EU-Kommission dürfte die
hält. Steuer- und Abgabenquote im nächsten Jahr inklusive
der Mehrwertsteuererhöhung ungefähr auf dem Niveau
(B) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (D)
dieses Jahres liegen, nämlich bei 43,6 Prozent.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
DIE GRÜNEN)
Damit liegt sie 3 Prozentpunkte niedriger als zu Beginn
dieses Jahrzehnts. Die Steuer- und Abgabenquote sinkt
Vizepräsidentin Petra Pau:
im Trend. Das steht im fundamentalen Widerspruch zu
Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter für die Ihrem – wider besseres Wissen – hier vorgetragenen Ar-
Unionsfraktion. gument, hier werde abkassiert und die Steuern und Ab-
(Beifall bei der CDU/CSU) gaben würden in die Höhe getrieben. Das Gegenteil ist
richtig.
Steffen Kampeter (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Weil wir
Herren! Die Bundesregierung und die große Koalition wieder Wachstum haben!)
sind seit etwa einem Jahr an der Arbeit. Wenn ich einen
Vergleich zu der Vergangenheit ziehe, dann komme ich Bei dieser Entwicklung hilft insbesondere, dass wir
zu dem Ergebnis, dass diese Haushaltsberatungen unter uns in einem stabilen weltwirtschaftlichen Umfeld befin-
wesentlich veränderten Rahmenbedingungen stattfinden. den. Der in dieser Woche verstorbene Milton Friedman
Wir erleben in unserem Land einen, bezogen insbeson- hat vielen Politikern und vielen Wissenschaftlern eine
dere auf die wirtschaftliche Sphäre, großen Stimmungs- sehr solide Vorsicht gegenüber Inflation beigebracht.
umschwung sowohl bei den Investoren als auch bei den Das internationale Leitbild orientiert sich an inflationsar-
Konsumenten. mem Wachstum. Unsere Geldpolitik ist koordiniert, aber
unabhängig, sodass auch unsere Zinsentwicklung im
(Lachen des Abg. Ulrich Maurer [DIE Augenblick absolut moderat ist. Die Wachstumserwar-
LINKE]) tungen der Weltwirtschaft sind positiv.
Die Kollegin von den Grünen hat zu Recht darauf hinge- Ich will an dieser Stelle ausdrücklich hervorheben,
wiesen, dass das Wirtschaftswachstum eines der ersten dass nach Auffassung der großen Koalition insbesondere
Ergebnisse dieses Stimmungsaufschwungs ist. Das Brut- die binnenwirtschaftliche Entwicklung etwas damit zu
toinlandsprodukt steigt stärker als das Potenzialwachs- tun hat, dass wir die in Art. 115 des Grundgesetzes
tum. Dieses Wirtschaftswachstum basiert, anders als in verankerte Ausnahmeregelung für den Etat 2006 in
den vergangenen Jahren, nicht allein auf einer besonders Anspruch genommen haben. Wir hätten ansonsten die
6428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Steffen Kampeter
(A) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Ich war etwas amüsiert – das will ich ehrlich sagen –, (C)
durch eine 20 Milliarden Euro schwere Bremse hervor- als der Kollege Koppelin hier vorgetragen hat, dass er es
gerufen. Stattdessen haben wie die ersten Erträge dieser nicht gut findet, dass wir nach einem Jahr große Koali-
positiven Entwicklung eingefahren: tion die Öffentlichkeit im Rahmen einer Anzeigenkam-
pagne über die ersten Erfolge informieren. In Nord-
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
rhein-Westfalen regieren wir gemeinsam mit Ihrer
NEN]: Mühsame Krücke!)
Partei, Herr Kollege Koppelin. Nach einem Jahr erfolg-
So konnten wir die Nettokreditaufnahme um 25 Prozent reicher Regierungskoalition zwischen Union und FDP
gegenüber unseren ursprünglichen Erwartungen senken. war es auch ein Anliegen der dortigen FDP, darüber zu
Die Inanspruchnahme dieser Ausnahmeregelung hat uns informieren. Ich finde, es ist das gute Recht einer jeden
insgesamt nach vorne gebracht. Regierung, dann, wenn es gut läuft – in Nordrhein-West-
falen läuft es ebenso gut wie in der großen Koalition –,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Widerspruch bei der SPD)
Es gibt auch eine Reihe von Risiken. Der Bundes-
finanzminister hat sie in seiner Rede zur Einbringung die Menschen nach einer gewissen Zeit darüber zu infor-
des Haushaltes hier sehr klar und offen benannt. Diesen mieren. Ich finde, Sie sollten das Recht, das sich die
Risiken begegnen wir, indem wir bei unseren Reformbe- FDP in Nordrhein-Westfalen herausnimmt, der großen
mühungen beherzt voranschreiten, und zwar gemäß dem Koalition nicht absprechen. Seien Sie doch diesbezüg-
Dreiklang von Konsolidieren, Investieren und Reformie- lich etwas großzügiger, Herr Kollege Koppelin.
ren.
(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß
Als Erstes nenne ich die Arbeitsmarktreform. Al- [SPD]: Gilt das auch für die neue Arbeitslo-
lein in dieser Woche sind im Rahmen einer Organisa- sengeldregelung?)
tionsreform bei der Bundesagentur für Arbeit 600 Stel-
Mit dem Haushalt 2007 werden wichtige und zentrale
len in die Vermittlung umgeschichtet worden, um die
Anliegen der großen Koalition umgesetzt. Die Union
Effizienz der Arbeitsmarktverwaltung in Deutschland
findet sich in dieser Politik wieder.
noch stärker zu verbessern.
Erstens. Wir legen Ihnen im Entwurf – wir werden
Ein schwieriges Reformprojekt des Bundesarbeits-
auch für den entsprechenden Vollzug sorgen – einen ver-
ministers Müntefering, nämlich die Rente mit 67, steht
fassungsgemäßen Haushalt vor. Das ist das erste Mal
unmittelbar vor dem Abschluss. Diese Lebensarbeits-
seit dem Jahre 2001. Dabei haben wir es im Rahmen der
zeitverlängerung, die zur Ausbalancierung von Beitrags-
Haushaltsberatungen sogar geschafft, den Vorsprung der
und Rentenzahlungen dringend notwendig ist, werden
(B) Investitionen vor den aufgenommenen Schulden, also (D)
wir vorantreiben.
die Verfassungsgemäßheit, noch um einige hundert Mil-
Im nächsten Jahr werden wir die Pflegeversiche- lionen Euro auszubauen. Dieser Haushalt ist verfas-
rungsreform angehen. sungsfest.
Wir haben – der Bundesfinanzminister hat zu Recht Zweitens haben wir in den Beratungen der Konsoli-
darauf hingewiesen – im unternehmensteuerlichen Be- dierung einen eindeutigen Vorrang eingeräumt. Es ist
reich zwei wichtige Reformvorhaben vor uns: einmal die uns gelungen, noch über die selbstgesteckten Konsoli-
Unternehmensteuerreform im engeren Sinne und zum dierungsziele hinauszugehen. Wir senken die Nettokre-
anderen die Erbschaftsteuerreform. Beides machen ditaufnahme, Frau Kollegin Hajduk, sehr viel stärker
wir deswegen, weil wir Arbeitsplätze in Deutschland ab, als ursprünglich im Regierungsentwurf vorgesehen.
halten wollen. Das ist das einzige und wichtigste Ziel. Es Wir nutzen die ersten Renditen der Politik der großen
geht uns nicht um einen Steuerwettbewerb nach unten, Koalition, die sich in steigenden Steuereinnahmen zei-
wie es die Linken nennen, sondern darum, Arbeit in gen, vor allen Dingen für die Absenkung der Nettokre-
Deutschland wettbewerbsfähig und Investitionen renta- ditaufnahme in diesem und im nächsten Jahr. 19,58 Mil-
bel zu machen. Das ist das Anliegen dieser Politik. liarden Euro stellen die niedrigste Nettokreditaufnahme
seit der Wiedervereinigung dar.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sie, Frau Kollegin Hajduk, haben die Überarbeitung
Außerdem werden wir die Gesundheitsreform ver-
der mittelfristigen Finanzplanung eingefordert. Die
abschieden. Ich war schon einigermaßen erstaunt, Frau
nächste muss nach dem Gesetz im Frühjahr im Zusam-
Kollegin Hajduk, dass Sie heute den Vorschlag gebracht
menhang mit der Aufstellung des Etatentwurfs für 2008
haben, die Gesundheitsreform zumindest in Teilen zu
vorgelegt werden. Wir werden selbstverständlich die
verschieben. So wurde in den vergangenen Jahren he-
neuen erfolgreicheren Einsparoptionen der großen Ko-
rumgewurschtelt: Wenn ein Problem auftrat, wurden Re-
alition darlegen. Der Bundesfinanzminister steht darüber
formen verschoben. Seitdem Ihre Partei nicht mehr in
hinaus gegenüber der EU-Kommission in der Pflicht, in
der Regierungsverantwortung steht, verschieben wir
den nächsten Wochen so etwas wie eine vorläufige Linie
nicht Reformen, sondern machen sie. Das ist das Mar-
aufzuzeigen. Ich finde, es ist kein Anlass für Kritik, dass
kenzeichen der großen Koalition.
wir besser sind, als wir vor einem Jahr gedacht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Bonde Wir sollten es gemeinsam als Anlass zur Freude nehmen,
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben dass es jetzt Überarbeitungsbedarf in der mittelfristigen
Sie doch selber nicht!) Finanzpolitik gibt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6429
Steffen Kampeter
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stoltenbergs, absenken können, auf unter 44 Prozent, (C)
neten der SPD) wenn wir konsequent an diesem Konsolidierungs- und
Sparkurs festhalten. Das wäre ein großer Erfolg, auch im
In diesem Zusammenhang weise ich auf das Treffen
Sinne der Liberalen; denn dieses Ziel wird von allen in
am 3. November hin, bei dem sich die Spitzen der Koali-
diesem Hohen Hause geteilt.
tion und der Regierung, assistiert von den beiden haus-
haltspolitischen Sprechern, mit dem Ergebnis der Steuer- (Beifall bei der CDU/CSU)
schätzung auseinander gesetzt haben. Die Beschlüsse,
die wir an jenem Vormittag getroffen haben, haben uns Frau Kollegin Hajduk, Sie haben vorhin gesagt, dass
zweierlei bewiesen: Erstens ist die große Koalition hand- wir nicht die gesamten Steuermehreinnahmen verwen-
lungsfähig und zweitens ist sie konsolidierungswillig. den würden, um die Nettokreditaufnahme zu senken.
Das hängt damit zusammen, dass wir in diesem Etat
(Ulrike Flach [FDP]: Willig, nicht fähig!) Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit abgebildet
Das sind doch eigentlich gute Botschaften. Ich kann da- haben. Wir wollten nicht, wie Sie das immer gemacht
her die hier vorgetragene Kritik, dass Finanzgipfel, wie haben, als Sie Verantwortung getragen haben, bis zum
es manche genannt haben, überflüssig seien, nicht ver- Ende des Jahres warten, sondern das in diesem Etat dar-
stehen. An jenem Tag sind wichtige Konsolidierungsim- stellen, beispielsweise im Bereich der Kosten der Unter-
pulse, auch für die nachfolgende Generation, gesetzt kunft, für den es ein Verhandlungsergebnis gab. Das
worden und diese sollten wir ausdrücklich und positiv finde ich ehrlich und konsequent: Wir haben die Steuer-
hervorheben. mehreinnahmen des Bundes ausschließlich für die Ab-
senkung der Nettokreditaufnahme und für die Herstel-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lung von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit in
Insbesondere haben wir an jenem Tag die Lohnzu- diesem Etat verwendet. Das halte ich für solide und an-
satzkosten durch die Reduzierung des Arbeitslosenver- ständige Haushaltspolitik.
sicherungsbeitrags in einem Schritt um 2,3 Prozent-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
punkte abgesenkt. Damit werden wir jetzt den
Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
niedrigsten Arbeitslosenversicherungsbeitrag, Herr Kol-
NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
lege Müntefering, seit, wie ich glaube, 20 Jahren auswei-
sen. Wir setzen da – das ist ein Zusammenspiel der gro-
ßen Koalition – einen wichtigen Impuls für mehr Vizepräsidentin Petra Pau:
Wachstum und Beschäftigung. Wir geben den Bürgerin- Kollege Kampeter – –
nen und Bürgern, den Unternehmen und den Arbeitneh-
(B) merinnen und Arbeitnehmern mit diesem Schritt in abso- (D)
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
luten Zahlen 16 Milliarden Euro zusätzliche Kauf- und
Investitionskraft zurück. Nein.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Nachdem ihr ihnen Ich möchte noch auf einige Aspekte der Haushaltsbe-
vorher alles weggenommen habt!) ratung eingehen. Der Dreiklang von Investieren, Sanie-
ren und Reformieren wird auch bei diesem Etat 2007
Das, Herr Kollege Solms, sollten Sie in Ihren Reden deutlich. Wir haben schon im Aufstellungsverfahren bei
nicht verschweigen, auch die Entlastungswirkungen diesem Etat wichtige Investitionen in die Zukunft abge-
nicht, die das für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet. sichert. Ich nenne die Absicherung des Elterngelds, das
Dies ist ein gutes Signal für Wachstum und Beschäfti- unter Frau Bundesministerin von der Leyen beschlossen
gung in Deutschland. worden ist, und der Forschungs- und Hightechstrategie,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die im Wesentlichen durch die Bundesminister Schavan
neten der SPD) und Glos repräsentiert sind. Das sind wichtige Zukunfts-
investitionen, ohne die wir zukünftig keine erfolgreiche
Die Staatsquote, meine sehr verehrten Damen und Politik machen können.
Herren, sinkt. Der Staat nimmt die Bürger weniger in
Anspruch. Das ist im Übrigen auch ein Kernanliegen li- Wir haben trotz eines soliden Etatvorschlages weitere
beraler Finanz- und Steuerpolitik. Die Staatsquote sinkt strukturelle Verbesserungen im Haushalt vorgenommen
kontinuierlich. Ich zitiere noch einmal die „Financial und gleichzeitig die Sparanstrengungen in bestimmten
Times Deutschland“: „EU lobt sinkende deutsche Staats- Bereichen verschärft. Ich will mit einem für Haushalts-
quote“. Mit Blick auf die Reden der FDP kann ich nur debatten etwas ungewöhnlichen Beispiel beginnen. Ich
sagen: Wenigstens an diesem Punkt könnten Sie uns ein- habe noch kein Land dieser Erde am Kulturetat Bank-
mal ein bisschen unterstützen. Es ist nicht immer ganz rott gehen sehen, eher schon am Sozialetat; aber auch da
einfach, in einer großen Koalition eine sinkende Staats- sind wir auf einem guten Weg. Für uns war es wichtig,
quote durchzusetzen. auch in Zeiten strikter Sparsamkeit für die Kulturnation
Deutschland deutliche Akzente zu setzen, indem wir
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist wohl wahr!)
zum Beispiel in der auswärtigen Kulturpolitik die Mittel
Aber wir werden die Staatsquote am Ende dieser Le- für das Goethe-Institut und die Auslandsschulen gestei-
gislaturperiode – in dieser Frage weiß ich mich mit dem gert und indem wir ein neues Eingangsgebäude für die
Bundesfinanzminister einig – auf das Niveau unmittel- Museumsinsel, im Übrigen interfraktionell und einver-
bar vor der Wiedervereinigung, zur Zeit Gerhard nehmlich,
6430 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Steffen Kampeter
(A) (Beifall der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ der Kohle an Subventionen einvernehmlich abbauen (C)
DIE GRÜNEN]) können, werden wir bis zum Ende dieses Jahres auch ab-
bauen. Das ist ein Anliegen der Union. Ich weiß mich in
mit 73 Millionen Euro auf den Weg gebracht haben.
dieser Frage mit den Kolleginnen und Kollegen der gro-
Dies zeigt: Man kann auch mit einer Konsolidierungs-
ßen Koalition einig.
strategie ganz wichtige Impulse für die Kulturnation
Deutschland setzen. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
war jetzt ein harter Schlag für die SPD!)
Impulse kann man auch auf traditionelle Weise set-
zen, nämlich mit einer Investitionsstärkung. Wir wer- Wir haben weitere Einsparungen im Personalbereich
den in den Bereichen Verkehr, Städtebau, Wirtschaft und durchgeführt.
Umwelt in diesem und im nächsten Jahr durch Einspa-
rungen bei konsumtiven Ausgaben die Investitionen um Im Übrigen, Herr Kollege Koppelin, haben Sie ver-
700 Millionen Euro steigern. Wir haben für das Ergän- schwiegen, dass wir die Mittel für die Öffentlichkeits-
zungsprogramm „Lückenschluss und Staubeseitigung“ arbeit der Regierung um 10 Prozent gesenkt haben. Ich
für Bundesautobahnen Mittel in Höhe von 420 Millionen bin der Auffassung: Wenn man eine gute Politik macht,
Euro in den Verkehrshaushalt eingestellt. Damit haben dann braucht man für eine entsprechende Darstellung
wir die Antiautopolitik, die die Grünen teilweise durch- nicht so viel Geld.
gesetzt hatten, endlich beendet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Abg. Jürgen Koppelin [FDP])

Wir wollen, dass die Staugefahr auf Bundesautobahnen Da die Politik der großen Koalition gut ist – gute Politik
durch Lückenschluss verringert wird. ist ebenso wichtig wie gute Öffentlichkeitsarbeit –, ist
die Absenkung um 10 Prozent einvernehmlich beschlos-
(Beifall des Abg. Jochen-Konrad Fromme sen worden.
[CDU/CSU])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wir haben zusätzliche Investitionen in erneuerbare neten der SPD)
Energien ermöglicht und wir haben die Mittel für die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haus-
Wirtschaftsstruktur“ um 50 Millionen Euro gesteigert. halt 2007 ist, wie ich finde, Ausweis einer sehr ordentli-
So machen wir deutlich, dass es uns wichtiger ist, Arbeit chen Bilanz in der Haushalts- und Finanzpolitik nach ei-
anstatt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. nem Jahr der großen Koalition. Ich will den
Bundesfinanzminister aber nachdrücklich bei seinen
(B) Die allgemeine Sicherheitssituation in diesem Lande Warnungen unterstützen, dass wir jetzt nicht in Euphorie (D)
machte es notwendig, dass wir ein Sicherheitsstärkungs- verfallen und die Konsolidierungsaufgaben vergessen
programm unter der Verantwortung von Wolfgang sollten. Wir sind einen ersten guten Schritt gegangen.
Schäuble auf den Weg gebracht haben. Außerdem haben Ihm werden weitere folgen müssen. Sie werden nicht
wir im Verteidigungsetat die Finanzierung der Auslands- ganz so einfach werden, weil wir keine Garantie haben,
einsätze sichergestellt, indem wir zusätzliches Geld be- dass uns die Konjunktur immer Rückenwind gibt.
reitgestellt haben.
Ich glaube, dass die gefühlte Konsolidierung im Au-
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genblick besser ist als die tatsächliche. Damit will ich
NEN]: Geschummelt habt ihr!) nicht die Auffassung der Bevölkerung, dass wir eine an-
Ich danke der Kollegin Hajduk, ständige Arbeit leisten, negativ beeinflussen. Aber wir
werden in den nächsten Jahren noch viele Konflikte er-
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tragen müssen, damit unser Ziel langfristig nachhaltiger
Nichts zu danken!) und ausgeglichener Haushalte in Bund, Ländern und Ge-
dass sie ausdrücklich anerkannt hat, dass wir auch vor meinden sowie in den Sozialversicherungen erreicht
einem Subventionsabbau nicht Halt machen. Wir haben wird. Dies ist Wunsch und Wille der großen Koalition
die Kohleförderung für das nächste Jahr gesenkt, weil es und ein Herzensanliegen der Union.
möglich und notwendig war. Es ist richtig, Frau Kollegin Herzlichen Dank.
Hajduk, dass wir im Jahresverlauf noch überprüfen wer-
den, ob weitere Einsparungen möglich sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das finde ich gut!)
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Sie sind aber erfahren genug, zu wissen, dass die Fraktion Die Linke.
Sprechklausel gemeinsam und einvernehmlich ausge-
übt werden kann. Täuschen Sie deshalb die Öffentlich- (Beifall bei der LINKEN)
keit nicht, indem Sie sagen, dass hier eine falsche Etati-
sierung durchgeführt wurde. Wir werden uns mit dem Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Land Nordrhein-Westfalen, mit dem Bundesfinanzmi- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
nister und mit dem Bundeswirtschaftsminister einigen Kollegen! Der zweite Haushalt der schwarz-roten Regie-
müssen. Ich sage Ihnen hiermit zu: Was wir im Bereich rung liegt vor und es läuft ein seit Jahren gepflegtes Ri-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6431
Dr. Barbara Höll
(A) tual ab. Abgeordnete freuen sich, die Beratungen been- Die Schwächung der Binnennachfrage wird nicht (C)
det zu haben, und die Regierung, insbesondere der nur durch die Mehrwertsteuererhöhung verursacht. Sie
Finanzminister, freut sich, dass sie ungeschoren davon haben mit Ihrer Mehrheit die Erhöhung der Versiche-
gekommen ist. rungsteuer, die Kürzung der Pendlerpauschale, die Ver-
kürzung der Dauer des Bezugs von Kindergeld
Auch in diesem Jahr haben die regierungstragenden – 451 000 junge Menschen haben dann keinen Anspruch
Abgeordneten nicht den Mut aufgebracht, im Haushalt mehr auf das Kindergeld – sowie die Kürzung des Spa-
umzusteuern. Denn nur um 2,42 Milliarden Euro ist der rerfreibetrages beschlossen. Im nächsten Jahr werden
Haushaltsentwurf verändert worden. Er ist und bleibt die der Binnenkonjunktur etwa 25 Milliarden Euro entzo-
Fortsetzung einer unsozialen Sparpolitik, die Fortset- gen. Dazu sagen Sie, das sei nicht konjunkturfeindlich.
zung einer Umverteilung von unten nach oben,
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Politisch verkaufen Sie die Mehrwertsteuererhöhung
und das, obwohl es dem Herrn Finanzminister in diesem in der Form, dass Sie sagen, sie sei notwendig für die
Jahr wirklich gut geht und es auch im nächsten Jahr so Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung
sein wird. In diesem Jahr ist ein Steuerplus von und für die Schuldentilgung. Dies ist nicht falsch, aber
8,4 Milliarden Euro zu verzeichnen. Im nächsten Jahr auch nicht wahr. Denn die Einnahmen aus der Mehr-
werden 9 Milliarden Euro erwartet. Bei der Bundesagen- wertsteuererhöhung fließen in den Bundeshaushalt. Aus
tur für Arbeit besteht ein Überschuss von etwa dem Bundeshaushalt werden verschiedene Ausgaben fi-
10 Milliarden Euro. nanziert. Man kann natürlich ehrlicherweise sagen, Sie
Das ist viel Geld. Man könnte es natürlich einsetzen. bräuchten mindestens 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteu-
Man könnte zum Beispiel die bei der Bundesagentur an- ererhöhung, um Ihre Unternehmensteuerreform zu fi-
fallenden Überschüsse dafür einsetzen, konkrete Maß- nanzieren.
nahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einzulei- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
ten. Nehmen Sie also Geld und schaffen Sie über eine GRÜNEN]: Das stimmt!)
Anschubfinanzierung einen öffentlich geförderten Be-
schäftigungssektor! Als Oppositionspolitikerin wünsche ich mir manchmal,
Sie würden zumindest den Koalitionsvertrag einhalten.
(Beifall bei der LINKEN) Denn darin stand in Bezug auf die Unternehmensteuerre-
Nehmen Sie Geld und greifen Sie den DGB-Vorschlag form:
auf, zumindest 50 000 Lehrstellen mittels einer An- Angesichts des bestehenden Konsolidierungsdrucks
schubfinanzierung zu schaffen! Viele junge Menschen in allen öffentlichen Haushalten werden Nettoent-
(B) haben keine Ausbildungsplätze. Wir hätten noch die lastungen kaum zu realisieren sein. (D)
Chance, zu reagieren. Unsere Fraktion wird einen ent-
sprechenden Antrag einbringen. Inzwischen sind Sie drauf und dran, eine Unterneh-
mensteuerreform zu realisieren, die bei den Unterneh-
(Beifall bei der LINKEN) men zu einer dauerhaften jährlichen Entlastung von min-
Nein, Ihnen fällt nur ein, an der Mehrwertsteuerer- destens 5,6 Milliarden Euro führen wird. Die Fachleute
höhung festzuhalten. Für das nächste Jahr werden gehen davon aus, dass es real mindestens 8,5 Milliarden
Mehreinnahmen von 19,41 Milliarden Euro erwartet. Euro sein werden. Das sind Riesensummen, auf die Sie
Der Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung ist ein Ge- Jahr für Jahr verzichten wollen. Dies macht, wie gesagt,
bot der ökonomischen Vernunft. Die Erhöhung ist Gift die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuer-
für die konjunkturelle Belebung. Sie wissen, wir befin- erhöhung aus.
den uns in der Situation, dass die Nettolöhne und die Herr Steinbrück, da Sie vorhin in einer ziemlich arro-
Renten sinken und die Armut zunimmt. Genau die davon ganten Weise über die Vorschläge der Linken hinwegge-
Betroffenen wollen Sie im nächsten Jahr durch die gangen sind, nenne ich Ihnen eine andere Finanzierungs-
Mehrwertsteuererhöhung zusätzlich belasten. quelle. In einer Kleinen Anfrage habe ich Sie gefragt,
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unglaub- wie hoch der Unterschied zwischen den erwirtschafteten
lich! – Ulrike Flach [FDP]: Das ist wohl und den besteuerten Gewinnen ist. In der Antwort Ihres
wahr!) Ministeriums, Drucksache 16/3071, wird festgestellt,
dass der Unterschied zwischen den erwirtschafteten und
Im Sechsten Existenzminimumbericht ist nachzule- den besteuerten Gewinnen 65 Milliarden Euro beträgt.
sen, dass sich die Regierung sicher ist, dass sowohl das Ich glaube, da ist Musik drin. Da kann man tatsächlich
Kindergeld als auch das Arbeitslosengeld II als auch die etwas machen.
Sozialhilfe bereits heute hoch genug sind, sodass die
(Beifall bei der LINKEN)
Mehrwertsteuererhöhung nicht eingerechnet werden
muss, obwohl sie nach den Berechnungen des Bundes- Aber Vorschläge in dieser Richtung haben wir von Ihnen
finanzministeriums für jeden Verbraucher zu einer noch nicht auf dem Tisch.
Mehrbelastung von etwa 29 Euro pro Monat führen
wird. Aber nein, gerade bei den kleinen Einkommen, In den Eckpunkten zur Unternehmensteuerreform ist
den Transferleistungen sagen Sie, sie würden reichen. nachzulesen, dass Sie im Prinzip nur zu geringen
Das ist eine unsoziale Politik. Mehreinnahmen kommen wollen. 3,5 Milliarden Euro
mehr wollen Sie vom inländischen Steuersubstrat ein-
(Beifall bei der LINKEN) nehmen. Aber wie, das kann man noch nicht nachlesen.
6432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Barbara Höll


(A) Wenn man von 65 Milliarden Euro ausgeht und noch Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
im Nebel stochert, wie man an 3,5 Milliarden Euro Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann für
kommt, ist das ein Armutszeugnis für Ihre Politik. die SPD-Fraktion.
Gleichzeitig wird daran deutlich, wie unnötig die Mehr-
wertsteuererhöhung ist, die zur Belastung von Kleinver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dienern, von Rentnerinnen und Rentnern und von Stu-
dentinnen und Studenten führen wird. Wir werden Ihren Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
Haushalt ablehnen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
(Beifall bei der LINKEN) legen! Kommen wir von der Ersten Allgemeinen Verun-
sicherung und Geier Sturzflug zurück zu den realisti-
Die Art Ihrer Diskussion ist wirklich erschreckend. schen Zahlen des Bundeshaushalts 2007. Ich will meine
Vielleicht erinnern Sie sich: 1983 gab es einen großen Ausführungen mit der Bemerkung beginnen, dass der
Hit. Eine satirische Rockband, die Erste Allgemeine Ver-
Bundeshaushalt 2007 eine Vielzahl positiver Merkmale
unsicherung, belegte in den Charts Platz eins. Der Name
hat und eindeutig den Willen der großen Koalition zu ei-
der Band ist inzwischen Realität. Die Bevölkerung ist
ner nachhaltigen Finanzpolitik bestätigt und diesem auch
zutiefst verunsichert. Die Band sang damals: „Jetzt wird
wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Brutto- gerecht wird.
sozialprodukt.“ Die Nation freute sich, das Lied wurde Wer sich bezüglich der Frage der gesunkenen Netto-
zum Hit, heute würden Millionen von Menschen gern in neuverschuldung die Ausführungen der Freien Demo-
die Hände spucken und von ihrer Hände Arbeit leben, kraten anlässlich der Beratungen des Bundeshaushalts
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das war Geier 2006 vor Augen führt, der wird heute leider erneut fest-
Sturzflug!) stellen müssen, dass die Freien Demokraten weder den
Haushalt 2006 noch den Haushalt 2007 begrüßen. Ich
aber es ist ihnen nicht vergönnt. Es gibt keinen Mindest- habe Verständnis dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen
lohn. In dieser Richtung haben wir eine Menge zu tun. von der FDP, dass Sie den Haushalt 2007 nicht loben,
aber Sie sollten die gute Entwicklung und die gesunkene
Vizepräsidentin Petra Pau: Nettoneuverschuldung – meine Vorredner haben bereits
Kollegin Höll, gestatten Sie eine Zwischenfrage des darauf hingewiesen, dass sie die niedrigste seit der Wie-
Kollegen Koppelin? dervereinigung unseres Vaterlandes ist – annehmen und
letztendlich auch als einen positiven Aspekt dieser Haus-
halts- und Finanzpolitik herausstellen.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
(B) Ja. Auf einen zweiten Punkt kann nicht oft genug hinge- (D)
wiesen werden: das Einhalten der Vorgaben gemäß
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Art. 115 Grundgesetz. Leider ist die Kollegin Hajduk
Koppelin hat eine wichtige Feststellung zu vom Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr da.
machen!)
(Jürgen Koppelin [FDP]: Sie sitzt jetzt auf der
Jürgen Koppelin (FDP): richtigen Seite, nämlich bei uns!)
Verehrte Kollegin, da ich früher einmal Leiter einer Wir sind gerne bereit, über das, was sie zu diesem Punkt
Musikredaktion bei der ARD war, möchte ich Sie darauf unter der Überschrift „Schuldenbegrenzung und Über-
aufmerksam machen, dass es nicht die Erste Allgemeine nahme von in Schweizer Gesetzen stehenden Regelun-
Verunsicherung war, sondern die Gruppe Geier Sturz- gen“ gesagt hat, zu reden. Ich habe schon in meiner Rede
flug, die dieses Lied gesungen hat. anlässlich der ersten Lesung des Haushalts 2007 darauf
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hingewiesen, dass das eine zentrale Aufgabe des Rech-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nungsprüfungsausschusses in den nächsten Monaten
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sein wird. Ich weise aber auch darauf hin, dass es hier so
passt noch besser!) wie bei vielen anderen Vergleichen ist: Man kann das,
was in der Schweiz gut läuft und vielleicht besser gere-
gelt ist als bei uns, nicht zu hundert Prozent auf unsere
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Verhältnisse übertragen.
Danke für Ihre Verbesserung. Ich glaube jedoch, dass
meine Ausführungen bezüglich der allgemeinen Verun- Mit dem Bundeshaushalt 2007 setzen wir die erfolg-
sicherung vieler Menschen in unserem Lande völlig reiche Konsolidierungspolitik fort. Wir werden dabei
richtig sind. Heute geht es nicht einfach darum, dass in auch unser Ziel nicht aus den Augen verlieren, so schnell
Deutschland gemeckert wird. Die Menschen sind zu- wie möglich einen ausgeglichenen Haushalt zu errei-
tiefst verunsichert, weil sie nicht mehr wissen, wie es chen. Wir sollten uns daran aber auch nicht überheben.
weitergehen wird mit der Politik, ob sie ihnen vielleicht Die leidvolle Erfahrung aus der Vergangenheit zeigt,
den Boden unter den Füßen wegzieht. Das ist ein Zu- dass das nicht allein national zu regeln ist, sondern man
stand, den wir ablehnen. auch die globalisierte Wirtschaft im Blick haben muss,
Ich danke Ihnen. welche sowohl positive als manchmal auch negative
Auswirkungen auf die Haushalts- und Finanzpolitik un-
(Beifall bei der LINKEN) seres Landes hat.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6433
Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
(A) Mein Vorredner hat bereits darauf hingewiesen – das Handwerk und beim Mittelstand. Diese zahlen nicht (C)
ist ein weiteres Erfolgsmerkmal –, dass 2006 und 2007 mehr 25,9 Prozent, sondern nur noch 15 Prozent bzw.
die Maastrichtkriterien eingehalten werden können. nicht mehr 53, sondern nur noch 42 Prozent. 80 Prozent
der mittelständischen Betriebe und Handwerksbetriebe
Was die schon oft angesprochenen Steuermehreinnah- erzielen Gewinne, aufgrund deren sie weit von irgend-
men angeht, hat man manchmal den Eindruck, als würde welchen Spitzensteuersätzen entfernt sind.
der Finanzminister diese Steuermehreinnahmen in voller
Höhe im Bundeshaushalt verbuchen können. Ich will Eine Familie mit zwei Kindern kann in Deutschland
noch einmal deutlich machen, dass diese Steuermehrein- bis zu 37.500 Euro verdienen und zahlt unter Berück-
nahmen auf alle staatlichen Ebenen verteilt und für die sichtigung des mehrfach erhöhten Kindergeldes keine
dringend notwendige Konsolidierung der Länderhaus- Steuern mehr. Das ist ein großer Erfolg, den man sich in
halte sowie der Haushalte der Kommunen benötigt wer- Erinnerung rufen sollte, wenn man Steuererhöhungen
den, um hier zu einer weiteren Entlastung und Reduzie- massiv kritisiert.
rung der Schuldenaufnahme zu kommen. (Beifall bei der SPD)
Es wurde schon viel zur Absenkung des Beitrages zur Der Kollege Kampeter hat bereits auf einen Artikel
Arbeitslosenversicherung gesagt, der sich mit round der „Financial Times Deutschland“ vom 21. November
about 17 Milliarden Euro sowohl für die Arbeitnehme- 2006 hingewiesen. Wenn es für die Opposition passend
rinnen und Arbeitnehmer als auch für die Wirtschaft aus- ist, zitiert sie ja oft und gerne aus Zeitungen und Mei-
wirkt. Liebe Frau Kollegin Hajduk, Ihre Rechnung und nungsumfragen. Ich will aus dem Artikel in der „Finan-
die Staffelung der Beiträge, die sich an der 40-Prozent- cial Times Deutschland“ zitieren:
Grenze orientieren, bezogen auf die vier sozialen Siche-
rungssysteme ist nicht nachvollziehbar. Aber vielleicht „Deutschland sticht mit seiner derzeitigen Haus-
können wir beide noch einmal in einem internen Ge- haltskonsolidierung qualitativ und quantitativ unter
spräch klären, wer hier richtig und wer falsch liegt. den großen EU-Ländern positiv hervor“ … So
erfolge die Konsolidierung entgegen dem weitver-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE breiteten Eindruck vor allem über sinkende Staats-
GRÜNEN]: Das kann man nächstes Jahr ausgaben. Zudem führe die Bundesrepublik das
wahrscheinlich nachlesen!) Strukturdefizit schneller zurück als Italien oder
Die FDP lässt – jedenfalls nicht deutlich – nicht da- Frankreich.
von ab, weitere Steuer- und Abgabensenkungen zu for- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Steffen
dern. Diese will jedoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, Kampeter [CDU/CSU])
niemand ernsthaft.
(B) Das sind deutliche Formulierungen, die die solide Haus- (D)
(Jürgen Koppelin [FDP]: Natürlich!) halts- und Finanzpolitik dieser Regierungskoalition be-
Das wollen letztendlich auch nicht die Landesregierun- stätigen.
gen, an denen Sie beteiligt sind. Frau Kollegin Lötzsch, ich muss etwas zu Ihrer For-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Selbstverständlich derung sagen, im Einzelplan 14, bei der Bundeswehr,
wollen die das!) Einsparungen vorzunehmen. Ich habe das Gefühl, dass
Sie zumindest der staunenden Öffentlichkeit den Ein-
Ich glaube, davon gibt es noch eine oder sogar zwei. druck vermitteln wollten, man könne das machen. Ich
(Ulrike Flach [FDP]: Drei!) will ganz klar und deutlich sagen: Das kann man nicht.
Die Bundeswehr, die in den letzten Jahren durch vielfäl-
– Okay. Das war jetzt gegen 12.30 Uhr die Testfrage, ob tige Aufgaben, sprich: Auslandseinsätze, gefordert ist
Sie noch genau wissen, wo Sie beteiligt sind. – Bei die- – jeden Tag leisten alle Soldatinnen und Soldaten so-
ser Gelegenheit sollten wir vielleicht einmal mit dem wohl im Inland als auch im Ausland wertvolle Arbeit –,
Kollegen Möllring reden, inwieweit er als Finanzminis- kann nicht mit weiteren Sparmaßnahmen belegt werden.
ter meines Heimatlandes Niedersachsen bereit ist Das wäre unredlich und ist in aller Entschiedenheit zu-
rückzuweisen.
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Meines auch!)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
– auch des von Herrn Thiele, keine Frage –, über weitere Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Nur wenn man
Steuersenkungen nachzudenken. für Auslandseinsätze ist!)
An dieser Stelle muss man aber auch ein Stück Ver- – Herr Kollege von der PDS, von der Linken bzw. von
gangenheitsbewältigung im Hinblick auf Steuersenkun- der WASG – man muss ja manchmal genau hinschauen,
gen betreiben. 1998 betrug der Eingangsteuersatz wo Sie stehen bzw. zu wem Sie gehören –, bei der Bera-
25,9 Prozent, jetzt liegt er bei 15 Prozent. Der Spitzen- tung des entsprechenden Einzelplanes wird das, was zur
steuersatz lag 1998 bei 53 Prozent, jetzt liegt er bei Bundeswehr zu sagen ist, deutlich gesagt werden. Sie
42 Prozent plus einem Zuschlag von 3 Prozentpunkten liegen leider auch diesbezüglich völlig falsch. Gehen Sie
bei einem entsprechenden Einkommen. Man muss deut- einmal zu den Soldatinnen und Soldaten, gehen Sie ein-
lich darauf hinweisen, dass sich diese Steuersenkungen mal in eine Kaserne; dann werden Sie Ihre Denkweise
– das richtet sich an die Linke – am gravierendsten bei ändern und zu anderen Entscheidungen kommen.
denen auswirken, die Einkommensteuer zahlen, also bei
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie beim (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
6434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bernhard Brinkmann (Hildesheim)


(A) Der Präsident des Bundesrechnungshofs, Herr Profes- darüber streiten, dass die Unternehmen deutlich entlastet (C)
sor Engels, hat zwei wesentliche Punkte der Haushalts- werden sollen.
und Finanzpolitik bestätigt: Die Lage der Bundesfinan-
zen hat sich spürbar verbessert und es ist richtig, mit den (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der
Mehreinnahmen die Nettoneuverschuldung zu verrin- Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gern. Wir sind noch längst nicht am Ziel dieser Bemü- NEN])
hungen angekommen. Der Bundeshaushalt muss weiter Warum haben Sie denn Krach mit dem Parteirat?
konsolidiert werden. Dabei werden wir den Finanz-
minister wie bisher tatkräftig unterstützen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe kei-
nen Krach!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Weil die Steuerquote in diesem Land zu hoch ist. Das ist
Wir sind auf einem guten Weg; der muss konsequent der Punkt. Sie versuchen, die Realitäten zu verwischen.
weitergegangen werden.
(Beifall bei der FDP)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Verlässlich, nachvollziehbar und berechenbar, so
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) müsste Ihrer Meinung nach die Finanzpolitik sein.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Ulrike Das haben wir auch heute wieder gehört. Sie haben uns
Flach. am Anfang dieses Jahres eine Doppelstrategie der
Konsolidierung ohne Gefährdung des Aufschwungs
(Beifall bei der FDP) vorgemalt. Wie sieht diese Konsolidierung aus? Der
Haushalt 2006 wurde – wir haben es heute immer wieder
Ulrike Flach (FDP): gehört – mit einer geplanten Nettoneuverschuldung von
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! circa 38 Milliarden Euro verabschiedet. Jetzt kommen
Sie haben in den Jahren 2005 und 2006 die einmalige wir auf 30 Milliarden Euro. 2007 soll die Neuverschul-
Chance gehabt, zwei Haushalte hintereinander, die dung bei 19,5 Milliarden Euro liegen. Die FDP begrüßt
Haushalte für die Jahre 2006 und 2007, in einem das, nichts anderes. Das ist selbstverständlich. Sie stellen
Schwung auf den richtigen Weg zu bringen. Herr dies als großen Erfolg beim Schuldenabbau dar. Aber
Kampeter, das wäre es wert gewesen, heute als histori- Fakt ist: In diesen zwei Jahren häufen Sie über
sche Tat bezeichnet zu werden. Sie haben diese Chance 50 Milliarden Euro neue Schulden an.
(B) aber einfach vertan. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk (D)
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn Sie sich die mittelfristige Finanzplanung an-
Sie haben es nicht geschafft, die wirklich positive schauen, Herr Steinbrück, dann sehen Sie, dass Sie bis
Konjunktur, die wir alle begrüßen – keiner sagt etwas zum Ende der Legislaturperiode noch um 100 Milliarden
dagegen; insofern ist es eine Unterstellung, wenn Sie sa- Euro weitergehen. Ist das eine seriöse Art, mit dem
gen, wir würden etwas schlecht reden –, Haushalt umzugehen? Das ist eine Belastung der Bürger
und kein Weg, der dieses Land nach vorne bringt.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt
doch! Das machen Sie mit jedem Wortbei- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
trag!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

zur Konsolidierung des Haushalts zu nutzen. Herr Sie haben bei den Haushaltsberatungen im September
Kampeter, während Ihrer Oppositionszeit haben Sie uns dieses Jahres gesagt: Hätten wir zu Beginn des Jahres
das bei jeder Gelegenheit erzählt. 2006 ein niedrigeres Defizit nach Brüssel gemeldet, hät-
ten wir mehr konsolidieren müssen. Das hätte Ihrer Dop-
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk pelstrategie widersprochen, Herr Steinbrück. Was bedeu-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tet das? Sie haben die konjunkturellen Aussichten im
Ich bin mehr als erstaunt, dass Sie genauso wie Kol- Frühjahr absichtlich zu pessimistisch eingeschätzt. Sie
lege Brinkmann über die Steuerquote reden, wo doch haben dadurch den europäischen Stabilitätspakt miss-
jeder Bürger dieses Landes weiß, dass am 1. Januar eine achtet und geschwächt. Das wirft auch ein Licht auf die
deutliche Mehrwertsteuererhöhung in Kraft tritt, die Verfassungsmäßigkeit des laufenden Haushaltes. Denn
Bürger mit 10 Milliarden Euro zusätzlich belastet wer- die gute Konjunktur hätte einen verfassungskonformen
den Haushalt ermöglicht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deutliche (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
Sozialversicherungsabsenkung!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und Sie sich mit den Linken, mit den Sozialdemokraten, Da bin ich völlig auf der Seite von Frau Hajduk. Ein vor-
sätzlicher Bruch der Kreditfinanzierungsgrenze, Art. 115
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: des Grundgesetzes, wäre bei dieser Konjunktur im Haus-
Wer denn nun?) haltsvollzug heilbar gewesen, Herr Steinbrück.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6435
Ulrike Flach
(A) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk Vorschläge enthalten, die Schlechtes für den Wirt- (C)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schaftsstandort und nicht die erhofften guten Ergebnisse
für den Bundeshaushalt bewirkt hätten.
Sie hatten also offensichtlich niemals vor, stärker zu
konsolidieren. Sie wollten den einfachen Weg über die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Einnahmeseite gehen. Ulrike Flach [FDP]: Wie wäre es wenigstens
mit einer Handvoll?)
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau so!)
Nach dem Haushalt des Übergangs für das laufende
Die Bürger in diesem Land müssen wissen: Wir haben Jahr 2006 markiert diese Woche den Abschluss des ers-
allein in diesem Oktober Steuermehreinnahmen von fast ten Haushaltsentwurfs – wenn Sie so wollen – in eigener
10 Prozent. Gerade bei einem solchen Geldregen muss Aufstellung, in eigener Planung und in eigener Durch-
man mehr Schulden abbauen, als Sie es tun. Dasselbe sa- führungsverantwortung der unionsgeführten Regierung
gen Ihnen übrigens alle Forschungsinstitute. Die Konso- Angela Merkel. Leitlinie dabei war der Koalitionsver-
lidierungsstrategie der großen Koalition ist weder nach- trag der großen Koalition, in dem die Aufgabe klar be-
haltig noch wachstumsgerecht. schrieben ist:
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk Deutschland braucht eine nationale Anstrengung auf
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) allen Ebenen, um das gesamtwirtschaftliche Wachs-
Hinzu kommt, dass Sie – mehrere Redner haben das tum zu steigern und die strukturelle Unterdeckung
bereits angesprochen – auf so genannte Impulspro- der öffentlichen Haushalte durch gemeinschaftliche
gramme verweisen. Ich frage mich wirklich, was Im- Konsolidierungsanstrengungen und Strukturrefor-
pulsprogramme bewirken, die entweder erst im nächsten men zu beseitigen. Jedes Hinausschieben der not-
Jahr greifen – Kollege Solms hat zu Recht darauf hinge- wendigen Haushaltssanierung treibt den Konsoli-
wiesen – oder aufgrund nicht abfließender Mittel über- dierungsbedarf nur noch weiter in die Höhe.
haupt nicht greifen können. Was Sie in diesem Augen- Das ist die Leitlinie, die wir diesem Bundeshaushalt
blick an Mehr einnehmen, ist nichts anderes als das zugrunde gelegt haben.
Ergebnis einer guten Entwicklung der Weltwirtschaft.
Sie versuchen, das als besondere Erfolge der großen Ko- (Beifall bei der CDU/CSU)
alition darzustellen. Mit dem Abschluss der Haushaltsberatungen wird der
(Beifall bei der FDP) Wille der Koalition, eine nachhaltige Finanzpolitik zu
betreiben, bestätigt und in Zahlen gegossen. Statt die
Unter dem Strich: Die FDP hat in den letzten zwei Nettokreditaufnahme zu erhöhen, senken wir sie im
(B) Jahren über 1 000 Einsparvorschläge gemacht. Wir ha- (D)
kommenden Jahr – auch gegenüber dem Regierungsent-
ben Ihnen gerade das Buch, das diese enthält, übergeben. wurf – um weitere 2,4 Milliarden Euro. Das ist ein gutes
Ich hoffe, Sie lesen es auch. Ergebnis, das im Haushaltsausschuss des Deutschen
(Lachen des Bundesministers Peer Steinbrück) Bundestages gefunden wurde.
Jeder einzelne dieser Anträge ist von der großen Koali- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist einfach zu
tion niedergestimmt worden, obwohl es zum Teil An- wenig!)
träge waren, die aus den Zeiten der Opposition mit der Deshalb lautet die übergeordnete Schlagzeile der Haus-
CDU/CSU übernommen worden sind. Sie, Herr haltsberatungen richtigerweise: Mit dem Haushalt 2007
Steinbrück, haben offensichtlich nicht einmal versucht, läutet die Regierung Angela Merkel endlich die überfäl-
zu sparen. Das erwarten wir von Ihnen. Ansonsten wer- lige Trendwende in der Haushalts- und Verschul-
den Sie in Schwierigkeiten kommen. Zum Jahre 2010 dungspolitik des Bundes ein.
werden wir nach wie vor nicht die von Herrn Kampeter
erhoffte Konsolidierung des Haushaltes haben. In nur einem Jahr erreichten wir das, was die Vorgän-
gerregierung in den letzten Jahren ihrer Regierungszeit
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja nicht mehr geschafft hat. Das Jahr 2007 markiert die
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Umkehr von ständig steigenden Schulden hin zu einer
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sind eine verantwortungsvollen, sparsamen, zukunftsgerechten,
unerträgliche Schlechtrednerin!) nachhaltigen und europa- und verfassungskonformen
Haushaltspolitik.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon für die neten der SPD)
Unionsfraktion.
Wir halten die Regelgrenze von Art. 115 des Grund-
(Beifall bei der CDU/CSU) gesetzes ein und tragen den Erfordernissen des Stabili-
täts- und Wachstumspaktes Rechnung. Das ist im Hin-
Georg Fahrenschon (CDU/CSU): blick auf die europäische Stabilitätskultur nicht nur ein
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wichtiges Signal nach Brüssel, sondern auch ein Signal
Herren! Bezogen auf die 1 000 Anträge, liebe Frau Kol- an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, weil
legin Flach, gilt die Generallinie, dass Qualität vor dadurch Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Nur
Quantität geht. In den 1 000 Anträgen waren zu viele ein Jahr nach dem Amtsantritt einer unionsgeführten
6436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Georg Fahrenschon
(A) Bundesregierung schaffen wir das, was der Vorgänger- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
regierung – das betone ich noch einmal ausdrücklich – in neten der SPD)
mehreren Jahren nicht gelungen ist. Es gilt also: Wenn
die Union in der Verantwortung steht, werden die Regeln Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, Sie haben
wieder eingehalten. Das ist das Qualitätssiegel von CDU Recht: Das Problem der Sanierung der Staatsfinanzen
und CSU. ist mit dem Jahr 2007 nicht gelöst und die Sanierung der
Staatsfinanzen ist auch nicht beendet. Nein, das Gegen-
(Beifall bei der CDU/CSU) teil ist der Fall: Vielmehr ist die Sanierung der Staats-
finanzen mit dem Jahr 2007 erst eröffnet. Von diesem
Diese aktuell positive Entwicklung darf allerdings Punkt aus müssen wir weiter voranschreiten, strukturelle
nicht den Blick dafür verstellen, dass wir in Bezug auf Einsparungen im Haushalt zu ermöglichen.
die Lage der öffentlichen Finanzen nach wie vor vor rie-
sigen Herausforderungen stehen. Das beweist unter an- (Ulrike Flach [FDP]: Das wäre schön!)
derem eine im Oktober dieses Jahres veröffentlichte
Für die Union steht das erklärte Ziel fest, mittelfristig
Studie der Europäischen Kommission zur langfristigen
den ausgeglichenen, den nachhaltigen Bundeshaushalt
Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in der Euro-
zu erreichen. Dabei geht es uns nicht um Sparen um des
päischen Union. Dieser Studie zufolge wird die
Sparens willen – CDU und CSU geht es um das Sparen
Schuldenquote in der Europäischen Union und in der
um der Zukunft willen. Gerade aus Sicht der jungen Ge-
Eurozone unter unveränderten Rahmenbedingungen von
neration ist ein ausgeglichener Haushalt notwendig, um
derzeit durchschnittlich 63 Prozent des europäischen
finanzielle Gestaltungsspielräume in der Zukunft zu er-
Bruttoinlandsproduktes auf rund 200 Prozent des Brutto-
halten. Wir werden, wir dürfen der zukünftigen Genera-
inlandsprodukts im Jahr 2050 steigen. Meine sehr geehr-
tion zusätzlich zu den demografischen Problemen der
ten Damen und Herren, das ist ein Menetekel für die
sozialen Sicherungssysteme nicht auch noch die Zinslast
Entwicklung der Staatsfinanzen.
zusätzlicher Schulden aufbürden. Deshalb beschäftigt
Die Zahlen für Deutschland sind eine Drohung: Die uns über den Bundeshaushalt 2007 hinaus die Perspek-
Schuldenquote wird von derzeit 67,7 Prozent um fast tive für die Jahre 2008, 2009 ff. Herr Bundesfinanz-
200 Prozentpunkte, auf 260 Prozent im Jahre 2050 stei- minister, wir müssen die Chance der derzeitigen positi-
gen, wenn wir in der Haushalts- und Finanzpolitik struk- ven Entwicklung nutzen. Gehen wir gemeinsam auf dem
turell nichts ändern. Deshalb ist es ein Muss, dass wir Weg, das strukturelle Defizit zügig abzubauen und die
uns an den Regeln des Stabilitätspakts orientieren. Nur Schuldenstandsquote zu reduzieren, voran. In diesem
dann könnten wir eine derartige Explosion der Staatsver- Sinne müssen wir gemeinsam aus den Fehlern Ihres
schuldung – immerhin betrüge sie dann immer noch Amtsvorgängers lernen.
(B) knapp 65 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts – ver- (D)
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
hindern. Na!)
Daher ist es von enormer Bedeutung, dass Deutsch- – Doch, Herr Kollege Brinkmann!
land den eingeschlagenen positiven Kurs konsequent
weiterverfolgt. Die Vorgaben des Stabilitätspakts, vor al- Das Jahr 2001 hat Finanzminister Eichel gezeigt, wie
lem die weitere strukturelle Konsolidierung um einen schnell eine günstige konjunkturelle Entwicklung, ver-
halben Prozentpunkt pro Jahr, sollten dabei angesichts bunden mit einem Boom der volatilen, gewinnabhängi-
einer stabilen, aber zu hohen gesamtwirtschaftlichen gen Steuern, wie wir es damals hatten, sich umkehren
Staatsverschuldung von 68 Prozent nicht als Strafe ange- kann.
sehen werden. Vielmehr müssen diese Vorgaben als Leit-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
linie, geradezu als Chance für die zukünftige Finanz-
und Haushaltspolitik betrachtet werden. Wir haben, ausgehend von einer positiven Entwicklung
2001, quasi über Nacht umfangreiche Defizite, eine
Insbesondere angesichts der Alterung der Bevölke-
schnell wachsende Schuldenquote und eine Verletzung
rung – dieser Aspekt muss immer wieder ins Feld ge-
der Haushaltsgrenzen erlebt, weil wir keine solide
führt werden – muss die Tragfähigkeit der öffentlichen
Grundposition hatten. Das ist die Lehre aus der Entwick-
Finanzen unser vorrangiges politisches Ziel sein. Wir
lung der Jahre 2001, 2002, 2003, 2004. Daher müssen
müssen auch in Zeiten positiver Wachstumsquoten die
wir von heute an den vielfältigen Interessen vehement
Grundlagen dafür legen, dass wir in Zukunft finanzpoli-
entgegentreten und damit beginnen, endlich Schulden
tische Freiräume haben, mit denen wir aktiv Politik
abzubauen. Nur dann hält der positive Trend des
gestalten können. Nur mit tragfähigen öffentlichen
Jahres 2006 auch 2007 an und kann sich sogar multipli-
Haushalten werden wir die Herausforderungen der de-
zieren.
mografischen Entwicklung einerseits und der Globalisie-
rung, des ständig steigenden Wettbewerbs der Standorte, (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
andererseits meistern. Oppositionsrede!)
Das Ergebnis der Studie der Europäischen Kommis- Die Rückführung der Nettokreditaufnahme von
sion beweist – das ist im Grunde keine Überraschung –: 30 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 19,6 Milliarden
Staaten, die über solide und nachhaltige Finanzen verfü- Euro im nächsten Jahr ist ein erster, wichtiger Schritt.
gen, bekommen die Probleme der Zukunft besser in den Die Haushälter und Finanzpolitiker sind sich natürlich
Griff und meistern strukturelle Reformen. bewusst, dass man hier mit virtuellem Geld operiert.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6437
Georg Fahrenschon
(A) Aber man muss es sich einmal durchrechnen, um die Vo- 3,5 Prozent sein werden. Alle erwarten, dass wir auch im (C)
lumina zu begreifen: Wir haben durch die Reduzierung kommenden Jahr ein zwar vielleicht etwas verringertes,
der Nettokreditaufnahme von 30 Milliarden Euro auf aber immer noch solides Wirtschaftswachstum haben
19,6 Milliarden Euro zukünftige Belastungen vermie- werden. Es gibt heute etwa eine halbe Million Arbeits-
den. Wir haben in einem gewissen Sinne Freiräume ge- lose weniger und eine viertel Million sozialversiche-
schaffen. Denn allein durch die – in Anführungszeichen – rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr als vor
„gesparten“ Schulden von rund 10 Milliarden Euro müs- einem Jahr. Der Gesamtstaat Deutschland hat das Defi-
sen wir bei einem durchschnittlichen Zinssatz von rund zitkriterium von Maastricht in diesem Jahr wieder einge-
4 Prozent 400 Millionen Euro weniger Zinsen zahlen. halten und mit dem Haushalt 2007, der in dieser Woche
Wir haben den Bund davor bewahrt, weitere tägliche zur Debatte steht, werden wir zum ersten Mal seit länge-
Zinslasten von 1 Million Euro aufzunehmen. Ich glaube, rer Zeit auch die Regelgrenze des Art. 115 Grundgesetz
das ist eine gute Nachricht für die Steuerzahler in unse- wieder einhalten. Es ist bereits mehrfach gesagt worden:
rem Lande. Die Nettokreditaufnahme des Bundes wird den niedrigs-
ten Stand seit der Wiedervereinigung haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir sind noch nicht am Ziel, aber wir sind in den letz-
Die große Koalition hat nach der Wahl den dringen- ten Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Viele Kolle-
den Handlungsbedarf bei den öffentlichen Finanzen, ins- gen haben das schon gesagt: Wir müssen auch weiterhin
besondere beim Bundeshaushalt, schnell erkannt und mit an der Konsolidierung der Haushalte von Bund, Län-
ihren ersten beiden Etats auch gehandelt. Die öffentli- dern und Gemeinden arbeiten. Herr Fahrenschon, wir
chen Finanzen liegen langfristig wieder auf einer guten, stimmen natürlich weiterhin in unserem Ziel überein,
soliden Grundlage. Wir müssen uns immer wieder be- dass auch künftig jede Generation neu darüber entschei-
wusst werden, dass das eine Herausforderung ist, die mit den können muss, wofür sie das öffentlich zur Verfü-
den Haushalten 2006 und 2007 nicht abgearbeitet ist. gung stehende Geld ausgibt und wo die entsprechenden
Wir müssen diese Debatte in allen gesellschaftlichen Be- Schwerpunkte bei den öffentlichen Ausgaben liegen.
reichen führen, um die Aufgaben der kommenden Jahre Wir dürfen nicht durch eine überbordende Zinslast ein-
klar zu beschreiben. Nur wenn es gelingt, finanzielle geengt werden. Deshalb müssen wir jetzt die Ausgaben
Handlungsspielräume für eine solche aktiv gestaltende umstrukturieren. Der Anfang ist getan. Dabei müssen
Finanzpolitik zurückzugewinnen, kann Deutschland der wir weg von der vergangenheitsbezogenen Last hin zu
Zukunft erfolgreich begegnen. den Zukunftsausgaben kommen.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)
Durch die Steuerschätzung im November 2006 wur-
(B) Ich kann für die CDU/CSU feststellen: Wir sind einen den viele Hoffnungen geweckt. Es ist erstaunlich, dass (D)
Schritt in die richtige Richtung gegangen. Es gilt im aufgrund der etwas vermehrt zur Verfügung stehenden
Hinblick auf die zukünftigen Jahre, Tempo aufzuneh- Mittel – dies bedeutet allerdings immer noch, dass die
men, um die guten Ergebnisse des Jahres 2006 und die Lücke nur kleiner geworden ist – sofort mit einer großen
gute Planung für das Jahr 2007 in erfolgreiche Haushalte Fantasie darüber nachgedacht worden ist, wie man das
der Jahre 2008, 2009 und 2010 gießen zu können. weniger fehlende Geld besser ausgeben kann. Wofür gibt
man das Geld aus, das fehlt und das wir nicht haben?
Herzlichen Dank.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Richtig! –
(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Lücke wieder ein
bisschen vergrößern!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dafür gab es eine Reihe von Vorschlägen. Zum Glück
Nächster Redner ist der Kollege Jörg-Otto Spiller für
sind sie im Wesentlichen wieder begraben worden.
die SPD-Fraktion.
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Die
Jörg-Otto Spiller (SPD): FDP will weitere Steuersenkungen!)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Die Koalition hält Kurs. Dieser Kurs heißt Konsolidie-
Herren! Herr Kollege Fahrenschon, es ist sehr gut, dass rung. Ich sage aber auch: Konsolidierung gibt es nicht
wir jetzt an einem Strang ziehen und auch in derselben ohne Wachstum.
Richtung. Es war in der vorigen Wahlperiode manches
Mal schwer, mit dem Bundesrat, in dem es eine andere Ich bin ein wenig erstaunt darüber, dass Frau Hajduk
Mehrheit gab als im Bundestag, in der Finanzpolitik zu und auch der Vorsitzende von Gesamtmetall verkündet
Ergebnissen zu kommen. Wäre den Vorschlägen der da- haben, die Koalition habe nur Fortune gehabt;
maligen Bundesregierung gefolgt worden, stünden wir
heute ein Stück besser da, als wir es tun. Aber immerhin: (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wir haben es ja noch geschafft. Ich habe mit Gesamtmetall gar nicht so viel
am Hut!)
(Beifall bei der SPD)
die Konjunktur laufe gut, aber dafür könne die Politik
Deutschland ist auf einem guten Weg. Das Wirt- nichts. Frau Hajduk, der alte Moltke hat dazu schon das
schaftswachstum wird in diesem Jahr circa 3 Prozent be- Richtige gesagt: Glück hat auf die Dauer nur der Tüch-
tragen. Die Bundesbank redet sogar davon, dass es eher tige.
6438 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Jörg-Otto Spiller
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Anja Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung; denn wir (C)
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich müssen nicht nur über die Konjunktur, sondern auch
gönne Ihnen das doch!) über Wachstumschancen reden. Das wird im Laufe der
Woche in der Debatte der Einzelpläne noch an mehreren
Ich bin ein bisschen enttäuscht darüber, dass Sie sich Stellen eine Rolle spielen. Aber in der allgemeinen Fi-
selbst nicht mehr dazu zählen; denn es gab natürlich nanzdebatte will ich noch einen Punkt ansprechen. Un-
auch in der vorigen Wahlperiode Entscheidungen, die sere Unternehmensteuerreform baut darauf auf, dass
sich jetzt auszahlen. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich fast alle großen deutschen Unternehmen multinational
davon distanzieren. Natürlich ist die Arbeitsmarktre- ausgerichtet sind. Das heißt, dass sie nicht nur sehr er-
form, so schwierig sie war – sie ist ja immer noch um- folgreich weltweit operieren, sondern dass sie auch die
stritten –, auch eine der Grundlagen für die heutige Bele- Standortkonkurrenz besonders deutlich empfinden und
bung am Arbeitsmarkt. darüber hinaus entscheiden können, wo sie die Kosten
und Erträge anfallen lassen. Diese Entwicklung kann
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: man nicht passiv hinnehmen, sondern wir müssen zur Si-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der cherung der deutschen Steuerbasis dafür sorgen – das ist
Kollegin Hajduk? das Ziel der Unternehmensteuerreform –, dass die Unter-
nehmen in Deutschland mehr Steuern zahlen. Es geht
nicht darum, dass die Unternehmen insgesamt mehr
Jörg-Otto Spiller (SPD): Steuern zahlen sollen.
Gerne.
(Beifall bei der SPD)
(Bernd Scheelen [SPD]: Moltke!)
Ich bin mir sicher, dass wir das nach einer Anlauf-
phase erreichen werden. Wenn der eine oder andere mit-
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
telständische Unternehmer in seinen Überlegungen, wie
Sehr verehrter Herr Kollege Spiller, halten Sie es für er vorzugehen hat, Herr Solms, in einem komplizierten
zustimmungsfähig, dass ich mir hinsichtlich der Sen- Fall eine verbindliche Auskunft vom Finanzamt haben
kung der Lohnnebenkosten, die jetzt Ihrer Regierung will, dann halte ich eine angemessene Gebühr dafür für
möglich ist, auch weiterhin erlaube – weil ich zu unseren vernünftig. Ich bin sogar sicher, dass der Unternehmer
rot-grünen Reformen gerade im Bereich des Arbeits- diese Gebühr gerne zahlen würde.
marktes stehe –, darauf hinzuweisen, dass 1,3 der über
2 Prozentpunkte, um die Sie den Betrag zur Arbeitslo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
senversicherung senken wollen, durch rot-grüne Refor- der CDU/CSU)
(B) (D)
men angelegt wurden und dass deshalb dieser Schritt un-
abhängig von der Mehrwertsteuererhöhung erfolgt
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wäre? Das wollte ich bei Ihrer Überlegung zu den Lohn-
nebenkosten noch einmal deutlich machen. Vielleicht Der letzte Redner in dieser Debatte ist nun der Kol-
können Sie mir in diesem Punkt zustimmen. An dieser lege Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSU-Frak-
Stelle stehe ich sehr wohl zu unseren Reformen, die wir tion.
vor einigen Jahren durchgeführt haben. (Beifall bei der CDU/CSU)

Jörg-Otto Spiller (SPD):


Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):
Ganz deutlich war die Frage nicht. Aber ich nehme
mit Freude zur Kenntnis, dass Sie weiterhin zu unseren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Reformen stehen und insofern Ihre Aussage von vorhin Solms, es ist nicht richtig, dass es keinen roten Faden in
etwas geradegerückt haben. Herzlichen Dank für diese unserer Haushalts- und Wirtschaftspolitik gibt. Politik
Einsicht. fängt bei der Betrachtung der Realitäten an. Die Realitä-
ten sind weniger Arbeitslose, mehr sozialversicherungs-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pflichtig Beschäftigte und mehr offene Stellen. All das
der CDU/CSU) kommt nicht von ungefähr; es ist vielmehr Ausdruck da-
für, dass der schmale Grat zwischen der Sanierung der
Der Subventionsabbau in Verbindung mit einer Haushalte einerseits und der Schonung der Konsumkraft
gleichzeitigen Senkung von Steuersätzen hat ebenfalls andererseits richtig getroffen ist. Sonst hätten wir diese
dazu beigetragen. Auch diese Maßnahmen haben wir ge- positiven Werte nicht erreicht.
meinsam begonnen, Frau Hajduk. Aber wir setzen sie
auch fort. Das eine oder andere hätte vielleicht etwas Womit haben wir uns noch vor einem Jahr im Wahl-
schneller gehen können, wenn Herr Trittin nicht zum kampf beschäftigt? Damals ging es um den Arbeitsmarkt
Schluss gebremst hätte. Aber wir haben immerhin die und die Arbeitslosigkeit. Jetzt, nachdem sich die Lage
richtige Richtung eingeschlagen. gebessert hat, spricht keiner mehr davon. Die Entwick-
lung am Arbeitsmarkt spricht dafür, dass unsere Politik
Die große Koalition hat den Mut gehabt, mit dem erfolgreich ist und richtige Ansätze verfolgt hat.
Haushalt 2006 auch den Konjunkturverlauf zu stützen.
Ich finde, dazu kann man sich bekennen. Es war eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
vernünftige Entscheidung. neten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6439
Jochen-Konrad Fromme
(A) Um mit dem Regisseur Jacques Tati zu sprechen: Wettbewerb zwischen mehreren Beteiligten spricht im- (C)
„Alle Wirtschaftsprobleme wären zu lösen, wenn man mer dafür, dass man das beste Modell, das Optimum fin-
die Selbstgefälligkeit steuerpflichtig machte.“ Diesen det. Wir waren mit „Fiscus“ auf dem Weg hin zu mehr
Weg können wir nicht beschreiten. Aber die große Ko- Zentralismus, sind aber leider total gescheitert; das muss
alition ist durchaus erfolgreich, wenn man berücksich- ich ehrlich zugeben. Wir müssen nun neu anfangen.
tigt, was wir alles vorwärts gebracht haben. Der Staat ist
effizienter geworden. Wir haben Reformen durchgesetzt Natürlich haben wir gespart; Steffen Kampeter hat be-
und an allen Stellen für Verbesserungen gesorgt. Wir reits darauf hingewiesen. Wir haben auch bei uns selber
sind zwar nicht dort, wo wir sein wollen; das ist völlig gespart, zum Beispiel bei der Öffentlichkeitsarbeit. Des
klar. Alles könnte schöner, besser und größer sein. Aber Entschließungsantrags der FDP auf Streichung der Mit-
wir sind auf dem richtigen Weg; das ist das Entschei- tel für den Neubau des Bundesinnenministeriums be-
dende. darf es aber nicht. Wir haben die Mittel bereits gesperrt.
Wir werden uns ganz in Ruhe darüber verständigen, ob
Herr Kollege Spiller, die Trendwende wurde dadurch ein solches Konzept wirtschaftlich sinnvoll ist. Wenn
erreicht, dass Sie den grünen Ballast losgeworden sind. dem nicht so ist, dann werden die Mittel nicht freigege-
Wir haben uns nicht verändert. Vielmehr haben wir uns ben. Wenn dem so ist, dann werden die Mittel freigege-
angenähert und es gibt mehr Übereinstimmung. Das ben und dann wird vorwärts geschritten.
freut mich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Investitionen liegen über der Nettokreditauf-
nahme. Wir erfüllen damit das Maastrichtkriterium. Die Es wurde behauptet, durch die geplante Gesundheits-
Steuer- und Abgabenquote sinkt genauso wie die Lohn- reform stiegen die Beiträge. Das verwundert mich sehr;
nebenkosten. Das sind doch richtige und wichtige Si- denn die Gesundheitsreform greift noch gar nicht. Also
gnale. Es wird behauptet, das habe nichts mit der Regie- können die Beiträge aufgrund der Reform noch gar nicht
rung zu tun. Wir sind sicherlich nicht so arrogant und steigen. Sie steigen deshalb, weil in der Vergangenheit
sagen, das sei unser Aufschwung. Aber mit dem Regie- zu wenig verändert wurde, weil wir die Systeme zu we-
rungswechsel hat es schon etwas zu tun; denn die wirt- nig angepasst und zu wenig gesteuert haben. Lassen Sie
schaftliche Entwicklung hängt auch von der Stimmung uns erst einmal abwarten, bis das Konzept vollständig
ab. Nun gibt es einen Stimmungswandel; dieser ist wich- auf dem Tisch liegt und bis wir dafür gesorgt haben, dass
tig. Diesen hätte es ohne unsere Regierungsbeteiligung die Menschen mehr Eigenvorsorge betreiben. Ich
nicht gegeben. glaube, dass man dadurch wesentlich besser steuern
Wenn man die Überschriften in den letzten Tagen liest kann als durch Verwaltung und Regelungen. Letzteres
(B) – „Die deutsche Wirtschaft ist in guter Verfassung“; hat immer nur zu höheren Verwaltungskosten geführt. (D)
„Stärkstes Wachstum seit sechs Jahren“; „Wirtschafts- Ein zunehmend höherer Anteil im Gesundheitswesen
weisen erwarten kräftiges Wachstum“; „DIW rechnet geht in die Verwaltung anstatt in die Medizin, die Medi-
mit einer Gesundung der öffentlichen Haushalte“ –, kamente und Operationen. Unser Ziel muss sein, dem
dann muss man feststellen, dass es in diesem Land nun entgegenzuwirken.
einen breiten Konsens darüber gibt, dass die Politik ei- Ich freue mich, dass wir aktiv Politik betreiben konn-
nen richtigen Weg eingeschlagen hat. Diesen müssen wir ten, dass wir uns beispielsweise im Bereich der Kultur-
konsequent weitergehen. politik durchringen konnten – das sage ich als Arbeits-
Es ist richtig, vorhandene Überschüsse der Bun- gruppenvorsitzender –, der Koalitionsvereinbarung im
desagentur für Arbeit an die Beitragszahler zurückzu- Punkt „Sichtbares Zeichen“ im Haushalt Geltung zu ver-
geben. Es verwundert mich nicht, dass der Kollegin Höll schaffen. Ich fordere alle, insbesondere die Bundeslän-
nur einfällt, wie man das Geld ausgeben kann. Aber es der auf, einzusteigen und daran konstruktiv mitzuwir-
ist richtig, es den Bürgern zu geben, damit die ge- ken.
wünschte Entwicklung in Gang kommt.
Natürlich sind wir längst nicht da, wo wir sein wollen.
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist wohl wahr!) Wir sind aber auf dem richtigen Weg. Wenn ich mir die
Die FDP fordert keine Steuererhöhungen sowie Einnahmen und die Ausgaben im Bundeshaushalt an-
gleichzeitig eine Senkung der Nettokreditaufnahme und schaue, dann ist völlig klar, dass wir die strukturelle Lü-
eine Steigerung der Investitionstätigkeit. Dazu kann ich cke schließen müssen, weil irgendwann die Einmal-
nur sagen: Alles muss unter dem Strich zusammenpas- effekte verbraucht sind und weil wir nicht mehr
sen. Die Rechnung muss aufgehen. ausgeben dürfen, als wir einnehmen. Aber auch auf die-
sem Weg sind wir erheblich fortgeschritten. Seit Jahren
Der Kollege Solms fordert plötzlich eine zentrale haben wir jetzt erstmalig wieder einen Überschuss im
Steuerverwaltung. Dieser Hang zur Zentralität verwun- Primärhaushalt. Das heißt, wir sind den ersten Schritt
dert mich ganz erheblich. gegangen. In diesem Jahr geben wir weniger aus, als wir
einnehmen. Das ist ein wichtiges Zwischenziel. Wir
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
müssen natürlich Überschüsse erwirtschaften, damit wir
Aber er hat Recht!)
die Zinsen für die Altlasten tragen können und damit wir
Ich weiß natürlich, dass wir bei den EDV-Programmen zu einem besseren Investitionsverhalten kommen. Un-
stärker zusammenarbeiten und uns abstimmen müssen, sere Fortschritte in dieser Beziehung sind ein Beweis da-
wenn wir Einheitlichkeit erreichen wollen. Aber ein für, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
6440 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Jochen-Konrad Fromme
(A) Wir haben noch vieles zu tun, auch was die Staats- nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange- (C)
quote und die Personalkosten betrifft. Wir sind in der nommen.
Koalition mit der Willensbildung darüber, wie wir fort-
Abstimmung über den Einzelplan 20, Bundesrech-
schreiten, noch längst nicht am Ende. Natürlich sind
nungshof, in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –
pauschale Personalkostenvorgaben und Einsparungen
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 20
dann problematisch, wenn man in der Sache nichts ver-
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
ändert. Aber, Herr Kollege Poß – darin unterscheiden
wir uns –, wir sagen, dass wir bei den Aufgaben etwas Ich rufe nun Tagesordnungspunkt I.5 auf:
verändern müssen, damit wir auf diesem Weg weiterge-
hen können. Das ist aus dem Parlament heraus schwer zu Einzelplan 17
bewerkstelligen. Wir müssen Druck auf die Regierung Bundesministerium für Familie, Senioren,
ausüben, damit sie uns entsprechende Vorschläge macht. Frauen und Jugend
– Drucksache 16/3123 –
Ich will in diesem Zusammenhang auch ein Kapitel
ansprechen, das nicht überall besonders positiv aufge- Berichterstattung:
nommen wird, das Kapitel Bonn-Berlin. Ich glaube, Abgeordnete Dr. Frank Schmidt
dass wir uns diesen teuren „Doppelzirkus“ nicht mehr Dr. Ole Schröder
lange leisten können. Otto Fricke
Roland Claus
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Anna Lührmann
LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke vor.
Das ist doch ein Wahnsinn. Ich würde mich freuen – ich
habe Beifall quer durch das ganze Haus gehört –, wenn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
an diesem Thema konstruktiv mitgearbeitet würde. Ich die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
habe das einmal während einer Klausur angesprochen dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah-
und großen Beifall erhalten. Dann aber wurde der Beifall ren.
deutlich weniger. Ich schließe daraus, dass wir an dieser Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Stelle weitermachen müssen. Es kann doch nicht sein, Kollegen Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
dass jemand morgens um 6 Uhr in Bonn aufbricht, mit-
tags in Berlin ist, zehn Minuten lang etwas in einem (Beifall bei der FDP)
Ausschuss vorträgt und abends wieder nach Bonn fährt.
(B) Damit ist der ganze Arbeitstag für einen Vortrag von Otto Fricke (FDP):
(D)
zehn Minuten verloren. An der Stelle liegt doch ein riesi- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
ges Einsparpotenzial. legen! Die Beratungen des Einzelplanes 17 – das möchte
ich ausdrücklich gerade gegenüber den Koalitionsabge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
ordneten sagen – waren fachlich und sachlich von hoher
bei Abgeordneten der LINKEN und des
Qualität. Wir haben uns über inhaltliche Dinge gestrit-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ten, aber wir haben – das darf ich ausdrücklich Richtung
Ich glaube, dass wir daran arbeiten müssen. Wir soll- Ministerium sagen – die Informationen bekommen, die
ten über den lokalpolitischen Tellerrand hinwegschauen. wir brauchten, um unsere jeweiligen politischen Ent-
Die Stadt Bonn steht inzwischen gut da. Das hat keiner scheidungen treffen zu können.
vorausgesehen. Deswegen war es am Anfang richtig, Wir hatten am Ende der Beratungen im Ausschuss
Brücken zu bauen. Inzwischen haben wir gesehen, dass Streit über die Frage – ich gebe zu, dass das eine schwie-
die Brücken tragfähig sind, und wir können weiterarbei- rige Aufgabe ist –, welche und wie viele Zivildienst-
ten. schulen geschlossen werden sollen und wer letztlich da-
Sie sehen, es gibt noch viel zu tun. Packen wir es an! für verantwortlich ist. Dazu wird die Kollegin Lenke
Wir sind auf dem richtigen Wege. Ich lade alle in diesem nachher etwas sagen.
Hause ein, auf dem richtigen Wege mitzumachen und am (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine
Ende dem Haushalt zuzustimmen. Exekutiventscheidung, Herr Kollege!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausdrücklich begrüßen möchte ich aber noch, dass
neten der SPD) Herr Kues erreicht hat – ich wollte mich eigentlich bei
ihm bedanken, aber er hat heute ebenfalls Geburtstag
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und soll das auch ruhig feiern –, dass die Polen beim
Ich schließe die Aussprache. Deutsch-Polnischen Jugendwerk genauso wie die Bun-
desregierung und der Bundestag ihren Verpflichtungen
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Zunächst nachkommen.
stimmen wir über den Einzelplan 08, Bundesministe-
(Beifall bei der FDP)
rium der Finanzen, in der Ausschussfassung ab. Wer
stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir spre-
Einzelplan 08 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- chen immer vom Zukunftsprojekt Familie und vom Zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6441
Otto Fricke
(A) kunftsprojekt Kinder und Jugendliche und müssen den- Sie sind eben auch nicht dadurch zu beantworten, dass (C)
noch in diesen Tagen trotz positiver Meldungen auch man sagt: Alleine mit der Einhaltung christlicher Werte
Negatives zur Kenntnis nehmen. Man muss in der heuti- haben wir die Probleme dieser Welt gelöst. Das ist es
gen Debatte sicherlich auch den Fall Emsdetten anspre- eben gerade nicht.
chen, auch wenn der Täter ein 18-Jähriger war; denn die
Ursachen für die Tat sind in seiner Kindheit und Jugend (Beifall bei der FDP)
zu suchen. Dieser Fall ist leider kein Einzelfall. Der Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Wir müssen
Hang zur Gewalt nimmt bei unserer Jugend zu und wir auch prüfen, warum an den Schulen in anderen Ländern
sind letztlich immer noch nicht in der Lage, klare Ant- inzwischen Schulpsychologen tätig sind, während wir
worten auf die Fragen zu geben, die sich in diesem Be- immer noch auf Vertrauens- und Beratungslehrer setzen,
reich stellen, auch wenn wir das alle wollen, was ich also wieder auf diejenigen, mit denen sich die Schüler
nicht bestreiten will. doch so sehr auseinander setzen. Hier müssen wir genau
hinsehen und im Übrigen auch fragen: Was muss der
Ich will in diesem Hause ausdrücklich eine Warnung Bund tun und was müssen die Länder tun?
aussprechen: Machen wir doch bitte bei einer so
schrecklichen Tat, unter deren Folgen die Betroffenen (Renate Gradistanac [SPD]: Föderalismus!)
noch jahrelang leiden werden, nicht den Fehler, in Ak-
tionismus zu verfallen und irgendetwas zu verbieten, – Zur Aufteilung der Aufgaben zwischen Bund und Län-
weil wir glauben, damit hätten wir eine Lösung gefun- dern komme ich gleich noch.
den. Das kann bei solch einer schwierigen Sache nicht Eines müssen wir auf jeden Fall erreichen: Wir dürfen
der Sinn von Politik sein. unsere Kinder und Jugendlichen in dieser schwierigen
Welt nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen klar machen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass letztlich, unabhängig von irgendwelchen Zukunfts-
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ängsten, die Politik, die Erwachsenen an ihrer Seite ste-
GRÜNEN) hen.
Man kann gerne die Frage prüfen, ob solche Spiele Wir müssen bei der Kinderbetreuung anfangen. Da
verboten werden sollen. Das ist kein Problem, das kön- wird von allen schnell gesagt: Wir brauchen mehr Geld.
nen wir machen. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Beim Das ist wunderbar. Heute hören wir aber vom Finanz-
Verbot eines Spiels wird am nächsten Tag entweder die minister auch: Wir wollen vernünftig sparen. Und wa-
schwarz gebrannte CD weitergegeben oder das Kind rum wollen wir sparen? Wir wollen sparen, weil wir den
oder der Jugendliche geht am übernächsten Tag einfach Kindern nicht später, wenn sie 18 Jahre alt sind, die heu-
ins Internet und lädt sich dieses Spiel auf seinen Compu- tigen Schulden vorhalten können. Wir können ihnen (D)
(B)
ter, weil es ja inzwischen so leicht ist, riesige Mengen nicht sagen: Es tut uns Leid, wir haben das Geld für euch
von Informationen aus dem Internet herunterzuladen. ausgegeben, jetzt zahlt es bitte mit Zinsen zurück. Die-
Wir müssen hier andere Wege gehen. sen Irrwitz müssen wir stoppen. Da ist nach meiner Mei-
Am meisten sollte uns die Tatsache berühren, dass der nung die Familienministerin neben dem Finanzminister
Täter von Sinnleere spricht. Wir müssen uns fragen: Was ganz besonders gefragt.
ist in diesem Land in der Diskussion über die Zukunft (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
und über Werte falsch gelaufen? Hier liegt nach meiner
Meinung der Kernansatz, um unseren Kindern und Ju- Wir führen im Moment eine Diskussion über kosten-
gendlichen klar zu machen, warum es sich lohnt, in die- freie Kitas und die Nichterhöhung oder gar Absenkung
sem Land zu leben. des Kindergelds. Einig sind wir uns wahrscheinlich da-
rüber, dass das Geld bei den Kindern ankommen muss;
Ich will aber noch eine zweite Frage ansprechen: Wa- wir streiten nur über den Weg. Ich will ausdrücklich sa-
rum passiert es in Schulen? Nun können wir über Puber- gen, Frau Ministerin: Wenn Sie sagen, man dürfe das
tät und alle damit zusammenhängenden Probleme reden. nicht gegeneinander ausspielen, dann ist das eine gute
Da haben wir als Gesellschaft auch eine Aufgabe. Aber Aussage. Wenn aber die Konsequenz der Aussage ist,
wir müssen noch etwas anderes sehen: Wir haben eine dass man das Kindergeld erhöht – die Kinderfreibeträge
immer komplexere und immer schwierigere Welt. Die müssen verfassungsrechtlich dann auch entsprechend
einfachen Antworten der 50er-Jahre und vielleicht noch angepasst werden; das wissen wir – und gleichzeitig
aus der Zeit Anfang der 60er-Jahre reichen heute nicht auch noch auf Kosten des Steuerzahlers die Kitas gebüh-
mehr aus. renfrei macht, dann sucht man sich nur das Gute, aber
das Schlechte sind dann wieder die Schulden, die dabei
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie das übersehen werden. Die FDP ist nicht bereit, zu guten
mal der FDP-Fraktion!) Dingen zu sagen: Wir unterstützen das, egal wie viel es
Die sich heute stellenden Fragen sind auch nicht alleine kostet. Wichtig ist, dass sich etwas Gutes auch auf Dauer
mit dem Hinweis zu beantworten – Kollege Kampeter, für alle Generationen rechnet.
Sie sollten hier nicht so reinbrüllen, sondern eine Zwi- (Beifall bei der FDP)
schenfrage stellen – –
Ich möchte noch auf eine andere Sache hinweisen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich will Ihre Wir überlegen sehr häufig, wie wir mit dem Rechts-
Redezeit nicht verlängern! extremismus klarkommen. Immer wieder wird darüber
6442 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Otto Fricke
(A) gestritten – das ist auch im Haushaltsausschuss Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): (C)
passiert –, wer der bessere Bekämpfer sei. Wir haben in Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
den Bundeshaushalt, in die Länderhaushalte und in die Herren! Der Haushalt 2007 ist ein deutlicher Fortschritt
kommunalen Haushalte dieselben Summen eingestellt. für Familien und Kinder. Trotz der notwendigen Konso-
Dennoch merken wir auch hier wieder: Wir kommen an lidierung ist es uns gelungen, 1,6 Milliarden Euro für das
die Betroffenen nicht richtig heran. Wir wollen das, aber Elterngeld bereitzustellen. Das Elterngeld ist die größte
wir schaffen es nicht. familienpolitische Reformleistung der letzten zehn
Die FDP begrüßt deswegen ausdrücklich den Weg, Jahre.
die Arbeit der Kommunen zu stärken. Dieser Weg ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
richtig. Ich frage mich, ob man es schaffen wird, all die- der SPD)
jenigen zu erreichen – Jugendliche, Cliquen –, die fest in
einer bestimmten Richtung verwurzelt sind. Das wird Wir wissen, dass sich fast alle 18-Jährigen Kinder
sehr schwierig. Die Summen, die der Bund dafür zur wünschen, und zwar in der Regel mindestens zwei. Wir
Verfügung stellt, reichen mit Sicherheit nicht aus. Das ist wissen aber auch, dass rund ein Drittel der Deutschen
keine Forderung nach mehr Geld. Ich stelle nur die diesen Wunsch nie realisiert. Hier setzt das Elterngeld
Frage: Nützt es etwas, wenn wir in immer neue Projekte an. Wir unterstützen die jungen Eltern dann, wenn es am
kleinere Beträge investieren, ohne Erfolge feststellen zu notwendigsten ist: wenn die Ausgaben nach der Geburt
können? eines Kindes steigen und gleichzeitig ein Einkommen
wegfällt. Hier setzt das Elterngeld gezielt an. Ich bin
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
sehr optimistisch, dass sich aufgrund des Elterngeldes
Ich komme auf die Zuständigkeit der Länder zu spre- mehr Paare dafür entscheiden, sich ihren Kinderwunsch
chen. Sie haben eben so schön gesagt: Mehrgeneratio- zu erfüllen.
nenhäuser sind eine schöne Sache; in NRW heißen sie
Familienzentren. In Kommunen spricht man von Exzel- Über eines müssen wir uns aber auch im Klaren sein:
lenzkindergärten. Wenn man sich das genau anschaut, Politik ist nicht allmächtig. Wir werden die Geburtenrate
dann stellt man Folgendes fest, Frau Humme – seien wir in Deutschland auch durch noch so üppige familienpoli-
doch einmal ganz ehrlich –: Jedes dieser Projekte wird tische Leistungen nicht bestimmen können. Die Ent-
aus vier, fünf oder sechs verschiedenen Töpfen finan- scheidung liegt bei den Eltern. Um sich für ein Kind zu
ziert und alle rühmen sich, wer weiß wie viel getan zu entscheiden, braucht es vor allen Dingen eines: Zuver-
haben. sicht. Renate Schmidt, die Vorgängerin unserer Fami-
lienministerin von der Leyen, hat dazu einmal etwas sehr
(B) Es ist eine gute Sache, es ist eine richtige Sache. Zwi- Lebenskluges gesagt: Junge Paare haben heute erst dann (D)
schen den Generationen liegen heutzutage 30 oder sogar den Mut zum Kind, wenn das Eigenheim gebaut ist,
35 Jahre. Mit diesem relativ großen Abstand ist die wenn der Arbeitsplatz auf Dauer gesichert ist und wenn
Schwierigkeit verbunden, dass die Generationen zuein- die ersten drei Kinderbetreuungsjahre en détail geregelt
ander finden. Ist es allerdings die Aufgabe des Bundes, sind. Sie sagte weiter: Wenn sie die Erfüllung all dieser
damit fertig zu werden? Nein. Ich bin der Meinung, es Voraussetzungen verlangt hätte, dann wäre keines ihrer
ist die Aufgabe der Länder. Der Bund sollte sich da he- drei Kinder zur Welt gekommen. Ich finde, damit hat sie
raushalten – mag man sich in Stuttgart noch so sehr rüh- etwas sehr Kluges gesagt. Sie hat nämlich Recht: Den
men – und mehr Geld für die Schwächeren investieren. Mut zum Kind muss jeder selbst aufbringen. Politik
kann nur die Rahmenbedingungen so setzen, dass nicht
Ich komme zum Schluss. Frau Ministerin, der Haus-
zu viel Mut dafür vonnöten ist.
halt des Familienministeriums wird sich in nächster Zeit
sicherlich verändern. Sie haben gesagt, Sie prüften noch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
seriöse Vorschläge dazu, wie man zu Veränderungen
kommen kann. Meiner Meinung nach sind Sie nach dem Familienpolitik in engerem Sinne ist dafür natürlich
Finanzminister die zweite Haushaltsministerin. Am wichtig, aber nicht allein entscheidend. Die Entschei-
Ende Ihrer Regierungszeit nach vier Jahren müssen Sie dung für oder gegen die Erfüllung des Kinderwunsches
sich vor die Kinder und Jugendlichen stellen und sagen: hängt zum Beispiel genauso davon ab, ob man sicher
Vorher waren es so viele Schulden; ich als Vertreterin sein kann, im nächsten Jahr noch einen Arbeitsplatz zu
eurer Interessen überlasse euch weit weniger Schulden. haben. Deshalb ist gute Wirtschaftspolitik eben auch
Eines ist wichtig für Kinder: Auf Schuldenbergen kön- gute Familienpolitik.
nen sie nicht spielen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Herzlichen Dank. FDP)
(Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, wir müssen auch klar er-
kennen: Manchmal reicht es eben nicht aus, wenn die
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Politik nur Rahmenbedingungen setzt. Manchmal muss
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ole Schröder für – das sage ich ganz bewusst auch zu meinen Kollegen
die CDU/CSU-Fraktion. von der FDP – die Politik bzw. der Staat auch eingreifen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ina Lenke [FDP]: Damit haben wir doch
neten der SPD) keine Probleme!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6443
Dr. Ole Schröder
(A) Damit komme ich zu der Debatte, die der SPD-Vorsit- wir sehr gut am Kinderzuschlag sehen. Es handelt sich (C)
zende Kurt Beck mit seinen Äußerungen zu der von ihm um eine gut gemeinte Maßnahme, mit deren Hilfe El-
so bezeichneten Unterschicht ausgelöst hat. tern, die zwar für ihren eigenen Unterhalt aufkommen
können, aber nicht zusätzlich für den Unterhalt der Kin-
(Ina Lenke [FDP]: Ein schlimmes Wort ist der, unterstützt werden. Wenn wir uns allerdings vor Au-
das!) gen führen, dass im letzten Jahr von 600 000 Anträgen
Leider flammen solche Diskussionen immer nur kurz auf nur 50 000 gebilligt wurden,
und ebben trotz der politischen Brisanz dann wieder ab. (Ina Lenke [FDP]: Was machen Sie denn
Was ist das Entscheidende an dieser Diskussion für die jetzt?)
Familienpolitik? In der Vergangenheit wurde viel zu
häufig geglaubt, dass die soziale Ausgrenzung ein Pro- dann sehen wir, dass es sich hier um ein bürokratisches
blem sei, das durch die Höhe der Sozialtransfers gelöst Monstrum handelt, das wir dringend verändern müssen,
werden könne. Meine Damen und Herren, nur mit hohen damit das Geld wirklich bei den Kindern und Eltern an-
Sozialtransfers holen wir die Menschen nicht aus der kommt
gesellschaftlichen Randlage heraus. Darüber müssen wir (Beifall bei der FDP)
uns im Klaren sein. Das Problem vieler Kinder ist die
mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern. Die Folge und nicht in der Förderbürokratie versickert. Es ist schon
ist: Immer mehr Fälle von häuslicher Gewalt und Ver- einigermaßen absurd, dass uns hier jetzt ein Antrag der
wahrlosung werden bekannt und die Bildungschancen Fraktion Die Linke ins Haus flattert, nach dem gerade
von Kindern hängen immer noch maßgeblich von der dieses ineffiziente Förderinstrument um Milliarden auf-
sozialen Herkunft der Eltern ab. Hier ist Familienpolitik gestockt werden soll, ohne dass hierfür irgendeine Ge-
gefordert. genfinanzierung vorgesehen wäre.
Das Wichtigste ist: Wir dürfen nicht wegschauen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielfach können wir schon mit beratender Unterstützung
Meine Damen und Herren, wir müssen mit den Haus-
den Eltern und Kindern viel Hilfe zukommen lassen.
haltsmitteln effizienter umgehen. Es ist daher richtig,
Wichtig ist, dass diese Problemfälle aus der Isolation he-
dass die Familienministerin eine Evaluierung in Auf-
rausgeholt werden. Mit dem Aktionsprogramm „Frühe
trag gegeben hat, damit wir die einzelnen Förderarten
Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarn-
bündeln können, sodass das Geld bei den Kindern und
systeme“ ist unsere Koalition dabei, die Bildung von lo-
Familien ankommt.
kalen Netzwerken zu unterstützen. Dieses Programm
wird dazu beitragen, den Schutz von Kindern in Ein zweiter zentraler Aufgabenbereich in unserem
(B) Deutschland konsequent zu verbessern. Von besonderer Einzelplan hängt mit dem Aspekt der demografischen (D)
Bedeutung ist dabei die Verzahnung der Gesundheitssys- Entwicklung zusammen:
teme mit der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort. Natürlich
ist das zunächst einmal Aufgabe der Kommunen und der (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)
Länder. Aber dem Bund kommt selbstverständlich die die Politik für immer mehr ältere Menschen. Wenn heute
Aufgabe zu, die Erfahrungen aus diesen Modellprojek- fast jeder dritte Mann und jede dritte Frau keine Kinder
ten zu bündeln und dafür zu sorgen, dass die Kommunen mehr bekommen, entstehen dadurch natürlich auch grö-
und die Länder auf der Grundlage dieser Erfahrungen ßere Herausforderungen für die Seniorenpolitik. Denn
vor Ort konkret politisch tätig werden und ein flächende- eines ist klar: Ebenso wie die Eltern im Zentrum der Ver-
ckendes System aufbauen können. antwortung für die Kinder stehen, stehen die Kinder im
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zentrum der Verantwortung für die Eltern. Es ist daher
positiv, dass wir mit dem Projekt „Mehrgenerationen-
Wir haben im Haushalt 2006 schon erste Mittel dafür be- häuser“ offene Tagestreffpunkte schaffen, in denen sich
reitgestellt und jetzt im Haushalt 2007 im Kinder- und die Generationen selbstverständlich begegnen und sich
Jugendplan dafür 2 Millionen Euro vorgesehen. Frau gegenseitig helfen können. Wir haben die Mittel im
Ministerin von der Leyen, ich begrüße ganz ausdrück- Haushalt 2007 in Höhe von 20,5 Millionen Euro einge-
lich, dass Sie dies auf den Weg gebracht haben und das stellt.
jetzt konsequent weiter verfolgen.
Meine Damen und Herren, die mittelfristige Konsoli-
Meine Damen und Herren, im Zentrum unserer Fami- dierung des Einzelplans 17 bringen wir mit der seit lan-
lienpolitik stehen die genannten zwei Ziele: höhere Ge- gem diskutierten Umsetzung der Schließung von Zivil-
burtenraten und bessere Bedingungen und Entwick- dienstschulen voran.
lungsmöglichkeiten für Kinder. Wenn wir uns die Höhe (Ina Lenke [FDP]: Aha! Das ist was
der Ausgaben für familienpolitische Leistungen im Positives?)
internationalen Bereich ansehen, dann stellen wir fest,
dass wir ganz oben stehen. Wir erreichen unsere Ziele Ausgehend von den aktuellen Dienstantrittszahlen und
aber nur mangelhaft. Es ist und bleibt daher unsere Auf- dem Bettenüberhang von circa 12 000 ist die Schließung
gabe, zu überprüfen, ob wir weiterhin 50 unterschiedli- von Zivildienstschulen haushaltspolitisch notwendig. Es
che monetäre Leistungen anbieten müssen. All diese ist dringend erforderlich, dass wir auch hier eine Anpas-
Leistungen müssen ja beantragt, überprüft und ausge- sung vornehmen. Wir haben jetzt im Ausschuss nach
zahlt werden. Welchen Aufwand das bedeutet, können langen Diskussionen Nägel mit Köpfen gemacht
6444 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Ole Schröder


(A) (Diana Golze [DIE LINKE]: Im Haushaltsaus- (Otto Fricke [FDP]: Es geht um das Wie!) (C)
schuss, nicht im Fachausschuss!)
Denn die FDP möchte ja, indem sie für die Abschaffung
und werden dafür sorgen, dass bis zum April 2007 eine der Wehrpflicht ist, alle Zivildienstschulen schließen.
Entscheidung über die Schließung von drei Zivildienst- (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Eben!)
schulen erfolgt.
Ohne Wehrpflicht gibt es keinen Zivildienst und ohne
Wir begrüßen es ausdrücklich, wenn im Rahmen der Zivildienst gibt es keine Zivildienstschulen.
Umsetzung des Konzeptes „Zivildienst als Lern-
dienst“ das Lernen der Zivildienstleistenden in ihren (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Dienststellen gestärkt wird. Zum Beispiel ist es eine gute Insofern wundere ich mich, dass Sie die Schließung von
Idee, wenn angehende Altenpfleger ihre Zivildienstzeit einzelnen Zivildienstschulen kritisieren, obwohl die
in einer Altenpflegeeinrichtung auf ihre Ausbildungszeit Schließung aller Schulen Ihrer Beschlusslage entspricht.
angerechnet bekommen, insbesondere wenn ihnen durch
ihre Dienststelle eine entsprechende Qualifizierung ge- (Ina Lenke [FDP]: Das ist Quatsch! – Gegen-
boten wird. ruf des Abg. Thomas Dörflinger [CDU/CSU]:
Das ist Tatsache!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Um eine effektive und transparente Politik für Fami-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der lien, Senioren, Frauen und Jugend zu erreichen, hat die
Kollegin Lenke? Regierung wichtige Schritte eingeleitet. Mir als Haus-
hälter geht es insbesondere darum, dass die zur Verfü-
gung stehenden Haushaltsmittel effizient eingesetzt
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
werden. Auch hierfür sind die notwendigen Schritte ein-
Bitte schön. geleitet worden.
(Zuruf von der SPD: Oh nein! – Christel Wir von der CDU/CSU-Fraktion unterstützen die Mi-
Humme [SPD]: Reflexartig!) nisterin ausdrücklich in ihren Bemühungen. Wir denken,
dass wir mit diesem Einzelplan einen ganz wichtigen
Ina Lenke (FDP): Schritt in die richtige Richtung gemacht haben.
Frau Humme, die Sitzungsleitung bestimmt das, nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sie. neten der SPD)
Herr Schröder, wir als FDP sind immer für die Über-
prüfung, auch in der Frage, ob wir zu viele oder zu we- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) nige Zivildienstschulen haben. Aber finden Sie es richtig (D)
Das Wort hat nun die Kollegin Diana Golze für die
– vielleicht sind Sie auch nicht informiert –, die Modell- Fraktion Die Linke.
vorhaben in den Zivildienstschulen zu der Frage, wie der
Zivildienst zum Lerndienst entwickelt werden kann, (Beifall bei der LINKEN)
nicht zu Ende laufen zu lassen und nicht zu evaluieren?
Erst danach könnte doch festgelegt werden, welche Diana Golze (DIE LINKE):
Schulen geschlossen werden. Ich frage Sie, wieso Sie da Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
überhaupt nicht zielgerichtet sind und der Haushaltsaus- Herren! Staunen Sie ruhig: Ich beginne mit einem Lob
schuss letztendlich das Ministerium im Regen stehen an die große Koalition.
lässt. (Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/
CSU] – Otto Fricke [FDP]: Immer schlimmer
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): wird es!)
Vielen Dank für Ihre Frage. Dazu möchte ich zwei Denn zwischen der ersten und der zweiten Lesung wur-
Anmerkungen machen. Punkt eins. Wir sind nicht der den – das soll es wirklich geben – im Kinder- und Ju-
Auffassung, dass das neue Konzept „Zivildienst als gendplan die Mittel für die Freiwilligendienste und für
Lerndienst“ dazu führen wird, dass wir mehr Kapazitä- die Jugendverbandsarbeit sichtbar angehoben. Diese
ten in den Zivildienstschulen benötigen. 2 Millionen Euro im Bundeshaushalt 2007 sind gut an-
(Ina Lenke [FDP]: Aha!) gelegtes Geld. Ihre Bereitstellung findet die volle Unter-
stützung der Linken.
Wie ich eben zum Ausdruck gebracht habe, sind wir der
Meinung, dass dieses Lernen vor allen Dingen an die (Beifall bei der LINKEN)
Dienststellen angebunden werden soll. Denn dort wer- Auch die gleich bleibende Höhe des Zuschusses für
den die Zivildienstleistenden gebraucht; dort machen sie das neue Programm gegen Rechtsextremismus ist
die wichtigen Erfahrungen, die durch den Lerndienst positiv zu bewerten, gerade auch deshalb, weil es durch-
noch verstärkt werden sollen und die vor allem für die aus schon Hiobsbotschaften aus Ihrem Ministerium gab.
Zeit nach dem Zivildienst nutzbar gemacht werden sol- Die zusätzlichen Mittel in Höhe von 5 Millionen Euro
len. für Beratungsnetzwerke gegen rechts betrachte ich als
Zugeständnis an hartnäckigen Druck aus Verbänden, Ini-
Punkt zwei. Es ist erstaunlich, dass gerade die FDP
tiativen und der Opposition.
sich jetzt Gedanken über einzelne Zivildienstschulen
macht. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6445
Diana Golze
(A) Ihnen liegt übrigens ein Antrag der Linken aus dem – Sie haben sich enthalten. – Es ist ein Skandal, dass das (C)
Frühjahr mit identischen Forderungen bald zur Abstim- Ministerium den Fachausschuss nicht über derartige
mung vor. Es ist nur paradox, dass Sie ihn sicherlich ab- Pläne informiert hat. Erst auf Anfrage unserer Fraktion
lehnen werden, obwohl Sie ihn heute praktisch schon be- war von einem durchaus bekannten Gerücht die Rede,
schließen. was schon eine unglaubliche Verharmlosung war. Dieses
Gerücht wurde nur einen Tag später zu einer sehr greif-
(Beifall bei der LINKEN – Kerstin Griese baren Tatsache, nämlich zu einem Beschluss. Diesen Be-
[SPD]: Er ist überholt! Wir haben schon mehr schluss, aber vor allem den nicht hinnehmbaren und un-
getan!) säglichen Umgang mit dem Parlament lehne ich ab.
Alles in allem gibt es leider nicht oft Grund, das Ju- (Beifall bei der LINKEN)
gendministerium zu loben. Dies sind nur kurze Licht-
blicke am sonst eher dunklen Himmel der bundesrepu- Verschleierung statt Transparenz: Das ist Ihr Motto.
blikanischen Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Das Doch zurück zu den positiven Ansätzen. 2 Millionen
Beste, was Kinder und Eltern von SPD und Union noch Euro mehr für die Jugendarbeit sind ganz nett. Aber sie
erwarten können, ist die Linke-Tasche-rechte-Tasche- sind nicht mehr als ein Tröpfchen angesichts jahrelanger
Politik, wie sie in den letzten Tagen einmal mehr disku- Kürzungen, die auch Sie, Frau von der Leyen, als ehe-
tiert wurde. Aber eine Regierung, die nach dem absurden malige Landesministerin zu verantworten haben. Wer
Motto „Kinder kriegen mehr! Aber sie sollen es gefäl- sich die Kinder- und Jugendhilfestatistik für Niedersach-
ligst selbst bezahlen!“ verfährt, darf sich nicht wundern, sen für die Jahre 2000 bis 2004 anschaut, findet einen
wenn ihr das Volk davonläuft. Denn im Regelfall arbei- realen Rückgang der Aufwendungen für die Kinder- und
ten Sie fleißig an der Verschärfung der alltäglichen Jugendarbeit um fast 20 Prozent. Ob die Jugendverbände
Nöte der Menschen im Lande. Besonders Familien und freien Träger in Niedersachsen Ihnen nun all Ihre
greifen Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung in die Ta- schönen Worte glauben, wage ich zu bezweifeln.
sche.
Die Kinder- und Jugendhilfe ist in den letzten Jah-
(Christel Humme [SPD]: Falsch!) ren in unverantwortlicher Weise kaputtgespart worden.
Das Kindergeld ist seit sechs Jahren nicht erhöht Nun bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung zur Wie-
worden. Real wurde es also um 10 Prozent gekürzt. Nun derbelebung des Patienten. Der Vertreter des Deutschen
wird bei Ihnen auch noch über ein weiteres Einfrieren Jugendinstituts hat gestern in der Anhörung einen ge-
debattiert. Jugendlichen bis 25 verbieten Sie, von zu samtgesellschaftlichen Konsens über die Wichtigkeit
Hause auszuziehen, wenn sie arbeitslos sind. Statt Aus- von Jugendhilfe und Jugendarbeit eingefordert. Er hat
nicht von Modellprojekten wie Frühwarnsystemen oder
(B) bildungsplätze halten Sie 1-Euro-Jobs bereit und in der (D)
Ferne winkt bestenfalls die mickrige Rente mit 67. Kompetenzzentren gesprochen, die Sie, Frau Ministerin,
so gerne loben. Es ging ihm um die ganz normale Kin-
Transparenz gegenüber dem Parlament ist im der- und Jugendarbeit in Verbänden, in Jugendhäusern,
Hause von der Leyen ein Fremdwort. Das gilt zum einen in der außerschulischen Jugendbildung und in der Ju-
für das neue Bundesprogramm gegen Rechtsextremis- gendsozialarbeit. Hier wurde in den letzten Jahren zu-
mus, dessen Details mit dem Ausschuss bis zur gestrigen sammengestrichen, als ob es kein Morgen gäbe, weil es
Anhörung nicht diskutiert wurden. Eine Programm- keine wirkliche Lobby für Kinder gab.
homepage wurde ohne Ankündigung gestartet. Leit-
linien wurden online gestellt, ohne die Fachpolitiker zu Es ist alarmierend, dass die NPD in aufgegebenen Ju-
informieren. gendzentren braune Krabbelgruppen einrichtet – natür-
lich beitragsfrei. Freie Kameradschaften nehmen die Ju-
Wir haben in der Anhörung drastische Kritik am In- gendlichen auf ihre Zeltlager mit und impfen ihnen die
formationsmanagement des Von-der-Leyen-Ministeriums braune Ideologie ein, weil die Kapazitäten der Jugend-
gehört. So hat zum Beispiel der Sebnitzer Bürgermeister verbände nicht mehr ausreichen. Solange ich hier stehe,
Mike Ruckh berichtet, dass er bis jetzt nicht in die Pla- werde ich diese Zustände anprangern. Nazis haben kei-
nungen für das neue Bundesprogramm, das in einem nen Platz in unserer demokratischen Gesellschaft.
Monat auch in seinem Landkreis starten soll, einbezogen
wurde. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Immer- GRÜNEN)
hin war er bei der Anhörung!)
Ich fordere einen neuen Pakt für die Jugend, den
Wir haben, so glaube ich, eine Scheinanhörung erlebt, Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Beteiligten
weil bereits alle wichtigen Entscheidungen unter Aus- in Verbänden, Trägern und ihren Dachvereinigungen
schluss der Öffentlichkeit getroffen worden sind. Wenn schließen müssen. Wir legen Ihnen heute einen Ände-
das Ihr Demokratieverständnis ist, dann gute Nacht. rungsantrag zum Einzelplan 17 vor, der den Startschuss
Transparenz habe ich auch an einer anderen Stelle für diesen Pakt markieren kann. Wir schlagen vor, dass
sehr vermisst. Der Haushaltsausschuss hat – allein gegen der Bund – vorerst für drei Jahre – einen mit 50 Millio-
die Stimmen der Linken – die Schließung von Zivil- nen Euro gefüllten Sonderfonds „Jugendarbeit“ einrich-
dienstschulen beschlossen. tet. Er macht Ländern und Kommunen ein Angebot; er
nimmt sie aber auch in die Pflicht. Auch die Höhe des
(Otto Fricke [FDP]: Moment!) Fonds ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Summe aus
6446 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Diana Golze
(A) den 50 Millionen Euro des Bundes und einem gleich ho- Allein das neue Elterngeld macht 1,6 Milliarden (C)
hen Zuschuss von Ländern und Kommunen würde die Euro aus. Ab und zu lohnt es sich, sich die Details anzu-
realen Kürzungen seit dem Jahr 2000 kompensieren. schauen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort (Ina Lenke [FDP]: Das lohnt sich bestimmt!)
zum Kindeswohl sagen. Auch hier könnte dieser Fonds
Das neue Elterngeld trägt in erheblichem Umfang dazu
positive Synergieeffekte haben. Starke und verlässliche
bei, dass gerade kleine und mittlere Einkommen aus der
Angebote der Jugendarbeit erreichen gefährdete Kinder
bisherigen Erziehungsgeldfalle herausgelöst werden. Ich
und Jugendliche in besonderem Maße, weil die Zu-
will das an drei kleinen Beispielen erläutern; denn das
gangsschwellen niedrig sind und weil die Kinder und Ju-
wird gern vergessen:
gendlichen oft Zuflucht und Schutz finden. Ein wirksa-
mer Kinderschutz hängt eben auch maßgeblich von Erstes Beispiel: Ein Doppelverdienerehepaar – der
einer starken Jugendarbeit ab. Sie nimmt in den ange- oder die eine verdient 2 300 Euro brutto, der oder die an-
strebten Netzwerken zwischen Kitas, Schulen, Jugend- dere 1 600 Euro brutto – erhält, wenn derjenige mit dem
ämtern, Ärzten usw. eine wichtige Rolle, wenn nicht die geringeren Gehalt zu Hause bleibt, zwölf oder 14 Mo-
Schlüsselrolle ein. nate lang, wenn man die Erziehungszeit aufteilt,
600 Euro Elterngeld. Diese Familie hat nach alter Rege-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie lung, Frau Lenke, nur sechs Monate lang 300 Euro Er-
wäre es mit der Stärkung der Eltern?) ziehungsgeld erhalten. Jetzt werden der Betrag und die
Ich bitte Sie – die anderen Oppositionsparteien einge- Bezugsdauer verdoppelt.
schlossen – um eines: Singen Sie nicht wieder das abge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
droschene Lied von nicht vorhandenem Geld! Sie wissen
so gut wie ich: Es ist da. Sie verschleudern es nur zum
Beispiel für ein völlig überflüssiges neues Programm zur Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
angeblichen Terrorismusbekämpfung. Die Zukunft die- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
ses Landes liegt nicht in mehr Überwachungskameras. Kollegin Lenke?
Wenn Sie stattdessen in die Jugend investieren, brauchen
Sie diese Kameras vielleicht irgendwann nicht mehr. Dr. Frank Schmidt (SPD):
Ich möchte erst meine Beispiele nennen, danach kann
Vielen Dank. Frau Lenke eine Frage stellen.
(Beifall bei der LINKEN) Zweites Beispiel: Ein Doppelverdienerehepaar – der
oder die eine verdient 2 900 Euro brutto, der oder die an-
(B) (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dere ist geringfügig beschäftigt mit 400 Euro – erhält,
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frank Schmidt wenn der geringfügig beschäftigte Partner zu Hause
für die SPD-Fraktion. bleibt, zwölf oder 14 Monate lang, bei der Teilung der
Elternzeit, 390 Euro Elterngeld. Früher hat dieses Ehe-
(Otto Fricke [FDP]: Jetzt kommt der Hauptbe- paar sechs Monate lang 300 Euro erhalten. Auch für
richterstatter!) diese Familie ist das neue Elterngeld eine eindeutige
Verbesserung.
Dr. Frank Schmidt (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drittes Beispiel: Eine Alleinerziehende verdient
Sicherlich kann man sich, wenn man eine etwas einge- 2 400 Euro brutto. Sie erhält 14 Monate lang 950 Euro
schränkte Sicht auf das Land hat, in Jammern ergehen. Elterngeld, nach der alten Regelung hat sie sechs Mo-
Aber wenn man den Einzelplan 17 des Bundeshaushal- nate lang 300 Euro erhalten.
tes 2007 betrachtet, kommt man zu dem Ergebnis, dass Fazit: Das Elterngeld fördert als Lohnersatzleistung
der heutige Tag der zweiten Lesung eines Entwurfes des endlich gezielt kleine und mittlere Einkommensbezieher.
Haushaltsgesetzes 2007 im Deutschen Bundestag ein gu- Dieser Personenkreis ist seit Jahren aus der Familienför-
ter Tag für die Familienpolitik ist. Denn wir haben in derung herausgefallen.
diesem Etat einen eindeutigen Aufwuchs vorgesehen.
Das ist zu begrüßen und positiv für die Familien in unse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
rem Land. der CDU/CSU)
Jetzt können Sie Ihre Frage stellen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das Finanzvolumen steigt auf 5,25 Milliarden Euro. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dies stellt einen Rekord dar. Es ist ein Zuwachs von Frau Kollegin, bitte sehr.
16,2 Prozent. Das bedeutet auch 16,2 Prozent mehr an
Leistungen für Familien, Kinder, Jugendliche, für die
Ina Lenke (FDP):
Gleichstellung, für Ältere und das ehrenamtliche
Engagement. Das ist eine bewusste, richtungsweisende Das ist sehr freundlich von Ihnen. – Auch ich habe ein
und gute Entscheidung dieser großen Koalition im Deut- gutes Beispiel. Wenn Vater und Mutter im ersten Jahr, in
schen Bundestag. dem es Elterngeld gibt, das Kind gemeinsam betreuen
wollen, dann wird das Elterngeld nur für sieben Monate
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gezahlt. Das wissen Sie. Warum ist das so?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6447

(A) Dr. Frank Schmidt (SPD): ernsthaft diskutieren und uns sagen, wo Sie das Geld, (C)
Frau Kollegin Lenke, der Bundesrechnungshof hat das Sie ausgeben wollen, hernehmen wollen. Das haben
gefordert, das Elterngeld bei denjenigen, die Transfer- Sie nicht einmal ansatzweise getan.
leistungen erhalten, voll und ganz auf die Transferleis-
(Zurufe von der LINKEN)
tungen anzurechnen. Die FDP hat keinen einzigen An-
trag dazu eingebracht, wie man die Situation der Deswegen ist das entschieden abzulehnen.
Transferleistungsempfänger verbessern kann. Sie hat-
Aber auch im Bereich des Kinder- und Jugendplans
ten dazu keine eigenen Ideen. Daher sollten Sie hier
leisten wir Herausragendes: Es wurde heute schon von
ganz ruhig sein und keine Beispielrechnungen anführen;
meinem Kollegen Ole Schröder erwähnt, dass wir den
denn wir haben das Elterngeld verbessert, wir haben die
Etat für das Freiwillige Soziale bzw. Freiwillige Ökolo-
Standards verbessert, nicht Sie.
gische Jahr um 1 Million Euro erhöht haben. Das bedeu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tet – auch das muss man berücksichtigen –, dass wir da-
der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Wo ist die mit gleichzeitig zusätzlich 1 Million Euro aus dem ESF
Antwort? Sie haben keine Antwort gegeben!) akquirieren können. Das heißt, dass wir den Rekordan-
satz von diesem Jahr im nächsten Jahr noch einmal stei-
Fakt ist: Wenn man bisher 1 834 Euro brutto im Mo- gern und damit dieses Programm entsprechend nach
nat verdiente, erhielt man nach der alten Regelung nur vorn bringen. Das ist ein deutliches Zeichen der Koali-
sechs Monate lang Erziehungsgeld. Jetzt erhalten alle ab tion und eine gute Entscheidung für bürgerschaftliches
dieser Einkommensgrenze zwölf oder sogar 14 Monate Engagement, die viele Verbände gefordert haben. Wir
lang Elterngeld und diejenigen, die darunter verdienen setzen es um.
– hier wurde eine Klausel eingefügt –, erhalten noch ei-
nen Zuschlag. Besser und gerechter kann man es nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
machen. Das ist eine große Leistung dieser Koalition Lieber Otto Fricke, ich möchte noch etwas in Sachen
und darauf können wir stolz sein! Mehrgenerationenhäuser – unser Geburtstagskind te-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lefoniert gerade; das kann man am Geburtstag noch in
Kauf nehmen – erwähnen. Das von Ihnen, Frau Bundes-
Gleichzeitig wird das Elterngeld noch etwas bewir- ministerin von der Leyen, ins Leben gerufene Programm
ken: Die Betreuung für unter Dreijährige wird we- ist wohl ein Renner.
sentlich schneller ausgebaut, als wir bisher vermuten.
Der Druck wird steigen. (Ina Lenke [FDP]: Ja, klar!)
(Ina Lenke [FDP]: Ach! Das ist ja was Neues!) Ich will gar nicht wissen, woher in deinem Wahlkreis die
(B) Anträge gekommen sind. (D)
Sie müssen die Kommunalpolitiker fragen, Frau Lenke.
Diese könnten Ihnen Antworten geben. Ich bin seit (Otto Fricke [FDP]: Von überall!)
20 Jahren Kommunalpolitiker und weiß, wie der Druck Es gab 904 Anträge!
steigt.
(Ina Lenke [FDP]: Weil es Geld gibt, ist doch
(Ina Lenke [FDP]: Ich auch!) klar!)
Die Nachfrage steigt jetzt schon. Immer mehr Kinder- Angesichts dessen kann jedoch niemand sagen, dass die
gärten werden altersübergreifende Gruppen einrichten, Kommunen und Verbände so etwas ablehnen würden.
es werden neue Kitas eingerichtet, weil Antworten ge- Sie haben erkannt, dass es ein richtiges Programm ist.
funden werden müssen. Die richtigen Antworten werden Deswegen ein Dankeschön an dieser Stelle. Das war der
auch gegeben. richtige Weg.
Ich bin sicher, dass die Platzzahlen, die wir beim Ta- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gesbetreuungsausbaugesetz anvisiert haben, viel schnel- DIE GRÜNEN)
ler erreicht werden, als wir bisher dachten. Auch das ist
eine positive Entwicklung. Hier müssen wir den Bundes- Da wir – Gott sei Dank – immer älter werden, gleich-
ländern danken, die das unterstützen. Rheinland-Pfalz zeitig aber immer weniger Kinder geboren werden,
beispielsweise leistet hier Hervorragendes. braucht es ein enges und direktes Miteinander, um ge-
sellschaftliche Probleme zu überwinden und Trennendes
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beiseite zu räumen. Das muss die Konzeption der Zu-
der CDU/CSU) kunft sein. Diese Mehrgenerationenhäuser, von denen je
eins pro Landkreis errichtet wird, können ein Beispiel
Man sollte hervorheben, dass durch das Elterngeld
für andere Kommunen geben. Auch dies ist eine zu-
und die sich anschließende Kinderbetreuung die Verein-
kunftsweisende Entscheidung dieser Koalition, die rich-
barkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Schritt
tig ist und weiter unterstützt werden sollte.
für Schritt setzt die Koalition dieses Ziel um. Wir reden
nicht, wir handeln, und das auch solide finanziert. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir müssen nicht Anträge einbringen, wie das gerade Weil Frau Lenke das vorhin erwähnt hat, möchte ich
die ganz linke Seite dieses Hauses getan hat. Sie wollen noch etwas zur Zukunft des Zivildienstes sagen: Es
mal soeben mit 3,5 Milliarden Euro für das eine oder an- steht in keinem Fall im Widerspruch, dass wir in diesen
dere aufwarten. Liebe Frau Kollegin Golze, Sie sollten Bundeshaushalt extra einen Haushaltstitel eingefügt
6448 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Frank Schmidt


(A) haben, um den Zivildienst als Lerndienst voranzubrin- denfeindlichkeit und Antisemitismus verteidigt wird. (C)
gen, und gleichzeitig mit beschlossen haben, dass sich Das machen wir auch in diesem Etat in Einzelplan 17.
die Bettenkapazitäten der Zivildienstschulen am Bedarf
orientieren und dass gegebenenfalls einige Schulen ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schlossen werden müssen. Ich weiß, dass Sie selber ei- Nach den Beratungen zu Einzelplan 17, der viel Posi-
nen Antrag eingebracht haben, liebe Frau Kollegin tives enthält, gehört es sich, Frau Ministerin von der
Lenke. Er ist heute Mittag um 12 Uhr eingegangen, so- Leyen, ein herzliches Dankeschön an Ihr Haus, Ihre bei-
dass ihn nicht alle rechtzeitig bekommen haben. In dem den Staatssekretäre und Ihre Mitarbeiterinnen und Mit-
fordern Sie, im nächsten Jahr zwei Zivildienstschulen arbeiter auszusprechen. Ich habe von allen Berichterstat-
dicht zu machen, keine Übergangszeit zu gewähren und tern gehört, dass die Informationen von Ihrem Haus
2008 eine weitere Schule dicht zu machen. zeitnah und sofort gegeben worden sind. Deswegen ist
es wichtig, dass hier festgestellt wird, dass die Zusam-
(Ina Lenke [FDP]: Nein, das ist doch
menarbeit gut und, was den Etat 2007 betrifft, ersprieß-
Quatsch!)
lich war. Wir von der SPD sind froh über Ihr Wirken,
Das ist Inhalt Ihres Antrags, der heute eingegangen ist. weil es dazu beiträgt – das sage ich immer wieder gerne –,
Damit wären Sie schneller als wir. Wir machen es sozial- dass unsere neuen Freunde in der familienpolitischen
verträglich und richtig mit einer ordentlichen Evaluie- Realität ankommen. Ich denke, diese gute Zusammen-
rung. Das, was Sie hier dazu sagen, entspricht nicht dem arbeit sollte fortgesetzt werden.
Inhalt Ihres eigenen Antrags.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich komme zum Schluss. Familie hat Konjunktur: über
der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Eindeutig
20 000 neue Betreuungsplätze seit Beginn des Tages-
falsch!)
betreuungsausbaugesetzes, über 5 800 neue Ganztags-
Klar und unmissverständlich bekennt sich die Koali- schulen durch Bundesmittel, 327 lokale Bündnisse für
tion zum Kampf gegen Rechtsextremismus. Familien, Elterngeld, Absetzbarkeit von Betreuungskos-
ten, Mehrgenerationenhäuser, frühe Hilfen für Kinder,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) mehr Mittel für bürgerschaftliches Engagement, Stär-
Die 2006 auslaufenden Programme „CIVITAS“ und kung des Zivildienstes als Lerndienst und mehr Mittel
„ENTIMON“ werden 2007 in gleicher Größenordnung gegen rechts. Sicherlich fällt einem noch das eine oder
neu aufgelegt. Bestehende Einrichtungen können sich andere ein. Allerdings kann man dieser Koalition nicht
mithilfe des Ministeriums auf die neue Programmstruk- vorwerfen, dass sie nichts für Familien tut. Der
(B) tur bewerben und erhalten so schnell eine Anschluss- Etat 2007 ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir zwar (D)
finanzierung. Uns wurde vorgeworfen, das ginge nicht. noch nicht am Ziel, aber auf einem sehr guten Weg sind.
Wir machen es! Wir sorgen dafür, dass das geschieht, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
und andere reden nur darüber.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU)
Zusätzlich werden 5 Millionen Euro dauerhaft für Be-
ratungsnetzwerke bereitgestellt, die sicherstellen, dass Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die erfolgreichen Opferberatungsstellen und mobilen Nun hat das Wort die Kollegin Ekin Deligöz für die
Beratungsteams nun in ganz Deutschland denjenigen Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
helfen, die dringend Hilfe gegen rechts brauchen. Wir
dürfen unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger hier nicht Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
allein lassen. Die Polizei allein kann es nicht richten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir brauchen die Erfahrung, die hier in der gesamten
Der von dieser Koalition häufig beschworene familien-
Bundesrepublik Deutschland gesammelt wurde. Das
politische Aufbruch ist zumindest im Haushaltsplan
stellen wir hiermit sicher.
2007 nicht zu erkennen. Auch wenn Sie in den öffentli-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen politischen Debatten glänzen – das hat die letzte
der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Woche wieder einmal gezeigt –, kann man diesen Auf-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) bruch, wenn man sich konkret anschaut, was Sie ge-
macht haben,
Damit stehen im Haushalt 2007 insgesamt 24 Millio-
nen Euro für den Kampf gegen rechts bereit. Noch vor (Zuruf von der CDU/CSU: Will ich das nicht
einem halben Jahr haben viele geglaubt, das sei etwas, sehen!)
was wir nie hinbekommen würden, und glaubten, uns nicht erkennen. So lassen sich die Haushaltszahlen nicht
Vorwürfe machen zu müssen. Alle Zweifler und Nörgler interpretieren.
wurden eines Besseren belehrt, auch wenn Zwischenrufe
hier und da das Gegenteil beweisen sollen. Diese kom- Ein paar konkrete Beispiele. Herr Schröder, Sie haben
men von Zweiflern und Nörglern, die glaubten, wir wür- gesagt, der Kinderzuschlag sei ein gutes Instrument.
den es nicht schaffen. Diese Koalition steht entschieden Damit haben Sie Recht. Wir reden immer über prekäre
für den Kampf gegen rechts. Wir werden alles dafür tun, Einkommenssituationen, über Familienarmut und über
dass der Rechtsstaat gegen Rechtsextremismus, Frem- Kinderarmut. Wenn Sie aber einsehen, dass der Kinder-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6449
Ekin Deligöz
(A) zuschlag ein gutes Instrument ist, warum lassen Sie die keit gesprochen. Wir haben gesagt, dass wir die Phäno- (C)
notwendige Weiterentwicklung dann zu einer peinlichen mene Ausgrenzung und Armut europaweit ernst nehmen
Hängepartie werden? Warum haben Sie keine konkreten und Instrumente entwickeln müssen, um gleichwertige
Verbesserungsvorschläge? Sie sagen, das Instrument sei Lebensbedingungen in ganz Europa zu schaffen.
zu bürokratisch. Warum ändern Sie das dann nicht? Wa-
rum verschweigen Sie das Ganze? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Unterschied zu Ihrem Ansatz liegt darin, dass
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) das, wozu wir gestanden haben, Hand und Fuß hatte. Es
ging nicht um billige Vorzeigeeffekte. Sie können doch
Vor lauter Selbstbeschäftigung gehen bei Ihnen von überhaupt nicht sagen, wozu das führen wird. Das war
der Koalition die Maßstäbe verloren. Sie wollen Fami- keine Scheindebatte über etwas, was man gerne hätte,
lienpolitik zu einem Schwerpunkt der deutschen EU- aber im eigenen Land nicht umsetzen kann. Das war
Ratspräsidentschaft machen. Das finde ich gut. Die gro- auch keine hohle Debatte – wenn Sie es so nennen wol-
ßen Beiträge Deutschlands sollen die „Allianz für die len –, bei der unter dem Strich nichts herausgekommen
Familie“ und die Mehrgenerationenhäuser sein. Ich ist. Ich bin übrigens froh darüber, weil es letztendlich
finde, an diesem Punkt überschätzen Sie Ihre Arbeit ein dazu geführt hat, dass wir jetzt europaweit eine Diskus-
bisschen. „Allianz für die Familie“ bedeutet Öffentlich- sion über Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit
keitsarbeit für Familien. Das ist notwendig und gut für führen. Das ist mehr als das, was Sie jemals in diesem
Deutschland; womöglich ist das wichtig. Glauben Sie Land bewegt haben.
aber wirklich, dass ganz Europa darauf gewartet hat,
dass wir diesen Vorschlag unterbreiten und zeigen, dass (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
wir für Familien gute Öffentlichkeitsarbeit machen? SES 90/DIE GRÜNEN)
Glauben Sie wirklich, dass Mehrgenerationenhäuser in Ich komme noch einmal zur konkreten Umsetzung.
Deutschland so überzeugend sind, dass man damit inter- Die Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten fin-
national aufwarten kann, ohne eine einzige Evaluation den Sie ganz toll. Inzwischen wissen wir aber, dass die
im Inland dazu durchgeführt zu haben, ohne zu wissen, Kommunen gerade dabei sind, die Elternbeiträge für die
welche Effekte dieses Instrument hat? Kindergärten zu erhöhen. Die Kommunen holen sich das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Geld über die Elternbeiträge und sagen: Der Bund über-
nimmt die Kosten ja sowieso über die Absetzbarkeit.
Wenn wir etwas in der Öffentlichkeit thematisieren soll- Zahlen müssen dafür die Eltern.
ten, dann das Phänomen, dass wir vom Ausland lernen
(B) können, wie wichtig Frühförderung und Infrastruktur Die Entstehung des Elterngeldes war langwierig; aber (D)
als Instrumente der Chancengleichheit sind. Das können nichtsdestotrotz haben wir sie kritisch, konstruktiv und
wir von Europa lernen. – wenn Sie es so haben wollen, Herr Schmidt – mit Än-
derungsanträgen begleitet. Eines können Sie doch nicht
Wenn es um die konkrete Umsetzung Ihrer Modelle verhehlen: Das beste Elterngeld wird scheitern, wenn
geht, geraten Sie in eine langwierige und holprige De- der Wiedereinstieg in den Beruf nicht möglich ist, weil
batte. es an Betreuungsplätzen mangelt, weil in Deutschland
(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) nicht genügend Kinderkrippenplätze vorhanden sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sowie bei Abgeordneten der FDP)
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Fischbach? Wenn Sie sagen, die Eltern müssten halt ein bisschen
mehr Druck ausüben, damit Kinderbetreuung bereit ge-
stellt wird, verkennen Sie die Realität. Erst letzte Woche
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wurde eine Studie veröffentlicht, nach der 86 Prozent
Ja. der Eltern sagen, die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie sei in Deutschland zurzeit sehr schwierig umzu-
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): setzen. In diesem Zusammenhang bedeutet das, was Sie
Sehr geehrte Frau Kollegin Deligöz, ich erinnere sagen: Daran sind sie selber schuld. Würden sie mehr
mich, dass Deutschland 1999 unter Rot-Grün die Rats- Druck ausüben, dann könnten sie das Problem
präsidentschaft innehatte. Können Sie kurz deutlich ma- lösen. – Sie lassen die Eltern im Stich.
chen, welche Schwerpunkte Sie während dieser Ratsprä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
sidentschaft in der Familienpolitik in Europa nach vorne Ina Lenke [FDP]: Genau so ist es!)
gebracht haben?
Das ist Ihre Art, Politik zu machen. Sie sagen einfach:
(Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Da sind wir Die Eltern sind selber schuld, wenn sie es schwer haben.
gleich fertig!) Darum brauche ich mich ja nicht zu kümmern. – Diese
Politik ist verlogen. Gerade die Diskussion in Ihrer Par-
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tei zeigt, wie wichtig die Debatte über die Infrastruktur
Frau Fischbach, wir haben nicht von Familienpolitik, ist. Denn sonst würden Sie zurzeit nicht so viel Wirbel
sondern von Chancengleichheit und Chancengerechtig- darum machen.
6450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Ekin Deligöz
(A) Apropos Wirbel, ich glaube ohnehin, dass Sie bei der Meine Damen und Herren von der großen Koalition, (C)
Diskussion über die Absetzbarkeit von Kinderbetreu- Sie wissen, was Sie eigentlich zu tun hätten. Ob Sie den
ungskosten und kostenlose Kindergärten viel Parteipoli- Mut dazu haben, daran habe ich aber meine Zweifel.
tik und ziemlich wenig Fachpolitik machen. Sie wollen
sich parteipolitisch profilieren. Das klingt alles ganz gut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was sinnvoll und machbar ist, wollen Sie aber gar nicht
sehen; das ist für Sie nachrangig. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe-
Der Finanzminister hat das Verhältnis von Transfer- rin Frau Dr. Ursula von der Leyen das Wort.
und Infrastrukturleistungen zu Recht aufgegriffen. Wir
brauchen mehr Investitionen in die Infrastruktur. Denn (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
drei Dinge stehen fest: neten der SPD)
Erstens. Familientransfers sind in Deutschland wenig
effektiv. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Zweitens. Wir brauchen Qualität und Quantität bei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. ist die große Koalition im Amt. Ein Jahr Familienpolitik
Drittens. Zusätzliche Mittel sind im Moment schwer hat etwas bewegt. Mit dem Einzelplan 17 wollen wir
aufzubringen. jetzt die Grundlage dafür schaffen, dass wir auch im
nächsten Jahr erfolgreich handeln können. In diesem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Einzelplan sind die eigenständigen Politikfelder Familie,
Senioren, Jugend und Frauen eng miteinander verwoben.
Statt etwas Konkretes zu unternehmen, reden Sie über
virtuelle, nicht existierende Mittel. Wir haben Ihnen ei- Wenn man es genau nimmt, ist es so, dass man keine
nen ganz konkreten Vorschlag gemacht: Nehmen Sie das vollständige Familienpolitik machen kann, wenn man
Ehegattensplitting. Es hat den Vorteil, dass die Mittel nicht gleichzeitig die Gleichstellung von Männern und
dafür schon existieren. Sie sind vorhanden und nicht nur Frauen berücksichtigt. Man kann keine vollständige Fa-
virtuell. Vor allem dienen sie derzeit dazu, die Ehe zu milienpolitik machen, wenn man sich nicht auch mit der
fördern. Schichten Sie das vorhandene Geld in Richtung Situation von Älteren und Hochbetagten beschäftigt, ih-
direkter Kinderförderung um! Dann können Sie damit nen Perspektiven aufzeigt bzw. Fürsorge gewährt. Man
etwas Konkretes erreichen und müssen keine Geisterde- kann auch keine vollständige Familienpolitik machen,
batten führen. Sie könnten mit dem Geld übrigens auch ohne den Heranwachsenden Chancen auf frühe Bildung
(B) bewirken, dass man in Deutschland einen Rechtsan- und Erziehung zu geben. (D)
spruch auf Kinderbetreuung für unter Dreijährige be-
kommt. Wir, die Grünen, haben mit der Kinderbetreu- Deshalb haben wir im Haushalt für das Jahr 2007
ungskarte einen Vorschlag gemacht. Dieser ist konkret erstmals die Titel für Familien-, Senioren- und Gleich-
und verfassungsrechtlich möglich. Den können Sie so- stellungspolitik zusammengelegt. Das ist eine formale
fort umsetzen. Warum tun Sie es nicht? Vereinfachung. Aber es ist auch ein Zeichen, dass es uns
darum geht, übergreifend zu handeln, Zusammenhänge
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu berücksichtigen und alle Generationen in den Blick
zu nehmen.
Sie kündigen Beitragsfreiheit für Kindergärten an.
Dabei waren die Fachpolitiker unter Ihnen im Familien- Herr Fricke, ich war ein wenig erstaunt, als Sie mir
ausschuss anwesend, als Professor Rauschenbach gesagt eben vorgeschlagen haben, eine Art stellvertretende Fi-
hat, dass gerade Beiträge in der Debatte über die Inan- nanzministerin zu werden und den Kindern in einigen
spruchnahme der Kinderbetreuung nachrangig sind und Jahren zu sagen, dass die Schulden begrenzt worden
überhaupt nicht zu Chancengleichheit führen, weil sind. Was die Zielrichtung angeht, stimme ich Ihnen völ-
Haushalte mit geringen Einkommen und Hartz-IV-Emp- lig zu: Die Schulden müssen begrenzt werden. Aber an-
fänger ohnehin keine oder kaum Beiträge in den Kinder- gesichts knapper Ressourcen und aufgrund der Tatsache,
gärten zahlen, und dass wir stattdessen Qualität in den dass es unendlich viele Interessengruppen und Themen
Einrichtungen brauchen. Wir brauchen auch Quantität, gibt, um die gerungen wird, ist meine Aufgabe als Fami-
weil die größten Defizite – das zeigt Ihnen die Debatte lienministerin doch nicht, mich hinter den Finanzminis-
über das TAG – in der frühkindlichen Förderung, in den ter zu stellen. Meine Aufgabe ist vielmehr, eine Bresche
Kinderkrippen und in den Ganztagseinrichtungen beste- zu schlagen, damit trotz knapper Ressourcen dennoch
hen. möglichst viel für die Familien getan wird. Ich will also
keine zweitklassige Finanzministerin sein, sondern eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erstklassige Familienministerin.
sowie der Abg. Sibylle Laurischk [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land wollen neten der SPD)
konkrete Lösungen. Diese konkreten Lösungen liegen
auf der Hand. Unsere Kinderbetreuungskarte ist eine Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Mittel, die im
Antwort darauf. Die Frage ist, ob es Ihnen gelingen kommenden Jahr für den Einzelplan 17 veranschlagt
wird, bei all den ganzen Sonntagsreden, die Sie zurzeit werden, im Vergleich zum abgelaufenen Jahr erhöht
in den Medien halten, etwas Konkretes zu leisten. werden. Es ist schon mehrfach erwähnt worden, dass wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6451
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) statt der 4,5 Milliarden Euro nun 5,2 Milliarden Euro für vor Plattheiten nie gefeit ist. Sie haben den Zeitraum von (C)
das Jahr 2007 vorgesehen haben; das ist primär auf das 2000 bis 2004 betrachtet. Ich darf Sie darauf hinweisen,
Elterngeld zurückzuführen. dass der Regierungswechsel in Niedersachen erst 2003
erfolgte; davor gab es eine andere Landesregierung.
Frau Deligöz, an dieser Stelle komme ich auf Ihre Be- Also demnächst etwas genauer recherchieren, bevor Sie
merkungen zur EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands zu mich für alles verantwortlich machen!
sprechen. Zunächst einmal Folgendes: Mein Verständnis
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist nicht, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU)
die anderen Länder bevormunden bzw. ihnen zeigen
sollten, was wir besser können als sie. Unsere Aufgabe Die Mittel für den Kinder- und Jugendplan sind er-
ist vielmehr, im Rahmen unserer Präsidentschaft Ideen höht worden. Es ist schon mehrfach erwähnt worden,
und Erfahrungen zusammenzuführen. Die „Europäische dass es vor allen Dingen auf drei Feldern zusätzliche
Allianz für die Familien“ hat genau dieses Ziel: in Mittel geben wird. Sehr erfreulich sind die zusätzlichen
Europa voneinander zu lernen. Denn aufgrund des de- 5 Millionen Euro für das neue Programm „Jugend für
mografischen Wandels haben wir keine Zeit mehr, Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextre-
Versuche durchzuführen und nach dem Prinzip „trial and mismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“.
error“ zu lernen. Ganz entscheidend ist das Wort „zusätzlich“. Das heißt,
diese Mittel sind nicht aus dem Haushalt des Bundesfa-
Zum Beispiel haben wir etwas über das Thema El- milienministeriums gekommen. Mein besonderer Dank
terngeld gelernt. Das hat dazu geführt, dass wir es in geht an die Familienpolitikerinnen und -politiker, aber
Deutschland eingeführt haben. Ebenso können wir im auch an unsere Berichterstatter im Haushaltsausschuss,
Hinblick auf die Kinderbetreuung und die frühkindliche die sich konsequent dafür eingesetzt haben, dass das
Förderung lernen. Es geht um die Frage: Wie ist dieser möglich ist. Wir werden die zusätzlichen Mittel gezielt
Bereich in anderen Ländern organisiert? In England bei- für die Förderung von Beratungsnetzwerken einsetzen.
spielsweise wird er relativ stark privat finanziert, in den Ein wesentlicher Bestandteil wird der Aufbau einer bun-
skandinavischen Ländern relativ stark staatlich. desweiten Struktur der mobilen Krisenintervention sein.
Dort sollen die Kompetenzen der bisher im Programm
Eine „Europäische Allianz für Familien“ zu bilden, „Civitas“ arbeitenden mobilen Beratungsteams und Op-
bedeutet auch, ein Informationsnetzwerk und einen For- ferberatungsstellen integriert werden.
schungsverbund zum Thema demografischer Wandel
ins Leben zu rufen; denn der europäische Kontinent wird Es ist mehrfach angesprochen worden – deshalb
mit diesem Problem am meisten konfrontiert sein. Dass werde ich es kurz machen –, dass eine zusätzliche Mil-
diese Absicht richtig ist, zeigt sich schon an der Tatsa- lion Euro für die Jugendfreiwilligendienste zur Verfü-
(B) che, dass wir inzwischen sowohl die Unterstützung des gung steht. Wir wollen damit ein ESF-Programm kofi- (D)
Sozialkommissars Spidla als auch die Unterstützung von nanzieren, mit dem gezielt versucht werden soll,
Herrn Verheugen haben. Wir haben zwischen den unter- benachteiligte Jugendliche für die Freiwilligendienste zu
schiedlichen Interessen und Ansätzen dieser beiden gewinnen. Eine weitere Aufstockung um 1 Million Euro
Kommissare, die für verschiedene Themen verantwort- wird es zugunsten der Jugendverbandsarbeit geben.
lich sind, ein großes Band gespannt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Es ist selbstverständlich, dass wir im Rahmen der vor- der SPD)
handenen Best-Practice-Modelle auch das Thema Mehr-
generationenhäuser berücksichtigen. Wenn man sich Lassen Sie mich kurz zum Thema „Zivildienst als
die Zahlen für Europa anschaut, sieht man, dass gegen- Lerndienst“ Stellung nehmen. Bei diesem Tietel geht es
über heute, wo 460 Millionen Menschen in Europa le- um Kompetenzen. Ich denke – ich habe es mehrfach ge-
ben, bis 2050 10 Millionen weniger in Eu-ropa leben sagt, möchte es aber noch einmal sagen –, meine Auf-
werden. Das ist nicht weiter dramatisch. Aber zugleich gabe ist es nicht, über den Wehrdienst zu philosophieren,
wird es dann 50 Millionen Menschen im Erwerbstäti- sondern über den Zivildienst als Zeit, die junge Männer
genalter weniger geben als heute, während sich die An- ableisten. Wir sind verantwortlich dafür, dass diese Zeit
zahl der über 80-Jährigen bis dahin verdreifachen wird. so sinnvoll wie irgend möglich gestaltet wird. Deshalb
Als das Land, das wahrscheinlich schon bald die älteste steht hinter Projekten zu „Zivildienst als Lerndienst“ die
Bevölkerung der Welt haben wird, muss Deutschland Idee, dass jungen Männern das, was sie während ihres
Antworten geben auf den demografischen Wandel. Best- Zivildienstes lernen, auch an manch anderer Stelle im
Practice-Beispiele wie die Mehrgenerationenhäuser zu Leben von Nutzen sein kann, ob im Beruf, ob im Ehren-
zeigen, verstehe ich als Aufgabe unserer Präsidentschaft amt oder in der Familie. Wir wollen deshalb die Zivil-
im Europäischen Rat. dienstlehrgänge, aber auch die Einarbeitung und Be-
gleitung in den Dienststellen – die jungen Männer
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. verbringen dort ja mehrere Monate – viel stärker am Ge-
Christel Humme [SPD]) danken des Lerndienstes ausrichten. Ich denke, es ist ein
hervorragendes Ziel, so etwas zu zertifizieren, damit es
Deshalb freut es mich, dass das Aktionsprogramm später – gerade bei benachteiligten Jugendlichen – in der
„Mehrgenerationenhäuser“ 2007 erstmals in voller Höhe Berufsausbildung anerkannt werden kann.
finanziell umgesetzt wird. Es freut mich auch, dass es
gelungen ist, die Mittel für Jugendmaßnahmen aufzusto- Ich möchte ganz klar sagen, dass man hier unterschei-
cken. Frau Golze, ich habe gestaunt, dass man bei Ihnen den muss. Diese inhaltliche Weiterentwicklung ist völlig
6452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) unabhängig davon, dass der Haushaltsausschuss uns auf- ders durch die Mehrwertsteuererhöhung wird ein Loch (C)
gefordert hat, in den nächsten Wochen Entscheidungen in die Familienkassen gerissen
über die Schließung von Zivildienstschulen herbeizu-
(Widerspruch von der CDU/CSU und der
führen. Insgesamt sollen nach 2008 drei Standorte be-
SPD)
troffen sein. Die anstehenden Entscheidungen müssen
nach Sachkriterien getroffen werden. Das Ministerium – Sie können so viel lamentieren, wie Sie wollen –; denn
arbeitet an den entsprechenden Vorbereitungen und wird das Geld, das den Familien monatlich zur Verfügung
die notwendigen Mitwirkungsverfahren einleiten. steht, geht doch in den Konsum.
Natürlich sind bei den Zivildienstschulen dadurch Sie haben der Erhöhung der Mehrwertsteuer zuge-
Verunsicherungen entstanden. Wer die Vorgeschichte stimmt und gleichzeitig notwendige Reformen unterlas-
aus der vergangenen Legislaturperiode kennt – ich habe sen. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen, nämlich
mir erzählen lassen, dass manch einer oder eine hier im notwendige Anschaffungen für Kinder. Für Pampers
Raum das in der vergangenen Legislaturperiode mit- müssen zum Beispiel 19 Prozent Mehrwertsteuer gezahlt
erlebt hat –, der weiß aber, dass es in erster Linie um den werden, während der Staat beim Kauf von Rennpferden
Abbau eines schon jetzt bestehenden Bettenüberhangs lediglich 7 Prozent verlangt. Wenn Sie für die Familien
geht. Das heißt, der Zivildienst an sich ist gesichert. also etwas tun wollen, dann fordern Sie von Ihren Fi-
Diesbezüglich bleibt es auch bei den Vereinbarungen im nanzpolitikern eine Reform hinsichtlich des verringer-
Koalitionsvertrag. ten Mehrwertsteuersatzes. Hiermit sollten Sie sich ein-
mal an Herrn Steinbrück wenden.
(Ina Lenke [FDP]: Das haben Sie jedenfalls
aufgeschrieben!) (Beifall bei der FDP – Dr. Frank Schmidt
[SPD]: Wann haben Sie denn das letzte Mal
Mein Anliegen ist, dass nicht nur die Gesellschaft, son- Pampers gekauft?)
dern auch die Zivildienstleistenden selbst stärker von ih-
rem Dienst profitieren. 2005 erfolgte die Streichung der milliardenschweren
Eigenheimzulage. Die Bundestagsabgeordneten der
Damit ist meine Redezeit zu Ende; das heißt, ich großen Koalition verlangen Verbesserungen für die Fa-
komme auch inhaltlich zu einem Schlusspunkt. milien hinsichtlich der Altersvorsorge. Bis heute ist
Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft wird nichts passiert und bis heute hat die große Koalition kein
älter. Das ist die Grundtatsache des demografischen geeignetes Mittel dafür gefunden, damit das Hauseigen-
Wandels. Jetzt ist vielleicht der richtige Moment, dass tum als Altersvorsorge genutzt werden kann.
auch ich Ihnen, Herr Fricke, ganz herzlich zum Geburts- Meine Damen und Herren, ich will ganz kurz auf die (D)
(B)
tag gratuliere. Gesundheitsreform eingehen. Die Bundesregierung ver-
spricht, Steuermittel für Kinder einzusetzen, damit sie in
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
der gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei mit-
CDU/CSU und der SPD – Otto Fricke [FDP]:
versichert werden. Wenn man das tut, dann muss es auch
Muss ich jetzt hinausgehen?)
Entlastungen für die Kinder in der privaten Krankenver-
– Das war keine Anspielung. Das ist nachher eine sicherung geben. Ansonsten wäre das verfassungsrecht-
Schachtel Pralinen wert. lich äußerst bedenklich. Frau Ministerin, ich bitte Sie,
dass Sie sich dafür einsetzen. Die Position der FDP ist
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die Gele- sehr klar: Wir wollen, dass für die Kinder in der Bundes-
genheit nutzen, mich bei allen Berichterstattern sehr republik Deutschland nach der Reform keine Beiträge
herzlich für die sehr gute Zusammenarbeit zu bedanken. mehr gezahlt werden müssen.
Ich denke, durch diese sehr gute Zusammenarbeit ist es
gelungen, den Haushalt auf ganz solide Füße zu stellen, Eine weitere Kritik geht direkt an das Familienminis-
einen Haushalt, durch den für alle Generationen Be- terium. Bis heute hat Bundeskanzlerin Merkel ihre Zu-
währtes gesichert und gleichzeitig – das ist mir wichtig – sage nicht eingehalten, den Städten und Gemeinden
neue Akzente gesetzt werden. 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau von Krippenplät-
zen zukommen zu lassen. Herr Schmidt, gerade Sie als
Vielen Dank. Kommunalpolitiker der SPD sollten dafür sorgen, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dieses Geld fließt.
Meine Damen und Herren, es ist gut, dass die Kosten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: für die Kinderbetreuung als Werbungskosten besser von
Nun hat die Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion der Einkommen- und der Lohnsteuer abgesetzt werden
das Wort. können. Diese Koalition sagt aber, dass nur zwei Drittel
der beruflich bedingten Kinderbetreuungskosten abge-
(Beifall bei der FDP) setzt werden können. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Hierzu ist keine Erklärung gegeben worden. Mir ist be-
Ina Lenke (FDP): kannt, dass schon Gerichtsverfahren anhängig sind. Die
Mütter und Väter, die das Gericht anrufen, werden si-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
cherlich Recht bekommen.
von der Leyen, seit die große Koalition im Amt ist, stei-
gen die Belastungen für die Familien rapide an. Beson- (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6453
Ina Lenke
(A) Ich möchte noch kurz auf das Elterngeld eingehen, – Natürlich, Frau Kressl. (C)
das ursprünglich als Lohnersatzleistung geplant war. Wir
haben das grundsätzlich unterstützt. Ich möchte aber un- (Nicolette Kressl [SPD]: Nein!)
sere Kritik an dem Elterngeldkonzept aufzeigen. Früher bekamen Studentinnen zwei Jahre lang 300 Euro
Erstens. Gegen massive Bürgerproteste wurde beim monatlich. Künftig bekommen sie nur ein Jahr lang
Elterngeld die Stichtagsregelung zum 1. Januar 2007 300 Euro Elterngeld monatlich.
eingeführt, Herr Schmidt. Das neue Elterngeld wird nur (Nicolette Kressl [SPD]: Aber nur, wenn sie
dann gezahlt – das wissen die Leute noch gar nicht –, nicht erwerbstätig waren!)
(Nicolette Kressl [SPD]: Das wissen die Leute Wir haben deshalb die Einführung eines Baby-BAföG
schon! – Dr. Frank Schmidt [SPD]: Das steht vorgeschlagen, damit Mütter, die BAföG erhalten, nicht
aber überall! Das ist keine Geheimniskräme- in eine Notlage kommen und ihr Studium unterbrechen.
rei!)
Ich habe mir diese Punkte bei einem Besuch im Stu-
wenn das Kind erst im neuen Jahr geboren wird. Alle dentenwerk in Dresden vorhalten lassen müssen; aber
Kinder, die zum Beispiel am 30. oder 31. Dezember die- ich konnte auf die große Koalition verweisen. Diese Ent-
ses Jahres geboren werden, gehen beim Elterngeld leer scheidungen zum Elterngeld müssen Sie noch einmal
aus. prüfen und ändern.
Ich war gestern in Sachsen-Anhalt. Es war sehr er- Ich habe auch zu kritisieren, dass Sie den Kinderzu-
staunlich, welche Antworten mir dort gegeben wurden. schlag bisher nicht abgeschafft, umgewandelt oder ver-
Mir wurde gesagt – und das auch noch von Erzieherin- ändert haben. Bis November 2005 wurden 660 000 An-
nen –, sie bekämen ab 1. Januar 2007 67 Prozent ihres träge gestellt; nur 50 000 sind bewilligt worden. Das
Einkommens, höchstens aber 1 800 Euro. Von daher lähmt die Verwaltung, schafft Verdruss bei den Antrag-
werden die Bürger und Bürgerinnen große Enttäuschun- stellern und erreicht nicht das selbst gesteckte Ziel, Fa-
gen erleben, wenn dieses Geld dann doch nicht fließt. milien mit Kindern vor Hartz IV zu bewahren. Dass das
Herr Schmidt, ich habe bereits vorhin gefragt – darauf Thema bei den Abgeordneten von SPD und CDU/CSU
haben Sie aber keine Antwort gegeben –, nicht zur Sprache kommt und dass aus diesen beiden
Fraktionen auch keine Vorschläge kommen, finde ich
(Otto Fricke [FDP]: Weil er es nicht beantwor- sehr erstaunlich.
ten konnte!)
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf den Zivil-
wie es sich verhält, wenn Vater und Mutter im ersten Le- dienst zu sprechen kommen. Wir sind dafür, Frau von (D)
(B)
bensjahr gemeinsam auf das Kind aufpassen wollen. der Leyen, dass der Zivildienst als Lerndienst ausgestal-
Dann gibt es nach dem Gesetz nur sieben Monate Eltern- tet wird.
geld. Das verschweigen Sie. Auch Frau von der Leyen
äußert sich nicht dazu. Dieser Punkt wird einfach bei- (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Sie wollen
seite geschoben und verschwiegen. Das ist unserer Mei- den Zivildienst doch abschaffen!)
nung nach nicht richtig. Solange die Wehrpflicht nicht abgeschafft ist, müssen
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der wir für Verbesserungen beim Zivildienst sorgen. Das ist
CDU/CSU und der SPD) richtig.

Ich möchte auf die Steuerklasse V zu sprechen kom- (Beifall bei der FDP)
men. Im Koalitionsvertrag ist eine Neuregelung der Sie haben aber im Haushaltsausschuss – ich glaube,
Steuerklassen vereinbart worden. Die Einstufung in nicht ganz ohne Beteiligung des Familienministeriums –
Steuerklasse V ist nachteilig für erwerbstätige Frauen. schon jetzt beschlossen, dass drei Zivildienstschulen ge-
(Otto Fricke [FDP]: Für Männer aber auch!) schlossen werden, obwohl an allen Zivildienstschulen
Modellversuche laufen, um den Zivildienst als Lern-
Das gilt auch für das Elterngeld. Bei einem Bruttogehalt dienst umzugestalten. Wie kann man vonseiten des
von 2 000 Euro erhält eine Mutter, die in Steuerklasse V Haushaltsausschusses in bereits laufende Modellprojekte
eingestuft ist, 390 Euro monatlich weniger Elterngeld als eingreifen? Warum warten Sie nicht, bis die Modellver-
eine Frau in Lohnsteuerklasse III. suche Anfang 2007 abgeschlossen und evaluiert wer-
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNISNIS 90/ den? Dann können wir weitersehen. Dann werden wir
DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal!) sehen, ob Zivildienstschulen geschlossen werden müs-
sen. Wenn dem so ist, sind wir dabei und werden unseren
Wenn Sie das nicht selber als sozialpolitische Untat dar- Beitrag dazu leisten.
stellen, dann muss es die Opposition tun.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte Ihnen noch ein
Zweitens. Auch die Studierenden und die Auszubil- „Spiegel“-Zitat vom Juni 2006 zur Kenntnis geben:
denden verlieren durch Ihre neuen Elterngeldregelungen
Geld. Zivildienstleistende werden oft ohne ausreichende
Schulung in der Alten- und Krankenpflege einge-
(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht setzt. Nur etwa die Hälfte der für Pflegehilfe oder
wahr!) Betreuungsdienste eingeteilten Zivis habe im
6454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Ina Lenke
(A) vergangenen Jahr die gesetzlich vorgeschriebenen die Gesellschaft, dass die Familie leisten soll? Was kann (C)
Vorbereitungslehrgänge absolviert … sie noch leisten? Ich glaube, angesichts dessen, was alles
inzwischen auf Eltern einströmt, lohnt es sich, eine
Das hat der Ministerin bislang noch niemand gesagt. Die
Grundsatzdebatte darüber zu führen, wann Eltern über-
FDP will keine Ad-hoc-Schließung von Zivildienstschu-
fordert sind.
len
(Sönke Rix [SPD]: Sie wollen die Abschaf- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
fung des Zivildienstes!) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
wie etwa in Buchholz oder Ith bei Holzminden, bevor Kollegin Lenke?
das Konzept des Lerndienstes steht. Wir von der FDP
wollen auch in diesem Haushalt sparen und haben des- Nicolette Kressl (SPD):
halb ein liberales Sparbuch aufgelegt. Da wir aber nicht Das hat schon fast Tradition. Bitte.
willkürlich sparen wollen, müssen die Modellvorhaben
im Rahmen des Zivildienstes erst einmal beendet und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ausgewertet werden. Dann müssen wir weitere Entschei- Bitte, Frau Lenke.
dungen treffen.
(Beifall bei der FDP) Ina Lenke (FDP):
Frau Kressl, ich weise das zurück. Sie haben mir Un-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wahrheit unterstellt.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nicolette Kressl (Zurufe von der SPD: Frage! – Frage!)
für die SPD-Fraktion.
– Ich frage. – Ist es richtig, dass Studentinnen bislang
(Beifall bei der SPD) zwei Jahre Erziehungsgeld in Höhe von 300 Euro mo-
natlich bekommen und nun nur noch zwölf bzw.
Nicolette Kressl (SPD): 14 Monate Elterngeld? Nur diese Frage brauchen Sie
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! mir zu beantworten.
Frau Lenke, die Redlichkeit erfordert einige Klarstellun-
gen zum Thema Elterngeld. Was ich ganz besonders Nicolette Kressl (SPD):
scheinheilig finde, ist, dass Sie sich in Ihrer Rede als die Liebe Frau Lenke, was ich als scheinheilig kritisiert
Hüterin und Beschützerin von Hartz-IV-Familien darge- habe, ist, dass Sie behauptet haben, es gebe eine grund-
(B) stellt haben. In Wirklichkeit haben Sie aber im Haus- sätzliche Schlechterstellung. (D)
haltsausschuss beantragt, die Mittel für das Elterngeld
um 200 Millionen Euro zu kürzen. Den Familien, die (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
ALG II bekommen, sollte das Elterngeld angerechnet DIE GRÜNEN]: Sie können Ja oder Nein sa-
werden. Ich finde, Sie führen eine unredliche Debatte. gen)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben das nämlich nicht differenziert. Ihnen ist
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dabei offensichtlich entgangen, dass zum Beispiel zwölf-
mal 500 Euro mehr sein kann – –
Ihre Aussage, dass Studierende pauschal benachteiligt
würden, entbehrt jeder Grundlage. Jetzt haben Sie mich doch durcheinander gebracht.
Wenn das monatliche Elterngeld höher als die bisherigen
(Otto Fricke [FDP]: BAföG! Nicht pauschal 300 Euro Erziehungsgeld ist – –
Studierende! Das sind Unterschiede!)
(Zuruf von der FDP)
Sie haben gerade gesagt, Studierende erhielten in Zu-
kunft nur ein Jahr Elterngeld, und haben daraus eine – Ja, natürlich.
pauschale Schlechterstellung abgeleitet. Das ist aber Wenn eine Studierende zusätzlich erwerbstätig war – –
nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass sehr viele Stu-
dierende, die zusätzlich erwerbstätig sind und beispiels- (Ina Lenke [FDP]: Sie kann doch nicht er-
weise rund 500 Euro im Monat verdienen, in Zukunft, werbstätig sein, studieren und ein Kind haben!
wenn sie Elterngeld bekommen, genauso gut bzw. sogar Das schafft sie doch nicht! – Gegenruf des
besser gestellt sind, weil sie aufgrund unserer Geringver- Abg. Sönke Rix [SPD]: Das kann man schon!)
dienerregelung pro Monat wesentlich mehr bekommen
– Ich glaube, Sie, Frau Lenke, sind etwas weit von der
können als die bisherigen 300 Euro. Die Redlichkeit er-
Realität entfernt, wenn Sie sagen, es gebe keine studie-
fordert, dass Sie bei der Wahrheit und den Fakten des
renden Frauen und Männer, die gleichzeitig noch er-
Gesetzes bleiben.
werbstätig sind.
Ich will deutlich machen, dass der Haushalt für Fami-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
lie, Senioren, Frauen und Jugend widerspiegelt, welche
politischen Rahmenbedingungen für Menschen fast je- Ich sage Ihnen noch einmal: Es gibt keine pauschale
den Alters geschaffen werden können; hier geht es um Schlechterstellung von Studierenden. Das können Sie
Lebensläufe. Die entscheidenden Fragen sind: Was er- einfach nicht behaupten. Es geht darum, wie viel Eltern-
warten Menschen von der Familie? Was erwarten wir, geld tatsächlich bezahlt wird. Es kann sein, dass es sehr
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6455
Nicolette Kressl
(A) viel mehr als 300 Euro sind. Ich bitte Sie, das einfach (Renate Gradistanac [SPD]: Das ist prima mit (C)
nachzurechnen. der Transparenz!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zur Antwort auf die Frage, wie wir die Familien un-
der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Ich rechne terstützen können, gehören für mich auch die Pro-
schon!) gramme gegen Rechtsextremismus oder die für Demo-
kratie und Toleranz. Wir müssen uns fragen: Was kann
Ich war gerade bei der Überlegung, welche politi- die Familie an Demokratieverständnis vermitteln? Wel-
schen Zusammenhänge und welche Werte wir bei dem ches Demokratieverständnis gibt es im gesellschaftli-
Haushalt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend deut- chen Raum? Wie können wir Verführungen deutlich ma-
lich machen wollen. Ich habe davon gesprochen, dass chen und die jungen Leute auf einen anderen Weg
Menschen bestimmte Erwartungen haben, was ihnen bringen?
Familie bringt, aber dass auch die Gesellschaft be-
Deshalb ist es gut, dass wir den Ansatz für die ur-
stimmte Erwartungen hat, zum Beispiel dass die Familie sprünglichen Programme bei 19 Millionen Euro gehal-
mindestens so stark wie die Schule ein Ort der Bildung ten haben. Auf der anderen Seite halte ich es für ganz
und ein Ort der Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln, entscheidend, dass wir zusätzlich 5 Millionen Euro für
ist. Dies bedeutet, dass wir sehr genau überlegen müs- Programme gegen Rechtsextremismus zur Verfügung
sen, welche politischen Rahmenbedingungen wir setzen gestellt haben, damit für diese Programme nicht mehr
und welche politischen Weichen wir stellen. Wir können die Gefahr besteht, dass sie auslaufen, weil wir haus-
wenig verordnen und wir sollten nicht verordnen, wie haltsrechtliche Probleme damit hatten, Modellprojekte
sich Familien entwickeln und wie sie leben. Wir können weiterzuführen. Diese 5 Millionen Euro können jetzt der
aber zum Beispiel dann unterstützend eingreifen, wenn Anstoß dafür sein, die Programme und die Opferbera-
es darum geht, ob sich junge Paare für Kinder entschei- tung dauerhaft zu etablieren. Das ist ein ganz wichtiges
den. Dass der Staat in diesem Bereich Entwicklungen Signal, das weit über das Problem des Rechtsextremis-
unterstützen kann, ist offenbar. Ich halte es für wichtig, mus hinausgeht und die Demokratie bei uns auch ganz
dass diese Unterstützung für uns kein Tabu mehr ist. Es stark unterstützt. Wir werden uns mit Ihnen gemeinsam,
ist eine uralte und leider auch deutsche Tradition, zu Frau Ministerin, sehr stark dafür engagieren, dass wir die
glauben, in Familien entwickle sich alles von alleine or- besten Wege finden, um diese Programme zu etablieren
dentlich und wir müssten nur Geld in die Familien inves- und zu installieren.
tieren. Da hat uns die Wirklichkeit überholt. Es muss ein
Zusammenspiel zwischen den Maßnahmen des Staates (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
geben, mit denen er unterstützt und fördert, und denen, Zu den von mir angesprochenen Rahmenbedingun-
(B) mit denen er Fehlentwicklungen entgegensteuert. gen, die wir mit diesem Haushalt für Familien gestalten (D)
können, gehört auch eine verbesserte Sicherheit für
(Beifall bei der SPD) Paare, die sich noch überlegen: Werden wir uns für Kin-
In dieser Hinsicht muss das Wächteramt des Staates der entscheiden oder nicht?
für uns entscheidend sein. Das muss in allem, was wir (Ute Kumpf [SPD]: Die Männer brauchen Er-
tun, deutlich werden. Das Wächteramt des Staates ist mutigung!)
nicht nur über Vorschriften und Zwang zu definieren,
sondern auch darüber, wie wir Familien und Eltern un- Und vor allem, wenn sie sich für Kinder entscheiden:
terstützen. Ich will ein Beispiel nennen. In diesem Haus- Werden wir uns unseren Kinderwunsch erfüllen können
halt finden sich auch 10 Millionen Euro, die für den Auf- oder nicht? Ich halte es für ganz wichtig, nicht vorrangig
bau eines Frühwarnsystems zum Schutz der Kinder und mit der demografischen Entwicklung und nicht nur zah-
zur Unterstützung der Erziehungsfähigkeit der Eltern lenmäßig zu argumentieren. Natürlich brauchen wir
mehr Kinder; das ist so. Aber wir haben in Deutschland
eingesetzt werden. Ich glaube, das ist der richtige An-
die Situation, dass sich junge Menschen ihren Kinder-
satz. Man muss aber auch sagen, dass dieser Ansatz nie
wunsch noch nicht erfüllen. Für mich ist das allererste
das Handeln vor Ort wird ersetzen können. Wir sind und wichtigste Ziel, mit verbesserten Rahmenbedingun-
vielmehr in der Situation, dass wir eine stärkere Vernet- gen zu erreichen, dass sich Familien den Kinderwunsch
zung der verschiedenen Ebenen brauchen. Das ist etwas, wirklich erfüllen können.
was wir als Staat für das Wohl des Kindes noch besser
und intensiver als bisher auf den Weg bringen müssen. Dazu gehören zwei wichtige Punkte. Einer ist das El-
terngeld, weil es für das erste Lebensjahr des Kindes, in
(Beifall bei der SPD – Renate Gradistanac dem sich Eltern verstärkt um ihr Kind kümmern wollen,
[SPD]: Vor allem die Länder und die Kommu- eine materielle Sicherheit gibt. Es ist im Übrigen auch
nen!) gleichstellungspolitisch wichtig, weil ab 1. Januar die
Väter, die sich ja zu über 50 Prozent gerne für eine ge-
Wir sind überzeugt, dass zu dieser Vernetzung, einer wisse Zeit um ihr Kind kümmern würden, es aber bisher
Vernetzung zwischen den Generationen, auch die Mehr- aus rein materiellen Erwägungen – sie sagen: Unserer
generationenhäuser beitragen können. Wir starten jetzt Familie wird zu viel Geld fehlen – nur zu 5 Prozent tun,
in die zweite Phase der Ausschreibung. Ich glaube, dass nicht mehr gezwungen sein werden, sich gegen das Be-
zur Akzeptanz dieser Häuser noch stärker als bisher bei- treuen ihres Kindes zu entscheiden. Sie können sich jetzt
tragen kann, dass die Menschen vor Ort erkennen kön- eben frei entscheiden.
nen, nach welchen Kriterien die Vergabe bei den Mehr-
generationenhäusern vor sich geht. (Beifall bei der SPD)
6456 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Nicolette Kressl
(A) Auch den zweiten Punkt halte ich für ganz entschei- reicht. Das müssen sie hier deutlich sagen und sie dürfen (C)
dend: Wir werden zusätzlich zum Elterngeld für den nicht den fiesen kleinen Umweg über das Elterngeld
Ausbau von Betreuungsangeboten kämpfen müssen. gehen. Außerdem müsste man Hartz-IV-Empfängern
Da haben wir mit dem TAG bereits etwas auf den Weg konsequenterweise länger als zwölf Monate Elterngeld
gebracht, aber alle Experten sagen uns: Die 230 000 zahlen. Man müsste doch sehen: Ein Hartz-IV-Empfän-
Plätze für unter Dreijährige, die im TAG vorgesehen ger mit einem Kind rutscht nach einem Jahr in eine Lü-
sind, werden nicht reichen. Da macht es Sinn, über einen cke. Das hieße, dass Kinder ab dem zweiten Jahr weni-
weiteren Mosaikstein in unserem familienpolitischen ger wert sind.
Konzept nachzudenken und gemeinsam zu überlegen,
wie wir uns noch intensiver um den schnellen Ausbau Diese Widersprüche haben uns gezeigt, dass das El-
von Betreuungsangeboten kümmern können. Dieser terngeld keine Lösung ist. Die Koalition muss sich schon
Puzzlestein muss dringend von uns noch verstärkt wer- bemühen, dieses Problem anders zu lösen. Das Vorgehen
den. der Koalition ändert nichts daran, dass Eltern – leider –
von Transferleistungen abhängig sind, wenn sie keinen
Vielen Dank. Arbeitsplatz haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Letzter Punkt: Zivildienst. Ich will allen Koalitionä-
der CDU/CSU) ren sagen, die hier noch behaupten, sie wollten nur eine
Zivildienstschule schließen: Die Koalition will letztlich
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: drei Zivildienstschulen schließen. Wir, die FDP, stimmen
Bevor ich nun der nächsten Rednerin das Wort erteile, dem zu. Wir, die FDP, gehen nicht den einfachen Weg
hat der Kollege Otto Fricke von der FDP das Wort zu ei- und sagen: Macht diese schwierige Angelegenheit doch
ner Kurzintervention. alleine. Zum Wie sagen wir, lieber Kollege Schmidt: erst
evaluieren und dann entscheiden und nicht erst entschei-
Otto Fricke (FDP): den und nachher sagen, die Evaluation habe leider etwas
anderes ergeben. Das ist das, was wir wollen. Wir kön-
Frau Kollegin Kressl, Sie haben das schöne Vorurteil
nen uns darüber unterhalten, ob in Anträgen etwas ande-
von der ach so bösen und angeblich sozial kalten SPD
res steht. Ich hoffe, dass das damit geklärt ist.
angesprochen.
(Zurufe von der SPD: FDP!) Danke.

– Ja, FDP. Ich merke, ich gehe in die Richtung, in die ich (Beifall bei der FDP)
eigentlich will.
(B) (D)
(Dr. Frank Schmidt [SPD]: Sie sind wohl in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Geburtstagslaune!) Frau Kollegin Kressl, Sie haben das Wort zur Erwide-
rung.
Ich höre meinen nordrhein-westfälischen Landesvater
Rüttgers zu häufig und deswegen passiert mir so etwas.
Ich bitte um Entschuldigung. Nicolette Kressl (SPD):
Herr Kollege Fricke, nachdem Sie sich versprochen
Frau Kressl, Sie haben gesagt, die FDP habe einen hatten, haben Sie gesagt, Sie seien von Ihrem Landes-
Antrag auf Kürzung um 200 Millionen Euro gestellt, da vater Rüttgers zu sehr beeindruckt. Das kann ich gut ver-
sie dagegen sei, Hartz-IV-Empfängern Elterngeld zu stehen. Schließlich erleben wir, dass die Zuschüsse für
zahlen. Wir sind da nicht allein. Sie wissen, dass auch Kindertagesstätten und Kindergärten in Nordrhein-West-
andere sagen, das passe nicht ins System. Ich will Ihnen falen Stück für Stück gekürzt werden.
auch begründen, warum wir dieser Auffassung sind. Es
ist nicht so, dass wir glauben, es bestehe keine Notwen- (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Ich
digkeit für eine entsprechende finanzielle Unterstützung. stimme ja zu!)
Unsere Haltung hat ihren Grund allein in dem Sinn des
Elterngeldes – die Ministerin hat mit dem Hinweis da- Für mich ist Ihr Versprecher daher nachvollziehbar.
rauf immer wieder zu Recht gewuchert –: Das Elterngeld Zum Hauptteil Ihrer Kurzintervention. Sie haben viel-
soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. leicht übersehen, dass das Elterngeld zwei Komponenten
Wir sind uns doch darin einig – sosehr wir uns das Ge- hat: Die eine ist die Einkommensersatzleistung, die an-
genteil wünschen –: Hartz-IV-Empfänger haben keinen dere ist das so genannte Mindestelterngeld. Dafür haben
Beruf. Falls man Hartz-IV-Empfängern Elterngeld wir uns entschieden. Wir möchten, dass zusätzlich Erzie-
zahlte, ginge es bei ihnen nicht um die Vereinbarkeit von hungsleistungen anerkannt werden. Es handelt sich nicht
Familie und Beruf. um einen Einkommensersatz. Nicht nur ALG-II-Fami-
(Christel Humme [SPD]: Dann haben Sie das lien erhalten Mindestelterngeld; vielmehr erhalten alle
System von Hartz IV nicht verstanden!) Eltern Mindestelterngeld – diese Mittel sind in dem ent-
sprechenden Sockel –, die aus der „Erwerbstätigkeit“
Man kann auch argumentieren: Elterngeld für Hartz-IV- nicht aussteigen können, zum Beispiel weil es nur einen
Empfänger ist eine soziale Leistung. Wenn man das tut, Einkommensbezieher gibt.
müssen die Koalition und gerade die SPD zugeben, dass
Hartz IV für Hartz-IV-Empfänger mit Kindern nicht aus- (Otto Fricke [FDP]: Oder Aufstocker!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6457
Nicolette Kressl
(A) Ich habe nicht kritisiert, dass Sie Kürzungen wollen. Form von milliardenschweren Steuergeschenken hinter- (C)
Das ließe sich mit der FDP-Ideologie gut vereinbaren. herwerfen würde.
Ich habe nur kritisiert, dass uns Frau Lenke in einem an-
deren Zusammenhang scharf angegriffen hat, weil wir (Beifall bei der LINKEN)
die Hartz-IV-Empfänger angeblich so schlecht behan- Diese Regierung hat keine Lösung für Familien, sie
deln. Da verlange ich von Ihnen einfach eine klare Linie. ist ein Teil des Problems, weil sich ihre Familienpolitik
(Otto Fricke [FDP]: Die ist ja jetzt da!) je nach Kassenlage wie ein Flickenteppich darstellt. In
Ihrem Koalitionsvertrag hatten Sie sich vorgenommen,
Ich erwarte, dass Sie nicht opportunistisch und populis- die Regelungen für den Kinderzuschlag zu überarbeiten.
tisch sind, indem Sie Ihre Einstellung zu Transferleistun- Die jetzigen Regelungen sind so schwer durchschaubar,
gen für Familien je nach Situation ändern. dass neun von zehn Anträgen abgelehnt wurden. Des-
halb konnten Sie den größten Etatposten gegen Kinder-
(Dr. Frank Schmidt [SPD]: Das steht so in den
armut im Jahr 2006 um 67 Prozent wegen Nichtauslas-
Anträgen!)
tung kürzen. Das ist irrsinnig.
Ich habe nicht zu kritisieren, dass Sie dazu stehen, ALG-II-
Empfängern kein Elterngeld zukommen lassen zu wol- (Beifall bei der LINKEN)
len. Das haben die Wähler bei der nächsten Wahl zu be- Nach neuesten Berechnungen lebt jedes fünfte Kind
rücksichtigen. auf Sozialhilfeniveau. Der Kinderschutzbund hat die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zahl von 2,5 Millionen Kindern errechnet, die mit der
Armut ihrer Eltern konfrontiert werden. „Armut von An-
fang an“ – so lautet in Abwandlung des Mottos des Kin-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der- und Jugendberichts die bisherige Bilanz dieser Re-
Nun hat das Wort die Kollegin Elke Reinke für die gierung. In Halle an der Saale, in meinem Bundesland
Fraktion Die Linke. Sachsen-Anhalt, liegt die Zahl der von Sozialgeld leben-
(Beifall bei der LINKEN) den Kinder unter 15 Jahren aktuell bei 40 Prozent. Im
hessischen Offenbach sieht es mit 34 Prozent auch nicht
viel besser aus.
Elke Reinke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Armut in Familien heißt alltäglicher Verzicht auf das
Frau von der Leyen, Sie arbeiten weiter an Ihrem Ruf ei- Nötigste. Ich kenne viele Mütter oder Väter, die sich lie-
ner talentierten Ankündigungsministerin, die ein Gespür ber die 10 Euro Eintrittsgebühr beim Arzt sparen, damit
(B) für symbolträchtige Themen hat. Ich fürchte, dass Ihre die Kinder zusammen mit den Freunden auch mal mit (D)
– ich zitiere – „feste Überzeugung“, dass es „mittelfristig ins Kino gehen können. Das ist Ausgrenzung. Natürlich
beitragsfreie Kindergartenplätze“ geben wird, nicht aus- kostet es Geld, wenn die Politik etwas an diesem Zu-
reicht, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn das wirklich stand ändern will. Hier geht es in erster Linie um die Si-
der politische Wille der großen Koalition wäre, dann cherung von Grundbedürfnissen und das Menschenrecht
sollte sich so ein Vorhaben wenigstens teilweise im auf eine würdige Existenz.
Einzelplan 17 unseres Haushaltes wiederfinden. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn uns in Anhö-
Ich fürchte weiterhin, dass Sie pflichtgemäß unseren rungen berichtet wird, dass Kinder mit knurrendem Ma-
Entschließungsantrag, in dem wir 200 Millionen Euro gen im Unterricht zum Normalfall werden, dann gibt es
zur Verankerung von regionalen Modellprojekten for- keinen Grund, lächelnd von statistischen Spielereien
dern, ablehnen werden. Aber nach kinder-, jugend-, fa- oder Übertreibungen zu sprechen. Weil dem wirklich so
milienpolitischen Visionen, die Ihre Ankündigungen, ist, geht die Berliner Tafel mittlerweile an Schulen, da-
Frau Ministerin, unterstützen würden, sucht man im mit Kinder wenigstens ab und zu einmal eine warme
Bundeshaushalt vergeblich. Mahlzeit haben. Wir sollten öfter einmal die „Käseglo-
cke“ Bundestag verlassen. Ich kann Sie gerne mal in die
Unter den so genannten großen Volksparteien ist ein Wärmestube nach Halberstadt einladen. Dort können Sie
eigenartiger Wettbewerb ausgebrochen: Herr Rüttgers die Realität kennen lernen.
will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere
verlängern, indem er bei den Jüngeren kürzt, Frau Kressl (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder
von der SPD will zur Finanzierung beitragsfreier Kin- [CDU/CSU]: Wir tun das, Frau Kollegin! Ich
derbetreuung das Kindergeld einfrieren, also kürzen. lade Sie nach Würzburg ein!)
Deshalb finde ich es lobenswert, dass Sie, Frau Ministe-
rin, nicht eine Familiengruppe gegen die andere ausspie- Die Fraktion Die Linke hat sich in mehreren Anträgen
len wollen, um die Kinderbetreuung beitragsfrei zu stel- zur öffentlichen Verantwortung für Kinder bekannt. Wir
len. Allein, Ihre bisherige Praxis sah anders aus. Das haben Ihnen einen Vorschlag zur Reform des Kinderzu-
Elterngeld stellt eine Umverteilung von unten nach oben schlags vorgelegt. Ihre Fraktionen haben diesen starr-
dar. köpfig abgelehnt. Damit haben Sie verhindert, dass alle
Kinder aus dem Sozialgeldbezug und den Bedarfsge-
Mehr Geld für Familien fordert die Linke. Es wäre meinschaften herausgeholt werden. Wir meinen, dass je-
da, wenn diese Regierung es nicht den Konzernen in dem Kind, je nach Einkommen der Eltern, der Zugang
6458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Elke Reinke
(A) zum sozioökonomischen Existenzminimum in Höhe von Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
momentan 420 Euro garantiert werden muss. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, der Haushalt Ih-
(Beifall bei der LINKEN) res Ministeriums wird den vielen gesellschaftspoliti-
schen Herausforderungen nicht gerecht; meine Kollegin
Mit unseren Vorschlägen hätten wir 2,1 Millionen Fami-
Deligöz hat beim Thema Familienpolitik insbesondere
lien mit 3 Millionen Kindern erreicht. Die dafür benötig-
im Zusammenhang mit dem Ausbau der Kinderbetreu-
ten 3,5 Milliarden Euro wären da, wenn – ich muss das
ungsinfrastruktur bereits darauf hingewiesen. Stattdes-
wiederholen – diese Regierung nicht schon wieder Steu-
sen wird, wie beim Zivildiensthaushalt, Geld in Luftbu-
ergeschenke in Höhe von 5 Milliarden Euro den Konzer-
chungen gebunkert. Meine Fraktion bringt deshalb heute
nen hinterherwerfen würde.
einen Entschließungsantrag ein, der fordert, Mittel vom
Wo sind Ihre Antworten? Wer nur soziale Symbolthe- Zivildiensthaushalt in die Förderung der Jugendfreiwilli-
men ankündigt, braucht sich nicht über enttäuschte Men- gendienste sowie in Programme gegen Rechtsextremis-
schen, wachsende Unterschichten und geringe Wahlbe- mus umzuschichten.
teiligung zu wundern. In Deutschland besteht keine Wehr- und Einberu-
fungsgerechtigkeit mehr.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich frage mich: Wo bleibt der Wille zur Umverteilung?
Nicht von den Kinderlosen zu den Kinderreichen, nicht Der Transformationsprozess der Bundeswehr hat dazu
von der Kindergeldkasse zum Kindergarten, sondern von geführt, dass maximal 15 Prozent der Wehrpflichtigen
den Starken zu den Schwachen, von den breiten zu den eines Geburtsjahrgangs zum Wehrdienst einberufen wer-
schmalen Schultern. Liebe Sozialdemokratinnen und So- den können, während 25 Prozent zum Zivildienst heran-
zialdemokraten, es gibt dafür einen Namen, der bei Ih- gezogen werden. Der Wehrdienst ist also nicht mehr die
nen längst nicht mehr aktuell ist: Sozialstaat. Regel, sondern die Ausnahme. Die allgemeine Wehr-
pflicht ist damit aus der Sicht der Grünen verfassungs-
Für uns ist es auch nicht hinnehmbar, dass der An- rechtlich nicht mehr haltbar.
spruch eines Kindes auf einen Kindergartenplatz da-
von abhängen soll, ob die Eltern eine Vollzeitarbeit ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ben, teilzeitbeschäftigt oder nicht erwerbstätig sind. Eine und bei der FDP)
beitragsfreie Kinderbetreuung muss ein Kinderrecht Wir fordern von der Bundesregierung deshalb ein kla-
werden. res Konzept für den Ausstieg aus der Wehrpflicht und,
(B) damit verbunden, tragfähige Alternativen zum Zivil- (D)
(Beifall bei der LINKEN) dienst. 2007 will die Regierung über 88 000 Zivildienst-
Auch das ist wieder eine Frage für den Haushalt: Wenn leistende einberufen, aber nur 62 000 Wehrdienstleis-
die Betreuung für Kinder ausgebaut werden soll, dann tende. Mit der von uns vorgeschlagenen Kürzung um
muss mehr Geld bei den Kommunen ankommen. Wer 65 Millionen Euro würden nur noch so viele junge Män-
ernsthaft etwas gegen Kinderarmut erreichen und den ner zum Zivildienst herangezogen werden, wie Wehr-
dienst leisten. Dies wäre ein Schritt zu mehr Einberu-
Zugang zu einer frühkindlichen Bildung verbessern will,
fungsgerechtigkeit.
der muss eine bedarfsorientierte Grundsicherung einfüh-
ren und das Recht des Kindes auf einen Betreuungsplatz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
durchsetzen. In unserer Verantwortung liegt es, ob es bei
den Ankündigungen bleibt oder ob finanzielle Mittel für Was ist unsere Alternative? Wir wollen eine klare
die drängenden gesellschaftlichen Probleme bereitge- Aufstockung der Mittel für Jugendfreiwilligendienste.
stellt werden. Wir haben hier fraktionsübergreifend einen ersten Schritt
vollzogen. Aber wir wollen ein Stück weiter gehen und
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Wort zum schlagen eine Aufstockung um 25 Millionen Euro vor,
Schluss. Viele von uns werden in der Vorweihnachtszeit um der großen Nachfrage junger Menschen in diesem
versuchen, einigen Kindern im Wahlkreis eine kleine Bereich nachkommen zu können. Wir wollen über die
Freude zu bereiten. Weil es für viele Kinder ein Stück bisherigen Ansätze deutlich hinausgehen, weil es sehr
Urlaub vom Alltag ist, sollten wir das auch tun. Kinder- sinnvoll ist, dass mehr junge Menschen soziale, ökologi-
armut gibt es aber nicht nur in der Weihnachtszeit, wenn sche und auch kulturelle Erfahrungen im In- und Aus-
sich das gut in der Presse verkaufen lässt. Lassen Sie uns land sammeln.
bitte mehr soziale Gerechtigkeit wagen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die zivilgesell-
Danke schön. schaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus wollen
wir als Grüne verstärkt fördern. Die bisher von der Ko-
(Beifall bei der LINKEN) alition vorgesehenen Mittel und Programme sind aus un-
serer Sicht noch nicht ausreichend, um eine kontinuierli-
che, nachhaltige und wirklich effektive Arbeit gegen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rechts zu gewährleisten. Die große Koalition hat die für
Das Wort hat nun der Kollege Kai Gehring für die die Projekte gegen Rechtsextremismus Verantwortlichen
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. durch ein langes Hin und Her sehr verunsichert. Die Trä-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6459
Kai Gehring
(A) ger sind, gerade was die Kooperation mit den Kommu- regierung muss aber schon jetzt Antworten auf die sich (C)
nen angeht, auf Planungssicherheit angewiesen. Ich be- verschärfende soziale Exklusion von Jugendlichen ge-
grüße, dass die Koalition diese Planungssicherheit nun ben. An diesem sehr zentralen Punkt werden wir nicht
gewährleisten will, und hoffe, dass dies auch wirklich locker lassen; denn Perspektivlosigkeit von Jugendli-
schnell erfolgt. chen ist ein gesellschaftliches Armutszeugnis.
In der gestrigen Anhörung zur Zukunft der Rechts- Frau von der Leyen, Sie haben in Ihrer Rede vorhin
extremismusarbeit haben die Expertinnen und Experten zu Recht ausgeführt: Familienpolitik geht nicht ohne He-
bestätigt, dass der Erfolg vor Ort wesentlich von der Ein- ranwachsende. Deshalb appelliere ich eindringlich an
bindung in überregionale Netzwerke abhängt. Besonders Sie: Machen Sie Ihr Ministerium endlich zu einem wirk-
für ländliche Regionen wurde bestätigt, dass Lücken lichen Mehrgenerationenhaus! Machen Sie endlich Ihre
durch die Kürzung von Jugendhilfemitteln dort verstärkt Hausaufgaben – für die Zukunft aller Generationen, also
von Rechtsextremen gefüllt werden. Rechtsextreme Ein- auch für die Jugendlichen in unserem Land!
stellungen sind in manchen Regionen hegemonial ge- Vielen Dank.
worden. Gerade in strukturschwachen Regionen ist es
unwahrscheinlich, dass die im Vorschlag der Koalition (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
geforderten Mittel zur Kofinanzierung auch wirklich
aufgebracht werden können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer,
Kastner) CDU/CSU-Fraktion.

Das größte Manko aber ist: Der Vorschlag der Koali- (Beifall bei der CDU/CSU)
tion, nur den Kommunen ein Antragsrecht einzuräumen,
ist nicht zielführend, weil dies der gleichberechtigten Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Kooperation mit der Zivilgesellschaft eindeutig wider- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
spricht. Notwendig ist stattdessen die dauerhafte Siche- Herren! Wir haben die Anliegen der Familien ins Zen-
rung der Arbeit gegen Rechtsextremismus. trum der Politik zurückgeholt. Dies ist maßgeblich das
Verdienst unserer Familienministerin. Herzlichen Dank
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dafür!
Dies könnte nach den Vorstellungen der Grünen auch im (Beifall bei der CDU/CSU)
Rahmen einer Stiftung geschehen, die das Engagement
gegen Rechtsextremismus überparteilich verstetigt und Es ist nicht bei Ankündigungen geblieben. Die Minis-
(B) gleichzeitig viele gesellschaftliche Akteure einbezieht. terin und die Bundesregierung haben eine Reihe von (D)
Nach unserer Auffassung ist die Einbeziehung von Bil- Maßnahmen mit nachprüfbaren Ergebnissen auf den
dungseinrichtungen besonders wichtig; denn hier fängt Weg gebracht: Die erste finanzpolitisch wirksame Ent-
schließlich das Lernen von Demokratie und Toleranz an. scheidung dieser Bundesregierung zu Beginn dieses Jah-
res war, die Steuereinsparmöglichkeiten bei der Kinder-
Frau von der Leyen, Sie haben in Ihrer heutigen Rede betreuung beträchtlich zu verbessern. Im Laufe des
die Shell-Jugendstudie, die vor einigen Wochen veröf- Jahres haben wir das Elterngeld mit einem Volumen von
fentlicht worden ist, nicht angesprochen. Damals haben 1,6 Milliarden Euro beschlossen. Dieses Geld wird den
Sie diese Veröffentlichung mit den Worten kommentiert: Familien zugute kommen. Der Etat für das kommende
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. – Ich hätte mir Jahr 2007 wächst von 4,5 Milliarden auf 5,2 Milliarden
gewünscht, dass Sie dem Parlament heute erklärt hätten, Euro. Dies wird den Familien, der Jugend und den Se-
welche Konsequenzen Sie als Jugendministerin aus die- nioren zugute kommen. – Die Richtung stimmt. Wir
ser Jugendstudie ziehen. Gerade den Schattenseiten werden unseren Grundsatz „Mehr finanzielle Gerechtig-
müssen Sie sich endlich zuwenden. keit für Familien“ Schritt für Schritt umsetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle sage ich aber auch: Das Gegenteil
Wie kümmern Sie sich um Jugendliche, die von so- von finanzieller Gerechtigkeit für Familien wäre es,
zialer Exklusion bedroht oder betroffen sind? Was tun wenn beispielsweise an eine Kürzung des Kindergeldes
Sie für Teenager, die kaum Zukunftsperspektiven für gedacht würde.
sich sehen, die ohne Schulabschluss und Ausbildungs- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
platz vermehrt ins Abseits gedrängt werden und bei de- GRÜNEN]: Wer denkt denn an so etwas?)
nen eine frühkindliche Förderung nicht mehr hilft? Die
großkoalitionäre Jugendpolitik gibt es aus unserer Sicht Wir meinen, dass höhere Ausgaben für Energie und Bil-
hauptsächlich in Sonntagsreden. Werktags warten wir dung – dies betrifft Ausgaben für den Schulausflug bis
dann vergeblich auf jugendpolitische Zukunftskonzepte. hin zum Federmäppchen – schon heute dazu führen, dass
viele Eltern jeden Euro buchstäblich umdrehen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb wäre der Vorschlag, das Kindergeld zu kürzen,
kein Zugewinn an Humanität, sondern schlichtweg
Seit Mai 2006 warten wir Grüne auf die Antwort zu
Herzlosigkeit.
unserer Großen Anfrage zur Jugendpolitik, was die Per-
spektiven für Jugendliche in Deutschland angeht. Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
soll erst im März 2007 beantwortet werden. Die Bundes- LINKEN)
6460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Johannes Singhammer
(A) Nun bringen manche eine zweite Variante ins Spiel: gehend, vorgelegt. Eine der dramatischen Erkenntnisse (C)
Man könnte ja einen eventuellen Zuwachs beim Kinder- des Statistischen Bundesamts war, dass die Zahl der
geld dazu verwenden, Kinderbetreuungseinrichtungen Deutschen in den nächsten Jahrzehnten, also bis 2050,
zu finanzieren. Manche meinen, spektakuläre Fälle, über um deutlich mehr als 10 Millionen zurückgehen wird.
die wir immer wieder voller Sorge diskutieren, bei denen Daraus folgt logischerweise auch eine geringere Zahl an
Eltern Kinder vernachlässigen oder misshandeln und das Kindern. Im Vergleich zu 2004 haben in 2005 über
Kindergeld eher in Alkohol statt in die Bildung ihrer 45 000 Kinder weniger das Licht der Welt in Deutsch-
Kinder investieren, würden das begründen. Ich möchte land erblickt. Wenn das so weitergeht, kann sich jeder
für eine ehrliche Diskussion werben. Wir sollten feststel- ausrechnen, welche Folgen das haben wird.
len, dass sich die allermeisten Eltern liebevoll um ihre
Kinder kümmern und sorgen und es der falsche Weg ist, Wenn aber immer weniger Kinder geboren werden,
Eltern unter Generalverdacht zu stellen. bedeutet das zwangsläufig, dass auch weniger Aufwen-
dungen für Kinder notwendig werden. Das Deutsche Ju-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gendinstitut hat eine für die Kommunen interessante
neten der SPD) Zahl ermittelt: Allein in den Kommunen in Deutschland
werden bis zum Jahr 2010 aufgrund des Geburtenrück-
In manchen Regionen, vor allem in den Ballungsge-
gangs 3,6 Milliarden Euro pro Jahr eingespart. Deshalb
bieten der alten Bundesländer, stellt sich zudem für viele
wäre ein Verlangen, zumindest den Status quo zu halten,
Eltern die Frage, was Kinderbetreuung kostet, erst
nicht unbillig. Angesichts des dramatischen Geburten-
nachrangig im Vergleich zu der Frage, ob sie überhaupt
rückgangs brauchen die Familien heute noch mehr Un-
einen Betreuungsplatz erhalten. Beispielsweise in der
terstützung, müssen wir noch mehr Geld für sie in die
Landeshauptstadt München – wenn ich das einmal sagen
Hand nehmen.
darf – ist es für manche Eltern durchaus angezeigt, ihr
Kind bereits vor der Zeugung für eine Kinderkrippe an- Wir beschäftigen uns nicht nur in dem entsprechen-
zumelden, um überhaupt die Chance zu haben, einen den Fachbereich, dem Einzelplan 17, mit Familienpoli-
Kinderkrippenplatz zu bekommen. tik; Familienpolitik geht weit darüber hinaus. Ich glaube,
(Sibylle Laurischk [FDP]: Vor der Zeugung! es ist ein Verdienst der Bundesregierung, der großen Ko-
Das ist schon ein interessanter Aspekt!) alition und der Ministerin, den Querschnittscharakter der
Familienpolitik immer wieder darzustellen. Vor kurzem
Die Selbstfinanzierung der Kinderbetreuung durch fand eine sehr bemerkenswerte Veranstaltung statt, die
die Eltern ist kein guter Weg; denn nach wie vor steht von Industrie und Wirtschaft gemeinsam mit Ihnen, Frau
den Familien deutlich weniger Geld zur Verfügung als Ministerin, durchgeführt worden ist. Im Rahmen dieser
Paaren ohne Kinder. Aus dem 7. Familienbericht, über Veranstaltung ging es um die Frage, was der Rückgang (D)
(B)
den wir hier vor kurzem diskutiert haben, ergibt sich, der Geburten ökonomisch bedeutet. Mir ist natürlich
dass beispielsweise 35-jährige Paare ohne Kinder pro klar, dass eine rein ökonomische Betrachtung viel zu
Kopf mehr als 600 Euro netto mehr im Monat haben als kurz greift; denn jedes Kind ist nicht nur ein ökonomi-
vergleichbare Paare mit Kindern. Deshalb macht es kei- scher Faktor, sondern bedeutet Leben, Freude, Hoffnung
nen Sinn, den Eltern das Geld aus der einen Tasche weg- und Zukunft.
zunehmen und es in die andere Tasche hineinzustecken.
Das gemeinsame Ziel aller Familienpolitiker sollte es (Beifall bei der CDU/CSU)
sein, mehr Geld für Familien aufzuwenden und in einer Ich möchte Ihnen dennoch das Ergebnis einer Studie des
gemeinsamen Kraftanstrengung Eltern und Kindern trotz Instituts der deutschen Wirtschaft vorstellen: Wenn es
der schwierigen Finanzproblematik mehr zukommen zu gelänge, die Geburtenrate nur ein wenig zu steigern,
lassen. wenn die Geburtenhelfer also wieder mehr Arbeit hätten,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dann würde das Wirtschaftswachstum bis zum Jahr
neten der SPD und der LINKEN) 2050 um bis zu 15 Prozent höher ausfallen. Das zeigt,
dass jedes neugeborene Kind nicht nur ein Stück Hoff-
Nun sagen einige, in Deutschland würden ohnehin nung ist, sondern unser Land auch reicher und nicht är-
pro Jahr rund 115 Milliarden Euro für Familienleistun- mer macht. Dies wollen wir weiter unterstützen. Dazu
gen ausgegeben, darunter 35 Milliarden Euro für das haben wir eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg ge-
Kindergeld, während in anderen Ländern gerade das bracht; wir werden diesen Weg entschlossen fortsetzen.
Kindergeld sehr viel geringer ausfällt. Ich bin froh und
stolz darauf, dass wir in Deutschland dieses Geld für Wir haben mit der Einführung des Elterngeldes et-
Kinder und Eltern aufwenden. Aber ich sage auch: Es was erreicht, was der eine oder andere von der Opposi-
macht Sinn – das haben wir in der großen Koalition ver- tion der großen Koalition vielleicht zunächst nicht zuge-
einbart –, das Geflecht der Leistungen, die den Familien traut hätte.
zustehen – es sind an die 143 Positionen –, nach ihrer (Ina Lenke [FDP]: Wir trauen Ihnen viel zu!)
Wirksamkeit zu bewerten, um damit zu erreichen, dass
die Leistungen gebündelt und möglichst effizient einge- Wir haben das gemeinsam geschafft; viele Eltern haben
setzt werden. darauf gewartet. Wenn jetzt kritisch eingewandt wird, es
bestehe das große Problem, dass es beim Elterngeld
Vor wenigen Tagen hat das Statistische Bundesamt keine Übergangsfristen gibt,
eine Prognose hinsichtlich der Bevölkerungsentwick-
lung in den kommenden Jahrzehnten, also etwas weiter- (Ina Lenke [FDP]: Und, und, und!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6461
Johannes Singhammer
(A) dann zeigt das, wie hoch die Akzeptanz bei den Eltern gewählt und – noch viel schlimmer – rechtsextrem ge- (C)
ist. dacht.
(Ina Lenke [FDP]: Die wissen doch gar nicht Wir erleben derzeit, wie sich Rechtsextreme den Weg
Bescheid! Die denken, sie bekommen in unsere Mitte bahnen. Das tun sie nicht mit Gewalt,
67 Prozent!) sondern subtil: Rechtsextreme Mütter – das haben wir
Die meisten wollen das Elterngeld schon viel eher, nicht auch gestern in der Anhörung gehört – gründen Krabbel-
erst zum 1. Januar 2007. Wir haben dies jetzt auf den gruppen mit anderen Müttern. Rechtsextreme Eltern tre-
Weg gebracht, nachdem viele Jahre verstrichen sind, in ten in Elternverbände und Elternbeiräte ein und versu-
denen es nur Ankündigungen gab, aber keine Taten folg- chen, dort ihre Einstellungen kundzutun. Unternehmer
ten. mit rechtsextremem Hintergrund schaffen nur Ausbil-
dungsplätze für rechtsextrem orientierte Jugendliche.
Danke schön. Das ist nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
neten der SPD) der CDU/CSU – Beifall bei der LINKEN und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix, SPD-Fraktion. Der Einzeltitel im Haushalt des Ministeriums für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend, der sich mit der Be-
(Beifall bei der SPD) kämpfung des Rechtsextremismus befasst, ist sicher
nicht der höchste, der heute zur Beschlussfassung an-
Sönke Rix (SPD): steht. Trotzdem ist es, so finde ich, einer der wichtigsten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts anderes hat die Anhörung im Familienausschuss
Es gibt mehrere positive Ansätze im Familienhaushalt. gestern gezeigt. Wir sind mit unseren Programmen auf
Dazu gehört unter anderem, dass wir den Haushaltstitel dem richtigen Weg, aber leider noch lange nicht am Ziel.
für das bürgerschaftliche Engagement, das heißt für die
Im Jahr 2001 hat die damalige Bundesregierung das
Freiwilligendienste, um 1 Millionen Euro erhöhen. Es
Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokra-
gibt einen weiteren freudigen Ansatz in unserem Haus-
tie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
haltsentwurf: Für die Bekämpfung des Rechtsextremis-
und Antisemitismus“ aufgelegt. Es teilt sich in drei
mus nehmen wir mehr Geld in die Hand.
selbstständige Teilprogramme: Civitas, Entimon und
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Xenos. Im Zentrum des Programms steht das gemein-
(B) DIE GRÜNEN]: Da hört das Freudige auch same Ziel, zivilgesellschaftliche Akteure und Potenziale (D)
schon auf!) zu fördern und zu stärken. In den fünf Jahren seit Pro-
grammbeginn im Jahr 2001 konnten über 4 000 Pro-
Schwerpunktthema meiner Rede wird die Bekämpfung
jekte, Initiativen und Maßnahmen mit über 163 Millio-
des Rechtsextremismus sein.
nen Euro gefördert werden. Bis Ende 2006 sollen
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Arti- Fördergelder in Höhe von rund 192 Millionen Euro vom
kel zum Thema Rechtsextremismus in den Zeitungen Bund geflossen sein; ich finde, hier gehen wir in die
steht: Gedenkstätten in Frankfurt geschändet, Haken- richtige Richtung. Auch im Jahr 2007 – unser Kollege
kreuze an Hauswänden und Mahnmalen, rassistische Frank Schmidt hat es vorhin dargestellt – gibt es Geld
Pöbeleien in Fußballstadien, NPD-Parteitag in Berlin. für den Kampf gegen Rechtsextremismus, diesmal sogar
Dabei sind diese Meldungen nur die Spitze des Eisbergs. mehr als in diesem Jahr. An dieser Stelle danke ich allen,
Wenn wir jetzt nicht aufpassen, gehören Nazis bald zu die sich dafür eingesetzt haben und diesen Beschluss
unserem normalen Alltag. Aber was Nazis machen, ist mittragen werden.
nicht normal und darf es niemals werden.
Es geht um 19 Millionen Euro, zusätzlich 5 Millionen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Euro, die vornehmlich in Strukturprojekte fließen sollen.
der CDU/CSU – Beifall bei der LINKEN und Davon gibt es noch einmal knapp 1 600 Projekte. Dass
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dies alles wichtige und erfolgreiche Projekte sind, muss
Vor zwei Wochen kam eine Studie der Friedrich- ich an dieser Stelle nicht betonen. Ich lade alle Abgeord-
Ebert-Stiftung heraus. Ein Rauschen ging durch den neten ein, sich diese Projekte einmal vor Ort anzusehen.
Blätterwald, ungefähr drei Tage. Ich glaube, seitdem Die wirklich aktive und erfrischende Arbeit dieser Pro-
habe ich nur noch ein oder zwei Kommentare darüber jekte ist unterstützenswert. Ich richte an dieser Stelle ei-
gelesen. Dabei zeigt diese Studie eine gefährliche Ent- nen Dank an alle, die diese Projekte durchführen und vor
wicklung auf: Ort die Flagge der Demokratie und Toleranz hochhalten.
Erstens. Rechtsextremismus und eine sich verfesti- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gende Naziideologie sind kein typisch ostdeutsches Pro- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-
blem. Es ist ein bundesweites Problem. NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens. Es gibt nicht den typischen rechtsextremen Wir brauchen zivilgesellschaftliche Courage, um uns
Wähler. Es wird quer durch alle Schichten, von beiden gegen jede Form von Extremismus durchzusetzen. Das
Geschlechtern und in allen Altersklassen rechtsextrem kann man mit Geld allein nicht erreichen. Wir brauchen
6462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Sönke Rix
(A) eine Justiz, die zeitnah in der Lage ist, die Nazis festzu- Drittens. Wie können wir verhindern, dass schlei- (C)
nehmen und zu verurteilen, die Gedenkstätten durch Ha- chende Demokratiefeindlichkeit bzw. Demokratieferne
kenkreuze schänden. Wir brauchen eine Justiz und einen gesellschaftsfähig wird? Wir müssen die Kräfte unter-
gut ausgestatteten Strafvollzugsapparat, damit Nazis, die stützen, die in den „braunen Regionen“ eine demokrati-
über unsere Straßen marschieren und dabei Hakenkreuze sche Kultur vorleben. Der klassische NPD-Wähler ist
zeigen, nicht wegen Arbeitsüberlastung laufen gelassen nicht jung, arbeitslos und männlich. Unter den NPD-
werden. Der Staat hat das Gewaltmonopol und sonst Wählern sind auch Menschen, die Arbeit haben, Abitu-
niemand. rientinnen und Abiturienten sowie Auszubildende. Ihnen
muss eine demokratische Alternative zum NPD-Som-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des merfest geboten werden. Die übrigen Parteien vor Ort
Abg. Thomas Dörflinger [CDU/CSU]) brauchen sofort und dauerhaft jede gewünschte Unter-
Um das durchsetzen zu können, brauchen wir keine stützung, damit die Mitbürgerinnen und Mitbürger se-
schärferen Gesetze und keine flächendeckende Überwa- hen, dass es auch andere Parteien gibt, bei denen man
chung der Bürgerinnen und Bürger. Die Gesetze, die wir sich einbringen und mit denen man über seine Vorstel-
haben, sind gut und ausreichend. Sie müssen nur überall lungen diskutieren kann.
und jederzeit konsequent und vor allem schnell ange- Ich habe in Mecklenburg-Vorpommern Wahlkampf
wandt werden. gemacht. Leider gab es dort ganze Landstriche, wo nur
(Beifall bei der SPD) die NPD plakatiert hatte.

Der Staat muss zeigen, dass er sich nicht ansatzweise Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
von Extremisten provozieren oder vorführen lässt. Den Herr Kollege, würden Sie einmal auf die Uhr
Kampf gegen Rechtsextremismus – ich habe es bereits schauen?
erwähnt – kann man nicht allein mit Geld gewinnen.
Man gewinnt ihn durch Überzeugungsarbeit. Sicherlich
Sönke Rix (SPD):
ist es leichter, ein paar Millionen mehr locker zu ma-
Entschuldigung. Ich bin sofort fertig.
chen, um noch das eine oder andere Projekt zu starten.
Diese Projekte können aber immer nur einen kleinen Ein letzter Satz: Nazis sind nicht normal und dürfen
Kreis gefährdeter Menschen erreichen. es auf keinen Fall werden. Ich hoffe, das ist Konsens in
diesem Haus.
Wir Politikerinnen und Politiker dagegen stehen stän-
dig in der Öffentlichkeit. Was wir vorleben und in den Danke schön.
(B) Medien äußern, kommt bei vielen Menschen an. Wir (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (D)
dürfen uns von Rechtsextremen nicht die Deutungs- bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und
hoheit streitig machen lassen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger,
Für Politiker, die auf Bundes- oder Landesebene Verant- CDU/CSU-Fraktion.
wortung tragen, heißt das erstens: Zurück auf die Straße!
Der Infostand ist einem parlamentarischen Abend bei (Beifall bei der CDU/CSU)
weitem vorzuziehen. Anders ausgedrückt: Jeder Pro-
zentpunkt, den die Rechten bei Wahlen erreichen, ist ein Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Zeichen dafür, dass die demokratischen Parteien mit ih- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
rer Politik nicht immer und überall bei den Menschen Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
sind; aber für sie müssen wir Politik machen. Unser Rix, hinsichtlich Ihres letzten Satzes sind wir uns in die-
Motto muss also lauten: Ran an die Leute! sem Hause sicherlich alle einig.
Zweitens. Warum fangen wir Abgeordnete nicht bei Vor gar nicht allzu langer Zeit musste sich diejenige,
uns selbst an? Um ein Beispiel zu bringen: Jeder Abge- die im Bundeskabinett für Familie, Senioren, Frauen und
ordnete des Bundestages hat ein Budget zur Bezuschus- Jugend zuständig war, von demjenigen, der sie berufen
sung von Gruppen, die den Deutschen Bundestag besu- hat, sagen lassen, sie sei zuständig für Familie, Frauen
chen dürfen. Warum verteilen wir dieses Geld nicht und Gedöns.
ausschließlich auf Schulklassen und Jugendgruppen?
Warum gibt es eine Begrenzung auf 200 Personen? – Ich (Ina Lenke [FDP]: Ja!)
würde mich freuen, wenn ich noch mehr Schulklassen Das war, wenn ich das richtig erinnere, im Jahr 1998.
hier begrüßen dürfte und wenn zu jedem Besuch einer Jetzt, im Jahr 2006, finden wir die Familienpolitik in ei-
Schulklasse im Parlament ein Gegenbesuch des Abge- ner Schlagzeile der „Financial Times Deutschland“. Das
ordneten in der Schule im Wahlkreis gehören würde. ist angesichts dieser Zeitspanne eine ganz beträchtliche
Dann würde ich sagen: Ja, hier hat die Politik einen Weg Entwicklung. Ich glaube, Ursula von der Leyen und
in Richtung Jugendliche eingeschlagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel haben einen wesentli-
chen Beitrag dazu geleistet. Herzlichen Dank dafür!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6463
Thomas Dörflinger
(A) Wenn man gegen Schluss der Debatte das Wort er- vergießen Sie hier keine Krokodilstränen; denn das passt (C)
greift, bietet sich die Gelegenheit, auf das eine oder an- einfach nicht zusammen.
dere einzugehen, was gesagt worden ist. Mich haben die
Ich war irritiert über das, was Sie zum Zivildienst und
Ausführungen zu den sieben Monaten und dem Eltern-
zu den Freiwilligendiensten gesagt haben. Ich hätte mir
geld sehr irritiert, Frau Lenke. Ich versuche, das einmal
gewünscht, Sie hätten zunächst einmal anerkannt, dass
am Beispiel meiner Frau und mir aufzudröseln.
es der Koalition trotz der alles andere als einfachen
(Sibylle Laurischk [FDP]: Eine Schwanger- Haushaltslage gelungen ist, einen – das gebe ich zu –
schaft dauert neun Monate!) fraktionsübergreifenden Konsens darüber zu erzielen,
bei den Mitteln für die Freiwilligendienste etwas drauf-
Stellen Sie sich vor, ich würde auch zu Hause bleiben.
zusatteln. Das hätte ich erwartet.
Dann stünden uns 14 Monate zur Verfügung. Wie wir
das organisieren, machen meine Frau und ich unterei- Ich erinnere mich an ein Gespräch mit den Trägerver-
nander aus. Ich muss ja mindestens zwei Monate zu bänden – das liegt einige Zeit zurück –, in dem der Vor-
Hause bleiben. schlag an mich herangetragen wurde, wir möchten im
Rahmen der Freiwilligendienste für eine ganz bestimmte
(Ina Lenke [FDP]: Hintereinander!)
Zielgruppe etwas tun, nämlich für die sozial benachtei-
Also sind folgende Kombinationen möglich: zwölf plus ligten Jugendlichen. Ich habe damals, da ich nicht nur
zwei, elf plus drei, zehn plus vier, neun plus fünf, acht Berichterstatter für den Zivildienst und die Freiwilligen-
plus sechs oder – jetzt kommt es – sieben plus sieben. dienste, sondern auch für den Haushalt bin, im Fachaus-
Zweimal sieben sind 14. So einfach könnte es eigentlich schuss gesagt: Das Problem leuchtet mir durchaus ein;
sein. Deswegen habe ich vorhin den Grund des Dissen- aber wir unterliegen hier dem Finanz- und Haushaltsvor-
ses nicht ganz verstanden. behalt. – Deswegen bin ich glücklich, nun sagen zu kön-
nen: Wir haben im Haushalt für das Jahr 2007 die Mittel
Wenn wir gerade dabei sind: Es hat mich fast schon
erhöht und sind dem Begehr seitens der Trägerverbände,
ein bisschen belustigt,
speziell etwas für sozial benachteiligte Jugendliche zu
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Fast?) tun, in dem Rahmen, der uns zur Verfügung steht, nach-
gekommen.
wie hier über die Kürzungen im Bereich der Zivildienst-
schulen berichtet wurde. Mit Sicherheit sind wir uns, Manchmal ist Politik ganz konkret.
Herr Dr. Schröder und Herr Dr. Schmidt, einig, dass es
(Sibylle Laurischk [FDP]: Nicht zu fassen! Herr
sowohl im Haushaltsausschuss als auch im Fachaus-
Dörflinger, da sind wir aber gespannt!)
schuss niemandem leicht gefallen ist, diesen Beschluss
(B) zu fassen. Das hat Herr Kollege Fricke, der gerade geburtstagsbe- (D)
dingt abwesend ist – das sei ihm gegönnt –, bereits ange-
(Ina Lenke [FDP]: Im Fachausschuss haben
sprochen.
wir nicht darüber gesprochen!)
(Ina Lenke [FDP]: Nein, das stimmt nicht! Er hat
– Sie waren doch dabei. Sie haben Herrn Staatssekretär
einen Termin!)
Dr. Kues gefragt. Das war in der letzten Ausschusssit-
zung. – Doch, Frau Lenke, ich habe mit ihm darüber gespro-
chen.
(Ina Lenke [FDP]: Das mussten wir erst for-
dern vonseiten der Opposition! Sonst hätte der Politik kann ganz konkret sein. Daher frage ich mich,
Staatssekretär nichts gesagt! Genauso war es!) Herr Kollege Gehring, warum Sie vor dem Hintergrund
dessen, was in Emsdetten passiert ist und uns alle
Eines fand ich ganz besonders spannend. Diejenigen,
schockiert hat, von vornherein – quasi im Stile eines
die in diesem Hohen Hause Krokodilstränen über die
pawlowschen Reflexes – ein Verbot von Killerspielen
Kürzungen im Bereich der Zivildienstschulen vergießen,
ausschließen. Ich teile hier die Einschätzung des Kolle-
sind gleichzeitig diejenigen, die uns mit Parteitagsbe-
gen Fricke. Wenn wir das verbieten würden, hätten wir
schlüssen gegen die Wehrpflicht im Nacken sitzen und
noch keinen Beitrag dazu geleistet, dass sich Ereignisse
hier gegen Wehrpflicht und Zivildienst argumentieren.
wie das in Emsdetten nicht wiederholen. Da sind wir uns
(Ina Lenke [FDP]: Herr Dörflinger!) sicherlich einig.
Das passt einfach nicht zusammen. (Ina Lenke [FDP]: Sind Sie jetzt für die Killer-
spiele?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
– Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe mich auf
Wenn wir Ihre Parteitagsbeschlüsse in diesem Hohen
Herrn Gehring bezogen, nicht auf Herrn Fricke. Ich teile
Hause umgesetzt hätten, dann gäbe es den Wehrdienst
ausdrücklich, was Herr Fricke gesagt hat.
nicht mehr, dann gäbe es den Zivildienst nicht mehr und
die dazugehörigen Schulen gäbe es auch nicht mehr. Wir sollten aber zumindest ins Kalkül ziehen, ob ein
Verbot der Herstellung und der Weitergabe dieser Spiele
(Sibylle Laurischk [FDP]: Es gibt keine Wehr-
möglicherweise einen Beitrag dazu leisten könnte, Er-
gerechtigkeit mehr, Herr Dörflinger!)
eignisse wie diese zu verhindern. Wenn wir das von
Deswegen appelliere ich an Sie: Machen Sie eine Politik vorneherein ausschließen, leisten wir sicher keinen Bei-
aus einem Guss! Bleiben Sie bei Ihren Beschlüssen, aber trag.
6464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Thomas Dörflinger
(A) Ich lade Sie alle ein, diese Frage, über die wir in der zwischen Opposition und Regierung wieder sehr deut- (C)
letzten Legislaturperiode schon einmal diskutiert haben, lich: Die Opposition – das sage ich an die linke Seite
noch einmal vorurteilsfrei in den Blick zu nehmen, nicht dieses Hauses – stellt ihren Wunschkatalog vor, äußert
nur, aber auch vor dem Hintergrund der Ereignisse von sich aber nicht dazu, woher die Milliardenbeträge, die
Emsdetten. Wir sollten darüber nachdenken, ob es mög- Sie einfordern, kommen sollen, und Ekin Deligöz sagt,
licherweise nicht doch Sinn macht, zusammen mit den wir ließen die Familien im Stich.
Bundesländern über ein Verbot der Herstellung und Wei-
tergabe dieser Spiele nachzudenken; Natürlich muss man so etwas sagen, wenn man in der
Opposition ist. Aber die Wahrheit ist, dass wir heute
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) über einen Haushalt beraten, der tatsächlich den Schwer-
eine solche Initiative ist bereits vom Bundesland Nieder- punkt unserer Politik widerspiegelt, einer Politik, die
sachsen bzw. vom dortigen Innenminister in den Bun- Hilfe anbietet und die Familien nicht im Stich lässt.
desrat eingebracht worden. Ich glaube, das sind wir den Durch unsere Politik bieten wir Familien, Kindern, Ju-
Bürgerinnen und Bürgern schuldig, da sie von der Politik gendlichen, Frauen und natürlich auch Seniorinnen und
nicht nur Betroffenheitsrhetorik, sondern auch eine kon- Senioren Hilfe an. Diese Hilfe lassen wir uns – das wird
krete Antwort auf diese Frage erwarten. sehr deutlich – etwas kosten. Die für diesen Einzelplan
zur Verfügung gestellten Mittel steigen um 16,8 Prozent.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich betone ganz bewusst den Begriff „Hilfe“. Denn in
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, der mich den letzten Wochen und Monaten wurde sehr häufig ein-
überrascht und zugleich gefreut hat. Ich habe mit gro- gefordert, Verhaltensänderungen bei Familien insbeson-
ßem Interesse zur Kenntnis genommen, dass der Minis- dere über Sanktionen einzuklagen und gesetzliche Rege-
terpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und geschätzte lungen in den Vordergrund zu rücken. Das war vor allen
Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- Dingen dann der Fall, wenn es darum ging, Vernachläs-
lands, Kurt Beck, vor wenigen Tagen gesagt hat, er er- sigungen und Misshandlungen von Kindern in ihren Fa-
warte, dass der Deutsche Bundestag bzw. die Bundes- milien zu verhindern.
regierung im Verlauf dieser Legislaturperiode – sprich:
bis zum Jahre 2009 – eine gesetzliche Neuregelung zur Insbesondere die Kürzung des Kindergeldes ist immer
Spätabtreibung trifft. wieder als Sanktionsinstrument ins Spiel gebracht wor-
den; Herr Singhammer hat das schon gesagt. Natürlich
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ich ebenso finden wir diesen Vorschlag nicht gut. Denn das Kinder-
wie Johannes Singhammer, Ilse Falk, Maria Eichhorn geld ist eine familienfördernde Maßnahme. Eine Strei-
und viele andere zu denjenigen gehört habe, die sich chung des Kindergeldes würde insbesondere für die Be-
(B) nicht erst in der letzten, sondern schon in der vorvorletz- zieher geringer Einkommen eine soziale Ungerechtigkeit (D)
ten Legislaturperiode mit diesem Thema beschäftigt ha- bedeuten. Das wollen wir alle nicht.
ben
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thomas
(Ina Lenke [FDP]: Wir aber auch, Herr Kol- Dörflinger [CDU/CSU])
lege! Wir alle haben das getan!)
Es ist gut, dass dieser Haushalt einen anderen
– ja, Sie auch –, und wir alle um den Stand der gegen-
Schwerpunkt setzt. Es geht um Hilfe statt um Strafe und
wärtigen Beratungen wissen, stellt sich mir allerdings
Zwang. Wir wollen den Menschen helfen und sie nicht
die Frage – vielleicht kann sie im Verlauf dieser Debatte
ausgrenzen. Die gestrige Anhörung zum Thema Rechts-
noch beantwortet werden –: Wer war eigentlich der
extremismus hat deutlich gemacht: Wir müssen die Kin-
Adressat dieser Meinungsäußerung von Kurt Beck?
der und Jugendlichen ernst nehmen, sie annehmen und
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn es in anderen stark machen. Das ist die beste Basis für Toleranz und
Fraktionen zu diesem Thema noch Beratungsbedarf gibt, Demokratie.
räume ich Ihnen die Möglichkeit zur Beratung gerne ein.
Aber wenn der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Dafür können wir Gott sei Dank 19 Millionen Euro
durch seine Einlassungen dazu beitragen wollte, dass wir pro Jahr zur Verfügung stellen, darüber hinaus 5 Millio-
schon in naher Zukunft zu einer Lösung dieses Problems nen Euro für langfristige Beratungsnetzwerke. Das ist
kommen, dann bin ich ihm dafür ausdrücklich dankbar. gut so. Denn zu helfen, Kinder und Jugendliche stark zu
machen, ist die beste Basis für Gewaltprävention. An
Herzlichen Dank. dieser Stelle will ich kurz auf die gestrigen Vorkomm-
(Beifall bei der CDU/CSU) nisse eingehen, die uns natürlich erschüttert haben. Die
Forderung, Killerspiele zu verbieten, ist wieder der
schnelle Ruf nach einer gesetzlichen Lösung. Doch alle,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die das fordern, sollten einmal einen Blick ins Strafge-
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin setzbuch werfen: § 131 verbietet Killerspiele. Rot-Grün
Christel Humme, SPD-Fraktion. hat in der letzten Legislaturperiode das Gesetz an dieser
Stelle verschärft, damit auch Computerspiele erfasst
Christel Humme (SPD): werden können, damit Strafen ausgesprochen werden
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nachdem wir können, von bis zu einem Jahr Gefängnis. Das ist gel-
mittlerweile zwei Stunden lang eine intensive Debatte tende Rechtslage. Deswegen ist die erhobene Forderung
über die Familienpolitik geführt haben, wird das Spiel nicht angemessen. Es geht vielmehr darum, Kinder und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6465
Christel Humme
(A) Jugendliche zu stärken und ihnen mehr Medienkompe- wollen. Wir haben von verschiedenen Seiten gehört (C)
tenz zu vermitteln. Auch das gehört dazu, wenn wir wol- – auch heute wieder –, dass jetzt in den Kommunen
len, dass Kinder stark sind und keine Gewalt anwenden. mehr Betreuungsplätze geschaffen werden müssen.
Der soziale Wandel stellt Eltern vor große Probleme, (Ina Lenke [FDP]: 1,5 Milliarden Euro von
viele fühlen sich überfordert. Wir alle – Kommunen, Hartz IV!)
Länder und Bund – sind aufgefordert, Familien bei ihrer – Natürlich, die Kommunen brauchen dafür unsere Un-
Erziehungsleistung zu unterstützen, ihnen früher aufsu- terstützung. Wir geben sie über die 2,5 Milliarden Euro
chende Hilfe zu gewähren. Die Entwicklung des Früh- Einsparvolumen bei Hartz IV,
warnsystems ist ein wichtiger Schritt, um all die Aktivi-
täten zu unterstützen, die in den Bundesländern bereits (Ina Lenke [FDP]: Bis jetzt ist gar nichts ange-
existieren. Insgesamt 10 Millionen Euro werden in den kommen!)
nächsten Jahren dafür zur Verfügung gestellt. indem sich der Bund jetzt stärker an den Unterkunftskos-
Neben der bereits erwähnten Anhörung gab es gestern ten beteiligt. Hinzu kommen Steuermehreinnahmen von
4 Milliarden Euro in diesem Jahr und – Herr
eine weitere Anhörung, nämlich der Kinderkommission
Singhammer hat Recht – ein Sparpotenzial durch die
zum Thema „Kinderrechte in die Verfassung“. Dabei hat
rückgängigen Geburtenraten. Die frei werdenden Mittel
sich die Mehrheit der Sachverständigen dafür ausgespro-
können neu eingesetzt werden.
chen, das Grundgesetz zu ändern und Kinderrechte in
die Verfassung aufzunehmen. Das ist nicht verwunder- Das wird langfristig aber nicht reichen. Wir haben die
lich. Art. 6 des Grundgesetzes begründet bereits ein star- Aufgabe, alle familienpolitischen Leistungen daraufhin
kes Recht für Eltern. Kinder haben ein solches starkes zu überprüfen, ob sie bei den Familien und bei den Kin-
Recht nicht. Bedeutet das, Kinder müssen Eltern, die dern wirklich ankommen und ob sie auch in die Bildung
sich nicht um ihre Entwicklungschancen kümmern, hin- investiert werden. Ich denke, wir sollten darüber nach-
nehmen? Werden Eltern zum Schicksal ihrer Kinder? Es denken, ob eine zusätzliche Erhöhung des Kindergeldes
scheint so. Denn in keinem anderen Land bestimmt die der richtige Weg ist oder ob nicht in der Tat mehr in die
Herkunft so sehr den Bildungserfolg wie in Deutschland. Infrastruktur investiert werden muss. Mit dieser Aufgabe
Wir werden diskutieren müssen in den nächsten Mona- werden wir uns in den nächsten Monaten zu beschäfti-
ten und im nächsten Jahr, ob eine Grundgesetzänderung gen haben.
die bestmögliche Förderung unserer Kinder – von An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
fang an, mit gleichen Chancen – befördern kann. Wird CDU/CSU und der Abg. Ina Lenke [FDP])
der Staat dann sein Wächteramt noch ernster nehmen
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, der Haushalt ist
(B) müssen? Käme den Jugendämtern eine noch wichtigere ausgewogen. Dies zeigen die Hilfen für die Familien, die (D)
Rolle im Hinblick auf das Kindeswohl zu? Ich meine, Ja.
Kinder haben Rechte, und die gehören ins Grundgesetz. Kinder, die Jugendlichen, die Senioren und natürlich
auch die Frauen. Ich glaube, wir haben ein gutes Stück
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeit geleistet.
der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Danke schön.
Leider wachsen zunehmend viele Kinder vereinzelt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
auf, Familien sind häufig isoliert, das selbstverständliche
Erlernen sozialer Kompetenz findet nicht statt, schon gar
nicht in Familienzusammenhängen. Das Erfahrungswis- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
sen der älteren Menschen erreicht die jungen nicht mehr. Ich schließe die Aussprache.
Das Konzept der Mehrgenerationenhäuser kann hier eine Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-
Lücke füllen und einen weiteren Beitrag leisten, Fami- plan 17 – Bundesministerium für Familie, Senioren,
lien zu unterstützen. Für diese Hilfe sind langfristig Frauen und Jugend – in der Ausschussfassung. Hierzu
98 Millionen Euro im Haushalt angesetzt. liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke
vor, über die wir zuerst abstimmen.
Der Einzelplan 17, um den es heute in der zweiten
und dritten Lesung geht, trägt die Handschrift der Hilfe Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
und Unterstützung für Familien und gibt damit eine ein- sache 16/3459? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
deutige Zukunftsperspektive für Eltern und ihre Kinder, Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der Frak-
vor allem für die jungen Männer und Frauen, die Familie tion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses
und Beruf vereinbaren wollen. Für sie gibt es – das ha- abgelehnt.
ben wir heute schon in mehreren Reden gehört – ab dem Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
1. Januar 2007 das Elterngeld. Mindestens 700 Millio- sache 16/3460? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
nen Euro stehen hierfür Jahr für Jahr zu Verfügung. Das Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls gegen die Stimmen
ist gut investiertes Geld. Denn es sichert nicht nur den der Linken mit den Stimmen des übrigen Hauses abge-
Lebensstandard der Familien im ersten Lebensjahr des lehnt.
Kindes, sondern bedeutet auch einen weiteren Schritt zur
Gleichstellung der Frauen und Männer, die Familie und Wer stimmt für den Einzelplan 17 in der Ausschuss-
Beruf vereinbaren wollen. Wir haben das Elterngeld be- fassung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
wusst auf ein Jahr angelegt, weil wir den anschließenden Einzelplan 17 ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge-
Wiedereinstieg in den Beruf möglichst einfach machen genstimmen der Opposition angenommen.
6466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) Ich rufe auf: Beflügelt durch die positive Steuerschätzung wollen (C)
Sie jetzt 1 Milliarde Euro zusätzlich aus Steuermitteln in
Einzelplan 15 die gesetzliche Krankenversicherung pumpen. Eine so-
Bundesministerium für Gesundheit lide Gegenfinanzierung gibt es nicht. Ihr Vorschlag,
– Drucksachen 16/3114, 16/3123 – diese Mehrausgaben teilweise durch eine globale Min-
derausgabe aufzufangen, ist unseriös und deckt zudem
Berichterstattung: gerade die Hälfte des Betrages.
Abgeordnete Ewald Schurer
Norbert Barthle (Beifall bei der FDP)
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch Diese 1 Milliarde Euro belastet den Haushalt, zeigt
Anja Hajduk aber ansonsten kaum Wirkung. Denn Beitragssatzsteige-
rungen werden dadurch letztendlich nicht vermieden.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion 1 Milliarde Euro hilft der GKV nur minimal und vor al-
der FDP sowie zwei Änderungsanträge der Fraktion Die len Dingen auch nur einmalig. Statt ein nachhaltiges
Linke vor. Konzept zur langfristigen Finanzierung der GKV vorzu-
legen, schlingert die Regierung weiter auf ihrem Zick-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zackkurs.
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Zickzack wäre
immerhin ein Kurs!)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dr. Claudia Winterstein, FDP-Fraktion. Geld, das als Einmaleffekt in das Gesundheitssystem
(Beifall bei der FDP) fließt, ist doppelt schädlich. Erstens wird der Druck ge-
senkt, das System nachhaltig zu reformieren, und zwei-
tens wird dadurch das strukturelle Haushaltsdefizit
Dr. Claudia Winterstein (FDP): noch erhöht. Dabei sind wir uns doch – zumindest unter
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und den Haushältern – einig, dass konjunkturell gute Zeiten
Herren! Die aktuelle Debatte um die Gesundheitsreform zur Haushaltskonsolidierung genutzt werden müssen.
lässt mich an einen Ausspruch des geschätzten Altkanz- Das sieht auch Ihr Chef Kurt Beck so, liebe Kolleginnen
lers Helmut Schmidt denken. Er sagte: und Kollegen von der SPD-Fraktion. Ich zitiere aus sei-
ner Rede beim Arbeitgebertag am 7. November:
Nicht alle Reformen kosten Geld, und nicht alles,
(B) was Geld kostet, ist deshalb schon eine Reform. Man kann nicht Mehreinnahmen, die dem Staat (D)
(Beifall bei der FDP) allein aufgrund konjunktureller Entwicklungen zu-
sätzlich zur Verfügung stehen, für dauerhafte Aus-
Frau Ministerin, treffender könnte man Ihren Entwurf gaben verwenden. Damit wird ein neues Haushalts-
nicht bewerten. Sie haben ein Gesetz vorgelegt, das mit risiko geschaffen.
einer sinnvollen Gesundheitsreform wirklich nichts
mehr zu tun hat. Nur eines ist sicher: Das, was Sie Re- (Beifall bei der FDP)
form nennen, wird sehr viel Geld kosten. Zahlmeister Recht hat er.
sind wie immer die Patienten. Schon 2007 wird es satte
Beitragssatzsteigerungen in der gesetzlichen Kranken- Außerdem lassen Sie offen, wie die zusätzliche 1 Mil-
versicherung geben. Trotz des um 1 Milliarde Euro er- liarde Euro genutzt werden soll. Ist das der Einstieg in
höhten Steuerzuschusses werden den Krankenkassen zur die Kindermitversicherung aus Steuermitteln oder sollen
Deckung ihrer Ausgaben über 6 Milliarden Euro fehlen. mit dem Geld weiter versicherungsfremde Leistungen fi-
Das bedeutet einen Rekordbeitrag von 15 Prozent und nanziert werden? Die Äußerungen und Anträge aus der
mehr. Damit aber nicht genug! In den Anhörungen des Koalition waren im Haushaltsausschuss
Gesundheitsausschusses hieß es, dass der Beitrag bis
2009 sogar auf 16 Prozent und darüber hinaus steigen (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ausgespro-
könnte. chen präzise!)

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das war vor der äußerst widersprüchlich.


Erhöhung um 1 Milliarde Euro!) Nach einigem Hin und Her begründen Sie die Erhö-
Noch stärker betroffen sind die Mitglieder der priva- hung nun mit „Aufwendungen für gesamtgesellschaftli-
ten Krankenkassen, die sich dank Ihres faulen Kompro- che Aufgaben“. Wenn das bedeuten soll, dass Sie die im
misses auf deutlich höhere Prämien einstellen müssen. Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform vorgesehene Kin-
dermitversicherung für GKV-Mitglieder vorziehen
(Jella Teuchner [SPD]: Oh, die Armen!) wollen, dann stehen Sie mit dem Grundgesetz im Konf-
Erhöhung der Krankenkassenbeiträge, Erhöhung der likt. Denn dann müssen Sie auch die Privatversicherten
Rentenbeiträge – hier kommt es also zu keiner Absen- mit einbeziehen.
kung der Arbeitskosten. Durch die Mehrwertsteuererhö- (Beifall bei der FDP)
hung tun Sie das Übrige zur Kostenexplosion im Ge-
sundheitswesen. Eine Ungleichbehandlung wäre verfassungswidrig.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6467
Dr. Claudia Winterstein
(A) Auch Finanzminister Steinbrück windet sich mit Wor- einen faulen Kompromiss zwischen Bürgerversicherung (C)
ten. Im Interview mit der „Welt am Sonntag“ kündigt er à la SPD und Kopfpauschale à la CDU zu finden. Beim
an, bis 2008 die allgemeinen Zuschüsse zu beenden und Anhörungsmarathon im Gesundheitsausschuss haben
im Gegenzug 2007 in die Kindermitversicherung einzu- Sie dann noch hören müssen, dass Ihre Reformen in al-
steigen. Welche Maßnahmen Sie wann planen, wissen len Kernpunkten falsch sind. Da nutzt es auch nichts,
Sie offenbar selbst noch nicht richtig. noch einmal an einigen Details herumzudoktern.
(Beifall bei der FDP) Für die Koalition bedeutet die Gesundheitsreform das
politische Überleben. Aber für 82 Millionen Bürger be-
Im Übrigen ist bei der Koalition völlig unklar, wie Sie deutet diese Reform eine schlechtere Versorgung zu hö-
lang- und mittelfristig die Kindermitversicherung aus heren Preisen.
Steuermitteln finanzieren wollen, die 16 Milliarden Euro
pro Jahr kosten wird. Die bisherigen GKV-Zuschüsse, Vielen Dank.
die eigentlich über die Tabaksteuer fließen sollten, wa- (Beifall bei der FDP)
ren schon auf Pump finanziert. Insofern ist die Frage be-
rechtigt, wie Sie in Zukunft eine solide Finanzierung si-
cherstellen wollen. Bisher sind Sie völlig planlos. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Ewald Schurer, SPD-
Ihre Vorhaben werden viel Geld kosten. So viel steht Fraktion.
fest. Von einer Reform hingegen sind Sie noch immer
weit entfernt. Das macht Ihr 582 Seiten starkes Papier- (Beifall bei der SPD)
monster, das Sie „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs
in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ nennen, deut- Ewald Schurer (SPD):
lich. Sie haben seltsame Vorstellungen darüber, was Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und
Wettbewerb bedeutet. Kollegen! Trotz aller kritischen Erwägungen betreffend
den Entwurf einer Gesundheitsreform gibt es eine un-
In der Wirtschaft definiert man den Nutzen von Wett- eingeschränkt gute Nachricht. Die Zahl der voll sozial-
bewerb als die Bereitstellung von bedarfsgerechten An- versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in
geboten an Gütern und Dienstleistungen zu möglichst Deutschland ist im Laufe dieses Jahres auf nunmehr
niedrigen Preisen. Genau das wird aber durch den ein- 26,5 Millionen angestiegen. Das ist gut für die Men-
heitlichen Dachverband der GKV und erst recht durch schen. Das erfreut die Regierung und sicherlich auch
die Festsetzung der Beiträge durch das Ministerium ver- die Opposition, liebe Kollegin Winterstein. Es geht da-
hindert. rum, diesen Trend zu verstetigen.
(B) (Beifall bei der FDP) (D)
Wir alle wissen, dass die Ausgaben im Gesundheits-
Die Krankenkassen können ihren Versicherten eben system in den letzten Jahrzehnten unter allen Regierun-
keine bedarfsgerechten Angebote unterbreiten. Von gen deutlich angestiegen sind. So sind die Ausgaben der
niedrigen Beiträgen kann schon jetzt keine Rede mehr gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung ein-
sein. schließlich Beihilfen und Zuzahlungen von 163 Milliar-
den Euro im Jahre 1992 auf nunmehr über 240 Milliarden
Mit dem Gesundheitsfonds bauen Sie eine neue um- Euro angewachsen. Die sozialversicherungspflichtigen
ständliche und überflüssige Bürokratie auf. Die Transpa- Einkünfte hingegen sind deutlich langsamer gewachsen
renz sinkt und die Kosten steigen. Fazit: Ihr Gesetz als zum Beispiel Kapitalerträge und Unternehmensein-
würgt den Wettbewerb im Gesundheitswesen ab, statt künfte. Das heißt, die beitragspflichtigen Einnahmen des
ihn zu stärken. Sie verhindern das notwendige Umsteu- Gesundheitswesens sind unterhalb der Entwicklung des
ern in Richtung eines freiheitlichen Gesundheitswesens. Bruttoinlandsproduktes geblieben. Eine bedenkliche
Stattdessen gehen Sie den Weg in eine staatliche Ein- Entwicklung! Entscheidend hierfür war die Tatsache,
heitsmedizin. Der Sachverständigenrat zur Begutach- dass wir in den letzten zehn Jahren eine zu hohe Arbeits-
tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat Ihren losigkeit und zu gering gestiegene Löhne bei gleichzeiti-
Fonds sogar als „Missgeburt“ bezeichnet. Das ist hart, gem Rückgang der Zahl der voll sozialversicherungs-
aber korrekt. pflichtigen Beschäftigten zu verzeichnen hatten. Das ist
die grundlegende Problematik, die wir bei der anstehen-
Leider haben Sie kein Interesse an der Meinung von den Reform zu berücksichtigen haben. Umso besser ist
Experten. Sie stellen sich einfach taub. die momentane Entwicklung, ausgelöst durch Impulse
von Rot-Grün und manifestiert von der jetzigen Regie-
Frau Ministerin, Sie haben hier im Deutschen Bun-
rung. Es ist wieder ein Aufwuchs bei der Beschäftigung
destag gesagt: Ich bitte Sie, in den kommenden Wochen
zu verzeichnen.
mit uns über diesen Gesetzentwurf zu diskutieren. – Die
Art und Weise, wie Sie Ihre Reformen durchpauken wol- Auf der Ausgabenseite haben ohne Zweifel der
len, hat aber nichts mehr mit Diskussionskultur zu tun. medizinische Fortschritt und die deutlichen Ausgaben-
Sie kennen ja die Kritik der Patientenverbände, der steigerungen bei den Arzneimitteln, aber auch die Mehr-
Krankenkassen und aller anderen Organisationen aus ausgaben bei den Krankenhäusern sowie die Über-
dem Gesundheitsbereich. Sie wissen, dass 90 Prozent schneidungsprozesse bei den ambulanten und den
der Bevölkerung Ihre Pläne ablehnen. Aber Sie haben stationären Leistungsangeboten zu deutlichen Kosten-
sich stur gestellt und über die Kritik hinweggesetzt, um steigerungen im System geführt. Dieser Entwicklung
6468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Ewald Schurer
(A) hat sich die Gesundheitsreform zu stellen. Dass dabei sen, wenn die PKV – das war unser sozialdemokrati- (C)
künftig Versicherungsschutz für alle Menschen besteht, scher Wunsch und wird es auch bleiben – voll in den
damit der Zugang zu medizinischen Leistungen für alle Einkommensausgleich einbezogen worden wäre
Menschen sichergestellt werden soll, dass die Wahlmög-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es wäre doch
lichkeiten der Versicherten ausgebaut werden und – das nichts gespart worden!)
ist wichtig – dass das Sachleistungsprinzip als Grundsatz
erhalten bleibt, begrüße ich außerordentlich. Das ist ein sowie Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungs-
Gewinn für die betroffenen Menschen, gilt es doch, ent- pflichtgrenze um je 300 Euro angehoben worden wären.
standene Armut in dieser Gesellschaft gezielt zu be- Leider konnten wir an der Stelle vom Koalitionspartner
kämpfen und möglichst viele Menschen in Arbeit zu noch keine Zustimmung erreichen.
bringen bzw. an der Wertschöpfung der Volkswirtschaft (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das sind doch
zu beteiligen. keine Sparvorschläge!)
Hinzu kommt, dass künftig Eltern-Kind-Kuren, ge- Ich bin optimistisch, dass das in der Zukunft nachgeholt
sundheitlich notwendige Impfungen, die geriatrische Re- werden kann.
habilitation und eine umfassende Palliativversorgung in
den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversiche- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
rungen aufgenommen werden. Dies ist gesundheitspoli- Der schrittweise Aufbau einer steuerfinanzierten
tisch notwendig und sinnvoll. Säule in der GKV wurde innerhalb der Koalition eben-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer zahlt das? falls sehr unterschiedlich beurteilt. Ein solches Projekt
Wo ist die Gegenfinanzierung? 1,2 Milliarden ist nach meiner Meinung dann sinnvoll, wenn die Aufga-
Euro!) ben, deren Übernahme als gesellschaftspolitisch notwen-
dig erachtet wird, exakt definiert sind. Es geht also um
– Hören Sie zu! Es ist auch für Sie erhellend. – Es stellt Aufgaben, welche die Politik den Kassen überträgt oder
sich allerdings die Frage – wir Haushälter müssen sie künftig übertragen wird, zum Beispiel die beitragsfreie
stellen –, ob und wie wir dies finanzieren können. Eine Mitversicherung der Kinder in der gesetzlichen Kran-
sinnvolle Begrenzung der Lohnnebenkosten ist wei- kenkasse. Im aktuellen Haushalt 2007 wird hierfür ne-
terhin eine notwendige Zielsetzung dieser großen Koali- ben den ursprünglich geplanten 1,5 Milliarden Euro nun
tion. zusätzlich 1 Milliarde Euro in das Kapitel 15 02 einge-
stellt.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Davon haben
Sie sich doch verabschiedet!) (Heinz Lanfermann [FDP]: Wovon denn?)
(B) Dabei sind die bereits angekündigten Beitragserhöhun- – Diese 1 Milliarde Euro wird seriös aus dem Steuerauf- (D)
gen der gesetzlichen Kassen sicherlich mit aller Ernst- kommen finanziert.
haftigkeit zu betrachten. Umso mehr richtet sich mein Diese Gesundheitsreform muss daran arbeiten, wei-
Blick, verehrte Kollegin Winterstein, auf die kostenredu- tere Effizienzgewinne zu heben. Erste Ansätze zur Stär-
zierenden Elemente in der vorliegenden Gesundheits- kung der integrierten Versorgung bei Schwerstkranken
strukturreform, müssen – kein Zweifel – ausgebaut werden. Vorteile er-
warte ich mir persönlich von der künftig konsequenten
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt sind wir
Umsetzung des Hausarztmodells durch die Kassen und
gespannt!)
einer entsprechend breiten Inanspruchnahme dieses Mo-
also auf die Teile Struktur- und Finanzreform. Man dells durch die Versicherten. Ich bin überzeugt, da könn-
muss zunächst einmal feststellen, dass das Arzneimittel- ten Hunderte von Millionen Euro – wenn nicht noch
versorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz, seit dem 1. Mai mehr – gespart werden. Von Bonusprogrammen, die auf
2006 in Kraft, über billigere Generika, über sinkende der regelmäßigen Vorsorge der Menschen aufbauen, ver-
Festpreise und beispielsweise durch manipulationsfreie spreche ich mir ebenfalls große Effizienzgewinne in der
Praxissoftware insgesamt Kostenvorteile in Höhe von Größenordnung von Hunderten von Millionen Euro.
knapp 1,5 Milliarden Euro erwirtschaften soll. Die Ge- Weitere Potenziale sehe ich auch darin, dass künftig
sundheitsreform selbst will die Effizienz im System stei- hoch spezialisierte Leistungen im Benehmen mit den
gern, Versichertenbeiträge künftig zielgenauer einsetzen Ländern ambulant auch an Krankenhäusern erbracht
und die Behandlungskette aus ambulanter Versorgung, werden können.
Krankenhausversorgung, Reha und Pflege besser mitei- Ganz zum Schluss möchte ich noch etwas zum zen-
nander verzahnen sowie die Wahlmöglichkeiten der Ver- tralen Instrument des Risikostrukturausgleiches sa-
sicherten entsprechend erweitern. Alleine dadurch soll gen. Er muss nach meiner Meinung so ausgestaltet sein,
ein Einsparvolumen von 1 Milliarde Euro generiert wer- dass er den Kassen ermöglicht, ihren Aufgaben samt den
den. Auch die Umstellung auf Höchstpreise, die Kosten- Erweiterungen des Leistungskataloges, wie jetzt be-
Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln oder die Verord- schlossen, gerecht zu werden. Ohne einen umfassenden
nung teurer Medikamente in speziellen Zentren sollen Morbiditätszuschlag wäre dies nicht möglich. Nur wenn
dazu führen, dass wir insgesamt gut 1,8 Milliarden Euro der RSA auch künftig einen hundertprozentigen Einnah-
über den Jahreszeitraum zusätzlich einsparen. meausgleich im Fonds sicherstellt, wird er den Namen
Risikostrukturausgleich auch verdienen.
Aus sozialdemokratischer Sichtweise wäre sicherlich
ein noch größeres Einsparpotenzial zu erschließen gewe- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6469
Ewald Schurer
(A) Das muss funktionieren, weil ich gar nicht daran denken dort ganz erhebliche Differenzen fest und verstehe inso- (C)
möchte, was es bedeutet, wenn die Kassen ernsthaft und fern Ihre Dankesarie am Ende Ihrer Rede nicht. Die Aus-
dauerhaft auf die Zusatzbeiträge zurückgreifen müssten. führungen widersprechen ein ganzes Stück dem, was in
Das würde nach meiner Meinung den Wettbewerb für dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz niedergeschrie-
die gesetzlichen Kassen, die Volkskassen, deutlich er- ben ist, und geben eher zu nachhaltigem Stirnrunzeln
schweren. Das möchte ich nicht. Es darf nicht passieren, Anlass als zu Dankesreden an Ihren Koalitionspartner.
dass gesetzliche Kassen als Volkskassen, die sie sind, Aber ich stelle anheim: Es ist Ihr gutes Recht, dies hier
zu tun.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was ist denn
eine Volkskasse?) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
dadurch Nachteile haben, dass sie in wirtschaftlich mit der Koalitionsvereinbarung vom 11. November 2005
schwierigen Regionen des Landes mehr Menschen, die ein ausdrückliches Bekenntnis zur Sicherung einer nach-
arbeitslos sind, ältere Menschen oder kränkere Ver- haltigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi-
sicherte versorgen müssen. Das darf nicht sein. cherung abgegeben. In dem uns vorliegenden Entwurf
zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2007
(Beifall bei der SPD) und im Finanzplan des Bundes für die Jahre 2006 bis
Der Haushalt 2007 und die mittelfristige Finanzpla- 2010 suche ich dazu vergebens die entsprechenden
nung bieten wenig Spielraum für Experimente, wie sie Grundlagen.
von der Opposition vorgeschlagen worden sind. Ganz im Sie sprechen davon, dass den Bürgerinnen und Bür-
Gegenteil, ich als Gesundheitshaushälter leite ab: Die Si- gern ein modernes und leistungsfähiges Gesundheitswe-
cherung der Sozialsysteme hängt entscheidend davon ab, sen mit hochwertiger Gesundheitsversorgung bereitge-
dass wir den Bundeshaushalt durch Entschuldung stabi- stellt wird, und weisen zu Recht darauf hin, dass dieser
lisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst aus der Sektor mit 4,2 Millionen Beschäftigten eine dynamische
Kombination von gezieltem Schuldenabbau und einer Wirtschaftsbranche ist. Nun könnten wohlmeinende
gesicherten Gegenfinanzierung für künftige Maßnahmen Bürger oder Bürgerinnen zu der Auffassung kommen,
im Gesundheitssystem ist es möglich, dass Sie dann auch alles tun werden, um dieses System
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das haben wir al- zu stabilisieren und mit einer nachhaltigen Finanzreform
les schon mal beim BMG gehört!) die dazu erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.
Leider weit gefehlt. Im Einzelplan 15 des Bundesminis-
mittel- und langfristig mit einer Steuerfinanzierungs- teriums für Gesundheit vermissen wir die dazu notwen-
funktion das Gesundheitssystem wirksam zu unterstüt- digen Schlussfolgerungen. Wir finden das genaue Ge-
zen und damit den Faktor Arbeit auch entsprechend zu genteil.
(B) (D)
entlasten.
Wir haben Sie schon vor Monaten durch Anfragen
Als Hauptberichterstatter möchte ich mich bei allen und durch Debattenbeiträge hier im Hause darauf auf-
Berichterstattern der Fraktionen, ganz besonders beim merksam gemacht, dass den gesetzlichen Krankenkassen
Unionskollegen Norbert Barthle, für die gute Zusam- im Jahre 2007 infolge der weitgehenden Beseitigung von
menarbeit bedanken, ebenso bei der Ministerin für die Urlaubs- und zum Teil auch von Weihnachtsgeldzahlun-
sehr guten Vorlagen aus dem Gesundheitsministerium gen sowie von Lohnkürzungen und von Kürzungen der
sowie beim Finanzministerium für die gute Kooperation Versicherungsbeiträge für Bezieher von Arbeitslosen-
und für die fachgerechte Unterstützung bei der Aufstel- geld I und II erhebliche Einnahmeverluste entstehen.
lung des Einzelplans 15, Gesundheit, für das Jahr 2007.
Wir haben Sie außerdem darauf hingewiesen, dass im
Herzlichen Dank. kommenden Jahr durch die Umsetzung der Arbeitszeit-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtlinie für Krankenhausärzte, durch die Erhöhung der
der CDU/CSU) Mehrwertsteuer, durch die zu erwartenden Ausgaben-
steigerungen bei Arzneien sowie durch weitere zusätzli-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: che Leistungen bei den Krankenkassen finanzielle Mehr-
Das Wort hat der Kollege Frank Spieth, Fraktion Die belastungen eintreten werden, ganz zu schweigen von
Linke. der Tatsache, dass Sie zukünftig den Krankenkassen
auch noch die Investitionen in den Krankenhäusern zu-
(Beifall bei der LINKEN) muten wollen.
Gleichzeitig kürzen Sie den Bundeszuschuss an die
Frank Spieth (DIE LINKE): Krankenkassen von 4,2 auf 1,5 Milliarden Euro. Zur Er-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe innerung: Dieser Bundeszuschuss stammt aus der im
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Schurer, es ist im- Jahre 2004 vorgenommenen Erhöhung der Tabaksteuer
mer wieder erfreulich, Ihnen als Haushälter beim Thema und sollte zur Finanzierung von Mutterschaftsleistungen
Gesundheitspolitik zu lauschen. Ich frage mich nur, ob eingesetzt werden.
das, was Sie hier in vielen Passagen richtigerweise sa-
gen, auch in Übereinstimmung zu bringen ist mit dem, Alles in allem entsteht den Krankenkassen im Jahre
was Ihr Koalitionspartner zur Gesundheitsreform gerade 2007 eine Finanzierungslücke von 10 bis 13 Milliarden
am Beispiel des Morbiditäts-, also des krankheitsorien- Euro. Immerhin 7 Milliarden Euro werden von Ihnen zu-
tierten Risikostrukturausgleichs gesagt hat. Ich stelle gegeben. Wir fragen uns, wie Sie diese Lücke schließen
6470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Frank Spieth
(A) wollen, die Sie zu einem ganz wesentlichen Teil zu ver- zwar ändern, aber die notwendigen Gelder dafür stellen (C)
antworten haben. Auf diese Fragen geben Sie mit Ihrem Sie auch in diesem Haushalt nicht bereit.
Haushaltsplan, den milliardenschweren Kürzungen und
Die Politik der Beitragserhöhungen, der Leistungs-
der Mehrwertsteuererhöhung die falsche Antwort.
ausgrenzungen und der Zuzahlungen, die schon unter
(Beifall bei der LINKEN) Helmut Kohl begonnen hatte und von Gerhard Schröder
fortgesetzt wurde, wird mit den aktuellen Maßnahmen
Ich habe an dieser Stelle schon mehrfach dazu aufge-
und dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz konsequent
fordert, dem deutschen Gesundheitswesen eine stabile
fortgesetzt. Sie versprechen zwar das Gegenteil. Aber
Finanzgrundlage zu geben. Aus meiner Sicht, meine Da-
die Anhörungen in den letzten Tagen haben die entsoli-
men und Herren von der großen Koalition: Fehlanzeige!
darisierenden und unsozialen Wirkungen des GKV-Wett-
Ihre konkrete Politik mit diesem Haushalt und mit dem
bewerbsstärkungsgesetzes eindeutig bestätigt.
uns vorliegenden GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
wird nur eines realisieren: die Versicherten mit einem Wir haben mit unseren Änderungsanträgen zum
Einkommen unter 3 562,50 Euro im Monat nachhaltig Einzelplan 15, Gesundheit, ein Sofortprogramm zur
über Beitragserhöhungen zur Kasse zu bitten. Finanzierung und Stabilisierung der gesetzlichen Kran-
kenversicherung gefordert. Wir wollen, dass die Einnah-
Wir haben in diesem Jahr Vorschläge gemacht, wie
meverluste, die Mindereinnahmen sowie die Mehrausga-
wir zu einer sozial gerechteren Finanzierung der Einnah-
ben im Jahre 2007 mit 7,95 Milliarden Euro zusätzlich
men kommen können. Wir, die Linke, wollen mit einer
ausgeglichen werden. Gleichzeitig erwarten wir, dass
solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung,
Sie die Entschuldung der gesetzlichen Krankenkassen in
die alle in Deutschland lebenden Menschen in der ge-
Höhe von 4,8 Milliarden Euro durch einen Bundeszu-
setzlichen Krankenkasse versichert, dafür Voraussetzun-
schuss aus den erhöhten Steuereinnahmen dem Einzel-
gen schaffen. Wir wollen, dass von allen Einkommensar-
plan 15 zuordnen. Uns reicht die – gnädig zugestande-
ten, also von Arbeits- und Vermögenseinkommen,
ne – 1 Milliarde Euro aus dem zusätzlichen Steuerauf-
Beiträge eingezogen werden und dass sie mit dem glei-
kommen nicht aus; denn Sie haben den Bundeszuschuss
chen Prozentsatz belastet werden.
vorher um 2,7 Milliarden Euro gekürzt. Ich bitte um Zu-
Damit könnten Überlastungen von Menschen mit ge- stimmung zu unseren Änderungsanträgen.
ringem Einkommen vermieden werden. Man müsste den
(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr
Gutverdienenden und den Vermögenden in dieser Ge-
[Münster] [FDP]: Das wird nichts!)
sellschaft allerdings Solidarität zur Finanzierung unseres
Gesundheitswesens abverlangen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(B) (Beifall bei der LINKEN) Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle, (D)
Nur so kann der alte Grundsatz in der gesetzlichen Kran- CDU/CSU-Fraktion.
kenversicherung erhalten werden, dass Gesunde für (Beifall bei der CDU/CSU)
Kranke, Junge für Alte und Reiche für Arme eintreten.
Das, meine Damen und Herren von der großen Koali-
Norbert Barthle (CDU/CSU):
tion, verlangt aber die Auseinandersetzung mit Privile-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
gien und mit den Privilegierten in dieser Gesellschaft.
Damen und Herren! Verehrte Frau Ministerin! Die jet-
Dazu haben Sie leider keinen Mut.
zige Debatte zeigt, dass mit der heutigen Lesung des
(Beifall bei der LINKEN) Einzelplans 15 die relativ aufgeregte Debatte um die Ge-
sundheitsreform noch nicht zu Ende sein wird. Um ein
Ich finde es skandalös, dass wir mehr und mehr auf
etwas relativierendes Licht darauf zu werfen, möchte ich
eine Dreiklassengesellschaft im Gesundheitswesen zu-
mit einem Zitat in meine Rede einsteigen:
steuern. Privatpatienten erhalten in den Krankenhäusern
alle erforderlichen und zweckmäßigen Leistungen, wäh- Es ist nicht zu verkennen, dass für die Höhe der
rend gesetzlich Krankenversicherte zunehmend einge- Beiträge [in der gesetzlichen Krankenversicherung]
schränkte Leistungen erhalten. So ist jedenfalls die Aus- einmal eine Grenze gegeben ist, die aus volkswirt-
sage vieler Klinikärzte. Privatversicherte erhalten bei schaftlichen und psychologischen Gründen nicht
vielen niedergelassenen Ärzten vorrangig Termine, wäh- überschritten werden sollte. So scheint mir, bleibt
rend gesetzlich Krankenversicherte zum Teil monatelang nur der Weg, durch eine Entlastung der Kranken-
auf einen Facharzttermin warten müssen. versicherung von Bagatellfällen einerseits die Kas-
sen in die Lage zu versetzen, bei lang andauernden
Aber damit nicht genug: Zuzahlungsregelungen,
und schweren Krankheiten wirksam zu helfen, an-
Krankenhaustagegeld, Eintrittsgebühren bei Ärzten ha-
dererseits die Beitragsbelastung in vernünftigen
ben die verhängnisvolle Wirkung, dass immer mehr
Grenzen zu halten.
Menschen von der gesundheitlichen Versorgung abge-
hängt werden. Langzeitarbeitslose, die keinen Anspruch Von wem stammt das wohl? Von Horst Seehofer? Von
auf Arbeitslosengeld II haben, werden aufgefordert, sich Ulla Schmidt? Nein, weit gefehlt! 1958 stellte der dama-
privat zu versichern, ohne zu wissen, woher sie das dafür lige Arbeitsminister Theodor Blank fest, dass wir eine
erforderliche Geld nehmen sollen. Zehntausende sind umfassende Reform der gesetzlichen Krankenversiche-
auf diese Art und Weise aus dem Schutz der gesetzlichen rung brauchen, bei eigentlich genau den gleichen Voraus-
Krankenversicherung herausgefallen. Dies wollen Sie setzungen wie heute, allerdings unter anderen Gegeben-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6471
Norbert Barthle
(A) heiten: So lag das Wirtschaftswachstum bei 5 Prozent, Der Zuschuss in Höhe von 4,2 Milliarden Euro für die (C)
überschuldete Haushalte waren Fremdworte usw. versicherungsfremden Leistungen sollte auf 1,5 Milliar-
den Euro gekürzt werden, wird jetzt aber um eine zusätz-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Den können liche Milliarde auf 2,5 Milliarden Euro angehoben. Dies-
wir, glaube ich, nicht mehr reaktivieren!) bezüglich gab es viel Kritik in der Öffentlichkeit; diesbe-
Was lernen wir daraus? Ich glaube, diese große Koali- züglich gab es viel Kritik vonseiten der Opposition. Die
FDP kommt ständig darauf zu sprechen. Noch heute früh
tion hat aus den bisher gemachten Erfahrungen gelernt
hat die Kollegin Hajduk von den Grünen von einem
und eine Reform vorgelegt, die unser Gesundheitssys-
Zickzackkurs und Herumgeeiere geredet.
tem grundlegend erneuert und es damit zukunftsfester
macht sowie für mehr Transparenz, mehr Effizienz und (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mehr Wettbewerb steht. Deshalb kann sich diese Reform NEN]: Damit hat sie auch Recht!)
sehen lassen.
Auch der Sachverständigenrat hat sich ähnlich eingelas-
Liebe Kollegin Winterstein, an dieser Stelle möchte sen. Lassen Sie mich deshalb noch einmal in aller Ruhe
ich der FDP empfehlen, eine ordnungspolitische Debatte einen Blick auf die Faktenlage werfen; dann relativiert
anzustrengen. Ich bin bisher immer davon ausgegangen, sich vielleicht manches wieder.
dass Sie von der FDP für mehr Wettbewerb sind. Des- Rot-Grün hat diese Zuschüsse 2004 mit möglichen
halb verstehe ich jetzt nicht, weshalb die FDP gegen Mehreinnahmen aus der Tabaksteuer verknüpft und
diese Gesundheitsreform ist. Vielleicht machen Sie sich versprochen, diese Mehreinnahmen den GKVen als Zu-
einmal schlau, was der Vorstandsvorsitzende der BKK in schüsse zukommen zu lassen.
Deutschland, Ralf Sjuts, am vergangenen Sonntag in
„Sonntag Aktuell“ geschrieben hat. Er sagt: (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir waren schlau genug, das nicht zu
Mit dieser Gesundheitsreform wird es für die Versi- verknüpfen!)
cherten langfristig durch den Wettbewerb qualitativ
bessere Leistungen und zu günstigeren Preisen ge- Dieser Schuss ging zugegebenermaßen nach hinten los.
Wie sah es nämlich aus? 2003 hatten wir Tabaksteuer-
ben.
einnahmen in Höhe von 14 Milliarden Euro. Nach der
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Welchen Wett- Tabaksteuererhöhung waren es gerade noch 13,6 Mil-
bewerb?) liarden Euro. In den Folgejahren lagen die Einnahmen
immer um 2 bis 3 Milliarden Euro niedriger als erwartet.
Das ist die Leistung des Wettbewerbs, sehr verehrte Frau So werden sie auch 2007 über 3 Milliarden Euro niedri-
Kollegin Winterstein. Warum die FDP dagegen ist, ger liegen als erwartet. Wir machen also nichts anderes,
(B) werde ich wohl mein Leben lang nicht verstehen. (D)
als zu den Prinzipien der Haushaltswahrheit und Haus-
haltsklarheit zurückzukehren, indem wir diese Fehlein-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie sollten das schätzung der Vergangenheit korrigieren und den Etat
Gesetz einmal lesen, Herr Kollege Barthle! – wieder auf ordentliche Beine stellen.
Gegenruf von der SPD: Das war selbst Ihrer
unwürdig, Herr Kollege!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es scha-
det dem Ansehen der Politik insgesamt nicht, wenn wir
Zu den fachpolitischen Auseinandersetzungen möchte eine Fehleinschätzung eingestehen und dann die richti-
ich mich nicht vertiefend äußern, sondern jetzt als Haus- gen Schlüsse ziehen und diese Fehleinschätzung korri-
hälter reden. Nach Abzug des durchlaufenden Postens an gieren. Deshalb sage ich an dieser Stelle auch an die
die GKV verbleiben rund 425 Millionen Euro für den Krankenkassen: Ich wäre froh, wenn endlich dieses La-
Gesundheitsetat. Das ist in Relation zum Gesamthaushalt mentieren darüber aufhören würde, dass aufgrund der
relativ wenig. Dennoch hebt sich dieser Etat für 2007 et- Absenkung der Steuerzuschüsse jetzt die Beiträge erhöht
was von den früheren ab. Das liegt schlicht und einfach werden müssen, damit die 1,5 Milliarden Euro zur Ver-
daran, dass ein Erweiterungsneubau in der Rochusstraße fügung gestellt werden können.
vorgesehen ist, der allein 16 Millionen Euro verschlingt.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Im Rahmen eines Gesamtkontextes werden wir sicher-
NEN]: Sie wollten doch die Lohnnebenkosten
lich noch länger darüber diskutieren, wie wir damit ver-
senken und nicht erhöhen!)
fahren. Mein Kollege Fromme hat heute Vormittag schon
darauf hingewiesen, dass wir Haushälter die Debatte be-
züglich der Dependancen in Bonn und der Einrichtungen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
hier in Berlin angestoßen haben. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bahr?
Zurück zum Haushalt: Der Gesamtetat des Einzel-
plans 15 umfasst 2,9 Milliarden Euro. Der Zuschuss für Norbert Barthle (CDU/CSU):
die GKV wird jetzt richtigerweise als Zuschuss für die Aber immer, gerne.
gesamtgesellschaftlichen Aufgaben der gesetzlichen
Krankenversicherungen bezeichnet.
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich dachte, der Herr Kollege Barthle, können Sie mir bitte einmal
ist für die Kinder! – Weiterer Zuruf von der Folgendes erklären: Sie sagten, da die Tabaksteuerein-
FDP: Also nicht für die Kinder!) nahmen nicht so hoch ausgefallen seien, wie Sie erwartet
6472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Daniel Bahr (Münster)


(A) hätten, hätten Sie den Zuschuss für die Krankenkassen (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wo nehmen Sie (C)
streichen müssen. Heißt das, dass Sie die Hoffnung ha- die 1,5 Milliarden Entlastung her? Die gibt es
ben, dass die Menschen sich weiterhin gesundheits- nicht! Das ist eine Fiktion!)
schädlich verhalten und mehr rauchen, damit Sie mehr
Geld in die Krankenversicherung geben können? Ist das Derjenigen Kasse, die jetzt noch argumentiert, Bei-
die Logik, die hinter diesem Zuschuss steckt? tragserhöhungen seien eine Folge des Entzugs von Steu-
ermitteln, muss ich sagen, dass ich einer solchen Logik
(Dr. Carola Reimann [SPD]: Oh, Herr Bahr!) nicht folgen kann. Ich fordere deshalb alle Kassen auf,
Denn das Geld fehlt ja offensichtlich, weil sich die Men- dieses Lamentieren endlich einzustellen, stattdessen die
schen gesundheitsbewusst verhalten haben. Chancen zu ergreifen und zu nutzen, die in mehr Wettbe-
werb und mehr Transparenz bestehen, und sich entspre-
chend zu positionieren.
Norbert Barthle (CDU/CSU):
Herr Bahr, ich kann Ihnen die Logik gerne noch ein- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter
mal erklären. Wenn man die Zusage, die Steuermehrein- [CDU/CSU]: Das müsste auch der Kollege
nahmen aus der Tabaksteuererhöhung der GKV zur Ver- Bahr jetzt endlich begriffen haben!)
fügung zu stellen, ernst nimmt, dann müsste der Bund
eigentlich von den Krankenkassen Geld zurückfordern, Lassen Sie mich an dieser Stelle noch kurz einen
da die Erhöhung eben nicht zu Mehreinnahmen, sondern Blick über den Tellerrand des Gesundheitsetats werfen,
zunächst einmal zu einem Rückgang der Einnahmen ge- und zwar auf die Frage unserer Sozialabgaben, unserer
führt hat. Lohnnebenkosten, was durchaus in diesem Zusammen-
hang zu sehen ist. Heute Vormittag wurde an dieser
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das war doch Stelle bereits darüber debattiert. Ich habe festgestellt,
absehbar!) dass die Opposition sich schon da nicht ganz auf dem
Auch heute liegen die Mehreinnahmen weit unter dem, Boden der Tatsachen bewegt hat. Denn wie sieht es 2007
was erwartet worden war. Dass wir logisch handeln, se- aus? Die Rentenversicherungsbeiträge steigen auf
hen Sie daran, dass wir diese Fehleinschätzung der Ver- 19,9 Prozent. Die Arbeitslosenversicherungsbeiträge ha-
gangenheit korrigieren und das Ganze den Fakten ent- ben wir auf 4,2 Prozent abgesenkt. Hinzu kommt die
sprechend wieder auf die Beine stellen. – Herzlichen Pflegeversicherung mit 1,7 Prozent. Wenn ich dann noch
Dank. die Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von, Steige-
rung inbegriffen, 13,9 Prozent auf Arbeitgeberseite hin-
(Beifall bei der CDU/CSU) zurechne und den Arbeitnehmeranteil von 0,9 Prozent
Prinzipiell entspricht der Weg einer verstärkten Steu- abziehe, dann addiert sich das auf eine Summe von
(B)
erfinanzierung innerhalb des GKV-Systems, den wir 39,7 Prozent. Das heißt, wir werden bereits nach zwei (D)
jetzt beschreiten, dem, was alle kundigen Thebaner uns Jahren Arbeit in der großen Koalition das angestrebte
raten, weil wir damit zumindest einen Einstieg in die Ziel, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu sen-
Entkoppelung unserer sozialen Sicherungssysteme vom ken, im kommenden Jahr erreichen. Das ist eine groß-
Lohneinkommen schaffen. Das ist das, was wir alle wol- artige Leistung der großen Koalition und ein Erfolg, den
len, auch die Opposition nicht einfach kleinreden kann. Mit
der Absenkung der Lohnnebenkosten erhöhen wir die
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Nicht alle wollen Chance, dass mehr Arbeitsplätze geschaffen werden und
das!) dass damit noch mehr Menschen in Arbeit kommen. Die
weil es zu einer gerechteren Finanzierung unserer sozia- Erwähnung dieses Erfolges sollte man nicht hintanstel-
len Sicherungssysteme führt. Denn die Steuereinnahmen len.
sind nach der Leistungsfähigkeit gestaffelt; das heißt, die (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Spieth
Bankerin zahlt mehr als der Gebäudereiniger. [DIE LINKE]: Großartige Umverteilungsleis-
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Die Abkoppe- tung! Das stimmt allerdings!)
lung der Arbeitgeber ist interessant! Noch eine Bemerkung zu den einzelnen Positionen
Herr Kollege von der Linken, das sollten auch Sie ein- im Einzelplan 15. In diesem Etat sind allein 140 Millio-
mal zur Kenntnis nehmen. nen Euro für Personalkosten vorgesehen; das ist der
größte Brocken des ministeriellen Etats. Damit werden
Noch ein Wort an die Krankenkassen. Mein Kollege im Ministerium und in fünf nachgeordneten Behörden
Schurer hat bereits erwähnt, dass man nicht nur die 2 400 Stellen finanziert. Wir Haushälter werfen immer
2,5 Milliarden Euro sehen darf, die wir jetzt den Kran- einen kritischen Blick auf die Personalkosten. Wir muss-
kenkassen aus Steuermitteln zur Verfügung stellen, son- ten in diesem Jahr zwar einige neue Planstellen akzeptie-
dern auch das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlich- ren, weil die Begründung stichhaltig und überzeugend
keitsgesetz in den Blick nehmen muss, das für die war – wir wollen ja mit Sorgfalt und nicht mit Unein-
Krankenkassen ein Entlastungsvolumen von 1,5 Milliar- sichtigkeit vorgehen –, aber wir sagen, dass wir auf
den Euro bedeutet. 2,5 Milliarden Euro aus Steuermit- lange Sicht an dieser Stelle eine konstruktive Aufgaben-
teln plus 1,5 Milliarden Euro aus dieser gesetzlichen kritik betreiben werden.
Maßnahme, das bedeutet nach Adam Riese unter dem
Strich 4 Milliarden Euro Entlastung für die GKV gegen- Man muss betonen, dass der Bundesrechnungshof Ihr
über 4,2 Milliarden Euro bisherigem Zuschuss. Haus, Frau Ministerin, ausdrücklich gelobt hat. Er hat
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6473
Norbert Barthle
(A) nur eine einzige kritische Erwähnung vorgenommen, die (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wir bügeln Ihre (C)
die Insellösungen bei den Personal- und Stellenverwal- Fehler aus!)
tungssystemen betrifft. Wir sollten einmal miteinander
sprechen, ob man die Anregungen des Bundesrech- Denn Sie haben für 2007 wieder 1 Milliarde Euro Steu-
nungshofes an dieser Stelle nicht aufgreifen kann. ermittel eingestellt. Man weiß aber nicht, was 2008 wird.
Es bleibt dabei, dass Sie eine Lücke durch Abschaffung
Darüber hinaus haben wir innerhalb des Etats einige des Steuerzuschusses verursacht haben. Damit tragen Sie
Schwerpunkte gesetzt. Darüber waren der Kollege dazu bei, dass die Lohnnebenkosten steigen. Warum Sie
Ewald Schurer und ich uns sehr einig. Das betrifft zu- das getan haben, müssen Sie einem vernünftigen Men-
sätzliche Mittel für die Aids-Aufklärung und zusätzliche schen erst einmal erklären.
Mittel für die Prävention, für die 3 Millionen Euro zur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfügung stehen. An dieser Stelle muss man immer
und bei der FDP – Norbert Barthle [CDU/
wieder betonen: Die meisten Krankheiten werden nicht
CSU]: Sie haben keine sichere Einnahmebasis
angeboren, sondern stellen sich im Laufe des Lebens ein.
geschaffen! Das war Ihr Fehler!)
Prävention ist immer noch das beste Mittel, um Krank-
heiten zu vermeiden. Deswegen werden dafür auch mehr Herr Kollege, da Sie es mit der Seriosität in der Haus-
Mittel zur Verfügung gestellt. haltspolitik haben, sollten Sie Ihre Kollegen aus dem Be-
reich Gesundheit einmal fragen, warum sie bei dieser
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Reform davon sprechen, es sei ein Steuerzuschuss für
der SPD)
die Kindermitversicherung geplant, obwohl das eine
Selbstverständlich stehen wir auch an der Seite des reine Luftbuchung ist. Denn nirgendwo – auch nicht in
Gesundheitsministeriums, wenn es darum geht, für even- der mittelfristigen Finanzplanung – ist dies ausgewiesen.
tuell drohende Gefahren Vorsorge zu treffen. Ich nenne Wenn man ein solches Vorgehen seriös nennt, dann ha-
in diesem Zusammenhang nur die Stichworte Bioterror ben wir einen verschiedenen Begriff von Seriosität.
oder Pandemien wie Vogelgrippe. Heute konnten wir in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
der Zeitung lesen, dass die Vereinigten Staaten Impf-
Norbert Barthle [CDU/CSU]: Aber immer
stoffe in einem Wert von 200 Millionen Dollar bestellt
noch besser als Ihre Tabaksteuererhöhung!)
haben. Wir geben dafür in fünf Jahren nur 20 Millionen
Euro aus. Auch wenn wir uns auf einem vergleichsweise Wir reden nicht nur über den Haushalt des Gesund-
niedrigen Niveau befinden, ist die Sicherheit gewährleis- heitsministeriums, sondern wir befinden uns inmitten
tet. Trotzdem sollten wir diesen Punkt im Auge behalten. des parlamentarischen Verfahrens zur Gesundheits-
reform. Wir haben viele Stunden Anhörung gerade hin-
(B) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (D)
ter uns.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: 26 Stunden!)
neten der SPD)
Ich frage mich, ob die Koalition bereit ist, etwas daraus
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zu lernen. Denn es hat sich doch gezeigt, dass es nicht
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, nur Kritik, wie das zugegebenermaßen bei jeder Anhö-
Bündnis 90/Die Grünen. rung der Fall sein mag, gab, sondern dass Sie von allen
Sachverständigen auf der ganzen Fläche zu hören be-
kommen haben, dass es so nicht geht.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist wohl
Kollege Barthle, ich darf Ihrem politischen Gedächtnis wahr! Das haben wir noch nie erlebt!)
etwas auf die Sprünge helfen. Die Koalition, der Sie an- Das war ein Desaster für die Koalition.
gehören, ist angetreten, um die Lohnnebenkosten zu sen-
ken. Was aber haben Sie gemacht? Die größte Steuer- Ich will das an einigen wenigen Punkten deutlich ma-
erhöhung nach dem Krieg! chen, zunächst am Zusatzbeitrag. Ich rede gar nicht
über soziale Gerechtigkeit und die Belastung der Versi-
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) cherten. Ich rede darüber, dass die Koalition sagt, mit
Sie haben es gerade einmal geschafft, die Beiträge zur dem Zusatzbeitrag solle es Wettbewerb der Kassen un-
Arbeitslosenversicherung zu senken. Die Beiträge in der tereinander geben. Was haben wir in der Anhörung ge-
Rentenversicherung und in der Krankenversicherung hört? Dieser Wettbewerb wird nichts anderes sein als ein
steigen aber. Wettrennen der Kassen um Gutverdienende, Kinderlose
und Gesunde.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Man muss na-
türlich Plus und Minus zusammenzählen!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ein
Schwachsinn!)
Warum steigen sie? Vor allem deswegen, weil Sie selbst
ein Milliardenloch an dieser Stelle geschaffen haben. Denn es werden die Kassen mit vielen einkommens-
schwachen und kinderreichen Mitgliedern sein, die, ob-
Es ist natürlich richtig, was meine Kollegin heute wohl sie keineswegs schlecht wirtschaften – vielleicht
Morgen gesagt hat. Sie fahren hier einen Zickzackkurs: sogar besser als andere Kassen –, durch die Erhebung
rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. des Zusatzbeitrages in den Ruin getrieben werden,
6474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Birgitt Bender
(A) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Schon einmal et- dann kann dies nur so herum funktionieren und nicht mit (C)
was vom Risikostrukturausgleich gehört?) schwarzer Pädagogik.
weil sie ihr besseres Wirtschaften gar nicht realisieren Weiterhin wollen Sie in Zukunft selbst verschuldete
können. Behandlungsbedürftigkeiten nicht mehr bezahlen. Als
Beispiel müssen die Tätowierungen herhalten. Warum
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
eigentlich nicht der Tennisarm? Was ist mit der Achilles-
Das haben Ihnen die Experten – Sie selber haben sehne, die beim Joggen reißt? Was ist mit den Couch-
Herrn Rürup und Herrn Fiedler eingeladen – schon im potatoes, die durch Bewegungslosigkeit und zu viel
Vorfeld der Anhörung gesagt und sie haben es auf der Essen Krankheiten selbst verursachen? Wollen Sie all
Anhörung wiederholt. Wenn Sie also bei der Einführung diese in Zukunft mit finanziellen Sanktionen belegen?
des Zusatzbeitrages bleiben, dann muss man dieser Ich kann Ihnen nur sagen: Wir brauchen zwar gesund-
Koalition vorwerfen, dass sie das Krankenversiche- heitsbewusstes Verhalten; aber das kann man nicht mit
rungssystem sehenden Auges schwer beschädigt und schwarzer Pädagogik herbeizwingen.
dies lieber tut, als einen mühsam herbeigeführten Kom-
promiss wieder aufzuschnüren. Das gereicht Ihnen nun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wirklich nicht zur politischen Ehre. Das sollten Sie aus der Anhörung gelernt haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weiterhin haben Sie zumindest innerhalb der priva-
Ein weiterer Punkt. Sie führen letztlich das Verschul- ten Krankenversicherung – wenn es schon keinen ein-
densprinzip in die gesetzliche Krankenversicherung heitlichen Versicherungsmarkt gibt – Wettbewerb ver-
ein. Es ist ja richtig, was Sie, Herr Barthle, vorhin sag- sprochen. Was passiert mit dem Standardtarif und der
ten, nämlich dass die Mehrzahl der Krankheiten nicht eingeschränkten Übertragbarkeit der Altersrückstellun-
angeboren ist. Aber was schließt man denn daraus? Die gen auf diesen Standardtarif? Dazu haben uns die Exper-
Koalition führt die Regelung ein, wonach Krebskranke ten deutlich gesagt: Es wird praktisch gar nichts passie-
in Zukunft die vollen Zuzahlungen für Arzneimittel, ren. Für jetzt PKV-Versicherte ist es nach wie vor in
Krankenhausaufenthalte und weitere Leistungen zu tra- keiner Weise attraktiv, das Versicherungsunternehmen
gen haben, wenn sie nicht regelmäßig bei Früherken- zu wechseln. Das heißt, Wettbewerb wird weiterhin nur
nungsuntersuchungen waren. Das ist zynisch. Es ge- um Junge und Gesunde stattfinden. Die Idee eines Wett-
hört nicht viel dazu, das zu erkennen. bewerbs innerhalb der PKV werden Sie also mit diesem
Modell nicht umsetzen.
Aber die Sachverständigen haben Ihnen auf der An-
hörung Weiteres ins Stammbuch geschrieben, nämlich Zur Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen: Kassen
(B)
dass nicht alle Früherkennungsuntersuchungen per se sollen in Zukunft auch Pleite gehen können. Darüber (D)
gut sind. Die Stiftung Warentest hat 50 davon unter die kann man reden, aber Sie haben über die Ausgestaltung
Lupe genommen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dieser Regelung in keiner Weise nachgedacht. In der An-
dass 36 der angebotenen Untersuchungen per se unge- hörung konnte man lernen, dass allein die Bilanzierung
eignet und 13 eingeschränkt geeignet sind. Gerade ein- der Pensions- und Altersversorgungsansprüche der Be-
mal eine Untersuchung hat sie als geeignet befunden. schäftigten der Krankenkassen mit 10 bis 12 Milliarden
Das heißt doch, dass die Politik vor allem die Aufgabe Euro zu Buche schlägt, was bedeuten würde, dass selbst
der Qualitätssicherung hat und nicht Pädagogik mit dem gesunde Kassen bei einer solchen Regelung den Bach
Rohrstock betreiben sollte. runtergingen. Ich kann dazu nur sagen: Denken Sie
nach! Nehmen Sie jetzt die Chance wahr, solche Rege-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lungen zu ändern!
Im Übrigen müssen sich Versicherte auch gegen die Wir streiten schon lange – das soll mein abschließen-
Teilnahme an einer solchen Untersuchung entscheiden des Thema sein – über einen Finanzausgleich zwischen
können, weil dies immer eine Risikoabwägung bedeutet. den Krankenkassen, der auch die Krankheiten berück-
Es wundert mich, dass gerade die Union, die jüngst wie- sichtigt, den Morbi-RSA. Bei diesem Thema saß immer
der bürgerliche Werte hochhalten wollte, beispielsweise die Union im Bremserhäuschen. Jetzt sollen 50 bis
die Entscheidung einer mündigen Patientin mit finan- 80 Krankheiten berücksichtigt werden. Was wurde uns
ziellen Sanktionen belegen will. Das ist schon sehr in der Anhörung gesagt? Es hieß, das würde bürokrati-
merkwürdig. schen Mehraufwand verursachen. War da nicht einmal
Schließlich geht es darum, dass die tatsächliche Zu- etwas bei der Union bezüglich des Bürokratieabbaus? Im
gänglichkeit zu qualitätsgesicherten Früherkennungs- Übrigen werden Sie den Menschen, die an einer Krank-
untersuchungen verbessert werden muss, weil es näm- heit leiden, die Sie nicht berücksichtigen wollen, erklä-
lich eher die sozial Benachteiligten sind, die diese nicht ren müssen, warum es Krankheiten erster und zweiter
in Anspruch nehmen. Es zeigt sich, dass beispielsweise Klasse gibt. Dabei wünsche ich viel Vergnügen. Ich kann
bei einem Bonusprogramm, wie es die AOK Baden- Ihnen nur sagen: Auch darüber sollten Sie noch einmal
Württemberg – übrigens durch die Möglichkeiten, die nachdenken.
mit der letzten Gesundheitsreform geschaffen wurden – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
aufgelegt hat, 89 Prozent der an diesem Programm Teil-
nehmenden auch zu Krebsfrüherkennungsuntersuchun- Kurz und gut: Diese Reform bringt es nicht. Sie bringt
gen gehen. Wenn man eine solche breite Teilnahme will, es nicht, weil sie vor Ungereimtheiten strotzt. Das haben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6475
Birgitt Bender
(A) wir in der Anhörung erlebt. Selbst bezüglich des Kern- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Also nicht die (C)
stücks der Reform – das ist der berühmte Gesundheits- Kinder!)
fonds – müssen Sie sich von den Anhängern solcher Lö-
die, Herr Kollege Bahr, nur die gesetzlich Krankenversi-
sungen sagen lassen, dass die jetzige Ausgestaltung es
cherten in diesem Lande finanzieren, während sich die
nicht bringt. Der Fonds taugt allenfalls als politisches
privat Versicherten und diejenigen, die überhaupt nicht
Wartehäuschen für die politische Regenzeit, die Sie of-
versichert sind, daran bis heute nicht beteiligen.
fenbar in dieser Koalition erleben. Ich sage Ihnen: Wer
politisch gestalten will, muss auch bereit sein, sich gele- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gentlich nasse Füße zu holen.
Dazu gehören familienpolitische Leistungen, die bei-
Danke. tragsfreie Mitversicherung von Kindern, Haushaltshilfen
und vieles andere mehr. Dafür werden wir Steuermittel
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aufwenden;
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Mit welcher
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zuverlässigkeit? Das ist doch die Frage! Wer
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin für Gesund- soll das denn glauben? Das sind doch
heit, Ulla Schmidt. potemkinsche Dörfer!)
(Beifall bei der SPD) denn heute ist es so, dass nur Kinderlose, die Mitglied
einer gesetzlichen Krankenversicherung sind, an der
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Finanzierung der beitragsfreien Mitversicherung für
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder beteiligt sind. Wer privat versichert ist, beteiligt
Wir beraten heute über den Einzelplan 15. Wir haben sich bis heute nicht daran. Hier wollen wir ein Stück
schon viel darüber gehört, dass der Haushaltsausschuss, mehr Gerechtigkeit schaffen. Das ist der richtige Weg.
der eine Beschlussempfehlung abgegeben hat, auch in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den letzten Beratungen noch dazu beigetragen hat, den der CDU/CSU)
Haushalt aufzustocken. Ich glaube, das war eine gute
Entscheidung. Die Entscheidung, die Steuerzuschüsse zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
streichen, hat nichts mit der Gesundheitsreform, sondern Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
mit haushaltspolitischen Entscheidungen zu tun. Kollegen Niebel?
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) NEN]: Mit falschen!) Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: (D)
Ja, bitte.
Dass die Finanzierung im Prinzip an das Tabaksteuer-
aufkommen geknüpft war,
Dirk Niebel (FDP):
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: War sie doch Vielen Dank, Frau Ministerin. – Können Sie bestäti-
gar nicht!) gen, dass Eltern in der privaten Krankenversicherung je-
des Kind einzeln versichern müssen? Wenn Sie das be-
hatte etwas mit den Entscheidungen zu tun, die die Grü- stätigen können: Würden Sie mir den Unterschied bei
nen forciert und mitgetragen haben. Dafür ist nicht die der Behandlung von Kindern gesetzlich Versicherter und
jetzige Bundesregierung verantwortlich gewesen. Ich privat Versicherter nach Ihrem Konzept erklären?
bin dafür, die Zusammenhänge so darzustellen, wie sie
tatsächlich sind. Ich bin daher froh, dass mit der Gesund-
heitsreform ein Weg gefunden wurde, der unabhängig Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit:
vom Aufkommen der Tabaksteuer oder einer anderen Herr Kollege Niebel, Sie müssen Folgendes sehen:
Steuer gegangen werden kann. Wir wollen zur Finanzie- Erstens. In die Privatversicherung werden – die An-
rung des Gesundheitssystems eine zweite Säule auf- hörung hat das noch einmal deutlich gemacht – grund-
bauen, die steuerfinanziert ist. Als wichtigen Schritt sätzlich nur diejenigen aufgenommen, die gesund sind,
haben wir daher beschlossen, dass der Steueranteil die über ein hohes Einkommen verfügen oder verbeam-
14 Milliarden Euro ausmachen soll. Das sind immerhin tet sind.
10 Prozent der heutigen Ausgaben des Gesundheitswe-
sens. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Auf die Frage
antworten!)
Wir werden diese Säule Schritt für Schritt aufbauen.
Die Tatsache, dass die Koalition in der Lage und bereit Demgegenüber werden die Risiken – Behinderungen
war, jetzt aufgrund der besseren finanziellen Ausgangs- und Krankheiten auch von Kindern – von den gesetzlich
situation für das kommende Jahr 1 Milliarde Euro mehr Versicherten in diesem Land getragen.
als ursprünglich geplant aufzuwenden, zeigt, dass der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wille zu einer stabilen Finanzierung vorhanden ist.
Zweitens. Alle Bundesregierungen haben entschieden,
Ich werde oft gefragt: Wozu dient das Geld? Ich ant- dass die gesetzlichen Krankenkassen viele gesamtpoliti-
worte dann: Es dient auch zur Abgeltung der gesamtge- sche Aufgaben, die man auch über Leistungsgesetze re-
sellschaftlichen Aufgaben, geln könnte, erfüllen müssen. Wenn die entsprechenden
6476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bundesministerin Ulla Schmidt


(A) Leistungen – zum Beispiel für Haushaltshilfen, die ein- schen Ländern intensivieren müssen. Europa muss das (C)
springen, wenn Eltern erkrankt sind – über Leistungsge- Thema HIV/Aids auf die Tagesordnung setzen; denn es
setze geregelt würden, müssten sie ebenfalls über Steu- ist nicht nur ein gesundheitspolitisches, sondern auch ein
ern finanziert werden. Deshalb ist es richtig, dass alle an gesellschaftspolitisches und ein ökonomisches Thema.
der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie die Zahl der Neu-
die originär nichts mit Krankheit zu tun haben – etwa die infektionen steigt. Mittlerweile beträgt auch in Europa
Unterstützung von Familien, die in eine schwierige Si- der Anteil der Frauen an den neu Infizierten mehr als
tuation geraten, weil ein Elternteil krank wird –, beteiligt 40 Prozent, wodurch wiederum Kinder gefährdet wer-
werden. Deshalb hat sich die Koalition dafür ausgespro- den. Wir müssen alles tun, um dies zu einem politischen
chen, dass die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Thema zu machen.
Aufgaben, die bisher nur über die Beiträge der gesetzlich
Es liegt mit in unserer Verantwortung, dass auch in
Versicherten getragen werden, eine Angelegenheit der
unseren osteuropäischen Nachbarstaaten alle Infizierten
gesamten Bevölkerung sein soll und dass sich alle – auch
Zugang zu einer Behandlung haben. Wir müssen uns für
diejenigen, die nicht gesetzlich versichert sind – daran
bezahlbare Medikamente in diesen Ländern einsetzen.
beteiligen.
Wir müssen alles tun, um den Zugang zu Präventions-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz maßnahmen vernünftig zu organisieren. Deshalb wird
Lanfermann [FDP]: Also hat es mit den Kin- die Regierung HIV/Aids während der EU-Ratspräsident-
dern nichts zu tun?) schaft zu einem Schwerpunktthema machen. Wir glau-
ben, dass hierbei alle gefordert sind. Es ist gut, dass der
Ich bedanke mich beim Haushaltsausschuss und bei
Haushaltsausschuss dieses Vorhaben unterstützt, indem
den Berichterstattern dafür, dass sie diesen Haushalt er-
er die Mittel für Aidsprävention erhöht hat.
möglicht haben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
(Dirk Niebel [FDP]: Ich stehe! Sie haben meine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Frage noch gar nicht beantwortet!) Daniel Bahr [Münster] [FDP])
Die Berichterstatter haben im Haushaltsausschuss ein Frau Kollegin Winterstein, in der Debatte habe ich
klares Signal gesetzt: Trotz der schwierigen finanziellen von der FDP – Herr Bahr folgt ja noch – so einiges ge-
Lage fördern wir weiterhin den Gedanken der Präven- hört. Ich hätte es gut gefunden, wenn Sie sich für irgend-
tion. Man kann lange darüber diskutieren, ob die Einfüh- etwas entschieden hätten.
rung der Kapitaldeckung und viele andere Maßnahmen
die richtige Antwort auf eine älter werdende Gesell- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da können Sie
schaft sind. Eines ist jedenfalls klar: Investitionen in Ge- drauf gefasst sein!)
(B) (D)
sundheitsvorsorge und Prävention sind in einer Gesell-
Entweder stimmt, dass wir in den kommenden Jahren
schaft des längeren Lebens, in der die Menschen so
zusätzliche Milliarden ins Gesundheitswesen stecken
lange wie möglich gesund leben und so aktiv wie mög-
müssen, oder, dass die Menschen in den kommenden
lich alt werden wollen, entscheidend.
Jahren keine Leistungen mehr bekommen.
Deshalb ist es auch richtig, neben dem Werben für
(Dirk Niebel [FDP]: Wahrscheinlich stimmt
mehr Bewegung und gesunde Ernährung mehr Mittel in
beides!)
Maßnahmen zu investieren, die dazu führen, dass weni-
ger Menschen rauchen. Ich halte es für ein gutes Signal, Sie führen eine Debatte nach dem Motto – Herr Bahr,
dass die Mittel für diese Maßnahmen um 2 Millionen Sie schreiben entsprechende Briefe –: Die Leistungen
Euro aufgestockt wurden. Wir würden ein entscheiden- werden gekürzt; die Ärzte und die Krankenhäuser be-
des Stück vorankommen, wenn der Bundestag mit einem kommen kein Geld; die Menschen erhalten keine Leis-
Gesetz dem Nichtraucherschutz in Deutschland ein tungen mehr; aber alles wird teurer. Insoweit kann ich
stärkeres Gewicht beimessen würde und wenn es uns ge- Sie nur auf Ihren Mathematikunterricht zurückverwei-
länge, die Unterstützung des Bundesrates dafür zu ge- sen; denn Ihren Ausführungen kann ich nicht ganz fol-
winnen. Ich würde das aus gesundheitspolitischer Sicht gen.
sehr begrüßen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU)
der CDU/CSU und des Abg. Frank Spieth
Man kann natürlich sagen: Das gehört ins Programm der
[DIE LINKE])
„Bar jeder Vernunft“ und ist wert, dort aufgeführt zu
Ich möchte mich auch dafür bedanken, dass wir die werden.
Mittel für die Aufklärung über HIV/Aids aufstocken
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist das Ge-
konnten. Ich glaube, dass die Gefahren, die von HIV/
heimnis der Ineffizienz und der Bürokratie,
Aids ausgehen, in der Gesamtgesellschaft immer noch
Frau Ministerin!)
unterschätzt werden. Wir müssen weiterhin viel tun, da-
mit klar wird, dass nur Prävention, also Schutz, ein wirk- Herr Spieth, Sie sprechen hier von 10 Milliarden
sames Mittel ist. Leider glauben viele junge Menschen, Euro. Hat eigentlich einer von Ihnen, die Sie die Debat-
dass es gute Medikamente gegen Aids gebe, und ver- ten unterstützen, die auch von den Verbandsvertretern
nachlässigen die Prävention. Wir werden den Kampf ge- initiiert werden, darüber nachgedacht, was in diesem
gen HIV/Aids in Zusammenarbeit mit anderen europäi- Lande eigentlich los wäre, wenn es stimmen würde, dass
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6477
Bundesministerin Ulla Schmidt
(A) jedes Jahr 10 oder 15 Milliarden Euro zusätzlich in die – Ja, der Lobbyverbände. Vonseiten der FDP wurde vor- (C)
gesetzliche Krankenkasse fließen müssten, um Gesund- hin gefragt, warum wir in Deutschland seit 1958 falsche
heitsversorgung zu organisieren? Gesetze gemacht haben. Die FDP war mehr als 30 Jahre
lang in der Regierung. Haben Sie das denn vergessen?
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie geben doch
Ihre Parteimitglieder saßen doch nicht irgendwo anderes
selbst 7 Milliarden dazu!)
auf der Regierungsbank, sondern hier im Deutschen
Ich glaube, dass man über die Risiken reden muss. Bundestag. Ich nenne Ihnen ein paar Dinge, die mich in
Aus Gründen der Redlichkeit muss man aber auch Fol- diesem Zusammenhang ein bisschen beruhigen: 1988
gendes sagen – ich richte das an die Adresse der Ver- sagte der BPI – als Sie in der Regierungsverantwortung
bandsvertreter der Krankenkassen –: standen –: „Der Arzneimittelforschung wird die Grund-
lage entzogen.“ 1988 die ABDA: Ein „Apothekenster-
Erstens. Wir haben in diesem Jahr erstmals wieder
ben in nicht bezifferbarer Höhe“ werde vonstatten ge-
steigende Einnahmen, weil wir ein Mehr an sozialversi-
hen. Wir haben heute mindestens 500 Apotheken mehr
cherungspflichtiger Beschäftigung haben. Das kommt
als zum damaligen Zeitpunkt. Herr Karsten Vilmar
als Plus in der Rentenversicherung und in der Bundes-
warnte 1992 – Sie waren in der Regierung –: Wir warnen
agentur für Arbeit an und auch als Plus in den gesetzli-
vor „wachsenden planwirtschaftlichen, dirigistischen
chen Krankenversicherungen. Das ist mehr als das, was
Eingriffen“ ins Gesundheitssystem.1992 wieder der BPI:
wir und die Wirtschaftsweisen vor drei Monaten pro-
„Tiefer Griff in die dirigistische Mottenkiste.“ Weiterhin
gnostiziert haben.
prognostizierte man einen „heißen Herbst im Gesund-
Zweitens. Zu Beginn dieses Jahres drohte eine Steige- heitswesen“. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft
rung der Arzneimittelausgaben um 2 Milliarden Euro. 1992: „Die flächendeckende Versorgung der Bevölke-
Mit unserem Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaft- rung mit Krankenhausbetten ist gefährdet.“ Der Marbur-
lichkeit in der Arzneimittelversorgung haben wir dafür ger Bund 1992: Der Übergang zu einem „staatlichen Ge-
gesorgt, dass jetzt, nach dem dritten Quartal, praktisch sundheitswesen wird billigend in Kauf genommen“.
keine Steigerung der Arzneimittelausgaben eintritt.
Auch das kann man quasi als Zusatzeinnahme werten. Weitere Zitate: „Entmündigung der Selbstverwal-
tung“, „zentralistische Reglementierung“, „rigorose Kos-
Drittens. 1 Milliarde Euro mehr Steuermittel. tendämpfung“. Ich könnte hier noch lange so weiter vor-
Viertens. Für das nächste Jahr haben wir – konserva- lesen.
tiv gerechnet – Einsparungen von 1,3 Milliarden Euro (Dirk Niebel [FDP]: Es ist schön, was Sie hier
beschlossen. Herr Kollege Spieth, irgendwann werden heute machen!)
sich auch die Vorsitzenden der Krankenkassen einmal
(B) Damals waren Sie von der FDP in der Regierung. (D)
dafür zu verantworten haben, wohin das Geld fließt,
wenn es nicht in die Versorgung kranker Menschen
fließt. (Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!)

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das wissen Sie Sie können das bis zum Beginn des letzten Jahrhun-
doch ganz genau!) derts zurückverfolgen.
Was soll der Gesetzgeber denn tun, wenn auf der an- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist noch
deren Seite, vor Ort, auf diese Entwicklungen offensicht- nicht so lange her! – Heinz Lanfermann
lich nicht reagiert wird? So geht das nicht! Vor diesem [FDP]: Da hat noch Rot-Grün regiert!)
Hintergrund kann in diesem Land keine seriöse Debatte
darüber stattfinden, welche Reformen notwendig sind, Wenn man sich als Politiker oder Politikerin darauf ein-
um eine gute Gesundheitsversorgung für die Menschen lässt, dass man diese Schlagworte als Argumente wirken
in Ost und West, in der Stadt und auf dem Land sicherzu- lässt, dann hat man verloren. Aber man hat in Wahrheit
stellen. Diese Debatte wollen einige immer noch nicht nicht selber verloren. Verloren haben vielmehr 82 Millio-
führen. nen Menschen, die darauf angewiesen sind, dass wir ge-
gen die Interessen der Lobbyisten angehen, die, obwohl
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sie die Sorge um den Patienten im Mund führen, immer
nur kämpfen, um ein größeres Stück vom Kuchen zu er-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: halten, der im Gesundheitswesen verteilt wird. Wenn
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des man den Lobbyisten folgt, haben die Patienten und Pa-
Kollegen Spieth? tientinnen verloren. Ich sage Ihnen: Wir werden das
nicht machen.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Das führt zu weit. der CDU/CSU)
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Eine offene Aus- Wir werden darauf achten, dass wir eine gute Gesund-
einandersetzung scheut sie!) heitsversorgung in diesem Land gegen die Lobbyinteres-
Wenn Sie glauben, dass man den Kritiken der Lobby- sen durchsetzen.
verbände – –
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, Herr Kollege
(Dirk Niebel [FDP]: Aller Lobbyverbände?) Spieth: Mich hat gewundert, dass Sie hier von Berichten
6478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bundesministerin Ulla Schmidt


(A) sprechen, gesetzlich Krankenversicherte würden im Ich würde mich freuen, wenn ich nur von einem von (C)
Krankenhaus nicht ordentlich behandelt. all denjenigen, die hier unsere Arbeit kritisieren, hören
würde, was er stattdessen tun würde.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie haben nicht
zugehört!) (Dirk Niebel [FDP]: Hier! Sofort! – Frank
Spieth [DIE LINKE]: Wir haben Hunderte
Die gesetzlich Krankenversicherten erhielten keine Ter- Vorschläge!)
mine. Dies alles liege an den Lobbyinteressen.
Ich möchte von einem Einzigen hören, was passieren
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sagen Sie selbst! würde, wenn wir die unverantwortliche Forderung, wir
Ist das etwa falsch, weil ich es sage?) sollten es ganz sein lassen, erfüllen würden.
Ich frage Sie jetzt einmal – Sie sind Verwaltungsratvor- (Dirk Niebel [FDP]: Ihre Bitte erfülle ich so-
sitzender der AOK in Thüringen –: fort!)
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nebentätig- Um auf Ihre Krankenkasse einzugehen, sage ich Ih-
keit!) nen: Der AOK-Bundesverband ist der Auffassung, wir
brauchten keine Reform. Es sei genug getan, wenn wir
Was tun Sie in Ihrer Krankenkasse, um die Interessen der
jedes Jahr 10 Milliarden Euro mehr in das System inves-
Versicherten zu vertreten, und was tun Sie, um die Inte-
tierten. Aber ich sage Ihnen: Wer so etwas fordert, der
ressen der Versicherten durchzusetzen, wenn es für sie
muss gleichzeitig sagen, dass er nicht will, dass für un-
eine andere Behandlung gibt? Das müssen Sie sich ein-
sere Kinder in Zukunft weiterhin das gilt, was für uns
mal fragen lassen.
selbstverständlich war: dass man dann, wenn man krank
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist, unabhängig von der Höhe des Einkommens eine gute
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ medizinische Versorgung erhält. Wer so etwas fordert,
DIE GRÜNEN – Frank Spieth [DIE LINKE]: der fährt das System gegen die Wand.
Wir müssen den ganzen Quatsch doch ausba- Vielen Dank.
den!)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
– Die Krankenkassen wurden nicht gegründet, um irgend-
etwas auszubaden. Die Krankenkassen führen im Mo-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
ment mehr Diskussionen darüber, ob aus sieben Spitzen-
verbänden einer wird, und wehren sich dagegen, dass bei Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
den Finanzströmen Transparenz einzieht, damit die Ver- Kollegen Spieth.
(B) sicherten besser sehen können, wie die Krankenkassen (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) (D)
mit ihren Geldern umgehen und welche Versorgungsan-
gebote sie organisieren. Frank Spieth (DIE LINKE):
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auch wenn es der SPD-Fraktion nicht gefällt, muss
NEN]: Das ist wohl ein Witz!) ich Ihnen, Frau Ministerin, Folgendes sagen:
Das bringt uns nicht nach vorne. Erstens. Ich finde es interessant, wenn Privatversi-
cherte über die gesetzliche Krankenversicherung philo-
Ich sage Ihnen: Wir – auch ich – werden den Kampf sophieren und dabei sehr deutlich zeigen, wie viel Ah-
darum führen, dass die Krankenkassen das tun, wofür sie nung sie davon haben. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu
da sind, nämlich die Interessen der Versicherten zu ver- nehmen, dass die AOK Thüringen, in deren Verwal-
treten und dafür zu sorgen, dass so etwas nicht vor- tungsrat ich ehrenamtlich tätig bin
kommt. Denn das Gesetz erlaubt nicht, dass Menschen,
die gesetzlich krankenversichert sind und hohe Beiträge (Iris Gleicke [SPD]: Ich bin dort übrigens ver-
zahlen, bei den Ärzten und Ärztinnen oder in Kranken- sichert!)
häusern schlechter behandelt werden als die Privatpa- – ich bin allerdings nicht der Vorsitzende –, die höchste
tienten. Wenn Sie dabei mitmachen, sind Sie bei uns Versichertenzufriedenheit aller deutschen Krankenkas-
willkommen. Aber sich hier hinzustellen, das anzugrei- sen vorweisen kann.
fen und selbst in einer verantwortlichen Position zu sein,
das ändern zu können, das geht nicht. (Iris Gleicke [SPD]: Dann erzählen Sie doch
nicht immer so einen Unsinn! Ihr Motto ist
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wohl: Haltet den Dieb, er hat mein Messer im
der CDU/CSU) Rücken!)
Wir werden die Debatte weiterführen. Natürlich wer- Sie sollten sich von Ihrem großen Apparat wirklich bes-
den die Koalitionsfraktionen nach den Anhörungen an ser informieren lassen.
einigen Stellen Änderungen des Gesetzentwurfes auf
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
den Weg bringen, wo man ihn besser formulieren kann.
der SPD)
Man führt Anhörungen ja durch, damit man erfährt, wo
etwas zu Entwicklungen führen könnte, die man nicht – Sie können jetzt so laut herummaulen, wie Sie wollen.
will. Wir werden jedoch nicht davon abrücken, dass wir Das, was ich gesagt habe, ist eine Tatsache, die von Drit-
diese Reform brauchen. ten und nicht etwa von uns festgestellt wurde.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6479
Frank Spieth
(A) Zweitens. Manchmal hat man wirklich den Eindruck, als von uns prognostiziert wurde; denn mein Ministe- (C)
als wollten Sie uns in Ihrem Redebeitrag potemkinsche rium rechnet immer sehr konservativ.
Dörfer zeigen: Die erwarteten Defizite, die im kommen-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ach was! Das
den Jahr zu verzeichnen sein werden und die Sie noch
ist aber ganz neu! – Frank Spieth [DIE
vor kurzem selbst beschrieben haben, haben Sie auf ein-
LINKE]: Ja, ja! „Konservativ“, das stimmt!)
mal auf wundersame Art und Weise wegdekliniert. Es ist
doch so, dass Sie die Beiträge im nächsten Jahr erhöhen – Ich glaube, Sie von der Linken waren gegen dieses
wollen, weil Sie genau wissen, dass die Krankenkassen Spargesetz. – Wir wollen nämlich nicht den Eindruck er-
mit den vorhandenen Mitteln nicht auskommen. Aber wecken, es seien mehr Einsparungen vorgenommen
Sie vermitteln den Eindruck, als stimme das nicht, und worden, als es tatsächlich der Fall war.
werfen uns vor, wir würden auf eine Art und Weise agi-
Der erste Fakt ist: Angesichts dessen, dass wir den
tieren, die zumindest unsolide sei. Den Finger, den Sie
Krankenkassen 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung
auf andere richten, sollten Sie sich einmal genau anse-
stellen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass sich der
hen. Denn drei Finger derselben Hand deuten auf Sie
Worst Case, nämlich ein Risiko in Höhe von 5 Mil-
selbst zurück.
liarden Euro, verringert hat.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Der zweite Fakt ist: Die Beiträge erhöhen nicht wir,
Drittens. In seiner Antwort auf unsere Kleine Anfrage sondern die Krankenkassen.
geht Ihr Ministerium selbst davon aus, dass im kommen- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: So ein Blöd-
den Jahr, im Jahre 2007, Einnahmeausfälle bzw. Zusatz- sinn! Sie sollten einmal ins Gesetz gucken! –
belastungen in Höhe von round about 7 Milliarden Euro Weitere Zurufe von der FDP: Das wollen Sie
entstehen werden. Wenn ich das Ergebnis Ihrer eigenen ja ändern! – Aber nicht mehr lange!)
Berechnungen hier vortrage, Sie dann aber behaupten,
diese Aussage sei falsch, dann fällt das, was den Wahr- Wer erhöht denn nächstes Jahr die Beiträge? Das sind
heitsgehalt Ihrer Antwort betrifft, auf Sie zurück. doch nicht wir!

Viertens. Der Abgeordnete Professor Lauterbach (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben doch die ganze
– weiß Gott kein Unbekannter in diesem Hause – be- Zeit das Gegenteil gesagt!)
hauptet, dass sich die Defizite, die im kommenden Jahr – Das, was ich gesagt habe, ist richtig. Denn ich stehe zu
entstehen werden, in einer Größenordnung von 10 Mil- dem, wofür ich jetzt verantwortlich gemacht werde.
liarden Euro bewegen. Ist das alles falsch? Ist das alles
nur das Wunschdenken der Opposition? Frau Ministerin, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(B) ich glaube, hier sind Sie jenseits der Realität. Lassen wir doch die Steuermittel weg!) (D)
Ich sage noch einmal: Das GMG war nötig, weil die
(Beifall bei der LINKEN)
Krankenkassen mit mehr als 8 Milliarden Euro verschul-
det waren und die Schulden abbauen mussten. Das ist er-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: folgreich angegangen worden; aber es gibt noch Rest-
Frau Ministerin, Sie können antworten. schulden. Wir werden jetzt noch einmal zwei Jahre Zeit
geben, damit die Krankenkassen die restlichen Schulden
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit:
auf einem vernünftigen Weg abbauen. Selbstverständlich
wird es dazu auch Beitragsanhebungen geben müssen,
Herr Kollege Spieth, ich bin alles andere als jenseits aber nur bis die Altschulden abgebaut sind.
der Realität.
Deshalb, Kollege Spieth, können Sie sich da nicht
(Dirk Niebel [FDP]: Na ja! Ein bisschen einfach herauswinden. Ich glaube, dass die Krankenkas-
schon!) sen gut daran tun, sich darauf einzustellen, sich mehr um
Ich habe ganz klar gesagt: Wenn man über dieses Thema die Versorgung ihrer Versicherten zu kümmern. Ich
diskutiert, muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass kenne gute Krankenkassen und ich kenne schlechtere.
wir entgegen den Schätzungen zur finanziellen Situation Ich sage Ihnen: Die AOK Rheinland/Hamburg hat mir
eine positive Entwicklung zu verzeichnen haben und sehr gefallen, weil sie ihren Versicherten jetzt den Ser-
dass Verbesserungen festzustellen sind. Mehr erwarte vice anbietet, sich um zeitnahe Termine beim Arzt zu
ich auch von den Krankenkassen nicht. kümmern. Sie will sich engagieren, sie will es nicht hin-
nehmen, dass ihre Versicherten, die hohe Beiträge be-
Es ist ein Beschäftigungszuwachs zu verzeichnen. zahlen, womöglich monatelang auf einen Termin beim
Das dritte Quartal wurde nach allen Zahlen, die bisher Arzt warten müssen, während privat Versicherte vorge-
von den Kassen vorliegen, mit einem Plus abgeschlos- zogen werden.
sen. Im vierten Quartal wird die zweite Zahlung der
(Dirk Niebel [FDP]: Also passiert es doch!)
Steuermittel für dieses Jahr in Höhe von 2,1 Milliar-
den Euro erfolgen. Ebenfalls sind im vierten Quartal die Wenn Sie das bei der AOK Thüringen auch machen,
Zuwächse im Zusammenhang mit den Einmaleinnahmen werde ich das auch loben.
zu berücksichtigen. Ich habe gesagt, dass das AVWG,
Danke schön.
das Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in
der Arzneimittelversogung, größere Auswirkungen hat, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
6480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Lohnzusatzkosten auf Rekordniveau, der Arbeits- (C)
Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr, FDP-Fraktion. markt wird weiter belastet.
(Beifall bei der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt nicht!)
Es kommt zu keiner Nachhaltigkeit in der Finanzie-
Daniel Bahr (Münster) (FDP): rung des Gesundheitswesens. Im Gegenteil, die steigen-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau den Kosten einer alternden Bevölkerung werden von der
Ministerin, ich kann rechnen und wir werden Sie nicht schwarz-roten Koalition schlichtweg ignoriert. Sie be-
aus der Verantwortung entlassen, was die Beitragserhö- treiben keine Vorsorge, Sie schieben die Lasten weiter
hungen im nächsten Jahr angeht. Denn was ist die auf kommende Generationen. Die privaten Krankenver-
Hauptursache für die Beitragssteigerungen im nächsten sicherungen, die Rückstellungen für steigende Kosten
und im übernächsten Jahr? Das waren Ihre Entscheidun- im Alter bilden, werden von Ihnen sogar weiter zurück-
gen. Nicht wir, nicht die FDP-Fraktion, haben beschlos- gedrängt. Es wird immer weniger Menschen geben, die
sen, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zu erhö- mit einer privaten Krankenversicherung Altersrückstel-
hen, was die gesetzlichen Krankenkassen mit 800 bis lungen und Vorsorge treffen können. Immer mehr Men-
900 Millionen Euro belastet. Nicht wir, nicht die FDP- schen werden in das Umlagesystem gezwungen. Diese
Fraktion, haben den Zuschuss an die gesetzlichen Kran- Reform verschlechtert die Gesundheitsversorgung der
kenkassen von 4,2 Milliarden Euro sukzessive zurück- Patientinnen und Patienten in Deutschland.
gefahren, was ihnen Finanzmittel entzieht und eine der
Ursachen für die Beitragssteigerungen ist. (Beifall bei der FDP)
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das habe ich Zum Tabaksteuerzuschuss. Es war von Anfang an
vorgerechnet! Sie haben nicht zugehört!) ein Fehler, die Tabaksteuer zu erhöhen. Frau Schmidt,
Sie haben damals argumentiert – ich könnte Ihnen die
Nicht wir, nicht die FDP-Fraktion, haben zu verantwor- Zitate vorlegen –, Sie wollten mit der Tabaksteuererhö-
ten, dass sich die Krankenkassen verschuldet haben. Sie hung dazu beitragen, dass die Menschen weniger rau-
waren es in Ihrer Verantwortung als Ministerin der rot- chen und sich gesundheitsbewusster verhalten. Dann tun
grünen Regierung, die so etwas 2001/2002 zugelassen die Menschen das plötzlich, rauchen weniger, und Sie
hat – obwohl Krankenkassen normalerweise keine erhalten etwas weniger an Tabaksteuereinnahmen, als
Schulden machen dürfen. Das rächt sich jetzt. Sie erwartet haben. Zur Strafe streichen Sie den Kran-
Diese drei Aspekte sind die Hauptursachen für die kenkassen den Zuschuss. Das ist eine bestechende Lo-
Beitragssteigerungen in den nächsten Jahren. Dafür sind gik. Hätten sich die Menschen also gesundheitsschädlich
(B) Sie verantwortlich und keiner von der Opposition. verhalten und viel geraucht, dann wäre Geld für die (D)
Krankenkassen da gewesen. Das kann doch keine wirk-
(Beifall bei der FDP und der LINKEN) lich seriöse Politik sein.
Und dann tun Sie so, also ob die ganzen Kritiker nur (Beifall bei der FDP)
Besitzstandswahrer wären! Ich fand es schon beeindru-
ckend, wie die große Koalition dafür sorgt, dass ehema- Vor gerade einmal zwei Jahren, im Jahre 2004, haben
lige Widersacher bei den Anhörungen zu Verbündeten Sie einen Steuerzuschuss in Höhe von 1 Milliarde Euro
werden. Ich hätte mir vor einem Jahr nicht vorstellen an die gesetzlichen Krankenkassen gezahlt. 2005 waren
können, dass der DGB und die Bundesvereinigung der es 2,5 Milliarden Euro, in diesem Jahr waren es erstmals
Deutschen Arbeitgeberverbände eine gemeinsame Pres- 4,2 Milliarden Euro. Damals gab es den Plan, an diesem
semitteilung gegen diese Reform herausgeben. Und da Zuschuss weiterhin festzuhalten. Im letzten Jahr haben
tun Sie so, als ob die alle nur Besitzstandswahrer und Sie sich aber von Ihrer Verpflichtung verabschiedet;
Lobbyisten wären! denn in der Koalitionsvereinbarung haben Sie beschlos-
sen, diesen Zuschuss bis 2008 auf null zu kürzen.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)
Für 2007 sollte der ursprüngliche Zuschuss von
Meine liebe Ministerin Frau Schmidt, Sie sollten sich
4,2 Milliarden Euro auf 1,7 Milliarden Euro gekürzt
diese Kritik zu Herzen nehmen, statt einfach stur zu blei-
werden. Das wäre eine Kürzung um 2,5 Milliarden Euro
ben und sich taub zu stellen. Denn wenn Sachverstän-
gewesen. Nun soll diese Kürzung etwas geringer ausfal-
dige, die Sie selbst für die Anhörung benannt haben, Ihre
len, nämlich nur 1,5 Milliarden Euro. Eine Kürzung
Reform kritisieren, ist das etwas, was uns alle sehr nach-
bleibt es aber allemal. Meine Damen und Herren von der
denklich stimmen sollte. Dann ist das fundamentale Kri-
Koalition, durch Ihre Pläne – dieses Vor und Zurück –
tik an dieser Reform.
entziehen Sie den Krankenkassen bis zum Ende der Le-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gislaturperiode im Jahre 2009 verglichen mit dem, was
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nach dem Rechtsstand im Jahre 2005 gezahlt worden
LINKEN) wäre, Steuermittel in Höhe von insgesamt 5,6 Milliarden
Euro. Das ist eine der Hauptursachen für die Beitragser-
Mit dieser Reform werden Sie den Problemen im Ge- höhungen.
sundheitswesen doch überhaupt nicht gerecht. Es erfolgt
eben keine Abkopplung der Gesundheitsausgaben von Die Diskussion über Steuerzuschüsse für die Kran-
den Lohnzusatzkosten. Im Gegenteil: In dieser Legisla- kenkassen zeigt doch die Unzuverlässigkeit Ihrer Politik.
turperiode steigen die Krankenkassenbeiträge und damit Wenn gespart werden muss, werden die Zuschüsse ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6481
Daniel Bahr (Münster)
(A) kürzt, wenn etwas mehr Steuereinnahmen vorhanden (Dirk Niebel [FDP]: Vor allem vor Wahl- (C)
sind, wird der Zuschuss wieder leicht erhöht. Dafür er- kämpfen!)
warten Sie auch noch Lob. Sie verhalten sich wie je-
Allein aufgrund dieser Diskussion über den Steuerzu-
mand, der einem das Schwein vom Hof klaut und nach-
schuss sage ich Ihnen voraus, dass es jedes Jahr einen
her dafür gefeiert werden will, wenn er ein Kotelett Streit geben wird. Sie sehen hier Gesundheit nach Kas-
zurückbringt. senlage vor.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Birgitt Bender (Beifall bei der FDP)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Sie mehren den Einfluss des Staates, der Politik auf
Die Aussage der Bundesregierung in einer Anzeige, das Gesundheitswesen und Sie bauen auf ein staatliches
die wir am Montag in einem großen Magazin sehen und zentralistisches Gesundheitswesen mit einem Bun-
konnten, heißt übrigens: Die Gesundheitskosten unse- deskrankenkassenverband, durch den der Weg in die
rer Kinder werden nach und nach aus Steuermitteln Einheitskasse vorgezeichnet wird, wie es die Ministerin
bezahlt; dadurch werden die Beiträge und damit die am Wochenende bei der Arbeitsgemeinschaft der Sozial-
Lohnzusatzkosten verringert. In dem hier vorliegenden demokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheits-
Haushaltsplan steht doch gar nicht, dass das Geld für die wesen gesagt hat.
Kinder ist. Es ist für gesamtgesellschaftliche Aufgaben. (Heinz Lanfermann [FDP]: Da musste sie die
Das ist alles Mögliche. Wenn es Ihnen wirklich um die Wahrheit sagen!)
Kinder ginge, dann müssten Sie diesen Zuschuss natür-
lich auch für privat versicherte Kinder zahlen. Bei einer Sie wollen einen hauptamtlichen Gemeinsamen Bundes-
gesamtgesellschaftlichen Aufgabe ist es nämlich völlig ausschuss, der darüber entscheidet, was gute und
wurst, ob das Kind gesetzlich oder privat versichert ist. schlechte Medizin ist, und der dem Ministerium unter-
stellt ist.
(Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, die Folgen dieser Reform
Ich weiß, dass die Kolleginnen und Kollegen der CDU/ und eines weiteren staatlichen und politischen Einflusses
CSU diese Auffassung teilen. Deswegen haben sie ja auf das Gesundheitswesen können wir uns in Großbri-
auch den Vorschlag gemacht, dass für die Kinder von tannien und in anderen Ländern anschauen. Das wird zu
Privatversicherten auch ein Zuschuss gezahlt wird. Sie Mangelverwaltung, Wartelisten und den krassesten Un-
terschieden in einer Zweiklassenmedizin führen. Durch
verwenden die Kinder nur als Vorwand.
Ihre Gesundheitspolitik verschlechtern Sie die Gesund-
Es geht Ihnen doch gar nicht darum, dass die Krank- heitsversorgung für 82 Millionen Menschen in Deutsch-
(B) heitskosten der Kinder aus Steuermitteln bezahlt werden, land. (D)
sondern es geht Ihnen nur um einen Vorwand, um eini- Herzlichen Dank.
germaßen rechtfertigen zu können, Steuermittel in ein
Umlagesystem zu stopfen. (Beifall bei der FDP)

(Ewald Schurer [SPD]: Eine Unverschämtheit! Vizepräsidentin Petra Pau:


Höchst unseriös!) Das Wort hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz
für die Unionsfraktion.
Genauso ist es bei den anderen Themen. Sie schaffen
es, dass der durchschnittliche Krankenkassenbeitrag auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Rekordniveau steigt. Damit steigen die Lohnzusatzkos- neten der SPD)
ten. Sinnvoll wäre es gewesen, den Arbeitgeberbeitrag
festzuschreiben und als Lohnbestandteil auszuzahlen, Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
wie wir das vorgeschlagen haben. Sinnvoll wäre es auch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gewesen, bestimmte Bereiche des Leistungskatalogs gen! Kollege Bahr, wenn Sie heute wieder die Schuldzu-
– Zahnersatz, Krankengeld, Unfälle – in die private Ver- weisung hinsichtlich der Schulden zumindest in Teilen
antwortung zu geben, sodass sich jeder bei seiner Versi- an die falsche Adresse richten,
cherung den passenden Versicherungsschutz auszusu-
chen hätte, damit die Belastung des Arbeitsmarkts durch (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer hat das
Lohnzusatzkosten geringer ausfiele. denn im Beitragssicherungsgesetz zugelas-
sen?)
(Ewald Schurer [SPD]: Wollen Sie die Armut dann muss ich darauf hinweisen, dass der Finger auch an
vergrößern?) dieser Stelle auf Sie selbst zeigt. In Rheinland-Pfalz, wo
Sie mitregiert haben, haben Sie wegen einer bevorste-
Das, was Sie tun, ist eben nicht sinnvoll. Sie sind als
henden Wahl verhindert, dass die AOK die Beiträge an-
Bundesregierung demnächst jedes Jahr in der Verant-
hebt.
wortung, zu entscheiden, wie hoch der Beitragssatz für
die Krankenversicherungen bundesweit einheitlich ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Das wird dazu führen, dass wir hier im Bundestag jedes neten der SPD – Daniel Bahr [Münster]
Jahr darüber streiten werden, wie viel Geld die Bundes- [FDP]: Das war das Gesetz von Rot-Grün,
regierung bereit ist, dem Gesundheitswesen zur Verfü- Frau Widmann-Mauz! Das wissen Sie ganz
gung zu stellen. genau!)
6482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Annette Widmann-Mauz
(A) Man muss die Verantwortung immer dann wahrnehmen, Manches, was wir in den vergangenen Wochen und (C)
wenn man sie hat. Die Tatsache, dass Sie die Verantwor- am heutigen Tag leider wieder zu hören bekommen ha-
tung nicht mehr haben, zeigt, dass Sie sie nicht wahrge- ben, war nicht angenehm. Vieles war von Schlagwörtern
nommen haben. geprägt, die auch nicht dadurch richtiger werden, dass
sie ständig und von jedem ungeprüft – wie auch von Ih-
Sie haben heute über die Steuerzuschüsse für versi- nen heute – wiederholt werden. Manches blieb von An-
cherungsfremde, gesamtgesellschaftliche Aufgaben ge- fang an widersprüchlich, weil ein und derselbe Sachver-
redet. Sie haben in dieser Haushaltsdebatte nicht einen halt vom einen als nicht ausreichend und vom anderen
Antrag vorgelegt, der die Erhöhung der Steuerzuflüsse als viel zu weitgehend beurteilt wurde. Ich erinnere nur
vorsieht. Sie brauchen doch für Ihr Projekt – ob es sich an die Aussagen der Arbeitgeberverbände und des Deut-
um risikoadäquate oder solidarische Prämien handelt – schen Gewerkschaftsbundes zu ein und derselben Tatsa-
Steuermittel in zweistelliger Milliardenhöhe. Auch dazu che, die gesetzliche Fixierung des Arbeitgeberbeitrags.
haben Sie keine Vorschläge gemacht.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das war aber
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Natürlich!) die absolute Ausnahme!)
Entweder ist das, was Sie hier vortragen, heiße Luft Wieder anderes verlief nach dem Sankt-Florians-Prin-
oder Sie nehmen Ihre eigenen Worte nicht ernst. Auch in zip: „Verschon mein Haus, zünd andere an!“ Ich denke
diesem Hohen Hause müssen Sie Ihre Verantwortung dabei an die Solidarbeiträge, die die Krankenhäuser oder
wahrnehmen. der Arzneimittelsektor zu erbringen haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn auch das nicht weiterhalf, dann gab es immer
neten der SPD) noch die Methode der bewussten Verunsicherung der
Menschen und damit der Instrumentalisierung von Un-
Manch ein journalistischer Beobachter mag meinen, wissenden. Auch hierzu kann ich nur feststellen: Wer be-
dass die adipöse Neigung unseres Gesundheitssystems hauptet, die Versorgung würde nur deshalb schlechter,
durch gesetzliche Hüfthalter zu regeln wäre. Doch die weil wir Wettbewerb einführen,
Probleme lassen sich nicht länger kaschieren. Die Lö-
sung der Probleme muss grundsätzlich angegangen wer- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das war der
den. Dazu braucht es eines Programms für mehr Fitness Sachverständigenrat!)
und Bewegung im Gesundheitswesen. der führt die Menschen an der Nase herum.
Was wir bereits im ersten Jahr der großen Koalition (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
geschafft haben, ist beachtlich. Das Arzneimittelsparge-
(B) setz von Anfang dieses Jahres zeigt es: Wir haben bei Am Ende waren sich wieder alle einig, dass es so, wie (D)
den Arzneimittelpreisen und Arzneimittelausgaben Er- es ist, für alle am besten ist. Sie stecken den Kopf in den
folge erzielt. Dieses Gesetz hat dafür gesorgt, dass Mitte Sand. Plattitüden ersetzen aber keine Argumente und die
November über 6 000 Arzneimittel von der Zuzahlung Emotionalisierung trägt, auch als oppositionelle Strate-
befreit sind, weil sich die Hersteller durch die hohe Preis- gie, nur eine einzige Empörungswelle lang. Eine not-
senkung – nämlich 30 Prozent unter dem Festbetrag – hö- wendige Sachpolitik hingegen ist langfristig angelegt
here Marktanteile versprechen. Wir haben unsere Ver- und damit unverzichtbar.
antwortung wahrgenommen und die Verantwortlichkeit Verantwortung ist das prägende Leitmotiv in der
im System gestärkt. großen Koalition und insbesondere unserer Vorstellun-
gen eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems.
Die große Koalition ist sicherlich keine Wunschfor-
mation oder gar eine Traumkonstellation. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wo denn?)
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eine Trauma-
koalition! – Frank Spieth [DIE LINKE]: Ein Diese Verantwortung hat zwei Perspektiven: den Blick
Albtraum!) auf sich selbst gerichtet, also als Individuum zuerst für
sich selbst Verantwortung zu übernehmen, und den
Aber sie ist eine Verantwortungsgemeinschaft auf Zeit Blick, für andere verantwortlich zu sein. Subsidiarität
im Interesse der Menschen unseres Landes. Jede und je- und Solidarität sind Ausdruck ein und derselben Verant-
der, der in diesem Hause Verantwortung trägt, muss sich wortung. Beides, die Verantwortung für sich und die für
dieser Verantwortung stellen. Das tun wir, auch wenn es andere, gehört zusammen. Die Betonung des einen darf
unbequem wird. Der Bundeshaushalt ist ein Beispiel da- nicht dazu missbraucht werden, sich aus der anderen
für. Haushaltskonsolidierung hat für uns oberste Priori- Verantwortung zu stehlen. Wir wollen keine Privatisie-
tät, auch wenn sie unser System der gesetzlichen Kran- rung, aber auch keine Sozialisierung und erst recht keine
kenversicherung betrifft. Volkskasse oder Volksversicherung, sondern eine Ver-
antwortungsgemeinschaft. Nur wer sich verantwortlich
Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass es gelun-
fühlt, kann auch Verantwortung für sich und andere
gen ist, für das nächste Jahr nochmals 1 Milliarde Euro
wahrnehmen.
mehr als ursprünglich vorgesehen zur Finanzierung ge-
samtgesellschaftlicher Aufgaben im Bundeshaushalt ein- Was beklagen wir denn? Wir sehen doch: Je größer,
zustellen. Das ist ein Erfolg. Es ist der erste Schritt in die anonymer und intransparenter die Systeme werden,
richtige Richtung. desto schwieriger ist es, die Verantwortlichkeit zu spüren
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6483
Annette Widmann-Mauz
(A) und Verantwortung wahrzunehmen. Im Gesundheitswe- tivieren. Wir müssen die richtigen Akzente setzen und (C)
sen sind uns die negativen Erscheinungen und Entwick- über entsprechende Instrumente sprechen. Wir dürfen
lungen doch bestens bekannt: Chipkartenmentalität bis solche Instrumente nicht von vornherein verunglimpfen,
hin zum Missbrauch, Abrechnungskampf im Hamsterrad sondern sollten mit ihnen verantwortlich umgehen.
mit Punktwertverfall, der Einschreibedruck auf die Pa-
tienten, in die DMPs zu gehen, nur um Ausgleichszah- (Beifall bei der CDU/CSU)
lungen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs zu er- Betrachten wir einen weiteren Aspekt, den Zusatz-
halten, und vieles andere mehr. beitrag. Dieser wird durch zwei Mechanismen begrenzt.
Die Rückbesinnung auf die Verantwortungsgemein- Auf der einen Seite dürfen die Zusatzbeiträge aller Kas-
schaft organisieren wir nun mit dem geplanten Gesund- sen nicht mehr als 5 Prozent der Gesamtausgaben in der
heitsfonds. gesetzlichen Krankenversicherung ausmachen. Auf der
anderen Seite soll der Zusatzbeitrag einer Kasse indivi-
(Beifall bei der CDU/CSU) duell nicht mehr als 1 Prozent des beitragspflichtigen
Mit dem Fonds und einheitlichen Zuweisungen an die Bruttoeinkommens ausmachen. Überforderungsregeln
einzelnen Krankenkassen schaffen wir genau die Trans- sind sicherlich Ausdruck des Zumutbarkeitsprinzips und
parenz bei der Wirtschaftlichkeit der Krankenkassen, die damit wichtig und richtig.
wir brauchen. Mit dem Zusatzbeitrag machen wir die Sie dürfen aber auf der anderen Seite nicht dazu füh-
Kosten und damit den Preis für die Leistungen sichtbar ren, dass die größere Verantwortungsgemeinschaft in
und für die Versicherten vergleichbar. Diese Transparenz Anspruch genommen wird, bevor individuell in zumut-
ist Voraussetzung für eine verantwortliche Wahlentschei- barer Weise die Eigenverantwortung wahrgenommen
dung der Versicherten und stärkt zudem die Eigenverant- wird. Deshalb gibt es die Überforderungsgrenzen bei
wortung der Krankenkassen für Kosten und Verträge mit Zuzahlungen in Höhe von 1 Prozent bzw. 2 Prozent. Die
Ärzten, Krankenhäusern und der pharmazeutischen In- Praxisgebühr oder die Zuzahlung bei Arzneimitteln fällt
dustrie. nämlich bei jeder Kasse in gleicher Höhe an. Sie sind ge-
Mit der neuen ambulanten, ärztlichen Vertragsgebüh- setzlich vorgeschrieben und man kann ihnen nicht aus-
renordnung schaffen wir Transparenz bei Leistungen weichen. Anders ist es allerdings beim kassenindividuel-
und Preisen in der ärztlichen Honorierung. Feste Punkt- len Zusatzbeitrag. Versicherte können erforderliche
werte in Euro und Cent sowie das Ende der Budgetie- Zusatzbeiträge der Kassen und damit eine individuelle
rung schaffen in diesem Bereich mehr Leistungsgerech- Überforderung dadurch vermeiden, dass sie einfach in
tigkeit. eine andere Kasse wechseln, die einen geringeren oder
gar keinen Zusatzbeitrag erhebt. Ob wir auf diese Ver-
(B) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Kein Ende der antwortung gänzlich verzichten wollen, darüber werden (D)
Budgetierung!) wir nochmals reden müssen.
Ich sage ganz offen: Mir wäre an noch mehr Transparenz Leistungsgerechtigkeit hat im Wettbewerb viel mit
im Verhältnis von Patient zu Arzt bei Preisen und Leis- Chancengerechtigkeit zu tun. Deshalb ist die Vorausset-
tungen zum Beispiel in Form einer generellen Rech- zung für den Fonds und für seine Wirkung zunächst ein
nungsstellung mit der Möglichkeit der Forderungsabtre- gerechter Risikostrukturausgleich, ein Risikostruktur-
tung an die Krankenkassen sehr gelegen, auch wenn ich ausgleich, der schwerwiegende Erkrankungen aus-
einräumen muss, dass wir nun Pflichtversicherten mit gleicht, der aber auf der anderen Seite das Eigeninteresse
Kostenerstattung und Selbstbehalten in weitaus größe- der Krankenkassen an Präventionsarbeit und an sparsa-
rem Umfang und unbürokratisch neue Möglichkeiten er- mem Ausgabeverhalten nicht wieder unterminiert.
öffnen. Vielleicht lässt sich aber unser Koalitionspartner
in den kommenden Wochen zu noch mehr Transparenz Eine weitere Voraussetzung ist der Abbau der Ver-
bewegen. schuldung der Kassen aus den letzten Jahren. Dass ge-
rade die FDP dieses nicht zulassen will, obwohl es der
(Heinz Lanfermann [FDP]: Die Hoffnung
Beitrag zur Generationengerechtigkeit schlechthin ist,
stirbt zuletzt! – Frank Spieth [DIE LINKE]:
Hört! Hört!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was? Wir
Verantwortung wird nur dann übernommen, wenn die wollten die Schulden nicht zulassen!)
Abgrenzung der beiden Perspektiven, also der Eigenver- kann ich überhaupt nicht verstehen. Wir wollen, dass
antwortung und der Verantwortung für andere, als ge- diese Schulden nicht auf die nächste Generation abge-
recht beurteilt wird. Zumutbarkeit und Leistungsgerech- wälzt werden. Denn jede Generation muss ihre Last tra-
tigkeit sind dabei wichtige Aspekte. gen.
Liebe Kollegin Bender, was Sie am heutigen Nach- (Beifall bei der CDU/CSU)
mittag zur Früherkennung gesagt haben, empfinde ich
als zynisch. Wir dürfen Verantwortung nicht größeren Kollektiven
zuweisen, wenn es zum Beispiel um kassenindividuelles
(Beifall bei der CDU/CSU)
Fehlverhalten in der Zukunft geht. Deshalb wollen wir
Ich finde, es ist unverantwortlich, Menschen nicht auch das Insolvenzrecht für Krankenkassen etablieren.
mit ökonomischen Instrumenten zu sinnvollen Maßnah- Dazu gibt es nach den Anhörungen berechtigterweise
men zur Erhaltung der Gesundheit ihres Körpers zu mo- noch eine Reihe von offenen Fragen.
6484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Annette Widmann-Mauz
(A) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
NEN]: Allerdings!) Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die
Fraktion Die Linke.
Doch ich sage auch bewusst: Manches Problem, das der-
zeit vorgetragen wird, resultiert weniger aus der Anwen- (Beifall bei der LINKEN)
dung des Insolvenzrechts als aus der Begrenzung des
Zusatzbeitrags. Deshalb sage ich heute: Probleme müs- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
sen dort gelöst werden, wo sie entstehen. Da müssen wir Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
handeln. legen! Mit nun 3 Milliarden Euro nimmt sich der Haus-
halt des Bundesministeriums für Gesundheit sehr be-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – scheiden aus. Es ist deshalb sehr verständlich, dass hier
Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ein Koppelge- fast alle über die dreistelligen Milliardenbeträge reden,
schäft!) die im Gesundheitssystem bewegt werden.
Wir müssen die Verantwortlichkeiten stärken, das Natürlich spielt die misslungene Gesundheitsreform
heißt aus Betroffenen Beteiligte machen und umgekehrt. hier die größte Rolle. Eigentlich wollte ich heute etwas
Das muss uns noch besser als in der Vergangenheit anderes in den Mittelpunkt stellen, aber es hält mich
gelingen. Es ist gelungen, Betroffene in Entscheidungs- nicht, Frau Ministerin. Ich muss doch etwas zur Reform
prozesse einzubeziehen, während die Beteiligung von sagen. Sie kritisieren unseren Antrag. Ich sage Ihnen:
Patientenvertretern im Gemeinsamen Bundesausschuss 10 Milliarden mehr wären im System der GKV gut auf-
bereits im GMG im Jahre 2003 geregelt und damit ein gehoben. Wir leben mittendrin in den Herausforderun-
großer Fortschritt erzielt worden ist. Mit dieser Gesund- gen, die sich aus der Alterung der Gesellschaft und aus
heitsreform werden wir die Selbsthilfeförderung auf dem medizinischen Fortschritt ergeben, und wir haben
feste Beine stellen und den Organisationen zum Beispiel dieses Problem mit dem gleichen Anteil zum Leistungs-
im Bereich der Palliativversorgung bei der Leistungsde- vermögen der Gesellschaft bisher bewältigt. Es ist hohe
finition im Gemeinsamen Bundesausschuss ein Anhö- Zeit, dass mehr Geld ins System kommt.
rungsrecht einräumen. Was alle angeht, muss auch von (Jens Spahn [CDU/CSU]: Woher?)
allen finanziert werden. Auch diesem Grundsatz ver-
schreibt sich die Reform mit der kontinuierlich anstei- – Die Quellen haben wir Ihnen genannt mit einer gerech-
genden Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben ten Steuerreform und mit einer Bürgerinnen- und Bür-
in der gesetzlichen Krankenversicherung. gerversicherung, die auch die Einnahmen, die Beiträge
auf breitere Schultern, auf alle Einkommen bezieht.
(B) Lassen Sie mich einen letzten Aspekt ansprechen, (Beifall bei der LINKEN) (D)
nämlich das Prinzip der Verantwortlichkeit der gesetzli-
chen Krankenversicherung. In der Selbstverwaltung ist Das würde den Patientinnen und Patienten sowie den
dieses Prinzip grundsätzlich angelegt. Die Selbstverwal- Beschäftigten im Gesundheitssystem gut tun. Sie wären
tung hat sich bewährt, auch wenn die Entscheidungsab- die Gewinnerinnen und Gewinner und nicht irgendwel-
läufe und -verfahren zuweilen sehr mühsam, zeitaufwen- che imaginären Lobbyisten.
dig und nicht immer nachvollziehbar sind. Ich finde es angesichts der komplizierten Situation in
diesen Tagen höchst unerträglich, dass Sie die Kranken-
Vizepräsidentin Petra Pau: kassen hier zum Sündenbock machen. Dass trotz der
Politik der letzten Jahre – ich denke an das Hin und Her
Kollegin Widmann-Mauz, jetzt sprechen Sie auf
mit der Folge immer neuer Kostendämpfungsgesetze –
Rechnung Ihrer Kollegen.
die Leistungen gegenüber den Patientinnen und Patien-
ten erfüllt wurden, haben letztlich die Krankenkassen or-
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): ganisiert.
Ich komme gleich zum Schluss. (Beifall bei der LINKEN)
Wir sollten jetzt nicht den Ausweg darin suchen, im- Ich möchte mich jetzt aber mit einigen Aspekten in
mer mehr Verantwortung von den Beteiligten zur Politik die Mühen der Ebene des Haushalts begeben und zu-
zu verlagern, sondern die originären Verantwortungsge- nächst ein Thema beleuchten: Natürlich ist es gut, dass
meinschaften und Beziehungen stärken. Ich glaube, in für die Aufklärung in Sachen HIV und Aids 3 Millionen
diesem Zusammenhang werden wir auch über die Anre- Euro mehr aufgewandt werden und so der Titel von
gungen hinaus, die in der Anhörung gemacht wurden, 9,2 auf 12,2 Millionen Euro steigen kann. Als Aus-
noch erheblichen Diskussionsbedarf haben. Wir tragen schussvorsitzende begrüße ich, dass die Bundesregie-
die Verantwortung und nehmen die Anhörung ernst. Wir rung während der deutschen Ratspräsidentschaft eine
werden ein gutes Gesetz vorlegen. Geißel der Menschheit, die weltweite Ausbreitung von
HIV und Aids, thematisieren will. Auch wir als Parla-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. mentarierinnen und Parlamentarier werden den G-8-Gip-
fel intensiv begleiten und gemeinsam mit der Deutschen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stiftung Weltbevölkerung eine internationale Konferenz
neten der SPD – Frank Spieth [DIE LINKE]: zu HIV und Aids organisieren; denn Impulse für parla-
Das werden wir sehen!) mentarische Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten im
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6485
Dr. Martina Bunge
(A) Rahmen des zivilgesellschaftlichen Engagements müs- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
sen schnellstmöglich verbreitet werden. Die Erfahrung Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat für die Frak-
ist: Dringend notwendiges Geld wird umso effektiver tion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
und wirkungsvoller eingesetzt, je konsequenter Regie-
rungen und Parlamente sich an die Spitze der nationalen Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Strategien stellen. NEN):
Es ist zweifelsohne auch zu begrüßen, dass mit der Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kol-
finanziellen Ausstattung einer Präventionskampagne leginnen und Kollegen! Meine Kollegin Bender und
durch den Bund das Thema Prävention überhaupt im auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition ha-
Haushaltsentwurf auftaucht; denn leider ist es um Ge- ben wirklich schon zur Genüge darauf hingewiesen, dass
sundheitsförderung und Prävention viel zu ruhig gewor- diese Gesundheitsreform gründlich danebengeht.
den. Wir haben lange über die Notwendigkeit eines Prä-
ventionsgesetzes geredet. Im letzten Jahr wurde hier (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Man kann es
über einen Gesetzentwurf diskutiert. Sie alle kennen das nicht häufig genug sagen! – Lachen bei der
Schicksal. SPD)

Das Bekenntnis von Schwarz-Rot im Koalitionsver- Wir erleben – leider – aber auch, dass die große Ko-
trag zum Präventionsgesetz ist mittlerweile zwölf Mo- alition in dieser Hinsicht offensichtlich vollkommen be-
nate alt. Die Einjahresbilanz ist negativ. So bleibt der ratungsresistent ist.
Ausbau der Prävention zu einer eigenständigen Säule im (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist wohl wahr!
Gesundheitssystem weiterhin auf der Strecke. Wenn jetzt Nur nicht bei der Privatversicherung!)
die Ministerin ankündigt, das Präventionsgesetz solle
nach der Gesundheitsreform und nach der Pflegereform Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie eine Koalition, die
kommen – wir alle wissen, wie gefahrengeneigt auch im sich selbst als „groß“ tituliert, sehenden Auges und ge-
zeitlichen Ausmaß diese Reformen sind –, dann ist die gen die Widerstände von allen Seiten – im Übrigen auch
Prävention ja fast auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver- aus den Reihen der eigenen Koalition – an diesem Un-
tagt. sinn festhalten kann. Glauben Sie mir: Wir als Opposi-
tion finden dieses Spiel hier nur sehr begrenzt amüsant.
Frau Ministerin, wenn Sie ganz richtig den Nichtrau-
cherschutz als eine große Säule für Prävention in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesellschaft ansprechen, dann fordere ich Sie auf: Sie sowie bei Abgeordneten der FDP – Daniel
haben mit der Regierungskoalition eine große Mehrheit Bahr [Münster] [FDP]: Aber die machen das
(B) hier im Parlament. Dann tun Sie es doch und provozie- bei der Pflege gleich weiter!) (D)
ren uns nicht, Gruppenanträge oder Einzelanträge einzu-
bringen! Machen Sie es! Lassen Sie den Worten Taten Ich schaue mit Grauen nicht nur auf den dauerhaften
folgen! Schaden, den Sie gerade mit der Gesundheitsreform an-
richten, sondern auch auf das, was uns wohl noch erwar-
(Beifall bei der LINKEN) tet.
Sie haben es in der Hand. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Bei der Pflege,
jawohl!)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir sehen ja in Ber-
lin, wie toll das Rot-Rot kann!) Sofern Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
großen Koalition, Ihren eigenen Koalitionsvertrag noch
Eine umfassende, verstetigte Prävention hätte für das
kennen, müssten Sie wissen, dass wir zum jetzigen Zeit-
Wohlbefinden von Jung und Alt und auch für die Sozial-
systeme viel Gutes; es gäbe sehr viele Synergien. Hier punkt eigentlich schon bei der Reform der Pflegeversi-
muss einfach ein Punkt gesetzt werden. In der Zukunft cherung sein sollten.
reichen für eine Präventionskampagne 3,2 Millionen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!)
Euro als gesamtgesellschaftlicher Beitrag nicht aus.
Aber auch das haben Sie bisher nicht auf die Reihe be-
Angesichts dieser Summe von 3,2 Millionen Euro kommen.
muten die 6,1 Millionen Euro geradezu grotesk an, die in
Ihrem Haushalt für Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!)
stehen. Sie sollten bessere Gesetze machen. Wenn Sie Die Reform der Pflegeversicherung ist schon auf das
das tun, dann brauchen Sie kein Geld für das Schönreden nächste Jahr verschoben worden.
von Gesetzen, für Gesetze, die es überhaupt noch nicht
gibt, wie in Anzeigen dieses Jahr. Machen Sie Gesetze, (Frank Spieth [DIE LINKE]: Am besten ganz
die den Patientinnen und Patienten helfen! Machen Sie weg!)
Gesetze, die den Beschäftigten helfen! Wenn Sie das tun,
Ich bin einmal gespannt, was für Ausreden wir im nächs-
dann brauchen Sie dieses Geld nicht für eine überbor-
ten Jahr zu hören bekommen. Das ist ein verlorenes Jahr,
dende Öffentlichkeitsarbeit und dann könnten Sie es
sinnvoller verwenden. ein Jahr, in dem die Pflegebedürftigen und ihre Angehö-
rigen weiter auf Verbesserungen warten müssen.
Ich danke.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie hätten sie-
(Beifall bei der LINKEN) ben Jahre lang was machen können!)
6486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Elisabeth Scharfenberg
(A) Genauso lassen Sie alle in der Pflege Beschäftigten im (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie erzeugen (C)
Regen stehen. Alle warten auf Verbesserungen, die sie diese Stimmung!)
dringend brauchen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Frau Minis-
Wenn ich aber die Vorschläge und die Meinungsäuße- terin Schmidt, verlassen Sie endlich Ihren großkoalitio-
rungen der letzten Tage aus den Reihen dieser Koalition nären Sockel und kommen Sie in der Realität an.
zur Pflegereform höre, dann frage ich mich allen Erns- Schauen Sie endlich dahin, wo der wirkliche Bedarf ist,
tes, ob es nicht besser wäre, wenn Sie die Finger davon und reagieren Sie verantwortungsvoll, und zwar ohne
ließen. noch länger abzuwarten!
(Heinz Lanfermann [FDP]: Die machen gleich Danke schön.
zwei Reformen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Wir hören und lesen abenteuerliche Geschichten. Da Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es war kein
wollen die einen, Mitglieder der Union, eine kleine einziger Vorschlag dabei!)
Kopfpauschale einführen, während Ulla Schmidt wie-
derum die Bürgerversicherung ins Spiel bringt. Frau
Ministerin, hier haben Sie unsere volle Unterstützung. Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn für die
Die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Unionsfraktion.
CDU/CSU will mit der Solidarität und der sozialen Ge-
rechtigkeit ganz Schluss machen. Sie will die Pflegever-
sicherung total auf Kapitaldeckung umstellen. Maria Eichhorn (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wäre auch und Kollegen! Das Thema Gesundheit berührt alle Men-
nötig!) schen. Deswegen ist es nachvollziehbar, dass darüber
Aber es kommt noch besser: Sie will auch die Pflege- mit großer Leidenschaft diskutiert wird. Allerdings stelle
stufe I komplett abschaffen, weil dadurch 4 Milliarden ich in Diskussionen mit den Bürgerinnen und Bürgern
Euro gespart werden können. fest, dass sich die Kritik wegen der Kompliziertheit der
Materie meist auf Schlagworte aus den Medien bezieht.
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo
nehmen Sie denn das her?) Den meisten Versicherten und offensichtlich auch
einigen aus der Opposition ist nicht bewusst, dass der
Eigentlich fehlen jetzt nur noch zwei Vorschläge: erstens Leistungskatalog durch die Gesundheitsreform ausge-
die Einführung des Pflegefonds; zweitens die gänzliche weitet wird. Mutter/Vater-Kind-Kuren sind ein Thema, (D)
(B)
Abschaffung der Pflegeversicherung. das uns die letzten Jahre immer wieder beschäftigt hat.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Oder der zu (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: 1,2 Milliar-
Pflegenden!) den!)
Das würde wirklich am meisten sparen.
Viele berechtigte Proteste Betroffener, die dringend eine
(Dr. Wolf Bauer [CDU/CSU]: Und wo wollen Kur gebraucht hätten, haben uns erreicht, weil Kranken-
Sie das Geld hernehmen?) kassen ihnen diese Kuren verweigert hatten. In Zukunft
zählt diese Kur zu den Pflichtleistungen. Das ist eine
Die große Koalition bläst bei der Pflegereform schon
ganz wichtige Verbesserung für Mütter und Väter.
jetzt in das gleiche Horn wie bei der Gesundheitsreform.
Was soll denn dabei Sinnvolles herauskommen? Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Schlimmste daran ist: Sie verlieren bei diesem ganzen der SPD)
Theater nicht ein Wort über die Pflegebedürftigen und
ihre Angehörigen. Genau um diese Menschen geht es Ein wichtiger Fortschritt ist auch, dass in Zukunft
aber hier. geriatrische Rehaleistungen zu Pflichtleistungen der
Krankenkassen werden. Wer hat nicht schon miterlebt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass in der Familie oder in der Nachbarschaft nach
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) einem Sturz oder einem Schlaganfall im Alter eine Re-
Sie sollten sich einmal das Positionspapier der Grünen hamaßnahme verweigert wurde, weil der Patient ja
zur Pflegereform durchlesen. Da steht einiges dazu drin. sowieso in Pflege käme? Dabei kann mit einer Reha-
Ich lade Sie auch ganz herzlich jetzt und hier zu unserem maßnahme die Selbstständigkeit auch im Alter wieder-
morgigen Fachgespräch zu diesem Thema ein. Notfalls hergestellt werden bzw. erhalten bleiben.
können Vertreter der großen Koalition ja inkognito kom- Das, was Sie, Frau Scharfenberg, gerade zum Thema
men; wir werden sie nicht bei den Kollegen verraten. Pflege gesagt haben, kann ich überhaupt nicht nachvoll-
Es würde mir an Ihrer Stelle schwer zu denken geben, ziehen. Es handelt sich um reine Vermutungen, die Sie
wenn hilfsbedürftige Menschen und deren Angehörige, hier angestellt haben.
die sich das Treiben dieser Regierung anschauen, fest- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Alles aus
stellen: Wir brauchen dringend Verbesserungen, aber lie- Zeitungen!)
ber keine Reform als eine von Schwarz-Rot. Genau
diese Stimmung erzeugen Sie momentan im Land. Wir werden darauf zurückkommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6487
Maria Eichhorn
(A) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: belastung zum Beispiel in Restaurants, in denen ge- (C)
Aha!) raucht wird, bis zu 20-mal höher ist als dort, wo Verbote
gelten. Die Passivrauchbelastung in Diskotheken ist be-
Meine Damen und Herren, die humane Antwort auf sonders hoch.
die Forderung nach Sterbehilfe ist die Palliativversor-
gung. Mit diesem neuen gesetzlichen Anspruch ist es Die durch das Rauchen verursachten Kosten belaufen
möglich, den Wunsch zu erfüllen, bis zum Tod in der sich auf circa 17 Milliarden Euro. Laut Angaben des
vertrauten häuslichen Umgebung fachgerecht versorgt Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg sterben
zu werden. Versicherte in stationären Einrichtungen ha- jährlich 140 000 Menschen in Deutschland tabakbe-
ben ebenfalls einen Anspruch auf Palliativversorgung. dingt.
Diese Leistung kann nicht nur von Vertragsärzten, son-
dern auch von entsprechend qualifizierten Krankenhaus- Vizepräsidentin Petra Pau:
ärzten verordnet werden. So können Sterbende wieder Kollegin Eichhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
aus den Krankenhäusern heraus und in das häusliche der Kollegin Bender?
oder ein anderes vertrautes Umfeld zurückgeholt wer-
den. Wer wie ich in den letzten Wochen Einrichtungen
Maria Eichhorn (CDU/CSU):
der Palliativversorgung besucht hat, weiß, dass mit der
Bitte, Frau Bender.
Neuregelung ein lang geäußerter Wunsch dieser Einrich-
tungen in Erfüllung geht.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Kollegin Eichhorn, dürfen wir nach Ihren Wor-
neten der SPD) ten erwarten, dass die große Koalition für einen umfas-
Mit der Gesundheitsreform werden auch die Rahmen- senden Schutz vor Passivrauch in den Gaststätten
bedingungen für Kinderhospize verbessert. Deutschlands eintreten wird?

Das Präventionsgesetz, Frau Dr. Bunge, wird kom- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist Län-
men. Darauf können Sie sich verlassen. dersache!)

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Maria Eichhorn (CDU/CSU):


NEN]: Wann denn? – Zuruf von der LINKEN: Frau Bender, wenn Sie in der letzten Sitzungswoche
Auch 2009?) bei der Diskussion über die Tabakrichtlinie anwesend
Der Gesundheitsetat 2007 enthält Aufwüchse bei Prä- waren, dann konnten Sie von Herrn Staatssekretär
(B) vention und Suchtbekämpfung; das ist auch schon an- Müller hören, dass die Arbeitsgruppe der Koalition auf (D)
gesprochen worden. Als Drogenbeauftragte der Union einem sehr guten Wege ist; es wurde bereits vereinbart,
begrüße ich, dass der Bund 2007 für Drogenprävention dass in Speisegaststätten Rauchverbot herrschen soll.
8,7 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Das sind Derzeit wird noch darüber verhandelt. Ich persönlich
2 Millionen Euro mehr als im letzten Jahr. Diese Mittel und auch Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen
ersetzen bisherige Beträge aus der Tabaksteuer, die noch sind für einen Nichtraucherschutz nach italienischem
in 2006 mit 2,5 Millionen Euro angesetzt waren. Sie Vorbild; denn ich bin der Meinung, dass sich die dortige
werden der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä- Lösung bewährt hat. Wir treten dafür ein, ein generelles
rung speziell für Tabakprävention bei Jugendlichen Rauchverbot in der Gastronomie einzuführen, aber auch
zur Verfügung gestellt. Wenn Kinder bereits in einem abgeschlossene Räume für Raucher zu schaffen, wo
Alter von durchschnittlich 11,6 Jahren das erste Mal rau- diese ihrer Sucht, die zwar schädlich ist, aber auf diese
chen, ist das erschreckend. Daher müssen wir die Auf- Weise keinen anderen schädigt, frönen können. Das
klärung so früh wie möglich beginnen. wäre eine saubere Lösung nach italienischem Vorbild,
die ich befürworten könnte, weil sie einen Schutz der
Wir brauchen aber auch eine Vorbildfunktion für un- Nichtraucher vor dem Passivrauch gewährleistet, aber
sere Kinder und Jugendlichen. Deshalb ist es sehr zu auch einen Raum für Raucher schafft. Ich denke, das
begrüßen, dass die große Koalition sich auf ein Rauch- können auch Sie befürworten. Auf jeden Fall habe ich
verbot in allen öffentlichen Gebäuden, öffentlichen Ver- das in den Ausführungen der Grünen bisher immer so
kehrsmitteln, Theatern und Kinos geeinigt hat. gehört.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
NEN]: Und was ist mit den Gaststätten? – Ge- der SPD)
genruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]:
Sie müssten wissen, dass die Länder dafür zu- Meine Damen und Herren, im Übrigen ist nach einer
ständig sind!) aktuellen Umfrage des Deutschen Krebsforschungszen-
trums die Mehrheit der deutschen Bevölkerung für ein
Dazu gibt es in einigen Kommunen und Bundesländern vollständiges Rauchverbot in der Gastronomie. Ich
bereits gut funktionierende Beispiele. Beschlossen ist selbst habe noch nie so viele zustimmende Zuschriften
auch die Anhebung der Altersgrenze für den Zigaretten- und Anrufe zu einem Thema bekommen wie zu meiner
kauf von 16 auf 18 Jahre. Forderung nach einem Rauchverbot.
Rauchen kann tödlich sein. Neueste Untersuchungen Kollegen, die sich gegen ein Rauchverbot in der
zur Passivrauchbelastung belegen, dass die Gesundheits- Gastronomie aussprechen, befürchten, dass eine solche
6488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Maria Eichhorn
(A) Regelung zu mehr Bürokratie führen und der Umsatz in (Beifall bei der CDU/CSU – Birgitt Bender (C)
der Gastronomie zurückgehen könnte. Dass diese Be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ideologie vor
denken unbegründet sind, zeigen uns die europäischen Rationalität!)
Länder, welche ein Rauchverbot bereits eingeführt ha-
Es ist besser, dieses Geld für eine Verstärkung der
ben.
Cannabisprävention auszugeben; diese ist dringend er-
(Beifall der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD]) forderlich.
Beispielsweise ist in Irland wie auch in anderen Ländern (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der Getränkeumsatz nach Einführung des Rauchverbots NEN]: Was hat denn das eine mit dem anderen
konstant geblieben, während der Speisenumsatz sogar zu tun?)
angestiegen ist.
Wir müssen alles tun, um Menschen vor der Sucht zu be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) wahren.
Es ist an der Zeit, auch in Deutschland zu handeln und (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sucht nach
die große Mehrheit, nämlich 63 Prozent der Bevölke- Macht!)
rung, vor dem Tabakrauch umfassend zu schützen.
Damit können wir ihnen viel Leid und Elend ersparen.
Aber nicht nur die Tabaksucht muss uns zum Handeln
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
veranlassen. Auch die Zahl der Alkoholabhängigen ist
neten der SPD)
erschreckend hoch. Kinder greifen heute durchschnitt-
lich im Alter von 12,8 Jahren zum Alkohol. Ein Jahr
später haben sie bereits den ersten Alkoholrausch. Vizepräsidentin Petra Pau:
Kampftrinken ist „in“ und hat auch schon zum Tod von Das Wort hat die Kollegin Jella Teuchner für die
Jugendlichen geführt. Daher sind Aufklärungskampag- SPD-Fraktion.
nen wie zum Beispiel „Kein Alkohol in Kinderhände“ (Beifall bei der SPD)
äußerst wichtig.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Jella Teuchner (SPD):
Elke Ferner [SPD]) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich danke in diesem Zusammenhang allen Verant- Die Debatte um den Haushalt des Bundesministeriums
wortlichen in den Schulen, Kindertagesstätten, Jugend- für Gesundheit lässt sich nicht losgelöst von der Diskus-
gruppen, Verbänden und Vereinen, die diese Aufklärung sion um die Gesundheitsreform führen. In beiden Dis-
(B) vor Ort betreiben. Schließlich ist der verantwortungs- kussionen steht die Finanzierung der Krankenver- (D)
volle Umgang der Erwachsenen mit Alkohol auch hier sicherung im Mittelpunkt. Für beide Diskussionen gilt
das beste Vorbild für die Jugend. die klare Prämisse: Die gesetzliche Krankenversiche-
rung ist unverzichtbar; nur sie garantiert ein solidari-
Alkohol und Nikotin führen oft auch zu illegalen Dro- sches Gesundheitssystem, in dem die notwendigen
gen. Alarmierend ist vor allem die Zunahme des Kon- Gesundheitsdienstleistungen flächendeckend erbracht
sums von Cannabis. Daher muss die Präventions- und werden.
Aufklärungsarbeit weiter verbessert werden. Cannabis
(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)
ist keine Spaßdroge; sie kann zu schweren physischen
und psychischen Schäden führen. Es gibt eine deutliche Verbesserung, die im Laufe der
Beratungen zum Haushalt erreicht wurde. Wir werden
Zum Ende des Jahres läuft die Heroinstudie aus, die
die pauschale Abgeltung für die versicherungsfrem-
unter der Vorgängerregierung in Auftrag gegeben wurde.
den Leistungen deutlich weniger senken, als dies noch
Die Koalition hat jetzt in einem Spitzengespräch verein-
im Entwurf vorgesehen war. Den Krankenkassen wird
bart, dass bei denjenigen Menschen, die aktuell im Hero-
dadurch 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung stehen.
inprojekt sind, die Behandlung zu Ende geführt wird.
Das ist ein wichtiges Signal.
(Zuruf von der SPD: Nur ein schwacher
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: 5,6 Milliarden
Trost!)
Euro werden den Krankenkassen entzogen!)
Wir wollen diese Menschen schließlich nicht ins Nichts
– Herr Bahr, wenn Sie Ihre qualifizierten Beiträge im
fallen lassen.
Ausschuss bringen würden, dann wäre dies für uns alle
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sehr hilfreich.
NEN]: Und die anderen?)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel
Eine grundsätzliche Fortführung der Heroinsubstitution Bahr [Münster] [FDP]: Mache ich! Sie können
und damit eine Zulassung von Diamorphin als Arznei- noch etwas lernen!)
mittel wird es nicht geben.
– Ich werde mich anstrengen.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dies ist auch ein Signal dafür, dass wir die Verant-
NEN]: Das ist Hilfeverweigerung!)
wortung, die wir für die gesetzliche Krankenkasse ha-
Damit wird den starken Vorbehalten der Union gegen die ben, wahrnehmen. Insbesondere die versicherungsfrem-
Heroinsubstitution Rechnung getragen. den Leistungen sind Ausgaben, die nicht nur von den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6489
Jella Teuchner
(A) Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkassen, sondern handlung von Verkehrsunfällen und privaten Unfällen (C)
von allen Bürgerinnen und Bürgern zu finanzieren sind. Bestandteil des Leistungskataloges bleibt. Es ist richtig,
dass die Chronikerregelung erhalten bleibt und keine hö-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) heren Zuzahlungen verlangt werden.
Es sind Leistungen für alle, die von allen zu finanzieren (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sind.
Es ist auch richtig, dass in Zukunft Eltern-Kind-Kuren,
(Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist mit den verbesserte Leistungen in der geriatrischen Rehabilita-
Kindern?) tion und die Versorgung Sterbender sowie empfohlene
Wir bekräftigen mit dieser Änderung das, was wir mit Impfungen in den Pflichtleistungskatalog aufgenom-
der Gesundheitsreform auf den Weg bringen wollen. Wir men werden.
wollen eine dritte Säule der Finanzierung: eine spürbare Mittel effektiv zu verwenden, ist die eine Aufgabe,
Steuerfinanzierung für die gesetzlichen Krankenkas- die wir mit der Gesundheitsreform angehen. Die andere
sen. Dazu brauchen wir Antworten auf folgende Fragen: Aufgabe ist: Wir müssen die gesetzliche Krankenversi-
Wie finanzieren wir die Krankenversicherungen? Wer cherung auf eine tragfähige finanzielle Basis stellen. Mit
muss welchen Beitrag leisten? Woher kommt das Geld? den zusätzlichen Mitteln für die pauschale Abgeltung
Unser Anspruch dabei ist, dass es auch in Zukunft eine verbessern wir die Startposition.
solidarische Finanzierung gibt. Wir wollen, dass die
Reichen weiterhin für die Armen, die Gesunden für die Wie sieht die Situation zurzeit aus? Das Beitragsauf-
Kranken und die Jungen für die Alten einstehen. kommen für die gesetzliche Krankenversicherung hält
nicht mit den Kostensteigerungen mit. Die Leistungs-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ausgaben stiegen von 1980 bis 2000 im gleichen Maße
der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] wie das Bruttoinlandsprodukt. Die beitragspflichtigen
[FDP]: Wer stellt das eigentlich infrage? – Einnahmen pro Mitglied blieben allerdings dahinter zu-
Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist mit den rück. Grund dafür ist, dass der Anteil der Bruttolöhne
Kindern?) und -gehälter am Volkseinkommen von 70,1 Prozent
Wenn wir über die gesetzliche Krankenversiche- im Jahre 1992 auf 64,7 Prozent im Jahre 2000 gesunken
rung reden, dann sprechen wir über ein Ausgabenvolu- ist. Es ist also eine Lücke zwischen Kostensteigerungen
men von 235 Milliarden Euro pro Jahr. Dies sind Ausga- und Lohnsteigerungen entstanden, die zu einer Finan-
ben, die von den Beiträgen der Versicherten finanziert zierungslücke in der gesetzlichen Krankenkasse führt.
werden. Die Versicherten verlangen zu Recht, dass mit Einen Teil dieser Lücke wollen wir mit Mitteln, die
(B) ihren Beiträgen durch die Steuererhöhung 2003 generiert wurden, schlie- (D)
(Otto Fricke [FDP]: Und Steuern!) ßen. In den Eckpunkten zur Gesundheitsreform ist nun
vorgesehen, versicherungsfremde Leistungen immer
wirtschaftlich umgegangen wird. Sie verlangen ebenfalls stärker aus Steuern zu finanzieren.
zu Recht, dass ihnen die notwendigen medizinischen
Leistungen zur Verfügung stehen und sie am medizini- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schen Fortschritt teilhaben können. NEN]: Womit? – Daniel Bahr [Münster]
[FDP]: 5,6 Milliarden Euro werden entzogen!)
Ich sehe es daher als Erfolg der Gesundheitsreform,
dass wir damit fortfahren, Strukturen zu verändern, die 2005 haben die Krankenkassen rund 5 Milliarden Euro
in vielen Jahren gewachsen sind. Es ist uns gerade bei für solche Leistungen ausgegeben. Diese Mittel gilt es
den neuen Versorgungsformen gelungen, Schritte nach zu verstetigen.
vorn zu machen. Krankenkassen müssen in Zukunft ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nen Hausarzttarif als Wahltarif anbieten. Die Kassen ha-
ben die eingeschränkte Möglichkeit, Preise für Arznei- Herr Bahr, auch wenn Sie immer wieder dazwischen-
mittel auszuschreiben, und die Krankenhäuser werden rufen,
weiter für die ambulante Versorgung geöffnet. Wir ma- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es bleibt im-
chen also einen weiteren Schritt hin zu mehr Effizienz, mer wieder wahr!)
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Oh Gott!) bleibt es dabei.
mehr Koordination und mehr Qualität im Gesundheits- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es bleibt im-
wesen. mer wieder wahr!)
Ich sehe es auch als Erfolg, dass in Zukunft 300 000 Deswegen müssen wir schauen, dass wir die Leistungen
Nichtversicherte wieder eine Krankenversicherung ha- sichern können.
ben werden. Wir wollen, dass jeder krankenversichert
ist. Dies umzusetzen, ist längst überfällig. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Tun Sie aber nicht! – Daniel Bahr
(Beifall bei der SPD) [Münster] [FDP]: Es tut weh; aber es bleibt
wahr!)
Es gibt noch einen wichtigen Erfolg der Gesundheits-
reform. Wir führen eine Reform durch, die keine Leis- – Ich habe Sie gehört. Sie brauchen es nicht zum vierten
tungskürzungen beinhaltet. Es ist richtig, dass die Be- Mal zu wiederholen.
6490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Jella Teuchner
(A) In der Anhörung zur Gesundheitsreform ging es unter versicherung immer mehr auf die Versicherten verla- (C)
anderem um die Regelungen zur privaten Krankenver- gern. Es darf auch nicht dazu kommen, dass durch die
sicherung. Es wurde deutlich, dass das Argument, die Insolvenz einer Krankenkasse Löcher in die Finanzie-
private Krankenversicherung unterstütze die gesetzliche, rung der medizinischen Versorgung gerissen werden.
nicht stimmt. Die privaten Krankenversicherungen zah-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
len zwar höhere Arzthonorare. Der Finanzverlust für die
NEN]: Dann müsst ihr etwas am Gesetzent-
gesetzliche Krankenkasse durch die Risikoselektion der
wurf ändern!)
Privaten übertrifft diese höheren Honorare aber bei wei-
tem. Es stellt sich schon die Frage, wie hoch der Beitrag Hier liegen Aufgaben, die wir in den weiteren Bera-
zu einer privaten Krankenversicherung sein müsste, tungen zur Gesundheitsreform lösen müssen. Mit den
wenn sie zum Beispiel auch die Kosten für die Infra- zusätzlichen Mitteln für die versicherungsfremden Leis-
struktur bei der ärztlichen Versorgung durch die Kran- tungen setzen wir hier das Signal: Wir sind handlungsfä-
kenhäuser übernehmen müsste. hig.
(Beifall bei der SPD) Es muss vor allem aber ein Signal an uns selbst sein.
Mit der Gesundheitsreform werden wir beschließen,
Wie viel müsste dann bezahlt werden?
dass die Politik für die Beitragssätze verantwortlich ist.
Außerdem machen Privatversicherte im Wesentlichen Das heißt, wir müssen diese Verantwortung zukünftig
dort einen spürbaren Anteil aus, wo wir eine medizini- selber wahrnehmen.
sche Überversorgung haben. Sichergestellt wird die Ver-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist ja das
sorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung.
Schlimme!)
90 Prozent der Menschen haben eine gesetzliche Kran-
kenversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung ist unverzichtbar.
Wir sind es, die die Finanzierung sicherstellen müssen.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie dürfen ja
auch gar nicht wählen!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Kassenlage!)
Für diese Menschen müssen wir deren Krankenkassen Das heißt, wir müssen jetzt und auch in Zukunft hand-
funktionsfähig erhalten. lungsfähig sein.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster]
Wir stehen aber weiter in der Pflicht, die Finanzie- [FDP]: Gesundheit nach Kassenlage!)
rung der gesetzlichen Krankenkassen verlässlich zu re-
(B) geln. Wir müssen damit das Fundament stärken. Die (D)
Reform sieht einen Fonds zur Finanzierung der Kran- Vizepräsidentin Petra Pau:
kenkassen vor. Es ist notwendig, die Finanzierung der Der Kollege Dr. Rolf Koschorrek hat für die Unions-
gesetzlichen Krankenkassen und gleiche Wettbewerbs- fraktion das Wort.
bedingungen so weit wie möglich sicherzustellen; denn (Beifall bei der CDU/CSU)
ohne diese gibt es keinen Wettbewerb um eine effiziente
und gute Versorgung, sondern nur reinen Preiswettbe-
Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU):
werb. Eine Verschlechterung des Leistungsumfangs,
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gesund-
zum Beispiel durch Streichung von Satzungsleistungen
heitspolitik und Gesundheitsreform sind in diesen Tagen
oder Einschränkungen der im SGB V als Kann- oder Er-
fast schon zu Synonymen geworden. Seit Monaten wer-
messensleistung definierten Maßnahmen, würde dann
den die geplanten Neuerungen ausgiebig öffentlich dis-
drohen. Dies darf nicht passieren; denn dies würde das
kutiert und vielfach aus verschiedenen Perspektiven und
bewährte System der gesetzlichen Krankenkassen in sei-
Gründen gescholten.
nem Bestand gefährden.
In diesem Jahr haben wir als große Koalition einige
Wir müssen sicherstellen, dass der Morbi-RSA wirk-
wegweisende Gesetze im Bereich der Gesundheitspolitik
lich funktionieren wird. Darüber hinaus müssen wir
auf den Weg gebracht.
nochmals deutlich machen, dass wir von Anfang an ei-
nen deutlichen Steuerzuschuss brauchen. Bisher ist fest- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Welche?)
gelegt, dass im Startjahr die Finanzmittel, die über die
Bereits im Frühjahr verabschiedete der Bundestag das
Beitragseinnahmen und die zusätzlichen Steuermittel in
AVWG – zunächst unter schwerem Beschuss der Kriti-
den Fonds fließen, ausreichen sollen, um die zu erwar-
ker –, im Verlauf der letzten Monate hat sich aber die po-
tenden Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversi-
sitive Wirkung des Gesetzes auf die Kosten im Arznei-
cherung zu decken. Dies müssen wir auch in Zukunft si-
mittelbereich deutlich herausgestellt.
cherstellen. Wenn das nicht gelingt, wenn wir den
Kassen Mittel entziehen, dann muss das dadurch aufge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
fangen werden, dass Leistungen, die keine Pflichtleis- neten der SPD)
tungen sind, nicht mehr gewährt werden. Das wollen wir
Der überproportionale Anstieg der Kosten in diesem Be-
alle nicht.
reich im ersten Quartal ist bereits zum Ende dieses Jah-
Es darf nicht dazu kommen, dass wir über einen stetig res nicht nur ausgeglichen, sondern wir werden abschlie-
steigenden Zusatzbeitrag die Kosten für die Kranken- ßend für dieses Jahr sogar sinkende Kosten haben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6491
Dr. Rolf Koschorrek
(A) Besondere Kritik erfuhr die Einführung der Bonus- bar und wolle lieber mit dem Kopf durch die Wand, als (C)
Malus-Regelung in diesem Bereich. Änderungen des Konzepts zuzulassen.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die kommt Bei der mehrtägigen Anhörung zur Gesundheitsre-
erst nächstes Jahr!) form im Ausschuss bekamen wir in der vergangenen
Woche von allen Seiten durchaus geballte Kritik zu hö-
Durch gute, wegweisende regionale Verhandlungen konn-
ren. Die erste – formale, aber keineswegs unwichtige –
ten aber auch hier in den vergangenen Wochen und Mo-
Konsequenz dieser Anhörung ist, dass wir uns mehr
naten zukunftsfeste, qualitätssteigernde und kostensen-
Zeit für die Beratung des Gesetzes nehmen; der Bun-
kende Verträge geschlossen werden.
destag wird erst im Januar darüber abstimmen. Das an-
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist gedrohte beschleunigte Hauruckverfahren ist damit vom
es!) Tisch.
Hier möchte ich besonders auf das in meiner Heimat (Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/
Schleswig-Holstein in der vergangenen Woche zwischen CSU])
KV, Apothekern und Kassen als ablösende Vereinbarung
beschlossene leitliniengestützte Informationssystem hin- Zusammen mit meinen Fraktionskollegen bin ich da-
weisen. Hier zeigt sich, dass gute und vertrauensvolle von überzeugt, dass wir im Laufe der Ausschussberatun-
Zusammenarbeit der Kassen, der Leistungserbringer und gen zur Gesundheitsreform in den nächsten Wochen
nicht zuletzt der Politik auf regionaler Ebene durchaus auch inhaltlich in einigen wesentlichen Punkten Lösun-
gut funktioniert. gen finden und beschließen werden, die inhaltlich besser
und praktikabler als jene im vorliegenden Gesetzentwurf
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind.
neten der SPD)
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber Frau
Vor einigen Wochen verabschiedeten wir hier das Schmidt hat gesagt, es gebe keine Änderungen
Vertragsarztrechtsänderungsgesetz, das viele libera- mehr!)
lere Organisationsformen in der ärztlichen Versorgungs-
landschaft ermöglicht, vorhandene Hemmnisse abbaut Wir von der Union werden deutlich machen, dass eine
und den ärztlichen Kollegen für die flächendeckende parlamentarische Anhörung für uns keine Farce ist, die
Versorgung der Patienten neue Perspektiven gibt. Zu- wir als parlamentarisches Ritual über uns ergehen las-
gleich wird hier die Zukunftsfestigkeit unseres Gesund- sen. Wir werden aus dem Gehörten, aus den Informatio-
heitssystems nachhaltig gestärkt. Die engere Verzahnung nen der Fachleute aus den Verbänden, Konsequenzen
(B) von ambulanter und stationärer Versorgung wird deut- ziehen. Im Anhörungsverfahren ist uns sehr deutlich ge- (D)
lich verbessert. Zudem verpflichtet das Gesetz die ge- macht worden, dass wir in einigen Punkten zu Verbesse-
setzlichen Krankenkassen nachdrücklich dazu, ihre rungen kommen müssen.
Schulden offen zu legen und sie in einem konkreten
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das kann man
Zeitrahmen abzubauen. Wir schaffen damit für die Kas-
wohl sagen!)
sen im Hinblick auf die künftige neue Finanzstruktur der
GKV vergleichbare Startbedingungen. Bei aller lauten, manchmal überzogenen Kritik muss
festgestellt werden, dass die parlamentarische Bera-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dabei werden
tung der Reform eigentlich erst jetzt beginnt. Arbeits-
die gut funktionierenden Krankenkassen be-
straft!) gruppen und Ausschuss werden sich in dieser und in der
kommenden Woche erstmals inhaltlich mit den Details
So viel zu den bereits beschlossenen, sehr umfangrei- des Gesetzes und den Schlussfolgerungen aus der Kritik,
chen Vorhaben. die in 26 Stunden Anhörung geübt wurde, befassen. Ich
bin sicher, dass viele Teile des Gesetzentwurfs noch
Nun steht die parlamentarische Beratung des größten reichlicher Überarbeitung bedürfen.
Gesetzeswerkes, das je im Rahmen einer Gesundheitsre-
form geschaffen wurde, bevor. Die Bürger – das erfahren Als letzter Redner der Debatte möchte ich allen Betei-
wir immer wieder in Gesprächen und bei Veranstaltun- ligten ausdrücklich für die – bei aller Kontroverse – gute
gen in den Wahlkreisen – haben allerdings angesichts Zusammenarbeit danken. Ich freue mich auf die weite-
der Vielfalt der Reformmaßnahmen nicht nur den Über- ren Beratungen.
blick darüber verloren, was die Gesetze im Einzelnen
bringen; vielfach haben sie auch das Interesse daran ver- Danke schön.
loren, die Diskussionen zu verfolgen und sich mit den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
verschiedenen Meinungen, Vorschlägen und Standpunk- Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ob das wirklich
ten auseinander zu setzen. Viele wollen sich erst wieder eine Freude ist?)
dann mit dem Thema befassen und sich informieren,
wenn es ernst wird. Jetzt wird es ernst!
Vizepräsidentin Petra Pau:
Bei vielen Betroffenen, zum Beispiel bei den Ärzten, Ich schließe die Aussprache.
den Krankenkassen, Krankenhäusern und ihren Beschäf-
tigten, ist bei all den Auseinandersetzungen und Diskus- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-
sionen der Eindruck entstanden, die Politik sei unbelehr- plan 15 – Bundesministerium für Gesundheit – in der
6492 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Ausschussfassung. Hierzu liegen uns vier Änderungsan- bitte die Kolleginnen und Kollegen, welche an der Bera- (C)
träge vor, über die wir zuerst abstimmen. tung dieser Einzelpläne nicht teilhaben können oder wol-
len, ihre Gespräche draußen fortzusetzen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/3487? – Gegenstimmen? – Ent- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
haltungen? – Dieser Antrag ist mit den Stimmen der Ko- gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die FDP-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen der Fraktion.
FDP und der Linken bei Enthaltung der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. (Beifall bei der FDP)

Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
FDP auf Drucksache 16/3488? – Gegenstimmen? – Ent-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
haltungen? – Dieser Antrag ist ebenfalls mit den Stim-
nen und Kollegen! Rückblick auf ein Jahr schwarz-rote
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Koalition und Rechtspolitik heißt, Licht und Schatten
Fraktionen der FDP und der Linken bei Enthaltung der
aufzeigen. Der Vielzahl von Gesetzentwürfen aus die-
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
sem Jahr steht keine Vielzahl rechtspolitisch guter
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion Die Ergebnisse gegenüber. Das Fazit der FDP-Bundestags-
Linke auf Drucksache 16/3461. Wer stimmt dafür? – Ge- fraktion zur Rechtspolitik der Bundesregierung im ver-
genstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist gegen gangenen Jahr fällt daher verhalten aus.
die Stimmen der Fraktion Die Linke von den übrigen
Fraktionen des Hauses abgelehnt. Mit dem Zollfahndungsdienstgesetz und dem Euro-
päischen Haftbefehlgesetz ist aus Sicht der FDP-Frak-
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion Die tion den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts leider
Linke auf Drucksache 16/3462. Wer stimmt dafür? – nicht in ausreichendem Maß Genüge getan worden. In
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag diesem Bereich ist die Gesetzgebung nicht gelungen,
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor abge- hier gibt es Schatten.
lehnt.
Einige Anhörungen, die im Rechtsausschuss zu ei-
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Einzel- nem Teil der auf den Weg gebrachten Gesetzentwürfe
plan 15 in der Ausschussfassung. Wer stimmt für den stattfanden, haben in einigen Punkten zu überraschenden
Einzelplan 15? – Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltun- und für die Bundesregierung etwas schmerzlichen Er-
gen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Einzelplan 15 kenntnissen geführt. Lassen Sie mich erinnern an die
mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Frak- Anhörung zum Gesetzentwurf zum Pfändungsschutz der
(B) tion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen des Hau- Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insol- (D)
ses angenommen. venzanfechtung. Die Meinung der Sachverständigen war
so einhellig, die Kritik überwog derart, dass diese Ände-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.7 auf:
rung der Insolvenzordnung jetzt nicht durchgezogen
a) hier: Einzelplan 07 wird. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die
Bundesministerium der Justiz Parlamentarier mithilfe des Sachverstands von Experten
deutlich machen, wo Schwächen sind, und dass das ent-
– Drucksachen 16/3107, 16/3123 – sprechend umgesetzt bzw. durchgesetzt wird.
Berichterstattung: (Beifall bei der FDP – Klaus Uwe Benneter
Abgeordnete Otto Fricke [SPD]: Lebenslanges Lernen!)
Lothar Binding (Heidelberg)
Dr. Ole Schröder Das entspricht unserer Auffassung von der Arbeit im
Roland Claus Rechtsausschuss.
Anna Lührmann
Die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie
b) hier: Einzelplan 19 – das kann ich Ihnen nicht vorenthalten – war insgesamt
Bundesverfassungsgericht kein Ruhmesblatt. Ich will die Diskussion, die besonders
für die Kollegen von der CDU/CSU schmerzhaft gewe-
– Drucksache 16/3124 –
sen ist, nicht wiederholen. Eines will ich aber sagen:
Berichterstattung: Schon bei der Schlussberatung wurden viele handwerkli-
Abgeordnete Lothar Binding (Heidelberg) che Mängel aufgezeigt und jetzt, nur wenige Monate
Dr. Ole Schröder nach In-Kraft-Treten, zeigt sich, dass das Gesetz in der
Otto Fricke Praxis hoch missbrauchsanfällig ist. Schon jetzt zeichnet
Dr. Dietmar Bartsch sich ab, dass die erwarteten Vorteile für die Betroffenen
Anna Lührmann in der beabsichtigten Form überhaupt nicht eintreten
werden.
Zu dem Einzelplan 07 liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor. (Beifall bei der FDP)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Frau Ministerin, Sie haben sich mit einem sehr wich-
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich tigen Vorhaben, nämlich der Neuordnung der Telekom-
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich munikationsüberwachung, einige Zeit gelassen. Jetzt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6493
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) liegt ein Referentenentwurf vor. Die FDP-Fraktion hat in behandlungsgesetzes. Ich glaube, dass die zwei Be- (C)
Anträgen, die sie in der letzten und in dieser Legislatur- richte, die letzte Woche dazu in der Presse zu lesen wa-
periode vorgelegt hat, deutlich gemacht, wie dringlich ren – wenn ich es richtig verfolgt habe, waren sie im
und notwendig diese Neuordnung ist, die im Übrigen „Spiegel“ und einem anderen Magazin –, maßlos über-
auch durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts vor- trieben sind.
gegeben ist. Ich hoffe, dass wir den Gesetzentwurf zügig
zugeleitet bekommen und dann nicht nur den Deliktkata- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg van
log durchforsten – das ist mit Sicherheit ein wichtiger Essen [FDP]: Man wird permanent darauf an-
Punkt –, sondern uns auch damit befassen, wie wir auf gesprochen! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/
die abnehmende Kontrollwirkung durch den Richtervor- DIE GRÜNEN]: Die sind von A bis Z un-
behalt zu reagieren gedenken, und natürlich damit, wel- wahr!)
che anderen Verbesserungen bei der Benachrichtigung – Danke schön.
Betroffener vorzunehmen sind, bis hin zu dem Problem,
dass wir einheitliche Regelungen für die Berufsgeheim- Sie sind in einer solchen Weise unwahr, dass man nur
nisträger brauchen. sagen kann: Das ist tendenziös und damit ist etwas ganz
anderes gemeint: Es geht um einen angeblichen Zwist
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Vorhaben zwischen den Koalitionspartnern, der vertieft werden
ansprechen: die Stärkung der Pressefreiheit. Dazu gab soll, obwohl völlig klar ist: Die Koalitionspartner haben
es eine Anhörung, einen Vorschlag der FDP-Fraktion dieses Gesetz gemeinsam auf den Weg gebracht. Es ist
und einen weiteren vom Bündnis 90/Die Grünen. Die ein richtiges Gesetz. Wenn es vielleicht an der einen oder
Sachverständigen haben dargestellt, und zwar alle, auch anderen Stelle Verwerfungen gibt, dann ist das relativ
die von CDU/CSU und SPD benannten, dass es hier normal. Sie erinnern sich sicherlich daran, dass wir, als
Handlungsbedarf gibt. Ich will jetzt keine einzelnen vor 25 Jahren der so genannte Portoparagraf ins BGB
Punkte aufzeigen. Ich denke, morgen werden in der Ver- eingeführt wurde, am Anfang dieselben Probleme hat-
handlung beim Bundesverfassungsgericht im „Cicero“- ten. Es gab dann fünf Entscheidungen und damit war der
Verfahren noch weitere deutliche Hinweise gegeben. Ich Fall gelöst.
sage Ihnen, Frau Ministerin: Sie haben unsere Unterstüt-
zung, wenn Sie in andere Gesetzgebungsverfahren, zum (Klaus Uwe Benneter [SPD]: 25 Jahre ist das
Beispiel zur Telekommunikationsüberwachung, Ände- schon her?)
rungen zur Stärkung der Pressefreiheit aufnehmen. – Ja, dieses Land ist weiter, als man manchmal denkt.
Lassen Sie mich in meiner kurzen Redezeit in nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(B) zwei Sätzen einen Blick auf das werfen, was im nächsten (D)
Jahr neben den jetzt im Gesetzgebungsgang befindlichen Das ist also nicht so dramatisch. Ich sehe das entspannt.
Verfahren ansteht. Ich denke, entscheidende Bedeutung Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Ankündigung,
kommen der EU-Ratspräsidentschaft und dem gesam- dass Sie uns vor allem während der EU-Präsidentschaft
ten Bereich der Rechtspolitik zu, der zum Schwerpunkt in Sachen Mindeststandards für Strafverfahren unterstüt-
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden soll. Hier zen wollen. Ich gehe davon aus, dass das das ganze Haus
muss endlich ein Durchbruch bei der Stärkung der betrifft. In der Tat ist es so, dass wir da vorankommen
Beschuldigtenrechte im Mittelpunkt stehen. Wir haben müssen. Wir müssen deutlich machen, dass die Vorgaben
bisher immer die Sicherheitsorgane aufgrund von EU- aus Brüssel nicht nur eine Beschränkung von Rechten
Rahmenbeschlüssen und EU-Gesetzgebung gestärkt. hinsichtlich der Speicherung und Weitergabe von Daten
Hier brauchen wir jetzt einen deutlichen Durchbruch. bedeuten – so wird es gerade in Deutschland im Bereich
Ich hoffe – dabei haben Sie unsere Unterstützung, Frau der Rechtspolitik vielfach wahrgenommen –, sondern
Ministerin –, dass das in den sechs Monaten EU-Rats- eben auch die Schaffung von Mindeststandards in allen
präsidentschaft trotz ganz erheblicher Widerstände ge- Staaten.
lingen kann und wird.
Ich war gestern in Brüssel und habe mit den Abgeord-
Recht herzlichen Dank. neten des Europaparlaments Gespräche darüber geführt.
(Beifall bei der FDP) Dort wird dieses Vorhaben sehr begrüßt und dort haben
wir Unterstützung. Aber Sie haben völlig richtig darauf
hingewiesen, dass im Rat die Kritik von den anderen
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ländern kommen wird. Es wird deshalb kein einfaches
Nach diesen sehr langen zwei Sätzen hat nun die Bun- Unterfangen. Aber wir werden unser Bestes versuchen.
desministerin der Justiz, Brigitte Zypries, das Wort.
Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen: Ein halbes Jahr
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist sehr kurz. Das ist leider so. Wir haben die Idee des
Verfassungsvertrages aufgenommen – das sage ich zur
Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Ergänzung – und zum ersten Mal eine 18-Monats-Prä-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sidentschaft. Wir haben das Programm mit den Portu-
Herren Kolleginnen und Kollegen! Ich darf zunächst giesen und mit den Slowenen abgestimmt. Sonntag fan-
einmal ganz kurz auf zwei Punkte eingehen, die Sie den die letzten Abstimmungen statt. Wir haben jetzt
angesprochen haben, liebe Frau Leutheusser- einen gemeinsamen Text, in dem beschrieben wird, was
Schnarrenberger: Missbrauch des Allgemeinen Gleich- wir machen wollen. Ich bin ganz optimistisch, dass die
6494 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries


(A) beiden Länder, die sich verpflichtet haben, dabei mitzu- jetzt wieder aufgestockt werden können. Mit anderen (C)
machen, unsere Abmachungen fortführen werden, wenn Worten: Es bleibt beim bisherigen Personalbestand.
wir selbst nicht so weit kommen sollten.
Ich möchte mich namentlich bei den Haushaltsbe-
Nun zum eigentlichen Thema, dem Haushalt. Es ist richterstattern Lothar Binding, Ole Schröder und Roland
mir ein Anliegen, zunächst einmal darauf hinzuweisen, Claus bedanken, die letzte Woche extra noch einmal
dass nicht jede Modernisierung des Staatsapparates ei- nach München gefahren sind, um das Deutsche Patent-
nen Bürokratieabbau zur Folge haben muss. Sie kennen und Markenamt zu besuchen und sich vor Ort zu infor-
meine Position: Ein gutes Staatsmanagement ist nicht mieren. Das war nicht nur für das Amt ein gutes Signal
nur eine Frage der Quantität, sondern auch eine Frage – dass dem so ist, kann ich Ihnen mitteilen, weil ich in
der Qualität. Es geht darum, die Verwaltung vernünftig der letzten Woche an der dortigen Personalversammlung
zu organisieren, damit sie mit den zur Verfügung stehen- teilgenommen habe –, sondern auch insgesamt ein gutes
den Mitteln ein Optimum an Leistung erbringen kann. Signal im Hinblick auf die verantwortliche Tätigkeit des
Deutschen Bundestages, in deren Rahmen auch nachge-
Ich will darauf hinaus – Sie ahnen es wahrscheinlich ordnete Behörden und nicht immer nur die Ministerien
schon –, dass wir das Bundesamt für Justiz gegründet berücksichtigt werden; auch das wird zur Kenntnis ge-
haben. Ich möchte mich ganz herzlich bei all denen be- nommen.
danken, die dazu beigetragen haben, es zu ermöglichen,
dass dieses neue Amt seine Arbeit bereits am 1. Januar Wie Sie wissen, sind wir der Auffassung, dass krea-
nächsten Jahres aufnehmen kann. Insbesondere möchte tive Erfinder in Deutschland ganz besonders gefördert
ich mich bei den Haushaltspolitikern bedanken, denen werden müssen. Wir haben keine Bodenschätze. Unser
dieses Projekt, das nachträglich in den Haushaltsplan Schatz ist die Kreativität der Menschen, die hier leben,
aufgenommen wurde und mehr als 100 Änderungs- und die Tatsache, dass sie Patente und Marken zügig an-
anträge mit sich brachte, viel Arbeit gemacht hat. Ich melden können und schnell darüber entschieden wird.
möchte mich aber auch bei den Rechtspolitikern bedan- Ich sagte bereits: Beim Stauabbau haben wir den
ken, die mit dem Errichtungsgesetz die Rechtsgrundlage Break-even erreicht. Jetzt sind wir dabei, den Stau abzu-
für das Bundesamt für Justiz geschaffen haben. arbeiten. Dieses Niveau müssen wir, auch im internatio-
nalen Vergleich, halten und unsere Bemühungen fortset-
Ich glaube, es war eine gute Idee, dass wir die beim
zen.
Umzug von Bonn nach Berlin seinerzeit erfolgte Aufga-
benkritik jetzt in gewisser Weise aufgenommen haben. Vorhin haben wir schon kurz über die deutsche EU-
Die Zuständigkeit für Aufgaben, die nicht notwendiger- Ratspräsidentschaft gesprochen. Das Patentrecht wird
(B) weise im Ministerium angesiedelt sein müssen, können in diesem Zusammenhang mit Sicherheit ein wichtiges (D)
wir nun anderweitig regeln. Die neue Behörde hat also Thema sein. Fast könnte man sagen: Beim Versuch, ein
nicht mehr Aufgaben bekommen, sondern ihre Aufga- europäisches Gemeinschaftspatent zu schaffen, handelt
ben wurden konzentriert. Teilweise handelt es sich um es sich um eine Never-Ending-Story. Wie Sie wissen, ist
solche Aufgaben, die bisher beim Ministerium angesie- Deutschland der Auffassung, dass ein europäisches Ge-
delt waren, teilweise betrifft dies das BZR, also das Bun- meinschaftspatent geschaffen werden sollte, sofern es
deszentralregister – das ist der wesentliche Nukleus –, wirtschaftlich ist – wenn also die Kosten für die Anmel-
das von der Generalbundesanwältin geführt wird. Mit der gleich hoch blieben oder sogar, was noch besser
dieser Bündelung der Aufgaben erzielen wir eine Menge wäre, minimiert würden –, und dass wir ein effizientes
Synergieeffekte. Rechtsschutzsystem brauchen. Nur dann, wenn dieses
System mindestens so gut ist wie das, was wir mit dem
Ein anderes Thema, das wir damit für meine Begriffe europäischen Bündelpatent haben, können wir darüber
abhaken, ist die Sicherung des Justizstandortes am reden, wie wir das bestehende System ändern wollen.
Rhein. Zumindest die Beschäftigten des Bundesamtes Wir müssen die Frage der hohen Kosten der Überset-
für Justiz können sich in Zukunft aus den immer wieder- zung von Patenten zufrieden stellend lösen.
kehrenden Debatten über den Rutschbahneffekt beim
Regierungsumzug ausklinken. Denn sie wissen: Ihr Ar- Wir werden uns auf europäischer Ebene mit dem
beitsplatz ist in Bonn und er wird in Bonn bleiben. Thema „geistiges Eigentum“ im nächsten Jahr sehr be-
schäftigen. Wir werden uns während unserer Präsident-
Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen schaft im Europäischen Rat damit auseinander zu setzen
und mich erneut bei Ihnen bedanken. Dabei geht es um haben, wie man ein europäisches Gemeinschaftspatent
zwei Fragen, die mir, wie Sie wissen, sehr am Herzen schaffen kann. Die Europäische Kommission will noch
liegen: Wie ist das Deutsche Patent- und Markenamt im Dezember einen neuen Standpunkt dazu vorlegen,
ausgestattet? Wie schaffen wir es, den Break-even, den von dem wir hoffen, dass sich die Punkte, die ich eben
wir beim Stauabbau erreicht haben, zu halten und keinen angesprochen habe – als Voraussetzungen dafür, dass
neuen Stau aufzubauen? Deutschland dem zustimmen kann –, darin wiederfinden
werden.
Das gelingt natürlich nur, wenn wir gute EDV und
gutes Personal in ausreichender Zahl zur Verfügung stel- Wir werden das auch im Kreise der G 8 – Sie wissen,
len. Deswegen danke ich all denen ganz herzlich, die Deutschland wird auch die G-8-Präsidentschaft über-
dazu beigetragen haben, dass die Stellen, die aufgrund nehmen – zu einem Thema machen. Die Innen- und Jus-
des linearen Personalabbaus verloren gegangen sind, tizminister der G 8 werden sich im Mai in München tref-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6495
Bundesministerin Brigitte Zypries
(A) fen. Wir wollen dort internationale Standards abgleichen Wolfgang Nešković (DIE LINKE): (C)
und uns mit der Frage beschäftigen, ob wir eine Ergän- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
zung der WIPO-Standards für geistiges Eigentum brau- Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministerin
chen. Wir wollen im Kreis der G 8 außerdem diskutie- Zypries! Das Schlechte an dem heute zu beratenden
ren, ob wir eine Veränderung der Strafvorschriften und Einzelplan 07, Justiz, ist nicht, dass die finanziellen Zu-
Verfolgungsmöglichkeiten brauchen. Das geistige Ei- weisungen unter der einen oder anderen Kennziffer auf
gentum ist für Staaten wie Deutschland, die nicht über Seite soundso etwas großzügiger hätten ausfallen kön-
Rohstoffe verfügen, ein besonders wichtiges Thema. Wir nen. Das Schlechte an diesem Einzelplan ist, dass er so
alle müssen uns darüber im Klaren sein, dass Schutz des schlecht ist wie seine Vorgängerpläne.
geistigen Eigentums heißt: Schutz unserer Arbeitsplätze
und unseres Wohlstands. Das ist uns in diesem Hause al- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
ler Anstrengungen wert.
Denn die deutsche Justiz ist seit Jahren chronisch unter-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten finanziert.
der CDU/CSU) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die 200 wissen-
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Dank an den schaftlichen Mitarbeiter nicht zu vergessen!)
Haushaltsausschuss aussprechen, der die besondere Si- Der aktuell vorliegende Einzelplan hilft diesem Zustand
tuation des Bundesministeriums der Justiz und des Bun- auf der Ebene der obersten Bundesgerichte erneut nicht
desverfassungsgerichts in einem Beschluss berücksich- ab.
tigt hat, der für die Versorgungsausgaben eine Umlage
vorsieht, die bisher zentral veranschlagt waren und nun- Viele in diesem Haus finden schmale Justizhaus-
mehr in den Plänen der einzelnen Ressorts ausgewiesen halte überhaupt nicht ungewöhnlich, sie sind der Regel-
werden. Sie wissen, dass das bei einem Haushaltsplan, fall, sie werden nicht hinterfragt, sie sind das Normale.
der ganz überwiegend aus Personalkosten besteht, be- Wenn Menschen definieren, was das Normale ist, dann
sonders problematisch ist. Ich möchte deshalb dem benennen sie allzu oft lediglich das, woran sie sich ge-
Haushaltsausschuss, der auf Antrag der Abgeordneten wöhnt haben. Der Zustand der Gewöhnung mag ein
Lothar Binding, Dr. Ole Schröder und Otto Fricke den friedlicher sein, er ist allerdings völlig untauglich für die
Beschluss gefasst hat, ganz besonders danken. In diesem Ermittlung dessen, was notwendig und angemessen ist.
heißt es nämlich: Dieser Gewöhnung möchte ich entgegenwirken. Die
Justiz ist nicht irgendein Aufgabenbereich des Staates,
Die Erfüllung verfassungsmäßig vorgegebener sie ist unentbehrlicher Mindestbestandteil des sozialen
(B) Aufgaben darf nicht durch überproportionale Be- Rechtsstaates. (D)
lastungen aus strukturell bedingten hohen Anteilen
der Versorgungsausgaben in dem Einzelplan 07 (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Richtig!)
– BMJ – … und dem Einzelplan 19 – Bundesver-
Viele von uns haben die Fußball-Weltmeisterschaft
fassungsgericht – … gefährdet werden.
in diesem Land genossen. Für eine kurze Zeit wurden
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Da hat er Recht!) sogar die ernsten Angelegenheiten der Politik von der
Begeisterung über die schönste Nebensache der Welt
Ich danke Ihnen, dass Sie in dieser Art und Weise vo- überstrahlt. Die besten und teuersten Spieler der ganzen
rausschauend auf die Haushaltsaufstellung für das Welt traten zum Wettkampf gegeneinander an.
Jahr 2008 reagiert haben.
Es gab aber nicht nur 22 Spieler auf dem Platz, son-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern es bewegten sich noch drei weitere Personen auf
NEN]: Und folgende! – Otto Fricke [FDP]: So dem Spielfeld.
sind Haushälter!)
(Dirk Manzewski [SPD]: Die waren eher
– Und folgende. Deshalb habe ich das hier noch einmal schlechter!)
vorgelesen und allen zur Kenntnis gebracht. Das werden Ich meine die Schiedsrichter, die mit einigen tausend
dann Haushaltsverhandlungen – der Kollege Diller lacht Euro Spesen abgefunden wurden, während sie bei man-
schon freundlich –, bei denen wir gemeinsam sehen chen Spielen von Spielern umringt wurden, deren Ver-
müssen, wie wir die in unserem Land allgemein als gut mögen im dreistelligen Millionenbereich liegt.
anerkannte Rechtspflege auch personell so ausstatten,
dass sie ihre Aufgabe weiter erfüllen kann. In diesem (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Können Sie zum
Sinne herzlichen Dank an den Haushaltsausschuss. Thema sprechen?)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nun stellen Sie sich ein Fußballspiel ohne Schieds-
richter vor. Es könnte nicht funktionieren; denn es wäre
ein Spiel ohne durchsetzbare Regeln. Chaos! Niemand
Vizepräsidentin Petra Pau: würde ein solches Spiel sehen wollen; denn es wäre
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Nešković für die überhaupt keines mehr.
Fraktion Die Linke.
(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Was
(Beifall bei der LINKEN) wollen Sie denn jetzt sagen?)
6496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) Es ist also der vergleichsweise schlecht bezahlte Mann Grundgesetz aufzunehmen. Den Beratungen dieses An- (C)
in Schwarz, der das Spiel überhaupt erst ermöglicht, in- trags lag eine Studie von Hermann Heller – die Sozialde-
dem er die Spielregeln durchsetzt. mokraten sollten ihn gut kennen – aus dem Jahre 1930
zugrunde. Hermann Heller vertrat darin die These, dass
(Zuruf von der SPD: Oh, die armen Richter!)
nur die Fortentwicklung des liberalen Rechtsstaates – im
Im Spiel unserer Gesellschaft sind es die Richterin- Sinne der FDP – in einen sozialen Rechtsstaat ein Um-
nen und Richter, die die Regeln unserer Gesellschaft schlagen in die Diktatur verhindern könne. Heller wird
durchsetzen. es nicht gerne gesehen haben, wie schnell und unerhört
grausam ihm die Geschichte Recht gab. Es wäre ein gro-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ber Fehler und ein Akt der Überheblichkeit, anzuneh-
NEN]: Sie sind ja so schlecht bezahlt! – Otto
men, dass diese These Hellers nicht erneut bestätigt wer-
Fricke [FDP]: Sind die schlecht bezahlt?)
den kann.
Auch sie kosten wenig und sind dennoch unentbehrlich
Ich will Ihnen daher sagen, über welchen Erkenntnis-
für den Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit unse-
vorsprung Hermann Heller 1930 verfügte, den auch
rer Gesellschaft.
Carlo Schmid 1948 beachtete, damit Sie heute, im
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jahre 2006, bei der Beschließung des Einzelplanes 07
NEN]: Alles Hartz-IV-Opfer in diesem Land!) nicht wieder in die übliche Gewöhnung an schmale
Haushaltspläne verfallen. Heller sah die Notwendigkeit,
Deswegen ist es bei dieser Sachlage völlig unverständ- die Vorstellung vom klassischen liberalen Rechtsstaat
lich, dass wir der Justiz nicht die sächlichen und perso- fortzuentwickeln, da dessen Recht und Justiz die Freiheit
nellen Mittel zur Verfügung stellen, die sie braucht, um nur im formalen Sinne garantierte. Ob nun jemand als
dieser unentbehrlichen Funktion gerecht zu werden. Obdachloser frei über das Land zieht oder ein anderer
(Beifall bei der LINKEN) ein freies Unternehmen gründet: Formal frei sind sie da-
rin beide. Sie werden ihre Freiheit aber ganz verschieden
Aus diesem Grunde ist es nicht ausreichend, die Aus- als Last oder Lust wahrnehmen.
gaben für die Justiz allenfalls stabil zu halten. Wir benö-
tigen die Bereitschaft zu deutlichen Mehrausgaben. Wir Last und Lust treffen sich an der Wahlurne wieder.
brauchen diese Mehrausgaben, um den ansteigenden Heller sah daher die Notwendigkeit, die Zustimmung der
Anforderungen bei gleich bleibender Qualität gerecht zu Menschen zur Demokratie über die gleichmäßige Ge-
werden. währ realer Freiheit zu gewinnen und zu erhalten. Wer
wenig im Leben hat, braucht demnach viel Unterstüt-
(Christine Lambrecht [SPD]: Mehr Referenten zung durch das Recht, und wer viel im Leben hat, den
(B) für die Bundesrichter!) (D)
muss das Recht nicht noch weiter mästen.
Die steigende Arbeitslast an den Gerichten führt dazu, Für Heller waren Recht und Justiz also nicht igno-
dass die Richterinnen und Richter keine Zeit mehr für rante Gleichbehandler, sondern bewusste Gleichmacher,
die Parteien und ihre Probleme haben. Das nehmen Sie die zu den unterschiedlichen materiellen Lebenssituatio-
nur nicht wahr. Ich empfehle Ihnen, einmal auszu- nen der Menschen einen gesunden Ausgleich zu schaf-
schwärmen und sich bei den Leuten zu erkundigen, wie fen haben. Was meinen Sie, wie es sich mit dieser Theo-
sie die Lebenswirklichkeit bei den Gerichten erleben. rie vertrüge, die Prozesskostenhilfe zu beschränken?
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der LINKEN)
NEN]: Wir reden nicht über die Landeshaus-
halte! – Christine Lambrecht [SPD]: Er will Was denken Sie, wie es mit dieser Theorie einhergeht,
Referenten für Bundesrichter!) den Zugang zu den Gerichten von der Höhe des Streit-
wertes abhängig zu machen? Was meinen Sie, was
In fast allen Völkern und zu fast allen Zeiten galten
Heller wohl zur Einführung einer Sozialgerichtsgebühr
die Rechtshüter auch als Hüter der Zeit. Sie hüten das
zu sagen gehabt hätte? Was glauben Sie, wen eine
Recht nicht nur in der Zeit, in der sie richten, sondern
schlecht ausgestattete Justiz wohl härter trifft: den Bes-
Zeit ist genau das, was sie für die schwierige Aufgabe
sergestellten, der zur Not den Weg der privaten Streit-
brauchen, die ihnen anvertraut ist, nämlich Recht von
schlichtung beschreitet, oder den von Ihnen gerade neu
Unrecht zu trennen. Der Wahrheit Mutter ist nämlich die
wahrgenommenen Angehörigen der Unterschicht?
Zeit und nicht der richterliche Erledigungsautomat. Ihre
Haushaltspläne führen aber genau dazu. Wer ist wohl eher auf einen mit Zeit ausgestatteten,
also ausgeruhten und konzentrierten Richter angewie-
(Beifall bei der LINKEN – Andreas Schmidt
sen? Ist es der Hartz-IV-Empfänger, der zur Feststellung
[Mülheim] [CDU/CSU]: Das ist doch Länder-
der Rechtmäßigkeit seines Leistungsbescheides in der
sache!)
ersten Instanz prozessiert, oder der Unternehmer, der an
Wir benötigen Mehrausgaben für die Justiz aber auch irgendeinem Landgericht in der Verhandlungspause be-
und vor allem darum, um den Anspruch an eine sozial- reits mit seinem Anwalt die Möglichkeiten einer Beru-
staatlich orientierte Justiz endlich einzulösen. fung berät?
Ich erinnere dazu an die Motivlage bei der Beratung Die Antworten liegen auf der Hand: Sie liegen in der
unseres Grundgesetzes. Carlo Schmid beantragte seiner- Verfassung. Denn der eingangs erwähnte Antrag Carlo
zeit, das Prinzip des sozialen Rechtsstaates in das Schmids hatte Erfolg und wirkt somit bis heute.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6497
Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) Ob Sie es wollen oder nicht: Die Theorie Hellers hat Kann man also im Umkehrschluss feststellen, dass (C)
es bis ins Grundgesetz geschafft. Das können Sie wegen wir zu wenig Geld für diese Einzelpläne aufbringen?
der Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 des Grundgeset- Wenn beispielsweise Gerichtsverfahren objektiv zu
zes nicht ändern. Sie können es allenfalls ignorieren und lange dauern, dann ist es – insbesondere für die Opposi-
genau das tun Sie. tion – die einfachste Lösung, mehr Geld für mehr Rich-
ter zu fordern.
Wir leben in einem Staat, in den dieses Prinzip Ein-
gang gefunden hat. Im sozialen Rechtsstaat des Grund- Doch auch wenn wir die Frage der Zuständigkeit von
gesetzes, in dem wir leben, gibt es diese Wahl für den Bund oder Ländern – es wäre auch einmal klarzustellen,
Gesetzgeber nicht. In ihm gibt es keine Gerechtigkeit dass insbesondere die Länder für die finanzielle Ausstat-
nach Kassenlage; vielmehr hat sich die Kassenlage nach tung der Gerichte zuständig sind –
den Anforderungen der Gerechtigkeit zu richten. Über
(Daniela Raab [CDU/CSU]: So ist es!)
nichts anderes stimmen Sie heute ab.
beiseite lassen, greift dieser Vorwurf allemal zu kurz.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nicht nur aufgrund der notwendigen Konsolidierung der
Abpfiff!) öffentlichen Haushalte, aber besonders aus diesem
Grund können wir es uns nicht leisten, nur die Symp-
Vizepräsidentin Petra Pau: tome dieses Problems zu behandeln. Intelligenter ist,
Kollege Nešković, können Sie bitte zum Schluss sich auch mit den Ursachen – in diesem Fall von langen
kommen. Gerichtsverfahren – auseinander zu setzen.
Eine wichtige Maßnahme für mehr Effizienz betrifft
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): uns alle, die Abgeordneten, den Gesetzgeber. Wir müs-
Ich komme zum Ende. – Sie entscheiden heute also sen alles versuchen, um die Regelungsdichte und die
nicht wieder aus alter Gewöhnung über den wie gewöhn- Komplexität so gering wie möglich zu halten. Wir haben
lich zu schmal geratenen Etat für das gewöhnliche Jus- mit der Einsetzung des Normenkontrollrates, der Einfüh-
tizwesen. Sie entscheiden heute über einen Haushalt, der rung eines Gesetzes-TÜV und unserer Initiative zuguns-
dem sozialen Rechtsstaat in keiner Weise gerecht wird. ten einer verständlicheren Sprache in Gesetzen und Ver-
ordnungen einen wichtigen Anfang gemacht. Natürlich
Ich danke Ihnen.
müssen sich unsere Gerichte die Frage gefallen lassen,
(Beifall bei der LINKEN) ob sie effizient arbeiten. Es ist nicht einzusehen, dass
deutsche Gerichte beispielsweise in Scheidungsfällen
Vizepräsidentin Petra Pau: langsamer arbeiten als im europäischen Durchschnitt.
(B) (D)
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder für die Auch nach den Beratungen im Haushaltsausschuss
Unionsfraktion. gilt für die beiden zur Diskussion stehenden Einzelpläne
große Kontinuität in der Ausgabenentwicklung. Daher
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): kann ich mich auf drei wesentliche Punkte beschränken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Der erste Punkt ist die kommende EU-Ratspräsi-
Herren! Vorweg mein Dank an Sie, Frau Ministerin, und dentschaft Deutschlands. Diese kostet Geld. Aus die-
Ihr gesamtes Haus für die gute Zusammenarbeit bei der sem Grund haben wir die Haushaltsansätze des Bundes-
Aufstellung dieses Haushalts. Vielen Dank auch an den justizministeriums maßvoll, das heißt um weniger als
Kollegen und Hauptberichterstatter Lothar Binding und 5 Millionen Euro, erhöht. Auf der anderen Seite bietet
die Mitberichterstatter für die gute Zusammenarbeit. diese Ratspräsidentschaft auch dem Bundesministerium
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Justiz große Chancen. Insbesondere die europäische
Gesetzgebung trägt in erheblichem Maße dazu bei, dass
In den vergangenen Debatten über diese Einzelpläne der gesetzliche Regelungsrahmen zunehmend dichter
wurde regelmäßig darauf hingewiesen, dass die Etats der und komplexer wird. Dem BMJ bietet sich nun die Mög-
Einzelpläne für das Bundesministerium der Justiz und lichkeit, dafür zu sorgen, dass nicht ständig neue und
das Bundesverfassungsgericht gemessen am gesamten komplexere Richtlinien und Verordnungen in Kraft tre-
Ausgabevolumen sehr klein sind. Der Etat für diese Ein- ten, sondern dass Richtlinien und Verordnungen abge-
zelpläne beträgt nicht einmal 1,8 Promille der Gesamt- schafft werden.
ausgaben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Was sagt uns diese Zahl eigentlich? Keinesfalls darf neten der SPD)
man von der Höhe der Ausgaben auf die Bedeutung der
Dann wird die EU-Ratspräsidentschaft nicht nur ein
Institutionen schließen. Beim Bundesverfassungsgericht
Ausgabenposten im Einzelplan, sondern eine wichtige
ist diese Gefahr relativ gering. Wir sind uns darüber im
Investition in weniger Bürokratie sein.
Klaren, wie bedeutend diese Institution ist. Dagegen gibt
es auch Institutionen wie das Deutsche Patent- und Mar- Ein weiterer Gegenstand intensiver Beratungen war
kenamt, die keine oder nur wenig mediale Aufmerksam- das Deutsche Patent- und Markenamt. Hier haben wir
keit genießen. Dennoch ist deren Bedeutung für sowohl bei den Stellen als auch bei den Mitteln für In-
Deutschland als Wirtschafts- und Technologiestandort vestitionen in die Informationstechnologie aufgestockt.
immens. Vor einigen Jahren hat sich beim Deutschen Patent- und
6498 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Dr. Ole Schröder


(A) Markenamt ein massiver Patentanmeldestau entwickelt, (Joachim Stünker [SPD]: Herr Montag, seien (C)
der erst durch den Einsatz zusätzlicher Prüfer abgebaut Sie friedlich!)
werden konnte. Hätten wir nicht reagiert und dem Deut-
schen Patent- und Markenamt nicht zusätzliche Stellen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
bewilligt, dann wäre der Grundstein für einen weiteren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Patentanmeldestau gelegt worden. Qualifiziertes Perso- Haushalt des Bundesjustizministeriums ist immer noch
nal ist das eine. Wichtig ist aber auch die Informa- klein und immer noch fein. Mit 0,17 Prozent des Ge-
tionstechnologie. Man darf nicht vergessen, dass es mitt- samthaushalts kann er weder viel zur Sanierung der
lerweile um die Verarbeitung und Bewertung von Staatsfinanzen beitragen noch diese ernsthaft beschädi-
30 Millionen Patentschriften geht. In keinem anderen gen. Bei einem Deckungsgrad von 69,6 Prozent ist der
Patentamt in Europa gehen so viele neue Patentanmel- Justizhaushalt vorbildlich. Allerdings, Frau Ministerin,
dungen ein wie beim DPMA. Damit das auch in Zukunft hatten wir früher schon einmal einen Deckungsgrad von
so bleibt, stellen wir 4,5 Millionen Euro für das Projekt weit über 70 Prozent.
„elektronische Schutzakte“ bereit. Das ist eine wichtige
Investition in den Technologiestandort Deutschland. Das neue Bundesamt für Justiz hat den Justizhaushalt,
wie von der Ministerin versprochen, nicht belastet. Das
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie erkennen wir an. Deshalb haben wir Grünen dem Einzel-
bei Abgeordneten der FDP) etat des Bundesjustizministeriums und des Bundesver-
fassungsgerichts im Rechtsausschuss zugestimmt und
Der dritte und letzte Punkt, den ich anspreche, ist die nicht wie die Linke krampfhaft lange nach einem Haar in
Gründung des Bundesamtes für Justiz. Es wird beste- der Suppe gesucht, um aus Prinzip auch dazu Nein sagen
hende Aufgaben vom Bundesjustizministerium und vom zu können.
Generalbundesanwalt übernehmen. Das ist notwendig,
weil im Laufe der Jahre dem Ministerium und dem Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
neralbundesanwalt relativ wahllos Aufgaben übertragen und bei der SPD)
wurden, ohne dass diese Aufgaben richtig zu den Häu-
Die von der Linken geforderte Verlegung des Bundes-
sern gepasst hätten. Diese Neugründung wurde sehr kos-
amts für Justiz von Bonn in den Osten Deutschlands ist
tengünstig über die Bühne gebracht. Wir haben hierfür
blanker Populismus und angesichts der Tatsache, dass
lediglich 400 000 Euro veranschlagt. Wir gehen davon
sich der Kernbereich des neuen Bundesamts für Justiz
aus, dass diese Mittel noch nicht einmal ausgeschöpft
mit dem Bundeszentralregister schon seit Jahren in Bonn
werden. Entscheidend ist aber, dass wir in Zukunft auf-
befindet, sachlich nicht zu begründen.
grund von Synergieeffekten in erheblichem Maße ein-
(B) sparen können und dass der Service für die Bürger ver- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
bessert werden kann. NEN]: Da ist der Wahlkreis von Nešković!)
Das Modell des BMJ, die Reduzierung auf die minis- – Nein, ist er nicht.
teriellen Kernaufgaben, verbunden mit der Ausgliede-
Die Ministerin hat letzte Woche zusammen mit dem
rung nicht ministerieller Tätigkeiten in nachgelagerte
Innenminister der Öffentlichkeit den Zweiten Periodi-
Bereiche, kann ein Vorbild für andere Häuser sein. Ich
schen Sicherheitsbericht vorgestellt. Er berührt Kern-
denke insbesondere an die Diskussion, die jetzt im Bun-
bereiche der Rechtspolitik, weshalb ich mich ihm heute
desministerium des Innern über die Gründung eines widmen will. Politik beginnt mit dem Erfassen der Wirk-
Bundespolizeipräsidiums geführt wird. lichkeit und Kriminalpolitik als ein immer in der öffent-
Ich habe bereits bei der Diskussion über das Gesetz lichen Debatte stehender Teil der Rechtspolitik mit dem
zur Errichtung des Bundesamts für Justiz gesagt, dass Erfassen der tatsächlichen und nicht der gefühlten
wir diesen Weg konsequent fortsetzen müssen. Es muss Sicherheitslage. Um wirksame Konzepte zur Kriminali-
uns klar sein, dass für eine Außenstelle des Bundes- tätsbekämpfung entwickeln zu können, braucht die Poli-
ministeriums der Justiz in Bonn jetzt wirklich keine Not- tik eine verlässliche Bestandsaufnahme der Kriminali-
wendigkeit mehr besteht. Hier steht uns aber das Berlin- tätslage, die über die bloße Analyse der Statistiken
Bonn-Gesetz im Wege. Wir haben deshalb im Haushalts- hinausgeht. So jedenfalls haben Sie es, Frau Zypries, ge-
ausschuss beschlossen, dass wir nochmals den Bundes- schrieben.
rechnungshof auffordern wollen, die Arbeitsteilung der Es ist erstaunlich, aber wahr, dass erst unter Rot-Grün
Ministerien zwischen Berlin und Bonn zu untersuchen. mit einer solchen systematischen Erfassung der Wirk-
Wir sollten diese Analyse zum Anlass nehmen, das Ber- lichkeit begonnen wurde.
lin-Bonn-Gesetz entsprechend zu ändern.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Hört! Hört!)
Schönen Dank.
Voraussetzung war und ist eine breit gefächerte Aufar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beitung und Analyse des vorhandenen Datenmaterials
unter kriminologischen, unter soziologischen, unter
rechtswissenschaftlichen und unter statistischen Aspek-
Vizepräsidentin Petra Pau: ten. So steht es im Sicherheitsbericht. Der erste stammt
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Frak- aus dem Jahr 2001. Er erfasste naturgemäß die Entwick-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen. lung der Kriminalität aus der Zeit der unionsgeführten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6499
Jerzy Montag
(A) Kohl-Regierung. Der zweite Sicherheitsbericht, der aus Kriminalitätspolitik. Jetzt können wir schwarz auf weiß (C)
dem Jahr 2006, erfasst die Entwicklung bis zum lesen, dass Anstiege in bestimmten Bereichen der ge-
Jahr 2005. Er ist so etwas wie der kriminalpolitische Re- walttätigen Jugenddelinquenz kein Beleg für eine immer
chenschaftsbericht der beiden rot-grünen Regierungen. brutalere Jugend sind, sondern die Zahlen deswegen an-
Deshalb habe ich mit Spannung und mit Interesse auf steigen, weil die Menschen Gewalt immer weniger ak-
diesen Rechenschaftsbericht gewartet. Was haben wir zeptieren und durch Anzeigen aus dem Dunkelfeld ans
aus diesem Bericht erfahren? Die Zusammenfassung zu- Licht der Öffentlichkeit bringen. Dies haben wir Grünen
erst: Deutschland war unter Rot-Grün eines der sichers- in kriminalpolitischen Debatten gegen den Populismus
ten Länder der Welt. der Union immer wieder argumentiert. Bei jedem Ein-
zelfall haben wir uns geweigert, gleich nach Strafrechts-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verschärfungen und neuen Gesetzen zu rufen. Unseren
und bei der SPD) Koalitionspartner konnten wir nicht immer, aber immer
Deutschland nimmt auf der Kriminalitätsskala in Europa wieder überzeugen. Die Union aber erlag und erliegt wie
den ruhmreichen letzten Platz ein. Noch 1994, also in eine Süchtige immer wieder der Versuchung, einen billi-
unionsgeführten Zeiten, lagen wir bei Kapitalverbrechen gen Punkt in der Debatte zu machen und auf die Pauke
wie Mord und Totschlag in Europa über dem Durch- der Repression zu hauen.
schnitt, heute weit darunter. In den Bereichen Raub und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Erpressung ist Deutschland das einzige Land Europas
mit zurückgehenden Deliktraten. So können wir feststellen, dass Sie im Sicherheitsbericht
über unsere Regierungszeit zu vernünftigen Schlussfol-
(Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist alles Län- gerungen kommen,
dersache! Da können wir uns in Bayern sehen
lassen!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: So ist es!
Lebenslanges Lernen!)
Entgegen politisch und medial geschürten Ängsten vor
einer überbordenden Kriminalität hat in den letzten Jahr- aber schon die erste Bewährungsprobe dieses neuen ra-
zehnten, insbesondere in den letzten sieben Jahren der tionalen Ansatzes bei Ihnen gescheitert ist.
rot-grünen Kriminalitätspolitik, die Opfergefährdung
durch Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen, sexuelle Gestern hat ein 18-jähriger Amokläufer in einer
Übergriffe gegenüber Kindern und durch Mord und Tot- Schule in Nordrhein-Westfalen viele Menschen verletzt.
schlag nicht zugenommen. Ganz im Gegenteil, wir ha- Heute sind die Zeitungen voll mit Vorschlägen aus den
ben deutliche Rückgänge zu verzeichnen. Reihen der Union zu strengerem Jugendschutz, zu neuen
Verboten und neuen Strafen.
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
und bei der SPD) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das haben Sie
falsch verstanden!)
Der Bericht spricht insoweit unter Hinweis auf immer
wieder in der Öffentlichkeit und in den Medien breit he- Ohne gesicherte Kenntnisse, ohne Sinn und Verstand
rausgestellte Einzelfälle von einem drastisch verzerrten hauen Kollegen des Regierungslagers auf die Repres-
Bild des Kriminalgeschehens in der Öffentlichkeit. Eine sionspauke. Dabei müsste uns aufhorchen lassen, dass
allgemeine Brutalisierung unserer Gesellschaft, von vie- der 18-Jährige über seine Erfahrung als Jugendlicher in
len immer wieder beschworen und herbeigeredet, ist seiner Schule geschrieben haben soll: Das Einzige, was
nicht nachweisbar. mir die Schule beigebracht hat, ist, dass ich ein Versager
bin.
Bis Ende der 90er-Jahre war eine Zunahme der
Jugenddelinquenz zu verzeichnen. Seit 1999 ist dieser Wenn wir Grünen Ihre kriminalpolitische Tagespoli-
Anstieg in fast allen Deliktarten der Jugenddelinquenz tik, Ihr rechtspolitisches Programm in Ihrer Koalitions-
gestoppt; er geht überwiegend zurück, zum Teil sehr vereinbarung und Ihre rechtspolitischen Vorstöße über
deutlich. den Bundesrat bewerten, dann ist keine Entwarnung an-
gesagt. Danke, dass Sie uns für unsere Regierungszeit im
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheitsbericht so gelobt haben! Aber die Umsetzung
und bei der SPD) der im Sicherheitsbericht zu Papier gebrachten Grund-
sätze einer rationalen Kriminalitätspolitik in die Tages-
Opfer der Gewaltdelikte Jugendlicher sind überwiegend politik haben Sie noch vor sich.
Gleichaltrige, nicht ältere Menschen. Opfer von Gewalt
Erwachsener sind überwiegend junge Menschen und (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dafür sorgen
Kinder. Das alles wird weder in der „Bild“-Zeitung pu- wir!)
bliziert, noch findet es sich in den sicherheitspolitischen
Analysen der Union. Wir werden Ihnen dabei nach Kräften helfen.

Besonders wichtig finde ich im Sicherheitsbericht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass die Wirkungen des erhöhten Anzeigeverhaltens und sowie bei Abgeordneten der SPD)
die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung ins Verhältnis
zu den Deliktbereichen gesetzt werden, bei denen An- Vizepräsidentin Petra Pau:
stiege der angezeigten Kriminalität zu verzeichnen sind. Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
Das ist traditionell das Betätigungsfeld konservativer SPD-Fraktion.
6500 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Krankenversicherung – er beträgt heute durchschnittlich (C)
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen 14,3 Prozent – auf 15 Prozent steigen. Auch das stimmt.
und Kollegen! Zum Haushalt und zu den Einzelplänen Frau Hajduk hat gesagt: Die Verantwortung hat die
haben wir schon viel gehört und ich frage mich inzwi- große Koalition. – Sie nicken. Wir sind uns hundertpro-
schen – ich sitze seit 10 Uhr hier –, warum eigentlich so zentig einig.
ein guter Haushalt in so unterschiedlichem Licht er-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
scheint.
NEN]: Stimmt auch!)
(Joachim Stünker [SPD]: Erklär mal!)
Der Beitragssatz in der Rentenversicherung – derzeit
Ich will versuchen, das an drei Beispielen, die ich heute liegt er bei 19,5 Prozent – steigt auf – ich gehe auf kei-
hören konnte, zu erläutern. nen der Gründe ein – 19,9 Prozent. Das stimmt hundert-
prozentig. Frau Hajduk hat gesagt: Die Verantwortung
Herr Koppelin fragte heute Morgen gegen 10.14 Uhr: hat die große Koalition. Der Beitragssatz in der Arbeits-
Wie können Sie, Frau Kanzlerin – er schaute ganz vor- losenversicherung sinkt von 6,5 Prozent auf 4,2 Prozent.
wurfsvoll zu ihr herüber –, eigentlich Geld ausgeben, das Frau Hajduk hat bezüglich der Verantwortung gesagt:
Sie noch gar nicht haben? Da habe ich mich gefragt: Wie Das ist die Folgewirkung der langfristig angelegten, gu-
kann das jemand von der FDP fragen, obwohl die FDP ten rot-grünen Politik und ein Ergebnis der Arbeit der
39 Jahre lang genau das gemacht hat? Die FDP hat das Bundesanstalt für Arbeit.
praktiziert und dabei sämtliche Verfahren in dieser Rich-
tung angewandt. Dennoch stellt sich ein FDP-Vertreter (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der
hierhin und stellt diese Frage. CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜND- Eine solche Differenzierung vorzunehmen, ist natür-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie Recht, lich wunderbar. Sie muss mir noch erklären – ich konnte
Herr Kollege!) sie noch nicht fragen –, wie sie aufgrund der von ihr
genannten Zahlen zu einer Gesamtbelastung von – bis-
Frau Lötzsch von der Linken hat gesagt, die große
her – 40,7 Prozent kommt, um dann die Entlastung von
Koalition sei immer dann erfolgreich gewesen, wenn sie
1,2 Prozent zu einer Belastung von 0,1 Prozent umzu-
den Vorschlägen der Linken gefolgt sei.
rechnen und so zu einer Gesamtbelastung von 40,8 Pro-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das zent zu kommen. Zum Schluss hat Frau Hajduk addiert
stimmt ja auch!) und darauf hingewiesen, dass die Erhöhung der Mehr-
(B) Man muss schwer aufpassen, dass man sich nicht ver- wertsteuer um 3 Prozentpunkte hinzukommt. (D)
hebt; die Bandscheiben danken dafür. (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Wer so rechnet, der muss den Haushalt zugegebener-
maßen zwingend anders betrachten als wir. Deshalb ist
Es ist immer ein schönes Gefühl, jemandem zu folgen, unser Urteil „guter Haushalt“ wahrscheinlich richtig und
der Geld ausgibt, etwa in der Zeit vor Weihnachten. Der Ihr Urteil „schlechter Haushalt“ falsch.
Unterschied zwischen Ihnen, Frau Lötzsch, und uns be-
steht darin, dass wir versuchen, Ausgaben im Haushalt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
zu decken: Wir kümmern uns auch um entsprechende
Ich will noch eine Bemerkung zu einer Frage machen,
Einnahmen.
die Ulla Schmidt gestellt hat. Ulla Schmidt hat gefragt,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des welcher der vielen Kritiker oder Kritikaster eigentlich
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der substanzielle eigene Vorschläge gemacht hat. Den lautes-
Abg. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU] und ten Zwischenruf hat Herr Niebel gemacht: Wir! – Schaut
des Abg. Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]) man einmal nach, was Sie vorgeschlagen haben – Sie
machen viele große Reformvorschläge –, stellt man fest,
Wer so vorgeht, hat andere Probleme als jemand, der dass Sie die gesetzliche Krankenversicherung abschaffen
sich nur um die Ausgaben kümmert. Es stimmt: Immer wollen. Jeder soll an sich denken und alles soll privati-
wenn wir Geld ausgeben – auch in Ihrem Sinne –, hat siert werden. Das ist ein super Modell – völlig klar –;
das ein positives Moment. auch die Abschaffung der Bundesanstalt für Arbeit ist
Ich möchte auf Anja Hajduk zu sprechen kommen. eine ganz tolle Idee. Wie man sie ersetzt, ist eine zweite
Sie hat uns etwas vorgerechnet. Das möchte ich gerne Frage. Sie wollen dieses Steuersystem abschaffen und es
nachrechnen. Sie hat gesagt – das zeigt, in welchen Ka- durch ein besseres ersetzen, das zwar einfach, aber nicht
tegorien von Haushalt man eigentlich denkt, welche finanzierbar und total ungerecht ist.
Haushaltsgrundsätze man hat –: Die Pflegeversicherung (Jörg van Essen [FDP]: Die Vorschläge sind
kostet den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber 1,7 Pro- doch da!)
zent; die Reform fehlt noch. Das stimmt. Auch ich ma-
che der großen Koalition – allzu lange existiert sie noch Jetzt möchte ich auf Herrn Nešković zu sprechen
nicht – einen kleinen Vorwurf. Frau Hajduk hat also ge- kommen. Herr Nešković, Sie haben etwas vergessen.
sagt: Die Verantwortung hat die große Koalition. Nach Letztes Jahr haben Sie etwas zu Arm und Reich gesagt.
Frau Hajduks Rechnung wird der Beitragssatz in der Ich habe Sie gefragt, ob Sie einmal prüfen können, wie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6501
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) es Rot-Grün geschafft hat, den Spitzensteuersatz zu sen- führt, darüber diskutiert wird, wer denn nun von wem (C)
ken und gleichzeitig die Steuerlast der Millionäre zu er- welche Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter oder
höhen. Die Antwort wollten Sie heute geben, haben es anderes bekommt. Das ist ein Aberwitz.
aber leider nicht getan. Das ist sehr bedauerlich.
Außerdem ist aber zu sehen, dass der Rechtsstaat
(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Ich bin mehr als nur Geld kostet. Er kostet Verantwortung. Las-
gern bereit, Ihnen das privat zu erläutern!) sen Sie mich zunächst auf die Diskussion zum Jugend-
Auch dadurch leisten Sie keinen Beitrag zu einer verant- strafvollzug zu sprechen kommen. Keine Partei – das
wortlichen Haushaltspolitik. sage ich ganz bewusst – kann sich hier für die letzten
Jahrzehnte von Schuld freisprechen. Der Bundestag hat
Verantwortliche Haushaltspolitik kommt in diesem Gesetze beschlossen, die der Bundesrat einfach hat ein-
Einzelplan zum Ausdruck, weil Ole Schröder, Otto schlafen lassen. Die jetzt gültige Kompetenzverteilung
Fricke, Anna Lührmann, Roland Claus und Dr. Dietmar geht in eine andere Richtung. Ich glaube, dass die Län-
Bartsch sehr gut zusammengearbeitet haben, und zwar der relativ schnell sein werden und die ersten Gesetze
auf der Grundlage der Vorlagen des Ministeriums, bei demnächst kommen. Ich verwahre mich aber dagegen
dem wir uns herzlich bedanken möchten. Es war sehr – das sollten alle Rechtspolitiker tun –, dass man sofort,
kooperativ. Ich danke Brigitte Zypries, Herrn Schmitt- wenn etwas falsch läuft, sagt, dass der Minister, in des-
Wellbrock und Axel Vogel. Auch Frau Dr. Barnstedt und sen Verantwortungsbereich etwas aktuell fällt, schuld ist
Herrn Köntopp vom Bundesverfassungsgericht möchte und zurücktreten soll, und dann glaubt, damit die Pro-
ich erwähnen. Mit diesem gesamten Team kann man bei bleme gelöst zu haben. Im Gegenteil: Das sind Scheinlö-
der Erstellung des Haushalts sehr gut auch kritische sungen, die am eigentlichen Problem vorbeilaufen.
Punkte behandeln. Auf dieser Basis ist ein ausgezeichne-
ter Einzelplan zustande gekommen. Auf Einzelheiten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
gehe ich nicht ein; denn das haben meine Vorredner hin- bei Abgeordneten der SPD)
reichend getan. Ich sage das auch deswegen, weil es natürlich richtig
Vielen Dank. ist, dass wir dafür mehr Geld geben müssen. Dafür sind
zwar in dem Falle die Länder zuständig – Frau Ministe-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rin, Sie haben Recht –, aber das Problem ist doch, dass
auch die Länder entsprechende Haushaltsschwierigkei-
Vizepräsidentin Petra Pau: ten haben. Man muss dann eben schauen, Kollege
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Otto Binding, woher das Geld genommen werden kann. Nun
(B) Fricke. sind es immer noch 19,6 Milliarden Euro, die der Bund (D)
zusätzlich aufnehmen muss, und über 40 Milliarden
(Beifall bei der FDP) Euro an Zinsen. In solch einer Situation befinden sich
die Länder eben auch.
Otto Fricke (FDP):
Der Rechtsstaat braucht aber auch einen Kompass.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Das Antidiskriminierungsgesetz ist schon angespro-
legen! Herr Binding, es ist schade, dass Sie nicht in der chen worden. Ich finde es bemerkenswert, dass ich in-
Schlussrunde reden. Ich hätte Ihre Ausführungen da zwischen Briefe von Gewerkschaftern bekomme, in de-
gerne auch noch einmal gehört und wäre gespannt, ob nen sie von riesigen Problemen mit den Tarifverträgen
dann ebenso stark von Ihrer Fraktion applaudiert würde. berichten, da sie gar nicht wüssten, ob diese mit diesem
Die Debatte über den Justizhaushalt bringt die Not- Gesetz konform gingen. Vielleicht ist es so, dass die Ge-
wendigkeit mit sich, dass man über Kosten sprechen richte nicht wie befürchtet entscheiden. Aber wehe, es
muss, nämlich über die Frage, wie viel der Rechtsstaat kommt nachher dazu, dass innerhalb dieser Legislatur-
uns kostet. Das ist unangenehm und das tut man nicht periode noch das zweite, dritte, vierte oder fünfte Ände-
gerne; aber der Rechtsstaat muss Geld kosten und er soll rungsgesetz nötig wird, nur weil die Koalition und in
auch Geld kosten. Wir diskutieren aber leider nicht da- dieser insbesondere die SPD sagt, man wolle gar nichts
rüber, wie viel Geld wir bereit sind, für den Rechtsstaat mehr an dem ändern, was einmal unter Rot-Grün be-
zu bezahlen. Der Rechtsstaat lebt nämlich von Voraus- schlossen wurde und was die CDU/CSU nachher mitma-
setzungen, die er selber nicht garantieren kann, nämlich chen musste.
von Ressourcen.
Auch bei der Urheberrechtsreform, die ja noch
Die erste Ressource ist das Geld. Darüber kann man kommen soll, müssen wir aufpassen, dass der Kompass
so viel reden, wie man will. Das gewährt im Bundes- stimmt. Ich fand es schon bemerkenswert, dass 90 welt-
haushalt zum Teil auch der Haushalt des Bundesverfas- weit bekannte Regisseure, die zum Teil in den USA le-
sungsgerichts und zum Teil leider immer noch der Haus- ben, Ihnen, Frau Ministerin, sagen: Passen Sie auf, dass
halt des Arbeits- und Sozialministeriums. Ich fordere Sie nicht nur die Verwerter das große Geld verdienen wer-
noch einmal auf, Frau Ministerin Zypries: Holen Sie den, und sorgen Sie dafür, dass auch die Kreativen und
während der großen Koalition die Verantwortung für das die Urheber ihren Teil bekommen. Ich bitte Sie wirklich,
Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht hi- darauf zu achten, dass ein wesentlicher Punkt, der unser
nüber zum Justizministerium. Es darf nicht sein, dass Land stark macht, nämlich Kreativität und kulturelle Be-
zwischen zwei Ministerien, beide noch dazu SPD-ge- tätigung, nicht hinten herunterfällt.
6502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Otto Fricke
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Als weiteres Beispiel zitiert Papier ein „großes Ma- (C)
der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: gazin“ – den Namen verrät er nicht –, bei dem aktu-
Das machen wir! – Zuruf des Abg. Dirk ell jeder Beitrag mit der Frage ende, warum dieses
Manzewski [SPD]) oder jenes Problem noch nicht gesetzlich geregelt
sei. Wie 2005, bei der Vogelgrippenhysterie: „Wenn
– Nein, es wird auch im zweiten Korb eine ganz wesent- auf Usedom drei Vögel verenden, wird sofort die
liche Rolle spielen. Lassen Sie sich das einmal von der Gesetzgebungsmaschine angeworfen.“
Ministerin erklären.
Eine Frage möchte ich noch kurz am Schluss anspre- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen: Der BGH-Präsident Günter Hirsch hat eine sehr NEN]: Das war auf Rügen, Herr Kollege!)
bemerkenswerte Aussage gemacht: Der Gesetzgeber sei – Ich habe ja nur zitiert. Man muss ein Zitat korrekt wie-
der Komponist des Rechtsstaates und die Gerichte seien dergeben, selbst wenn es nicht richtig ist, Herr Wieland;
diejenigen, die schauen müssten, wie sie das musikalisch das haben Sie doch bestimmt auch gelernt.
umsetzten. Es wurde auch noch gesagt: Wenn dem Ge-
setzgeber Takt und Tongefühl fehlen, wird die ganze (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Melodie schief und schräg. Man kann sicherlich NEN]: Aber richtig stellen!)
schauen, was Sinn und Zweck eines Gesetzes sind. Aber
wenn der Gesetzgeber einen Viervierteltakt vorgibt, Nun will ich mir nicht jedes Wort von Präsident
dann kann ein Gericht nicht sagen, es finde einen Walzer Papier zu Eigen machen; doch im Kern hat der Präsident
schöner, und einen Dreivierteltakt spielen. Es muss sich des Bundesverfassungsgerichts wohl Recht. Ständig
vielmehr an den Viervierteltakt halten. Wir müssen ge- wird nach dem Gesetzgeber gerufen und wir Parlamen-
nau aufpassen, dass Gerichte nicht zu Ersatzgesetzge- tarier werden von den Medien, aber auch von vielen an-
bern werden. deren Seiten, manchmal auch ein bisschen von der Mi-
nisterialbürokratie, angesprochen.
Letzter Satz: Professor Johann Braun hat einmal eine
Aussage gemacht, der ich auf keinen Fall zustimme (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– damit ich hier nicht missverstanden werde –: Auch NEN]: Herr Kollege Gehb, Sie sind doch auch
wenn Sie vom Recht nichts verstehen, Gesetzgeber kön- Täter!)
nen Sie immer noch werden. – Wenn eine solche Auffas- Nicht wahr, Herr Stünker, davon können wir ein Lied
sung Eingang bei uns finden würde, dann würde uns das singen, wenn diese Herrschaften sogar an Podiumsdis-
letztlich den Rechtsstaat kosten. Das wollen wir nicht. kussionen teilnehmen und um jedes Wort und jedes Se-
Deswegen ist dieser Haushalt so wichtig. mikolon ringen – und die Abgeordneten sitzen im Publi-
(B)
Herzlichen Dank. kum und müssen zuhören. Eine gewisse politische (D)
Konkurrenz, die im Prinzip überhaupt nicht zu kritisie-
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus ren ist, hat sicherlich ihren Anteil an der Gesetzgebungs-
Uwe Benneter [SPD]) maschinerie.

Vizepräsidentin Petra Pau: Trotzdem sollten wir uns immer wieder die Frage
stellen: Wie weit lassen wir uns auf dieses Treiben ein?
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die
Ist es wirklich erstrebenswert, einem solchen Aktionis-
Unionsfraktion.
mus zu frönen, nur weil dies von der Öffentlichkeit oder
von einflussreichen Medien oder von Lobbyisten erwar-
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): tet wird? Ich bin jedenfalls froh, dass wir uns in der gro-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haus- ßen Koalition diesen Fragen stellen und sie auch einmal
haltsdebatten geben nicht nur Anlass zu artigen Danksa- in dem Sinne beantworten, dass ein geplantes Gesetzge-
gungen, sondern bieten auch eine Gelegenheit, einmal bungsprojekt nicht auf den Weg gebracht wird. Frau
über den Tellerrand zu schauen und nicht nur stakkato- Ministerin, ich denke da an das Untätigkeitsrechtsbe-
haft das Klein-Klein abzuarbeiten, also jedes Gesetz zu helfsgesetz. Manchmal müssen die Parlamentarier die
untersuchen; sie ermöglichen, auch einmal Grundsätzli- Regierung ein bisschen zur Raison rufen und dann wird
ches zu diskutieren. eine Kabinettsvorlage auch einmal abgesetzt.
Zu diesem Grundsätzlichen gehört für mich eine War- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
nung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Wolfgang Nešković [DIE LINKE])
die er vor den Teilnehmern der 5. Medienakademie der
Friedrich-Naumann-Stiftung Anfang dieses Monats aus- Um es deutlich zu sagen: Für mich kann auch der
gesprochen hat. Ich zitiere aus dem „Tagesspiegel“ vom selbstgenügsame Gesetzgeber ein wirklich guter Gesetz-
4. November. Dort heißt es: geber sein. Anders formuliert: Auch in der Rechtspolitik
kann weniger manchmal mehr sein. Ich bemühe noch
„Die Journalisten schüren den Aktionismus der Po- einmal Montesquieu. Letzte Woche musste ich Herrn
litik“ … durch ihr ständiges Rufen nach dem Ge- Beck erklären, dass es sich dabei nicht um den Grafen
setzgeber bei jedem noch so kleinen Problem. Zei- von Monte Christo handelt und dass das auch kein Mo-
tungen, Rundfunk und Fernsehen trieben Regierung dezar oder jemand aus der Haute Cuisine ist.
und Parlament an, immer neue Gesetze zu erlassen
… (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6503
Dr. Jürgen Gehb
(A) Montesquieu hat gesagt: Wenn es nicht notwendig ist, (Beifall im ganzen Hause – Wolfgang Wieland (C)
ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, kein Gesetz zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie
erlassen. – Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Recht!)
Meine Damen und Herren, diese Kultur des offenen Davor sollten wir uns wirklich hüten.
Wortes wünschte ich mir auch bei den Debatten um wei-
Im Kern geht es bei dieser Debatte aber um viel
tere Staatsziele in unserer Verfassung.
Grundsätzlicheres. Gerade von dieser Stelle aus muss
(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) daran erinnert werden, dass unser Grundgesetz ein Par-
teienverbot nur als Ultima Ratio ansieht,
Ich habe hierüber in der ersten Lesung des Justizhaushal-
tes vieles gesagt, möchte aber heute mindestens für un- (Jörg van Essen [FDP]: Genau so ist es!)
sere Gruppe der Rechtspolitiker noch einmal eines he- das zum Schutze der Demokratie zwar eingesetzt, aber
rausstellen: Viele der Anliegen, die als potenzielle zum Schutze der Parteiendemokratie wiederum nur
Staatsziele in der Diskussion sind, sind sicherlich mehr äußerst selten und dann nur unter ganz engen Voraus-
als ehrenwert; gar keine Frage. Nach unserer Auffassung setzungen geändert werden darf. Zu diesen engen Vo-
wäre es aber eine geradezu dramatische Fehlentwick- raussetzungen gehört aus guten Gründen eine Zweidrit-
lung, wenn ein politisches Ziel oder ein Recht nur noch telmehrheit.
dann als angemessen verortet gälte, wenn es auch seinen
Platz im Grundgesetz gefunden hätte. Das wäre eine völ- Bei der Gelegenheit – heute lobe ich dich sehr oft,
lige Entwertung. liebe Brigitte –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zurufe von der SPD: Oh!)
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie schnell sollte man die Rede der Ministerin mit dem Titel „Wa-
man hier auf eine abschüssige Bahn geraten kann, wird rum dürfen Neonazis demonstrieren?“ lesen. Ich weiß
für mich überdeutlich an einem Ausspruch des Präsiden- noch, dass ich vor zwei Jahren, als es um die Änderung
ten des Deutschen Kinderschutzbundes in der gestrigen des Versammlungsgesetzes ging, Murren bei den streng-
Anhörung der Kinderkommission. In der „Leipziger gläubigen Innenpolitikern hervorgerufen habe. Aber es
Volkszeitung“ wird Herr Hilgers wie folgt zitiert: Ich steht uns Rechtspolitikern insgesamt sehr gut an, dass
fühle mich in einem Land nicht wohl, in dem der Tier- wir darüber auch einmal reden.
schutz Staatsziel ist, der Kinderschutz aber nicht.
Man hat Angst, man würde sofort in eine bestimmte
Das hat natürlich prima facie einen gewissen Charme. Ecke gestellt werden, wenn man diese Meinung vertritt.
Alle zucken zusammen. Aber genauso wenig, wie es ei- Wir alle kennen die unschönen Bilder. Aber das ist nun
(B) nen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht gibt, (D)
einmal der Preis der Demokratie. Diese unsere Demo-
gibt es einen Anspruch auf Gleichbehandlung bei legis- kratie zeichnet sich dadurch aus, dass Parteiverbote nur
lativen Fehlleistungen. als allerletztes Mittel angewendet werden und stattdes-
sen stärker auf das Engagement der demokratisch ge-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) sinnten Bürger gesetzt wird.
Meine Damen und Herren, wer hierin einen Wertungswi- Ich möchte in die allgemeine Danksagung einfallen.
derspruch sieht, dem kann ich nur eines sagen: Einen Ich danke nicht nur den Haushältern und der Ministerin.
solchen könnte man auflösen, indem man den ursprüng- Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass es eine wahre
lichen Fehler, sozusagen die Erbsünde, rückgängig Freude ist, mit meinem Pendant, Joachim Stünker, mit
macht und das Staatsziel Tierschutz aus dem Grundge- dem ich mich noch vor zwei Jahren böse gefetzt habe
setz wieder herausnimmt. Aber bitte lassen Sie uns das und der wie ich ordentlich ausgeteilt hat, Rechtspolitik
Grundgesetz, das durch seine Kargheit und Schlichtheit in diesem Hause zu machen.
besticht, nicht zu einem Neckermannkatalog verkom-
men! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
neten der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
DIE GRÜNEN]: Sie haben doch zugestimmt, Was für Liebeserklärungen!)
Herr Kollege!)
Diese Vorsicht und Zurückhaltung der Rechtspolitiker Vizepräsidentin Petra Pau:
wäre auch bei der Änderung des Bundesverfassungs- Nun hat der Kollege Joachim Stünker für die SPD-
gerichtsgesetzes, was die notwendige Mehrheit bei Ver- Fraktion das Wort.
botsverfahren angeht, angebracht. Da gebe ich unserer
Ministerin vollkommen Recht. Man kann doch die Joachim Stünker (SPD):
Scheibe nicht einfach nach dem Schuss hängen, indem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
man sagt: Da es nur eine einfache Mehrheit, aber keine Ich möchte in meinen drei Minuten drei Anmerkungen
Zweidrittelmehrheit unter den Senatsmitgliedern gab, machen.
verändern wir einfach das Quorum. – Da wird zumindest
der unschöne Anschein erweckt, als gäbe es so etwas Erste Anmerkung. Herr Kollege Nešković, wenn den
wie eine bestellte oder politisch erwünschte Rechtspre- Linken zur Rechtspolitik nichts anderes einfällt, als
chung. 230 Assistentenstellen an deutschen Obergerichten zu
6504 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006

Joachim Stünker
(A) fordern, dann sollten Sie nicht solche Reden wie vorhin anderen Bereichen der Rechtspolitik, gerade auch auf (C)
halten. Länderebene, zunehmend die Entwicklung zu beklagen
haben, dass die Fiskalpolitik die Rechtspolitik leider
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie überlagert hat. Wir sollten in den drei Jahren, die wir in
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- dieser Koalition noch vor uns haben, daran mitwirken,
NISSES 90/DIE GRÜNEN) dass sich dies ändert; ich zumindest habe dieses Vorha-
Sie können sicher sein – da kann ich Sie beruhigen –, ben. Wir sollten die Entwicklung so umdrehen, dass die
dass die Rechtspolitiker in der SPD-Bundestagsfraktion Rechtspolitik das Primat hat und nicht die Fiskalpolitik.
in der Tradition Carlo Schmids stehen. Sie werden das Schönen Dank.
auch in Zukunft tun, Herr Kollege Nešković.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
All die vermeintlich bösen Dinge, die Sie zu der Be- Vizepräsidentin Petra Pau:
hauptung veranlassen, wir würden nicht mehr in dieser Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Tradition stehen, wurden nicht von der großen Koalition Daniela Raab für die Unionsfraktion das Wort.
im Deutschen Bundestag eingebracht. Das alles sind
Vorlagen aus dem Bundesrat. Machen Sie uns für die
Vorlagen des anderen Verfassungsorgans nicht verant- Daniela Raab (CDU/CSU):
wortlich, Herr Kollege Nešković. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viel hat sich in den letzten Wochen und Monaten auch in
Zweite Anmerkung. Frau Ministerin, ich habe heute rechtspolitischer Hinsicht getan. Aber viel liegt noch vor
gelesen, dass es morgen im Kanzleramt Sekt gibt. Die uns; über vieles muss noch diskutiert werden. Wir haben
Kanzlerin hat dazu eingeladen. Ich habe mich gefragt, uns oftmals einen engen Zeitrahmen gesetzt und wollen
Herr Kollege Gehb, wann wir eigentlich eingeladen wer- auch in diesem Jahr noch einiges schaffen. Allein die
den; denn ich meine, dass die Indianer in der Rechtspoli- Anzahl der öffentlichen Anhörungen, die stattgefunden
tik in diesem Jahr gute Arbeit geleistet haben. haben und noch stattfinden werden, spricht für sich.
Denken Sie an die Anhörungen zum Unterhaltsrecht,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der zum Stalking
CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Da-
für gibt es ein stilles Wasser!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Bei dieser Anhörung ist von Ihnen
Wir haben in diesem einen Jahr mit der Föderalismus- nichts gekommen!)
reform, mit dem AGG, mit dem Europäischen Haftbe-
(B) fehl, mit der Vermögensabschöpfung bei Straftaten, mit und zur Pressefreiheit sowie an die vielen und zahlrei- (D)
der Einführung des elektronischen Handelsregisters und chen Anhörungen zum sehr komplexen Urheberrecht.
der Schaffung des Bundesamtes für Justiz sehr geräusch-
los sehr wichtige Entscheidungen getroffen. Dies waren Wir konnten natürlich – Kollege Stünker hat es ge-
zukunftsweisende Schritte. Ich bedanke mich dafür beim rade grob zusammengefasst – einige Erfolge verbuchen.
Koalitionspartner. Ich denke, wir werden noch vor Weih- Lassen Sie mich beispielhaft nur ein Gesetzgebungsver-
nachten eine Regelung finden, dass Stalking zukünftig fahren herausgreifen – denn es hat uns sehr viel Kraft
unter Strafe gestellt wird. Wir werden das Zweite Justiz- und sehr viel Zeit gekostet; letzten Endes ist aber doch
modernisierungsgesetz noch verabschieden. Danach fol- ein gutes Ergebnis zustande gekommen –: das Gesetz
gen die Reform des Unterhaltsrechts und die Reform des über elektronische Handelsregister und Genossen-
Wohnungseigentumsgesetzes. Wir haben in der Tat in schaftsregister sowie das Unternehmensregister, kurz
diesem Jahr viel geleistet. „EHUG“ genannt. Es wird zum 1. Januar 2007 in Kraft
treten. Die genannten Register werden auf den elektroni-
Dritte Anmerkung. Auch ich bin der Meinung – es ist schen Betrieb umgestellt, was natürlich einer dringend
bereits darauf hingewiesen worden; Herr Fricke hat dazu notwendigen Anpassung an die neuen Techniken, zum
eine Anmerkung gemacht; auch ich will das heute Beispiel an das Internet, entspricht. Weil die Register
Abend tun, weil mir das sehr ernst ist –, dass es uns bei nun elektronisch geführt werden sollen, können Han-
all den Vorkommnissen in den Justizvollzugsanstalten delsregistereintragungen künftig auch elektronisch be-
– sei es in Sachsen, in Nordrhein-Westfalen oder wo kannt gemacht werden. Dies ist eine preiswerte und
auch immer in der Vergangenheit –, über die wir gegen- leicht zugängliche Form für jeden Interessierten. Insge-
wärtig öffentlich diskutieren, nicht gut ansteht – ich bin samt führt diese Verlagerung auf die elektronische Ebene
der Letzte, der danach ruft –, zu sagen: Da müssen mög- dazu, dass unsere Gerichte entlastet werden und dass
licherweise von denjenigen persönliche Konsequenzen wesentliche Daten über Firmen, die publikationspflich-
gezogen werden, die im Augenblick den undankbaren tig sind, online abgerufen werden können. Wen es inte-
Job haben, in den jeweiligen Ländern Justizminister zu ressiert: Ab dem 1. Januar ist dies unter www.unterneh-
sein. mensregister.de möglich; das Hineinklicken lohnt sich.
Auch wenn meine Redezeit schon fortgeschritten ist, In den Diskussionen im Vorfeld haben wir festge-
noch eine nachdenkliche Bemerkung: Ich bin der Mei- stellt, dass die Abkehr von der ursprünglichen Publika-
nung, dass wir in den letzten zehn bis 20 Jahren quer tion in den Tageszeitungen gegebenenfalls zu Umstel-
durch alle Regierungen – um es deutlich zu sagen: Keine lungsproblemen führen könnte, da manch kleiner
Regierung kann sich, wie ich meine, im Ergebnis einen Unternehmer vielleicht noch gar nicht online vernetzt
schlanken Fuß machen – in diesem Bereich, aber auch in ist. Deswegen war es uns, der Union, immer sehr wichtig
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6505
Daniela Raab
(A) – ich danke an dieser Stelle der Kollegin Voßhoff für (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
ihren regen Einsatz bei diesem Thema –, eine bundesein-
heitliche Übergangsfrist von nunmehr zwei Jahren ein- Ich meine, Letzteres reicht wohl aus.
zuführen. Ich denke, wir kommen hiermit allen Beteilig- Diese ethischen Gesichtspunkte und schwierigen Fra-
ten entgegen. Ich bin froh, dass wir diesen Kompromiss gen werden den einen oder anderen unserer Kollegen vor
im Endeffekt erzielt haben. eine schwere Entscheidung stellen. Klar ist deshalb
(Beifall bei der CDU/CSU) auch, dass es bei diesem Thema keine vorgefasste Mei-
nung an den Fraktionsgrenzen entlang geben wird. Jeder
Es wird nun parallel im Internet und in der Tageszeitung Kollege wird mit sich selbst ausmachen müssen, wel-
veröffentlicht. Jeder der Beteiligten hat die Möglichkeit, chen Lösungsweg er beschreiten will.
sich darauf einzustellen. Ich denke, schon allein das war
die Mühe wert. (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ein weiteres Thema, mit dem wir uns beschäftigt ha-
ben und immer noch beschäftigen, ist die Reform des Zum jetzigen Zeitpunkt ist auf jeden Fall die Botschaft
Unterhaltsrechts. Die öffentliche Anhörung im Oktober wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag dieses The-
hat uns darin bestärkt, dass die Stärkung des Kindes- mas annimmt. Ich bin mir sicher, wir werden auch hier
wohls, die Betonung des Grundsatzes der Eigenverant- in bewährter Weise eine gute Lösung finden.
wortung nach der Ehe und die Vereinfachung des Unter- Herzlichen Dank.
haltsrechts nun unverzüglich umgesetzt werden müssen.
Wir, die Rechtspolitiker der Union, hoffen sehr, dass die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Bedenken der Familienpolitiker auf unserer Seite ausge-
räumt werden können; denn grundsätzlich unterstützen
Vizepräsidentin Petra Pau:
wir den Reformansatz, dass der Kindesunterhalt in der
Rangfolge vor allen anderen potenziellen Unterhaltsbe- Ich schließe die Aussprache.
rechtigten kommen muss. Bevor es um den Unterhalt Zum Einzelplan 07 liegt eine Erklärung des Abgeord-
des ehemaligen Partners geht, muss der des Kindes gesi- neten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chert sein. NEN) vor.1)
Jeder der beiden Partner – ich betone bewusst: jeder – Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zum
muss die Chance haben, auch nach einer geschiedenen Einzelplan 07 – Bundesministerium der Justiz – in der
Ehe einen Neuanfang wagen zu können. In diesem Re- Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
formansatz unterstützen wir die Ministerin. Ich denke Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen.
(B) und hoffe sehr, dass wir zu einem guten Ende dieser Dis- Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache (D)
kussion kommen werden. 16/3463? – Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition,
Joachim Stünker [SPD]) der FDP und der Grünen gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke abgelehnt.
In den nächsten Wochen, vielleicht auch Monaten, je
nachdem wie schnell wir uns eine Meinung bilden kön- Wir kommen nun zur Abstimmung über den
nen, wird uns eine weitere sehr bedeutsame Frage be- Einzelplan 07. Wer stimmt für den Einzelplan 07 in der
schäftigen. Nicht nur die Rechtspolitiker werden sich da- Ausschussfassung? – Gegenstimmen? – Gibt es Enthal-
mit befassen müssen, sondern das gesamte Parlament. tungen? – Der Einzelplan 07 ist mit den Stimmen der
Wir werden zu entscheiden haben, wie wir die Patien- Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion des
tenverfügung am besten gesetzlich regeln. Dass wir sie Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-
gesetzlich regeln müssen, denke ich, ist mittlerweile un- Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
umstritten. Wir kommen nun zur Abstimmung über den
Aus Gesprächen mit Hospizvereinen, Ärzten und ins- Einzelplan 19. Dabei geht es um das Bundesverfas-
besondere mit persönlich Betroffenen wissen wir, dass sungsgericht. Wer stimmt für den Einzelplan 19? – Gibt
wir Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schaffen müs- es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Ein-
sen. Dies geht nur mit einer eindeutigen gesetzlichen Re- zelplan 19 – Bundesverfassungsgericht – ist damit ein-
gelung. Wir werden dabei schwierige und sehr sensible stimmig angenommen.
Fragen zu beantworten haben, zum Beispiel: Wie weit
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
kann eine Patientenverfügung reichen? Kann der Patient
ordnung.
im Vorhinein alles anordnen oder alles ausschließen?
Muss eine solche Verfügung nicht in ihrer Reichweite Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
begrenzt werden und wie oft muss sie erneuert werden, destages auf morgen, Mittwoch, den 22. November
um gültig zu sein? Wir werden die Frage zu beantworten 2006, 9 Uhr, ein.
haben, ob es zu einem Behandlungsabbruch bei Wach-
komapatienten oder Schwerstdemenzkranken kommen Die Sitzung ist geschlossen.
kann. Wir werden uns um so technische Fragen küm- (Schluss: 19.13 Uhr)
mern müssen wie: Bedarf es der notariellen Beurkun-
dung der Patientenverfügung oder reicht die einfache
Schriftform? 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 21. November 2006 6507

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Binder, Karin DIE LINKE 21.11.2006 Roth (Heringen), SPD 21.11.2006


Michael
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 21.11.2006
Schily, Otto SPD 21.11.2006
Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ 21.11.2006
DIE GRÜNEN Schummer, Uwe CDU/CSU 21.11.2006

Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 21.11.2006* Schwabe, Frank SPD 21.11.2006


Land), Axel E.
Spanier, Wolfgang SPD 21.11.2006
Gabriel, Sigmar SPD 21.11.2006
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 21.11.2006
Großmann, Achim SPD 21.11.2006 DIE GRÜNEN

Hettlich, Peter BÜNDNIS 90/ 21.11.2006 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 21.11.2006


DIE GRÜNEN
Wolff (Wolmirstedt), SPD 21.11.2006
Hilsberg, Stephan SPD 21.11.2006 Waltraud

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 21.11.2006 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 21.11.2006
DIE GRÜNEN
(B) (D)
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
Hovermann, Eike SPD 21.11.2006

Irber, Brunhilde SPD 21.11.2006


Anlage 2
Jelpke, Ulla DIE LINKE 21.11.2006
Erklärung
Merten, Ulrike SPD 21.11.2006
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
Nitzsche, Henry CDU/CSU 21.11.2006 NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
den Einzelplan 07 – Bundesministerium der
Ortel, Holger SPD 21.11.2006 Justiz (Drucksache 16/3107)

Röspel, René SPD 21.11.2006 Ich erkläre im Namen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, dass unser Votum „Nein“ lautet.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

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