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Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/143

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

143. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Vizepräsi- Dr. Philipp Rösler, Bundesminister


denten Dr. Hermann Otto Solms . . . . . . . . . 17027 A BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17036 C
Wahl der Abgeordneten Sonja Steffen als or- Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/
dentliches Mitglied im Wahlprüfungsaus- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17037 A
schuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17027 B
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17038 B
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 17027 B
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17040 C
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 17027 D Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 17042 B
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17043 B
Tagesordnungspunkt II: (Fortsetzung)
Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17044 C
a) Zweite Beratung des von der Bundesregie- Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 17045 B
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/
haushaltsplans für das Haushaltsjahr DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17046 C
2012 (Haushaltsgesetz 2012)
(Drucksachen 17/6600, 17/6602) . . . . . . . 17028 A Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 17047 D

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/


Haushaltsausschusses zu der Unterrich- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17049 A
tung durch die Bundesregierung: Finanz- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 17050 C
plan des Bundes 2011 bis 2015
(Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126) 17028 A Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17052 D
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 17054 C
II.14. Einzelplan 09 Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17055 D
Bundesministerium für Wirtschaft Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 17057 C
und Technologie
(Drucksachen 17/7109, 17/7123) . . . . 17028 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17059 C
Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17028 B Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 17060 A
Dr. Michael Luther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17030 B
II.15. Einzelplan 11
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17032 A
Bundesministerium für Arbeit und
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister Soziales
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17033 D (Drucksachen 17/7111, 17/7123) . . . . 17060 B
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17036 C Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 17060 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17062 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17093 A
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17064 C Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17094 B
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17065 A Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . 17095 A
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17065 A Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17096 A
Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . . 17067 A Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17097 A
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17069 A Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17097 D

Dr. Ursula von der Leyen, Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin


Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . . 17070 A BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17098 A

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 17070 C Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17098 B

Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 17071 C Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17100 B


Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17101 C
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . 17073 D
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17074 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17103 A
Dr. Ursula von der Leyen, Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17104 D
Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . . 17074 C
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17105 D
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17075 A
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 17107 B
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 17077 A
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17108 C
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 17078 B
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17109 C
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17079 C
Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . 17110 B
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17080 D
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17083 A Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17111
. . . . . .C, 17113 A
17116 A
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17083 B
II.17. Einzelplan 30
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17083 C
Bundesministerium für Bildung und
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 17084 A Forschung
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17085 A (Drucksachen 17/7123, 17/7124) . . . . 17118 B
Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17118 D
Zusatztagesordnungspunkt 1: Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17120 C
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17122 C
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . 17124 A
(Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur
Verbesserung der Eingliederungschancen Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/
am Arbeitsmarkt DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17125 B
(Drucksachen 17/6277, 17/6853, 17/7065, Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 17126 D
17/7330, 17/7775) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17087 A
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 17128 D
II.16. Einzelplan 17 Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 17129 B
Bundesministerium für Familie, Se- Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 17129 D
nioren, Frauen und Jugend Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 17131 B
(Drucksachen 17/7116, 17/7123) . . . . 17087 B
Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17132 B
Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17087 B
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17088 D BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17133 D
Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 17090 D Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17136 C
Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17092 A Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17136 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 III

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer


BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17137 B Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Kinderrechte in Deutschland umfas-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
send stärken
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17137 D
(Drucksachen 17/6920, 17/7800) . . . . . . . 17155 B
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 17138 D c) Antrag der Abgeordneten Diana Golze,
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17139 D Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17141 D Die UN-Kinderrechtskonvention bei
Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17143 A Flüchtlingskindern anwenden – Die
Bundesländer in die Pflicht nehmen
(Drucksache 17/7643) . . . . . . . . . . . . . . . 17155 C
Tagesordnungspunkt V: d) Antrag der Abgeordneten Diana Golze,
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald,
FDP: Der Mehrjährige Finanzrahmen der weiterer Abgeordneter und der Fraktion
EU 2014–2020 – Ein strategischer Rahmen DIE LINKE: Kinderrechte umfassend
für nachhaltige und verantwortungsvolle stärken und ins Grundgesetz aufneh-
Haushaltspolitik mit europäischem Mehr- men
wert (Drucksache 17/7644) . . . . . . . . . . . . . . . 17155 C
(Drucksache 17/7767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17144 A e) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner,
Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weite-
in Verbindung mit rer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kinder-
rechte stärken
Zusatztagesordnungspunkt 2: (Drucksache 17/7187) . . . . . . . . . . . . . . . 17155 C
Antrag der Fraktion der SPD: Für einen pro- f) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner,
gressiven europäischen Haushalt – Der Agnes Malczak, Tom Koenigs, weiterer
Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014 Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
bis 2020 NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Rekrutie-
(Drucksache 17/7808) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17144 B rung Minderjähriger in die Bundes-
wehr
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17144 C (Drucksache 17/7772) . . . . . . . . . . . . . . . 17155 D
Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . 17145 B Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 17155 D
Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17147 B Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17157 C
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 17149 A Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17158 D
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 17160 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17150 A
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17151 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17160 D
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 17153 D Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17161 D
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17154 C (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17162 C
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 17163 D
Tagesordnungspunkt VI: Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17164 C
a) Antrag der Abgeordneten Marlene Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17165 B
Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone,
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Sexuelle Ge- Tagesordnungspunkt VII:
walt gegen Kinder umfassend bekämp-
Erste Beratung des von den Abgeordneten
fen – Kampagne des Europarats unter-
Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte,
stützen
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
(Drucksache 17/7807) . . . . . . . . . . . . . . . . 17155 B
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
b) Beschlussempfehlung und Bericht des zes zur Begrenzung der Haftung und der
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Abmahnkosten bei Urheberrechtsverlet-
und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- zungen
neten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), (Drucksache 17/6483) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17166 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17166 C Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17176 A
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17167 D Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17177 C
Brigitte Zypries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17169 A Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 17178 C
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17169 D Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17179 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 17180 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17171 B
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17172 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17181 D
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17173 D

Anlage 1
Tagesordnungspunkt VIII:
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 17183 A
Antrag der Abgeordneten Monika Lazar,
Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Anlage 2
NIS 90/DIE GRÜNEN: Grundrechte von in-
tersexuellen Menschen wahren Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
(Drucksache 17/5528) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17174 D Antrags: Grundrechte von intersexuellen
Menschen wahren (Tagesordnungspunkt VIII)
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17175 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17183 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17027

(A) (C)

143. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Rechtsausschuss


Die Sitzung ist eröffnet. Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
herzlich zu unserer Sitzung. Ich freue mich, dass Sie alle Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
heute Morgen so früh erschienen sind, nicht nur, um die Verteidigungsausschuss
Haushaltsberatungen fortzusetzen, sondern insbesondere Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auch, um unserem Vizepräsidenten Dr. Hermann Otto Ausschuss für Gesundheit
Solms zu seinem heutigen Geburtstag zu gratulieren. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(Beifall) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Lieber Kollege Solms, herzlichen Glückwunsch und alle Technikfolgenabschätzung
guten Wünsche für das neue Lebensjahr. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
(B) Vor Eintritt in unsere Tagesordnung müssen wir eine Ausschuss für Tourismus (D)
Nachwahl durchführen. Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, Ausschuss für Kultur und Medien
dass die Kollegin Sonja Steffen für den Kollegen Haushaltsausschuss
Michael Hartmann neues Mitglied im Wahlprüfungs- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
ausschuss werden soll. Können Sie sich damit anfreun- weit erforderlich, abgewichen werden.
den? – Das sieht so aus. Dann nehme ich Ihre Zustim-
mung zur Kenntnis. Damit ist die Kollegin in den Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-
Wahlprüfungsausschuss gewählt. schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die aufmerksam:
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- Der am 9. Juni 2011 überwiesene nachfolgende An-
führten Punkte zu erweitern: trag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und
ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus- Technologie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
ses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermitt- sen werden:
lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Verbesserung Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
– Drucksachen 17/6277, 17/6853, 17/7065, Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
17/7330, 17/7775 – der SPD
Berichterstattung: Alphabetisierung und Grundbildung in
Abgeordneter Stefan Müller (Erlangen) Deutschland fördern
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD – Drucksache 17/5914 –
Für einen progressiven europäischen Haushalt – Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU Technikfolgenabschätzung (f)
2014–2020 Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/7808 – Ausschuss für Arbeit und Soziales
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Auswärtiger Ausschuss Entwicklung
Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sportausschuss Haushaltsausschuss
17028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Im Geiste (C)
den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be- ist er schon hier! – Dr. Dagmar Enkelmann
schlossen. [DIE LINKE]: Das ist der Schwund bei der
FDP!)
Wir setzen nun unsere Haushaltsberatungen – Tages-
ordnungspunkt II – fort: – Er sitzt normalerweise bei Ihnen. Sie werden ihm aus-
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung richten, was ich jetzt über ihn erzähle.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
grüßen ihn!)
Haushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012)
– Drucksachen 17/6600, 17/6602 – Er hat als Hauptberichterstatter eine sehr kollegiale und
kooperative Arbeitsweise an den Tag gelegt. Ich schätze
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus- das und will das hier zum Ausdruck bringen.
haltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung Meine Damen und Herren, nun zum Haushalt. Wenn
wir uns den Etat des Bundeswirtschaftsministeriums an-
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015 schauen, wird einiges deutlich: Der Minister befindet sich
– Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126 – in einer äußerst komfortablen Situation. Sein Haushalt
wird noch immer maßgeblich von einer Kernaufgabe ge-
Berichterstattung: prägt, nämlich dem Auslaufen der Kohleförderung. Damit
Abgeordnete Norbert Barthle sieht es immer so aus, als sei der Wirtschaftsetat beim
Carsten Schneider (Erfurt) Sparen ganz vorne mit dabei. In Wirklichkeit spart es
Otto Fricke sich aber – bedingt durch die Entwicklung der Welt-
Dr. Gesine Lötzsch marktpreise für Kohle und den sozialverträglichen Aus-
Priska Hinz (Herborn) stieg aus der Kohleförderung – von allein. Aus dieser
Ich rufe den Tagesordnungspunkt II.1.4 auf: komfortablen Situation heraus könnte man von Ihnen,
Herr Minister, sichtbarere und klarere wirtschaftliche
Einzelplan 09 Impulse erwarten als die, die Sie in Ihrem Haushalt set-
Bundesministerium für Wirtschaft und Tech- zen. Es mag vielleicht auch an Ihrer kurzen Amtszeit lie-
nologie gen, dass Ihre Handschrift noch nicht zu erkennen ist.
– Drucksachen 17/7109, 17/7123 – Warten wir mal ab.
(B) (D)
Berichterstattung: Stattdessen muss ich feststellen, dass im Haushalt
Abgeordnete Dr. Michael Luther überall nur ein bisschen passiert. Es gibt ein bisschen
Klaus Brandner drauf, ein bisschen mehr: zum Beispiel bei der Bundes-
Florian Toncar netzagentur, aber nicht so viel, wie tatsächlich gebraucht
Roland Claus wird. Auch für die GRW – das ist die Gemeinschaftsauf-
Dr. Tobias Lindner gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –
gibt es ein bisschen mehr. Ursprünglich wollten Sie die
Zu diesem Einzelplan liegt ein Änderungsantrag der
Mittel dafür ganz zurückfahren. Glücklicherweise haben
Fraktion Die Linke vor.
die vielen Proteste – insbesondere auch die meiner Par-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tei, der SPD – dazu geführt, dass das verhindert werden
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch dazu konnte. Allerdings wurden die im Regierungsentwurf
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- vorgesehenen Kürzungen nicht völlig zurückgenommen.
sen. Und insgesamt reicht der Aufwuchs bei weitem nicht aus
– das möchte ich deutlich sagen –, um die Mittel zu er-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol-
setzen, die durch das Auslaufen der europäischen Förde-
lege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
rung für infrastrukturschwache Gebiete wegfallen.
(Beifall bei der SPD)
Ein bisschen soll auch für Entschädigungszahlungen
verwandt werden, die aufgrund der Frequenzversteige-
Klaus Brandner (SPD):
rungen – Stichwort digitale Dividende – fällig werden.
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine Die vorgesehenen Beträge machen aber nur einen
lieben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich heute zum Bruchteil dessen aus, was wirklich benötigt würde, um
Haushalt des Ministeriums für Wirtschaft komme, eine faire und sozialverträgliche Entschädigungsrege-
möchte ich mich ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen lung anbieten zu können.
und Mitarbeitern des Haushaltsreferats des Ministeriums
– an der Spitze die Herren Forwick und Pons – bedan- (Beifall bei der SPD)
ken, die uns – das darf ich sehr klar sagen – konstruktiv,
informativ und zielführend durch die Haushaltsberatun- Ein bisschen gibt es auch für die Fachkräftesicherung.
gen geführt haben. Mein Dank gilt aber auch dem Kolle- Das ist aber so wenig, dass man damit kaum ein sinnvol-
gen Toncar, den ich noch gar nicht sehe und der in die- les Projekt, geschweige denn längerfristige, nachhaltige
sem Bereich der Hauptberichterstatter ist. Maßnahmen in Angriff nehmen könnte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17029
Klaus Brandner
(A) Sehr geehrter Minister Rösler, ein bisschen bleibt ein weniger. Aber es betrifft immer und vielleicht am deut- (C)
bisschen. Das reicht bei weitem nicht aus. Dazu will ich lichsten die Wirtschaft, und das vor allem vor dem Hin-
zwei konkrete Beispiele anführen. tergrund des drohenden Fachkräftemangels. Selbstver-
ständlich erwarte ich von Ihnen, Herr Minister, sowohl
Erstes Beispiel: Fachkräftemangel. Ihnen allen sind
als Bundeswirtschaftsminister als auch als Vizekanzler
die Zahlen bekannt. Sofern sich nichts ändert, wird die
der Bundesrepublik Deutschland, dass Sie Ihre Kabi-
Bevölkerung in Deutschland in den nächsten 40 Jahren
nettskollegen an einen Tisch holen und Initiativen star-
auf insgesamt 75 Millionen Menschen schrumpfen. Das
ten, um Lösungen für diese Herausforderungen zu fin-
sind 7 Millionen weniger als bisher. Dabei wird die Be-
den. Hier ist Führung gefragt. Sie wollten doch liefern,
völkerung im Durchschnitt älter. Die Zahl der Menschen
wie Sie bei Ihrem Amtsantritt gesagt haben. Wenn Auf-
im erwerbstätigen Alter wird im gleichen Zeitraum um
träge nicht angenommen werden können, weil Fach-
mehr als ein Fünftel zurückgehen. Laut OECD wird die
kräfte fehlen und Potenziale nicht genutzt werden, dann
Zahl der Menschen im erwerbstätigen Alter in den kom-
lässt das die Wachstumschancen in unserem Lande
menden zehn Jahren so stark sinken wie in keinem ande-
brachliegen, und es werden wichtige Potenziale vergeu-
ren Industrieland. Ich freue mich deshalb sehr, dass Sie
det. Hier sind Sie gefragt. Ich fordere Sie von dieser
jetzt gegensteuern wollen – zumindest ein bisschen. Sie
Stelle aus ausdrücklich auf, zu handeln.
wollen für die Fachkräftesicherung in kleinen und mitt-
leren Unternehmen 4 Millionen Euro zusätzlich ausge- (Beifall bei der SPD)
ben. Dieses Geld wollen Sie verwenden, um Fachkräfte
im Ausland anzuwerben. Das ist natürlich der leichteste Ein zweites Beispiel für Ihre Ein-bisschen-Politik ist
Weg; denn wer die Hände nach Fachkräften im Ausland die zweite Energiewende, insbesondere der Netzausbau.
ausstreckt, muss im Inland nicht die Ärmel hochkrem- Er verlangt neue Hoch- und Höchstspannungsleitungen
peln. Doch genau hier liegen die strukturellen Probleme. in Deutschland. Das ist weitgehend unumstritten. Sie ha-
ben folgerichtig gleich mehrere Gesetze und Gesetzes-
Ich nenne vier Bereiche, wo Sie zusätzliche Mittel initiativen auf den Weg gebracht. Ob diese immer ziel-
sinnvoller einsetzen können, um den hier lebenden Men- führend waren oder nicht, ob sie optimal waren oder
schen Perspektiven zu verschaffen: nicht, sei dahingestellt. Ich hätte mir jedenfalls von ei-
Erstens. Die Erwerbstätigenquote von Frauen liegt nem liberalen Minister gewünscht, dass die Bürgerinnen
nicht nur deutlich unter der der Männer, sondern auch und Bürger in diesem Prozess ernster genommen und
noch unter der vieler europäischer Länder. Darüber hi- besser beteiligt werden.
naus wird es endlich Zeit, die Vereinbarkeit von Familie Abgesehen davon steht fest: Sie haben die Gesetze
und Beruf für Frauen und Männer deutlich zu erleich- auf den Weg gebracht, jetzt müssen sie durchgeführt
(B) tern, damit die mitunter hochqualifizierten Frauen nicht werden, damit Ihre Energiewende gelingt. Stattdessen (D)
länger unfreiwillig in Teilzeit- oder Minijobverhältnis- torpedieren Sie die Bundesnetzagentur, wo es nur geht.
sen festgehalten werden.
(Zuruf von der FDP: Das tun die Grünen!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Gerade jetzt, wo sie besonders schlagkräftig sein müsste,
GRÜNEN) liefern Sie sich einen offenen und peinlichen Macht-
kampf um eine mögliche Nachfolge von Präsident
Zweitens: ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Kurth. Man kann schon fast nicht zählen, wie viele Per-
mer. Durch die konsequente Förderung des lebenslangen sonen im Gespräch waren. Selbst politisch völlig unver-
Lernens könnten die Potenziale älterer Arbeitnehmer dächtige Zeitungen wie das Handelsblatt oder die FAZ
deutlich besser genutzt werden. bescheinigen Ihnen „gefährliches Postengeschacher“,
Drittens: Jugendliche. Diejenigen Jugendlichen, die Handelsblatt, oder eine „Hängepartie“, FAZ. Die
erst auf eine Ausbildung vorbereitet werden müssen, Financial Times wirft Ihnen vor, Sie würden schlingern
dürfen nicht einfach am Straßenrand zurückgelassen und bei der Bundesnetzagentur für Chaos sorgen.
werden, zum einen aus menschlichen Gründen und zum (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulla
anderen aufgrund der sich zuspitzenden demografischen Lötzer [DIE LINKE])
Lage.
Das ist in doppelter Hinsicht schlecht: zum einen, weil
Viertens: Langzeitarbeitslose. Diese Bundesregierung Sie offenbar keinen würdigen Nachfolger für den ange-
streicht die Mittel für die Wiedereingliederung von sehenen Präsidenten Kurth parat haben,
Langzeitarbeitslosen ja ständig zusammen. Gerade hier
wären zusätzliche Mittel angebracht, allerdings nicht nur (Zuruf von der FDP: Abwarten!)
ein bisschen. Hier darf es ruhig ein bisschen mehr sein,
und zum anderen, weil die Bundesnetzagentur weiter
wie wir das von einem guten Kaufmann kennen.
verunsichert zurückgelassen wird, und das, obwohl sie
(Beifall bei der SPD) gerade jetzt dringende Aufgaben erledigen muss und vor
großen Veränderungen steht.
Jetzt, meine Damen und Herren, können Sie natürlich
sagen: Das sind Angelegenheiten, die in die Zuständig- Allein zur Umsetzung des Netzausbaugesetzes wird
keit des Ministeriums für Arbeit und Soziales, des Fami- ein Personalmehrbedarf von 254 Stellen bescheinigt. So-
lienministeriums, des Finanzministeriums oder des Bil- gar das Bundesministerium der Finanzen erkennt bei der
dungsministeriums fallen. Das stimmt, mal mehr, mal Agentur einen Personalmehrbedarf von 794 Stellen. Mit
17030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Klaus Brandner
(A) einigen Kniffen und unter expliziter Inkaufnahme von Die Lage ist gut. Sie ist gut für Deutschland, aller- (C)
gravierenden Verzögerungen bei der Umsetzung der dings, Herr Brandner, offensichtlich schlecht für die Op-
Energiewende bekommt die Bundesnetzagentur gegen- position.
über dem Jahr 2011 238 Stellen. 238 Stellen! Allein für
(Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])
das Netzausbaugesetz werden aber 254 Stellen ge-
braucht. Wer sich diese Zahlen ansieht, der kann nur zu Sie sind hier heute als Oppositionspolitiker angetreten,
dem Schluss kommen, dass es Ihnen mit der Ener- um, wie ich denke, die Regierung zu kritisieren.
giewende oder mit einer zuverlässigen Energieversor-
gung nicht ganz so ernst ist. (Klaus Brandner [SPD]: Abzulösen!)
Sie haben sie kritisiert, aber nur ein bisschen; denn mehr
Man sollte von einem Bundeswirtschaftsminister er- ist Ihnen nicht eingefallen.
warten können, dass er die Bedeutung einer verlässli-
chen Stromversorgung für die Wirtschaft kennt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Klaus Brandner [SPD]: Ich wollte Ihnen noch
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Kennt er auch!) Chancen lassen!)
Wenn dem so ist, dann erwarte ich, dass er die personel- Ich will versuchen, Ihnen zu erklären, was in unserem
len und materiellen Vorkehrungen trifft, die notwendig Haushalt steht, da Sie das offensichtlich nicht verstanden
sind, um den Netzausbau und damit die Energiewende haben. Wir lehnen uns nicht entspannt zurück, sondern
so schnell wie möglich voranzutreiben. Herr Minister, wir tun etwas. Wir sagen heute nicht einfach: „Es ist al-
liebe Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-gelben les wunderbar; wir können uns also ausruhen“, sondern
Koalition, ein bisschen mehr reicht da nicht aus. wir fragen: Was brauchen wir für morgen? Was müssen
wir tun, damit der Zug Deutschland auch morgen noch
Wir brauchen im Bereich Wirtschaft gerade ange- auf dem richtigen Gleis ist? – Dazu müssen wir heute die
sichts des Fachkräftemangels, angesichts der Ener- Weichen richtig stellen.
giewende und angesichts der Weltwirtschaftslage keine
Ein-bisschen-Regierung. Wir brauchen eine Regierung (Klaus Brandner [SPD]: Dann machen Sie
mit Biss, die bei gravierenden Problemen nicht nur ir- mal!)
gendwelche kleinen Programme auflegt, sondern an die Die Themen liegen auf der Hand. Ich will sie auch be-
Wurzel des Problems geht. nennen. Zunächst möchte ich aber feststellen: Wir leben
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. in einer globalen Welt. Deswegen dürfen wir uns auf un-
seren Erfolgen nicht ausruhen. Länder wie China und
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Brasilien – ich nenne nur diese zwei Länder – sind im
(B) (D)
Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kommen. Sie wollen mehr. Andere werden ihnen fol-
NEN] – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: gen. Deutschland ist geografisch gesehen ein kleines
Jetzt hat er uns aber schwer unter Feuer ge- Land, aufgrund seiner Wirtschaftskraft ist es aber ziem-
nommen!) lich bedeutend. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Da-
für müssen wir etwas tun:
Präsident Dr. Norbert Lammert: Erstens: Auf dem Gebiet der Technologie müssen wir
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Luther vorne bleiben. Deshalb ist es richtig, dass wir zum Bei-
für die CDU/CSU-Fraktion. spiel im Bereich Luft- und Raumfahrt im kommenden
Jahr immerhin 50 Millionen Euro mehr ausgeben. Ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und weiß, dass Teile der Opposition das anders sehen. Sie
der FDP) wollen an dieser Stelle die Mittel kürzen. Die Grünen
und die Linken haben ja entsprechende Anträge gestellt.
Dr. Michael Luther (CDU/CSU):
Ich denke, sie haben nicht verstanden, was es heißt, auch
morgen noch spitze in der Welt zu sein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Deutschland geht es gut. Wir können stolz (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Die Frage ist, auf
sein auf die Situation in unserem Land. Unsere Nach- welchen Feldern!)
barn beneiden uns um unser Wirtschaftswachstum. Die Man muss genau in diesem Bereich heute investieren.
Arbeitslosenquote sinkt. Sie ist so niedrig wie seit
20 Jahren nicht mehr. Die Beschäftigungsquote steigt. Zweitens: der Mittelstand. Wir haben in Deutschland
Sie liegt auf einem Rekordniveau. Wenn man fragt, wel- einen innovativen Mittelstand, und wir brauchen weiter-
che Probleme wir in Deutschland haben, dann hört man hin einen innovativen Mittelstand. Deshalb ist ein weite-
im wirtschaftlichen Bereich zum Beispiel: „Fachkräfte- rer zentraler Aspekt in unserem Haushalt die Förderung
mangel“, des Mittelstandes. Allein für Forschung und Entwicklung
im Bereich der Innovationsförderung, für das Zentrale
(Manfred Zöllmer [SPD]: Und „diese Regie- Innovationsprogramm Mittelstand, sind knapp 500 Mil-
rung“!) lionen Euro vorgesehen. Das sind immerhin 100 Millio-
nen Euro mehr als im letzten Jahr.
oder man hört von den Leuten, es sei schwer, Handwer-
ker zu bekommen. Das sind Probleme, um die uns un- Drittens: Außenhandel. Als größte europäische Wirt-
sere europäischen Nachbarn beneiden. schaftsmacht sind wir in hohem Maße vom Export ab-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17031
Dr. Michael Luther
(A) hängig. Wir müssen unsere Produkte nicht nur im Inland, wenn es im Regierungsentwurf ursprünglich anders vor- (C)
sondern eben auch im Ausland verkaufen. Nur so wird es gesehen war. Ich sage ganz klar: Mein Ziel, unser Ziel
gelingen, dass wir unsere Position halten. Deshalb ist es ist, in Sachsen die Arbeitslosenzahlen von Baden-
sehr wichtig, dass sich das Ministerium gerade auf inter- Württemberg zu erreichen, nämlich 3,7 Prozent. Diese
nationalen Fach- und Industriemessen engagiert. Solche sind deshalb so niedrig, weil Baden-Württemberg über
Plattformen braucht der Mittelstand, um international re- 60 Jahre lang gut regiert wurde. Ich setze mich also im-
präsentieren zu können. mer wieder für die GRW ein. Wir haben die Mittel für
die GRW in großem Einvernehmen um 40 Millionen
Viertens: Fachkräftemangel. Ich denke, man kann aufgestockt. An dieser Stelle bitte ich das Ministerium,
dem Fachkräftemangel zunächst einmal begegnen, in- unseren politischen Willen als Haushaltsausschuss auf-
dem man versucht, seine eigenen Leute zu qualifizieren. zunehmen und den Mittelansatz in Zukunft auf diesem
Das tun wir. Im Bereich Bildung geben wir über den Niveau fortzuschreiben.
ganzen Haushalt verteilt deutlich mehr Geld als in den
letzten Jahren aus, um genau diesem Anspruch gerecht Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle
zu werden, unsere eigenen Leute zu qualifizieren. Aber die Gelegenheit nutzen, noch einmal Danke zu sagen für
das wird nicht reichen. Wir werden Deutschland auch für das große Engagement des Bundes bei der Sanierung der
qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland interessant ma- Wismut-Altlasten. Anfang September konnte zu diesem
chen müssen. Thema ein Folgeabkommen paraphiert werden. Damit
wird die Sanierung der Wismut über das Jahr 2022 hi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
naus gesichert sein. Wir geben viel Geld für die Fortset-
Deshalb sind die Mittel im Titel „Fachkräftesicherung zung der Sanierung und Rekultivierung des ehemaligen
für kleine und mittlere Unternehmen“ von uns im parla- Uranbergbaus in Sachsen und Thüringen aus. Dafür ste-
mentarischen Verfahren aufgestockt worden. hen im Haushalt die erforderlichen Mittel bereit. Die
Wismut-Sanierung ist eine echte Erfolgsgeschichte, auf
Fünftens: Energiewende. Wir haben die Ener- die wir stolz sein können. Es geht hier darum, eine Hin-
giewende beschlossen. Wir werden aus der Kernenergie terlassenschaft des real existierenden Sozialismus in un-
aussteigen und in Zukunft auf erneuerbare Energien set- serem Land Stück für Stück zu beseitigen; und langsam
zen. Die dafür notwendigen Gesetze sind bereits verab- verschwinden die Spuren. Dafür recht herzlichen Dank.
schiedet. An dieser Stelle möchte ich nur das Netzaus-
baubeschleunigungsgesetz und die Gesetze gegen An dieser Stelle möchte ich noch einen weiteren
Wettbewerbsbeschränkungen und zur Neuregelung ener- Punkt erwähnen, nämlich die Umstrukturierung, die der
giewirtschaftlicher Vorschriften nennen. Damit man die Einzelplan in diesem Jahr erfahren hat. Er ist jetzt über-
(B) Maßnahmen umsetzen kann, haben wir in den Haus- sichtlicher und klarer. Der viel geschmähte Bauchladen (D)
haltsberatungen die nötigen Voraussetzungen im perso- des Bundeswirtschaftsministeriums ist Geschichte. Die
nalwirtschaftlichen Bereich getroffen. Hier sind insbe- Förderprogramme wurden gestrafft und neu ausgerich-
sondere die Bundesnetzagentur und das BAFA gefragt. tet. Unrentable Programme wurden gestrichen. Die Aus-
Dort haben wir das Personal entsprechend aufgestockt. richtung auf einzelne Zielgruppen wie den Mittelstand
wurde gestärkt. Der neue Aufbau macht das Ministerium
(Klaus Brandner [SPD]: Aber nur ein biss- bereit für die Herausforderungen der Zukunft. Das war
chen!) keine leichte Aufgabe. Es hat mich und auch meine Kol-
– Natürlich könnte man mehr aufstocken, aber das ist legen Berichterstatter sehr gefreut, dass es uns gelungen
schon einmal ein guter Schritt, und wir werden das wei- ist, gemeinsam diese Herausforderung zu bewältigen.
ter begleiten. Wenn diese Personalaufstockungen im Ich hoffe, dass diese Neustrukturierung des Haushaltes
nächsten Jahr umgesetzt werden, dann haben die Behör- vielleicht auch als Vorbild für andere Haushalte dienen
den genügend zu tun. Dann müssen wir sehen, wie die könnte.
ganze Sache weitergeht. Wir machen so viel wie nötig. Ich komme zum Schluss. Ich will an dieser Stelle den
Das ist ein Schritt in der richtigen Größenordnung in die Mitarbeitern des Bundeswirtschaftsministeriums recht
richtige Richtung. herzlich Dank sagen. Sie haben uns in den Haushaltsbe-
Sechstens: GRW. Seit 1990 haben wir in Bezug auf ratungen verlässlich begleitet und gut informiert. Die
den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundeslän- Zusammenarbeit ist wirklich gut. Dafür recht herzlichen
dern viel erreicht. Heute hat Sachsen eine Arbeitslosen- Dank. Ich möchte natürlich auch den Mitberichterstat-
quote von 9,4 Prozent. 2005 betrug diese über 18 Pro- tern danken. Ich denke, wir sind ein gutes Team und ha-
zent. Die Halbierung der Arbeitslosigkeit in sechs Jahren ben insgesamt gute Arbeit geleistet. Ich sage auch dem
Kanzlerschaft Merkel ist eine tolle Wegmarke. Hauptberichterstatter, Herrn Toncar, recht herzlichen
Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zum Schluss noch die überraschende Bemerkung:
Ist sie auch für die demografische Entwick- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Haushalt
lung zuständig?) zustimmen.
Aber wir sind noch nicht am Ziel. Wir müssen weiterar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
beiten. Deswegen haben wir uns dafür eingesetzt, dass neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
die Mittel für die GRW wieder aufgestockt werden, auch Ach! Das ist ja einmal eine Überraschung!)
17032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Woher (C)
Nun sind wir gespannt, ob der Kollege Roland Claus kommt denn das? Das sollten Sie einmal sa-
sich für die Fraktion der Linken dieser Empfehlung an- gen!)
schließt. Bitte schön, Sie haben das Wort. Zudem haben wir auch eine gespaltene Arbeitsmarkt-
politik.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Nun haben Sie, Herr Bundesminister Rösler, bei der
Einbringung dieses Etats die Tatsache gefeiert, dass im-
Roland Claus (DIE LINKE): merhin 50 Prozent der neu geschaffenen Jobs Vollzeit-
jobs sind. Ich muss Ihnen sagen: Das ist kein Erfolg,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ver- sondern ein Skandal. Denn das bedeutet auf der anderen
ehrter Herr Bundestagspräsident, die Werbung war Seite, dass über die Hälfte der Jobs keine Vollzeitjobs
freundlich, aber vergeblich. – Auf dem Weg vom Bahn- sind, und auch die befristeten Jobs sind in diesen 50 Pro-
hof Friedrichstraße zum Bundestag kommt man am Bun- zent ja noch enthalten.
despresseamt vorbei, vor dem die Bundesregierung stets
die Losung der Woche auf Großplakaten veröffentlicht. Sie können mit diesem bescheidenen Etat natürlich
keine Wunder vollbringen. Der Etat des Bundeswirt-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das kennt ihr schaftsministers macht gerade einmal 1 Prozent des Ge-
noch, nicht?) samthaushaltes aus, wenn man die Subventionen für
Steinkohle und Luftfahrt abzieht. Wirkliche Industrie-
– Na klar. – Die Losung dieser Woche lautet – jetzt hö- politik kann man damit nicht machen.
ren Sie gut zu –: Der Aufschwung ist bei den Menschen
angekommen. Da Sie sich so sehr für das Programm der Linken inte-
ressieren,
Meine Damen und Herren, ich führe seit sehr vielen
Jahren meine Sprechstunden als Abgeordneter auch im (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Sehr! Das
öffentlichen Raum durch, im Sommer auf Marktplätzen liegt bei mir auf dem Nachttisch!)
und im Winter in Verkaufseinrichtungen. In Verkaufsein- verweise ich darauf: Die Linke will eine Wirtschaftspoli-
richtungen kommt man sich noch ein bisschen näher als tik, die dem Mittelstand und Existenzgründern Zukunfts-
auf Marktplätzen. Man erlebt dann, dass Bürgerinnen chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,
und Bürger – völlig unabhängig von der parteipoliti- von der Beschäftigte sorgenfrei leben können, und die so
schen Ausrichtung – ihre Wut und ihren Frust ausbrei- zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Gerech-
(B) ten. Ich werde insbesondere gefragt: Herr Claus, ich tigkeit gleichermaßen beiträgt. (D)
habe in großen Annoncen gelesen, dass der Aufschwung
bei den Menschen angekommen ist, aber bei mir kommt (Beifall bei der LINKEN)
nichts an. – Ich sage Ihnen: Mit einem solchen Zynismus Die Linke hat im Zuge dieser Haushaltsberatungen
erzeugen Sie noch mehr Politikverdrossenheit und Frust. eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht; über einige
Dem wollten wir doch eigentlich gemeinsam entgegen- werden wir heute auch abstimmen. Entgegen der land-
wirken. läufigen und von Ihnen verbreiteten Meinung kann man
(Beifall bei der LINKEN) sagen: Die Linke wirkt. Öffentlich lehnen Sie zwar fast
alle unsere Anträge ab, aber intern kommen Sie an vie-
Ein reales Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik ist ein in- len unserer Vorschläge einfach nicht vorbei. Ich will Ih-
zwischen fest etablierter Niedriglohnsektor. Sie haben nen dafür zwei Beispiele nennen.
gemerkt, dass dieser Weg in die falsche Richtung führt.
Für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
Sie haben aber den Zug so fest auf die Gleise gesetzt,
gionalen Wirtschaftsstruktur“, die hier schon angespro-
dass Sie jetzt nicht mehr in der Lage sind, ihn umzulen-
chen worden ist und die zu einem ganz überwiegenden
ken. Wir haben im Osten Deutschlands einen doppelt so Teil den ostdeutschen Bundesländern zugutekommt, wo-
hohen Anteil an Leiharbeit und Niedriglohn. Insbeson- für wir werben, hat die Linke eine Erhöhung um 54 Mil-
dere junge Menschen werden beim Eintritt in ihr Berufs- lionen Euro beantragt.
leben dadurch verunsichert, dass sie in aller Regel nur
Zeitverträge bekommen. Sie werden zehn Monate von (Beifall des Abg. Ralph Lenkert [DIE
ihrem Arbeitgeber entlohnt und dann zur Arbeitsagentur LINKE])
geschickt. Dadurch sind sie nicht wirklich in der Lage,
eine Lebensplanung vorzunehmen. Bei der Familienpla- Den Antrag der Linken haben Sie abgelehnt. Sie haben
nung steht nämlich immer im Raum, dass Kinder mit Ar- aber jetzt eine Erhöhung um 39 Millionen Euro be-
mutsrisiko verbunden sind. schlossen. Das ist insgesamt immer noch weniger als un-
sere Forderung, aber es beweist: Links wirkt. In kleinen
Wir haben eine hohe Erwerbsmigration – das ist Ih- Schritten bewegen Sie sich in die richtige Richtung.
nen bekannt –, und die Situation bei der Kinderbetreu- (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge-
ung ist im Westen der Republik miserabel. Wir haben ordneten der CDU/CSU)
eine zwischen Ost und West gespaltene Wirtschaftspoli-
tik; ich will erinnern: Nicht eine einzige Firmenzentrale Es gibt ein zweites Beispiel: das Bundeskartellamt,
ist im Osten anzutreffen. das wir jetzt an vielen Stellen tatsächlich brauchen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17033
Roland Claus
(A) (Florian Toncar [FDP]: Oh ja! Was für eine delsüberschüsse freue. Herr Minister, wer globalisierte (C)
linke Einrichtung das Bundeskartellamt doch Ökonomie so denkt und wer Europa nur als Konkurrenz-
ist!) handelsraum versteht, der hat von zukunftsfähiger Öko-
nomie nichts verstanden.
Hier hat die Linke einen Aufwuchs von 20 Millionen
Euro vorgeschlagen. Das hat die Koalition abgelehnt. In (Beifall bei der LINKEN – Dr. Michael Fuchs
dem jetzt vorliegenden Entwurf haben Sie aber 12 Mil- [CDU/CSU]: Oh ja! Dafür brauchen wir die
lionen Euro draufgepackt. Das ist deshalb gut und rich- Linken! Gerade euch Pleitegänger! – Andreas
tig, weil sich eine Ausgabenerhöhung beim Bundeskar- G. Lämmel [CDU/CSU]: Oh Gott! Und das
tellamt allemal rechnet. Denn die zu erwartenden von Ihnen!)
Einnahmen durch die Strafen, die das Bundeskartellamt
Nun meinen Sie, im Haushalt Rösler alles neu regeln
verhängen kann, sind wesentlich höher als die Ausga-
zu müssen. Bisher, um auf meinen Vorredner einzuge-
ben, die dort anfallen. Den gleichen Vorschlag haben wir
hen, gibt es nur frische Überschriften. Alles ist neu sor-
Ihnen schon vor Jahren auch im Hinblick auf das Bun-
tiert. Jetzt wird uns versprochen: Bei der Wirtschaftsför-
despatentamt gemacht. Da sind Sie unserem Weg ge-
derung kehrt viel mehr Ordnung ein. Wenn ich in meiner
folgt. Jetzt haben Sie es auch beim Bundeskartellamt ge-
Funktion als Berichterstatter nicht schon drei Ihrer Vor-
tan. Sie merken: Links wirkt.
gänger, Herr Bundesminister Rösler, erlebt hätte, die mir
(Beifall bei der LINKEN) genau das Gleiche versprochen, es aber niemals einge-
halten haben, dann würde ich auf diese Aussage viel-
Ich will auf eines Ihrer gepflegten Lieblingskinder
leicht etwas geben. Aber das ist nicht der Fall.
eingehen: auf die Raum- und Luftfahrt. Hier haben wir
es – das ist angesichts eines FDP-Ministers besonders er- Einer der Knüller, den Sie jetzt anbieten, ist Ihr Pro-
wähnenswert – mit der Subventionierung staatsnaher gramm zur Fachkräftesicherung.
Monopolisten zu tun.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja!) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das können Sie nun leider nicht mehr erläutern, Herr
Diese staatsnahen Monopolisten haben eine wirklich Kollege Claus.
nette Angewohnheit. Sie kassieren nämlich zweimal. Sie
kassieren am Anfang bei den Zuwendungen durch den
Bundeshaushalt, und sie kassieren zum zweiten Mal Roland Claus (DIE LINKE):
– nachdem der Staat ihnen einen Auftrag erteilt, den sie, Es ist auch nicht wirklich wert, erläutert zu werden,
in aller Regel verspätet, erfüllen – durch überzogene und Herr Präsident. Das ist ein solches Pillepalle-Programm,
(B) überteuerte Leistungsabrechnungen. Meine Damen und dass es keinen Sinn macht, dafür Redezeit zu ver- (D)
Herren, dazu sagen wir Ihnen: Das kann so nicht weiter- schwenden.
gehen. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie
(Beifall bei der LINKEN – Rainer Brüderle bei Abgeordneten der SPD)
[FDP]: Ihr müsst es ja wissen! Das kennt ihr ja Sie werden gemerkt haben, dass ich Ihrer gefälligen
noch von früher!) Werbung, dem Etat zuzustimmen und es damit meinem
Leider geht es aber so weiter, Stichwort EADS-Kon- Vorredner gleichzutun, nicht folgen kann.
zern. Bekanntlich wird Daimler aus dem Konzern aus- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
steigen. Daimler hält im Moment 7,5 Prozent der EADS-
Aktien. Nun höre und staune man, was unter der Feder- (Beifall bei der LINKEN)
führung eines liberalen Wirtschaftsministers geschieht:
Dieser von Daimler abgestoßene Aktienteil wird von der Präsident Dr. Norbert Lammert:
staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau übernommen, Nun hat der Bundesminister für Wirtschaft und Tech-
ohne dass – nun kommt es noch dicker – der Staat damit nologie, Philipp Rösler, das Wort.
die Stimmrechte übernimmt; denn die sollen bei Daimler
verbleiben. Meine Damen und Herren, das, was Sie hier (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tun, schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. der CDU/CSU)

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist liberale
und Technologie:
Wirtschaftspolitik! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Verstaatlichung à la FDP!)
Damen und Herren! Der deutschen Wirtschaft geht es
Ich lerne daraus: Liberale Wirtschaftspolitik bedeutet, gut. Ihr verdanken wir ein enormes Wachstum im Jahre
dass ein staatsnaher Monopolist unter Führung eines 2010 von 3,6 Prozent und ein gutes Wachstum für 2011
FDP-Ministers weiter verstaatlicht wird und der Staat da- von 2,9 Prozent. Selbst in dem schwieriger werdenden
nach nichts mehr zu sagen hat. Dazu, Herr Minister, passt Jahr 2012 erwarten wir ein positives Wachstum von
nur noch Ihre Aussage in der Süddeutschen Zeitung, wo 1 Prozent. Eines ist ebenso klar: Deutschland bleibt
Sie meinten, mitteilen zu müssen, dass Sie bei Wirt- Wachstumslokomotive in Europa. Diese Regierungsko-
schaftsministertreffen auf internationaler Ebene der ein- alition aus CDU, CSU und FDP wird dafür sorgen, dass
zige Wirtschaftsminister seien, der sich über Außenhan- dies auch in Zukunft so bleibt.
17034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sage Ihnen: Wir haben jahrelang darum gestritten und (C)
jahrelang dafür gekämpft. Jetzt ist es endlich gelungen.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Claus, ich werde
Das ist tatsächlich ein Paradigmenwechsel in der deut-
mich als deutscher Wirtschaftsminister niemals dafür ent-
schen Zuwanderungspolitik.
schuldigen, dass wir Außenhandelsbilanzüberschüsse ha-
ben, weder bei Ihnen im Ausschuss noch auf europäischer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ebene; denn diese Überschüsse sind keine Schwäche, der CDU/CSU)
sondern sie sind Ausdruck der Stärke und der wirtschaft-
lichen Leistungsfähigkeit unserer deutschen Volkswirt- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schaft. Herr Minister, darf Ihnen der Kollege Seifert eine
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zwischenfrage stellen?
Diese gilt es zu stärken: durch Fachkräftesicherung,
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
kluge Energiepolitik, ein klares Bekenntnis zur sozialen
und Technologie:
Marktwirtschaft und Stabilisierung unserer gemeinsa-
Nein, vielen Dank. – Wirtschaftspolitik heißt auch In-
men Währung, des Euro. Sie sind leider nicht mehr zum
dustriepolitik. Industriepolitik heißt auch Energiepolitik.
Thema Fachkräftesicherung gekommen. Es ist eine
Das bedeutet: Wir müssen die Energieversorgung eines
großartige Leistung aller beteiligten Partner in der sozia-
Industrielandes wie Deutschland sichern. Das wird nicht
len Marktwirtschaft, der Sozialpartner und auch der
mit naiv-romantischen energiepolitischen Vorstellungen
Politik, dass durch kluge Politik in diesem Jahr und auch
funktionieren. Wenn wir die Energiewende in Deutsch-
in den Folgejahren gerade junge ausbildungsschwache
land erfolgreich umsetzen wollen, dann müssen wir mit
Menschen eine deutlich größere Chance auf einen Aus-
grünen Träumereien Schluss machen.
bildungsplatz und in der Folge auf einen Arbeitsplatz ha-
ben als zu Ihren Regierungszeiten. Von Ihnen von der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Linksfraktion wollen wir erst gar nicht sprechen. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Mit dem Sprech kommen Sie auf 2 Pro-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zent!)
Europaweit haben wir die niedrigste Jugendarbeitslo-
Die Bundesnetzagentur, die Sie eben so gescholten
sigkeit. Schauen Sie einmal nach Frankreich, Italien oder
haben, arbeitet mit Hochdruck an einem deutschen Netz-
nach Spanien mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 46 Pro-
ausbauplan. Wir arbeiten an einem Förderprogramm für
zent. Hier in Deutschland ist es zum Glück anders. Ich
hocheffiziente neue Kraftwerke und bauen Kraft-
sage Ihnen ausdrücklich: ohne einen flächendeckenden
Wärme-Kopplung aus. Wir wollen Forschung und Inno-
(B) gesetzlichen Mindestlohn. (D)
vationen gerade im Energiebereich: neue Netze, Spei-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chertechnologien und Elektromobilität.
der CDU/CSU)
Ich erwarte von all denjenigen, die in den letzten 20,
Wenn wir bei den jungen Menschen erfolgreich sein 30 Jahren gegen Kernenergie demonstriert haben, dass
können, dann – da gebe ich Ihnen recht – müssen wir ge- sie jetzt fest an meiner Seite stehen, wenn wir neue Koh-
nauso erfolgreich sein, wenn es darum geht, junge Eltern lekraftwerke, Gaskraftwerke und 4 500 Kilometer neue
oder auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Netze bauen. Wer aus der Kernenergie aussteigen will,
stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das wird aber der muss in fossile Kraftwerke einsteigen. Alles andere
nicht durch Quoten oder durch gesetzliche Vorgaben wäre unehrlich.
funktionieren, sondern nur, indem wir die Vereinbarkeit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
von Familie und Beruf verbessern, indem wir auch an
dieser Stelle nochmals einen klaren Appell an die deut- Ich bin sehr gespannt. Ich habe die Umweltverbände
sche Wirtschaft senden, dass sie sich nicht über Fach- angeschrieben, mich beim Bau von Kohlekraftwerken
kräftemangel beklagen darf, wenn sie gleichzeitig darauf und Gaskraftwerken zu unterstützen. Da scheint es bei
verzichtet, jungen und gut ausgebildeten Menschen eine den Umweltverbänden noch Nachholbedarf zu geben.
Perspektive, eine Chance durch bessere Vereinbarkeit Auf die Antworten bin ich sehr gespannt.
von Familie und Beruf zu geben, und wenn sie bei Kün-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
digungen zuallererst an die älteren Menschen denkt. Wir
NEN]: Aber bei Ihnen gibt es keinen Nachhol-
halten das für falsch. Wer den Fachkräftemangel sieht,
bedarf an Arroganz!)
der muss etwas dagegen unternehmen. Er kann es tun,
indem er jungen Menschen und älteren Arbeitnehmerin- Mit Ihrer Politik jedenfalls wird es nicht weitergehen.
nen und Arbeitnehmern in Deutschland eine Chance Wir brauchen endlich wieder eine realistische Energie-
gibt. politik, eine gute Industriepolitik und eine starke Wirt-
schaftspolitik in Deutschland.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Erstmalig schaffen wir ein System der gesteuerten
Zuwanderung in den ersten Arbeitsmarkt in Deutsch- Wir brauchen auch Vertrauen in unsere Wirtschaft
land. Wir setzen die Blue-Card-Richtlinie der EU um. und unser Wirtschaftssystem, also in das System der so-
Sie enthält klare Regeln für die Zuwanderung, gestaffelt zialen Marktwirtschaft. Wir alle sehen, dass dieses Ver-
nach Gehalt, Beruf und jeweiliger Qualifikation. Ich trauen zunehmend schwindet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17035
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vielleicht hat standskredit muss angerechnet werden. Damit werden (C)
das mit Ihnen zu tun!) geradezu Anreize gesetzt, unsolide Staatsanleihen zu
kaufen. Ich will, dass es künftig wieder attraktiv wird, an
Das zeigen nicht nur die Demonstrationen, sondern auch den Mittelstand Kredite zu vergeben, statt unsolide,
Gespräche mit Unternehmerinnen und Unternehmern. faule Staatsanleihen zu kaufen. Daran müssen wir etwas
Sie stellen uns immer wieder eine Frage: Was macht ändern, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Politik tatsächlich für die Regulierung der Finanzmärkte
in Deutschland, in Europa und weltweit? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das frage ich Sie! – Dr. Tobias Lindner Wenn wir Vertrauen schaffen wollen, dann ist das die
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was macht Aufgabe für die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft.
die FDP?) So wie Ludwig Erhard damals mit dem Kartellrecht ei-
nen wesentlichen Baustein in das Fundamt der sozialen
– Ich will es Ihnen sagen. – Die Finanzmärkte werden Marktwirtschaft eingefügt hat, muss die jetzige Politi-
gebraucht. Sie müssen Liquidität für die Unternehmen kergeneration, die sich der sozialen Marktwirtschaft ver-
zur Verfügung stellen. Sie haben eine dienende Funk- pflichtet fühlt, eine kluge Finanzmarktregulierung in das
tion. System der sozialen Marktwirtschaft mit einfügen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die sollten sie (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
haben!) GRÜNEN]: Dann machen Sie das! Sie sind
Aber auch wir sehen selbstverständlich, dass sich die Fi- doch in der Regierung!)
nanzmärkte mit vielen ihrer Produkte und Verfahren Das ist eine Aufgabe für die Vertreter der sozialen
längst von dieser dienenden Funktion entfernt haben. Sie Marktwirtschaft, also für uns.
haben sich verselbstständigt. Genau das müssen wir ge-
meinsam stoppen. Genauso müssen wir um Vertrauen werben, wenn es
um die Stabilisierung unserer Währung geht. Ich habe
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gestern Ihre Reden genau verfolgt: nicht ein Wort der
der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Und Entschuldigung und des Bedauerns, dass Sie mit dem
wie?) Aufweichen der Maastricht-Kriterien das Vertrauen der
Ich habe null Verständnis, wenn Sie mit fallenden Ak- Menschen in unsere Währung massiv enttäuscht haben.
tien, die Ihnen nicht einmal gehören und die Sie sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
noch nicht einmal geliehen haben, Gewinne machen ruf von der SPD: Unfug!)
(B) können. (D)
Das war die Ursache für die aktuelle Krise. Dagegen ha-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind in der ben Sie nichts getan. Stattdessen kommen von Ihnen
Regierung, Herr Minister!) jetzt gute Ratschläge, wie die Haushalte in den Griff zu
Deswegen ist es klug, ungedeckte Leerverkäufe zu ver- bekommen sind. Ausgerechnet von Rot und von Grün
bieten. Genau das hat die Bundesregierung getan. Wir brauchen wir solche Ratschläge nicht.
setzen uns dafür ein, dieses Verbot von ungedeckten (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Leerverkäufen nicht national, sondern international, also CDU/CSU)
europaweit und weltweit, durchzusetzen.
Jeder weiß: Da, wo Sie regieren, werden Schulden ge-
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Das wurde aber macht, bis es kracht. Ich glaube, Sie sollten sich etwas
auch Zeit! Bis Ende nächsten Jahres!) zurückhalten, wenn es darum geht, mit uns gemeinsam
Wir hoffen sehr, dass Sie auch an dieser Stelle an unserer über Haushaltskonsolidierung zu reden.
Seite stehen. Denn wir brauchen noch weitere Regulie- (Manfred Nink [SPD]: Sie sollten sich mal
rungen auf dem Finanzmarkt. schlaumachen! – Joachim Poß [SPD]: Sie wis-
Ihre Antwort auf die Frage der Regulierung ist eine sen gar nicht, worüber Sie reden!)
Finanztransaktionsteuer. Wir brauchen von Ihnen keine Ratschläge. Aber ich
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eine Antwort!) glaube, wir sollten alle zusammenstehen, wenn es darum
geht, für eine Stabilitätsunion zu kämpfen:
Das ist mir zu wenig. Das ist nur Abkassieren und kein
Regulieren. Wir brauchen mehr, wenn wir die Finanz- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
märkte weltweit in den Griff bekommen wollen. NEN]: Was ist das denn für eine Werbeme-
thode! Sie brauchen von uns keine Ratschläge,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber wir sollen gemeinsam kämpfen?)
der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD –
Iris Gleicke [SPD]: Bitte ein bisschen niveau- mit einem Schuldenverbot für alle Staaten und einem
voller!) Wettbewerbstest. Alle diejenigen, die bei einem solchen
Test durchfallen – das kennen Sie, Frau Künast –, müssen
Wir brauchen mehr Transparenz im Derivatehandel. mit harten, automatischen Sanktionsmaßnahmen rech-
Wieso gibt es eigentlich keine Anrechnung von Staatsan- nen. Dafür brauchen wir Vertragsänderungen. Wir brau-
leihen auf das Eigenkapital von Banken? Jeder Mittel- chen, nachdem Sie den Stabilitätspakt I kaputtgemacht
17036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) haben, einen neuen Stabilitätspakt. Wir brauchen Ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
tragsänderungen, wir brauchen einen Stabilitätspakt II in Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-
Europa zur Stabilisierung unserer gemeinsamen Wäh- lege Seifert. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das
rung. Wort.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Sie wollen das Gegenteil. Sie wollen eine Transfer-
union, Sie wollen Euro-Bonds, und Ihr Kollege, Frau Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie und
Künast, möchte ja sogar Finanzminister werden. Wir Ihre Koalition loben die Umstrukturierung Ihres Haus-
halten alles drei für falsch. haltes sehr. Außerdem haben Sie gerade mehrfach große
Bekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft abgegeben
Eine Transferunion wäre falsch, weil wir nicht wol- und gesagt, was Sie so alles erreichen wollen.
len, dass der deutsche Steuerzahler für die Schulden in
anderen europäischen Staaten aufkommt. Mir fehlt in Ihrem Haushalt aber eine Aussage zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich
(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann sie zumindest nicht erkennen. Vielleicht können
NEN]: Haben wir doch schon längst!) Sie mich da aufklären? Der Deutsche Bundestag be-
kannte sich dazu. Wie wollen Sie das umsetzen? Sie ist
Wir wollen keine Euro-Bonds, weil wir nicht wollen, immerhin seit zweieinhalb Jahren geltendes Recht in
dass die Zinsen in Deutschland dramatisch steigen. Das Deutschland. Für diese Querschnittsaufgabe, die jedes
wäre zum Nachteil für das Wachstum in Deutschland. Ressort betrifft – auch Ihres –, müsste es doch in jedem
Deswegen sage ich Ihnen: Die Menschen können auf Haushalt ein eigenes Kapitel geben. Bei Ihnen steht kein
diese Regierungskoalition zählen. Wir werden alles drei Wort davon. Ich kann leider auch keine Zahl finden.
verhindern: die Transferunion, Euro-Bonds und Jürgen Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann.
Trittin als Bundesfinanzminister.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Anstatt sich hier aufzuregen, sollte sich der gesamte
Deutsche Bundestag jetzt gemeinsam gegen die Vor- Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
schläge des EU-Kommissars Herrn Barroso stellen. und Technologie:
(Zuruf von der SPD: Zuerst beleidigen und Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Ab-
(B) dann gemeinsam vorgehen! – Renate Künast geordneter! Wir haben ja schon mehrfach über genau (D)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) diesen Punkt diskutiert.
Er schlägt Euro-Bonds vor und fordert sie. Es wäre nicht (Rolf Hempelmann [SPD]: Aber ohne Ant-
nur zum Schaden für unser Land, wenn die Zinsen stei- wort!)
gen würden, sondern das wäre auch zum Schaden von
Europa, weil das Vertrauen in die Europäische Union Ich kann mich daran erinnern, dass ich im Tourismus-
und in die Stabilität der Europäischen Union verloren ausschuss gewesen bin. Dort haben wir Ihnen Antworten
gehen würde. auf die Frage gegeben, was wir gerade in diesem Bereich
tun. Tourismus gehört unzweifelhaft mit zur Wirtschafts-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da muss man politik. Gerade wenn es darum geht, barrierefreies Rei-
jetzt mal in das Gesicht des Finanzministers sen möglich zu machen, ist dieses Haus mit federfüh-
gucken! – Iris Gleicke [SPD]: Man müsste rend. Das wissen Sie genauso gut wie alle hier in diesem
verstehen, worum es geht, Herr Rösler! Das ist Hause.
bei Ihnen nicht der Fall!)
Sie sind nicht mit jeder Maßnahme meines Ministe-
Wir sagen Nein zu Euro-Bonds. Das sollte hier als Si- riums zufrieden. Aber das, was in unseren Möglichkei-
gnal vom gesamten Deutschen Bundestag gesendet wer- ten steht – bezogen auf die Querschnittsaufgabe, Gleich-
den. berechtigung für alle Menschen in unserem Lande zu
erreichen – und wofür das Wirtschaftsministerium die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris
Verantwortung hat, beispielsweise auch im Bereich der
Gleicke [SPD]: Herr Schäuble sieht bei dieser
Tourismuswirtschaft, werden wir tun. Das wissen Sie,
Rede nicht glücklich aus!)
und ich finde es schade, dass Sie das hier nicht anerkannt
Das ist unsere Aufgabe: Wachstum verstetigen, Fach- haben; denn das haben Sie gemeinsam mit allen Kolle-
kräftesicherung, kluge Energiepolitik, klares Bekenntnis gen im Tourismusausschuss unter Mitwirkung der Mitar-
zur sozialen Marktwirtschaft und Stabilisierung der beiterinnen und Mitarbeiter beschlossen. Ich würde mich
Währung. Das sind die richtigen Schritte für die Versteti- freuen, wenn Sie diese Leistung für alle Menschen in
gung des Wachstums auch im Jahre 2012. Deutschland anerkennen würden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17037

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: aber nicht deswegen, weil das Produkt nicht schmecken (C)
Nun hat der Kollege Tobias Lindner das Wort für die würde, sondern weil die Menschen in diesem Land bis
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. heute auf diese Lieferung warten, die Sie im Mai ver-
sprochen haben.
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sowie bei Abgeordneten der SPD)
ren! Wenn man Ihnen heute Morgen zugehört hat, Herr
Das sieht man auch, wenn man in den Etat des Wirt-
Minister, dann konnte man feststellen, dass Sie eine
schaftsministeriums schaut. Die Kollegen vor mir haben
durchaus bemerkenswerte Rede gehalten haben.
es schon erwähnt: Der Etat ist neu strukturiert worden.
(Rainer Brüderle [FDP]: Stimmt!) Es wurden vier neue Kapitel geschaffen. Aber was ist
passiert? Die alten Förderprogramme von gestern und
Wenn man Ihnen zuhört, dann muss man nämlich den vorgestern sind ohne kritische Prüfung in diese Kapitel
Eindruck haben, hier in diesem Plenarsaal tue sich ein einfach neu einsortiert worden. Viele neue Rezepte fin-
Paralleluniversum auf. det man in diesem Etat allerdings nicht. Was man findet,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind neue Stellen in Ihrem Ministerium, bedingt durch
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- den Wechsel an der Spitze.
KEN) Eines servieren Sie hingegen, und das ist, um in der
Auf der einen Seite erzählen Sie und die Koalition Sprache zu bleiben, kalter Kaffee, nämlich die x-te An-
uns, wie gut es uns in diesem Land geht, wie toll Sie kündigung von Steuersenkungen quasi als Rettungs-
sind, schirm für die FDP. Es sind Steuersenkungen auf Pump
in Zeiten, in denen die Konjunktur abflacht. Das ist das
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sind wir doch falsche Signal aus unserer Sicht.
auch!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wie erfolgreich Ihre Politik ist und dass Rot-Grün an al-
Trotz mehr als 1 Billion Euro Schulden in Deutschland,
lem schuld ist – am Ende auch noch am schlechten Wet-
trotz historisch niedriger Zinsen und großer Risiken in
ter.
diesem Haushalt investieren Sie 6 Milliarden Euro in
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wenn ihr dafür Steuersenkungen, die bei der Hälfte der Menschen in
verantwortlich wärt, dann würde es regnen! – diesem Land gar nicht ankommen, statt den Haushalt zu
Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) konsolidieren oder dieses Geld dafür einzusetzen, um
(B) unsere Wirtschaft zukunftsfähig zu machen und auf die (D)
Auf der anderen Seite haben dies die Menschen, wenn Energiewende vorzubereiten.
man sich Ihre Umfragewerte anschaut, anscheinend
noch nicht bemerkt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da gibt es nichts
vorzubereiten! Die wird durchgeführt!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Kommen wir zur Energiewende. Herr Kauder, Sie sa-
gen, die Energiewende werde durchgeführt.
Der zweite bemerkenswerte Umstand heute Morgen
war: Herr Rösler, Sie haben von Euro-Bonds gespro- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jawohl, so
chen, Sie haben von einem Mindestlohn gesprochen, Sie ist das!)
haben von einer Finanzmarkttransaktionsteuer gespro- Ist das die Energiewende, wenn Sie auf der einen Seite
chen. Sie haben dabei immer in unsere Reihen geblickt. damit drohen, die Mittel für den Ausbau der Solarener-
Ich rate Ihnen, einmal in die Reihen der CDU/CSU zu gie in Deutschland zu deckeln, aber gleichzeitig neue
schauen. Schauen Sie auf das Gesicht des Bundesfinanz- Kohlekraftwerke fordern? Ist das die Energiewende,
ministers. Das würde Ihnen Aufschluss über die Einig- wenn Sie im Etat des Wirtschaftsministeriums viel zu
keit in Ihrer Koalition geben. wenig Geld für den Ausbau der Energienetze, für Sys-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN temsicherheit und neue Speichertechnologien einstellen?
und bei der SPD) Sie sind es doch, die uns vorwerfen, gegen neue Netze
zu sein, aber Sie selbst stellen viel zu wenig Geld dafür
Ein weiterer Punkt. Ich weiß nicht, wie es um die im Etat bereit.
Kochkünste des Bundeswirtschaftsministers bestellt ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das geht Sie sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin
wirklich nichts an! – Volker Kauder [CDU/ Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist doch pure
CSU]: Das ist doch wirklich unwichtig!) Klientelpolitik, die Sie machen! – Gegenruf
der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE
Ich kann Ihnen aber eines sagen: Wäre die FDP ein
GRÜNEN]: Sie machen Klientelpolitik!)
Pizzabringdienst, dann befänden Sie sich schon längst in
geordneter Insolvenz, – Jetzt kommen wir zum Thema Klientelpolitik.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Haha! Witz Sie schaffen ein Sondervermögen für die erneuerba-
komm raus, du bist umzingelt!) ren Energien, den Energie- und Klimafonds. Das ist ein
17038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Tobias Lindner


(A) Schattenhaushalt, außerhalb des normalen Haushalts- Lassen Sie mich nur einen Satz zur Solarförderung (C)
plans, der mit großen Risiken verbunden ist. Es stellt sagen: Die Solarförderung in Deutschland liegt mittler-
sich die Frage, ob sich das überhaupt finanzieren lässt. weile bei 7,1 Milliarden Euro pro Jahr. Für Kohle geben
wir noch 1,42 Milliarden Euro aus. Das zeigt ja wohl,
Was Sie stattdessen gut absichern, ist die Luft- und dass andere Schwerpunkte gesetzt worden sind.
Raumfahrt. Sie geben nicht nur 1,3 Milliarden Euro mit
dem Argument aus, das sei Grundlagenforschung – bei (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
der Energiepolitik zählt dieses Argument offenbar nicht –,
Da diese Schwerpunkte mittlerweile überzogen sind,
nein, Sie führen jetzt auch die Teilverstaatlichung der
werden wir das korrigieren; daran werden wir gehen.
EADS fort. Sie haben in den Haushalt über 1 Milliarde
Das hat eine mehr als große Berechtigung.
Euro eingestellt, damit der Bund weitere Anteile von
EADS übernehmen kann. Das wird übrigens begleitet Dass diese Koalition in der Lage ist, den Haushalt zu
von Kopfschütteln vieler Vertreter der deutschen Wirt- sanieren, möchte ich Ihnen an drei Zahlen klarmachen.
schaft, insbesondere von EADS selbst, die sich einen Der Kollege Steinbrück hat im Jahr 2009 noch einen
privaten Investor hätte vorstellen können. Nicht nur das: Haushalt und auch eine mittelfristige Finanzplanung auf-
Auf der einen Seite übernehmen Sie Eigentum an diesem gestellt, wie sich das gehört. Das ist in Ordnung. Diese
Unternehmen und damit Risiko, auf der anderen Seite mittelfristige Finanzplanung sah folgendermaßen aus:
nehmen Sie aber Ihre Kontrollrechte und Ihre Verant- Im Haushalt 2010 war eine Nettokreditaufnahme von
wortung nicht wahr. Diese Regierung verzichtet auf 86,1 Milliarden Euro geplant. Der Kollege Schäuble
Kontrollrechte im Aufsichtsrat. – vielen Dank! – hat das mit 44 Milliarden Euro hinbe-
kommen, also mit lediglich 51 Prozent des von Herrn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steinbrück, dem Reserveweltökonomen, geplanten Vo-
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lumens. 2011 war eine Neuverschuldung von 71,7 Mil-
NEN]: Ungeheuerlich!) liarden Euro geplant. Der Kollege Schäuble wird das
Sie investieren hier riesige Summen. Sie sollten sich dieses Jahr mit 22 Milliarden Euro hinbekommen; viel-
lieber peu à peu aus der Subvention solcher Unterneh- leicht wird es sogar noch ein bisschen weniger. Für 2012
men zurückziehen, wirkliche Grundlagenforschung und hat der Weltökonom 58,7 Milliarden Euro Nettokredit-
Zukunftstechnologien fördern und sich einer Roh- aufnahme eingeplant. Wir werden den Haushalt mit ma-
stoffstrategie zuwenden, die nicht nur auf die Ausbeu- ximal 26,1 Milliarden Euro Nettokreditaufnahme ab-
tung ausländischer Minen setzt, sondern sich vor allen schließen. Ich gehe davon aus, dass auch das noch
Dingen auf Rohstoffeffizienz, alternative Rohstoffe und weniger wird, wie Sie es in jedem Haushalt hinbekom-
mehr Recycling konzentriert. men haben, Herr Finanzminister. Ich gratuliere Ihnen
(B) dazu. Das ist eine solide Haushaltspolitik. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Rösler, mit diesen Entscheidungen – mit einer
Teilverstaatlichung der EADS, mit einem mangelnden Diese ist auch notwendig; denn die zusätzlichen Ver-
Subventionsabbau, mit Schwerpunkten in einem Etat, schuldungen, die Rot-Grün ganz besonders intensiv be-
die aus dem Umsortieren von Förderprogrammen beste- trieben hat, helfen uns nicht weiter.
hen – befinden Sie sich auf einer ordnungspolitischen Sie waren es auch – das gehört immer wieder zur
Geisterfahrt. Wie es mit Geisterfahrern nun einmal so Wahrheit dazu; ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören –,
ist: Entweder bauen sie früher oder später einen Total- die 2003 und 2004 als Allererste zusammen mit den Fran-
schaden, oder sie werden aus dem Verkehr gezogen. Den zosen, mit Chirac, die Maastricht-Kriterien gebrochen
Menschen in diesem Land und der deutschen Wirtschaft haben. Sie waren es, die nach Brüssel gefahren sind und
ist Letzteres zu wünschen. verhindert haben, dass der berühmte blaue Brief ver-
Ich danke Ihnen. schickt wurde. Es war Herr Eichel, der das zusammen mit
Herrn Chirac und Herrn Schröder gemacht hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Rainer Brüderle [FDP]: Und Fischer!)
Genau das war der Weg in die Verschuldung Europas.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!)
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion. Das war die Tür, die geöffnet wurde.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es wird nicht
wahrer, wenn Sie sich wiederholen!)
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Deswegen können Sie von anderen Ländern nicht erwar-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! ten, dass sie sich an die Planungen halten und die
Herr Kollege Lindner, Sie sind grün, ein Grüner, und Maastricht-Kriterien einhalten. Ich empfinde es als eine
auch im Haushalt noch grün. Denn allzu viel Ahnung ha- ziemlich schändliche Sache, einfach darüber hinwegzu-
ben Sie mit Ihrer Rede heute nicht bewiesen. gehen und zu sagen: Wir haben damit eigentlich gar
nichts zu tun. – Sie haben!
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Oh!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17039
Dr. Michael Fuchs
(A) Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar da- unsere Politik, die Politik der Bundesregierung, die Poli- (C)
für, dass er einen sehr seriösen Haushalt aufgestellt hat. tik der Bundeskanzlerin, das aufzeigt.
Im Bundesministerium sind über 700 Millionen Euro für
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Forschung und Entwicklung vorgesehen. Herr Minister,
neten der FDP)
das ist gut. Vor allen Dingen freut mich das ZIM-Pro-
gramm, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, Marktwirtschaft hat uns auf allen Feldern weitergehol-
dessen Mittel bei 389 Millionen Euro angekommen sind. fen und zu dem gemacht, was wir heute sind. Der Staat
Das dient einer gezielten Förderung des Mittelstands, hat nie bewiesen, dass er der bessere Banker – Stichwort
des Rückgrats unserer Wirtschaft. Das ist notwendig. „Landesbanken“ – oder der bessere Unternehmer ist.
Deswegen befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer
solch guten Verfassung. (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Warum kaufen Sie dann EADS?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Er sollte es auch sein lassen, als Unternehmer aufzutre-
Die Wirtschaft ist im letzten Jahr um 3,6 Prozent ge- ten. Manche Bereiche bereiten mir in dieser Hinsicht be-
wachsen. Sie wird dieses Jahr um rund 3 Prozent wach- sondere Sorgen, zum Beispiel der Energiemarkt. 1997/98
sen. Sie, Herr Minister, haben gerade 1 Prozent für das wurde unter dem damaligen Bundeswirtschaftsminister
nächste Jahr angedeutet. Ich sage, dass das vielleicht Günter Rexrodt der Energiemarkt liberalisiert. Ord-
noch ein bisschen mehr wird. nungspolitisch war das sicher eine richtige Entschei-
dung. Heute ist es so, dass die staatlich bestimmten Las-
Was mich allerdings besorgt, ist, dass das Modell
ten beim Strompreis bei 42 Prozent angekommen sind.
Deutschland zwar von anderen kopiert wird, aber dass
Hinzu kommen 24 Prozent durch regulierte Netzent-
wir uns und unsere soziale Marktwirtschaft ständig in-
gelte. Damit sind nur noch 34 Prozent des gesamten
frage stellen. Warum eigentlich? Es ist schon bedenk-
Strommarkts im Wettbewerb und marktbestimmend.
lich, wenn laut einer Emnid-Umfrage mittlerweile
40 Prozent der Menschen im Osten Deutschlands dem (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!)
Sozialismus noch einmal eine Chance geben würden. Ich
Das ist viel zu wenig. Das muss sich ändern. Wir müssen
verstehe nicht, warum das so ist. Offensichtlich nehmen
das, was der Staat bestimmt, zurückdrängen.
die Menschen die gute wirtschaftliche Entwicklung ge-
wissermaßen als Naturereignis wahr. Dass dahinter aber (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was heißt das kon-
Unternehmertum sowie qualifizierte und motivierte Ar- kret? Wollen Sie das EEG abschaffen?)
beitnehmer stecken, dass diese Entwicklung darauf zu-
rückzuführen ist, dass die richtigen politischen Entschei- Das ist schon fast Planwirtschaft.
(B) dungen getroffen wurden, wird anscheinend nicht mehr Die Strommengen werden dem Markt entzogen und (D)
wahrgenommen. Anders kann ich mir nicht erklären, in ein geregeltes System überführt, nach dem Motto
dass in den Augen vieler die Märkte die Schuldigen an „produce and forget“. Wir stellen Strom her, aber was
der aktuellen Staatsschuldenkrise sind. Es sind nicht die damit passiert, ob ihn einer braucht, interessiert uns
Märkte, sondern die Länder, die über ihre Verhältnisse überhaupt nicht mehr. Das ist eine falsche Anreizset-
gelebt haben. zung. Es kann nicht sein, dass jemand, der heutzutage
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – eine Windkraftanlage aufstellen lässt, sich um den Ab-
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Irland zum Bei- satz des Stroms überhaupt nicht kümmern muss.
spiel?) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es handelt sich auch nicht um eine Euro-Krise, sondern NEN]: Wie, ich denke, Sie wollen Strom! Ich
um eine Schuldenkrise in den Euro-Ländern, die einfach denke, wir haben zu wenig!)
zu viele Schulden gemacht haben. Das muss sich jetzt Wenn die Anlage erst einmal installiert ist, bekommt er
ändern. Geld, ob der Strom gebraucht wird oder nicht. Als Un-
ternehmer hätte auch ich mir gewünscht, meine Produkte
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Ihre
Ideologie! – Willi Brase [SPD]: Völlig falsche einfach auf den Hof stellen zu können, ohne mich darum
kümmern zu müssen, was mit meinen Produkten pas-
Einschätzung!)
siert. Das ist jedenfalls nicht der richtige Weg. Wir müs-
Ich bin der Bundeskanzlerin für ihre gestrige Rede sen Anreize in die richtige Richtung setzen. Es darf nicht
extrem dankbar, in der sie deutlich gemacht hat, dass jeder so viel produzieren, wie er will, egal ob Strom ge-
Euro-Bonds der falsche Weg sind, braucht wird oder nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
neten der FDP)
Zwei Zahlen dazu. In Schleswig-Holstein sind bereits
dass Money Printing der EZB nicht geht und dass das, Windkraftanlagen onshore mit einer Leistung von insge-
was die Amerikaner und auch die Engländer machen, samt 3 800 Megawatt installiert. Bis Ende 2015 werden
nicht der richtige Weg sein kann, nämlich Geld drucken wir wahrscheinlich bei 12 200 Megawatt onshore und
und glauben, damit die Situation zu entschärfen. Wir offshore angekommen sein. Aber gebraucht werden in
Deutsche haben in unseren Genen, dass alles, was die In- Schleswig-Holstein im Durchschnitt 2 000 Megawatt am
flation ansteigen lässt, der falsche Weg ist. Ein Anstieg Tag. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir dringend
der Inflation muss verhindert werden. Ich bin froh, dass dafür sorgen müssen, dass der Strom dorthin transpor-
17040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Michael Fuchs


(A) tiert wird, wo er gebraucht wird. Anderenfalls werden Hubertus Heil (Peine) (SPD): (C)
Windkraftanlagen permanent abgeschaltet werden müs- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
sen, und die Betreffenden bekommen Geld, obwohl der Damen und Herren! In diesen Tagen, Herr Minister
Strom nicht gebraucht wird. Dieser Weg ist falsch. Zu- Rösler, wird deutlich, dass diese Bundesregierung sich
erst müssen die Netze ausgebaut werden, damit der seit zwei Jahren viel zu sehr auf einer durchaus erfreu-
Strom dorthin transportiert werden kann, wo er ge- lichen wirtschaftspolitischen Entwicklung ausgeruht hat,
braucht wird. die vor allen Dingen darauf basiert, dass die Vorgänger-
regierung
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Atom-Fuchs!)
(Lachen bei der FDP)
Ich habe erhebliche Befürchtungen, dass wir in die
falsche Richtung laufen. Wir alle sind gefordert, gegen- Entscheidungen getroffen hat,
zusteuern und den Netzausbau gemeinsam durchzuset-
(Florian Toncar [FDP]: Oh, war das schön!)
zen.
mit denen sie Deutschland gut durch die Krise geführt
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
hat, und Sie haben davon profitiert. Das neiden wir Ih-
der FDP)
nen nicht. Das war eine schöne Entwicklung; das war
Es kann nicht sein, dass wir hier im heiligen Föderalis- gut für Deutschland.
mus schwelgen und jedes Land dort baut, wo es will, ob-
Aber Sie haben jetzt seit zwei Jahren das Ruder in der
wohl Kupplungsstellen zwischen den Bundesländern
Hand – oder: Sie sollten es zumindest haben. Wir erle-
nicht funktionieren. Das funktioniert eher in Richtung
ben jetzt, dass dunkle Wolken am Konjunkturhimmel für
Ausland als bei uns.
das kommende Jahr aufziehen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Machen Sie
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schwarzmaler!)
doch mal!)
Wir müssen feststellen: Sie haben keine Zukunftsvor-
– Daran sind doch die von Ihnen geführten Länder, Herr sorge für das getroffen, was jetzt an Unwetter auf uns zu-
Kollege Heil, genauso beteiligt wie die von uns regier- kommt, und das wird sich leider Gottes auch in der Real-
ten. wirtschaft in Deutschland niederschlagen.
(Iris Gleicke [SPD]: Erzählen Sie doch nicht (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla
so einen Käse!) Lötzer [DIE LINKE])
Das muss sich ändern, und zwar ganz schnell. Es kann Ich sage Ihnen eines, Herr Kauder: Ich bin kein
(B) nicht sein, dass wir am Markt vorbei Strom produzieren Schwarzmaler. (D)
und die Verbraucher und die Unternehmen das anschlie-
ßend bezahlen dürfen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ein Rot-
streicher!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich wünsche mir, dass wir besser durch die Entwicklung
Wir haben das lange genug falsch gemacht. Ich wün- kommen, als manche befürchten. Das ist eine Hoffnung,
sche mir, dass wir so schnell wie möglich gemeinsam an die wir auch als Opposition haben, weil es uns um das
den Start gehen. Da sind die Grünen gefordert; denn sie Land geht, Herr Kauder, nicht um eine kleinkarierte Be-
machen das nicht in den Ländern, wo sie mit in der Re- urteilung der Situation.
gierung sind, und sie machen schon gar nichts für Spei-
cheranlagen. Ich sage nur: Gucken Sie sich Ihre grünen Sie können überhaupt nicht ignorieren, dass die Krise,
Kollegen in Baden-Württemberg an! Die blockieren die wir im Moment erleben, eine Dimension hat, die in-
Atdorf nach wie vor. zwischen auch wieder negative Folgen für die Realwirt-
schaft in Deutschland hat. Gerade als ein Land mit
(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hohem Exportanteil – 60 Prozent dessen, was wir in
NEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist Deutschland produzieren, exportieren wir in den EU-
doch absurd!) Raum – sind wir darauf angewiesen, dass wir in Europa
Da haben Sie eine große Aufgabe, gemeinsam etwas zu eine gemeinsame Entwicklung haben, die nach vorne
tun. Ich würde mir wünschen, das ginge wesentlich geht.
schneller nach vorn. Frau Künast, bringen Sie Ihre Leute Deshalb, Herr Rösler, kann ich Ihnen nicht ersparen,
in Schwung! Ihnen eines zu sagen: Sie versuchen hier, Pappkamera-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris den aufzubauen, und sind als Wirtschaftsminister bei der
Gleicke [SPD]: Wie lang neun Minuten sein Bewältigung dessen, was in Europa notwendig ist, prak-
können!) tisch ein Totalausfall. Sie spielen keine Rolle in dieser
ganzen Debatte.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
SPD-Fraktion. GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Das ist vielleicht deshalb kein Wunder, weil Sie so
CSU]: Oje!) sehr damit zu tun haben, die Debatte mit den National-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17041
Hubertus Heil (Peine)
(A) konservativen in der FDP zu führen, die sich jeglicher Herr Minister, Sie reden von Finanzmarktregulie- (C)
Verantwortung entziehen. Um das zu tun, bauen Sie an rung. Aber wo sind Ihre Taten? Reden wir doch darüber,
dieser Stelle Pappkameraden auf, die Sie dann selbst wie wir mehr Wettbewerb und mehr Transparenz bei
wieder einsammeln müssen. Das baut kein Vertrauen den Ratingagenturen hinbekommen. Wo sind Ihre Initia-
auf. tiven im Bereich der Risikobewertung? Zum Thema
Finanztransaktionsteuer habe ich eben nur mitbekom-
Ich finde auch Ihre etwas dünne Analyse der Verhält- men, dass Sie irgendwie dagegen sind. Während inzwi-
nisse sehr problematisch; das gilt auch für Sie, Herr schen fast ganz Europa der Überzeugung ist, dass wir
Fuchs. Wenn wir auf die Ursachen dessen gucken, was diese Antispekulationsteuer brauchen, weil wir auch das
wir im Moment erleben, dann erkennen wir: Es gibt Geld brauchen, um die Defizite zu minimieren, ist die
nicht nur die eine Ursache. Man kann nicht einfach sa- FDP der letzte Bremsklotz bei der Finanztransaktion-
gen: Die Staaten sind schuld. Sie alle haben über ihre steuer. Merkel sagt in Brüssel das eine, Sie sagen hier
Verhältnisse gelebt. das andere.
(Florian Toncar [FDP]: Ja, natürlich! Fast (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
alle!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Richtig, das gab es. Für Griechenland beispielsweise gilt
das. Aber Spanien hat bis zum Ausbruch der Krise nicht Herr Rösler, ich kann Ihnen das nicht ersparen: Wenn
über seine Verhältnisse gelebt; das zeigt auch die haus- Sie als Totalausfall in diesen Fragen und bestenfalls aus
halterische Entwicklung. Irland hatte ebenfalls keine FDP-internen Gründen als Bremsklotz in dieser Bundes-
Entwicklung, in der man im Haushalt kurzfristig über regierung so weitermachen, dann versündigen Sie sich
die Verhältnisse gelebt hat. Das kann es doch wohl nicht an dem, was auf uns zukommt.
gewesen sein.
Jetzt sage ich etwas zu Ihrem neuen Pappkameraden
Wir haben vielmehr erlebt, dass Länder aus sehr un- Euro-Bonds. Wir haben mittlerweile eine Situation, in
terschiedlichen Gründen zu Defizitländern geworden der Sie feststellen müssen, dass all das, was wir in den
sind: letzten anderthalb Jahren zum Beispiel durch Rettungs-
schirme für Griechenland an Notmaßnahmen ergreifen
In Irland ist eine Bankenblase geplatzt, weil man mussten, offensichtlich – das wird Tag für Tag deut-
Wachstum einseitig auf Finanzdienstleistungen abge- licher – nicht ausreichen wird. Die Frage ist: Was pas-
stützt hat. Sie als FDP haben uns früher die irische siert jetzt? Es gibt drei mögliche Szenarien:
Volkswirtschaft geradezu als leuchtendes Beispiel vor-
Erstens kann man so weitermachen wie bisher. Man
(B) gehalten. „Der keltische Tiger“, das war Ihr Wort. (D)
kann hoffen und bangen und dann erleben, dass die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Euro-Zone auseinanderbricht. Die reale Gefahr ist da;
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das können Sie nicht ignorieren.
Die hohen Wachstumsraten sind damals spekulationsbe- Zweitens kann man sagen, man tut nichts, weil man
gründet gewesen. Man hat uns in Deutschland seinerzeit sich die Hände nicht schmutzig machen will. Dann jagt
als kranken Mann Europas bezeichnet, weil wir so alt- man durch das Nichthandeln, für das Sie Verantwortung
modisch waren, auf die industrielle Basis dieses Landes tragen, die Europäische Zentralbank immer weiter in den
zu setzen, diese zu erneuern, uns aber nicht von ihr zu Aufkauf von Staatsanleihen. Das ist das, was Sie im
verabschieden. Sie ignorieren vollständig, dass diese fal- Moment machen. Sie beschimpfen die EZB zwar hinter-
sche Form der einseitigen Orientierung auf Finanz- her für den Aufkauf von Staatsanleihen, aber Sie drän-
dienstleistungen die Ursache für die Krise in Irland ist. gen sie geradezu in diese Rolle und nehmen damit billi-
gend in Kauf, dass die EZB irgendwann die Notenpresse
In Spanien sind es andere Krisenursachen. Da ist, anwerfen muss. Dann kommt es zu der Inflation, die
auch durch die Finanzmärkte getrieben, eine Riesenim- viele Menschen befürchten.
mobilienblase geplatzt.
Die dritte Möglichkeit ist, zu akzeptieren, dass Dinge
Dann gab es haushalterische Misswirtschaft wie in auf uns zukommen, die wir uns nicht wünschen, für die
Griechenland. man aber Vorsorge treffen muss. Ich habe heute gelesen,
Herr Barthle, dass die Front in Sachen Euro-Bonds in
Alles drei hat es gegeben. Deshalb ist es ziemlich Ihrer Fraktion offensichtlich bröckelt.
ideologisch, die Schuld an dieser Stelle auf den Staat zu
schieben, nur deshalb, weil es in Ihr Feindbild passt. Sie (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das stimmt
müssen akzeptieren, dass die Politik, die Demokratie, nicht!)
die Staaten in der Krise es waren, die den Schlamassel Man sagt ganz deutlich: Es geht nicht darum, diese zu
aufzuräumen hatten, und dass sich viele aus der Finanz- fordern, aber man muss sich Gedanken darüber machen,
wirtschaft von der Verantwortung verabschiedet haben ob man sie ausschließen kann oder ob es nicht sinnvoller
und inzwischen gegen Staaten, die sie selbst aus dem ist, eine Konstruktion zu entwerfen, nach der diejenigen,
Mist gezogen haben, zu spekulieren anfangen. die solche Anleihen in Anspruch nehmen, sich harten
Auflagen aussetzen müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Birgit Homburger [FDP]: Ach Quatsch!)
17042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) Sie werden Ihre Worte wieder einmal fressen müssen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Sie brauchen diesen Pappkameraden doch nur für die Der eigene Sachverständigenrat!)
Urabstimmung in der FDP.
Wir sagen ganz deutlich: Wir schließen kein Instrument
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus, das hilft, die Euro-Zone zusammenzuhalten; denn
DIE GRÜNEN) der Zusammenhalt in der Euro-Zone ist im wohlverstan-
denen deutschen wirtschaftlichen Interesse. Sie schlie-
Sie sind getrieben, und Sie werden im Frühjahr erleben,
ßen in unverantwortlicher Art und Weise alle möglichen
dass Sie das einholt. Nach all dem, was uns die Fach-
Maßnahmen aus und erleben dann Monate später, dass
leute sagen, gibt es nur diese drei Szenarien.
Sie es doch in dieser Richtung machen müssen.
Sie treiben im Moment durch Nichthandeln, Wackeln
Wir sagen: Euro-Bonds sind kein Allheilmittel und
und einen Zickzackkurs die Europäische Zentralbank in
auch kein Selbstzweck. Sie werden kein Mittel sein, das
die Rolle der größten Bad Bank in Europa. Das ist die
per se funktioniert, sondern sie funktionieren nur, wenn
Gefahr, die wir im Moment sehen.
man eine Vorstellung davon hat, wie sie konstruiert sind.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die SPD ist für Dazu zählt, dass Länder, die die damit verbundenen
Euro-Bonds!) Zinsvorteile in Anspruch nehmen, sich unterwerfen
müssen und an dieser Stelle auch ein Stück nationale
Sie haben keine Initiativen zur wirksamen Regulierung
Souveränität abgeben müssen, Herr Brüderle. Denn es
des Finanzmarktes auf den Tisch gelegt. Sie sind sich
ist ganz klar, dass es einen Zusammenhang zwischen
nicht einmal innerhalb der Koalition einig, ob Sie eine
Haftung und Risiko geben muss. Länder können nicht
Finanztransaktionsteuer wollen.
Hilfen in Anspruch nehmen und einfach weiterwursch-
(Abg. Rainer Brüderle [FDP] meldet sich zu teln.
einer Zwischenfrage)
Herr Brüderle, Sie sagen, was Sie nicht wollen. Sie
– Wollen Sie eine Frage stellen, Herr Brüderle? schließen Dinge aus und erleben dann Monat für Monat,
dass Sie das auffrisst. So hat das Ganze angefangen. Ich
(Rainer Brüderle [FDP]: Ja!)
kann mich noch erinnern, dass der Kollege Otto Fricke
– Bitte schön. – auch ein Haushälter, wenn ich mich richtig erinnere –
sich hier im Parlament hingestellt und mit dem schönen
Präsident Dr. Norbert Lammert: Satz begonnen hat: Keinen Cent für Griechenland! – Auf
Vielleicht darf ich mich an der Vermittlung dieses irgendeine Art und Weise hat er sogar Wort gehalten;
Fragewunsches auch noch beteiligen. Ich stelle Ihre Be- denn es war dann kein Cent, sondern es waren Milliar-
(B) reitschaft mit Respekt fest. – Bitte schön, Herr Kollege den. Wir reden inzwischen über Dimensionen, die sich (D)
Brüderle. kein Mensch mehr richtig vorstellen mag und kann.
Die Situation ist zu ernst, als dass Sie hier FDP-Papp-
Rainer Brüderle (FDP): kameraden aufbauen könnten, nur um Herrn Schäffler
Das war ein basisdemokratischer Kontakt zwischen im Griff zu behalten.
Herrn Heil und mir, Herr Präsident. Das ist parlamenta- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist völlig am
risch unüblich, aber erfolgreich. Thema vorbei!)
Herr Heil, ist Ihnen bekannt, dass Ihr Fachmann, Ihr Sie werden sich der Verantwortung stellen müssen. Des-
haushaltspolitischer Sprecher Carsten Schneider, gestern halb sage ich Ihnen: Machen Sie sich einen Kopf da-
im Morgenmagazin sehr deutlich gemacht hat, dass rüber, was wir im Frühjahr erleben werden, wenn das so
Euro-Bonds weder verfassungsrechtlich noch ökono- weitergeht. Ihre Krisenpolitik, Ihr Zickzackkurs, Ihr He-
misch vertretbar sind? Meines Wissens ist er unverän- rumgeeiere sind gescheitert.
dert Sozialdemokrat.
(Beifall bei der SPD)
Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Brüderle, Sie können sich wieder setzen. Herzli-
Herzlichen Dank für die Frage, Herr Brüderle. So chen Dank! – Oder wollen Sie noch eine Frage stellen?
kann ich Sie an dieser Stelle aufklären.
Carsten Schneider ist ein hervorragender Fachmann. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):
Deshalb zitieren Sie ihn bitte vollständig. Er hat darauf Herr Kollege Heil, darf ich den Vorschlag machen
hingewiesen, dass es rechtlich sehr schwierig sein wird, – denn der Kollege Barthle möchte dazu offenkundig
sich auf diesen Weg zu machen. Es ist nicht einfach, auch eine ergänzende Bemerkung machen –, dass wir
auch nicht die Diskussion darüber. Sie tun ja immer so, die beiden Wortmeldungen vielleicht zusammen aufru-
als würden wir täglich Euro-Bonds fordern. Was ich fen und Sie dazu dann Stellung nehmen?
eben gesagt habe, ist etwas anderes: Sie können zu die-
sem Zeitpunkt ein solches Instrument, das im Übrigen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der Sachverständigenrat als Schuldentilgungsfonds, also NEN]: Aber alle müssen stehen bleiben!)
unter einem anderen Namen, aber mit derselben Ziel-
richtung, vorgeschlagen hat, überhaupt nicht ausschlie- Hubertus Heil (Peine) (SPD):
ßen. Gern. – Aber habe ich noch genug Redezeit?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17043

(A) Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Euro-Bonds bröckele. In dieser Meldung werde ich mit (C)
Sie bekommen auf diese Weise ungeahnte zusätzliche der Aussage zitiert:
Redezeiten, völlig richtig.
Wir sagen nicht nie. Wir sagen nur: keine Euro-
Bonds unter den gegebenen Voraussetzungen.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Danke. – Dann dürfen Sie stehen bleiben, Herr Das ist genau die Position, die die Koalition und die
Brüderle. Bitte schön. Bundeskanzlerin vertreten.
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Präsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN: Hört! Hört! – Seit wann?)
Kollege Brüderle, dann Herr Barthle. Die Bundeskanzlerin sagt klipp und klar:
(Iris Gleicke [SPD]: Herr Schäuble und Herr
Rainer Brüderle (FDP):
Fuchs sind ganz interessiert!)
Herr Kollege Heil, damit Sie den Originaltext von
Herrn Carsten Schneider kennen, – Solange die Voraussetzungen nicht gegeben sind, so-
lange es die notwendigen vertraglichen Änderungen
Hubertus Heil (Peine) (SPD): nicht gibt, braucht man über Euro-Bonds mit uns nicht
zu diskutieren. Man muss zunächst den ersten Schritt
Guter Mann.
und dann den zweiten machen – und nicht umgekehrt.

Rainer Brüderle (FDP): Genau dies kommt in dem Zitat zum Ausdruck. Das
– lese ich Ihnen die Agenturmeldung vor. Er sagte: wollte ich noch einmal klargestellt haben.
Aufgrund der rechtlichen Situation in Deutschland und Danke.
der ökonomischen Faktoren ist derzeit eine Einführung
nicht machbar. Hubertus Heil (Peine) (SPD):
(Garrelt Duin [SPD]: Genau das hat Ihnen Herr Barthle, bleiben Sie bitte stehen, damit ich Ihnen
Herr Heil gerade erklärt! – Weitere Zurufe von antworten kann. – Ich muss Ihnen ein Kompliment ma-
der SPD) chen. Das klärt dann auch ein bisschen die Frage von
Herrn Brüderle. Herr Schneider, Sie und ich – wir drei
Hubertus Heil (Peine) (SPD): zumindest – scheinen in dieser Frage einer Meinung zu
sein. Der Punkt ist nur: Dann muss man die Vorausset-
(B) Herr Brüderle, ich unterstreiche diesen Satz. Ich sage (D)
zungen dafür auch schaffen.
Ihnen aber auch: Es kann eine Situation eintreten, in der
wir trotzdem zu einer solchen Lösung kommen müssen. Herr Barthle, Sie haben den Mut, das in einer Zeit
Darauf müssen Sie sich vorbereiten. Carsten Schneider auszusprechen, in der die FDP „nie“ sagt. Herr Rösler
hat ja gesagt, dass es im Moment die rechtlichen Mög- hat vorhin gesagt: Euro-Bonds sind am Ende des Tages
lichkeiten dazu noch nicht gibt. Es kann aber sein, dass Schuldensozialismus.
ein solches Instrument wirtschaftspolitisch und ökono-
misch in Zukunft notwendig sein wird. Deshalb müssen (Zuruf von der FDP: Das stimmt ja auch!)
wir dafür die Voraussetzungen schaffen. Sie sind in dieser Situation verantwortungsbewusster,
Herr Brüderle, Sie denken nicht nach. Das ist der Vor- weil Sie ahnen, dass die Situation eintreten kann, dass
wurf, den wir Ihnen machen. wir ein solches Instrument brauchen. Wir beide sind uns
einig: Dafür muss man Voraussetzungen schaffen. Es
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- gibt keine voraussetzungslosen Regelungen – weder
spruch bei der CDU/CSU und der FDP) rechtlich noch ökonomisch. Man muss dafür sorgen,
dass das Risiko auch von den Defizitländern getragen
Sie denken einzig und allein an die Frage, wie Sie Ihre wird, dass sie ihren Anteil übernehmen.
2-Prozent-Partei wieder aufpäppeln können. Aber das ist
unverantwortlich. Es geht nicht um die FDP, sondern es Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Barthle: Herzlichen
geht um Europa und die wirtschaftliche Zukunft Glückwunsch, dass Sie den Mut und den Verstand ha-
Deutschlands, Herr Brüderle. Das ist der Unterschied. ben, einzuräumen, dass wir in eine Situation kommen
können, in der man den Einsatz eines solchen Instru-
(Beifall bei der SPD) ments nicht ausschließen kann, dass man deshalb jetzt
die Voraussetzungen schaffen und dazu Vorschläge vor-
Präsident Dr. Norbert Lammert: legen muss. Das ist nicht nur ein Beleg für einen weite-
So, jetzt Kollege Barthle. ren Unterschied in dieser Koalition, sondern leider Got-
tes auch dafür, dass sich Schwarz-Gelb in solchen
Norbert Barthle (CDU/CSU):
Fragen, die von national und international wichtiger Be-
deutung sind, wieder einmal nicht einig ist. Das muss ich
Herr Kollege Heil, da Sie mich persönlich angespro- feststellen. – Herzlichen Dank, Herr Barthle.
chen haben, möchte ich das Ganze in einen richtigeren
Zusammenhang rücken. Es gibt heute eine Nachricht in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der FTD. Darin wird gemeldet, die Front gegen die DIE GRÜNEN)
17044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß sind (C)
Also, dass sich Abgeordnete in laufenden Debatten Werte, die eine vernünftige Wirtschafts- und Haushalts-
wechselseitig Mut und Verstand attestieren, halte ich für politik braucht. Genau das vermissen wir. Deshalb, Herr
einen der eigentlichen Höhepunkte dieser Haushaltsde- Rösler – das kann ich Ihnen nicht ersparen –: Die Lage
batte, den ich ausdrücklich im Protokoll festhalten ist viel zu ernst, als dass man Ihre aus der Zeit gefallenen
möchte. FDP-Parolen noch ertragen mag. Wir werden eine aktive
Wirtschaftspolitik brauchen, um die Scherben aufzusam-
(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der meln, die Sie uns hier hinterlassen. Je eher diese Regie-
SPD) rung beendet ist, desto besser für die wirtschaftliche Ent-
wicklung in Deutschland und Europa.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herzlichen Dank.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident, dann darf ich
noch etwas hinzufügen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU]: Oje! Das war jetzt ein typischer Heil!)
NEN]: Sollen wir alle gehen? Sind Sie sich
beide genug?)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
– Na ja, das muss man doch an dieser Stelle sagen. – Die Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDP-
Eigenschaften guter Politik sind nach Max Weber – das Fraktion.
ist gar kein schlechter Anhaltspunkt in Krisenzeiten –
Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß. Genau da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rum geht es: um die Bereitschaft, Verantwortung zu
übernehmen in einer Zeit, in der es nicht populär ist, für Florian Toncar (FDP):
Lösungen einzustehen, die aber notwendig sind, um das Vielen Dank. Herr Präsident! – Lieber Kollege Heil,
gemeinsame Europa auch wirtschaftlich zusammenzu- man wird Ihrer Rede manches attestieren können, aber
halten. Deshalb darf man nicht unverantwortlich Papp- auf die Leidenschaft musste ich eine ganze Zeit lang
kameraden aufbauen und schwadronieren, wie das Herr warten. Dennoch: Es ist gut, dass Sie so eindeutig gesagt
Brüderle tut. Da finde ich Herrn Barthle verantwortungs- haben, was die SPD will, weil es noch einmal deutlich
voller, weil er bereit ist, auszusprechen, dass so etwas macht, wie die politischen Alternativen in Deutschland
auf uns zukommen kann. aufgestellt sind und dass es sehr unterschiedliche Kon-
Herr Präsident, Max Weber hat zweitens die Leiden- zepte gibt, wie man solche Krisen bewältigt.
(B) (D)
schaft angeführt. Das bedeutet für uns die Überzeugung, Ich will noch einmal daran erinnern, dass Rot-Grün
leidenschaftlich für dieses gemeinsame Europa einzutre- den Stabilitätspakt kaputtgemacht hat. Ebenso will ich
ten. Dazu will ich sagen: Herr Schäuble, Ihnen nehme daran erinnern, dass Rot-Grün vier Jahre hintereinander
ich das ab, aber vielen Ihrer Kollegen – vor allen Dingen für einen Haushalt mit einer Verschuldung oberhalb der
dem Bundeswirtschaftsminister – nicht, weil er zu lei- Maastricht-Kriterien verantwortlich war.
denschaftlich mit der Frage beschäftigt ist, wie er die
FDP zusammenhält. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie machen
doch jetzt Neuverschuldung!)
(Iris Gleicke [SPD]: Kriegt er aber auch nicht
hin!) Das waren Sie. Jetzt stellen Sie fest, dass wir uns in ganz
Europa in einer Situation befinden – weil andere das
Ihm fehlt die leidenschaftliche Überzeugung, in Europa nachgemacht haben –, in der wir an Grenzen stoßen.
voranzukommen und es stärker zu integrieren. Er lernt in
diesem Zusammenhang nicht, dass die Währungsunion (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hat Irland das
nicht funktioniert, wenn man einen Währungsraum hat, nachgemacht? Hören Sie doch mal zu!)
in dem die Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht stärker Es gibt unterschiedliche Gründe, Herr Kollege Heil, wa-
zusammenwächst. Herr Schäuble, Ihnen nehme ich ab, rum sich Länder in einer Situation befinden, in der sie
dass Sie in diesen schwierigen Zeiten ein leidenschaftli- kein Geld mehr bekommen. Gemeinsam haben sie je-
cher Europäer sind. Das nehme ich dem Bundeswirt- doch eines: Es gibt nicht mehr genügend Geldgeber, die
schaftsminister nicht ab. ihr privates Geld noch freiwillig diesen Ländern geben
(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) wollen.

Nach Leidenschaft und Verantwortung nennt Weber (Klaus Barthel [SPD]: Auch in Deutschland
drittens das Augenmaß. Ich erkenne in den Worten der hatten wir das jetzt!)
FDP und des Herrn Brüderle keinerlei Augenmaß. Herr Wer Demokratien nur mit Schulden finanzieren kann,
Rösler, wenn in Wahlkämpfen wie in Berlin so unverant- der verletzt am Ende die Regeln der Demokratie und ge-
wortlich versucht wurde – Gott sei Dank ist es ja ge- fährdet sie obendrein.
scheitert –, die FDP mit antieuropäischen Ressentiments
über die Fünfprozenthürde zu katapultieren – zu dieser (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris
Zeit waren Sie schon Vorsitzender und haben nichts dazu Gleicke [SPD]: Deswegen nehmen Sie so viele
gesagt –, dann zeugt das nicht von Augenmaß. Schulden auf, oder was?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17045
Florian Toncar
(A) Deswegen sind die Euro-Bonds auch keine Antwort. Sie (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) (C)
können Schulden nicht mit noch mehr Schulden be-
kämpfen. Euro-Bonds bedeuten nichts anderes, als das, Tun Sie nicht so, als seien Sie jemand, der in Europa
was ohnehin zur Krise geführt hat, zur Dauereinrichtung andere belehren könnte, wenn Sie in der nationalen Poli-
zu machen, und das Ganze dann auch noch auf alle ande- tik nicht in der Lage sind, in guten Zeiten mehr zu kon-
ren zu verteilen. Das kann dann jahrelang so weiterge- solidieren, sondern das Geld für so etwas Unsinniges
hen. wie das Betreuungsgeld und Ihre Steuergeschenke für
Ihre Klientel verpulvern, Herr Toncar.
Wenn Sie so vorgehen, ist das einerseits ein Verstoß
gegen die Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Bevölke- (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/
rung, auch gegen meine eigenen. Die Menschen, die sich CSU]: Das hat mit dem 12er-Haushalt nichts
an neue Situationen anpassen und vielleicht auch mit zu tun!)
Einschnitten in ihrem Staat leben müssen, dürfen nicht
zusätzlich dadurch bestraft werden, dass sie die Rech- Florian Toncar (FDP):
nung für diejenigen bezahlen müssen, die das nicht in Lieber Kollege Heil, zum einen will ich festhalten,
Kauf genommen haben. dass sich der Kollege Barthle jetzt von Ihnen zu Unrecht
vereinnahmt fühlt; man sollte da dem Kollegen Barthle
Das Ganze verstößt andererseits auch gegen ökono-
folgen. Übrigens hat der Sachverständigenrat, auf den
mische Gesetze. Sie werden mit Ihren Vorschlägen – sie
Sie sich berufen haben, ausdrücklich Wert darauf gelegt,
führen zu mehr Schulden; es ist eine Steigerung des glei-
dass er keine Euro-Bonds vorgeschlagen hat.
chen Problems – am Ende zu keiner Lösung kommen.
Das ist das Gefährliche an der Idee, die Sie da vorschla- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Der hat einen
gen. Das sind keine Pappkameraden; das ist letzten En- Schuldentilgungsfonds vorgeschlagen!)
des ein untauglicher Vorschlag zur Lösung dieser Krise.
Ich will Ihnen aber, nachdem Sie nicht meiner Aus-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sage widersprochen haben, dass Rot-Grün viermal gegen
der CDU/CSU) den Maastricht-Vertrag verstoßen hat – es stimmt ja
auch; man wird dagegen wenig anführen können –,
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn Sie mir
Kann der Kollege Heil eine Zwischenfrage stellen? Gelegenheit geben, kann ich dazu etwas sa-
gen!)
Florian Toncar (FDP):
Bitte schön. etwas zur aktuellen Haushaltssituation sagen. Sie kennen
(B) die Finanzplanung von Peer Steinbrück, die er vorgelegt (D)
hat, bevor er das Amt des Finanzministers aufgeben
Hubertus Heil (Peine) (SPD): musste. Sie wissen, dass nach der Finanzplanung, die
Herr Kollege Toncar, ich stelle fest, dass es zwischen Peer Steinbrück damals vorgelegt hat, in diesem Jahr
der Auffassung von Herrn Barthle und Ihnen einen Un- eine weitaus höhere Neuverschuldung zu erwarten ge-
terschied gibt; wesen ist.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Nein!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)
das will ich an dieser Stelle festhalten. Er sagt: Wir kön-
Sie wissen auch – dafür rühmen Sie sich –, dass Sie in
nen Euro-Bonds in letzter Konsequenz nicht ausschlie-
der Großen Koalition – Sie haben eben in Ihrer Rede
ßen; aber die Voraussetzungen fehlen.
nostalgisch daran zurückgedacht; das muss eine unheim-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da muss sich lich schöne Zeit gewesen sein – zur Zeit der Krise zwei
aber vieles verändern!) Konjunkturprogramme aufgelegt haben, beide über
Schulden finanziert, komplett kreditfinanziert.
Sie sagen: Das ist Teufelszeug. – Das ist ein Unterschied
in der Argumentation; das will ich festhalten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie hätten Sie
es denn gemacht?)
Zweitens. Herr Toncar, ich will Ihnen sagen: Wir sind
alle miteinander der festen Überzeugung, dass man öf- – Die Programme waren im Prinzip nötig,
fentliche Haushalte in Ordnung bringen muss, dass man
sie konsolidieren muss; wir streiten uns über den Weg. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Siehste woll!)
Deshalb dürfen wir uns nicht gegenseitig unterstellen, aber nicht jede einzelne Maßnahme.
dass es uns darum geht, auf Teufel komm raus den Staat
zu verschulden. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Welche denn?)
Wenn Sie so sehr dafür sind, dass man die Staats- – Zum Beispiel die Abwrackprämie.
finanzen vor allen Dingen in guten Zeiten in Ordnung (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ah! Danke
bringt, dann frage ich Sie an dieser Stelle, warum Sie schön!)
nach zwei Jahren positiver wirtschaftlicher Entwicklung
und Steuermehreinnahmen in diesem Land im nächsten Für die Abwrackprämie bezahlt der deutsche Steuerzah-
Jahr noch mehr neue Schulden machen, als es notwendig ler – – Bleiben Sie bitte stehen. Das hat der Kollege
wäre. Brüderle eben auch getan.
17046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Florian Toncar
(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber Sie haben Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
ja nicht die Frage beantwortet! – Gegenruf des Herr Kollege Toncar, darf die Kollegin Paus Ihnen
Abg. Rainer Brüderle [FDP]: Hören Sie doch noch eine Zwischenfrage stellen?
mal zu! Schreien Sie nicht ständig dazwi-
schen!) Florian Toncar (FDP):
– Ich gehe jetzt auf den Punkt ein. – Ihre politische Leis- Gern, wenn sie möchte, ob nun zum Thema Fach-
tung in Zeiten der Großen Koalition, an die Sie immer kräfte oder zu anderen Themen. Jederzeit.
noch gerne denken, bestand im Grunde darin, dass Sie
sich innerhalb kurzer Zeit darauf geeinigt haben, 80 Mil- Präsident Dr. Norbert Lammert:
liarden Euro neue Schulden zu machen und dann das Es wäre schon gut, wenn es mit der Haushaltsdebatte
entsprechende Geld zu verteilen. zusammenhängen würde.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben nicht (Heiterkeit)
meine Frage beantwortet! Ich setze mich jetzt! –
Gegenruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]: Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zuhören!) Genau. – Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr
Was diese Koalition machen musste und auch ge- Toncar, ich habe eine kurze Frage. Sie haben gesagt, Sie
macht hat, ist das komplette Gegenteil: Wir mussten würden beim Konsolidierungspfad weitermachen und
nicht neue Schuldenprogramme im Umfang von 80 Mil- nächstes Jahr weniger Schulden als dieses Jahr aufneh-
liarden Euro zusammenstricken, sondern haben Konsoli- men. Das passt nicht zu dem, was ich in Mathematik ge-
dierungsmaßnahmen im Umfang von 80 Milliarden Euro lernt habe: Wenn Sie in diesem Jahr 22 Milliarden Euro
in vier Jahren beschlossen. Nettoneuverschuldung haben und morgen mit der Verab-
schiedung des Gesamthaushalts 26 Milliarden Euro Neu-
(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP] – verschuldung planen, wie kommen Sie darauf, dass es
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?) im nächsten Jahr weniger Verschuldung geben wird und
Jetzt frage ich Sie einmal, was denn die größere Leistung nicht mehr?
ist: 80 Milliarden Euro ausgeben oder um 80 Milliarden (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Woher wissen
Euro konsolidieren? Sie das so genau? Das wissen wir doch noch
gar nicht!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
(B) Wo sind denn die 80 Milliarden?) Florian Toncar (FDP): (D)
Vielen Dank, Frau Kollegin, für diese Frage, weil sie
Letzteres hat diese Koalition gemacht. Das hätte keine mir Gelegenheit gibt, auf einige Grundlagen des Haus-
andere Koalition in dieser Form geschafft, Herr Kollege haltsrechts hinzuweisen.
Heil.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir bewegen uns deswegen mit einem hohen Tempo
in Richtung Einhaltung der Schuldenbremse. Wir kom- Es gibt im Bundeshaushalt immer ein Soll und ein Ist. In
men in diesem Jahr einer Neuverschuldung von 20 Mil- Bezug auf das Soll sagen wir am Anfang eines Haus-
liarden Euro nahe. Wir werden im nächsten Jahr einen haltsjahres: Das ist das Maximum dessen, was die Re-
weiteren deutlichen Abbauschritt machen. Wenn Sie mir gierung ausgeben darf, und es ist das Maximum dessen,
vor zwei Jahren gesagt hätten, wie schnell es uns gelingt, was sie an Schulden aufnehmen darf. Das Ist bezieht
den Haushalt zu konsolidieren, dann hätte ich das selbst sich auf das – das stellen Sie dann nach zwölf Monaten
kaum geglaubt. Wir sind doch weit besser im Zeitplan, fest –, was wirklich ausgegeben oder an Schulden aufge-
als das noch vor zwei Jahren zu erwarten gewesen ist. nommen wurde. Sie können sich vorstellen, dass es
meistens so ist, dass bei einem Haushalt von 300 Milliar-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den Euro Soll und Ist nicht gleich groß sind;
Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, etwas (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])
zu dem zu sagen, was wir beim Einzelplan 09 alles be-
denn es gibt immer etwas, was vorher geschätzt werden
schlossen haben. In dem Einzelplan sind wichtige Dinge
enthalten, mit denen wir in Deutschland dazu beitragen muss. Da können Sie – das ist auch im privaten Haushalt
so – nicht jeden Euro vorhersagen.
können, dass sich die Wirtschaft stabilisiert und sie wei-
ter wachsen kann: (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nein, das ist eine Luftnummer, was Sie gerade
Zum einen nenne ich das Thema Fachkräftesicherung.
gesagt haben!)
Das ist natürlich ein ganz wichtiges Thema. Im Haushalt
des Wirtschaftsministers ist schon seit längerer Zeit ein Schauen Sie sich die Sollzahlen einmal an: In der Tat
entsprechender Haushaltstitel enthalten. Es geht hier da- hat Herr Steinbrück seinerzeit vorgeschlagen, für 2010
rum, dass man gerade für die mittelständischen Unter- 86 Milliarden Euro neue Schulden zu machen. Wir ha-
nehmen entsprechende Fachkräfte gewinnt, dass man ben dann im Parlament beschlossen, dass es maximal
dem Mittelstand, weil er nicht immer überall präsent 80 Milliarden Euro sein sollen. Für 2011 sollen es maxi-
sein kann, dabei hilft, an Fachkräfte zu kommen. mal 48 Milliarden Euro sein, für 2012 maximal 26 Mil-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17047
Florian Toncar
(A) liarden Euro. Wenn Sie mir zustimmen würden, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
48 weniger als 80 sind und 26 weniger als 48, hätten wir Herr Kollege.
schon ein erstaunliches Maß an Gemeinsamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Florian Toncar (FDP):
Als Hauptberichterstatter möchte ich – damit der Kol-
Die Istzahlen für 2010 kennen wir schon: Es sind lege Brandner zum Abschluss meiner Rede klatschen
44 Milliarden Euro geworden. Für 2011 erwarten wir muss, weil er gar nicht anders kann – nicht nur dem
eine Istzahl von ungefähr 20 bis 25 Milliarden Euro. Minister und dem Haus, sondern all meinen Kollegen für
Auch 20 bzw. 25 dürfte – das ist einfach zu erkennen – die ausgesprochen kollegiale Zusammenarbeit danken.
kleiner sein als 44. Ich kann daher überhaupt nicht er- Es war schön mit euch. Wir machen das nächstes Jahr
kennen, dass irgendeine Verschuldung im Vergleich zum wieder.
Vorjahr nach oben geht. Sie werden beim Haushalt 2012
– da wir sehr vorsichtig gerechnet haben – sehen, dass es Vielen herzlichen Dank.
auch da keine unangenehmen Überraschungen gibt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris
Wenn es nicht zu externen Ereignissen bzw. Schocks Gleicke [SPD]: War das eine Drohung?)
kommt – die Krise in Europa kann natürlich großen Ein-
fluss auf den Haushalt haben –, werden wir die 26 Mil-
liarden Euro, die im Ansatz stehen, für das kommende Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jahr nicht brauchen, sondern nochmals deutlich niedri- Jetzt klatscht der Kollege Brandner trotz ausdrückli-
ger liegen. Aber wir rechnen vorsichtig, weil wir die cher Aufforderung nicht, was aber – das will ich festhal-
Bürger vor unangenehmen Überraschungen schützen ten – durch das freie Mandat gedeckt ist.
wollen.
(Heiterkeit – Zuruf von der FDP – Gegenruf
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nöti-
gung eines Verfassungsorgans!)
Ich komme zurück zu meinem Thema. Für die Fach-
kräftesicherung haben wir einen weiteren Schwerpunkt Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Lötzer für die
im Haushalt gesetzt. Einen anderen Schwerpunkt haben Fraktion Die Linke.
wir beim Bundeskartellamt. Herr Claus hat gesagt, das (Beifall bei der LINKEN)
sei toll, weil es Einnahmen bringt. Uns geht es eher da-
rum, dass das Bundeskartellamt dafür sorgt, dass der
Ulla Lötzer (DIE LINKE):
(B) Wettbewerb fair abläuft, dass es in unserer Volkswirt- (D)
schaft keine wettbewerbsfreien Zonen gibt und dass die Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
Verbraucher von einem schärferen Wettbewerb profitie- und Kollegen! Herr Rösler, auch ich sehe das so, dass
ren. Ansonsten haben wir beide offenbar ein Faible für sich Ihre Wirtschaftspolitik daran messen lassen muss,
das Bundeskartellamt. ob sie einem wirtschaftlichen Abschwung entgegen-
wirkt. Stattdessen stelle ich heute ebenso wie gestern
Ich möchte zuletzt noch ein Thema ansprechen, das fest, dass Sie Schönfärberei betreiben. Sie behaupten,
auch der Kollege Brandner in seiner Rede erwähnt hat, Sie machten wachstumsfördernde Konsolidierungspoli-
nämlich den Netzausbau und die damit zusammenhän- tik. Aber niemand merkt es.
gende Frage, ob die Bundesnetzagentur genug Personal
bekommen hat. Wir haben die Bundesnetzagentur um Lassen Sie mich weitere Aspekte anfügen. Die G 20
weitere 220 Stellen verstärkt. All diese Mitarbeiter müs- – damit auch Sie – haben kürzlich in Cannes vereinbart:
sen erst einmal im Laufe des Jahres eingestellt werden. Die wenigen Länder, die noch über finanziellen Spiel-
An Ihrer Kritik kann man, glaube ich, sehr gut sehen, raum verfügten, sollten für Wachstumsimpulse und eine
was der Unterschied zwischen einem reinen Atomaus- Stärkung der Binnenkonjunktur sorgen. Was bleibt da-
stieg, den Rot-Grün beschlossen hat, und einer Ener- von in Ihrer Wirtschaftspolitik? Eine Steuersenkung von
giewende ist, die wir beschlossen haben. Herr Kollege 6 Milliarden Euro. Das ist angesichts der Herausforde-
Brandner, die Laufzeiten der Kernkraftwerke, die Sie rung und der Lage auf dem Binnenmarkt lächerlich und
vorgeschlagen hatten, waren ungefähr die, die jetzt im wird dem überhaupt nicht gerecht.
Atomgesetz stehen. (Beifall bei der LINKEN)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, toll!) Wir Linke sind immer für Steuergerechtigkeit einge-
treten und haben die Abschaffung der kalten Progression
Offenbar ist beim Netzausbau gar nichts passiert; denn gefordert. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir aber auch im-
sonst hätten wir die erforderlichen Leute bei der Bundes- mer für eine Gegenfinanzierung eingetreten. Sie wollen
netzagentur. Ich frage Sie: Wo sind die denn eigentlich? die Vermögenden weiter schonen. Wir fordern, dass eine
Wenn Sie das kritisieren, müssen Sie sich doch erst ein- Gegenfinanzierung über Vermögensabgabe und Vermö-
mal an die eigene Nase fassen. All das haben Sie nicht gensteuer durchgeführt wird. Damit könnten Sie übri-
gemacht, sondern Sie haben damals einen isolierten gens locker einen Schritt zur Konsolidierung des Haus-
Atomausstieg, ohne auf die Vernetzung mit den übrigen halts gehen, Herr Toncar.
Energieversorgungssystemen Rücksicht zu nehmen, ge-
plant. Das war sicherlich nicht richtig. (Beifall bei der LINKEN)
17048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Ulla Lötzer
(A) Nicht nur, dass die Vermögenden inzwischen selber Wenn Sie die Binnennachfrage der Euro-Zone auf (C)
darum betteln, nicht nur Warren Buffett und auf interna- Jahre hinaus ersticken, kehrt das wie ein Bumerang nach
tionaler Ebene, auch auf nationaler Ebene gibt es inzwi- Deutschland zurück; denn 60 Prozent der deutschen Ex-
schen viele. Auch das DIW hat dazu festgestellt: porte gehen nach wie vor in die Länder der Euro-Zone.
Die anderen Staaten beneiden Deutschland nicht um seine
Mögliche Anpassungs- und Ausweichreaktionen Exportstärke. Es geht auch nicht um eine Entschuldigung
auf höhere Spitzensteuersätze werden häufig über- für die Exportstärke, Herr Rösler. Im Gegenteil: Die G 20
bewertet. – deren Teil Sie ohne Zweifel sind –, das Europaparla-
ment, der Europäische Rat und die EU-Kommission ha-
Vermögende zu belasten, hat nicht die von Ihnen immer
ben sich darauf geeinigt, Länder mit starken Leistungsbi-
behaupteten negativen Auswirkungen auf die Binnen-
lanzüberschüssen wie Deutschland müssten Maßnahmen
konjunktur. Die einzige Folge wäre, dass den Finanz-
zur Stärkung des Binnenmarktes vorlegen. So massiv Sie
märkten Geld zur Spekulation entzogen würde. Auch
Krisenländern Sparprogramme aufzwingen, so entschie-
das wäre neben der geforderten Transaktionsteuer ein
den blockieren Sie diese Regelung auf europäischer
Schritt zur Bereinigung der Finanzmarktkrise.
Ebene. Die Bundesregierung will jetzt den Schwellenwert
(Beifall bei der LINKEN) dafür auf 7 Prozent setzen lassen. Damit wird dieses Vor-
haben zur Farce. Das ist Ihr wirtschaftspolitisches Ar-
Es muss für viele Beschäftigte wie Hohn klingen, mutszeugnis in Europa.
dass Sie permanent über die hohen Beschäftigungszah-
len jubeln. Ja, viel mehr Menschen haben Arbeit, aber (Beifall bei der LINKEN)
viele können davon nicht ohne Zuschuss leben. Oft war Eine Orientierung auf eine sozial-ökologische Erneu-
vom Aufschwung der Niedriglöhne und der prekären erung fehlt im Haushalt. Herr Rösler, Ihr Streit mit Um-
Beschäftigung etc. die Rede. Lassen Sie mich ergänzen: weltminister Röttgen ist dafür symptomatisch. Verbind-
Frauen müssen neben einem Vollzeitjob noch im Mini- liche Vorgaben für Energieeffizienz soll es nach Ihrem
job putzen oder kellnern oder sich und die Kinder mit Willen nicht geben. Verbindliche Schritte zur Erhöhung
zwei, drei oder vier Minijobs über Wasser halten. Das ist der Ressourceneffizienz und der massive Ausbau der er-
Ihr Familienprogramm für Arme. Es gibt so viele Millio- neuerbaren Energien fehlen auch in diesem Haushalt.
näre wie nie zuvor, gleichzeitig müssen immer mehr Wenn sich herausstellt, dass die Klima- und die Effi-
Menschen an der Suppenküche anstehen. zienzziele für 2020 aufgrund Ihrer Verweigerungshal-
tung nicht erreicht werden können, zucken Sie mit den
Diese Entwicklung bleibt nicht beim Niedriglohnsek- Schultern.
tor stehen. Wiederum das DIW hat in seiner Studie zur
(B) Arbeitsmarktentwicklung nachgewiesen, dass seit 2005 Die FDP würgt die Erfolgsgeschichte der Unterneh- (D)
die Zuwächse bei mittleren und höheren Lohngruppen men im ökologischen Sektor ab. Diese Erfolgsgeschichte
längst durch Kaufkraftschwund aufgefressen werden. wurde geprägt von kommunalen, kleinen und mittleren
Der gesetzliche Mindestlohn, die Zurückdrängung von Unternehmen und Genossenschaften und nicht von den
Leiharbeit, die Sozialversicherungspflicht von Minijobs großen Vier. Diese haben die Entwicklung verschlafen.
ab der ersten Stunde und der Grundsatz „Gleicher Lohn Jetzt versuchen Sie, ihnen dadurch, dass Sie Hochleis-
für gleichwertige Arbeit“ sind nicht nur eine Frage der tungsnetze etc. in den Mittelpunkt der Energiewende stel-
Würde, sondern auch wirtschaftlich dringend notwendig. len, wieder auf die Sprünge zu helfen. Ihre Wirtschafts-
politik – Herr Brüderle, wenn Sie schon da sind, spreche
(Beifall bei der LINKEN) ich auch Sie an –
Auf europäischer Ebene gießen Sie Öl ins Krisen- (Rainer Brüderle [FDP]: Ich bin immer da,
feuer, statt zu löschen. Die Binnenmarktschwäche hat Frau Kollegin!)
auch zur Folge, dass Deutsche nicht mehr Waren aus
dem europäischen Ausland importieren, insbesondere ist nicht der Dreiklang von Investieren, Stabilisieren und
aus den Krisenländern. Das wäre unter anderem aber Entlasten.
notwendig, um deren Wachstum zu stärken. Stattdessen (Rainer Brüderle [FDP]: Was Sie alles wissen,
sind EU-weit insbesondere auf Ihre Initiative hin Kür- Frau Kollegin!)
zungsprogramme im Umfang von 400 Milliarden Euro
aufgelegt worden. Mit dem Handelsblatt stellt die Linke Im Gegenteil: Das ist ein Haushalt zur Förderung des
fest: wirtschaftlichen Abschwungs, der Verarmung vieler und
des Blindflugs im Bereich der sozial-ökologischen Er-
Die Frage, woher denn noch Wachstum kommen neuerung.
soll, wenn die gesamte Euro-Zone die Ausgaben
senkt, ist mit Blick auf die Konjunkturprognosen Ich danke für die Aufmerksamkeit.
für die Euro-Zone mehr als berechtigt. Doch die (Beifall bei der LINKEN – Dr. Michael Fuchs
Antwort, die Merkel auf diese Frage gibt, ist nicht [CDU/CSU]: Ich war nicht aufmerksam!)
überzeugend. Sie lautet: Wer ohnehin tief in der Re-
zession steckt, soll noch weniger ausgeben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich füge hinzu: und damit noch tiefer in der Rezession Das Wort hat nun die Kollegin Ingrid Nestle für die
versinken. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17049

(A) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Klimafonds steht in den Sternen. Die Einnahmen aus (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dem Emissionshandel sind deutlich zurückgegangen; die
Kollegen! Ich habe aus den Reihen der Koalition heute sogenannte Brennelementesteuer wurde schon teilweise
früh einen klugen Satz gehört. zurückgezahlt.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist ein Astrolo-
NEN]: Einen? – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ genhaushalt!)
CSU]: Sie haben nicht viel zugehört!)
Mit diesem Energie- und Klimafonds schaffen Sie ers-
Herr Luther, Sie haben nämlich gesagt: Wir müssen da- tens keine Investitionssicherheit für die Energiewende.
für sorgen, dass Deutschland auch morgen noch gut da- Zweitens: Selbst wenn die Gelder so fließen, wie Sie
steht. – Vor diesem Hintergrund fand ich Ihre Rede, sich das erträumen, haben wir weniger Geld für die Ge-
Minister Rösler – das muss ich sagen –, wirklich gruse- bäudesanierung zur Verfügung als 2009. Dazu kommt:
lig. Sie fördern mit diesen Geldern energieintensive Unter-
nehmen. Sie fördern damit den Stromverbrauch. Welch
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da haben Sie
zynische Verwendung der Mittel aus dem Klimafonds!
nicht richtig zugehört! – Rainer Brüderle
Außerdem fordern Sie, mehr Geld aus diesem Fonds für
[FDP]: Oder nichts verstanden!)
den Neubau von Kohlekraftwerken auszugeben als für
In Europa brennt die Luft. Alle seriösen Politiker ar- die Förderung des effizienten Verbrauchs von Strom.
beiten auf Hochtouren, um in Zeiten der Finanzkrise
Das ist das ewiggestrige Denken: Immer mehr fossile
eine Perspektive für die europäische Wirtschaft aufzu-
Produktion, aber nicht effizient und zukunftsgewandt.
zeigen. Und was tun Sie? Sie äußern einige fromme
Das ist wirklich zynisch. Das sind die völlig falschen
Wünsche:
Prioritäten.
(Iris Gleicke [SPD]: Überschriftenminister!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich möchte, dass wir immer weiter viel mehr exportieren sowie bei Abgeordneten der SPD)
als importieren. Dafür müssen andere Länder natürlich
Minister Rösler, Sie haben von Ihrem Brief und Ihrer
Schulden aufbauen, und es sollen keinerlei Transfergel-
Bitte an die Umweltverbände berichtet, sich für Kohle-
der fließen. – Ich glaube Ihnen, dass das Ihre frommen
kraftwerke, Gaskraftwerke und Stromnetze einzusetzen.
Wünsche sind. Ich frage Sie aber: Haben Sie überhaupt
Sie sollten nicht nur Briefe verschicken, sondern auch
nicht den Ernst der Lage verstanden? Haben Sie über-
zuhören, welche Reaktionen Sie bekommen. Es gibt
haupt nicht begriffen, worum es hier gerade geht? Sie
nämlich aus der Umweltbranche durchaus schon Re-
leugnen einfach die Realität. Sie nennen Zahlen aus die-
(B) aktionen. Ich möchte einen sehr treffenden Satz von (D)
sem und dem letzten Jahr und sagen fröhlich: Ich hoffe,
Greenpeace zitieren: Offensichtlich hat Minister Rösler
es geht alles immer so weiter. – Bestimmt geht alles im-
den Sinn der Energiewende nicht verstanden.
mer so weiter, wenn wir nichts tun. Nein, Herr Rösler,
Sie tragen Verantwortung; wirklich Verantwortung. An (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dieser Stelle geht es nicht um Polemik, sondern darum, sowie bei Abgeordneten der SPD – Kerstin
die Lage zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den
Eindruck habe ich auch!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Sinn der Energiewende ist tatsächlich nicht, neue
Kohlekraftwerke zu bauen und damit die Klimaziele in
Sie haben auch die Energiewende angesprochen. In
unerreichbare Ferne zu rücken. Noch nicht einmal die
letzter Zeit wurde ich öfter von Journalisten gefragt: Was
Energiebranche sagt, dass wir neue Kohlekraftwerke
ist eigentlich aus der Energiewende geworden? Man hört
brauchen.
ja gar nichts mehr. Was macht denn die Regierung?
Habe ich es nur nicht mitbekommen, oder macht sie (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Aber wir
wirklich nichts? müssen doch wenigstens die fertigstellen, die
geplant sind!)
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Deswegen
gehen sie zu Ihnen?) Auch die Energieversorger in Deutschland haben sich
schon dahin gehend geäußert: Wir haben genug Kapazi-
Sie hatten die Chance, mit diesem Haushaltsplan zu zei-
täten. Man braucht für die nächsten Jahre keine weiteren
gen: Ja, wir machen etwas für die Energiewende. Aber
Kapazitäten. – Sie haben an keiner Stelle aufgezeigt, wie
was passiert tatsächlich? Der Mittelansatz für die Ener-
Sie zu der absurden Vermutung kommen, wir bräuchten
gieforschung wird im Wirtschaftshaushalt sogar leicht
neue Kohlekraftwerke. Ganz im Gegenteil: Alle Studien
gesenkt. Die Mittel für die Förderung der erneuerbaren
zeigen, neue Kohlekraftwerke, inflexible Kohlekraft-
Energien werden gekürzt. Mittel für die Stellen für die
werke, die zu den flexiblen erneuerbaren Energien nicht
BNetzA sind erst nach deutlichem Protest eingestellt
passen, sind eine massive Bremse im Energiesystem.
worden, obwohl Sie ohne diese Stellen Ihre Gesetze, die
Wir brauchen sie nicht. Wir haben ausreichende Kapazi-
Sie vor ein paar Monaten, im Sommer, beschlossen ha-
täten. Sie machen die Klimaziele vollkommen uner-
ben, gar nicht umsetzen können.
reichbar. Deswegen ist es klar, dass wir uns genauso wie
Dann sagen Sie: Wir haben den Energie- und Klima- die Umweltverbände strikt gegen den Neubau von Koh-
fonds. – Die Höhe der Einnahmen aus dem Energie- und lekraftwerken einsetzen.
17050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Ingrid Nestle
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len, dass die Energiewende funktioniert. Deshalb (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin schwenken Sie immer auf den ewiggestrigen Kurs ein.
Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist klar! Ihr seid
Immerhin haben Sie es jetzt deutlich und offen gesagt
immer dagegen!)
– bisher haben Sie sich immer hinter dem Begriff „fos-
– Jetzt kommt natürlich die alte Leier von der rechten sil“ versteckt –, dass Sie neue Kohlekraftwerke wollen.
Seite des Hauses: Es ist klar, Sie sind immer dagegen. – Das ist keine Energiewende! Das ist Rückschritt! Das ist
Das ist auch Teil Ihres Briefes und Ihres Statements, die Vergangenheit; das ist nicht die Zukunft! Und dage-
Herr Fuchs, nämlich so zu tun, als würden wir, wenn wir gen werden wir uns wehren!
uns gegen Kohlekraftwerke aussprechen, alles blockie-
ren, auch Gaskraftwerke und Stromnetze. Ich kann Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sagen, dass die Umweltverbände schon geantwortet ha-
ben. Sie haben genauso wie wir gesagt: Für einen sinn- Präsident Dr. Norbert Lammert:
vollen Netzausbau setzen wir uns natürlich ein. Voraus- Das Wort erhält der Kollege Joachim Pfeiffer für die
setzung ist jedoch, dass man ein Gaskraftwerk braucht CDU/CSU-Fraktion.
und den Beweis hat, wo man es braucht. Eine blinde
(Beifall bei der CDU/CSU)
Förderung wie bei Ihnen im Kraftwerksförderprogramm
kommt nicht infrage. Sie unterstützen jedes Kraftwerk,
ob es nun an der Küste steht, wo kein Mensch es Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
braucht, oder im Süden Deutschlands, wo es gebraucht Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
wird. Wenn ein Gaskraftwerk gebraucht wird, dann un- ren! Es ist doch unstrittig – darauf sollten wir stolz sein –,
terstützen wir natürlich den Bau dieses Gaskraftwerks. dass Deutschland gut dasteht.
Sie können sich nicht damit abfinden, dass die Ener- (Beifall bei der CDU/CSU)
giewende funktioniert. Sie können sich nicht damit
Deutschland steht deshalb gut da, weil wir im letzten
abfinden, dass wir ein schlüssiges Konzept vorgelegt
Jahrzehnt unsere Hausaufgaben gemacht haben. Dass
haben,
wir heute gut dastehen, ist ein Ergebnis der Politik von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Konsolidieren und Wachsen. In den letzten zwei Jahren
Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Michael – Herr Heil, da hat mit Sicherheit nicht die SPD regiert,
Fuchs [CDU/CSU]: Das ist doch ein Geheim- die Grünen erst recht nicht; von den Linken wollen wir
dokument! Das kennt keiner!) gar nicht sprechen – haben wir das historisch höchste
Wachstum seit der Wiedervereinigung erreicht: 3,6 Pro-
dass wir uns für Netzausbau, für Gaskraftwerke ausspre- zent im letzten Jahr und 3 Prozent in diesem Jahr. Das ist (D)
(B)
chen. das Ergebnis guter wachstumsorientierter Politik.
Herr Fuchs, Sie haben gesagt, man muss dann auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zum Netzausbau stehen.
Deutschland ist wettbewerbsfähig. Wir sollten das
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Tun Sie es
nicht verstecken. Wir können vielmehr auf unsere Ex-
doch mal!)
portüberschüsse stolz sein. Das gilt nicht nur für
– Das tue ich. Ich bin ständig in Deutschland unterwegs. Deutschland, sondern für ganz Europa. Ohne die deut-
Ich war bei vielen Bürgerinitiativen vor Ort. schen Exportüberschüsse hätte die Euro-Zone insgesamt
ein Handelsbilanzdefizit. Dann wären wir in der glei-
(Zurufe von der CDU/CSU: Was ist denn mit
chen Situation, in der sich jetzt die USA befinden. Das
den Speichertechnologien? – Gehen Sie mal
will ich nicht. Ich will, dass – auch was Güter und
nach Atdorf!)
Dienstleistungen anbelangt – die Euro-Zone wettbe-
Ich werbe vor Ort für einen sinnvollen, menschenfreund- werbsfähig ist.
lichen Ausbau der Netze. Ich habe von keiner einzigen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bürgerinitiative gehört, dass Sie auch nur einmal vor Ort
gewesen wären und geworben hätten. Es ist nicht die Deutschland steht insbesondere am Arbeitsmarkt gut
feine Art, mit Fingern auf andere zu zeigen, die sich sehr da. Das, was Kollege Claus und manch andere hier vor-
viel mehr einsetzen. tragen, ist schon abwegig. Heute sind 2 Millionen Men-
schen mehr in Arbeit als 2005. Es gibt 41,5 Millionen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Erwerbstätige; das ist die höchste Zahl der Erwerbstäti-
Diese Realitätsverweigerung finde ich sehr interes- gen, die wir jemals in Deutschland hatten. Dies spart uns
sant. Seit zwei Jahren betone ich hier immer wieder, dass auch Geld. 100 000 Arbeitslose, die Arbeitslosengeld
wir natürlich zu einem sinnvollen Netzausbau stehen. bekommen, kosten den Bund etwa 1,6 Milliarden Euro.
Trotzdem kommen Sie weiterhin mit dieser Andeutung: 100 000 Hartz-IV-Empfänger kosten den Bund etwa
Na, Sie sind ja dagegen. – Sie können sich nicht damit 0,5 Milliarden Euro. Durch 100 000 Arbeitnehmer mehr
abfinden, dass wir einen schlüssigen, sinnvollen Vor- sind rund 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen zu ver-
schlag gemacht haben. Sie können das offensichtlich zeichnen, weil es mehr Steuereinnahmen gibt und mehr
nicht akzeptieren und mit uns auf einer sachlichen Ebene Sozialversicherungsbeiträge an die Arbeitslosen- und
diskutieren, sondern müssen die Generalanschuldigun- Rentenversicherung gezahlt werden. Heute haben wir
gen vorbringen, weil Sie es einfach nicht glauben wol- insgesamt mehr als 40 Milliarden Euro mehr zur Verfü-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17051
Dr. Joachim Pfeiffer
(A) gung, weil die Situation auf dem Arbeitsmarkt besser ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
Auch das ist das Ergebnis wachstumsorientierter Politik. Widerspruch bei der LINKEN)
Das kommt beim Bürger an. Wir entlasten diejenigen, Wir bleiben aber nicht stehen, wir ruhen uns nicht
die etwas leisten, die arbeiten. Deshalb wollen wir die aus, sondern wir arbeiten weiter, beispielsweise am Ar-
kalte Progression abmildern. Deshalb wollen wir den beitsmarkt. Das Thema Fachkräfte ist vorhin schon an-
Grundfreibetrag erhöhen. gesprochen worden. Wir unterlassen auch nichts, das Po-
tenzial, das sich aus der demografischen Entwicklung
(Rolf Hempelmann [SPD]: Aber die Leute ergibt, weiter auszuschöpfen. Hinzu kommen die Ver-
freuen sich nicht!) besserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
Deshalb werden wir die Abgaben senken. Wir sind im (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit dem Be-
nächsten Jahr in der Lage, die Rentenversicherungsbei- treuungsgeld?)
träge, wenn auch nur leicht, zu senken. Unter Rot-Grün
wurden die Abgaben immer erhöht, bei uns bleiben sie die Förderung qualifizierter Frauen am Arbeitsmarkt,
stabil oder werden sogar gesenkt. Das kommt beim Ar- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
beitnehmer, beim Bürger an. NEN]: Ja, wie denn?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Förderung von Schulabbrechern, Migranten und
Schauen Sie sich die Situation der Bundesagentur für Menschen mit geringerem Qualifizierungsniveau. Wir
Arbeit an. Ursprünglich rechnete man in diesem Jahr mit können es uns nicht mehr leisten, Menschen zurückzu-
einem Defizit in Höhe von 5,4 Milliarden Euro. Jetzt be- lassen.
trägt es 500 Millionen Euro. Diese Gelder fallen nicht (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
vom Himmel, sondern müssen entweder von den Bei- Na ja! Und dann das Betreuungsgeld?)
tragszahlern durch Abgaben aufgebracht werden – sie
stehen den Beitragszahlern dann nicht zur Verfügung – Vor allem ist es gelungen – diese Zahlen werden wir
oder kommen aus dem Haushalt, also aus Steuern, die weiter steigern –, die Erwerbstätigkeit der Älteren zu er-
auch vom Bürger aufgebracht werden; denn auch die höhen. Während noch im Jahr 2000 gerade einmal
Steuern fallen nicht vom Himmel. 28 Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen in der
Gruppe der 60- bis 64-Jährigen erwerbstätig waren, wa-
In diesem Jahr – auch das ist eine Mär, wenn Sie sa- ren es im Jahr 2010 49 Prozent der Männer, also über
gen, es wäre nicht so – ist die Binnennachfrage der Trä- 20 Prozentpunkte mehr, und 33 Prozent der Frauen; das
ger des Wachstums. Die Binnennachfrage leistet dieses entspricht fast einer Verdreifachung. Das heißt, die Men-
(B) Jahr einen größeren Beitrag zum Wachstum als der Ex- schen gehen später in Rente, (D)
port. Insofern stimmt es nicht, dass der Aufschwung
nicht bei den Bürgern ankommt; das Gegenteil ist der (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Ja! Aber nicht,
Fall. Dies ist das Ergebnis. In diesem und im nächsten weil sie es wollen!)
Jahr gibt es Reallohnzuwächse. Auch die Rentner profi- die Männer im Schnitt eineinhalb Jahre später und die
tieren. Das ist das Ergebnis unserer wachstumsorientier- Frauen über ein Jahr später. Auch dies trägt zur Stabili-
ten Politik. sierung des Arbeitsmarktes bei, schafft Wirtschafts-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wachstum und sorgt dafür, dass wir auch in Zukunft die
neten der FDP) notwendigen Arbeitskräfte für unsere Wirtschaft haben
und die Sozialversicherungsbeiträge stabil halten kön-
Wir machen Politik nicht zur Alimentierung von nen.
Hartz-IV-Empfängern – das machen Sie –,
Bevor ich zu Bildung und Forschung komme, möchte
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Das ist eine Frech- ich noch in aller Deutlichkeit ein Wort zu Euro-Bonds
heit!) sagen.
sondern wir betreiben Politik so, dass es weniger Hartz- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
IV-Empfänger gibt, dass die Menschen eine Perspektive NEN]: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sie
haben, dass sie über Zeitarbeit, über Flexibilität eine das machen!)
Brücke in den Arbeitsmarkt bekommen. Dann wird ein Euro-Bonds sind definitiv kein Kriseninstrument.
Schuh daraus.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Die, die in Arbeit NEN]: Ach! Nur eine Frage der Zeit!)
sind, brauchen zusätzlich Hartz IV!)
Ich wiederhole: Sie sind definitiv kein Kriseninstrument.
Es gibt keinen Anstieg der Zahl der prekären Arbeitsver-
hältnisse. Wir sind nicht das Land der Lohndrücker. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ganz im Gegenteil: Wir haben den höchsten Anteil der Euro-Bonds sind süßes Gift, Sozialismus und Teufels-
sozialversicherungspflichtigen Vollzeiterwerbstätigkeit, zeug,
den es jemals in dieser Republik gab. Also behaupten
Sie hier nicht ständig wider besseres Wissen das Gegen- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
teil! NEN]: Oh! Das ist echt mutig! – Dr. Tobias
17052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Joachim Pfeiffer


(A) Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da- Forschung und Technologie im Mobilitätsbereich – ein (C)
rüber reden wir aber noch mal!) weiterer Schwerpunkt, für den wir über 1 Milliarde Euro
zusätzlich bereitstellen –, Geowissenschaften und Bil-
weil sie in der Tat Anreize setzen, sich nicht anzustren- dungsforschung. Insgesamt stellen wir hierfür 16 Mil-
gen, um besser zu werden. Vielmehr tragen sie dazu bei, liarden Euro zur Verfügung. Wir geben fast 50 Prozent
diejenigen, die es haben schleifen lassen, in ihrer Situa- mehr für den Forschungsbereich aus, als Sie es 2002 ge-
tion zu belassen. tan haben. Damit sind wir schon fast dort, wo wir hin-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wollen. Im nächsten Jahr geben wir 9,3 bis 9,4 Prozent
GRÜNEN]: Passen Sie lieber auf, was Sie sa- des Bruttosozialprodukts für Bildung und Forschung
gen!) aus; 10 Prozent haben wir uns zum Ziel gesetzt.
Der Druck muss im Kessel gehalten werden. Euro- Das heißt, die Richtung und der Weg stimmen, nicht
Bonds sind mit Sicherheit kein Kriseninstrument. nur was die Haushaltskonsolidierung und die heutigen
Wachstumszahlen angeht, sondern auch mit Blick auf
(Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/ die Zukunft. Wir legen die Grundlagen dafür, dass
CSU]) Deutschland auch weiterhin erfolgreich ist und wachsen
Euro-Bonds wird es mit uns als CDU/CSU und in dieser kann und wir in diesem Land eine Perspektive für
Regierung auch mit der FDP nicht geben. Wachstum und Beschäftigung haben. Deshalb stimmen
wir diesem Haushalt mit großer Freude zu.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Rainer Brüderle [FDP]: Jawohl! Eine klare Vielen Dank.
Aussage! – Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
lang ist denn die Halbwertszeit dieser Aus- Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sage?) NEN]: Oh, sogar mit großer Freude! Wie kann
Euro-Bonds können maximal der Schlussstein einer man diesem Haushalt nur mit Freude zustim-
erfolgreichen europäischen Integration men?)

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ah! – Kerstin Präsident Dr. Norbert Lammert:
Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah! Der Kollege Duin hat nun das Wort für die SPD-Frak-
Jetzt wird es interessant!) tion.
in der Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik sein, (Beifall bei der SPD)
aber kein Kriseninstrument. Ein solcher Schlussstein
(B) kann vielleicht in 10, 15 Jahren gesetzt werden, wenn (D)
wir all unsere Vorhaben erreicht haben, aber sicher nicht Garrelt Duin (SPD):
jetzt und sicher nicht in den nächsten Jahren. Das ist für Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
mich eine absolute Selbstverständlichkeit. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister
Rösler, als ich Ihrer Rede zugehört habe, habe ich mich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wie auch andere Kolleginnen und Kollegen gefragt, in
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gut, dass wir welcher Welt Sie eigentlich leben. Sich hier hinzustellen
das im Protokoll haben! – Volker Beck [Köln] und ein Bild zu malen, das sich mit den Worten zusam-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Dann menfassen lässt: „Alles ist wunderbar“, das wird Ihrem
hätten wir in 15 Jahren Sozialismus, oder Amt und der Verantwortung, die Sie damit übernommen
was?) haben, nicht gerecht. Ob Sie in der FDP erfolgreich sind
oder nicht, kann uns allen in Deutschland komplett egal
Wo kommt das Wachstum von morgen her? Wer
sein. Aber ob Sie als Wirtschaftsminister Ihrer Verant-
heute nicht sät, kann morgen und übermorgen nicht ern-
wortung gerecht werden, das darf diesem Land nicht
ten. Deshalb steigern wir die Forschungsausgaben be-
egal sein. Durch Ihre Rede haben Sie deutlich gemacht,
trächtlich. Es wurde gerade von Frau Nestle behauptet,
dass Sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden.
die Mittel für die Energieforschung gingen zurück. Ich
weiß ja nicht, ob Sie den rot-grünen Haushalt von 2005 (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
gelesen haben. Bei unserem Haushalt jedenfalls ist das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gegenteil der Fall: Wir steigern die Ausgaben für die
Energieforschung von 2011 bis 2014 auf 3,5 Milliarden Sie haben offensichtlich überhaupt nicht zur Kenntnis
Euro. Das entspricht, verglichen mit der entsprechenden genommen, was zum Beispiel die Wirtschaftsweisen erst
Periode unter Rot-Grün, einer Steigerung um 75 Prozent. vor wenigen Wochen uns allen ins Stammbuch geschrie-
Dennoch stellen Sie sich hier hin und sagen, wir würden ben haben. Sie haben überhaupt nicht zur Kenntnis ge-
weniger Geld für die Energieforschung ausgeben. Also, nommen, wie die reale Lage in ganz vielen Branchen ist.
entweder behaupten Sie das wider besseres Wissen, oder Nehmen Sie nur einmal – sie ist für Deutschland nicht
Sie versuchen, die Leute in die Irre zu führen. ganz unwichtig – die Automobilbranche. Sie hat in
Deutschland und in Europa die geringste Nachfrage seit
Von Bedeutung sind auch weitere Technologien, im 16 Jahren. So ist es auch in vielen anderen Branchen. Wir
Energiebereich, aber auch in anderen Bereichen. Ich sind in einer konjunkturellen Phase, die mit Verlangsa-
kann nur die Überschriften nennen: Weltraumforschung, mung noch schön umschrieben ist. Nach den erfolgrei-
Weltraumtechnik, Energieforschung, Biotechnologie, chen Zeiten kommen wir jetzt in eine Lage, in der präven-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17053
Garrelt Duin
(A) tives Handeln erforderlich ist. Sie sind doch ausgebildeter der europäischen Ebene keinen Erfolg haben. Das scha- (C)
Mediziner. Sie wissen doch, wie wichtig Prävention ist. det uns. So kann man nicht agieren.
Warum spielt das in Ihrer Politik überhaupt keine Rolle?
Sie wollen immer erst handeln, wenn das Kind in den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Brunnen gefallen ist. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Lieber Herr Rösler, Sie haben über ein paar Monate
GRÜNEN) als Wirtschaftsminister in Niedersachsen ein bisschen
Erfahrung sammeln können. Deswegen wissen Sie – das
Sie machen auch eine Politik – Sie haben das heute haben wir in der Großen Koalition damals gemeinsam
noch einmal verteidigt –, die wirklich überhaupt nicht auf den Weg gebracht –, welch große Bedeutung das
mehr in die Zeit passt. Nehmen wir nur das Beispiel der VW-Gesetz hat. Mit dem heutigen Tage legt die EU-
sogenannten Steuersenkung mit einem geplanten Volu- Kommission wieder die Axt an dieses Gesetz. Ich er-
men von 6 Milliarden Euro. Dadurch wollen Sie auch warte von einem Wirtschaftsminister der Bundesrepu-
Wachstumsimpulse setzen. Wenn bei den Menschen, um blik Deutschland, dass er sich zu Wort meldet – nicht nur
die Herr Pfeiffer, wie er gerade hier gesagt hat, ringen will, vom niedersächsischen Ministerpräsidenten; der hat das
also den Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, 4, 5 oder bereits getan –, dass er sich hier hinstellt und sagt:
6 Euro ankommen, dann wird dadurch überhaupt nichts Hände weg vom VW-Gesetz! Das, was die Kommission
ausgelöst. Wenn man dieses Geld in der gesamten vorhat, wollen wir nicht.
Summe in den Ausbau der Infrastruktur in Deutschland
investieren würde, für Straße, Schiene, Wasserstraße, für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den Ausbau der Energienetze – darauf komme ich gleich der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
noch zu sprechen –, oder für den Breitbandausbau, dann GRÜNEN)
wäre für die Zukunft in Deutschland etwas getan. Das
wäre besser, als das Geld durch Steuersenkungen zu ver- Lassen Sie mich, weil Sie das in Ihrer Rede aufgegrif-
pulvern. fen haben, das Thema Energiepolitik streifen. Wir sind
uns völlig einig, dass der Umbau des Energiesystems ein
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wesentlicher Bestandteil moderner Industriepolitik ist.
DIE GRÜNEN) Das haben Sie sinngemäß gerade gesagt. Wenn das so
ist, dann duldet vieles im Bereich der Energiepolitik kei-
Ich darf an noch etwas erinnern, was Sie selbst oft einge- nen Aufschub. Die Energiewende mit den Beschlüssen
fordert haben und was auch in der Koalitionsvereinba- vom Sommer löst die Probleme nicht. Wir müssen jetzt
(B) rung steht – Herr Professor Riesenhuber streitet immer möglichst schnell und kraftvoll weitere Schritte gehen. (D)
wieder für dieses Thema –, nämlich die steuerliche For-
schungsförderung. Dadurch würden in Deutschland In- Nicht ich, sondern Kurt Lauk – er ist, wie Sie wissen,
vestitionen ausgelöst. Durch Ihre Steuersenkung auf kein Sozialdemokrat, sondern ein führender Vertreter
Pump passiert gar nichts. Deswegen ist das ein solcher von Wirtschaftsinteressen innerhalb der CDU – hat am
Irrweg. 14. November im Handelsblatt festgestellt:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Noch immer fehlen klare Antworten: Was ist tech-
DIE GRÜNEN) nisch machbar? Wie wird die Energiewende finan-
ziert? Wie schaffen wir die notwendige Akzeptanz
Ich fand in Ihrer Rede auch sehr bemerkenswert, was in der Bevölkerung? Wann ist die neue Infrastruktur
Sie zu der europäischen Ebene gesagt haben. Man kann fertig erstellt und leistungsfähig? Wie gehen wir mit
auf Dauer als Bundesregierung, als Koalition so nicht den Bürgerprotesten bei den Infrastrukturprojekten
agieren, wenn man diese Ebene ernst nimmt, und dass um?
wir das tun sollten, ist offensichtlich. Man kann sich als
Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion nicht auf einem Das sind Fragen, die sich die ganze Gesellschaft stellt:
Parteitag hinstellen und in unglaublich arroganter Weise die Bürgerinnen und Bürger, die Industrie und die Wirt-
darüber schwadronieren, dass man in Europa jetzt schaft in diesem Land. Sie aber bleiben jede Antwort
Deutsch spreche, während der Wirtschaftsminister in der schuldig, Herr Minister. Das ist keine verantwortungs-
europäischen Szene überhaupt nicht vorkommt. volle Politik.
Man kann als Bundesregierung vor allen Dingen nicht (Beifall bei der SPD)
mit so gespaltener Zunge reden, wie Sie das tun. Herr
Schäuble kämpft in Europa – nach einem gewissen Lern- Wir brauchen – das wird von verschiedener Stelle ein-
prozess, er hat diese Steuer nicht erfunden, aber er gefordert, aber von Ihnen kommt nichts – einen Master-
kämpft inzwischen absolut glaubwürdig; das nehme ich plan mit einer konkreten Zeitachse, aus dem hervorgeht,
ihm wirklich ab – für die Einführung einer Finanztrans- welche Schritte wir in den nächsten Jahren gehen wol-
aktionsteuer. Die gleiche Bundesregierung, vertreten len. Es geht um Versorgungssicherheit in der Übergangs-
durch den Bundeswirtschaftsminister – das bezieht sich zeit bis zur Vollversorgung mit erneuerbaren Energien.
aber auch auf viele andere in der FDP; Herr Solms macht Dafür braucht man aber eine Strategie. Das kann man als
das im Ausschuss jedes Mal –, stellt sich hier hin und er- Minister nicht nur am Pult einfordern, sondern man
zählt im Kern genau das Gegenteil. So werden Sie auf muss es auch konkret unterlegen.
17054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Garrelt Duin
(A) Sie kennen doch den Brandbrief des Netzbetreibers Karstadt oder in anderen Fällen, nicht immer geteilt ha- (C)
TenneT, in dem es heißt, dass wir den notwendigen ben. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Herr Rösler: Holen
Netzausbau für Offshorewindenergie, den wir nach mei- Sie die Handpuppe wieder heraus, damit wir uns wenigs-
ner Überzeugung dringend brauchen, nicht hinbekom- tens an etwas erinnern, das mit Ihrer Amtszeit zu tun hat.
men werden, weil bestimmte Voraussetzungen dafür
nicht vorliegen. Ein Achselzucken reicht nicht aus. Man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
muss einen konkreten Plan vorlegen, wie der Netzaus- DIE GRÜNEN)
bau gestaltet werden soll.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall bei der SPD)
Herr Kollege Duin, Sie haben die Zwischenfrage ver-
Dasselbe ist bei der Speicherstrategie, der Energiefor- säumt, die der Kollege Ernst Hinsken stellen wollte.
schung und dem KWK-Ausbau festzustellen: überall Aber es war zu spät, Kollege Hinsken.
Leerstellen in Ihrer Politik. Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Martin Lindner
Ich will abschließend auf das Thema Akzeptanz zu für die Fraktion der FDP.
sprechen kommen. Ich habe eine Reihe von Bürgermeis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tern aus meinem Wahlkreis zu Gast. Letzten Freitag ha- der CDU/CSU)
ben Sie selbst diesen Wahlkreis besucht. Deswegen darf
ich darauf Bezug nehmen. In fast jeder dieser Gemein-
den gibt es eine Bürgerinitiative, mal gegen die Biogas- Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
anlage, die dort errichtet werden soll, mal gegen den Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Die
Windpark, mal gegen den Netzausbau. Bundesregierung steht zur Energiewende. Die Ener-
giewende findet nicht etwa wegen eines angeblichen
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die Grü- Zickzackkurses bei Teilen der Bevölkerung keinen Wi-
nen!) derhall, Herr Duin,
– Nein, das hat mit den Grünen nichts zu tun. Auch die (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was heißt „an-
Bürgermeister können nichts dafür. – Das hat etwas da- geblich“?)
mit zu tun, dass durch Ihren Zickzackkurs das Vertrauen
der Bevölkerung in eine verlässliche Energiewende ver- sondern wegen Ihres Populismus, den Sie vor Ort in den
loren gegangen ist. Das ist der Punkt. Ländern und Gemeinden, die Sie angesprochen haben,
pflegen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D)
CSU]: Unfug! – Stefan Müller [Erlangen] der CDU/CSU)
[CDU/CSU]: So ein Quatsch!)
Sie postulieren hier groß die Energiewende, aber dort,
Die Menschen sind nicht bereit, die Belastungen – die wo Sie in der Verantwortung stehen, beispielsweise als
durchaus vorhanden sind, wenn in ihrer Nachbarschaft Juniorpartner in Baden-Württemberg, eiern Sie herum.
ein Windpark errichtet oder das Netz ausgebaut wird; Hier erzeugen Sie ein Gefühl von Unsicherheit, statt ge-
das wollen wir gar nicht in Abrede stellen – zu akzeptie- meinsam zum Netzausbau und auch zum Ausbau fossiler
ren, wenn ihnen wie heute der Wirtschaftsminister mit- Energie zu stehen. Das ist für eine Partei, die sich selbst
teilt, dass nebenan auch noch ein Kohlekraftwerk gebaut rühmt, noch Reste von Industriepolitik zu machen, wirk-
werden soll. Dann geht die Akzeptanz in der Bevölke- lich eine Schande. Das kann ich Ihnen an dieser Stelle
rung verloren. Dafür tragen Sie die Verantwortung, nicht nur sagen.
die Sozis, die Grünen oder irgendjemand anders. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Wir werden die Energiewende mutig und kraftvoll
CSU und der FDP) vertreten, aber wir werden nicht zulassen – das sage ich
Lieber Herr Rösler, nach den paar Monaten, die Sie vor allen Dingen in Richtung der Grünen –, dass die
im Amt sind, haben wir uns gefragt, was von der Politik, Energiewende zu einer Deindustrialisierung dieses Lan-
die Sie machen, in Erinnerung bleiben wird. Auch in des genutzt wird.
Niedersachsen – ich habe es bereits erwähnt – waren Sie (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Wirtschaftsminister. Wenn man dort nachfragt, erinnern
sich die Menschen an Sie, insbesondere deswegen, weil Man muss sich einmal die Preise anschauen und sich fra-
Sie auf vielen Volksfesten bei Ihren Reden als Handpup- gen, in welcher Verantwortung wir hier stehen. Wenn Sie
penspieler aufgetreten sind. Sie haben die Handpuppe die internationalen Strompreise vergleichen, dann stellen
Willi – so hieß sie, glaube ich – weggelegt, als Sie aus Sie fest, dass der Strompreis für die Industrie in Nachbar-
Niedersachsen weggegangen sind und auf Bundesebene ländern wie Frankreich 7,5 Eurocent pro Kilowattstunde
Ihr Amt angetreten haben. Sie treten nicht mehr damit beträgt, während wir hier bei 11,8 Eurocent liegen. Wir
auf. Lieber Herr Rösler, an Herrn Brüderle können wir sind deswegen gefordert, uns dafür einzusetzen, dass
uns genau erinnern. Wir wussten, wofür er steht und was auch wir bezahlbare Energiepreise haben und keine Fan-
er macht, auch wenn wir seine Position, ob bei Opel, tasiepreise, wie es Ihnen vorschwebt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17055
Dr. Martin Lindner (Berlin)
(A) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die gefordert sind, ihre Haushalte zu sanieren. Das wäre (C)
NEN]: Sie machen der Industrie Geschenke! Gift für die weitere Entwicklung. Deswegen lehnen wir
3 Milliarden Euro!) das ab.
Deswegen setzt sich diese Koalition für eine Begrenzung Wir können hier natürlich gerne über die Vorausset-
der EEG-Umlage auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde ein. zungen für Euro-Bonds diskutieren; aber das Bundesver-
fassungsgericht hat bereits entschieden.
Wir setzen uns auch dafür ein, die Subventionen zu
überprüfen, sehr geehrter Herr Namenskollege. Das war (Rainer Brüderle [FDP]: Eben!)
doch ein Kabinettstückchen besonderer Art: Sie stellen
Eine ungedeckelte, nicht bestimmbare Übernahme von
sich hier hin und werfen dieser Bundesregierung vor, zu
Schulden anderer Länder verbietet uns das Bundesver-
wenig für den Subventionsabbau zu tun.
fassungsgericht.
(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, ungede-
NEN]: Ja! Was machen Sie denn in der Raum-
ckelt! – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/
fahrt?)
DIE GRÜNEN]: Ungedeckelt!)
Wenn wir aber an die Subventionen für die Photovoltaik-
Euro-Bonds kommen also auch aus rechtlichen Gründen
industrie herangehen wollen, dann ist bei Ihnen Schluss,
nicht in Betracht für Deutschland, nicht in Betracht für
weil Sie ein Klientelpolitiker sind.
diese Bundesregierung und nicht in Betracht für diese
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Koalition.
der CDU/CSU – Dr. Tobias Lindner [BÜND-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Stattdessen Kohle- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was hat der
kraftwerke bauen!) Sachverständigenrat gesagt?)
Die Solarenergieindustrie kassiert jedes Jahr 7 Milliar- Daran gibt es auch gar nichts zu rütteln. Gestern hat die
den Euro an Förderung, obwohl der Anteil der Solar- Bundeskanzlerin in ihrer bemerkenswerten Rede klarge-
energie an der Stromversorgung gerade einmal 3 Prozent macht, dass es Euro-Bonds mit dieser Bundesregierung
beträgt. Sie aber stehen wie die Löwen davor, weil es um nicht gibt. Wir werden weiter dem Pfad folgen,
Ihre Klientel, Ihre Spender und um Versorgungsposten
für Ihre Kollegen geht. Da machen wir aber nicht mit; (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Abwarten!)
das kann ich Ihnen an dieser Stelle sagen.
andere zu ermuntern und Anreize dafür zu setzen, ihre
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Haushalte in Ordnung zu bringen, und gleichzeitig Ret-
(B) der CDU/CSU) tungsmaßnahmen auflegen, die ausreichen, um die Un- (D)
wägbarkeiten abzufedern. Aber das, was die Opposition
Es wäre interessant, zu sehen, ob Sie auch hier so mutig machen will, nämlich den kompletten Zugriff anderer
sind, wenn es um Subventionskürzungen geht. Länder auf unsere Kasse zu ermöglichen, wird diese Re-
Ich finde auch immer spannend, wenn vor allen Din- gierung auf keinen Fall mitmachen.
gen die Linke, teilweise aber auch Sie von den Grünen Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
die hohen Exporte Deutschlands kritisieren, aber auf der
anderen Seite Zeter und Mordio schreien, wenn wir die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Binnennachfrage stärken wollen, indem wir etwas für der CDU/CSU)
die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen tun, wie
durch die vorgeschlagene Steuerreform. Das ist doch Vizepräsident Eduard Oswald:
Klientelpolitik, was Sie hier machen. Ich bin einmal ge- Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der
spannt, ob Sie uns auch vorhalten, im Haushalt sei kein CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte
Geld dafür da, wenn wir an eine Hartz-IV-Erhöhung schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein.
denken. So sieht es doch aus: Für die Bezieher kleiner
und mittlerer Einkommen ist bei Ihnen nichts zu holen.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Wir als Koalition stehen dafür, auch für die Menschen
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Es
etwas tun, die täglich aufstehen und arbeiten und nicht
ist immer noch besser, die Wirtschaft gesundzubeten, als
im Bett liegen bleiben.
sie totzureden. – Das hat Ludwig Erhard einmal in einer
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vermutlich ähnlich gelagerten Debatte gesagt. Erstens.
der CDU/CSU) Er hat recht. Zweitens. Ich bin aber auch der Überzeu-
gung, wir sollten beides nicht tun. Die Lage ist zwar gut,
Ich komme zum letzten Punkt, zu den Euro-Bonds.
aber auch ernst zugleich. Die Menschen haben Sorge um
Jenseits der Frage, welche Belastung das für uns bedeu-
ihr Geld und um unsere Währung – und das aus einer
ten würde, würde doch genau diese Maßnahme andere
historischen deutschen Erfahrung heraus, die tief sitzt.
Länder mit weniger soliden Haushalten dazu einladen,
Deshalb müssen wir dem klar und unmissverständlich
wegen der gesunkenen Zinssätze genau das zu tun, was
eines entgegenhalten, nämlich Stabilität, Stabilität in
schon schädlich war, nämlich noch mehr Schulden auf-
Deutschland, aber auch Stabilität in Europa.
zunehmen. Euro-Bonds würden auf der einen Seite Zins-
mehrbelastungen für unser Land bedeuten; auf der ande- Ich meine, dass die Bundeskanzlerin die Führungs-
ren Seite stünde eine Zinsvergünstigung für die Länder, verantwortung, die ihr zukommt, auf der europäischen
17056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) Bühne hervorragend wahrnimmt. Ich bin auch der Über- konsumiert. Unsere Hoffnung wurde also nicht erfüllt. (C)
zeugung, dass man Stabilität nicht nur einfordern, son- Jetzt schöpfen wir schon wieder neue Hoffnung – Sie je-
dern auch vorleben muss. Dieser Haushalt ist eine gute denfalls. Diesmal soll alles anders laufen, wenn wir ge-
Etappe auf einem richtigen Weg. Das Ziel ist und bleibt samtschuldnerisch die Haftung für alle europäischen
ein ausgeglichener Haushalt, so wie wir ihn in Bayern Schulden übernehmen und den anderen europäischen
bereits erreicht haben. Ländern zulasten der deutschen Bonität niedrige Zinsen
garantieren. Dann soll alles besser werden, die Länder
(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Und in sollen nicht mehr Schulden machen, und sie sollen nicht
Sachsen!) mehr auf Pump konsumieren. Ich habe diese Hoffnung
– Und in Sachsen, sehr gut. Das zeigt: Es geht. – Ich nicht. Ich meine, dass das anders laufen muss. Wir müs-
weiß aber auch, dass es demokratisch schwierig ist, die- sen das Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwor-
sen Weg zu gehen. Die Rede von SPD-Berichterstatter tung in der Europapolitik neu überdenken, nicht nur,
Brandner hat das heute wieder gezeigt. Sie haben allge- aber auch im Zusammenhang mit der Euro-Krise. Es
mein Impulse zum Sparen eingefordert, sind aber dann darf nicht, wie Sie sich das vorstellen, entweder Solidari-
in einem langen Katalog auf die Bereiche eingegangen, tät oder Eigenverantwortung geben; es muss beides ge-
für die Sie persönlich am liebsten noch mehr Geld aus- ben. Das ist das, was wir von der Union durchsetzen
geben wollen. Das passt nicht zusammen, lieber Kollege wollen.
Brandner. Stabilität hat eine Vorbildfunktion; aber das muss sich
(Klaus Brandner [SPD]: Wenn Sie Steuerge- auch auf die Wettbewerbsfähigkeit beziehen. Wir müs-
schenke machen und Geld ausgeben, was sen zeigen, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit vor-
nichts bringt, ist das doch klar!) bildhaft stärken. Wir tun das auch mit dem Haushalt des
Wirtschaftsministeriums. Die Gemeinschaftsaufgabe ist
Im Übrigen: Was die SPD angeht, so meine ich, dass ebenso angesprochen worden wie die vielen Impulse im
die Einführung der Schuldenbremse die große Leistung Bereich von Forschung und Entwicklung.
der Großen Koalition war. Die war vollständig richtig.
Mich erschüttert schon, zu erleben, wie immer mehr Ich glaube, dass ein Thema besonders unterschätzt
Kollegen von der SPD jetzt mit dieser Großtat hadern. wird, nämlich die Energiepolitik.
(Zurufe von der SPD) (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, das wird unterschätzt!)
– Kommen Sie zum Beispiel in die Enquete-Kommis-
sion Wirtschaftswachstum. Da können Sie erleben, was Die Energie – insbesondere die Kosten für Energie – ist
unstrittig ein Standortfaktor. Deshalb haben wir bei der
(B) dazu von SPD-Kollegen gesagt wird. (D)
Novellierung des EEG die Entlastung der energieintensi-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ven Industrie ganz nach vorne gestellt.
NEN]: Schlaue Dinge!)
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die haben Angst, dass eine nachfrageorientierte Wirt- NEN]: Genau! 6 000 Unternehmen werden
schaftspolitik, also staatlich angestoßene Nachfrage, so freigestellt!)
nicht mehr funktioniert. Ich kann Ihnen zu Ihrer Beruhi-
gung sagen: Die hat auch vorher schon nicht funktio- Der Kollege Lindner von der FDP hat vorhin deutlich
niert, alldieweil die Staaten dann nicht in der Lage sind, gemacht, wie die Situation hinsichtlich der Industrie-
in guten Zeiten ordentlich zu sparen. preise aussieht: 7,5 Cent im europäischen Ausland, in
den USA gar 4 Cent und in Deutschland annähernd
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 12 Cent. Das ist die Realität. Deshalb müssen wir dafür
NEN]: Das ist aber eine unzulässige Verkür- Sorge tragen, dass die Belastungen, die unstrittig aus der
zung der Debatte! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Energiewende kommen, nicht zulasten der Wettbewerbs-
Das ist sehr verzerrt!) fähigkeit unserer Industrie gehen.
Dazu muss man sagen: Sie, meine Damen und Herren, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bereuen Dinge, die Sie richtig gemacht haben: die NEN]: Sie subventionieren, und damit steigen
Agenda 2010, Hartz IV, Rente mit 67 und die Schulden- die Strompreise! Das ist das Ergebnis!)
bremse. Ich als Katholik kann Ihnen sagen: Sie sollten
Sünden bereuen, nicht lichte Momente. – Subventionieren ist eine komplett andere Diskussion.
Wenn Ihr Anliegen eine Deindustrialisierung ist, ein Ver-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der treiben der Industrie aus Deutschland, nur damit das
CDU/CSU und der FDP) Klimaschutzziel unter statistischen Gesichtspunkten er-
reicht wird, dann sind wir an der Stelle auf einem fal-
Doch zurück zur Schuldenkrise. Damals, als Deutsch-
schen Weg. Ich halte es für richtig, dass wir sagen: Wir
land den Euro eingeführt hat, haben wir unseren Real-
machen die Energiewende. Wir unterhalten uns aber
zinsvorteil – das war ein klarer Wettbewerbsvorteil –
auch verantwortungsvoll über die Frage, wer welche
aufgegeben. Wir haben geglaubt, dass andere Staaten
Lasten tragen muss und tragen kann. Aus meiner Sicht
dann, wenn wir diesen Wettbewerbsvorteil nicht mehr
gehört die energieintensive Industrie nicht dazu.
haben und wenn sie sich günstig finanzieren können,
dieses Geld in Investitionen stecken würden. Die Reali- Vielfach andiskutiert wurde die Frage, wie sich die
tät war eine andere. Sie haben Schulden gemacht und Einspeisung bei Photovoltaik entwickelt hat. Die Proble-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17057
Dr. Georg Nüßlein
(A) matik, die das EEG kostenseitig bringt, ist im rot-grünen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
Ausgangsgesetz angelegt. Sie sind mit der Photovoltaik neten der FDP)
zu früh an den Markt gegangen, als das noch ein Thema
von Forschung und Entwicklung war. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
(Iris Gleicke [SPD]: Sagen Sie doch einfach, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
dass Adam und Eva schuld sind!) ren von der Opposition! Sie haben natürlich ein schwe-
res Amt; das kann ich verstehen. Ihr Kollege
Sie waren im Jahr 2004 bei einer 30-kW-Dachanlage bei Müntefering hat es einmal klar gesagt: Opposition ist
einer Einspeisevergütung von 57,4 Cent. Wir sind im Mist. – Nun müssen Sie mit finsterem Blick hier am
ersten Halbjahr des Jahres 2011 bei 28,74 Cent gewesen, Rednerpult stehen und alles hervorziehen, was auch nur
Tendenz sinkend. Das, was Sie gemacht haben, ist im Entferntesten negativ ist. Nicht ein einziges positives
falsch. Es wäre aber auch falsch, in einer Phase, in der Wort habe ich von Ihnen gehört.
sich die Preise massiv nach unten entwickeln – wir ha- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben eine
ben ein Instrument eingefügt, das als atmender Deckel schöne Krawatte! – Gegenruf der Abg. Elke
dafür sorgt, dass die Belastungen aus dem EEG von Jahr Ferner [SPD]: Das ist gelogen!)
zu Jahr drastisch sinken –, mit Schwung auf die Bremse
zu treten. Bei Ihnen geht es immer nur um dunkle Wolken und die
schlechte Zukunft, die uns bevorsteht.
Wir sollten uns vielmehr anderen Themen widmen,
nämlich insbesondere der Frage: Wie kann man aus dem Herr Heil, Sie verfügen doch sicherlich über moderne
bloßen Aufbau von Kapazitäten – das haben Sie mit dem Technologien und werden wahrscheinlich heute die
EEG angestoßen – eine Versorgung entwickeln? Tickermeldung gelesen haben, dass der Ifo-Geschäftskli-
maindex überraschend gestiegen ist.
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Unterhalten Sie sich mal mit Ihrem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Umweltminister!) Das heißt, dass sich das Geschäftsklima nach Einschät-
zung der deutschen Wirtschaft verbessert hat.
Die Vorschläge, die heute hier beispielsweise von der
Kollegin Nestle nicht zitiert, sondern nur behauptet wur- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das freut
den, sind für mich nicht erkennbar. Ich erkenne nur, wo mich!)
Sie überall sagen, dass es sinnlose und sinnvolle Infra- Es wäre gut gewesen, wenn Sie hier am Rednerpult da-
struktur gibt; sinnlos ist es dann, wenn Sie dagegen sind. rauf hingewiesen hätten, um etwas Positives in die Dis-
(B) Das ist ein Zusammenhang, der sich mir nicht erschließt. kussion einzubringen. (D)
Die Aufteilung zwischen einer guten grünen und einer
schlechten anderen Technologie ist überhaupt etwas, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
was nicht in ein technologiefreundliches Deutschland der FDP)
passt. Blicken wir in die Zukunft. Die perspektivische wirt-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schaftliche Entwicklung und die Entwicklung im Euro-
der FDP) Raum hängen sicherlich zusammen. Der Wirtschafts-
minister und die christlich-liberale Koalition tun genau
Ich bin auch erschüttert über das, was beispielsweise das Richtige. Sie haben vier Schwerpunkte im vorliegen-
zum Thema Luft- und Raumfahrttechnologie, zu EADS den Haushalt verankert. Meine Damen und Herren von
gesagt worden ist; denn das macht wieder einmal deut- der Opposition, Sie sind auf alle möglichen Themen aus-
lich, dass Sie sehr einseitig, geradezu mit einem Tunnel- gewichen, um nur nicht über den Haushalt sprechen zu
blick auf die sogenannten grünen Technologien fixiert müssen. Im Haushalt lassen sich jedenfalls vier Themen-
sind. Sie erkennen nicht, dass das zwar ein wichtiger blöcke finden.
Beitrag für das Wirtschaftswachstum in Deutschland ist
– das ist unstrittig –, aber dass es drum herum noch viele Erster Punkt: Unterstützung von Forschung und Tech-
andere Felder gibt, die wir alle miteinander bearbeiten nologie.
müssen und bei denen auch das Wirtschaftsministerium (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Verantwortung trägt. Ich meine, dass der Wirtschafts-
minister in dieser Hinsicht seiner Verantwortung gerecht Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil in diesen Berei-
wird und einen guten Job macht. chen und insbesondere in der Grundlagenforschung ge-
nau das geschaffen wird, was der deutschen Wirtschaft
Vielen herzlichen Dank. in den nächsten Jahren helfen wird, konkurrenzfähig zu
bleiben und noch bessere Produkte herzustellen. Sie un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) terschlagen einfach dieses extrem wichtige Kapitel im
Geschäftsbereich des Wirtschaftsministeriums.
Vizepräsident Eduard Oswald: Zweiter Punkt: Innovationsförderung. Ich muss Ihnen
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. – Nächster Redner den Unterschied zwischen Grundlagenforschung und
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Innovation nicht darlegen; den kennen Sie sicherlich. Sie
Andreas Lämmel. Bitte schön, Kollege Andreas hätten doch einen Satz über die Bedeutung des ZIM-Pro-
Lämmel. gramms für den deutschen Mittelstand verlieren können.
17058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Andreas G. Lämmel
(A) Gerade in den wirtschaftlich schwierigen Jahren 2008, Es war überhaupt niemand da, (C)
2009 und 2010 sind die Mittel für dieses Programm auf-
gestockt worden und konnten Unternehmen in Gesamt- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Blockflöten
deutschland von diesem Programm profitieren. Das ist der CDU!)
konkrete Politik, die den Unternehmen den Weg in die der den Ruin der Wirtschaft hätte auffangen können.
Zukunft erleichtert.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Treu-
Man muss leider feststellen, dass die Innovationskraft hand-Kriminalität! – Wolfgang Tiefensee
im Moment etwas abnimmt; denn die abgerufenen Mittel [SPD]: Tillich hätte das geregelt!)
aus dem ZIM-Programm sind gesunken. Mehr Geld
– danach rufen Sie ständig – ist also kein Wert an sich. Sie sollten dankbar sein, dass Tausende ostdeutsche Bür-
Vielmehr ist entscheidend, ob das Geld, das der Staat ger ihr Geschick in die eigenen Hände genommen ha-
ausgibt, sinnvoll angelegt wird. ben, ein Geschäft eröffnet haben und Unternehmer wur-
den.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Rainer Brüderle [FDP]: Richtig!)
Es ist nicht entscheidend, wie hoch ein Etat ist, sondern Sie sind für die Vermögenslage in Ostdeutschland
ob die eingestellten Mittel sinnvoll genutzt werden. Wir verantwortlich.
sind der Meinung, dass ausreichend Mittel für das ZIM- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Programm eingestellt sind, um der deutschen Wirtschaft
zu helfen. Da können Sie hier doch nicht scheinheilig erklären: Wir
haben leider keine Konzernzentralen im Osten. „Warum
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben wir denn keine Konzernzentralen, Herr Claus?“,
neten der FDP) frage ich Sie!
Dritter Punkt: Investitionsförderung. Hier geht es um (Rainer Brüderle [FDP]: Ja! – Dr. Dagmar
die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Enkelmann [DIE LINKE]: Treuhand-Krimina-
Wirtschaftsstruktur“, GRW. Das, was die Linke heute lität!)
wieder abgeliefert hat, ist ziemlich erbärmlich. Frau
Lötzer, angesichts Ihres Gesellschaftsmodells kann ich Weil Sie die Unternehmer enteignet haben und weil Sie
nur sagen: Sie reden manchmal wie ein Blinder von der die Unternehmer aus dem Land gejagt haben! Das sind
Farbe. doch die Ursachen!
(Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(B) Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Weil (D)
Sie saßen vor 1990 gut situiert im Westen, während sich sich Westunternehmer eine goldene Nase ver-
Ihre Brüder und Schwestern im Osten in volkseigenen dient haben!)
Betrieben abstrampeln mussten und dort zu nichts ge-
kommen sind. Diese hatten nach 1990 kein Geld, um zu Man braucht bloß einmal den Blick nach Zwickau zu
investieren, und haben heute noch lange nicht so viel richten. Ich erinnere an die hervorragende deutsche
Geld wie ihre Brüder und Schwestern im Westen. Nun Automobilindustrie. Audi ist ein sächsisches Unterneh-
jammern Sie herum und beklagen, dass die Wirtschafts- men; es ist vom Ursprung her kein bayerisches Unter-
entwicklung im Osten noch nicht das Niveau der Ent- nehmen. Sie und Ihre Genossen haben es aus dem Land
wicklung in Westdeutschland erreicht hat. gejagt. Deswegen wurde der Trabant gebaut. Das muss
man einfach immer mal wieder sagen, wenn man Ihr
In diesem Zusammenhang komme ich auf Herrn
ständiges Geleier hört. Das ist ja unerträglich.
Claus zu sprechen. Er war zu DDR-Zeiten Großfunktio-
när. Er war an vorderster Stelle in SED und FDJ – er war (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
überall dabei – und hat das System im Osten Deutsch- neten der FDP)
lands mitentwickelt.
Das respektiert einfach die Leistung nicht, die in Ge-
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hört! Hört!) samtdeutschland erbracht worden ist.
Diese Mitleidsarie Ostdeutschland, Herr Claus, (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: 21 Jahre nach der
Wende können Sie nicht mehr dazu sagen?)
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Unverschämtheit! –
Iris Gleicke [SPD]: Diese Passage Ihrer Rede Dafür steht die Investitionsförderung, über 5 Milliar-
werden wir verteilen!) den Euro Investitionsförderung. Damit sind betriebliche
Investitionen im Umfang von über 30 Milliarden Euro
ignoriert ganz einfach die gewaltige Aufbauleistung, die
nach 1990 erbracht wurde. angereizt worden. Es ist doch eine gewaltige Leistung,
die da erbracht worden ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!)
Alles hat eine Ursache. 1990 war der Kapitalstock in
Wir brauchen die Investitionsförderung noch, weil der
Ostdeutschland völlig zerstört. Sie haben die Unterneh-
mer aus dem Land gejagt oder enteignet. Kapitalstock Ost eben nicht dem Kapitalstock West ent-
spricht. Über die Ursachen habe ich geredet. Also, es ist
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!) unerträglich, was Sie hier bieten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17059
Andreas G. Lämmel
(A) (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Unerträglich ist Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
das, was Sie sagen!) Er hat die Zwischenfragen – auch der Kollege
Hubertus Heil wollte noch eine Zwischenfrage stellen –
Wir können nur hoffen, dass das Gesellschaftsmodell,
nicht mehr akzeptiert.
das Sie wollen, in Deutschland keine Chance mehr hat,
verwirklicht zu werden. (Zurufe von der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Dann eine Kurzintervention.
Der vierte Punkt beim Haushalt des Wirtschaftsminis- Das Wort zu einer Kurzintervention erhält unser Kol-
ters ist das Thema Fachkräfte. Hier haben wir das glei- lege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Heil.
che Problem. Warum hat sich denn in Ostdeutschland
1990 die Geburtenrate sozusagen halbiert? Warum (Zuruf von der FDP: Wir hatten noch nicht ge-
denn? Weil Sie ein ruiniertes Land hinterlassen haben, nug Heil heute!)
das wieder aufgebaut werden musste! Dafür, dass da die
Leute erst einmal anderes zu tun hatten, als die Gebur- Hubertus Heil (Peine) (SPD):
tenrate hochzuhalten – sie mussten ihre eigene wirt- Herr Kollege Lämmel, ich habe mich wegen Ihrer
schaftliche Existenz sichern –, hat man Verständnis. letzten Bemerkung zum VW-Gesetz zu Wort gemeldet.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie das VW-Gesetz
Herr Claus, noch eines: Schon zu sozialistischen Zei-
für aus der Zeit gefallen und für etwas halten, wofür man
ten war in Ostdeutschland, in der DDR, die Sterberate
nicht mehr kämpfen sollte? Dann will ich Ihnen an die-
höher als die Geburtenrate.
ser Stelle ganz deutlich sagen: Das ist eine ganz wichtige
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So war das!) Nachricht für die Menschen bei mir in Niedersachsen in
einer Zeit, in der wir – Gott sei Dank gemeinsam mit dem
Diese demografische Entwicklung hat also schon lange CDU-Ministerpräsidenten McAllister, mit dem Betriebs-
vorher angefangen. Deswegen stecken wir jetzt natürlich rat von Volkswagen, mit dem Unternehmen an sich – uns
in der Kalamität, dass sich die demografische Entwick- für dieses historisch, aber auch praktisch bewährte VW-
lung zuerst in Ostdeutschland bemerkbar macht. Das Gesetz einsetzen, das den Einfluss von Kleinaktionären
Thema Fachkräfteentwicklung ist daher gerade in Ost- und der Belegschaft auf Standortfragen regelt.
deutschland ein sehr wichtiges.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da geht es
Abschließend zu Ihnen, Herr Duin, weil Sie heute doch um den Staat, nicht um die Kleinaktio-
eine so schwache Rede abgeliefert haben, wie ich das näre! Das ist doch lächerlich!)
(B) von Ihnen noch nie erlebt habe. Eine Sache fiel mir auf. (D)
Ich komme nicht aus Niedersachsen – zum Glück –; ich Wir haben Ihnen in der Großen Koalition abgerungen,
komme aus Sachsen, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs einen
Anlauf zu nehmen, dieses bewährte, richtige und not-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) wendige VW-Gesetz hinzubekommen. Wir erleben jetzt,
das einen ausgeglichenen Haushalt hat. Das müssen Sie dass das Gesetz von Wirtschaftsradikalen in der Euro-
erst einmal nachmachen: ein ausgeglichener Haushalt in päischen Kommission, die nichts gelernt haben, erneut
Ostdeutschland, Herr Duin! attackiert wird. Sie fallen nicht nur der niedersächsi-
schen Landesregierung, sondern vor allen Dingen den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Menschen in meiner Heimatregion und den bei Volkswa-
gen Beschäftigten in den Rücken, indem Sie hier solche
Eine Sache müssen Sie mir gelegentlich einmal erklä-
Reden halten.
ren. Da gibt es den großen Weltkonzern Volkswagen, der
auch in Sachsen stark verankert ist; darüber sind wir Herr Lämmel, entweder haben Sie vom VW-Gesetz
auch sehr froh. Sie sagen jetzt: Wir brauchen das VW- keine Ahnung, oder, was schlimmer wäre, Sie sind wirk-
Gesetz noch. – Volkswagen will der weltgrößte Auto- lich der Meinung, die Sie eben geäußert haben. Ich
bauer werden. Volkswagen verdient Milliarden, hat Por- wollte Ihnen die Gelegenheit geben, mir bei diesem
sche, Audi, ganz viele Marken integriert. Ein weltweiter Thema eine einfache Frage zu beantworten – vielleicht
Konzern soll mit dieser Beteiligung von Niedersachsen können Sie das ja richtigstellen; das würde uns helfen –:
in der Zukunft existieren. Ich denke, Volkswagen ist Sind Sie für oder gegen das VW-Gesetz? Meine Bitte
stark genug, auch weiterhin – – ist: Versuchen Sie, mit Ja oder Nein darauf zu antwor-
ten. Dass der Wirtschaftsminister dazu geschwiegen hat,
Vizepräsident Eduard Oswald: ist – das hat mein Kollege Garrelt Duin vorhin gesagt –
Wollen Sie noch Zwischenfragen zulassen, zunächst an sich schon eine Frechheit, weil wir Druck in Brüssel
die des Kollegen Garrelt Duin? brauchen, um dieses wichtige Gesetz durchzubekommen
und nicht Gefahr zu laufen, dass es gekippt wird. Aber
da Sie den Eindruck erweckt haben, dass Sie uns, den
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Menschen in Niedersachsen und an anderen Standorten
Nein, meine Redezeit ist abgelaufen, Herr Präsident. in Deutschland, den bei Volkswagen Beschäftigten, in
Vielen Dank. den Rücken fallen, sollten Sie das jetzt klarstellen.
Meine Frage lautet also: Sind Sie für oder gegen das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) VW-Gesetz? Stellen Sie das bitte klar.
17060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner Die Linke sowie zwei Änderungsanträge der Fraktion (C)
[Berlin] [FDP]: Die Frage haben wir jetzt alle Bündnis 90/Die Grünen vor.
verstanden! Auch Herr Lämmel war intellek-
tuell dazu in der Lage! – Gegenruf der Abg. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Iris Gleicke [SPD]: Den Eindruck hatten wir die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Wi-
nicht, Herr Lindner!) derspruch erhebt sich nicht. Dann ist dies so beschlos-
sen.
Vizepräsident Eduard Oswald: Bevor ich die Aussprache eröffne, darf ich die Kolle-
Das Wort zur Entgegnung hat Kollege Andreas ginnen und Kollegen bitten, die Plätze einzunehmen.
Lämmel.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sitzen
schon, Herr Präsident!)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
Wir brauchen keinen Druck, wir brauchen gute Argu- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat in unserer
mente, wenn wir über dieses Thema diskutieren. Sie dis- Debatte als Erste für die Fraktion der Sozialdemokraten
kutieren darüber auf eine Art und Weise, als wenn sozu- unsere Kollegin Bettina Hagedorn. – Bitte, Frau Kolle-
sagen das Wohl und Wehe der Menschen in gin Bettina Hagedorn.
Niedersachsen vom VW-Gesetz abhinge. Diese Verbin- (Beifall bei der SPD)
dung, die Sie immer wieder versuchen unterschwellig
herzustellen, wird der Diskussion überhaupt nicht zu-
träglich sein. Im Gegenteil: Sie findet auf einer Ebene Bettina Hagedorn (SPD):
statt, die mit dem Gesetz eigentlich nichts zu tun hat. Frau Ministerin! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wer schon länger hier im Plenum sitzt
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
und gerade die Aussprache zum Bereich Wirtschaft ver-
CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
folgt hat, konnte wieder hören, wie nicht nur der Kollege
Sind Sie für oder gegen das Gesetz?)
Toncar erneut der SPD unterstellen wollte, dass wir auf
der einen Seite immer mehr Ausgaben fordern und auf
Vizepräsident Eduard Oswald: der anderen Seite keine Vorschläge zur Konsolidierung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die machen.
Aussprache.
(Florian Toncar [FDP]: Das ist doch so!)
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 09
(B) – Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – Weil die Menschen oben auf der Tribüne und vor dem (D)
in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsan- Fernseher das, im Gegensatz zu Ihnen, nicht wissen kön-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7829 vor, nen, will ich eingangs darauf hinweisen, dass es hier zu
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen den Beratungen des Bundeshaushaltes einen Antrag der
Änderungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer SPD mit der Überschrift „Pakt für Bildung und Ent-
stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. schuldung“ gibt, den Sie möglicherweise noch nicht ge-
Enthaltungen? – Fraktionen der Sozialdemokraten und lesen haben. Er beinhaltet, dass wir für 2012 Vorschläge
Bündnis 90/Die Grünen. Der Änderungsantrag ist abge- in den Haushaltsausschuss eingebracht haben, die solide
lehnt. gegenfinanziert sind und mit denen wir etwa 5 Milliar-
den Euro unter Ihrer Nettokreditaufnahme bleiben. Auch
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel- für die vorgesehenen Mehrausgaben haben wir eine Ge-
plan 09 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? – genfinanzierung.
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthal- Der Präsident hat schon auf unseren Änderungsantrag
tungen? – Keine. Der Einzelplan 09 ist angenommen. hingewiesen. Er sieht im Bereich Arbeit und Soziales
Mehrausgaben in Höhe von 1,5 Milliarden Euro für ak-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun Tages- tive Arbeitsmarktpolitik vor, die wir im Chor nicht nur
ordnungspunkt II.15 auf: mit den anderen Oppositionsparteien, sondern auch mit
den Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden und den Ge-
Einzelplan 11
werkschaften fordern.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
– Drucksachen 17/7111, 17/7123 – (Beifall bei der SPD)

Berichterstattung: Es ist also sehr wohl möglich, mehr auszugeben,


Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) wenn man intelligent gegenfinanziert. Ich möchte Ihnen
Bettina Hagedorn dazu nur ein Beispiel nennen. Vielleicht haben Sie von
Dr. Claudia Winterstein der CDU sich in das Thema auf Ihrem Leipziger Partei-
Dr. Gesine Lötzsch tag ein bisschen eingearbeitet. Wenn man in Deutschland
Priska Hinz (Herborn) einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro einführen
würde, würde das zu Minderausgaben und zu Mehrein-
Zum Einzelplan 11 liegen ein Änderungsantrag der nahmen in der Summe von über 3,25 Milliarden Euro
Fraktion der SPD, zwei Änderungsanträge der Fraktion führen. Das wäre ein vernünftiger Haushaltsbeitrag,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17061
Bettina Hagedorn
(A) (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] machen. Die FDP nennt das „eine erfreulich schmerz- (C)
[SPD]) lose Umsetzung“. Das ist ein vergiftetes Lob.
der nicht auf dem Rücken von Menschen ausgetragen, Die Kanzlerin hat noch vor einem Jahr gesagt, das
sondern sich zu ihren Gunsten auswirken würde. große Sparpaket sei ein einmaliger Kraftakt. Herr
Westerwelle hat ihr damals sekundiert, es sei ein ausge-
(Beifall bei der SPD) wogenes, faires und gerechtes Sparpaket. Nun wollen
Liebe Frau Ministerin, ich kann es Ihnen nicht erspa- wir einmal schauen, was daraus geworden ist.
ren: Wir sprechen hier seit über einem Jahr über das so- Wahr ist, dass Sie im Bereich der Rentenversicherung
genannte Sparpaket der Regierung. Das hat auch viel mit kürzen. Darauf will ich zunächst eingehen. Zum 1. Ja-
dem Haushalt zu tun. Der Kollege Toncar hat noch ein- nuar nächsten Jahres senken Sie ja den Rentenversiche-
mal gesagt, Sie als Regierung würden angeblich 80 Mil- rungsbeitrag um 0,3 Prozentpunkte auf 19,6 Prozent.
liarden Euro bis 2014 kürzen, um die Schuldenbremse Wahrscheinlich werden Sie gleich verkünden, dass das
einzuhalten. Das ist natürlich ein absoluter Fake – wie eine gute Nachricht ist. Aus Sicht der Beitragszahler ist
wir inzwischen alle wissen –, das natürlich eine gute Nachricht, gar keine Frage.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Von wegen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Renten wer-
den trotzdem erhöht! Stellen Sie sich das mal
weil der größte Teil des Beitrags von 51 Milliarden vor, Frau Hagedorn!)
Euro, den Sie in den Bereichen Verwaltung, also durch
Entbürokratisierung, und Wirtschaft erbringen wollen, Sie werden wahrscheinlich so tun, als sei das der Erfolg
nicht kommen wird. Mit diesem sogenannten Sparpaket, von Schwarz-Gelb. Das ist aber nicht wahr. Wahr ist,
das von vornherein unsozial und ungerechtfertigt hoch dass diese Absenkung des Rentenbeitrags laut Gesetzes-
angesetzt war, kürzen Sie zulasten der Menschen, die in lage automatisch erfolgt und auf das Rentenversiche-
diesem Land arbeitslos sind, der Langzeitarbeitslosen, rungs-Nachhaltigkeitsgesetz vom Juli 2004 unter Rot-
aber auch der Bundesagentur für Arbeit und ihrer Bemü- Grün zurückgeht.
hungen um eine aktive Arbeitsmarktpolitik.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Gesetzen
Ich möchte allen Kollegen noch einmal zeigen, was aus dieser Zeit wollen Sie doch nichts mehr zu
das, was Sie vor einem Jahr mit Ihrem Haushaltsbegleit- tun haben!)
gesetz beschlossen haben, bedeutet. Richtig ist auch, dass die Rentenkasse in Wahrheit
(Die Rednerin hält ein Schaubild hoch.) sehr viel praller gefüllt sein könnte,
(B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Mindest- (D)
Knapp 40 Prozent Ihrer – in Tüddelchen – Einspar-
summe soll sich in dem Bereich Arbeit und Soziales ab- lohn!)
spielen. wenn Sie nämlich nicht mit diesem Sparpaket zulasten
Die Kollegen aus der Koalition haben immer so getan der Langzeitarbeitslosen einen schamlosen Griff in die
und tun immer noch so, als ob es bei Ihrem Etat in Höhe Rentenkasse getan hätten. Bis Ende 2012 werden der
von 126,5 Milliarden Euro, der ungefähr 41 Prozent des Rentenkasse alleine aus diesem Grund 4,2 Milliarden
Gesamtetats ausmacht, super gerecht sei, wenn er auch Euro fehlen.
40 Prozent der Kürzungen schultere. Mit dieser Mär will (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr
ich einmal aufräumen. richtig! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat
die SPD doch auch gemacht!)
Sie vernebeln bei Ihren Kürzungen natürlich, dass al-
lein zwei Drittel Ihres Etats – das ist 2012 die stolze Das ist kein Sparen, sondern das ist ein Verschieben zu-
Summe von 84 Milliarden Euro – durch den Zuschuss lasten der Beitragszahler.
zur Rente und Grundsicherung gesetzlich gebunden
sind. Damit können Sie – dabei ist es übrigens egal, wer (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
gerade Deutschland regiert – in diesem Bereich in keins- Unglaublich! Sie sitzen im Glashaus!)
ter Weise kürzen, sparen und konsolidieren. Damit kon- Aktive Arbeitsmarktpolitik, bei der Sie so starke Kür-
zentrieren sich die Kürzungen ausschließlich auf die zungen vornehmen, ist aus Sicht der SPD Bildungspoli-
40 Milliarden Euro, die für die aktive Arbeitsmarktpoli- tik. Angeblich nehmen Sie die Bildungspolitik ja so
tik vorgesehen sind, und das macht die soziale Schief- ernst. In Wahrheit versagt Ihre Bildungspolitik aber des-
lage in diesem Bereich aus. halb, weil sie auf dem volkswirtschaftlich zentralen Feld
(Beifall bei der SPD) der Arbeitsmarktpolitik mit null ankommt.
Sie machen diesen Bereich wieder zum zentralen
Frau Ministerin, es ist schon ganz erstaunlich, dass
Steinbruch. Die brachialen Kürzungen lassen den Mitar-
Sie noch vor wenigen Wochen im Berichterstatter-
beitern in der Bundesagentur für Arbeit und in den Job-
gespräch diese Kürzungen, auf die ich Sie angesprochen
centern keine Chance zur erfolgreichen Vermittlung und
habe, als „notwendig, verständlich und akzeptabel“
Qualifizierung, weil Sie das Budget – den Eingliede-
bezeichnet haben. Das Lob der FDP, dass Sie als
rungstitel – ausquetschen wie eine Zitrone.
Arbeitsministerin dieses Sparpaket in Ihrem Bereich
brav und widerstandslos exekutieren, sollte Sie stutzig (Beifall bei der SPD)
17062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bettina Hagedorn
(A) Die Wahrheit ist doch: Im Jahr 2011 gab es bereits ein mit Transferleistungen abfertigen. Das ist doch wohl lo- (C)
Minus von 2 Milliarden Euro. Das war aber nur die gisch und erschließt sich eigentlich jedem sofort.
Spitze des Eisbergs. Im Jahr 2012 kürzen Sie in diesem
Bereich das Doppelte, nämlich 4 Milliarden Euro, und (Beifall bei der SPD – Katja Mast [SPD]: End-
das wollen Sie laut Sparpaket sogar noch steigern, und lich sagt’s mal jemand!)
zwar auf 5 Milliarden Euro pro Jahr ab 2013. Ich will darauf eingehen, dass sich das sogenannte
Was heißt das? Das bedeutet für die Langzeitarbeits- Sparpaket inzwischen komplett verändert hat. Es sieht
losen und ihre Familien ein Minus von 2,3 Milliarden nämlich folgendermaßen aus.
Euro in 2012; denn Sie kürzen nicht nur bei der Qualifi- (Die Rednerin hält zwei Schaubilder hoch)
zierung, sondern Sie haben 2011 bereits das Elterngeld,
den Heizkostenzuschuss und das Übergangsgeld gestri- Das ist ein Jahr nach Ihrem Sparpaket:
chen, und zwar komplett. Diese Kürzungen werden sich (Die Rednerin hält das eine Schaubild hoch)
im Jahr 2013 auf 4,3 Milliarden Euro erhöhen und 2014
sogar auf 5,8 Milliarden Euro. Alles, was hier gelb ist, ist der Konsolidierungsbeitrag,
der eigentlich von Wirtschaft und Verwaltung kommen
Was geschieht parallel bei der Bundesagentur für Ar- sollte und nicht kommt. – Ich will erläutern, was sich
beit? In die Finanzkasse der Bundesagentur für Arbeit verändert hat:
greifen Sie 2012 mit einem Minus von 3,7 Milliarden
Euro ein. 2014 wird dieses Minus sogar 7 Milliarden (Die Rednerin hält das andere Schaubild hoch –
Euro pro Jahr ausmachen. Wie soll denn dann bei den Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ich sehe da nur
Jobcentern und bei der Bundesagentur für Arbeit über- eine klare Mehrheit von Schwarz-Gelb!)
haupt noch vernünftige Arbeit geleistet werden?
Schon heute, nach einem Jahr, sehen wir, dass es defini-
Wie soll die Bundesagentur wieder eine Rücklage tiv nicht zu diesem Konsolidierungsbeitrag kommen
aufbauen, wenn das nicht jetzt, in konjunkturell besseren wird. – Sie haben bisher keine Vorschläge gemacht, wel-
Zeiten, geschieht? Die Bundesagentur für Arbeit hatte chen Beitrag Wirtschaft und Verwaltung stattdessen leis-
eine Rücklage von 18 Milliarden Euro, als wir im Jahr ten sollen. In Wahrheit ist es so: Die Gewichtung der
2008 in die Krise gerieten. Dieser Rücklage haben wir es Anteile des Sparpakets hat sich verschoben. Von Ihren
zu verdanken, dass Deutschland unter der Großen Koali- Einsparungen sind nur noch 51 Milliarden Euro übrig
tion so erfolgreiche Arbeitsmarktinstrumente umsetzen geblieben. Dadurch hat sich natürlich der Anteil des
und finanzieren konnte wie das Kurzarbeitergeld, Konsolidierungsbeitrags des Bereichs Arbeit und Sozia-
les enorm vergrößert, nämlich auf aktuell 56,5 Prozent.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unter anderem!)
(B) (D)
Frau von der Leyen, ich will Ihnen sagen: Sie konnten
von dem Ihre Regierung jetzt profitiert, an das Sie aber
sich als Arbeits- und Sozialministerin – Sie sind für ein
gleichzeitig die Axt anlegen.
zentrales Politikfeld zuständig – in diesem Kabinett
(Beifall bei der SPD) nicht durchsetzen; da hatten Sie keinen Erfolg. Das ist
für die Menschen, die auf Ihre Unterstützung und Ihr En-
Die Bundesagentur setzt zum einen die sogenannte
gagement angewiesen gewesen sind, dramatisch. An die-
Instrumentenreform um, mit der in Wahrheit der Kahl-
ser Stelle hätten wir alle uns Ihren Erfolg innerhalb des
schlag nur gesetzlich unterlegt wird. Zusätzlich können
Kabinetts gewünscht. Sie sehen, wie viel schlimmer es
– Herr Weise hat das schon vor einem halben Jahr ange-
nach einem Jahr geworden ist. Sie haben noch ein wenig
kündigt – 8 000 bis 10 000 Mitarbeiter der Bundesagen-
Zeit, das Lenkrad herumzureißen. Allerdings sehen wir
tur nicht weiterbeschäftigt werden; Herr Brüderle hat
im Moment nicht, dass Sie einen anderen Weg einschla-
sich sogar darauf verstiegen, zu sagen, es müssten
gen wollen.
10 000 bis 15 000 Mitarbeiter sein. Es ist ein Rätsel, wie
die Menschen in Deutschland, die arbeitslos sind – es Vor diesem Hintergrund sage ich: Dieser Haushalt ist
gibt einen Fachkräftemangel, aber auch über 2 Millionen ein schlechter Haushalt für die Arbeitslosen in Deutsch-
Langzeitarbeitslose –, eigentlich erfolgreich vermittelt land und für die Bundesagentur für Arbeit. Wir werden
werden sollen, wenn kein Geld mehr in der Kasse ist und ihn ablehnen.
die Mitarbeiter, die das umsetzen sollen, nicht mehr da
sind. (Beifall bei der SPD)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo fängt denn Vizepräsident Eduard Oswald:


bei Ihnen „kein Geld“ an?)
Vielen Dank, Frau Kollegin Hagedorn. – Jetzt spricht
Vor diesem Hintergrund spreche ich das Thema Bil- für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Axel
dung an. 900 000 Langzeitarbeitslose haben verschie- Fischer. Bitte schön, Kollege Axel Fischer.
dene Vermittlungshemmnisse: kein Schulabschluss,
keine abgeschlossene Berufsausbildung, teilweise wei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tere Vermittlungshemmnisse. Wenn man diese Men- neten der FDP)
schen nicht auf Dauer abschreiben will, ist dort nicht we-
niger, sondern mehr Geld erforderlich. Es ist Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU):
volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, zu sagen: Diese Men- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
schen schreiben wir ab. – Wir wollen sie auf Dauer nicht Bundeshaushalt 2012, über den wir heute debattieren, ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17063
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
(A) nach überwundener Wirtschafts- und Finanzkrise ein Atmen gibt. Damit haben sie Spielräume für eigene Ini- (C)
weiterer Schritt zurück auf den Konsolidierungspfad. tiativen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
neten der FDP) Wir decken nicht mit viel Geld und in der Folge mit
Mit dem frischen Wind der wirtschaftlichen Gesundung noch mehr Schulden strukturelle Probleme zu, sondern
im Rücken, befreit von bremsendem Ballast und mit wir haben einerseits die der Wirtschafts- und Finanzkrise
neuen Segeln im arbeitsmarktpolitischen Bereich, sind geschuldeten akuten Missstände und Ungleichgewichte
wir auf dem besten Weg, die krisenhaften Untiefen des am Arbeitsmarkt beseitigt und andererseits – darauf
Jahres 2009 hinter uns zu lassen. Bevor wir jedoch freies kommt es an – die drängenden Probleme in unserer Ge-
Fahrwasser erreichen, müssen wir noch gefährliche sellschaft – dazu zählen insbesondere der demografische
Klippen umschiffen, an denen andere Schiffe in Europa Wandel und die langjährig erfolgte überzogene staatliche
derzeit zu zerschellen drohen. Ausgabenpolitik – beherzt und tatkräftig angepackt. Im
Ergebnis ist die Zahl der Arbeitslosen auf deutlich unter
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Und die 3 Millionen gesunken. Wir feiern mit weit mehr als
SPD muss umschifft werden!) 40 Millionen Beschäftigten neue Beschäftigungsre-
Um Schiffbruch zu vermeiden und um unser Staatsschiff korde, und das Wirtschaftswachstum hat in diesem Jahr
zu stabilisieren, nehmen wir daher gemäß der Schulden- 3 Prozent erreicht. Das sind Erfolge, die wir zu Recht auf
bremse Fahrt weg. unsere Fahnen schreiben.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
GRÜNEN]: Das ist aber ganz schlecht!) Angesichts dieser Entwicklungen wäre es wenig sinn-
Damit bringen wir perspektivisch auch unseren Arbeits- voll gewesen, Frau Kollegin Hagedorn, das Niveau des
und Sozialhaushalt ins Lot, in ein nachhaltiges Gleichge- noch teilweise von der Krise geprägten Haushaltes 2011
wicht. festzuschreiben. Es wäre insbesondere auch deshalb
nicht sinnvoll gewesen, weil ein beachtlicher Teil der für
Wir wollen 2012 im Einzelplan 11 – Bundesministe- 2011 vorgesehenen Mittel aufgrund der guten Entwick-
rium für Arbeit und Soziales – knapp 126,5 Milliarden lung nicht abgerufen werden musste. Das Jahr 2011 ist
Euro ausgeben. Das sind gut 41 Prozent des Bundes- viel erfreulicher gelaufen, als viele es erhofft hatten und
haushaltes. Es sind aber auch rund 5 Milliarden Euro andere es heute darstellen.
weniger als dieses Jahr. Diese Einsparungen von knapp
4 Prozent sind möglich trotz des geplanten Anstiegs der Im Lichte einer erheblich verbesserten Arbeitsmarkt-
(B) Hartz-IV-Regelsätze und trotz der 3,3 Milliarden Euro lage mit immer weniger Langzeitarbeitslosen können (D)
mehr für Zuschüsse für die Grundsicherung im Alter, zum Beispiel die für das kommende Jahr geplanten Aus-
Leistungen an die Künstlersozialkassen und die Renten- gaben für Hartz IV gegenüber dem Ansatz für das lau-
versicherungen. Die Ausgaben für die Rente und die fende Jahr um 800 Millionen Euro auf nunmehr
Grundsicherung im Alter wachsen damit von 80,7 auf 19,6 Milliarden Euro gesenkt werden. Wenn die Bundes-
knapp 84 Milliarden Euro und machen zwei Drittel des agentur für Arbeit mit ein bisschen Glück dieses Jahr
Arbeits- und Sozialhaushaltes aus. Das zeigt, wie wich- ohne Bundeszuschuss auskommt und mit einer schwar-
tig uns das Wohlergehen auch unserer älteren Generation zen Null schließen kann, ist das nicht der Beleg für die
ist. positive Wirkung des wirtschaftlichen Aufschwungs auf
die Entwicklung des Arbeitsmarktes, nein, es ist ein Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dienst der Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit un-
ter Führung von Herrn Weise und der kommunalen Mit-
Weniger Ausgaben und mehr Leistungen für die Men-
arbeiter in Bereichen der Arbeitsvermittlung.
schen – das hört sich für manche nach der Quadratur des
Kreises an. Das ist es aber mitnichten. Es ist vielmehr
das Resultat der intelligenten, wachstumsorientierten Vizepräsident Eduard Oswald:
Politik der christlich-liberalen Regierungskoalition und Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischen-
der von ihr angestoßenen positiven Entwicklung, insbe- frage unserer Kollegin Mast?
sondere auch auf dem Arbeitsmarkt.
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU):
Das Erfolgsrezept ist einfach. Unsere christlich-libe-
rale Koalition orientiert sich weniger an der Maximie- Nein, das gestatte ich nicht.
rung staatlicher Umverteilung. Es geht uns schlicht und
einfach um konkrete Hilfe für die Betroffenen. Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau Kollegin, Sie haben es gehört. – Herr Kollege,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben wieder das Wort.
Der Bund übernimmt zum Beispiel mit der Bereitstel-
lung von Kosten für Unterkunft und Heizung im Bun- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU):
deshaushalt Leistungen in Höhe von 5 Milliarden Euro. Die Bundesagentur und ihre Mitarbeiter haben in ei-
Er entlastet so Länder und Kommunen nachhaltig. Das nem jahrelang andauernden wechselhaften und vielfach
ist gegenüber 2011 ein Zuwachs von 1,4 Milliarden unbequemen Erprobungsprozess an der Optimierung der
Euro, der den Städten und Gemeinden wieder Luft zum Strukturen zur Vermittlung von Arbeitslosen mitgewirkt.
17064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)


(A) Sie nutzen die entscheidenden Freiräume im Interesse Ich danke an dieser Stelle unseren Kolleginnen und (C)
der Arbeitssuchenden. Sie haben erheblichen Anteil da- Kollegen, besonders der Hauptberichterstatterin Bettina
ran, dass die Zahl der Arbeitslosen heute so niedrig ist Hagedorn, wie auch der Bundesregierung, namentlich
wie zuletzt in den 90er-Jahren und dass die Vermittlung Frau Ministerin Dr. von der Leyen und Staatssekretär
von Langzeitarbeitslosen immer besser wird. Wenn die Fuchtel, herzlich für die gute Zusammenarbeit. So ist es
Krise am Arbeitsmarkt überwunden ist, wenn die BA im in den parlamentarischen Beratungen in den vergange-
kommenden Jahr keine Schulden machen muss, dann nen Monaten möglich geworden, den ohnehin schon gu-
entlastet das auch den Bundeshaushalt. Wir können dann ten Haushaltsentwurf zu einem durch und durch zu-
weiter weg von den Schuldenklippen navigieren und er- kunftsfähigen Werk zu formen. Er bildet den Erfolg
folgreich dem von Finanzminister Schäuble beschriebe- unserer wachstumsorientierten Politik ab und ist eine so-
nen Sparkurs hin zu einem ausgeglichenen Bundeshaus- lide Grundlage für neue Reformschritte.
halt folgen. Sie sehen: Eines greift bei uns ins andere, Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass die
und alles zusammen wirkt zum Wohle der Menschen. christlich-liberale Koalition mit Frau Bundesministerin
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. von der Leyen weiterhin als Modernisierer an der
Spitze der zukunftsfähigen Entwicklung unseres Ar-
Wir haben viele Langzeitarbeitslose in den letzten beits- und Sozialwesens steht, und wir mit Fug und
Jahren in Arbeit gebracht. Was uns dabei geholfen hat Recht behaupten können: Wo wir sind, ist vorne.
und was wir deshalb weiter ausbauen wollen, ist eine Herzlichen Dank.
nach vorne gerichtete Arbeitsmarktpolitik, weg vom
Versorgungsgedanken hin zum Aktivierungsgedanken, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
weg von Standardisierung hin zur Differenzierung, weg
von anonymer Zentralverwaltung hin zu konkreter Hilfe Vizepräsident Eduard Oswald:
vor Ort. Darauf kommt es an. Vielen Dank, Kollege Fischer. – Zu einer Kurzinter-
vention hat sich unsere Kollegin Katja Mast gemeldet.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bitte schön, Frau Kollegin Katja Mast.
Wir reagieren in vielen Bereichen nicht mehr auf
Drängen spürbarer Notstände, sondern wir agieren. Katja Mast (SPD):
Durch das Rating bei den Jobcentern, durch Jobmonito- Herr Kollege Fischer, die Kollegin Hagedorn hat vor-
ring, durch die Arbeitskräfteallianz, durch „Das Demo- hin klargemacht, dass die vorgesehenen Kürzungen von
graphie Netzwerk“ und digitale Wegweiser bis hin zur 26,5 Milliarden Euro bei der Bundesagentur für Arbeit
(B) Lösung des berühmten Themas „Dachdecker mit 67“ keine konjunkturellen – zum Beispiel, weil wir jetzt (D)
schaffen wir Strukturen für morgen, um die Probleme weniger Arbeitslose haben –, sondern strukturelle Kür-
anzugehen und zu lösen. zungen sind. Das heißt, die Kürzungen werden vorge-
nommen, ganz egal, wie sich die Arbeitslosenzahl entwi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ckelt. Das ist der Skandal dieser Politik: Sie orientieren
sich nicht an der Konjunktur, sondern Sie kürzen struk-
Es geht uns um gute Arbeit. Wir wissen um die Be- turell. Diese strukturellen Kürzungen bedeuten für die
lange unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Menschen: weniger Ausbildungshilfen für Jugendliche,
es verdient haben, dass wir die Rahmenbedingungen für weniger dauerhafte Weiterbildung, weniger Bildungs-
eine Begleitung durch ihr Berufsleben gestalten. Die Ar- politik in der Arbeitsmarktpolitik.
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden künftig
nicht mehr vom Einstieg in den Beruf bis zum Ausstieg Ich will Sie sehr konkret fragen, weil unsere Wahl-
in der gleichen Tätigkeit bleiben. Dazu sind die Ent- kreise nebeneinanderliegen, Herr Kollege Fischer:
wicklungen viel zu rasant. Aber wir wollen ihnen durch (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Ach so! Des-
mehr Sorge für den Einzelnen und bessere Instrumente halb!)
Sicherheit bieten. Das hilft konkret, während völlig aus
der Luft gegriffene Formulierungen wie „Kahlschlag in Was sagen Sie den Menschen, wenn Ihnen in Baden-
der Arbeitsmarktpolitik“ an der Lebenswirklichkeit voll- Württemberg die Frage gestellt wird, warum dem Land
ständig vorbeigehen. 3,5 Milliarden Euro für eine aktivierende Arbeitsmarkt-
politik, für eine fördernde Arbeitsmarktpolitik fehlen?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihre Antwort darauf möchte ich gern einmal hören. Ich
neten der FDP) möchte auch wissen, was Sie den Jugendlichen sagen,
die in Ihre Bürgersprechstunde kommen und sagen: Ich
Der vorgelegte Haushalt ist ausgewogen und ent- bekomme keine ausbildungsbegleitende Hilfe, keine
spricht den Erfordernissen der von der christlich-libera- Ausbildungsförderung mehr von der Bundesagentur für
len Koalition eingeleiteten Modernisierung am Arbeits- Arbeit.
markt und im Bereich der sozialen Sicherung. Es ist ein
in die Zukunft gerichteter Haushalt, der deutliche An- (Beifall bei der SPD)
satzpunkte für die Bewältigung der großen Herausforde-
rungen durch die Schuldenbremse, den demografischen Vizepräsident Eduard Oswald:
Wandel und den Übergang in eine digitale Gesellschaft Kollege Fischer, Sie haben die Möglichkeit zur Erwi-
aufweist. derung. Bitte schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17065

(A) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Haushalt, der auch nur einen Hauch von christlichem (C)
Frau Kollegin Mast, zum Eingliederungstitel: Die Anspruch widerspiegelt, nicht zulassen, dass immer
Tatsache, dass wir weniger ausgeben, hat natürlich damit mehr Kinder in unserem Land in Armut leben müssen.
zu tun, dass es weniger Arbeitslose gibt. Zum anderen
(Beifall bei der LINKEN)
sind strukturelle Veränderungen natürlich notwendig;
das ist völlig richtig. Ich habe vorhin von einem Opti- Sie versuchen – das haben Sie in den Beratungen ge-
mierungsprozess gesprochen, den die BA in den letzten tan; Sie werden das in Ihrer Rede gleich wiederholen –,
Jahren durchlaufen hat. Der Erfolg, der aus einer besse- die Kürzungen im Haushalt schönzureden. Ihr Argu-
ren Arbeit vor Ort resultiert, zeigt sich auch darin, dass ment, dass Sie uns häufig vorgetragen haben, lautet: In
wir in struktureller Hinsicht Einsparungen vornehmen konjunkturell guten Zeiten geht die Arbeitslosigkeit zu-
können, ohne dass die Leistungen an speziellen Stellen rück; deshalb brauchen wir weniger Geld für Arbeits-
vor Ort dadurch schlechter werden. Wir haben für Opti- lose. Aber wie sieht diese Arbeit aus? Sie haben das in
mierungseffekte gesorgt. Das ist der große Vorteil. Ihrer Antwort auf die schriftlichen Fragen meiner Kolle-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ginnen Jutta Krellmann und Sabine Zimmermann selbst
neten der FDP) gesagt: Diese neue Arbeit stellt eine dramatische Zu-
nahme von Leiharbeit und Niedriglöhnen dar. Das hat
mit Gerechtigkeit wirklich nichts zu tun, Frau Ministe-
Vizepräsident Eduard Oswald: rin.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin auf unserer Redner-
liste ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. (Beifall bei der LINKEN)
Gesine Lötzsch. Bitte schön, Frau Dr. Lötzsch. Schauen wir einmal genau hin: Im Oktober ist die Ar-
(Beifall bei der LINKEN) beitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr um 3,7 Prozent ge-
sunken. Das ist gut. Im gleichen Zeitraum sank aber die
Zahl der Teilnehmer an Maßnahmen zur beruflichen
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Weiterbildung um 21 Prozent. Wie erklären Sie eigent-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten lich Menschen, die endlich aus der Arbeitslosigkeit he-
Damen und Herren! Ich möchte mich mit der Frage aus- rauskommen wollen, die bereit sind, sich immer wieder
einandersetzen, ob dieser Haushalt gerecht, ob er sozial zu qualifizieren, dass Sie kein Geld mehr für Qualifika-
oder ob er christlich ist. tion ausgeben wollen? Ich glaube, das können Sie nie-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist er!) mandem mit gutem Gewissen erklären.
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Die Bundesregierung und die Koalition wollen uns ein- (D)
reden, der Haushalt würde alle in der Gesellschaft gleich Wir lesen ja jeden Tag in den Zeitungen – es hat auch
belasten und wäre sozial ausgewogen. Doch jeder, der schon in der Debatte eine Rolle gespielt –, dass in
die Zahlen kennt, weiß, dass das gelogen ist, Deutschland Fachkräfte fehlen. Wir lesen aber viel zu
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- selten, dass es diese Bundesregierung und diese Ministe-
neten der SPD) rin ist, die Menschen die Chance verbaut, wieder in Ar-
beit zu kommen. Das ist nicht gerecht! Das ist nicht
denn die größten Kürzungen im Bundeshaushalt wurden christlich, Frau Ministerin!
dort vorgenommen, wo die Menschen, die am wenigsten
haben, am härtesten getroffen werden, und Menschen, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Woher
die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, werden von den wissen Sie denn, was christlich ist?)
Kürzungen vollständig verschont. Sie werden eben nicht
Frau von der Leyen, Sie haben Ihre Partei, die CDU,
zur Kasse gebeten, was richtig wäre.
aufgefordert, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn in
(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger Deutschland einzuführen. Das war eine richtige und
[CDU/CSU]: 8 Prozent dürften 50 Prozent der längst überfällige Forderung.
Einkommensteuer zahlen!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Im Etat „Arbeit und Soziales“ sind 4,7 Milliarden neten der SPD)
Euro gestrichen worden. Gleichzeitig bekommt der Ver-
Alle Vorurteile, die von der CDU – von der FDP will ich
teidigungsminister – bei Beachtung von Haushaltswahr-
jetzt gar nicht reden – gegen einen gesetzlichen Mindest-
heit und -klarheit – 1,6 Milliarden Euro mehr. An dieser
lohn vorgebracht wurden, sind wissenschaftlich wider-
Stelle muss man wirklich ganz deutlich sagen: Hier stim-
legt worden. Der Mindestlohn vernichtet keine Arbeits-
men die Verhältnisse wirklich nicht mehr.
plätze. Das wissen wir aus den Erfahrungen fast aller
(Beifall bei der LINKEN) anderen Länder der Europäischen Union. Ich finde, es ist
moralisch wirklich verwerflich, wenn ein Arbeitgeber
Ein gerechter Haushalt sieht anders aus: Steuererhö- meint, einen Menschen für sich arbeiten lassen zu kön-
hungen für diejenigen, die die Krise verursacht haben nen, ohne ihn so zu bezahlen, dass er davon leben kann.
und immer noch an ihr verdienen. Ein gerechter Haus- Wie kann eine christliche Partei solche Arbeitgeber nur
halt, Frau von der Leyen, würde nicht die Menschen be- unterstützen, meine Damen und Herren?
strafen, die ihre Arbeit verloren haben und unverschul-
det in Armut geraten sind. Vor allem würde ein gerechter (Beifall bei der LINKEN)
17066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern einen unwürdigen Das sogenannte Bildungspaket kommt nicht einmal (C)
Lohn bezahlen, werden von der Bundesregierung dafür bei der Hälfte der Menschen an, die darauf einen An-
sogar noch belohnt, weil sie mit Steuergeldern subven- spruch haben. Der Mehrheit wird also ein Teil des Exis-
tioniert werden. Das muss endlich ein Ende haben! tenzminimums vorenthalten. Besonders bedrückend
finde ich aber, dass dieses sogenannte Teilhabe- und Bil-
(Beifall bei der LINKEN) dungspaket in vielen Fällen sogar eine gegenteilige Wir-
Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter gerecht entlohnen wol- kung hat. Bedürftige Kinder bekommen in vielen Kom-
len, werden von der Bundesregierung bestraft, denn sie munen kein kostenloses Mittagessen mehr. Die Eltern
müssen jetzt, egal ob sie die bürokratischen Hürden die-
müssen sich gegen unlautere Konkurrenz wehren.
ses Pakets überwunden haben oder nicht, einen Zuschuss
Ihr Parteitag hat nun keine Mindestlöhne beschlossen. bezahlen, weil es ja das Bildungspaket gibt. Damit ver-
Sie konnten sich mit dieser Idee nicht durchsetzen. Die schlechtert sich in der Realität die Situation armer Kin-
radikalen Marktideologen haben sich in der CDU wie- der. Das ist nicht gerecht! Das ist nicht christlich! Das ist
derum durchgesetzt. Wir haben bereits bei der Debatte einfach nur beschämend, Frau von der Leyen!
um den Einzelplan Wirtschaft gesehen, dass das die do- (Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb
minierende Haltung in Ihrer Partei ist. Das hat mit christ- [CDU/CSU]: Weil diese Eltern ihrer Verant-
lich-sozial nichts zu tun. Wenn Sie an Ihre Wurzeln, an wortung nicht nachkommen!)
Ihre Werte knüpfen wollen, dann müssen Sie endlich
umsteuern. Ansonsten wird man Ihnen den Titel „christ- – Der Zwischenruf zur Verantwortung ist sehr schön.
lich“ nicht mehr verleihen können. Den nehme ich gerne auf. Sie und Frau von der Leyen an
der Spitze entwickeln geradezu einen missionarischen
(Beifall bei der LINKEN) Eifer, arme Menschen erziehen zu wollen, anstatt ihnen
zu helfen.
Das ewige Mantra der christlich-liberalen Koalition
lautet ja: Leistung muss sich wieder lohnen. – Wenn wir Ich frage Sie: Warum sind Sie eigentlich so gleichgül-
uns aber die Politik dieser Bundesregierung anschauen, tig und nachsichtig gegenüber dem gierigen Verhalten
dann sehen wir, dass sich Leistung eben nicht lohnt. Im von einigen wenigen Spekulanten? Warum kommt da Ihr
Gegenteil: 10 Prozent der Gesellschaft, die 60 Prozent missionarischer Eifer nicht durch, Frau von der Leyen?
des Vermögens haben, können ihr Geld im Schlaf ver- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias
dienen. Sie lassen das Geld an den Börsen der Welt für Zimmer [CDU/CSU]: Dafür ist nicht ihr
sich arbeiten. Menschen, die für ihre Arbeitsleistung Ministerium zuständig!)
nicht einmal einen würdigen Lohn bekommen, werden
– Auch diesen Zwischenruf nehme ich gerne auf, Herr
(B) jedoch Ihren Spruch „Leistung muss sich wieder lohnen“ Kollege. Als Volksvertreter, auch Sie, Herr Abgeordne- (D)
nur als zynisch empfinden können.
ter, sind wir für die gesamte Politik zuständig. Ich
(Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb glaube, vielen in der CDU ist schon aufgefallen, dass
[CDU/CSU]: Das höre ich in dieser Debatte sich Frau von der Leyen für vieles in der Politik, für die
schon zum zehnten Mal!) gesamte Politik zuständig fühlt, was nicht jedem in ihrer
Partei gut gefällt. Auch das ist uns aufgefallen.
Wer will, dass sich Leistung wieder lohnt, der muss
wirklich um gesetzliche Mindestlöhne kämpfen und leis- (Beifall bei der LINKEN)
tungslose Spekulationsgewinne kräftig besteuern. An- Kommen wir zurück zum Teilhabe- und Bildungs-
ders ist Gerechtigkeit nicht zu haben. paket. Eine Mutter muss alle möglichen bürokratischen
Nachweise erbringen, um einen 10-Euro-Gutschein für
(Beifall bei der LINKEN) ihr Kind zu bekommen. Dagegen ist es nach Auffassung
Dieser Haushalt ist ungerecht, weil er Armut schafft. des Finanzministers gar kein Problem, wenn sich Banker
Sie bekämpfen nicht die Armut, sondern Sie schaffen einmal um 55,5 Milliarden Euro verrechnen.
neue Armut. Es ist doch ein unglaublicher Vorgang, dass (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der hat denen
die Bundesregierung bis heute nicht das Urteil des Bun- den Kopf gewaschen!)
desverfassungsgerichts zu den Regelsätzen, was Hartz IV
betrifft, umgesetzt hat. Frau von der Leyen, unter Ihrer Herrschaft sind die
Sanktionen gegen Arbeitslose sprunghaft angestiegen.
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Was erzählen Sie Warum kämpfen Sie in Ihrer Regierung nicht lieber ein-
da? Natürlich haben wir das umgesetzt!) mal dafür, dass Herr Schäuble endlich gegen diejenigen
Sanktionen verhängt, die Schulden in Höhe von 335 Mil-
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, des Deutschen liarden Euro zu verantworten haben? So viel hat die
Gewerkschaftsbundes und der Friedrich-Ebert-Stiftung Finanzkrise laut Berechnung der Bundesbank die deut-
kommt zu dem Ergebnis, dass die Ermittlung der Hartz- schen Steuerzahler seit 2008 gekostet. Ich glaube, die
IV-Regelsätze verfassungswidrig ist. Unsere Fraktion Verhältnisse müssen endlich in Ordnung gebracht wer-
hat der SPD und den Grünen angeboten, gemeinsam ge- den. Wir brauchen keine verschärften Sanktionen gegen
gen diesen Verfassungsverstoß zu klagen. Leider haben Hartz-IV-Empfänger, sondern endlich verschärfte Sank-
diese Fraktionen das abgelehnt. Das ist schade, aber man tionen gegen diejenigen, die unseren volkswirtschaft-
kann ja einen zweiten Anlauf nehmen. lichen Reichtum verspekulieren.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17067
Dr. Gesine Lötzsch
(A) Abschließend möchte ich einige Anmerkungen zur die wir im Jahr 2010 beschlossen haben. Dem stehen al- (C)
wachsenden Altersarmut in unserem Land machen. Frau lerdings Mehrausgaben von 2,8 Milliarden Euro für das
Kollegin Hagedorn ist schon darauf eingegangen. Bildungspaket und für die Grundsicherung im Alter ge-
14 Prozent aller Menschen ab 65 gelten als arm. Wir genüber. Das ist eine ganz erhebliche Entlastung für die
wollen endlich wieder Renten, die vor Armut schützen. Kommunen.
Wir brauchen heute gute Löhne, damit die zukünftigen
Rentner einmal eine gute Rente bekommen. Aber was (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist Gesetz!)
wir jetzt schon brauchen, sind klare Entscheidungen für Das sind die wesentlichen Faktoren für die Haushaltsent-
eine solidarische Mindestrente, die diesen Namen wirk- wicklung im Vergleich zu 2011, und das ist kein Kahl-
lich verdient, damit Menschen, die ihr Leben lang gear- schlag.
beitet haben, im Alter nicht arm sind.
Sehen wir uns den Bereich Arbeitsmarkt etwas ge-
(Beifall bei der LINKEN) nauer an. In diesem Haushalt sind dafür 40,3 Milliarden
Ich habe anfangs die Frage aufgeworfen, ob dieser Euro angesetzt. Im Eingliederungsbudget – auch das ist
Haushalt gerecht ist, ob er sozial ist und ob er christlich vorhin angesprochen worden – stehen 8,45 Milliarden
ist. Ich komme zu dem Schluss: Dieser Haushalt ist un- Euro zur Verfügung, also rund 1 Milliarde Euro weniger
gerecht, er ist unsolidarisch, und christlich ist er schon als 2011. Das hat die Opposition heute und auch sonst in
gar nicht. den vergangenen Tagen immer wieder als unzumutbare
Kürzung kritisiert. Aber diese Kritik ist völlig unberech-
Wir lehnen ihn ab. tigt. Denn wir geben zwar weniger aus als im Vorjahr;
(Beifall bei der LINKEN) aber gemessen an der deutlich niedrigeren Arbeitslosen-
zahl ist es so, dass wir pro Person mehr ausgeben als in
Vizepräsident Eduard Oswald: den früheren Jahren.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Jetzt für (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Dr. Claudia
Winterstein. Bitte schön, Frau Kollegin Winterstein. Das will ich mit Zahlen unterlegen. 2006 wurden für
2,8 Millionen Arbeitslose im SGB II 8,2 Milliarden Euro
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ausgegeben. 2012 stehen im Eingliederungsbudget für
der CDU/CSU) nur 1,8 Millionen Arbeitslose im SGB II, also für 1 Mil-
lion weniger, rund 8,5 Milliarden Euro zur Verfügung;
Dr. Claudia Winterstein (FDP): das sind über 250 Millionen Euro mehr. Also: Jeder kann
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sehen, dass es sich hier nicht um eine Kürzung handelt,
(B) Herren! Liebe Bettina Hagedorn, keine Sorge, der Ein- wie das von der Opposition behauptet wird, sondern dass (D)
zelplan 11 ist mit seinem Ausgabeniveau von 126,5 Mil- es pro Kopf eine Erhöhung darstellt. Auch das sollten
liarden Euro sehr wohl solide aufgestellt. Sie eher freudig zur Kenntnis nehmen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Finde ich auch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dass die Ausgaben rund 4,8 Milliarden Euro unter dem Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist die Wahrheit! –
Plan für 2011 liegen, ist nicht die Folge von tiefen Ein- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer rechnen
schnitten. Vielmehr liegt es vor allem daran, dass der kann, ist im Vorteil!)
Bund der Bundesagentur für Arbeit im kommenden Jahr – Ja. Haushälter sollten eigentlich rechnen können. Aber
kein Darlehen mehr gewähren muss. Dieses Darlehen ist manchmal hapert es.
im Haushalt 2011 noch mit 5,4 Milliarden Euro ange-
setzt. 2012 entfällt dieser Haushaltsposten vollständig. Die Lage am Arbeitsmarkt ist gut, und sie wird sich
nach allen Prognosen auch 2012 so halten. Man kann es
(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber ihr habt
eigentlich gar nicht häufig genug sagen: Mehr als
4,3 Milliarden Euro Mehrausgaben im gesetz-
lichen Bereich!) 41 Millionen Beschäftigte, das ist ein Rekord. Weniger
als 3 Millionen Arbeitslose im Durchschnitt der Jahre
Die BA wird sogar bereits im Jahr 2012 wieder im Plus 2011 und 2012, das ist ein großer Erfolg. Die Zahl der
sein und damit beginnen, Rücklagen aufzubauen. Das Arbeitslosen im SGB II ist mit unter 2 Millionen so
sollte uns alle freuen, vor allen Dingen dich, liebe niedrig wie überhaupt noch nie. Die Zahl der Langzeitar-
Bettina; denn auch das hast du gefordert. beitslosen hat sich seit dem Höchststand im Jahr 2006
(Bettina Hagedorn [SPD]: Zu wenig! – von damals 1,7 Millionen fast halbiert. Das ist doch her-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Reise von vorragend.
1 000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Aufgrund der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt steht der CDU/CSU)
nicht nur die Bundesagentur besser da als erwartet, son- – Da könnten eigentlich auch Sie von der Opposition ap-
dern auch der Bund muss weniger Geld ausgeben, zum plaudieren.
Beispiel für das Arbeitslosengeld II. Neben diesen kon-
junkturellen Effekten setzen wir bei den Arbeitsmarkt- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, Frau
mitteln die Einsparungen um, Hagedorn, bitte!)
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ah!) Das sind nämlich hervorragende Zahlen.
17068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Claudia Winterstein


(A) Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht geholfen, wenn sie als Konsequenz womöglich ih- (C)
ignorieren das alles. Sie fordern mehr Geld für Arbeits- ren Arbeitsplatz verlieren.
marktmaßnahmen, und das, egal ob die Arbeitslosigkeit
steigt oder sinkt. (Bettina Hagedorn [SPD]: So ein Quatsch!
Das ist ja nun vielfach widerlegt! Märchen-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Immer nur stunde!)
mehr Geld! Hauptsache, mehr Geld!)
Die Vorschläge der SPD sind untauglich. Das zeigt
So kann man keine vernünftige Politik machen. Vernünf- sich auch an Ihren Anträgen. Sie haben Mehrausgaben in
tige Politik ist es hingegen, wenn eine Konzentration auf Höhe von 5 Milliarden Euro vorgeschlagen, verbunden
die wirksamen arbeitsmarktpolitischen Instrumente er- mit Steuererhöhungen in Höhe von 10,5 Milliarden
folgt. Das bildet sich in unserem Haushalt ab. Unser Euro. Wo sind eigentlich die Einsparungen, die Carsten
Schwerpunkt ist nämlich klar: Wir wollen vorrangig die Schneider und Herr Gabriel gefordert haben?
Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt fördern.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das Konzept liegt
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der doch schriftlich vor! Das weißt du doch!)
CDU/CSU)
Ich höre immer nur: Wir erhöhen die Steuern.
Für Qualifizierung und Integration steht auch weiterhin
genügend Geld zur Verfügung. (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist Gegenstand der
Ich will noch auf einen Antrag eingehen, der von der Debatte! Ihr solltet mal lesen! Lesen hilft!)
SPD im Haushaltsausschuss eingebracht wurde – da hat Nein danke, das gibt es mit uns ganz sicher nicht. Wenn
sich die SPD nämlich mit einer Milchmädchenrechnung Sie sagen, Sie könnten die Dinge intelligent gegenfinan-
ziemlich blamiert –: Sie meinen, mit einem Mindestlohn zieren, dann, finde ich, ist es aber nicht sonderlich intel-
von 8,50 Euro könnte man 1,1 Milliarden Euro im Haus- ligent, einfach die Steuern zu erhöhen.
halt einsparen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das muss Frau Bettina Hagedorn [SPD]: Dass ihr dagegen
Hagedorn berechnet haben!) seid, ist klar!)
Dabei verschließen Sie allerdings die Augen davor, dass
Zum Schluss noch ein Wort zu den Vorschlägen zur
dadurch natürlich auch Arbeitsplätze im Niedriglohnsek-
Erhöhung des Eingliederungstitels, die heute als Antrag
tor verloren gehen würden,
vorliegen. Ich halte diese Vorschläge für völlig unverant-
(B) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist wortlich. Hier gibt es bei der Opposition den reinsten, (D)
hanebüchener Unsinn! Mehrfach nachgewie- ich sage einmal: Überbietungswettbewerb. Die Begrün-
sen!) dung, die ich dafür im Berichterstattergespräch von der
SPD gehört habe, ist geradezu abenteuerlich. Man müsse
mehr Menschen arbeitslos würden und weniger Men- das Sparpaket, soweit es den Sozialbereich betrifft, des-
schen etwas dazuverdienen könnten und damit letztend- halb zurücknehmen, weil andere Elemente des Sparpa-
lich mehr und nicht weniger Kosten für den Bundeshaus- ketes nicht voll wirksam würden. Nein, auch wenn beim
halt entstehen würden. Sparpaket nicht alle Elemente so schnell zum Tragen
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE kommen wie eigentlich geplant,
GRÜNEN]: Das glauben aber nur noch Sie! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es kommen nur
Das glaubt ja noch nicht mal Ihr Koalitions- die sozialen Einschnitte!)
partner!)
Bei dieser Gelegenheit noch ein Wort zu den Aufsto- so ist das kein Grund, auch alle anderen Elemente über
ckern; auch das ist immer ein beliebtes Thema. Nach Bord zu werfen, die wir als sinnvolle Beiträge im Spar-
dem Bericht der BA vom Oktober 2011 gibt es aktuell paket vereinbart haben.
1,37 Millionen Menschen, die zusätzlich zu einem Er- Dieser Einzelplan ist damit ein gutes Beispiel für das
werbseinkommen Hartz IV beziehen. Davon arbeiteten Haushaltsprinzip der Koalition, nämlich Konsolidieren
aber nur 320 000 in Vollzeit. Das sind 1,4 Prozent aller durch Disziplin auf der Ausgabenseite.
Vollzeitbeschäftigten.
Vielen Dank.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]:
Schlimm genug!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Bettina Hagedorn [SPD]: Bei Arbeit und So-
Diese sind überwiegend deshalb auf eine Ergänzung
ziales! Woanders vergesst ihr diesen Grund-
durch Hartz IV angewiesen, weil es sich hier um Fami-
satz!)
lien mit Kindern handelt.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So sieht es aus!) Vizepräsident Eduard Oswald:
Nehmen wir die Singles, so sind es nur 0,3 Prozent aller Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Winterstein. – Jetzt
Vollzeitbeschäftigten, die zusätzlich auf Hartz IV ange- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
wiesen sind. Denen ist mit einem Mindestlohn garantiert Brigitte Pothmer. Bitte schön, Frau Kollegin Pothmer.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17069

(A) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CSU]: Jetzt ist es aber gut! – Karl (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haus- Schiewerling [CDU/CSU]: Jetzt ist die Ar-
haltsentwurf, der uns heute hier vorliegt, ist ein Doku- beitsmarktpolitik schuld!)
ment der sozialen Schieflage der Politik dieser Bundes-
Jetzt will ich noch einmal etwas zu dem Revolutions-
regierung.
theater auf dem CDU-Parteitag sagen. Herausgekommen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist dabei
bei der SPD und der LINKEN)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nichts!)
Jeder andere Einzelhaushalt weist ein Plus auf. Die
leider noch nicht einmal eine Dreigroschenoper. Frau
einzige Ausnahme von dieser Regel ist der Haushalt des
von der Leyen, ich habe Ihre Rolle genau beobachtet. Ich
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Gekürzt
war enttäuscht: Ich finde, Sie haben bei dieser Debatte
wird von dieser Bundesregierung also nur bei den Ar-
eher am Rande gestanden. Die Vorkämpferrolle für den
beitslosen und bei den sozial Schwachen. Ich finde, das
Mindestlohn haben Sie Herrn Laumann überlassen. Das
wirft ein bezeichnendes Licht auf das soziale Profil die-
muss man sich einmal vorstellen. Da geht es wirklich
ser Bundesregierung.
einmal um die Wurst – es geht um die Frage, ob der Min-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN destlohn in diesem Land eine Chance hat –, und die Bun-
und bei der SPD) desarbeitsministerin nimmt als zuständige Ministerin
bestenfalls eine kommentierende Nebenrolle ein. Das
Es wirft ein bezeichnendes Licht auch auf das Engage- reicht nicht.
ment und die Durchsetzungsfähigkeit der Bundesarbeits-
ministerin. Frau von der Leyen, seitdem Sie im Amt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sind, sind die Mittel des Eingliederungstitels um 30 Pro- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
zent gekürzt worden. Jetzt begründen Sie den Rückgang LINKEN)
der Mittel immer mit dem Rückgang der Arbeitslosig- Der Parteitagsbeschluss ist dann auch entsprechend aus-
keit. Aber die Langzeitarbeitslosigkeit ist um maximal
gefallen.
5,4 Prozent zurückgegangen. Sie kürzen aber um das
Sechsfache. Sie stehen nach diesem Parteitag in der Frage Min-
destlohn wieder mit leeren Händen da. Auch wenn ich es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht gerne sage: In dieser Frage hat Herr Rösler aus-
und bei der SPD) nahmsweise recht. Denn das, was Sie beschlossen ha-
Damit ruinieren Sie nicht nur die Chancen der Betrof- ben, ist Status quo; es ist Gesetzeslage.
(B) fenen, wieder in Arbeit zu kommen. Vor dem Hinter- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! – Matthias W. (D)
grund des Fachkräftemangels richten Sie einen erheb- Birkwald [DIE LINKE]: Seit 1952! – Dr. Heinrich
lichen volkswirtschaftlichen Schaden an. Allein der L. Kolb [FDP]: Es ist überhaupt nur ein Antrag
Mittelstand rechnet durch den Fachkräftemangel mit gestellt worden, Frau Kollegin Pothmer! Es
Umsatzeinbußen von 30 Milliarden Euro jährlich. Und gibt offensichtlich nicht den Bedarf, den Sie
Sie vertiefen damit die soziale Spaltung auf dem Ar- sehen!)
beitsmarkt: Gut ausgebildete, gesunde, fitte Menschen
gegen gering qualifizierte, kranke und gehandicapte – Im Mindestarbeitsbedingungengesetz steht genau das
das gefährdet auf Dauer den sozialen Zusammenhalt in drin. Wir wissen: Nach diesem Gesetz ist kein einziger
der Gesellschaft insgesamt. Mindestlohn erlassen worden, meine Damen und Her-
ren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Wenn Sie wirklich einen Mindestlohn wollen, Frau
von der Leyen, dann legen Sie dem Parlament einen Ge-
Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich. Leiharbeit setzentwurf vor.
nimmt zu. Befristete Beschäftigung und Minijobs sind
auf dem Vormarsch. Der Niedriglohnsektor hat wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
einen neuen Rekord erreicht. Daher ist es kein Wunder, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
dass eine Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung LINKEN)
zu dem Ergebnis kommt, dass kaum jemand in Deutsch-
land mehr an Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt Es gibt in diesem Parlament eine deutliche Mehrheit für
glaubt. einen gesetzlichen Mindestlohn.

Ich will Ihnen aber sagen: Wenn wir einen Zustand er- Frau von der Leyen, Sie vermitteln, jedenfalls mir,
reicht haben, dass die Menschen nicht mehr daran glau- zunehmend den Eindruck, dass Ihnen die Arbeitsmarkt-
ben, dass sie durch ihre eigene Anstrengung ihre soziale und die Sozialpolitik nicht wirklich am Herzen liegen.
Lage verbessern können, dann gefährdet das auf Dauer Sie tummeln sich in der Europapolitik und immer noch
die Demokratie und unterstützt den Extremismus in die- gern in der Frauen- und Familienpolitik. So sieht Ihre
sem Land. Wohin das führt, haben wir vor zwei Tagen Zwischenbilanz auch aus: Die Bürgerarbeit ist ein Flop.
debattiert. Das Bildungspaket für Kinder ist ein bürokratisches
Monstrum. Mit der Reform der arbeitsmarktpolitischen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Instrumente haben Sie die gering qualifizierten Lang-
und der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ zeitarbeitslosen endgültig abgehängt. Die Arbeitslosen-
17070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Brigitte Pothmer
(A) versicherung ist geplündert. Prekär Beschäftigte bleiben Ich könnte noch verstehen, wenn Sie blass vor Neid (C)
schutzlos. Lohndumping bleibt auf der Tagesordnung. würden, weil die Ergebnisse am Arbeitsmarkt so gut
Ihre Zuschussrente wird niemanden vor der Altersarmut sind. Aber dass Sie quasi rot vor Zorn sind, weil die Er-
schützen. folge am Arbeitsmarkt so groß sind, kann kein Mensch
mehr verstehen.
Frau von der Leyen, vielleicht waren Sie eine gute Fa-
milienministerin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Elke Ferner [SPD]: Nein! Noch nicht einmal
das! – Gegenruf des Abg. Jörn Wunderlich Vizepräsident Eduard Oswald:
[DIE LINKE]: Na ja, ansatzweise schon! Das Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischen-
muss man schon sagen!) frage des Kollegen Birkwald?
Eine gute Arbeitsministerin sind Sie jedenfalls nicht.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Ich danke Ihnen. Arbeit und Soziales:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerne.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Als Nächste hat das Wort für die Bundesregierung Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. Bitte Herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulas-
schön, Frau Bundesministerin von der Leyen. sen, Frau Ministerin. – Sie haben eben auf die Wirklich-
keit abgehoben. Ich frage Sie, was Sie zu der Studie des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Statistischen Bundesamtes sagen, die vor 14 Tagen ver-
öffentlicht wurde. Diese Studie ist repräsentativ; es sind
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für immerhin 830 000 Menschen – das ist gut 1 Prozent der
Arbeit und Soziales: Bevölkerung – befragt worden. Nach dieser Studie sind
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und 8,4 Millionen Menschen ab 15 Jahren unzufrieden mit
Herren! Zunächst einmal gilt mein Dank den Berichter- ihrer Arbeit und würden gerne mehr arbeiten, wenn sie
statterinnen und Berichterstattern für eine ausgesprochen die Gelegenheit dazu erhielten. Es sind also mehr als
konstruktive Zusammenarbeit. Dass die Zahlen über die 10 Prozent der Bevölkerung, die mit ihrer Erwerbssitua-
(B) strukturellen und konjunkturellen Einsparungen zu un- tion unzufrieden sind. Was sagen Sie zu dem Ergebnis (D)
terschiedlicher Interpretation führen, ist völlig in Ord- dieser Studie des Statistischen Bundesamtes?
nung. Wenn man allerdings die letzten Beiträge – insbe-
sondere Ihren, Frau Pothmer – verfolgt hat, dann könnte Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
man meinen, dass Deutschland kurz vor dem Untergang Arbeit und Soziales:
und die Arbeitsmarktpolitik kurz vor dem Kollaps steht. Dass sie mit ihrer Erwerbssituation unzufrieden sind,
Frau Hagedorn hat von einer Politik zulasten der mag der Fall sein. Diese Feststellung ist das Ergebnis ei-
Menschen gesprochen. ner Befragung. Tatsache ist, dass die jungen Menschen
heute mehr Chancen als je zuvor haben.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! – Brigitte
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen liegt bei
ist leider so!) 5,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit der unter 20-Jährigen
liegt bei 3,3 Prozent. Wenn wir das damit vergleichen,
Wenn wir schlicht die Wirklichkeit sprechen lassen, Frau dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa im Durch-
Pothmer, statt Ihrer Suada, dann zeigt sich: Die Beschäf- schnitt bei über 20 Prozent liegt, dann sehen wir, dass
tigung hat bei uns den höchsten Stand seit der Wieder- der Arbeitsmarkt hier in Deutschland wirklich robust ist
vereinigung erreicht. Wir haben die Langzeitarbeitslo- und jungen Menschen Chancen bietet. Das sollten Sie
sigkeit fast halbiert. vielleicht auch einmal zur Kenntnis nehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Bettina Hagedorn [SPD], ein Schaubild hoch- Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] meldet sich
haltend: Das ist Ihre Wirklichkeit!) zu einer Zwischenfrage)
Was die Jugendarbeitslosigkeit angeht: Es sind noch gut
240 000 junge Menschen arbeitslos. Die Expertinnen Vizepräsident Eduard Oswald:
und Experten der Bundesagentur für Arbeit sagen, Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine weitere
200 000 sei Ausdruck einer normalen Fluktuation. Das Zwischenfrage?
heißt, nur 40 000 junge Menschen bei uns sind von
struktureller Arbeitslosigkeit betroffen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Arbeit und Soziales:
GRÜNEN]: 1,5 Millionen ohne Berufsab- Nein, jetzt mache ich weiter. – Unsere Wirtschaft ist
schluss!) stark, und wir haben einen robusten Arbeitsmarkt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17071
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) Ja, es gibt Risiken im Euro-Raum. Das hat sich in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
Debatte eben und auch in der Debatte heute Morgen ge- der FDP)
zeigt. Deshalb sollten wir unser Handeln aber nicht
durch Mutlosigkeit und durch Angst leiten lassen, son- Vizepräsident Eduard Oswald:
dern wir sollten dafür sorgen, dass das Vertrauen in die Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischen-
Stabilität Europas und in die unbezweifelbare Stabilität frage des Kollegen Schwanitz?
Deutschlands erhalten bleibt. Das heißt für uns wie für
alle anderen: Konsolidieren, aber mit Augenmaß, mit
den richtigen Akzenten. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, „mit den richti- Bitte.
gen Akzenten“!)
Genau das tun wir. Das werde ich Ihnen jetzt auch darle- Vizepräsident Eduard Oswald:
gen. Bitte schön, Herr Kollege Schwanitz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Rolf Schwanitz (SPD):


der FDP)
Frau Ministerin, ich möchte Ihnen eine Frage zum
Schauen Sie sich die Zahlen dieses Haushaltes an. Für Thema „Prävention gegen Rechtsextremismus“ stellen.
das Jahr 2010 hatten wir Ausgaben in Höhe von
143 Milliarden Euro eingeplant. Wir haben 10 Milliarden Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Euro weniger ausgegeben. Die Arbeitslosigkeit ist gesun- Arbeit und Soziales:
ken. Im Jahr 2011 haben wir mit Ausgaben in Höhe von Jetzt sind wir aber gerade bei der Arbeitsmarktpolitik.
131 Milliarden Euro geplant. Wir werden voraussichtlich
5 Milliarden Euro weniger ausgeben. Die Arbeitslosig- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, Xenos!)
keit sinkt. Das heißt, wir sind am Arbeitsmarkt erfolg-
reich; aber wir nutzen diese Phase eben auch, um unsere Rolf Schwanitz (SPD):
Sozialsysteme zu stabilisieren und zu modernisieren, und Ja, aber zu Ihrem Etat gehört die Finanzierung eines
vor allen Dingen, um denjenigen Menschen eine Chance sehr wichtigen Programms: Xenos. Über dieses Pro-
zu geben, die vorher keine Chance am Arbeitsmarkt hat- gramm wird seit vielen Jahren das Netzwerk für Demo-
ten. Das ist doch das Ziel unserer Politik, und da sind wir kratie und Courage in Sachsen sehr erfolgreich geför-
erfolgreich. dert, was ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich
(B) anerkennen will. Dieses Netzwerk – das müssen Sie (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nicht wissen; aber ich will es trotzdem sagen – leistet
der FDP) eine vielfach ausgezeichnete Arbeit an den Schulen,
Ich werde Ihnen das auch am Thema „Alleinerzie- nicht nur an denen des Freistaates.
hende“ aufzeigen. Ich habe von Ihnen einen – in Anfüh- Seit neuestem gibt es in Ihrem Haus folgende Situa-
rungsstrichen – „Block von Alleinerziehenden“ geerbt; tion: Ein Antrag wurde mit dem Hinweis abgelehnt, er
40 Prozent der Alleinerziehenden sind im SGB-II-Be- sei nicht arbeitsmarktnah genug. Ich möchte jetzt gar
zug. keine Detailerklärung zu der Einzelentscheidung bekom-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und?) men, weil ich vermute, dass Sie sie jetzt gar nicht abge-
ben können. Aber ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir
Wir haben im letzten Jahr eine Freistellung von Mitteln der Auffassung sind, dass gerade in dieser Zeit eine sol-
erreicht – ich danke den Haushältern noch einmal –, um che Ablehnung kritisch geprüft werden muss, und ob Sie
in diesem Bereich gezielt neue Akzente zu setzen. bereit sind, sich diesen Vorgang noch einmal auf den
Tisch legen zu lassen und diese Entscheidung gegebe-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?) nenfalls zu revidieren.
Wir haben die Jobcenter neu orientiert. Wir haben den
Schwerpunkt der Bundesagentur für Arbeit auf die Qua- Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
lifizierung und Vermittlung von Alleinerziehenden ge- Arbeit und Soziales:
legt. Wir haben die Netzwerke zur Unterstützung ausge- Es gibt im Arbeitsministerium die Xenos-Programme,
baut. Wir haben jetzt, nach einem Jahr, erreicht, dass der die ich für richtig und gut halte. Es gibt in anderen
Bestand an arbeitslosen Alleinerziehenden stärker ge- Ministerien andere Programme gegen Rechtsextremis-
sunken ist als die Zahl der Arbeitslosen im SGB-II-Be- mus. Unsere Programme sind darauf ausgerichtet, dass
zug allgemein. Wir haben erreicht, dass mehr Alleiner- junge Menschen eine Chance erhalten, dass sie qualifi-
ziehende als sonst in den ersten Arbeitsmarkt gewechselt ziert werden und dass sie Arbeit bekommen, damit sie
sind. Das heißt, der Ansatz, sich darauf zu konzentrieren, die Integration in die Gesellschaft schaffen und damit
dass mehr Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt kom- die Festigkeit bekommen, die sie brauchen. Wenn es
men, und darauf, dass mehr arbeitslose Alleinerziehende viele Anträge gibt, dann ist es doch eine Selbstverständ-
Arbeit finden, gerade weil sie ein Kind haben, erweist lichkeit, dass das Arbeitsministerium danach auswählt,
sich jetzt als erfolgreich. Das ist etwas, was man auch welcher Antrag die größten Chancen hat, dazu beizutra-
einmal positiv bewerten sollte. gen, dass junge Menschen wieder in den Arbeitsmarkt
17072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) integriert werden. Es kommt also darauf an, wie arbeits- Verfügung. Dazu kommen 2,8 Milliarden Euro aus dem (C)
marktnah ein Antrag ist. Es wird kein Antrag ausge- Eingliederungstitel der Bundesagentur für Arbeit für die
wählt, der andere Ziele verfolgt. aktive Arbeitsmarktförderung. Das sind rund 500 Millio-
nen Euro mehr, als in diesem Jahr im Eingliederungstitel
Sie stellen mir eine Frage nach der Qualität der An- überhaupt eingesetzt worden sind. Meine Damen und
träge. Ich sage Ihnen: Wir werden das Geld einsetzen Herren von der Opposition, wer hier von Kahlschlag re-
und den Rechtsextremismus bekämpfen. Wir bekämpfen det – das Wort habe ich vorhin schon wieder gehört –,
ihn mit einem der wichtigsten Mittel, nämlich dadurch, der sieht offensichtlich den Wald vor lauter Bäumen
dass wir den jungen Menschen Arbeit geben. Das ist un- nicht mehr.
ser Ziel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir setzen die Akzente richtig. Sie möchten öffent-
Vizepräsident Eduard Oswald: lich geförderte Beschäftigung. Sie möchten künstliche
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine weitere Arbeit.
Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Dr. Ilja Seifert? (Bettina Hagedorn [SPD]: So ein Quatsch! Wir
wollen Bildung!)
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Sie möchten Warteschleifen. Wir setzen die Akzente
Arbeit und Soziales:
neu. Wir setzen sie auf Bildung, auf Ausbildung und auf
Jetzt würde ich gerne weitermachen. Sonst kommen Weiterbildung. Deshalb haben wir insbesondere beim
wir nie mehr zum Schluss. Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf einen
(Anton Schaaf [SPD]: Wir haben Zeit!) Schwerpunkt gesetzt. Wir haben einen Riesenerfolg; ich
habe Ihnen eben die Zahlen genannt. Wir haben auch in
Das war das Thema Arbeitsmarktpolitik, an dem wir der Weiterbildungsförderung – das betrifft die Men-
sehen, dass wir erfolgreich sind. Hier sind die Zahlen so schen, die nicht aus der Schule kommen, sondern die
gut, dass ich merke, dass Sie nur noch an den Einsparun- schon mitten im Leben stehen und Weiterbildung in der
gen, seien sie konjunktureller oder struktureller Art, mä- Arbeitslosigkeit brauchen – die Mittel aufgestockt. Als
keln können. wir von Ihnen die Regierung im Jahr 2005 übernommen
(Bettina Hagedorn [SPD]: Nur strukturell! An haben, lag die Zahl der Arbeitslosen bei 5 Millionen.
den konjunkturellen mäkeln wir nicht!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Damals haben
Es fällt Ihnen schwer, die Erfolge am Arbeitsmarkt nicht wir gemeinsam regiert! Franz Müntefering
(B) zu sehen. war Arbeitsminister! – Bettina Hagedorn (D)
[SPD]: Da haben wir gemeinsam regiert!)
Zurzeit sind über 900 000 Stellen unbesetzt. Deshalb
sollten wir jetzt, anstatt zu unken – das gilt gerade für die – Damals hat die Kanzlerin Merkel den Kanzler
Damen und Herren der Opposition –, gemeinsam die Schröder abgelöst. Sie werden doch nicht bestreiten,
Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass wir Fachkräfte dass wir, als Schröder die Regierung verlassen hat,
bekommen, die dem Arbeitsmarkt allmählich ausgehen. 5 Millionen Arbeitslose hatten.
Die Bundesagentur für Arbeit hat ausgerechnet, dass in (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir haben die
der Pflege, im Handwerk, in der Gastronomie und im Reformen durchgesetzt!)
Dienstleistungssektor 385 000 Stellen unbesetzt sind.
Wir haben auf der anderen Seite 690 000 Arbeitsu- – Ich merke an Ihrem Geschrei: Sie wollen es nicht hö-
chende in der Grundsicherung mit passender Ausbil- ren. Sie haben Angst vor dieser Zahl. – Sie wissen ganz
dung. Das heißt, es gibt die Menschen, es gibt die Jobs, genau: Damals waren gerade einmal 2 Milliarden Euro
und es kommt jetzt darauf an, beide zusammenzubrin- für Weiterbildung vorgesehen. Jetzt haben wir 2,7 Mil-
gen. lionen Arbeitslose, und es stehen 3 Milliarden Euro für
Weiterbildung zur Verfügung. Das ist Politik, die erfolg-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Durch Qualifizie- reich ist. So muss die Entwicklung sein.
rung!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie toben die ganze Zeit, weil sie sehen, dass wir die
Anzahl künstlicher Arbeitsplätze und den öffentlichen Wir geben für Bildung, Ausbildung und Weiterbil-
Beschäftigungssektor nicht ausbauen wollen. Wir wollen dung inzwischen 8,6 Milliarden Euro aus. Mit anderen
neue Akzente setzen. Die Menschen sollen in den ersten Worten: Die Zeit der künstlichen Arbeitsplätze, die Zeit
Arbeitsmarkt und nicht mehr in teure Warteschleifen. der Warteschleifen ist vorbei. Jetzt geht es darum, die
Das ist unsere Politik, und das ist die richtige Politik. Fachkräfte der Zukunft zu sichern. Das ist unsere Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Daher haben wir den Instrumentenkasten aufgeräumt. NEN]: Aber das machen Sie doch nicht!)
Im nächsten Jahr stehen – hier wird immer der Eindruck
erweckt, als stünde überhaupt nichts mehr für die Ein- Die Erfolge am Arbeitsmarkt schlagen sich natürlich
gliederung zur Verfügung – 8,4 Milliarden Euro in der nicht nur in Jobs für Menschen nieder, sondern auch in
Grundsicherung für Eingliederung und Verwaltung zur der Rente, und das freut mich. Wir können zum 1. Januar
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17073
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) 2012 den Beitragssatz – es ist richtig: das ist eine gesetz- sind nur noch 40 Prozent der Betriebe tarifgebunden. (C)
liche Regelung – auf 19,6 Prozent senken. Das bedeutet Wir alle sind der Meinung, dass derjenige, der anständig
für die Beschäftigten eine Entlastung von 1,3 Milliarden arbeitet, anständig bezahlt werden muss.
Euro und für die Arbeitgeber eine Entlastung von
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die FDP nicht!)
1,3 Milliarden Euro. Im Übrigen wird auch der Bundes-
haushalt um 700 Millionen Euro entlastet. Das nützt der Das hat lange gut funktioniert, weil die Tarifparteien
jüngeren Generation. Ich freue mich auch darüber, dass in Deutschland stark waren, weil die Arbeitgeber für ihre
sich abzeichnet, dass es im nächsten Jahr für 20 Millio- Interessen aufgestanden sind und weil die Gewerkschaf-
nen Rentnerinnen und Rentner eine spürbare Rentenstei- ten für ihre Beschäftigten aufgestanden sind. Das war
gerung geben wird. gut. Das ist etwas, womit die deutsche soziale Markt-
wirtschaft erfolgreich war. Wenn das jetzt nicht mehr
Wir werden international für ein langfristig stabiles
ohne Weiteres funktioniert, dann müssen wir einen Rah-
und demografiefestes Rentensystem bewundert. Wir be-
men schaffen, damit das wieder funktioniert.
finden uns im Augenblick aber auch in der Diskussion
darüber, wo es Schwachstellen gibt. Der Normalfall ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass Menschen, die ihr Leben lang arbeiten, ordentlich Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Gesetzent-
verdienen, vorsorgen und Beiträge zahlen, im Alter eine wurf, bitte schön!)
auskömmliche Rente haben. Wir sehen aber auch, dass
Menschen wenig verdienen und ein Leben lang fleißig Es gibt keine Freiheit ohne Regeln. Es gibt keinen Markt
arbeiten, dass Menschen Kinder erziehen, Ältere pflegen ohne Regeln. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam an die-
und Teilzeit arbeiten – und dass diese Menschen am sen Regeln arbeiten.
Ende ihres Lebens keine eigene auskömmliche Rente ha- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ben und in der Grundsicherung landen. Diesen Men- NEN]: Ja, wo ist den der Rahmen? – Brigitte
schen müssen wir eine Antwort geben, die das Kriterium Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ma-
der Gerechtigkeit erfüllt. chen Sie ein Gesetz!)
Wer ein Leben lang gearbeitet hat, wer Kinder erzo- Wir meinen, anders als Sie, dass wir den Mindestlohn – –
gen hat – ohne Kinder gibt es in der nächsten Generation
keine Rente –, wer Ältere gepflegt und vorgesorgt hat, Vizepräsident Eduard Oswald:
der darf am Ende des Lebens nicht ohne eigene Rente Frau Bundesministerin, Sie hätten jetzt noch eine
dastehen. Wir führen jetzt den Rentendialog, um diese Chance, die Redezeit zu verlängern. Die Frau Kollegin
Schwachstelle, die Gerechtigkeitsfrage, gemeinsam zu Zimmermann möchte Ihnen nämlich eine Zwischenfrage
beheben, sodass die Menschen in Zukunft darauf ver- stellen.
(B) (D)
trauen können: Wenn ich arbeite, wenn ich Kinder er-
ziehe, wenn ich vorsorge, dann reicht es im Alter für die
eigene Rente. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hoffentlich zum Mindestlohn. – Gut, denn sonst wird
Noch einen letzten Gedanken – ich bin schon über es zu viel.
meiner Zeit, deshalb muss ich mich beeilen – zum
Thema Mindestlohn. Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön, Frau Kollegin Zimmermann.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha! Wann
kommt der Gesetzentwurf?) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wann kommt
der Gesetzentwurf? – Britta Haßelmann
Wir haben in den letzten zehn Jahren Flexibilierungsre- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann liegt
formen erlebt. Wir alle haben sie mitgetragen. Ihr Vorschlag auf dem Tisch?)
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir nicht!)
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
– Das stimmt; die Linke hat das nicht mitgetragen. –
Früher waren wir der kranke Mann Europas. Wenn es Danke schön. – Frau Ministerin, sind Sie mit mir der
nach Ihnen ginge, wäre das wahrscheinlich immer noch Meinung, dass wir in den letzten zehn Jahren einen enor-
so. Aber jetzt erlebt Deutschland ein Jobwunder. Uns ist men Wandel am Arbeitsmarkt vollzogen haben, dass die
das lieber. Tendenz weg von gut bezahlter, tariflich entlohnter Ar-
beit hin zu prekärer Beschäftigung geht?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich will Ihnen dazu noch einige Zahlen nennen, die
Wir haben die Flexibilisierung auf den Weg gebracht; Ihr Ministerium mir geliefert hat: Wir haben 7,5 Millio-
das ist richtig. Aber Flexibilisierung ist etwas anderes als nen Minijobber; 2,4 Millionen Menschen in Deutschland
Lohndumping. Wenn man die letzten zehn Jahre betrach- haben einen Zweitjob; es gibt 830 000 Leiharbeiter. Sie
tet, dann sieht man, dass die Lohnspreizung in Deutsch- wissen genau, dass diese Kolleginnen und Kollegen bis
land größer geworden ist. Das heißt, die unteren Ein- zu 50 Prozent weniger verdienen als die Stammbeleg-
kommen haben stagniert; sie sind zum Teil gesunken. schaft. Ich möchte Ihnen noch eine Zahl nennen: Es gibt
Wir sehen vor allem, dass die Tarifbindung sehr viel 2,25 Millionen Menschen, die unter 6 Euro pro Stunde
schwächer geworden ist. In den neuen Bundesländern verdienen. Sind Sie mit mir der Meinung, dass wir hier
17074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Sabine Zimmermann
(A) einen Wandel am Arbeitsmarkt vollzogen haben, der Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): (C)
dramatisch ist, und dass die Sozialausgaben in eine im- Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie
mense Höhe getrieben werden, weil die Leute von ihrem sind diejenige in der Regierung, die die Umsetzung der
Geld nicht mehr leben können, wodurch Ihr Ministerium UN-Behindertenrechtskonvention für alle Ressorts ko-
zusätzlich belastet wird? ordinieren soll. Ich hatte Sie schon in der ersten Lesung
gefragt, wie sich das im Haushalt, der nichts anderes als
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für in Zahlen gegossene Politik sein soll, widerspiegelt. Sie
Arbeit und Soziales: haben mir damals gesagt, Sie wüssten gerade die Zahlen
Ich bin nicht Ihrer Meinung, dass es sich am Arbeits- nicht, aber in allen Ministerien und in allen Haushalten
markt zum Schlechteren entwickelt hat. Im Gegenteil: seien Gelder dafür zu finden. Vielleicht weil ich des Le-
Mehr Menschen haben Arbeit. Die Lohnsumme insge- sens nicht kundig bin – ich habe ja nur ein DDR-Abitur –,
samt und auch die Renten sind gestiegen. Unsere Politik habe ich die passenden Zahlen nicht gefunden. Können
war erfolgreich. Sie mich aufklären, wo diese Zahlen im Haushalt Ihres
Ministeriums und in den Haushalten der anderen Minis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – terien zu finden sind?
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Ren-
ten sind gesunken!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ich bin der Meinung, dass wir die Ausreißer nach un- Bitte schön, Frau Bundesministerin.
ten betrachten müssen; das habe ich eben dargelegt.
Auch das ist ein Signum der sozialen Marktwirtschaft:
Wenn alle erfolgreich mitarbeiten, müssen auch alle am Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Erfolg teilhaben. Wenn dies in den unteren Einkom- Arbeit und Soziales:
mensgruppen und dort, wo es weiße Flecken gibt, nicht Wir machen Folgendes: Wir stellen für Sie alle Zah-
mehr ohne Weiteres gilt, dann müssen wir einen neuen len aus dem Ministerium zusammen. Insgesamt handelt
Rahmen stecken. Ich bin – anders als Sie – der Meinung, es sich im Bereich Behindertenpolitik um mindestens
dass es nicht Aufgabe des Parlaments ist, die Frage nach zweistellige Milliardenbeträge. Allein in meinem Haus-
der Höhe der Lohnuntergrenze für die weißen Flecken halt ist ein beträchtlicher Betrag dafür verankert. Wie Sie
zu beantworten. sicherlich wissen, ist auch für den Pflegebereich ein gro-
ßer Betrag eingestellt.
Vizepräsident Eduard Oswald: Das Arbeitsministerium ist im Rahmen des Nationa-
Frau Bundesministerin, Sie müssen zum Schluss len Aktionsplans vor allem für das Thema Arbeit zustän-
(B) kommen. dig. In den letzten Jahren hat sich die Quote der Men- (D)
schen mit Behinderungen, die in Arbeit sind, erhöht. Wie
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Sie wissen, wollen wir das 5-Prozent-Ziel erreichen.
Arbeit und Soziales: 2002 waren nur 3,8 Prozent Menschen mit Behinderun-
Ich komme zum Schluss. Ich beantworte aber noch gen in Betrieben beschäftigt. Diese Quote ist inzwischen
die Zwischenfrage. auf 4,5 Prozent gestiegen. Das heißt, wir sind auf dem
richtigen Weg. Wir kommen an das 5-Prozent-Ziel, das
Vizepräsident Eduard Oswald: wir uns als Gesellschaft gesetzt haben, heran.
Seien Sie so nett und kommen Sie zum Schluss. Sonst Ich weise aber auch deutlich darauf hin, dass diese
müssen wir die Debatte insgesamt verlängern, Frau Bun- Quote im letzten und in diesem Jahr nicht mehr gestie-
desministerin. Das wollen Sie sicherlich nicht. gen ist, sondern stagnierte. Die Zahl der arbeitslosen
Menschen mit Behinderungen stagniert in diesem Jahr
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für bei 174 000 und sinkt nicht wie die allgemeine Arbeits-
Arbeit und Soziales: losigkeit. Das ist einer der Gründe, warum wir jetzt die
Jawohl, ich mache es kurz. – Ich möchte nicht, dass mit 100 Millionen Euro ausgestattete und auf vier Jahre
hier im Parlament über die Höhe der Lohnuntergrenze angelegte „Initiative Inklusion“ vor allem zur Förderung
diskutiert wird. Frau Hagedorn hat von 8,50 Euro und arbeitsloser Jugendlicher mit Behinderungen starten, um
die Linken haben von 10 Euro gesprochen. Wir sagen: so die Integration in Ausbildung und Arbeit zu stärken.
Es ist Aufgabe der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, Wir wollen mit diesem Programm gezielt 4 000 Arbeits-
dies festzulegen. Lassen Sie uns eine Kommission schaf- plätze für ältere Menschen mit Behinderungen und 1 300
fen, in der das ausgehandelt wird. Dann haben wir einen Ausbildungsplätze für junge Menschen mit Behinderun-
fairen, richtigen Mindestlohn. Den wollen wir gemein- gen schaffen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Auf-
sam erarbeiten. gabe.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich habe nur ein Schlaglicht auf die Arbeit geworfen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kon-
sequent leistet. Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber im
Augenblick steht zu viel still. Wir müssen besser wer-
Vizepräsident Eduard Oswald: den.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Ilja Seifert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17075

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) (C)


Wir setzen die Debatte regulär fort. – Für die Sozial-
das bestreitet in diesem Hause niemand. Wenn ich mir
demokraten hat das Wort unser Kollege Hubertus Heil.
anschaue, inwieweit Worte und Taten, Reden und Han-
Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.
deln bei Ihnen zusammenpassen, stelle ich fest, dass das
(Beifall bei der SPD) alles meilenweit auseinanderklafft. Ich kann Ihnen an
drei Beispielen deutlich machen, dass wir so nicht vo-
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
rankommen:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Das erste Beispiel. Sie reden ständig von einer Ver-
Damen und Herren! Sehr geehrte Frau von der Leyen, mittlungsoffensive – das haben Sie auch eben wieder ge-
vielleicht täte es diesem Haus einmal ganz gut, wenn wir tan –, zum Beispiel für die Gruppe der alleinerziehenden
in der Debatte über den Arbeitsmarkt in Deutschland Frauen, die unter den Langzeitarbeitslosen nachweislich
weder den Fehler machten, alles durch die rosarote eine ganz große Gruppe ist; das sind Frauen, die es be-
Brille zu betrachten – den begehen Sie quasi aus regie- sonders schwer haben.
rungsamtlicher Notwendigkeit –, noch den Fehler, alles
undifferenziert zu sehen und so zu tun, als hätte sich an (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
der einen oder anderen Stelle nicht etwas zum Positiven Und was machen Sie? Sie streichen die Maßnahmen zu-
verändert. Ich glaube, wir brauchen einen realistischen sammen, die notwendig sind, um diesen Frauen zu hel-
Blick auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes in fen. Wenn man einfach sagen könnte: „Wir haben jetzt
Deutschland. die Situation, um alle Betroffenen ganz schnell auf den
ersten Arbeitsmarkt zu bringen“,
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
(Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin:
Ein realistischer Blick legt Folgendes nahe: Ja, es ist
Ja, natürlich!)
richtig, Deutschland ist, was die Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt angeht, besser durch die Wirtschafts- und wäre das wünschenswert. Ich sage Ihnen: Menschen, die
Finanzkrise gekommen als andere Volkswirtschaften in langzeitarbeitslos sind, die drei, vier, fünf, sechs, sieben,
Europa, aber nicht unbedingt wegen Frau von der Leyen. acht, neun Jahre arbeitslos sind, brauchen begleitende
Wir sind zum Beispiel deshalb besser durch die Krise Hilfen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik, damit sie auf
gekommen, weil wir in der Großen Koalition mit den den ersten Arbeitsmarkt kommen können. So wird ein
Kurzarbeitsregelungen die richtigen Maßnahmen ergrif- Schuh daraus!
fen haben, weil Deutschland im Gegensatz zu anderen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) Volkswirtschaften ein industrielles Rückgrat hat. DIE GRÜNEN) (D)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das Sie ka-
puttmachen wollen!) Das andere hat mit der Realität dieser Menschen nichts
zu tun. Diese Frauen brauchen begleitende Hilfen, Frau
Das ist eine gute Nachricht. Es ist auch richtig: Wir ha- von der Leyen, und Sie lassen diese Frauen im Stich. Re-
ben die Chance, in den nächsten Jahren einen Durch- den und Handeln passen bei Ihnen nicht zusammen.
bruch am Arbeitsmarkt zu erzielen und langfristig
(Zuruf der Bundesministerin Dr. Ursula von
Arbeitslosigkeit zu überwinden, auch durch die demo-
der Leyen)
grafische Entwicklung.
– Sehr gern.
Aber das kommt nicht von allein, Frau von der Leyen.
Realität in Deutschland ist auch, dass die Entwicklung Ein zweites Beispiel gefällig? Frau von der Leyen,
im Moment auf einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt hi- Sie reden mit Vorliebe vom Thema Vereinbarkeit von
nausläuft. Auf der einen Seite werden aufgrund verän- Beruf und Familie. Ich höre vieles, was Sie sagen, rich-
derter Qualifikationsanforderungen in den Betrieben tig gern, weil ich feststelle: Da passt sich eine kluge Frau
durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt nach vielen Jahren konservativer Blockade Schritt für
und aufgrund des veränderten Altersaufbaus tatsächlich Schritt den gesellschaftlichen Realitäten hinsichtlich der
immer mehr Unternehmen händeringend nach Fachkräf- Vereinbarkeit von Beruf und Familie an. Aber dann las-
ten rufen, und auf der anderen Seite haben wir einen sen Sie zu, dass diese Regierung, der Sie angehören, ein
Sockel verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit. Diesen sogenanntes Betreuungsgeld auf den Weg bringt,
Sockel gilt es eigentlich aufzubrechen. Die vom Arbeits-
markt dauerhaft abgehängten Menschen hängen Sie mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dem, was Sie hier mit diesem Haushalt durchziehen, DIE GRÜNEN)
noch weiter ab; das muss man feststellen. eine Fernhalteprämie: Frauen werden vom Arbeitsmarkt
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Kinder von Bildungschancen ferngehalten.
DIE GRÜNEN) Auch wenn das nicht in Ihre unmittelbare Ressortzu-
Die Kollegin Pothmer und auch die Kollegin Hagedorn ständigkeit fällt, sondern Ihre geliebte Kollegin Schröder
haben Ihnen das an diesem Punkt vorgerechnet. betrifft, muss ich Ihnen sagen: Als Sozialministerin ha-
ben Sie die Verantwortung, die Chancen der Kinder in
Frau von der Leyen, Sie sind ja eine Meisterin des diesem Land und die Chancen der Frauen am Arbeits-
schönen Wortes; markt zu verbessern und den Unsinn mit der Fernhalte-
17076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) prämie aufzuhalten. Auch da sind Sie verantwortlich; machen, dass dort jede Branche aufgenommen werden (C)
aber Sie sagen nichts dazu. kann. Dann müssten wir Ihnen – gegen den Widerstand
der FDP – nicht jede Branche mühsam abringen. Ange-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sichts der Vetoakteure könnten wir auch dafür sorgen,
DIE GRÜNEN)
dass die Ausweitung leichter in Kraft gesetzt werden
Drittens. Frau Ministerin von der Leyen, es geht auch kann. Wir könnten das Instrument der tarifvertraglichen
um die Ordnung am Arbeitsmarkt. Es ist richtig, dass Mindestlöhne über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
wir am Arbeitsmarkt beides brauchen: Flexibilität und also ausbauen; aber im Prinzip gibt es das schon.
Sicherheit. Flexibilität ist in vielen Bereichen vorhan-
Dann sagen Sie: Wo es keine Tarifverträge gibt, set-
den, und sie ist auf einem veränderten Arbeitsmarkt auch
zen wir eine Kommission ein; dann kann die sich etwas
notwendig. Aber Sicherheit ist in vielen Bereichen nicht
Schönes ausdenken. – Im Grunde ist das die Beschrei-
mehr vorhanden. Die janusköpfige Entwicklung der letz-
bung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes, und auch
ten Jahre ist – wir müssen das offen einräumen –: Es gibt
das gibt es schon.
eine positive Entwicklung; die Arbeitslosenzahlen sind
zurückgegangen. Aber wir können und dürfen die Augen (Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)
nicht davor verschließen – das sage ich bewusst auch
Aber es funktioniert halt nicht.
selbstkritisch –, dass sich in vielen Jahren die Zunahme
von prekären Arbeitsverhältnissen so verfestigt hat, dass (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt da eine
Menschen diese Arbeitsverhältnisse nicht als Brücke aus andere Antwort!)
der Arbeitslosigkeit über eine unstetige Beschäftigung in
Deshalb sage ich Ihnen eines: Sie müssen Schritt für
eine ordentliche Beschäftigung erleben, sondern als
Schritt deutlich nachweisen, dass Ihren schönen Inter-
Dauerzustand.
views auch Taten folgen.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wir erleben auch, dass die Ausweitung bei den prekären des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Arbeitsverhältnissen dazu führt, dass das Ganze zum
Dieses Hohe Haus, Frau von der Leyen, wartet nicht
Drücken von Löhnen missbraucht wird.
auf Ihre Interviews, sondern darauf, dass Sie als zustän-
Frau von der Leyen, wenn Sie von den guten Chancen dige Ministerin für Arbeit und Soziales dem Deutschen
der Jugendlichen reden, haben Sie recht: Im Vergleich zu Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit einen Ge-
Spanien und Griechenland haben wir eine niedrige Ju- setzentwurf vorlegen. Dann werden wir wissen, ob Sie
gendarbeitslosigkeit; das ist ein Erfolg. Aber viele Ju- es wirklich ernst meinen. Ich prophezeie Ihnen: Da-
(B) gendliche erleben in diesem Land auch, dass sie trotz gu- durch, dass Ihre Freunde wie Herr Fuchs, Herr Lauk und (D)
ter Ausbildung viele Jahre lang gezwungen sind, sich wie sie alle heißen Ihren Beschluss so interpretieren,
mit Praktika, befristeten Arbeitsverträgen, Zeit- und dass sich gar nichts tut, dadurch, dass Herr Laumann
Leiharbeit durchzuhangeln. sagt: „Wir machen den Sack zu, egal, was drin ist“, und
dadurch, dass eine FDP, die aufgrund ideologischer Fi-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Frankreich
xierung in Sachen Mindestlohn keinen Deut nachgeben
haben die gar keinen Arbeitsplatz!)
wird, die sich in einem Existenzkampf befindet und aus
In einer Phase, wo viele junge Leute beispielsweise das Gesichtswahrungsgründen keinen Schritt mitgeht, wird
Bedürfnis haben, eine Familie zu gründen, ihr Leben in diese Regierung dazu nicht in der Lage sein.
Ordnung zu bringen, erleben sie, dass sich ihre Leistung,
(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)
ihr Einsatz nicht lohnen. Ich sage Ihnen: Da reichen
schöne Worte nicht aus. Ich finde das bedauerlich. Denn ich sage Ihnen auch:
Ich würde es gerne sehen, dass wir uns im nächsten
Das sage ich auch mit Blick auf das Thema Mindest-
Wahlkampf über andere Themen streiten.
lohn. Frau von der Leyen, es war ein erstaunlicher Par-
teitag, den Sie hatten. Ich weiß, wie man Parteitage orga- (Zurufe des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/
nisiert; Sie wissen das. Aus alter Verbundenheit sage ich CSU])
Ihnen: Super organisiert! Am Ende des Tages ist aber
Ich fände es schön, wenn wir im Interesse der arbeitenden
materiell gar nichts passiert, gar nichts herausgekom-
Menschen in diesem Land einen Mindestlohn einführen.
men.
Vorrang sollen die tarifvertraglichen Mindestlöhne ha-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) ben, aber es soll auch eine gesetzliche Lohnuntergrenze in
Deutschland geben, damit Menschen von ihrer Arbeit le-
Wenn man sich Ihren Beschluss anschaut und sich dann
ben können.
vor Augen führt, was Sie eben erzählt haben, dann muss
man sagen: Entweder war das nicht von Sachkenntnis (Beifall bei der SPD)
geprägt, oder Sie versuchen, den Leuten etwas vorzuma-
Mit Blick auf den Haushalt will ich Ihnen sagen, Frau
chen. Sie sagen: Wir wollen tarifvertragliche Mindest-
von der Leyen: Wenn Sie Kraft und Mut hätten, dann
löhne über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Ich sage:
hätten Sie hier einen Haushalt vorgelegt, der es sich
Das ist bereits möglich.
nicht so leicht macht, bei den Schwächsten der Schwa-
Wir könnten diese Möglichkeit ausbauen, indem wir chen zu kürzen. Sie hätten sich für einen Mindestlohn
im Arbeitnehmer-Entsendegesetz mit einem Satz klar- starkmachen müssen, der im Übrigen auf den Gesamt-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17077
Hubertus Heil (Peine)
(A) haushalt, auf die Sozialversicherungskassen und auf die Durch die Überarbeitung der Strukturen haben wir auch (C)
Ausgaben, die wir im Moment für aufstockende, ergän- Effizienzgewinne, die Sie in Ihre Bilder aufnehmen soll-
zende Arbeitslosengeld-II-Leistungen haben, sowie durch ten, Frau Hagedorn, um sozusagen up to date zu sein.
die Steuereinnahmen auch auf der Einnahmeseite posi-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tive Effekte gehabt hätte.
der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Das
Eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, das ist das sind nicht meine Bilder, das ist Ihr Sparpaket!)
Gebot der Stunde. Gemessen daran kann ich nur eines Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die Si-
feststellen: Sie sind ohne Zweifel stark in schönen Wor- tuation bei der Rente. Als Vertreter der FDP, als Libera-
ten, aber Sie sind schwach in konkreten Taten. Die Ar- ler, wird man hier mitunter belächelt, wenn man Sätze
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, die der Art sagt: Das Beste, was wir für die Menschen und
arbeitslosen Menschen und auch die Wirtschaft haben in insbesondere für die Rentner in diesem Lande tun kön-
diesem Ressort etwas Besseres verdient als eine reine nen, ist, dafür zu sorgen, dass es eine gute, starke wirt-
Ankündigungsministerin. schaftliche Entwicklung gibt. – Bei einem solchen Satz
Herzlichen Dank. feixt Links und sagt: Na ja, die Liberalen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten doch gar nicht!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben eine gute, eine starke wirtschaftliche Ent-
wicklung. Die Zahlen sind genannt worden: Rekord-
Vizepräsident Eduard Oswald: stand bei der Erwerbstätigkeit, Rekordstand bei der so-
Vielen Dank, Kollege Hubertus Heil. – Nächster Red- zialversicherungspflichtigen Beschäftigung, Niedrigstand
ner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege bei der Arbeitslosigkeit. Diese wirtschaftliche Entwick-
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb. lung führt dazu, dass sich auch die Einnahmen aus den
Rentenversicherungsbeiträgen sehr, sehr positiv entwi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ckeln. Deswegen können wir zwei Dinge tun, wir kön-
nen sie sogar gleichzeitig tun:
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Wir können erstens – absehbar zum 1. Juli nächsten
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen Jahres – die Renten der Menschen um 2,3 Prozent in
und Kollegen! Nachdem die Opposition hier so viel Westdeutschland
schlechte Stimmung verbreitet hat,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die In-
(B) (D)
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- flationsrate liegt derzeit bei 2,6 Prozent!)
NEN]: Das hat seine Gründe!)
und sogar um 3,2 Prozent in den neuen Bundesländern
will ich mit einer guten Nachricht beginnen: Das Ifo-In- erhöhen, Herr Birkwald. Das ist eine gute Nachricht für
stitut hat heute Morgen bekannt gegeben, dass der Ifo- die Menschen, weil sie damit auch von der starken wirt-
Index überraschend von 106,4 auf 106,6 Punkte gestie- schaftlichen Entwicklung profitieren. Ich habe immer
gen ist. Insbesondere die Geschäftserwartungen für die gesagt: Rentner und aktiv Beschäftigte sitzen in einem
nächsten sechs Monate haben sich deutlich verbessert. Boot. Das wird im nächsten Jahr bei den Rentenerhö-
Ich finde, das ist eine gute Nachricht für die Menschen hungen, die wir dann liefern können, besonders deutlich.
in diesem Lande und auch für den Arbeitsmarkt in die- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sem Lande.
Und wir können ein Zweites tun: Wir können zusätz-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lich die Rentenbeiträge senken, in 2012 um 0,3 Prozent
und wahrscheinlich in 2013 noch einmal um weitere
Der zweite Punkt, den ich gern erwähnen möchte: 0,6 Prozent.
Wir haben ja in diesen Tagen eine Art Halbzeitbilanz zu
ziehen. Mit dem heutigen Tag liefert die schwarz-gelbe (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
Koalition ihr drittes Großprojekt im Bereich der Lang- LINKE])
zeitarbeitslosigkeit ab. Nach der Jobcenterreform und Manche von Ihnen neigen wieder dazu, das zu margina-
der Regelsatzreform werden wir heute in diesem Hause lisieren, indem Sie sagen, das ist nur soundso viel pro
die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ab- Kopf. – Das mag sein, aber in der Summe ist das ein
schließend auf den Weg bringen. Ich bin sicher, der Bun- Konjunkturimpuls in Höhe von rund 9 Milliarden Euro,
desrat wird das nach den Verhandlungen im Vermitt- der zusätzlich in unsere Volkswirtschaft gegeben wird.
lungsausschuss am Ende der Woche ebenfalls tun. Das heißt, wir haben die Chance, hierdurch einen selbst-
Damit ist klar: Wir haben in diesem Bereich, in dem verstärkenden Prozess auszulösen. In einer Situation, in
es darum geht, Zukunftschancen für die Menschen zu der sich viele Menschen Sorgen um die Konjunktur ma-
schaffen, die Instrumente verbessert, zielgerichteter ge- chen, sehen wir nicht tatenlos zu, sondern wir nutzen
macht, die Entscheidungsfreiheiten vor Ort verbessert. auch die Möglichkeiten, die in unseren Sozialversiche-
rungen stecken, um unmittelbar wirksame Nachfrage zu
(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie schichten nur generieren. Auch das ist eine gute Nachricht, meine Da-
die Kürzungen um, mehr nicht!) men und Herren.
17078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C)
der CDU/CSU) Ja, natürlich die moderne Fassung, die aktuelle Fas-
sung!
Ich möchte zum Schluss noch etwas zum Thema Min-
destlohn sagen. Herr Heil, damit hier überhaupt kein
Zweifel bestehen bleibt: Die FDP ist für faire Löhne. Sie Hubertus Heil (Peine) (SPD):
ist für faire Löhne, die erstens die Interessen der Men- Aber ich gebe Ihnen recht, dass die Große Koalition
schen berücksichtigen, die hart arbeiten, die zweitens versucht hat, das Gesetz gängiger zu machen. Wir müssen
auch auf die Unternehmer in Deutschland Rücksicht heute aber feststellen, dass kein Mindestlohn darüber
nehmen, die in der weit überwiegenden Zahl aus dem festgesetzt worden ist. Deshalb sage ich Ihnen: Es geht
Mittelstand kommen und den Bestand ihres Unterneh- um die weißen Flecken – ohne Frage –, wo es keine Ta-
mens sowie ihre Arbeitsplätze im Blick haben müssen, rifbindung gibt. Ich bitte Sie aber, auch zur Kenntnis zu
und die vor allen Dingen drittens – das wird oft verges- nehmen, dass wir auch in Bereichen Probleme haben, wo
sen, aber das darf nicht vergessen werden – Langzeitar- es sogenannte Tarifverträge gibt, indem nämlich Stunden-
beitslosen eine Chance für die Rückkehr in den ersten löhne von 3,18 Euro pro Stunde und Ähnliches festgelegt
Arbeitsmarkt bieten. wurden. Das ist deshalb so, weil in diesen Bereichen leider
Gottes Gewerkschaften, aber auch Arbeitgeber nicht
Bei der Umsetzung dieses Ziels „faire Löhne“ setzen mehr so mobilisieren, dass man zu vernünftigen Lohn-
wir in erster Linie auf die Tarifautonomie. Ich bin nicht aushandlungsprozessen kommt.
der Meinung, dass die Zahlen hier so schlecht sind. Nach
unserer Kenntnis, die auf Auskünften des IAB-Betriebs- Wir sind für den Vorrang der Tarifautonomie, aber Sie
panels beruht – veröffentlicht von der vollkommen unver- dürfen die Augen nicht davor verschließen, das die
dächtigen Böckler-Stiftung, dem Böckler-Tarifarchiv –, Tarifautonomie in den Bereichen mit den weißen Fle-
sind 80 Prozent der Arbeitsverhältnisse in Deutschland cken, aber auch in einigen formal tarifgebundenen Be-
unverändert tarifgebunden: 60 Prozent direkt und 20 Pro- reichen nicht mehr funktioniert, mit dem Ergebnis, das
zent durch Bezugnahme auf Tarifverträge. In Bereichen, 3,18 Euro gezahlt werden und sich die Menschen ergän-
wo es keine Tarifbindung gibt, haben wir, also vor allen zendes Arbeitslosengeld II holen müssen, obwohl sie
Dingen Schwarz-Gelb – das muss man hier einmal sagen –, Vollzeit arbeiten. Das ist der Punkt, vor dem Sie die Au-
durch das Tarifvertragsgesetz und das Arbeitnehmer- gen verschließen. Deswegen können Sie sich nicht hin-
Entsendegesetz die Möglichkeit geschaffen, branchen- stellen und sagen: Irgendwie sind wir auch für faire
und regionalspezifische Mindestlöhne festzusetzen. Das Löhne. Das reicht nicht aus.
geschieht auch in einer Vielzahl von Fällen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) der LINKEN) (D)
Dann bleiben nur noch ganz wenige weiße Flecken,
Herr Kollege Heil.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Heil, ich weiß, dass das Mindestarbeits-
NEN]: Nicht wenige!) bedingungengesetz schon 1952
Und auch da ist das nicht bodenlos, sondern da gibt es (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin 1972
Auffanglinien wie etwa die Sittenwidrigkeit von Be- geboren!)
schäftigung und das Mindestarbeitsbedingungengesetz.
geschaffen wurde, aber es ist unter der Ägide der Großen
Mich wundert etwas, dass Sie, der Sie sozusagen – wenn
Koalition in der letzten Legislaturperiode sozusagen
ich das damals richtig beobachtet habe – der Schöpfer
runderneuert worden. Bis dahin war es ja in einem Dorn-
des Mindestarbeitsbedingungengesetzes sind, sich ein-
röschentiefschlaf. Sie haben es runderneuert. Ihr Ansatz
fach hier so hinstellen – –
war doch, damit alle Probleme lösen zu können. Zu dem
Zeitpunkt waren Sie schon dabei; da müsste ich mich
Vizepräsidentin Petra Pau: sehr täuschen, wenn ich das falsch beobachtet hätte.
Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ein zweiter Aspekt zu diesem Thema: Das Mindestar-
Kollegen Heil? Das würde Ihnen natürlich die Chance beitsbedingungengesetz hat deswegen keine Mindest-
geben, Ihre Redezeit zu verlängern. löhne geliefert, weil praktisch keine Anträge gestellt
worden sind. Seit der Novellierung des Mindestarbeits-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): bedingungengesetzes gab es nur einen einzigen Antrag.
Ich sehe das. Vielleicht höre ich erst zu, dann kann ich Sie werden doch zugestehen müssen: Wo es noch nicht
meine weiteren Ausführungen vielleicht in die Antwort einmal einen Antrag gibt, kann es am Ende auch keine
mit reinpacken. – Bitte sehr, Herr Kollege Heil. Ergebnisse geben.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Also gibt es
Hubertus Heil (Peine) (SPD): keine Probleme? Alles klar!)
Ich möchte Ihnen als Erstes sagen, dass ich das Min- – Nein, das unterstreicht doch meine Einschätzung, dass
destarbeitsbedingungengesetz nicht erfunden habe, son- wir in Deutschland im Großen und Ganzen eine Situa-
dern das wurde zu Zeiten Konrad Adenauers erfunden. tion haben, in der von den Tarifpartnern auskömmliche
Damals war ich noch nicht mit dabei. Löhne vereinbart werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17079
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Dritter Punkt. Auch ich kenne Zahlen über Tarif- es erforderlich ist, werden wir darüber sprechen. Bis (C)
löhne, bei denen ich mich wundere. Da gehe ich die Sa- dato sehen wir diese Notwendigkeit jedenfalls nicht.
che aber anders an als Sie. Ich hätte nie gedacht, dass ich
hier im Plenum des Deutschen Bundestages einmal die Danke.
Tarifautonomie vor der SPD verteidigen muss. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
der CDU/CSU) Aber gemein, so der Ministerin in den Rücken
zu fallen!)
Ich bin nicht bereit, die Tarifpartner aus ihrer Verantwor-
tung zu lassen. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
der CDU/CSU) legin Hinz das Wort.

Aus guten Gründen steht die Tarifautonomie im Grund-


Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gesetz.
NEN):
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und wenn es Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
nicht funktioniert?) von der Leyen, Sie haben kritisiert, dass meine Kollegin
Pothmer die soziale Situation so schlechtreden würde.
– Wenn es nicht funktioniert, dann liegt es daran, dass Sie müssen aber schlicht und einfach zur Kenntnis neh-
entweder die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer oder men, dass das Sparpaket der Bundesregierung lediglich
beide die Aufgabe nicht ernst genug nehmen. in Ihrem Etat umgesetzt wurde.
(Katja Mast [SPD]: Das ist die Realität!) (Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)
Dann muss man sie aber auch ermahnen, dies zu tun. Es Alleine in Ihrem Etat finden die Kürzungen statt, egal ob
ist vorrangig und in allererster Linie Aufgabe der Tarif- bei den Rentenbeiträgen für ALG-II-Empfänger, ob
parteien, diese Aufgabe zu lösen. Die Politik kommt erst beim Elterngeld für ALG-II-Empfänger, ob bei den
nachrangig zum Zug. Ich glaube insofern, dass es keinen Heizkostenzuschüssen oder bei der Eingliederungsleis-
Bedarf für einen Mindestlohn gibt. Lassen Sie mich Ih- tung.
nen zwei Argumente nennen.
(Katja Mast [SPD]: Ist nicht ihre Klientel!)
Zum einen – das hat die Kollegin Winterstein hier
(B) sehr deutlich gesagt –: Aufstocken findet bei vollzeitar- All das findet in Ihrem Etat statt; die anderen Etats sind (D)
beitenden Alleinstehenden nur in ganz seltenen Fällen vom Sparpaket nicht betroffen.
statt.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, genau!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Erstaunlich,
Das können Sie nicht negieren und auch nicht einfach
wie die Ministerin darüber spricht!)
weglächeln.
Wo die Familienverhältnisse dazu führen, dass der Lohn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
den Bedarf nicht deckt, haben Sie – Rot-Grün – selbst
und bei der SPD)
entschieden, dass dann aufgestockt werden soll. Min-
desteinkommen statt Mindestlohn – das halte ich für das Es hat überhaupt niemand etwas dagegen, dass Ver-
richtigere Rezept. besserungen der konjunkturellen Lage positive Effekte
auf den Haushalt haben. Im Gegenteil: Das finden wir
Zum anderen möchte ich an Folgendes erinnern: gut. Aber strukturelle Entscheidungen für Sozialabbau
Viele in diesem Hause haben vor wenigen Monaten, vor
finden wir schlecht. Das muss verhindert werden.
dem 1. Mai 2011, gesagt: Wir brauchen in Deutschland
deshalb Mindestlöhne, weil ansonsten der deutsche Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
beitsmarkt von Billiglohnkräften überrollt wird. Sechs sowie bei Abgeordneten der SPD)
Monate später kann man sagen: Stell dir vor, es ist Frei-
zügigkeit, und keiner kommt her. Es gibt keinen statis- Es handelt sich eben um keine konjunkturelle, sondern
tisch nachweisbaren Effekt, dass Arbeitskräfte aus Ost- sozusagen nur um eine strukturelle Entlastung, wenn
europa nach Deutschland gekommen wären und hier man die Eingliederungsleistungen um mehr als 20 Pro-
sozusagen Lohndumping betrieben worden wäre. Sie ha- zent kürzt, obwohl die Zahl der Hartz-IV-Empfänger nur
ben da eine Sau durchs Dorf getrieben, die jeglicher rea- um 4 Prozent zurückgeht. Das führt dazu, dass Langzeit-
len Grundlage entbehrte. arbeitslose nicht so qualifiziert werden können, dass sie
im ersten Arbeitsmarkt unterkommen können. Das ist
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das Problem. Sie können hier gerne über Fachkräfteman-
der CDU/CSU) gel reden; aber reden allein hilft nicht. Sie müssen auch
Geld in die Hand nehmen und etwas gegen den Fach-
Wir sollten deshalb jetzt nicht in Aktionismus verfal- kräftemangel tun.
len, sondern sehr nüchtern das Thema angehen. Ich kann
nur sagen: Wir beobachten das Ganze sehr genau. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
haben immer gesagt, wir sind zum Handeln bereit. Wenn sowie bei Abgeordneten der SPD)
17080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Priska Hinz (Herborn)


(A) Auch die Bundesagentur für Arbeit wird durch struk- Lötzsch [DIE LINKE]: Kontrolle wäre ja (C)
turelle Entscheidungen weiter belastet: Sie bekommt die schon viel!)
Kosten für die Grundsicherung im Alter aufgebürdet.
Meine Damen und Herren, die Koalition versagt mit
Das bedeutet, dass die Beitragszahlerinnen und -zahler
dem vorliegenden Haushalt vielen Menschen eine ange-
bis zum Jahr 2015 mit über 12 Milliarden Euro an diesen
messene soziale und kulturelle Teilhabe. Die Erhöhung
Kosten beteiligt werden; so viel wird auf die Beitrags-
des Hartz-IV-Regelsatzes um 10 Euro kann nicht da-
zahler umgewälzt.
rüber hinwegtäuschen, dass der Regelsatz schlicht und
(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!) einfach falsch berechnet ist; das können Sie mit diesem
Inflationsausgleich in Höhe von 10 Euro nicht aus der
Frau Merkel stellt sich als Bundeskanzlerin auf dem Welt schaffen.
Deutschen Arbeitgebertag hin und sagt: Wenn sich die
wirtschaftliche Lage verschlechtert, werden wir das Wir haben Ihnen gezeigt, wie es, auch wenn man den
Kurzarbeitergeldprogramm sofort wieder auflegen. Regelsatz erhöht, die Eingliederungsleistungen verbes-
sert und die BA stärkt, trotzdem möglich ist, die Netto-
(Rolf Schwanitz [SPD]: Wovon?) kreditaufnahme zu senken. Wir würden nämlich ein
Da Sie die BA jetzt so plündern, möchte ich doch einmal Sparpaket so im Haushalt verankern, dass alle Menschen
wissen: Mit welchem Geld eigentlich? ausgewogen belastet werden, und zwar auch die Unter-
nehmen, nicht einseitig nur die sozial Schwachen. Wenn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir dann noch einen gesetzlichen Mindestlohn auf den
sowie bei Abgeordneten der SPD) Weg bringen könnten, dann gäbe es auch für den Ar-
beits- und Sozialetat tatsächlich eine strukturelle Entlas-
Wenn Sie schon nicht auf die Grünen hören: Auch die
tung.
Bundesbank hat kritisch angemerkt,
Zu solchen Entscheidungen sind Sie leider nicht fä-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ein Un-
hig. Deswegen müssen wir den Etat ablehnen.
terschied!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass die Ausgaben der BA nicht über den Konjunktur- sowie bei Abgeordneten der SPD)
zyklus zu finanzieren sind, wenn Sie der BA einen hal-
ben Prozentpunkt aus der Mehrwertsteuer wegnehmen.
Diese Entscheidung hat die schwarz-gelbe Koalition im Vizepräsidentin Petra Pau:
Haushaltsausschuss leider nicht revidiert. Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
(B) Meine Damen und Herren, die Ministerin spricht hier (D)
über Altersarmut; aber ihr Konzept ist schon im Ansatz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gescheitert. Frau Ministerin, was nützt es, wenn Sie hier neten der FDP)
sagen: „Der Altersarmut muss man entgegenwirken;
man muss den Menschen helfen, die nicht 40 Jahre am Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Arbeitsmarkt erwerbstätig sein konnten, die unterbro- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
chene Erwerbsbiografien haben, die niedrige Einkom- Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Debatte
men haben“? Gerade diese Zielgruppe wird doch von Ih- heute anhört, meint man in der Tat, man sei in einem völ-
rem Konzept überhaupt nicht erfasst. lig fremden Land. Ich darf Ihnen sehr deutlich sagen:
Zwei Jahre christlich-liberale Koalition haben unser
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Land und seine Menschen nach vorne gebracht. Wir sind
sowie bei Abgeordneten der SPD) aus der letzten, übrigens durch eine Finanzkrise entstan-
Das ist doch das Problem: Sie machen immer Vorschläge denen Wirtschaftskrise besser herausgekommen.
über Vorschläge, aber diese sind nicht zielgerichtet an (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist der Großen
den Gruppen orientiert, die tatsächlich Unterstützung Koalition damals geschuldet!)
brauchen. Wir sind gespannt, welche Änderungen sich
hier noch ergeben werden. Wir müssen aber aufpassen und alles tun, damit das, was
sich am Horizont abzeichnet, nicht auf Deutschland
Leider ist von der Koalition in dieser Hinsicht über- durchschlägt und Beschäftigung in der jetzigen Form er-
haupt nichts zu hören. Sie tragen alles mit – wie die halten bleibt bzw. sich weiter positiv entwickelt.
Lämmer –, was Ihnen Frau von der Leyen vorsetzt. Das
finde ich besonders bedauerlich. Eigentlich könnte man Wir sorgen weiterhin für soziale Sicherheit, geben
von Abgeordneten erwarten, dass sie eigene Vorstellun- Perspektive und übernehmen Verantwortung für die
gen haben, Menschen. Ich glaube, dass Kritik angesichts der Tatsa-
che, dass wir mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in
(Bettina Hagedorn [SPD]: Richtig!) Europa haben, ganz schnell weggebügelt werden kann.
dass sie die Regierung nicht nur kontrollieren, sondern Frau von der Leyen hat die Zahlen gerade dargelegt.
vielleicht auch umorientieren. Aber hier ist von Ihnen Man kann sagen: Das alles ist Unfug und nicht richtig,
wirklich überhaupt nichts mehr zu erwarten. wir brauchen all das nicht. Ich entgegne Ihnen: Ich habe
die heftigen Auseinandersetzungen in den 80er-Jahren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darüber erlebt, wie man junge Menschen in Beschäfti-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gesine gung bzw. Ausbildung bringen kann. Mir ist lieber, wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17081
Karl Schiewerling
(A) haben ein Überangebot an Ausbildungsstellen, sodass der Leyen meinetwegen vorwerfen, sie würde zu viel ar- (C)
junge Menschen nachgefragt werden und untergebracht beiten. Das können Sie gerne tun; es stimmt auch. Sie
werden können, als dass wir mehr junge Menschen ha- können ihr aber nicht vorwerfen, dass sie in den letzten
ben, als uns Ausbildungsstellen zur Verfügung stehen. In zwei Jahren nicht mit großem Erfolg die Weichen ge-
einer solchen Situation sind wir lange nicht mehr gewe- stellt hat. All das, was Sie kritisieren, stimmt nicht.
sen.
Wir haben eine gute Entwicklung im Bereich der Bür-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gerarbeit. Wir haben eine gute Entwicklung beim Pro-
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat auch et- gramm „50 plus“.
was mit Demografie zu tun!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?)
Sicherheit ist unsere Zielsetzung auch in der Arbeits-
markt- und Sozialpolitik. Wir haben sie in der Vergan- Wir haben eine gute Entwicklung bei der Beschäftigung
genheit verwirklicht, wir werden sie auch im kommen- von Langzeitarbeitslosen. Wir haben eine gute Entwick-
den Jahr weiter verwirklichen. Gerade haben wir die lung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist doch nicht vom Him-
arbeitsmarktpolitischen Instrumente neu organisiert. Der mel gefallen. Da sind die Weichen in den letzten zwei
Vermittlungsausschuss hat, wie ich finde, einen vertret- Jahren richtig gestellt worden. Das haben wir in der Ko-
baren Kompromiss gefunden – wir stimmen gleich da- alition gemeinsam mit der Bundesarbeitsministerin ge-
rüber ab –, mit dem wir gut leben und gut zurechtkom- tan. Deshalb haben wir auch diesen Erfolg.
men können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente – Kollege neten der FDP)
Kolb hat gerade darauf hingewiesen – sind der dritte Ab- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige
schnitt der großen Arbeitsmarktreform, die wir durchge- Hinweise zu der von Ihnen erwähnten Mindestlohnde-
führt haben. Das wesentliche Merkmal dieser arbeits- batte geben. Es gibt da einen fundamentalen Unterschied
marktpolitischen Instrumente ist, dass mehr Freiheit und zu Ihnen.
mehr Verantwortung vor Ort wahrgenommen werden
kann, um den Menschen passgenau und zielgenau zu (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
helfen, wieder in Arbeit und Beschäftigung zu kommen. NEN]: Da bin ich aber gespannt!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mit der Union wird es auf keinen Fall im Deutschen
neten der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Bundestag einen Wettbewerb über die Höhe eines Min-
Quatsch!) destlohns geben.
(B) Aber, meine Damen und Herren, machen wir uns (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
nichts vor: Wir können so viele arbeitsmarktpolitische neten der FDP)
Instrumente schaffen, wie wir wollen, wir können Hun-
derte von Milliarden Euro in arbeitsmarktpolitische Pro- Meinen Sie denn im Ernst, dass wir Sie losmarschieren
gramme stecken: Wenn die Arbeitsplätze in der Wirt- lassen, um bei der nächsten Bundestagswahl den nächs-
schaft nicht geschaffen werden, können wir die Leute ten Überbietungswettbewerb zu veranstalten?
nicht unterbringen. Dass wir im Augenblick mit unseren (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Finger
Instrumenten Erfolg haben, hängt damit zusammen, dass runter! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/
sie so passgenau wirken, dass die Menschen auch auf DIE GRÜNEN]: Der CDA hat aber andere
dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen. Deswegen bitte Vorstellungen!)
ich Sie, endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass es
900 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Be- Professor Dr. Müller-Armack, ein großer Nestor der so-
schäftigungsverhältnisse gibt. Das ist ein Aufwuchs, und zialen Marktwirtschaft, hat sehr deutlich gesagt: Gegen
zwar in einer exzellenten Art und Weise, wie wir ihn seit einen Mindestlohn ist nichts einzuwenden, solange der
der Wende nicht mehr gehabt haben. Dadurch sind viele, Gleichgewichtslohn insgesamt nicht gestört wird.
viele Menschen – und zwar weit mehr als die Hälfte – in (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
Vollzeitbeschäftigung gekommen und haben eine Per-
spektive bekommen: Hier handelt es sich nämlich um or- Er hat darauf hingewiesen, dass die Einführung eines
dentliche und nicht um prekäre Beschäftigung und nicht Mindestlohns auch eine sehr sinnvolle Initiative sein
um Teilzeitbeschäftigung. Ich bin stolz darauf, dass kann. Der Gleichgewichtslohn ist dabei allerdings der
diese Menschen es geschafft haben, einen solchen Weg entscheidende Punkt. Mit jedem Debattenbeitrag ma-
zu gehen. Ihnen gilt all unsere Anerkennung. chen Sie jedoch deutlich, dass Sie sich genau dafür nicht
interessieren, sondern in einen völlig unbegründeten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Überbietungswettbewerb zur Höhe von Mindestlöhnen
neten der FDP) einsteigen wollen. Das wollen wir nicht. Deswegen ha-
Meine Damen und Herren, es ist gelungen, durch un- ben wir unseren Vorschlag unterbreitet.
sere Wirtschaftspolitik und durch unsere Arbeitsmarkt- (Beifall bei der CDU/CSU)
politik gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Ich will
das an dieser Stelle sehr deutlich sagen, weil Sie sich 60 Prozent der Arbeitnehmer haben ordentliche Tarif-
mal wieder – das machen Sie ja mit Vorliebe – auf Frau verträge, weitere 20 Prozent haben ordentliche Beschäf-
von der Leyen eingeschossen haben. Man kann Frau von tigungsverhältnisse in Betrieben. Ja, es ist richtig, wir
17082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Karl Schiewerling
(A) haben in manchen Bereichen erhebliche Verwerfungen. Ich möchte in aller Deutlichkeit fragen: Warum haben (C)
Die wollen wir auch abstellen. wir diese Malaise? Wir haben sie doch in den 50er-,
60er- und 70er-Jahren nicht gehabt. Wir haben sie auch
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie denn? Was in den 80er-Jahren nicht gehabt. Deswegen musste auch
wollen Sie denn?) das Mindestarbeitsbedingungengesetz aus dem Jahre
Aber die können wir doch nicht abstellen, indem wir im 1952 überhaupt nicht aus der Schublade geholt werden.
Deutschen Bundestag über die Höhe eines Mindestloh- Kein Mensch hat damals über Mindestlöhne und Lohn-
nes debattieren. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass untergrenzen nachgedacht.
diejenigen nicht aus der Verantwortung gelassen werden, Wir befinden uns in dieser Situation, weil die Tarif-
die für Lohnfindung in Deutschland zuständig sind: Ar- autonomie in vielen Bereichen nicht mehr funktioniert.
beitgeber und Gewerkschaften.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) der SPD)
In diese Richtung zielt auch der Antrag, den wir auf dem Ich sage deswegen in aller Klarheit: Wir lassen – dazu
CDU-Parteitag diskutiert haben. Grundlegende Intention dient auch der Vorschlag, den wir auf dem CDU-Partei-
dabei ist: Die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind tag diskutiert haben – Arbeitgeber und Gewerkschaften
für die Tariffindung zuständig. nicht aus dem Schwitzkasten. Sie sind für Löhne zustän-
dig. Sie sollen es richten. Wir setzen dafür den Rahmen;
Ich sage Ihnen voraus, dass wir an diesem Punkt wei-
denn – das wurde schon richtig gesagt – dafür sind sie
ter arbeiten werden, das ist ganz klar. Wir werden daran
zuständig.
arbeiten,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gesetzent-
wurf!) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ei-
nige Sätze zum „Regierungsdialog Rente“ sagen, weil er
dass eine Kommission, die sich mit dem Bereich Ar- gelegentlich angesprochen worden ist. Wir halten ihn für
beitsmarkt- und Sozialpolitik beschäftigt, gebildet wird richtig. Wir haben 2009 im Koalitionsvertrag vereinbart,
– das ist zumindest meine bzw. unsere Vorstellung –, dass wir etwas gegen Altersarmut tun wollen. Die Bun-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist der desarbeitsministerin hat – was ihre Aufgabe ist und was
Unterschied zu mir?) sie sehr gut gemacht hat – einen Vorschlag in die Debatte
hineingebracht. Dieser Vorschlag wird im Augenblick
in der Arbeitgeber und Gewerkschaften, die von der Si- auf breiter Ebene diskutiert. Ich bin mir sicher, dass wir
(B) tuation betroffen sind und sich in diesem Bereich aus- zu guten Ergebnissen kommen. Ich will nicht verheimli- (D)
kennen, unter entsprechenden Regularien, die noch fest- chen, dass ich selbst ein Interesse daran habe, dass dem
zulegen sind, die Dinge selbst regeln. möglichst viele aus diesem Hohen Hause zustimmen
können.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
Placebo!) Frau Kollegin Hinz, wir befinden uns mitten in der
Debatte und nicht am Ende. Es geht hier um einen Dia-
Vizepräsidentin Petra Pau:
log und nicht um einen Bescheid durch das Bundes-
arbeitsministerium. So verstehen wir auch unsere Arbeit
Herr Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage als Parlamentarier. Ich denke, dass wir gemeinsam zu ei-
der Kollegin Krellmann? nem guten Ergebnis kommen werden.

Karl Schiewerling (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und


der FDP)
Nein, ich lasse keine Frage zu.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hin-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Placebo- weisen, der uns am Herzen liegt. Die Frage der Inklusion
mindestlohn!) im Bereich der Behindertenarbeit, also die Frage der In-
Schauen Sie auf die Uhr. Wir müssen auf die Kollegin- tegration der Menschen mit Behinderung in unsere Ge-
nen und Kollegen aus den anderen Bereichen ein biss- sellschaft und in das Arbeitsleben, ist in der Tat ein
chen Rücksicht nehmen. Sie wollen auch noch diskutie- wichtiger und zentraler Punkt. Ich freue mich sehr, dass
ren. es uns mit diesem Haushalt gelungen ist, die dauerhafte
Förderung der unabhängigen Stelle gemäß Art. 33 der
(Katja Mast [SPD]: Aber von denen bekommt UN-Behindertenrechtskonvention nun tatsächlich zu si-
man keine kompletten Antworten!) chern. Damit beenden wir die Projektsituation, und es
kann ordentlich weitergehen.
Dass es zu fairen Bedingungen kommt, sind wir nicht
nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schul- Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, ausdrücklich all
dig. Es geht auch um faire Bedingungen im Bereich der denjenigen, die sich um die Integration von Behinderten
Wirtschaft. Es geht darum, dass die Betriebe, die sich or- bemühen – hier wird viel Arbeit geleistet, ob ehrenamt-
dentlich verhalten, nicht dadurch bestraft werden und lich oder professionell im Bereich der sozialen Einrich-
unter Druck geraten, dass sich andere Betriebe nicht an tungen –, unseren Behindertenbeauftragten und den ent-
entsprechende Spielregeln halten. sprechenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17083
Karl Schiewerling
(A) Bundesarbeitsministerium für die geleistete Arbeit dan- quenzen das für die Einzelnen bedeutet. Das habe ich (C)
ken. Ich glaube, dass wir mit diesem Haushalt so, wie verstanden, und deswegen bin ich dagegen.
wir ihn insgesamt aufgestellt haben, auch in diesem Be-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf
reich Akzente setzen.
der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])
Ich freue mich sehr darüber, dass wir, wenn sich die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiterhin positiv Vizepräsidentin Petra Pau:
entwickeln, den Menschen und allen, die der Hilfe be- Nun hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD-
dürfen, eine Perspektive geben können. Fraktion das Wort.
Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Anette Kramme (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schiewerling, ich sage nur: Besser bei
Vizepräsidentin Petra Pau:
8,50 Euro starten, als überhaupt keinen Gesetzentwurf
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Krellmann zum Mindestlohn hinbekommen.
das Wort. Bitte.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Die Regierung hat hier und heute einen objektiv un-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Schiewerling, vernünftigen Haushaltsentwurf für das Bundesarbeitsmi-
ich habe das Gefühl, dass Sie unseren Vorschlag noch nisterium vorgelegt. Was wir dort sehen, sind unvorstell-
nicht richtig verstanden haben. Wir möchten nicht jedes bare Einsparungen im Bereich der Betreuung von
Jahr immer wieder neu mit Ihnen darüber streiten, wie Arbeitslosen. Allein im Jahr 2012 geht es um eine Ein-
ein Mindestlohn eingeführt werden sollte. Wir möchten, sparsumme von 5,2 Milliarden Euro. Ihre Politik greift
dass diese Regierung endlich einen Startpunkt setzt, da- zu kurz, ist einfallslos und perspektivisch sogar gefähr-
mit Gewerkschaften, Arbeitgeber und Wissenschaftler, lich.
die in diesem Bereich arbeiten, das Weitere regeln kön- Wir verzeichnen am Arbeitsmarkt zwei dicke Pro-
nen. Den Startpunkt müssen wir aber setzen. Wofür sind bleme. Einerseits haben wir eine verfestigte Langzeitar-
wir denn gewählt? Über 80 Prozent der Menschen möch- beitslosigkeit zu verzeichnen. Mehr als 50 Prozent aller
ten einen Mindestlohn. Langzeitarbeitslosen haben keinerlei Berufsausbildung;
(B) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein! Die 20 Prozent haben nicht einmal einen Schulabschluss. Es (D)
möchten höhere Löhne!) gibt eine einfache Grundwahrheit: Wer keine Ausbil-
dung hat, wird sein Leben lang arm bleiben, wird immer
Wir müssen jetzt endlich etwas tun, damit die Gewerk- wieder auf den Bezug von Arbeitslosengeld und auch
schaften und die Arbeitgeberverbände die Chance be- Arbeitslosengeld II angewiesen sein und wird wahr-
kommen, für einen Mindestlohn zu sorgen. scheinlich später die Grundsicherung im Alter benöti-
(Beifall bei der LINKEN) gen.
Ein zweites Problem: Wir wissen, dass wir demogra-
Vizepräsidentin Petra Pau: fiebedingt auf einen Fachkräftemangel zusteuern. Ein
Sie haben das Wort, Kollege Schiewerling. Fachkräftemangel ist für eine Nation eine schwere Hy-
pothek; denn Investoren gehen in Länder – das wissen
wir –, in denen sie eine hinreichende Zahl an gut ausge-
Karl Schiewerling (CDU/CSU): bildeten Menschen antreffen, mit denen sie auf einen
Frau Kollegin Krellmann, ich danke Ihnen herzlich Expansionskurs kommen können. Fachkräftemangel be-
für den Hinweis, dass ich Sie nicht verstanden habe. Das deutet aber auch, dass die ökonomischen Möglichkeiten
mag sein. eines Landes unnötig eingeschränkt werden, mit negati-
Was ich aber verstanden habe, ist, dass Sie schon jetzt ven Folgen für die Steuereinnahmen einerseits und für
wissen, dass 10 Euro dabei herauskommen müssen – das die Sozialversicherungskassen andererseits.
geht bei Ihnen wie in einer Steilkurve schon in Richtung Frau von der Leyen, wir können bei Ihnen keinerlei
12 Euro –, und dass Ihre Berechnungsgrundlage so aus- Konzept zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit
sieht: In einer Bedarfsgemeinschaft mit vier Personen, erkennen. Ich verweise an dieser Stelle nur auf die ak-
die in der Region, aus der ich komme, etwa 1 700 Euro tuelle Instrumentenreform. Wir sehen auch keinerlei
bekommt, müsste der Alleinernährer einen Stundenlohn Konzeption, um den drohenden Fachkräftemangel in der
von 15 Euro erhalten, damit diese Menschen nicht auf Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen. Aber es gäbe
Hartz IV angewiesen sind. eine einfache Möglichkeit, die Aufgaben finanziell zu
bewältigen.
Frau Krellmann, was ich verstanden habe, ist, dass
Sie als Partei bzw. über den Deutschen Bundestag einen Die Untersuchung von Prognos bestätigt, dass wir
gesetzlichen Mindestlohn festsetzen lassen wollen. Für durch einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro Steuer-
Sie kann er nicht hoch genug sein, und Sie betrachten einnahmen in Höhe von 3,4 Milliarden Euro generieren
das Ganze unabhängig von der Frage, welche Konse- könnten.
17084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Anette Kramme
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unter der Vor- Herr Kolb, Sie dürfen sich jetzt setzen. Mir fällt zu Ih- (C)
gabe, dass keine Arbeitsplätze wegfallen sol- rer Frage nichts mehr ein. Ich denke, meine Antwort war
len!) erschöpfend.
Wir wissen auch, dass wir damit sozialstaatliche Trans- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
ferleistungen in Höhe von 1,7 Milliarden Euro vermei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf
den könnten.
das Thema Mindestlöhne zurückkommen. Ich habe ge-
(Beifall bei der SPD) rade die finanziellen Möglichkeiten im Staatshaushalt
dargestellt, die es durch einen gesetzlichen Mindestlohn
Insgesamt ergibt sich also eine Summe von 5,1 Milliar- gäbe. Davon abgesehen, es entspricht natürlich auch der
den Euro, die der Staat zusätzlich zur Verfügung hätte. Würde der Arbeit, einen Mindestlohn zu haben. Ich kann
nur sagen, dass das, was wir an dieser Stelle beobachten
Vizepräsidentin Petra Pau: – ich sehe die CDU noch ganz weit entfernt von einem
Kollegin Kramme, gestatten Sie eine Frage des Kolle- Mindestlohn –, schlichtweg verbohrt und ideologisch
gen Kolb? geprägt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein
Anette Kramme (SPD): weiteres Beispiel für unvernünftiges Regierungshandeln
Von Herrn Kolb immer gerne. nennen. Wir haben jetzt den Sachverhalt, dass qua Ge-
setz und nicht aufgrund der Leistung der Bundesregie-
rung der Rentenversicherungsbeitrag um 0,3 Prozent-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): punkte sinken wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass die
Das ist nett, Frau Kramme. – Ich wollte Sie nur fra- FDP an dieser Stelle ein strahlendes Gesicht aufsetzt,
gen, ob es richtig ist, was ich gehört habe, nämlich dass weil sie es endlich einmal geschafft hat, tatsächlich Ent-
Vorgabe für die Prognos-Studie war, unter der Annahme lastung für die Bürger zu erreichen.
zu rechnen, dass durch den Mindestlohn keine Arbeits-
plätze entfallen. Daher ist die Rechnung, die abgeliefert (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mehr netto vom
wurde, etwas gestellt bzw. – so müsste ich richtigerweise Brutto ist das!)
sagen – bestellt. Können Sie mir außerdem einmal sa- – Herr Kolb, Sie wissen auch, dass die Entlastung für
gen, wer der Auftraggeber der Studie gewesen ist? Da den Einzelnen an dieser Stelle minimal ist und dass es
habe ich nämlich etwas läuten hören. viel vernünftiger wäre, zu überlegen, was man mit die-
sem Geld stattdessen machen könnte.
(B) Anette Kramme (SPD): (D)
Herr Kolb, das sage ich Ihnen sehr gerne. Das war die Vizepräsidentin Petra Pau:
Friedrich-Ebert-Stiftung. Frau Kollegin Kramme, achten Sie bitte auf die Zeit.
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah!)
Anette Kramme (SPD):
– Ich finde, es ist ein legitimes Anliegen einer sozialen Da gibt es zwei Dinge: Wir könnten einerseits die
Stiftung, über die Konsequenzen eines Mindestlohns für Schwankungsreserve erhöhen. Das würde gerade bei
die Volkswirtschaft im Klaren zu sein. Diesen Aspekt konjunkturellen Schwankungen dazu führen, dass wir
hat die Friedrich-Ebert-Stiftung berücksichtigen lassen. nicht ständig Beitragssätze ändern müssten.
Sie wissen aber auch um die positiven Ergebnisse, die
die Prognos-Studie gezeigt hat. (Zuruf von der SPD: Eine gute Idee!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Und die Vorgaben? Oder wir könnten etwas für diejenigen Menschen tun,
– Gegenruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] die eine Erwerbsminderungsrente beziehen, indem wir
[SPD]: Es gab keine Vorgaben!) zum Beispiel die Zurechnungszeit erhöhen. Das würde
für diese Menschen statt 2 Euro, wie nach Ihrem Kon-
Die Prognos-Studie geht davon aus, dass es bei einem zept, 48 Euro im Monat mehr bedeuten.
Mindestlohn von 8,50 Euro nicht zu einem Abbau,
(Zurufe von der FDP)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Weil es eine
Vorgabe war!) Das ist – im Gegensatz zu der Ihrigen – eine Politik mit
menschlichem Angesicht.
sondern vielmehr zu einem Aufbau von Arbeitsplätzen
kommt. Ich bin mir sicher, jedes Forschungsinstitut, ins- Vielen herzlichen Dank.
besondere ein seriöses wie Prognos, wäre in hohem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Maße beleidigt, wenn man sagen würde, es lasse sich der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Ausgeben,
durch einen Auftraggeber in seinen wissenschaftlichen ausgeben, ausgeben!)
Einschätzungen beeinflussen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Prämissen Vizepräsidentin Petra Pau:
können Sie setzen als Auftraggeber, und das Der Kollege Max Straubinger hat für die Unionsfrak-
haben Sie auch getan!) tion das Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17085
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lerweile Auszubildende aus osteuropäischen Ländern an, (C)
neten der FDP) um alle Lehrstellen besetzen zu können.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das zeigt sehr deutlich, wie erfolgreich unsere Wirt-
Am Ende der Debatte zum Bundeshaushalt Arbeit und schaftspolitik ist.
Soziales kann man folgendes Fazit ziehen: (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sagen Sie
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eigentlich ist noch einmal Ihr Bundesland!)
alles gesagt!) Das hat natürlich auch mit einer entsprechenden Phi-
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen losophie in der Wirtschaftspolitik zu tun. Heute wurde
sind die Garanten für die soziale Sicherheit der Men- sichtbar – bei den Linken natürlich besonders, aber ge-
schen in unserem Lande, und die Opposition hat keine nauso bei SPD und Grünen –: Sie wollen die Bürgerin-
Alternativen zu dieser Politik. Das ist in vielen Wortbei- nen und Bürger immer mehr belasten,
trägen, die hier von der Opposition abgeliefert wurden, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! – Dr. Gesine
sichtbar geworden. Lötzsch [DIE LINKE]: Schwachsinn!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was Sie und Sie wollen darüber hinaus die Unternehmen belas-
behaupten, stimmt aber nicht!) ten.
Das kann man kurz anhand verschiedener Zahlen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! –
deutlich machen. Der Bundeshaushalt hat einen Umfang Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: So ein
von circa 306 Milliarden Euro. Der Haushalt für Arbeit Quatsch! Nichts verstanden!)
und Soziales hat einen Umfang von 126 Milliarden
Euro, der Haushalt für Gesundheit 14,5 Milliarden Euro, Wir haben die Philosophie: Arbeitnehmerinnen und Ar-
der Haushalt des Familienressorts 6,8 Milliarden Euro; beitnehmer und die Wirtschaft müssen entlastet werden,
summa summarum sind dies knapp 150 Milliarden Euro.
Jeder weiß, was das bedeutet: Fast 50 Prozent der Aus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gaben des Bundeshaushaltes kommen sozialen Zwecken der FDP)
zugute, und damit wird die soziale Sicherheit der Men- um Arbeitsplätze in unserem Land zu schaffen und die
schen besonders untermauert. Zukunftschancen der Menschen zu erhöhen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Philosophie hat sich bisher sehr erfolgreich be- (D)
(B)
Dies ist natürlich ein Ausdruck der erfolgreichen Ar- währt, auch in der gemeinsamen Regierungszeit mit der
beitsmarktpolitik dieser christlich-liberalen Bundesregie- SPD, die sich nicht mehr daran erinnern will. In der Gro-
rung in den vergangenen zwei Jahren. 84 Milliarden Euro ßen Koalition haben wir zum Beispiel den Arbeitslosen-
für Rente und rentengleiche Leistungen, insgesamt versicherungsbeitrag von 6,5 Prozent auf mittlerweile
40 Milliarden Euro für den Arbeitsmarkt – diese Zahlen 3 Prozent abgesenkt. Damit wurden die wirtschaftlichen
zeigen sehr deutlich, dass wir die erfolgreiche Politik Kräfte befördert und Arbeitsplätze in unserem Land ge-
fortsetzen und dass sich diese in zunehmender Erwerbs- schaffen. Damit haben wir eine bessere Wettbewerbsfä-
tätigkeit der Menschen in Deutschland niederschlagen higkeit erreicht. Das ist letztendlich mit entscheidend für
wird. Wir haben derzeit die höchste Zahl an Erwerbstäti- die Zukunft, für die soziale Absicherung der Menschen.
gen zu verzeichnen. Wir werden weiterhin die Arbeitslo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sigkeit bekämpfen und damit an die Spitze in Europa
gelangen. Derzeit liegt die Arbeitslosenquote in Deutsch- Verehrte Damen und Herren, mir graut vor den Vor-
land bei 6,5 Prozent; damit stehen wir im europäischen schlägen der Linken-Fraktion. Ich habe mit Aufmerk-
Vergleich sehr gut da. Das ist ein Ausdruck der erfolgrei- samkeit die Debatte zum Wirtschaftshaushalt verfolgt.
chen Politik, die wir, die christlich-liberale Koalition, in Der Kollege Claus hat ausgeführt, dass wir unsere Wett-
die Tat umsetzen. bewerbsfähigkeit zugunsten der Internationalität aufge-
ben sollten, weil der Handelsbilanzüberschuss, den wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erzielen, bei anderen Ländern negative Salden erzeugt.
Man kann es nicht oft genug sagen: Wir haben die ge- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und das
ringste Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Darum sorgt dann für Krisen!)
werden wir beneidet – richtigerweise. Kollege Heil, ich
erinnere mich noch an die Forderungen der SPD in der Das mag richtig sein. Aber es kann doch nicht sein, dass
Vergangenheit, zum Beispiel an die Forderung nach ei- dann Arbeitsplätze bei uns in Deutschland vor die Hunde
ner Ausbildungsplatzabgabe. Diese Forderung hört man gehen und abgebaut werden. Sie wollen letztendlich eine
jetzt nicht mehr. Das zeigt sehr deutlich: Die wirtschaft- Strangulierung der Wirtschaft,
lichen Kräfte haben die Grundlage in unserem Land ge- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Quatsch!
schaffen, dass wir vermehrt Arbeitsplätze haben und Darum geht es doch gar nicht!)
mittlerweile jedem Bewerber einen Ausbildungsplatz
anbieten können. Dadurch haben wir die Chancen der sowohl in der Automobilindustrie als auch in vielen an-
Jugend stark erhöht. In meiner Heimat werben wir mitt- deren Technologiebereichen. Dadurch werden Arbeits-
17086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Max Straubinger
(A) plätze aus unserem Land vertrieben. Dadurch werden die Das wäre ein Programm fürs Nichtstun. Es würde letzt- (C)
Chancen für die Menschen in Deutschland verringert. endlich dazu führen, dass zukünftig niemand mehr arbei-
tet oder dass in unserem Land nur noch wenige Men-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die schen arbeiten, die dies dann zu bezahlen hätten.
Kommission ist schlauer als Sie!)
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Quatsch!)
Zu einer solchen Politik werden wir Ihnen garantiert
nicht die Hand reichen. 41 Milliarden Euro entsprechen einer Erhöhung des Bei-
tragssatzes um 4 Prozentpunkte; das muss man sich ein-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mal auf der Zunge zergehen lassen. In dieser Größenord-
Ich habe mir auch die Änderungsanträge der Opposi- nung müssten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
tion angesehen. Entweder werden wir von Ihnen ständig belastet werden, um die entsprechenden Vorschläge ge-
dafür gescholten, dass wir zu wenige Sparanstrengungen genzufinanzieren. Dazu sage ich sehr deutlich: Sie haben
unternehmen, oder Sie fordern, dass wir noch wesentlich nicht den richtigen Kompass für eine gute Politik für die
mehr sparen müssten. Zukunft. Es liegt letztendlich an unserer christlich-libe-
ralen Regierung, den Sozialstaat in Deutschland auch
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! weiterhin erfolgreich auszubauen.
Mehr nun wirklich nicht! Aber mehr Einnah-
men!) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ist das eine Drohung?)
Die SPD hat heute einen Änderungsantrag einge-
bracht, der Mehrausgaben in Höhe von 1,5 Milliarden Dem fühlen wir uns verpflichtet. Stimmen Sie unserem
Euro zur Folge hätte. Dann hat sie erklärt, das könne Haushalt zu!
man durch die Einführung eines Mindestlohns gegen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
finanzieren.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Meine Vorredner haben schon dargelegt, was das bedeu-
ten würde. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11
– Bundesministerium für Arbeit und Soziales – in der
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) Ausschussfassung. Hierzu liegen fünf Änderungsanträge
Die Vorschläge der Grünen belaufen sich auf Mehr- vor, über die wir zuerst abstimmen.
ausgaben in Höhe von 3 Milliarden Euro. Sie wollen vor Wir beginnen mit der Abstimmung über den Ände-
(B) allen Dingen den ALG-II-Regelsatz auf 420 Euro anhe- (D)
rungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
ben. Wie Sie auf diesen Betrag gekommen sind, entzieht 17/7830. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
sich unserer Kenntnis. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
NEN]: Das können wir Ihnen alles vorrech- der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
nen! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/ und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
DIE GRÜNEN]: Dann kommen Sie mal in den Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Haushaltsausschuss!) Wir kommen nun zu zwei Änderungsanträgen der
Wir orientieren uns am Bundesverfassungsgerichtsurteil, Fraktion Die Linke.
werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Abstimmung über den Änderungsantrag auf Druck-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sache 17/7831. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit
und nicht am Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsver- den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Frak-
band. tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein, nein! Das Abstimmung über den Änderungsantrag auf Druck-
ist falsch!) sache 17/7832. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-
– Doch. Das entspricht der Forderung des Deutschen Pa- gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist ge-
ritätischen Wohlfahrtsverbandes. gen die Stimmen der Linksfraktion abgelehnt.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ Wir kommen schließlich zu zwei Änderungsanträgen
DIE GRÜNEN]: Nein, der des Verfassungsge- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
richts! Das stimmt!) Abstimmung über den Änderungsantrag auf Druck-
Bei den Linken war eine regelrechte Antragswut zu sache 17/7833. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
beobachten. Ihre Vorschläge hätten Ausgaben in einem Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-
Umfang von 41 Milliarden Euro zur Folge. rungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei
und der FDP) Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17087
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Dann kommen wir zur Abstimmung über den Ände- Caren Marks (SPD): (C)
rungsantrag auf Drucksache 17/7834. Wer stimmt dafür? – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieser und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Änderungsantrag ist abgelehnt. Ministerin, gestern titelte eine große deutsche Tageszei-
tung: „Regierung führt Kristina Schröder vor“. Der Arti-
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel-
kel bezog sich auf die in letzter Sekunde von der Koalition
plan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –
zurückgenommene Kürzung in Höhe von 2 Millionen
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Einzel-
Euro bei den Programmen gegen Rechtsextremismus. Die
plan 11 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
Koalitionsspitze hat Sie, Frau Ministerin, ausgebremst
gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
und Ihnen die gelbe Karte gezeigt, und ich sage: zu Recht.
men.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus- Schirmbeck [CDU/CSU]: Hören Sie doch auf
ses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermitt- mit dem Quatsch!)
lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Verbesserung
der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt Die von Ihnen geplanten Kürzungen waren ein verhee-
rendes politisches Signal. Rechtsextremismus muss mit
– Drucksachen 17/6277, 17/6853, 17/7065, allen Mitteln, und zwar entschieden, bekämpft werden.
17/7330, 17/7775 –
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Berichterstattung: der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Abgeordneter Stefan Müller (Erlangen) GRÜNEN)
Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Vermitt- Auch bei einem anderen Thema, für das Frau
lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge- Schröder zuständig ist, nehmen nun andere das Heft des
schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes- Handelns in die Hand. „Jeder gegen jeden beim Betreu-
tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. ungsgeld“, schrieb gestern eine andere Tageszeitung und
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt- berichtete von einem geplanten Krisengespräch nächste
lungsausschusses auf Drucksache 17/7775? – Wer Woche, bei dem Sie, Frau Ministerin, gar nicht eingela-
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- den sind.
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange- (Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU]:
(B) nommen. Stimmt nicht! – Rita Pawelski [CDU/CSU]: (D)
Falsch berichtet!)
Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort.
– Ich denke, das ist deutlich.
Ich rufe Tagesordnungspunkt II.16 auf:
Frau Ministerin, heute geht es nicht nur um die Wei-
Einzelplan 17 chenstellungen in Ihrem Etat für das kommende Jahr
Bundesministerium für Familie, Senioren, 2012. Es geht vielmehr um die Frage: Was ist wichtig
Frauen und Jugend und richtig für eine moderne Familien- und Gesell-
– Drucksachen 17/7116, 17/7123 – schaftspolitik? Doch ich bezweifle sehr, dass Sie als zu-
ständige Bundesministerin die Probleme in der Gesell-
Berichterstattung: schaft überhaupt erkennen. Ich nenne nur ein paar
Abgeordnete Andreas Mattfeldt davon: eine mangelnde Vereinbarkeit von Familie und
Rolf Schwanitz Beruf, eine zu geringe Zahl von Krippenplätzen und
Florian Toncar Ganztagsangeboten, eine nach wie vor mangelhafte
Steffen Bockhahn Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer und eine
Sven-Christian Kindler vorhandene Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung
von Minderheiten in unserer Gesellschaft. Hier erwarten
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen der
die Menschen zu Recht Antworten von Ihnen, Frau
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, zwei Ände-
Ministerin.
rungsanträge der Fraktion der SPD, zwei Änderungsan-
träge der Fraktion Die Linke sowie ein Änderungsantrag Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Kommentar auf
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über drei Än- tagesschau.de vom 16. November hat sich eingehend
derungsanträge werden wir später namentlich abstim- mit dem Erscheinungsbild der Ministerin beim Thema
men. Rechtsextremismus beschäftigt und mahnt an, dass wir
verantwortungsvolle Politiker brauchen, die nicht aus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
– Zitat – „ideologischer Geschwätzigkeit heraus Gräben
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich
aufreißen, wo gar keine sind“.
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gin Caren Marks für die SPD-Fraktion. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Zuruf von der FDP: Heute ist ein
(Beifall bei der SPD) guter Tag, um damit anzufangen!)
17088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Caren Marks
(A) Bei Frau Schröder komme – Zitat – „kein Satz ohne ein Krippengipfel einberufen werden, um all diese Probleme (C)
‚aber‘“ aus. Das wird in dem Artikel zu Recht bemän- gemeinsam anzupacken.
gelt. Er trifft damit den Kern des Problems.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die Ministerin reißt nicht nur hier mit ihrer „Ja, der LINKEN)
aber“-Politik Gräben auf: Programme gegen Rechts-
Doch das alles scheint die Bundesregierung nicht zu
extremismus ja, aber Sie zweigen hiervon Mittel für die
interessieren. Sie gucken gelangweilt, Frau Ministerin,
Bekämpfung des Islamismus und des Linksextremismus
und legen die Hände in den Schoß. Regierung und Ko-
ab. Fördermaßnahmen zur Gleichstellung von Frauen
alitionsfraktionen streiten sich stattdessen seit Monaten
und Männern ja, aber Sie kürzen bei Maßnahmen für
– in den letzten Tagen hat der Streit noch an Intensität
Mädchen und Frauen zugunsten von Jungen- und Män-
zugenommen – immer heftiger über das Betreuungsgeld.
nerprojekten. Was die Förderung der Antidiskriminie-
Dieses Betreuungsgeld wäre nicht nur eine bildungs-
rungsstelle angeht, kann noch nicht einmal von einer „Ja,
und gleichstellungspolitische Katastrophe, sondern auch
aber“-Politik die Rede sein. Denn die Ministerin spart
verfassungsrechtlich höchst problematisch. Über Jahre
die Antidiskriminierungsstelle im wahrsten Sinne des
hinweg würden Milliarden aus dem Bundeshaushalt ge-
Wortes kaputt und ignoriert damit den Auftrag des All-
bunden werden. Auch haushalterisch gesehen ist verant-
gemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Das alles ist ver-
wortliche Politik eine andere.
antwortungslos, Frau Ministerin.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich finde, es
wäre endlich an der Zeit, diesen immer bizarrer werden-
Frau Schröder, Sie spielen mit dieser ideologisch ge- den Streit ad acta zu legen und auf diese unsinnige Fern-
leiteten Politik Gruppen in unserem Land gegeneinander halteprämie – denn das ist und bleibt sie – zu verzichten.
aus und nehmen die gesellschaftliche Spaltung in Kauf.
Sie relativieren wirklich drängende Probleme und haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sich offensichtlich davon verabschiedet, für die Men- der LINKEN)
schen einzutreten, für die Sie als Ministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zuständig sind. Investieren Sie stattdessen mehr in den Ausbau von Bil-
dung und Betreuung; denn das wünschen und brauchen
So brauchen Eltern Verlässlichkeit in der Familien- Eltern und Kinder in unserem Land.
politik. Diese benötigen sie gerade beim Betreuungsaus-
Es ist notwendig, das Ruder bei der Familienpolitik
(B) bau. Familien fordern wirklich zu Recht, dass der Staat (D)
herumzureißen. Ich bezweifle allerdings, dass Sie, Frau
ein bedarfsdeckendes Angebot an frühkindlicher Bil-
Ministerin, dafür die richtige Person sind.
dung und Betreuung zur Verfügung stellt. Die aktuellen
Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben uns doch Herzlichen Dank.
erneut deutlich vor Augen geführt, dass beim Krippen-
ausbau noch viel zu tun ist. Bis zum Inkrafttreten des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Rechtsanspruchs bleiben uns nicht einmal mehr zwei der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Jahre. Es ist höchste Zeit. GRÜNEN)

Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb, für Vizepräsidentin Petra Pau:


2012 300 Millionen Euro zusätzlich in den Ausbau zu
Das Wort hat der Kollege Andreas Mattfeldt für die
investieren, und wir haben diese Forderung selbstver-
Unionsfraktion.
ständlich mit einem Finanzierungskonzept verbunden.
Wir sehen als SPD ganz klar eine gesamtgesellschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
che Aufgabe, bei der Bund, Länder und Kommunen in neten der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]:
einem Boot sitzen und diese Aufgabe gemeinsam zu be- Guter Mann!)
wältigen haben. Wegducken hilft hier nicht weiter, Frau
Ministerin. Andreas Mattfeldt (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
der LINKEN) Ministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Beratungen zum Haushalt 2012 standen unter dem Ein-
Uns allen ist seit langem bekannt: Erstens. Der Bedarf fluss der Verschuldungskrise innerhalb der Euro-Zone.
an Krippenplätzen ist höher als 2007 angenommen. Aufgrund dieser Doppelbelastung waren es für uns
Zweitens. Das Ausbautempo ist zu gering und muss Haushälter nicht ganz einfache Beratungen, und ich sage
dringend gesteigert werden. Drittens. Es gibt einen Fach- ehrlich: Ich hätte mir gewünscht, wir hätten ein wenig
kräftemangel, der dringend behoben werden muss, um mehr Zeit für die Beratungen gehabt. Dennoch hat mir
das Ausbauziel erreichen zu können. die Verschuldungskrise in Griechenland, Portugal, Ita-
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau!) lien und Spanien – um nur einige Länder zu nennen –
gezeigt, dass auch wir bei der Aufstellung des Bundes-
Deshalb sagen wir zu Recht – wir haben viele Bündnis- haushaltes äußerste Ausgabendisziplin aufzeigen müs-
partner an unserer Seite –: Es muss dringend ein neuer sen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17089
Andreas Mattfeldt
(A) Zahlreiche Anträge auf Mehrausgaben im Haushalt Meine Damen und Herren, die Menschen, die jeden (C)
des Familienministeriums sind schriftlich, aber auch in Tag hart arbeiten und das finanzieren, was wir hier viel-
ungezählten mündlichen Gesprächen mit Abgeordneten fach großzügig verteilen, wollen sehen, dass mit ihrem
sowie seitens der Sozialverbände und Institute oder hart erarbeiteten Geld etwas erreicht wird und dass hier-
durch Vertreter sozialer Projektförderung an mich heran- von bei ihnen wieder etwas ankommt. Ob hierzu der
getragen worden. Dabei habe ich mir vieles Wünschens- 50 000. Flyer oder die 6 000. Broschüre von Einrichtung
werte und Nachvollziehbare angeschaut und abgewogen, A, B oder C zielführend ist? Ich denke, nein.
ob wir Mittel zur Finanzierung einsetzen oder ob es viel-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
leicht eben nicht darstellbar ist; denn mit Blick auf die
NEN]: Ja, schön! Und was steht hinter A, B
Schuldenbelastung in unserem Land, die von den jungen
und C?)
Menschen bezahlt werden muss, und die eben nicht posi-
tive demografische Entwicklung ist auch im Bereich der Das gilt auch für die Antidiskriminierungsstelle. Ihr
freiwilligen sozialen Ausgaben größte Ausgabendiszi- Vorwurf, Frau Marks, wir hätten die Mittel für die ADS
plin gefordert. so gekürzt, dass eine Aufgabenwahrnehmung nicht mehr
möglich sei,
Ich habe mich davon überzeugen können, dass wir
viele Ausgaben für Verbände, Institute oder Projekte fi- (Caren Marks [SPD]: Genau so haben Sie es
nanzieren, die sinnvoll sind und von denen die Men- gemacht!)
schen im Land profitieren. Ich habe aber genauso gese- entbehrt jeder Grundlage. Richtig ist, dass die ADS in
hen – ich sage das ganz provokant –, dass zahlreiche zahlreichen Haushaltsstellen erheblich mehr Mittel als
Projekte, Institutionen oder Verbände, die durch hart er- im vergangenen Haushaltsjahr beantragt und gewünscht
arbeitete Steuermittel finanziert werden, nicht dafür sor- hat.
gen, dass es den Menschen in unserem Land besser geht.
Nein, oft geht es auch um die Arbeitsplatzsicherung von (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Mitarbeitern in einem für mich schier undurchschauba- GRÜNEN]: Es wird immer wieder zusammen-
ren Dschungel der sozialen Dienstleistungen. gekürzt!)

(Caren Marks [SPD]: Dass das für Sie nicht Im Zuge einer Prüfung haben wir dann aber festgestellt,
durchschaubar ist, ist zu erklären!) dass dieser zusätzlich gewünschte Mehrbedarf in keiner
Weise dem realisierten Abfluss von Mitteln entspricht.
Manche in unserem Land sprechen hier bereits von der Nur zur Klarstellung: Bis zum 16. November sind bei
Sozialindustrie. den den realistischen Gegebenheiten angepassten Haus-
haltsstellen gerade einmal 35 Prozent abgeflossen.
(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D)
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wo denn?) GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!)
Eine Anpassung hat hier also auch mit Haushaltsklarheit
Ich habe mir die Mühe gemacht, mir zahlreiche Ein- zu tun, die uns durch das Haushaltsrecht zwingend vor-
richtungen, die Mittel aus dem Familienministerium er- geschrieben ist. Ich sage deutlich: Es gibt auch zukünftig
halten, anzuschauen. Der Blick hinter die Kulissen war noch genug Luft für die Realisierung von zahlreichen
vielfach sehr aufschlussreich; denn gerade wenn man Projekten.
hinterfragt hat, was der Verein oder der Verband genau
macht und welche positive Wirkung hierdurch bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
weit für die Menschen erzielt wird, blieb ab und an doch der FDP – Caren Marks [SPD]: Mattfeldts
wenig übrig. Stunde?)

(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich appelliere deshalb daran, dass Sie mit uns dafür
NEN]: Werden Sie doch einmal konkret! Sa- kämpfen, dass die Einhaltung der Schuldenbremse bis in
gen Sie doch einmal, wen Sie meinen!) die kleinste Verwaltungseinheit, sowohl im Ministerium
als auch bei allen Empfängern von Steuergeldern, verin-
Erschreckend ist in diesem Zusammenhang, wie diese nerlicht wird; denn auch wenn in diesen Tagen die Wirt-
– jetzt nutze ich auch einfach mal diese Bezeichnung – schaft brummt und die Steuereinnahmen aufgrund klu-
„Sozialindustrie“ in unserem Land reagiert, wenn die ger politischer Entscheidungen anständig ausfallen,
von einer breiten Mehrheit des Bundestages geforderte werden wir uns dauerhaft nicht mehr alles leisten kön-
Schuldenbremse umgesetzt wird. Die Reaktionen, wenn nen, was wünschenswert ist. Wo es hinführt, wenn wir
finanzielle Wünsche nicht komplett umgesetzt werden, nicht jede Ausgabe hinterfragen, sehen wir nicht nur an
sind bemerkenswert. Griechenland oder Italien, sondern eben auch an unse-
rem eigenen Haushalt. Auch wir Deutsche haben jahr-
(Caren Marks [SPD]: Bemerkenswert ist Ihre zehntelang über unsere Verhältnisse gelebt, und wir fan-
Arroganz!) gen erst jetzt wieder zaghaft damit an, dass uns der
sparsame Umgang mit Steuergeldern in Fleisch und Blut
Mit medialem Druck wird versucht, Forderungen umzu-
übergeht.
setzen, und in der Öffentlichkeit wird ein schwarz-wei-
ßes Bild vom jeweiligen Parlamentarier, der diese Forde- Kritisch müssen wir feststellen, dass auch der Etat des
rung nicht erfüllt, gezeichnet. Familienministeriums während der Beratungen von
17090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Andreas Mattfeldt
(A) 6,48 Milliarden Euro auf 6,78 Milliarden Euro aufge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
stockt wurde. Dies liegt nicht daran, dass wir Wasser neten der FDP)
predigen und Wein trinken und im eigenen Etat noch
Ihre parteipolitischen Vorwürfe, Frau Marks, sind ab-
aufgesattelt haben, um das eine oder andere Projekt zu
strus und unter Demokraten, die in dieser Sache ein ge-
verwirklichen. Nein, der Aufwuchs liegt zuallererst da-
meinsames Ziel verfolgen, in meinen Augen unwürdig.
ran, dass wir den Ansatz für das Elterngeld um 300 Mil-
Ich sage deutlich: Eine solche Debatte dient nur dem ex-
lionen Euro auf 4,9 Milliarden Euro erhöhen mussten.
tremen Bereich in Deutschland. Das lasse ich nicht zu.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Caren Marks [SPD]: Da schämen sich Ihre
In der Betrachtung ist das natürlich eine erfreuliche Ent- eigenen Leute!)
wicklung; denn das zeigt uns, dass a) die Löhne auf-
Es bleibt zu hoffen, dass diese Mittel im Gegensatz zu
grund guter wirtschaftlicher Entwicklung steigen und b)
2011 – bis zum 15. November sind in diesem Bereich le-
vor allen Dingen immer mehr Väter Gebrauch von den
diglich 60 Prozent von 29 Millionen Euro abgeflossen –
Vätermonaten machen. Die Eltern haben einen gesetzli-
zukünftig auch in der Summe zielgerichtet eingesetzt
chen Anspruch auf das Elterngeld, und deshalb ist es
werden können.
trotz der Notwendigkeit der Schuldenbremse richtig, den
Ansatz realistisch anzupassen. (Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE
LINKE])
Wir haben in diesem Haushalt darüber hinaus die Ent-
schädigung der misshandelten Heimkinder dargestellt. – Herr Bockhahn, arbeiten Sie daran. Lassen Sie uns ab-
Dies war haushaltstechnisch und haushaltsrechtlich alles warten, wie die Mittel in Zukunft abfließen. Ich bin da
andere als eine einfache Angelegenheit; noch sehr skeptisch.
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir blicken insgesamt auf sehr erfolgreiche Haus-
NEN]: Auch keine Glanzleistung!) haltsberatungen zurück. In diesem Zusammenhang gilt
mein Dank nicht nur Ministerin Schröder und ihren
denn obwohl den Bund kein unmittelbares Verschulden Staatssekretären, sondern ganz besonders allen beteilig-
trifft – die Träger der Heime, das wissen Sie, waren häu- ten Mitarbeitern des Ministeriums, mit denen wir in den
fig die Kirchen –, verstehen wir es als Signal, diesen Op- letzten Monaten hervorragend zusammengearbeitet ha-
fern Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Insge- ben.
samt wurde am Runden Tisch vereinbart, dass der Bund
über vier Jahre verteilt insgesamt 40 Millionen Euro be- Herzlichen Dank.
reitstellt. Dies ist im Haushalt abgebildet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
(Diana Golze [DIE LINKE]: Und warum im
Familienetat?) Vizepräsidentin Petra Pau:
Ein Punkt, der vor allen Dingen der Ministerin sehr Das Wort hat der Kollege Steffen Bockhahn für die
am Herzen liegt, ist die Unterstützung von ungewollt Fraktion Die Linke.
kinderlosen Paaren bei der oft notwendigen medizini- (Beifall bei der LINKEN)
schen Kinderwunschbehandlung. Ich gebe offen zu, dass
ich über die Notwendigkeit einer Bereitstellung von Mit-
Steffen Bockhahn (DIE LINKE):
teln lange nachgedacht habe. Aber nach eingehender Be-
trachtung, auch in emotional ergreifenden Gesprächen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
mit Betroffenen, bin ich zu der tiefen Überzeugung ge- ginnen und Kollegen! Herr Kollege Mattfeldt, ich bin
kommen, dass es richtig ist, hierfür Mittel einzustellen. wirklich schwer überrascht davon, wie Sie die Arbeit
Wir werden in 2012 mit 7 Millionen Euro die Kinder- von Sozialverbänden in der Bundesrepublik Deutschland
wunschbehandlung unterstützen. Ich bin sicher: Das ist hier diskreditieren und ihnen per se Steuerverschwen-
gut angelegtes Geld, und das kommt direkt den Men- dung vorwerfen. Das ist unfassbar!
schen zugute. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich noch kurz ein Wort zum Extremis-
mustitel verlieren. Wir haben am Dienstag die Mittel für Ich möchte an dem Punkt weitermachen, mit dem Sie
diesen Titel um 2 Millionen Euro angehoben. aufgehört haben, nämlich mit dem Etat für die Extremis-
musprävention. Es ist sehr gut, dass der Etat zur Be-
(Caren Marks [SPD]: Ohne Wissen der
kämpfung des Rechtsextremismus wieder erhöht worden
Ministerin!)
ist, besser gesagt, dass doch nicht gekürzt worden ist.
Das ist ein erheblicher Aufwuchs, zumal erhebliche
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Kosten an einen Dienstleister wegfallen, der noch im
neten der SPD)
vergangenen Jahr die Verwaltung der Extremismuspro-
gramme extern vorgenommen hat; die werden jetzt Denn jetzt stehen wieder 29 Millionen statt bisher
durch eigenes Personal verwaltet. Schnell vergessen 27 Millionen Euro im Einzelplan. Es ist allerdings
wurde, dass es Kristina Schröder war, die bereits 2010 schlimm – ich kann mir nicht ersparen, das zu sagen –,
die Mittel für diesen Titel um 5 Millionen Euro erhöht dass es eines solchen Anlasses bedurfte, um das möglich
hat. zu machen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17091
Steffen Bockhahn
(A) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Verbänden und zivilgesellschaftlichen Akteuren gebil- (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) det. 65 Projekte wurden erfolgreich durchgeführt und
begleitet. In diesem Jahr gab es aber laut Plan nicht
Ich muss es so sagen: Ich bezweifle ernsthaft, dass in- mehr 100 000, sondern nur noch 40 000 Euro. Der Land-
zwischen alle verstanden haben, was zu tun ist. Denn kreis hat trotz erheblicher Haushaltsnotlage einen or-
wenn ich mir die Interviews der Ministerin und die dentlichen Eigenanteil geleistet. Fakt bleibt, dass dieses
Handlungsweisen in diesem Bereich anschaue, dann Jahr 60 000 Euro weniger nach Demmin geflossen sind
muss ich ernsthaft daran zweifeln, dass es alle verstan- als zu Beginn des Förderplans. Daher ist es auch kein
den haben, zumal die Zuständigen. Wunder, wenn im Ministerium noch Geld übrig ist. Sie
(Beifall bei der LINKEN und der SPD – nennen es degressive Förderungen, ich nenne es Kür-
Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zung.
NEN]: Die haben es noch nicht begriffen!) (Beifall bei der LINKEN)
Ein abschreckendes Beispiel dafür sind die unter- Verteilen Sie das Geld so, dass die Projekte, die es
schiedlichen Förderquoten. Projekte, die sich mit der Be- brauchen, es auch bekommen. Davon gibt es genügend,
kämpfung von Rechtsextremismus befassen, werden mit auch wenn Sie das vielleicht nicht wahrhaben oder ak-
maximal 50 Prozent durch den Bund gefördert. Projekte, zeptieren wollen, Frau Ministerin. Aber mit der Akzep-
die sich mit vermeintlichem Linksextremismus befassen tanz von Realitäten scheint es bei Ihnen ohnehin schwie-
sollen, brauchen hingegen nur 10 Prozent Eigenanteil rig zu sein. Ich habe Ihr Zeitungsinterview vom letzten
aufzubringen, weil sie mit bis zu 90 Prozent durch das Freitag gelesen und muss feststellen: Sie haben erhebli-
Bundesministerium gefördert werden. Objektiv handelt che Wahrnehmungsstörungen. Sie behaupten dort, dass
es sich hier um eine Ungleichbehandlung durch das die Opposition im Haushaltsausschuss des Deutschen
Ministerium. Das ist ein fatales und falsches Signal, Frau Bundestages einer Kürzung der Mittel im Extremismus-
Ministerin. Machen Sie das rückgängig! bereich zugestimmt hat. Das ist schlicht unwahr; das ist
eine Lüge. Nehmen Sie das hier zurück, Frau Ministerin!
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
[SPD]: Die ist und bleibt auf dem rechten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auge blind!) Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der hier
Wir müssen auch darüber nachdenken, wer die Ver- schon thematisiert wurde. Das sind die Kürzungen bei
antwortung für diese Aufgabe trägt. Bisher sind es for- der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Herr Kollege
mal allein die Kommunen und die Länder. Der Bund ist Mattfeldt, Sie machen es sich ein bisschen zu einfach,
(B) nur impulsgebend aktiv, betreibt also nur Projektförde- wenn Sie behaupten, dass der Mittelabfluss nicht so ist, (D)
rung. Langfristige, fundierte Arbeit durch institutionelle wie Sie sich das vorstellen. Wenn Sie sich die Ar-
Förderung ist derzeit nicht gewollt. Ich halte das für beitsprogramme genau anschauen, dann wissen Sie, dass
hier langfristige Kampagnen geplant sind und dass Mit-
falsch. Der Einsatz für Demokratie, Toleranz und Frei-
tel angespart werden. Wenn Sie sich die Arbeitspläne für
heit ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Auch der
das nächste Jahr anschauen, dann wissen Sie, dass eine
Bund sollte hier mehr tun.
große, breit angelegte Kampagne gegen Altersdiskrimi-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nierung, für die Unterstützung zugesichert ist, geplant
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE war. Ob die jetzt noch möglich sein wird, ist mehr als
GRÜNEN) fraglich.
Auch die Länder können und müssen wieder mehr (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Doch, die ist
tun. Kommunen, die Projekte trotz schwerer Haushalts- möglich!)
lagen ermöglichen wollen, müssen durch die Rechtsauf- Sie stellen sich hier als großer Haushaltssanierer dar und
sichtsbehörden in den Ländern die Möglichkeit dazu be- kürzen 367 000 Euro, ein Achtel des Gesamtbudgets der
kommen. Projekte für Demokratie und Toleranz, liebe ADS, weg. Sie nehmen 26 Milliarden Euro neue Schul-
Kolleginnen und Kollegen, sind keine freiwilligen Auf- den auf. Da kann es doch an 367 000 Euro für zivilge-
gaben. Sie sind erste Bürgerpflicht. Sie müssen möglich sellschaftliches Engagement nicht fehlen.
sein und möglich bleiben.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Georg
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Schirmbeck [CDU/CSU]: Da sieht man eure
GRÜNEN) Geisteshaltung!)
In den letzten Tagen wurde in vielen Medienberichten Was Sie da treiben, ist unfassbar. Genauso unfassbar ist,
darauf hingewiesen, dass die Ministerin gesagt hat, dass in welches Licht Sie die Antidiskriminierungsstelle stel-
noch 8,5 Millionen Euro übrig sind bzw. noch nicht ab- len. Wenn man sich die Blogs auf Ihrer Website an-
gerufen worden sind. Wie kommt denn so etwas zu- schaut,
stande? In Mecklenburg-Vorpommern gibt es zehn lo- (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sehr schön,
kale Aktionspläne, einen davon in Demmin. Anfänglich dass Sie die lesen!)
wurde er mit 100 000 Euro unterstützt. Ein breites zivil-
gesellschaftliches Bündnis beteiligte sich daran. Es dann weiß man, was eigentlich dahintersteckt; das ist das
wurde extra ein Begleitausschuss mit Parteien, Vereinen, Problem.
17092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Steffen Bockhahn
(A) Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ich Wandel. Die Aufgabe von uns Politikerinnen und Politi- (C)
kann es Ihnen an dieser Stelle nicht ersparen, auch Sie zu kern ist es, diesen Wandel zu begleiten und zu gestalten.
kritisieren. Wir haben gemeinsam gegen die Kürzungen Im Mittelpunkt stehen dabei für uns stets die Kinder. Wir
protestiert. Dass Sie aufgrund kleingeistiger parteipoliti- werden deshalb gezielt investieren, um Kindern Schutz
scher Denke einen gemeinsamen Änderungsantrag der und Chancen zu bieten.
Oppositionsfraktionen verhindert haben, ist ein schlech- Ich erinnere an dieser Stelle an das Bundeskinder-
tes Signal. Es hätte die Chance auf einen gemeinsamen schutzgesetz und insbesondere die Initiative der FDP für
Antrag gegeben. Aber Sie wollten das nicht. Das ist die Familienhebammen. Ich appelliere noch einmal an
nicht in Ordnung. Das ist ein falsches Signal. Das kriti- alle hier im Hause, diesem guten Gesetz nicht den Weg
sieren wir. Aber vor allen Dingen kritisieren wir die Kür- zu versperren, sei es über die Länder oder über andere
zungen. Wege.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich erinnere daran, dass wir als schwarz-gelbe Koali-
Vizepräsidentin Petra Pau:
tion mehr in die frühkindliche Bildung investieren, auch
Das Wort hat die Kollegin Gruß für die FDP-Fraktion. von Bundesseite, als das jemals in einem Haushalt zuvor
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geschehen ist, und zwar mit der Bundesinitiative „Offen-
sive Frühe Chancen“.
Miriam Gruß (FDP): Was die Familien anbelangt, wollen auch wir die Rah-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten menbedingungen verbessern. Insbesondere sollten wir
Damen und Herren! Liebe Ministerin! Es ist unbestrit- Familien in den Blick nehmen, die ungewollt kinderlos
ten: Wir alle sind bestürzt und traurig. Gerade uns Fami- sind. Ich freue mich deshalb sehr, dass in diesem Etat
lienpolitikerinnen und Familienpolitiker macht es sehr 7 Millionen Euro, wenn auch noch gesperrt, bis ein trag-
betroffen, wenn Eltern ihre Tochter verlieren oder Kin- fähiges Konzept vorliegt, für Familien zur Verfügung
der ihren Vater. Wir alle stehen geschlossen hinter den gestellt werden, die ungewollt kinderlos sind. Wir wol-
Angehörigen der Opfer rechtsextremer Gewalt. Deren len die Bedingungen verbessern, diesen Familien Chan-
ungeheuerliches Ausmaß hat uns alle schockiert. Ich cen eröffnen und den Etat in den früheren Stand verset-
möchte an dieser Stelle an die gute Stunde erinnern, die zen; die Mittel sind ja gekürzt worden, als wir noch nicht
wir am Dienstag im Deutschen Bundestag gemeinsam regiert haben. Nirgendwo ist es so offensichtlich, dass
begangen haben. ein Mitteleinsatz tatsächlich direkt zu mehr Kindern
führt. Wir freuen uns deswegen über die Initiative für die
(B) Die Initiative der Justizministerin, Frau annähernd 2 Millionen ungewollt kinderlosen Paare in (D)
Leutheusser-Schnarrenberger, begrüße ich sehr. Die An- Deutschland.
gehörigen müssen entschädigt werden; denn sie leben
mit dem Schmerz ihr ganzes Leben. Die Vorfälle (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
verdeutlichen uns einmal mehr, wie wichtig die Präven- Zum Elterngeld ist schon einiges gesagt worden.
tion von Rechtsextremismus ist. Mein Kollege
Bernschneider wird darauf genauer eingehen. Aber eines Zum Betreuungsgeld. Es ist ganz klar, dass es nicht
von uns auf den Weg gebracht worden ist, sondern da-
will ich doch festhalten: Die Mittel zur Bekämpfung al-
mals von Schwarz-Rot und dass es einen Zusammen-
ler Formen von Extremismus wurden seit dem Ende von
hang zwischen dem Ausbau der Betreuung und dem Be-
Rot-Grün fast verdreifacht. Das zeigt, wie ernst wir die-
treuungsgeld gab. Von daher appelliere ich auch an die
ses Thema nehmen.
rot-grün regierten Länder, beim Ausbau der Betreuung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ihre Hausaufgaben zu machen; denn wir schaffen wahre
Wahlfreiheit nur dann, wenn auch die Länder ihre Zusa-
Nun kommt Kritik aus der Opposition zu den Mittel- gen einhalten und ihre Gelder in den Ausbau der Betreu-
kürzungen bei der Antidiskriminierungsstelle. Ich bitte ung investieren.
darum, dass sich die Aufregung hier legt, bei allem Ver-
ständnis dafür. Wir alle sind uns doch einig: Diese wich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tige Stelle muss ihre gesetzlichen Aufgaben unbedingt neten der FDP)
erfüllen können. Sie hat jedoch 2011 ihr Budget nicht Mit Interesse verfolge ich diverse Debattenbeiträge
ausgeschöpft. Die Antidiskriminierungsstelle nimmt ei- zum Betreuungsgeld. An der Stelle nur ein Appell auch
nen deutlichen sechsstelligen Betrag an unverbrauchten an Bayern, auch wenn ich selbst von dort komme. Die
Mitteln mit in das nächste Jahr. Allein für den Bereich Verhandlungsführer sitzen im Deutschen Bundestag. Ich
Öffentlichkeitsarbeit wurden für das Jahr 2011 freue mich auf die gemeinsame Arbeit. Die FDP steht
200 000 Euro veranschlagt. Aber es zeichnet sich ab, für die Gespräche zur Verfügung. Unsere Positionen
dass nur gut 50 000 Euro davon ausgegeben werden, das sind, denke ich, klar. Der grobe Rahmen ist abgesteckt.
heißt ein Viertel, meine Damen und Herren. Die Antidis- Die Ausgestaltung jedoch ist noch offen. Für die diver-
kriminierungsstelle sollte arbeiten, bevor etwas passiert. sen Änderungswünsche und für diverse Ausgestaltungs-
Vor diesem Hintergrund ist ein so großer Übertrag ins optionen ist die FDP offen.
nächste Jahr nicht zu verstehen.
Vielen Dank.
Nun komme ich zum allgemeinen Etat. – Die Gesell-
schaft insgesamt befindet sich in einem tiefgreifenden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17093

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Jena – jeder kennt sie mittlerweile – hat keine Mittel be- (C)
Die Kollegin Monika Lazar hat für die Fraktion antragt, weil sie diese Verdachtsklausel nicht unterzeich-
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. nen will.
(Zustimmung des Abg. Dr. Peter Röhlinger
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [FDP])
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Da nickt sogar der Jenaer Kollege von der FDP, der das
Die rechtsextreme Mordserie der letzten Jahre hat wahr-
aus der Praxis kennt.
scheinlich dem Letzten hier im Hause die Augen dafür
geöffnet, dass die Auseinandersetzung zum Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Rechtsextremismus, Rassismus und gruppenbezogene bei der SPD und der LINKEN)
Menschenfeindlichkeit eine Daueraufgabe für die ge-
Ich bin auch froh, dass jetzt die erste Initiative gegen
samte Gesellschaft ist. Deshalb ist es gut gewesen, dass
die Extremismusklausel klagt, und zwar die AKuBiZ-
wir den gemeinsamen Entschließungsantrag am Diens-
Initiative aus Pirna, die letztes Jahr schon den sächsi-
tag wirklich als ganzes Haus verabschiedet haben.
schen Demokratiepreis wegen dieser Klausel abgelehnt
(Beifall des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP]) hat.
Jetzt ist es allerdings wichtig, dass daraus Taten folgen. Demokratie lässt sich nicht per Verwaltungsakt absi-
chern. Wichtig und richtig ist: Eine aktive Zivilgesell-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft ist das beste Nazi-Abwehrzentrum. Deshalb müs-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sen wir an dieser Stelle investieren.
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Der erste Schritt, die Rücknahme der Kürzung um bei der SPD und der LINKEN)
2 Millionen Euro, die vorhin schon angesprochen wurde,
ist ein richtiger Schritt. Allerdings bedeutet das natür- Wir brauchen eine unbürokratische und vertrauensba-
lich, dass es weitergehen muss. Ich habe die Befürch- sierte Förderung, insbesondere für die Strukturprojekte,
tung, dass das bei der Ministerin immer noch nicht ange- wo seit über zehn Jahren eine qualitativ hochwertige Ar-
kommen ist. Sie, Frau Ministerin, zeigen sich immer beit geleistet wird. Mobile Beratungsteams müssen gesi-
noch uneinsichtig und haben ausgerechnet am Dienstag chert werden. Opferberatungsstellen müssen in Ost und
eine peinliche – so kann ich nur sagen – Pressemitteilung West ausgebaut werden.
herausgegeben. Sie wollen es wahrscheinlich wirklich Wichtig ist weiterhin, dass kleine Träger ein direktes
nicht merken. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Antragsrecht beim Bund haben; das wurde vorhin schon
(B) muss man beim Namen nennen. (D)
angesprochen. Bis jetzt läuft das meistens über den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landkreis oder die Kommune. In den dortigen Verga-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der beausschüssen sitzen manchmal Leute, die das eher be-
LINKEN) hindern und die aktiven Initiativen als Nestbeschmutzer
bezeichnen.
Das Versagen der Behörden zeigt uns, dass der Staat
auf das Know-how der zivilgesellschaftlichen Initiativen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
angewiesen ist. Deshalb fordern wir eine Erhöhung der SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN –
Mittel. Wir fordern 50 Millionen Euro für ein neues Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es lei-
Bundesprogramm. Das Geld ist eine gute Investition in der!)
unsere Demokratie und stärkt vor allem die Initiativen Ein weiterer Punkt, der ebenfalls schon angesprochen
und Menschen, die in unserem Land dort tätig sind, wo wurde, ist die Kofinanzierung. Frau Schröder, Sie kön-
es manchmal nicht mehr so viele aufrechte Demokraten nen es uns in Ihrer Rede erklären: Warum ist bei Projek-
gibt. Allerdings reicht Geld allein auch da nicht; denn ten gegen Rechtsextremismus ein Eigenanteil von 50 Pro-
die Arbeit wird noch durch andere Brocken erschwert. zent und bei Projekten gegen vermeintlichen Linksextre-
Ich erwähne nur die Extremismusklausel. Sie alle müs- mismus nur ein Eigenanteil von 10 Prozent erforderlich?
sen doch endlich begriffen haben, dass diese Klausel Das verstehe ich nicht.
wegmuss.
(Zuruf von der LINKEN: Wir auch nicht!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) Das ist völlig unlogisch. Wir müssen der Diskriminie-
rung entgegentreten, und zwar in der gesamten Gesell-
Aber die Ministerin merkt das nicht. Sie verteidigt sie schaft.
weiterhin und drangsaliert die Initiativen damit. Ich kann
nur sagen: Hören Sie endlich auf damit! Unterhalten Sie Deshalb möchte ich zum Schluss noch kurz auf die
sich mit den Initiativen und Antragstellern; denn sie Antidiskriminierungsstelle zu sprechen kommen. Die
merken, dass es da nicht vorangeht. Ausstattung mit 2,9 Millionen Euro war schon nicht üp-
pig und nicht ausreichend. Es ist nicht nachvollziehbar,
Es gibt außerdem keinen Beleg dafür, dass Antrag- warum die Koalition noch einmal um circa 12 Prozent
steller in den letzten Jahren, seit es die Bundespro- kürzen muss, insbesondere vor dem Hintergrund, dass
gramme gibt, die Gelder zweckentfremdet haben. Des- die Kampagne für das nächste Jahr schon geplant wurde.
halb gibt es keinen Grund für diese Klausel. Die Stadt Wir haben deshalb in einem Änderungsantrag gefordert,
17094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Monika Lazar
(A) dass die Antidiskriminierungsstelle ausreichend ausge- begleitet haben, vor allen Dingen an die Mitglieder des (C)
stattet wird. Familienausschusses und an die Mitglieder des Haus-
haltsausschusses, insbesondere an die Berichterstatter,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herrn Bockhahn als Hauptberichterstatter, Herrn
Ein anderes Thema, bei dem ich mich sehr geärgert Mattfeldt, Herrn Toncar, Herrn Schwanitz und Herrn
habe, ist, dass die Mittel für die Bundeszentrale für poli- Kindler.
tische Bildung gekürzt wurden. Das wurde schon am
Dienstag bei der Debatte über den Einzelplan für das In- Von den Veränderungen am ursprünglichen Entwurf
nenressort besprochen. Wenn wir alle der Meinung sind, des Einzelplans 17 profitieren ganz besonders Familien.
dass politische Bildung wichtig ist, dann kann nicht Die Mittel für das Elterngeld wurden gegenüber dem Re-
gleichzeitig einer überparteilichen Initiative wie dieser gierungsentwurf um 300 Millionen Euro
Bundeszentrale das Geld gekürzt werden. (Caren Marks [SPD]: Es gibt einen Rechtsan-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, spruch! Das haben Sie aber nicht begriffen!)
bei der SPD und der LINKEN)
auf 4,9 Milliarden Euro angehoben. „Schuld“ daran – im
Von daher sollte uns diese Haushaltsberatung Anlass besten Sinne – sind die Väter. 25,4 Prozent von ihnen
geben, dass wir noch einmal nachdenken. Wir haben ja nehmen mittlerweile eine Auszeit im Beruf.
nachher die namentlichen Abstimmungen. Es ist gut,
dass wir uns in diesem Hause alle einig sind. Aber es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
müssen auch Taten folgen. Die Menschen im Lande neten der FDP)
schauen jetzt ganz genau, wie das Geld verteilt wird. Sie Väter wickeln, Väter füttern, Väter trösten, kurz: Väter
haben in dieser Woche noch die Gelegenheit, die definieren ihre Rolle neu. Diesen Erfolg sehen wir auf
Schwerpunkte richtig zu setzen. Wir geben Ihnen Anre- Spielplätzen, den sehen wir in Kinderarztpraxen, den se-
gungen. Sie können sie aufnehmen und unseren Anträ- hen wir morgens auch in den Kitas, in denen man immer
gen zustimmen.
mehr Väter trifft.
Vielen Dank.
(Caren Marks [SPD]: Wir würden mehr tref-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fen, wenn wir mehr Plätze hätten!)
und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Peter
Röhlinger [FDP]) Das ist eine Politik der Wahlfreiheit, die den Bedürfnis-
sen der Menschen entspricht. Väter wollen sich mehr
kümmern, und wir geben ihnen die Möglichkeit dazu.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
und Jugend, Dr. Kristina Schröder, hat das Wort.
Veränderungen brauchen wir auch beim Kitaausbau.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier müssen vor allen Dingen die Länder ihre Anstren-
gungen deutlich erhöhen.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend: (Caren Marks [SPD]: Jetzt kommt wieder das
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarzer-Peter-Spiel!)
Es scheint bei einigen in Vergessenheit geraten zu sein, Man muss sich das einmal vor Augen führen: Da stehen
dass die Ausgaben für die Extremismusprävention nur immer noch 900 Millionen Euro bereit, und die Länder
einen Teil des Familienetats ausmachen. Sie arbeiten rufen sie nicht ab. Ich glaube, wir müssen uns hier schon
sich hier an wichtigen 29 Millionen Euro ab; keine auch selbstkritisch fragen, ob wir vielleicht beim Krip-
Frage. pengipfel 2007 ein wenig zu euphorisch waren und dabei
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vergessen haben, dass die Umsetzung der Beschlüsse
NEN]: Dass Sie sich nicht schämen, so was zu präzise geplant und gesteuert werden muss. Offenbar
sagen! „Abarbeiten“!) reicht es nicht, dass wir wie bisher nur einmal im Jahr in
die Ausbaustatistik schauen. Deshalb werde ich die Be-
Ich werde darauf auch noch zu sprechen kommen. Aber
wirtschaftungsregelungen für den Kitaausbau ab 2012
vorher möchte ich gern über die anderen 6,7 Milliarden
verschärfen.
Euro reden. Es wäre nämlich schön, wenn sich auch die
Opposition wirklich für Familienpolitik interessieren (Caren Marks [SPD]: Oh! – Rolf Schwanitz
würde; denn der gesellschaftliche Zusammenhalt be- [SPD]: Toll!)
ginnt in den Familien.
Ich will künftig von den Ländern jeden Monat ganz ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nau wissen, wie viele neue Plätze sie bauen wollen und
Caren Marks [SPD]: Für Sie muss man sich wie viel eigenes Geld sie dort hineinstecken.
wirklich fremdschämen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hierfür setzt der Einzelplan 17 die richtigen Prioritäten.
(Zuruf von der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau:
Deswegen herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Frau Ministerin, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
Kollegen, die das in den parlamentarischen Beratungen gen Bockhahn?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17095

(A) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- Bei einem weiteren gesellschaftlichen Großprojekt (C)
lie, Senioren, Frauen und Jugend: kann ich, früher als erwartet, Vollzug melden. Innerhalb
Bitte sehr. – Ich hätte Ihre Zwischenfrage eigentlich von nur einem Jahr haben wir den Zivildienst weiterent-
erst später erwartet. wickelt zu einem freiwilligen Angebot, das Männern
und Frauen, Menschen aller Generationen offensteht.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt be-
nimm dich auch ordentlich! – Weiterer Zuruf Was mussten wir uns nicht alles von der Opposition
von der CDU/CSU: Der will sich jetzt ent- anhören: Die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes
schuldigen!) schade den bestehenden Jugendfreiwilligendiensten,
hieß es.
Steffen Bockhahn (DIE LINKE): (Caren Marks [SPD]: Ist auch so!)
Vielleicht werden es dann noch weitere; mal schauen.
Das liegt ja an Ihnen. Niemals würden sich genügend Freiwillige finden.
70 000 Freiwillige – das sei doch eine illusorische Zahl.
Frau Ministerin, Sie haben völlig zu Recht beschrie- Heute können wir feststellen: Sie haben sich in allen
ben, dass einige Länder – so muss man das ja sagen – Punkten geirrt, und zwar gewaltig.
beim Ausbau der Kitaplätze etwas zögerlich sind. Ist Ih-
nen aber auch bewusst, dass für die Länder und vor allen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dingen für die Kommunen in erster Linie nicht die Caren Marks [SPD]: Stimmt nicht!)
Schaffung neuer Plätze das Problem ist, sondern die Un-
terhaltung der neuen Plätze auf einem entsprechenden Es gibt schon jetzt mehr als 70 000 Menschen in
Niveau, das heißt, dass der Betrieb der Kitas das eigent- Deutschland, die einen Freiwilligendienst leisten. FSJ
liche Problem und deswegen oft ein Hindernis ist? und FÖJ stehen besser da als je zuvor. Der Bundesfrei-
willigendienst übertrifft mit über 25 000 Verträgen in nur
fünf Monaten schon jetzt alle unsere Erwartungen.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lieber Herr Kollege Bockhahn, Sie haben recht, dass
Deshalb ist es an dieser Stelle Zeit für ein herzliches
der Betrieb der Kitas eine teure Angelegenheit und damit
Dankeschön des Deutschen Bundestages an all diejeni-
auch eine besondere Herausforderung ist. Dies ist aber
gen, die sich für und in den Freiwilligendiensten enga-
ausschließlich Aufgabe der Länder und Kommunen.
gieren.
(Caren Marks [SPD]: So viel Verständnis ha-
(B) ben Sie!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
Weil der Bundesregierung dieses Problem aber bewusst Meine Damen und Herren, viele Menschen engagie-
ist, fließen von den 4 Milliarden Euro, die wir für den ren sich auch in der Extremismusprävention. Ihr Enga-
Kitaausbau ausgeben, 1,85 Milliarden Euro allein in den gement ist wichtig. Es ist erschütternd und beschämend,
Betrieb der Kitas, und ab 2014 werden wir hierfür jähr- dass eine Bande von Neonazis in unserem Land 15 Jahre
lich 770 Millionen Euro den Ländern zur Verfügung stel- lang völlig unbehelligt Morde begehen konnte. Wir müs-
len sen ganz genau prüfen, ob hier schreckliche Fehler pas-
siert sind
(Caren Marks [SPD]: Dafür haben Sie nichts
getan!) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das stellen wir jetzt schon fest!)
– wir wissen eben genau, dass das die große Herausfor-
derung ist –, obwohl es nicht die Aufgabe des Bundes oder ob wir es sogar mit einem Systemfehler zu tun ha-
ist. ben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nachdenklich macht mich aber auch, mit welchen
Methoden einige hier agitieren, um parteipolitischen Ge-
Es ist nämlich klar: Ab 2013 kommt der Rechts- winn aus dieser schrecklichen Mordserie zu ziehen.
anspruch auf einen Kitaplatz.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Caren Marks [SPD]: Aber die Plätze werden NEN]: Was meinen Sie denn damit? – Caren
nicht da sein!) Marks [SPD]: Sie haben nichts verstanden!
Auch wenn es immer wieder gerade vonseiten der SPD Wirklich nichts!)
Bestrebungen gibt, diesen Rechtsanspruch zu verschie- Deshalb möchte ich hier einmal einige Fakten klarstel-
ben: len:
(Caren Marks [SPD]: Wie bitte?)
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Er kommt. Die Eltern können sich auf uns verlassen. Die Dass Sie es wirklich nicht schaffen!)
Bundesregierung steht felsenfest zu den finanziellen Zu-
sagen, die wir beim Krippengipfel 2007 gemacht haben. Erstens. In der politischen Bildung geht es darum,
Kinder und Jugendliche vor totalitärem Gedankengut zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schützen – egal aus welcher Ecke es kommt.
17096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Caren Marks [SPD]: Darum kürzen Sie ja NEN]: Nicht zusätzlich! Die Kürzungen sind
auch!) zurückgenommen worden! Das ist ein Unter-
schied!)
Vizepräsidentin Petra Pau: Was aber macht die Opposition? Die SPD fordert in
Frau Ministerin, darf ich Sie unterbrechen? Der Kol- ihrem Antrag, die Mittel für Programme gegen Links-
lege Seifert meldet sich und möchte eine Bemerkung extremismus und Islamismus fast um die Hälfte zu kür-
machen oder eine Frage stellen. Gestatten Sie das? zen. Die Linke will die Programme natürlich ganz ab-
schaffen. Meine Damen und Herren, wenn wir das
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- machen würden, dann würde das Träger wie das Anne-
lie, Senioren, Frauen und Jugend: Frank-Zentrum, die Kreuzberger Initiative gegen Antise-
Bitte sehr, Herr Seifert. mitismus, die Türkische Gemeinde in Deutschland, das
Archiv der Jugendkulturen oder auch die von Ihnen so
viel zitierte Amadeu-Antonio-Stiftung treffen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Frau Ministerin, Sie waren gerade bei Ihrer Darstel- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lung des Kampfes gegen den Rechtsextremismus. Darin NEN]: Die sind früher über das Programm zur
wollte ich Sie eigentlich nicht unterbrechen. Prävention von Rechtsextremismus gefördert
worden! Das stimmt alles gar nicht!)
Ich habe eine Frage, die Ihren Haushalt insgesamt be-
trifft. Sie haben gesagt, dass man nicht nur über die Alle diese Träger haben innovative Projekte gegen
29 Millionen Euro reden soll, sondern über die 6,7 Mil- Linksextremismus und Islamismus entwickelt; sie leis-
liarden Euro, die Ihren Haushalt ausmachen. Wo bitte ten hier Pionierarbeit. Sie, liebe Genossinnen und Ge-
finde ich in Ihrem Haushalt das Kapitel, in dem steht, nossen, wollen diese Pionierarbeit aus ideologischen
wie Sie mit Ihren Mitteln die UN-Behindertenrechtskon- Gründen plattmachen.
vention umzusetzen gedenken, die seit zweieinhalb Jah-
ren geltendes Recht in Deutschland ist? Ich finde es be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dauerlicherweise nicht; vielleicht können Sie mich da Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Furchtbar!
aufklären. Ihr solltet euch schämen! – Sönke Rix [SPD]:
Sie werden genauso weitermachen!)
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- Drittens. Fakt ist, dass diese Bundesregierung mehr
(B) lie, Senioren, Frauen und Jugend: Geld für die Stärkung von Demokratie und Toleranz aus- (D)
Herr Kollege Seifert, die Umsetzung der UN-Kon- gibt als jede Bundesregierung zuvor.
vention, die Sie ansprechen, ist in der Tat eine wichtige
Aufgabe der Bundesregierung. Aber Sie sind sicherlich (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
darüber informiert, dass sie im Bundesministerium für Davon profitiert auch die Rechtsextremismusprävention,
Arbeit und Soziales ressortiert. Im Haushalt dieses die wir kontinuierlich verbessern. In der letzten Förder-
Ministeriums finden Sie die entsprechenden Mittel. periode wurden 90 lokale Aktionspläne gegen Rechts-
(Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild extremismus gefördert; jetzt sind es 174. Das sind rund
Rawert [SPD]: Was ist denn mit sozialer Inklu- 5 000 Einzelprojekte.
sion?)
Nach den schrecklichen Ereignissen im Juli in Nor-
Kommen wir zurück zur Extremismusprävention: wegen – auch sie hatten einen rechtsextremen Hinter-
grund – habe ich den 16 Beratungsnetzwerken in den
Zweitens. Die Behauptung, man würde den Rechts- Ländern aufgrund des höheren Beratungsbedarfs insge-
extremismus relativieren, wenn man auch Präventions- samt 800 000 Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt.
programme gegen Linksextremismus und Islamismus Meine Damen und Herren, ich bin umgehend bereit, den
fördert, ist nicht nur falsch, sondern auch dumm. Beratungsnetzwerken noch einmal die gleiche Summe
(Zuruf von der CDU/CSU: Und höchst zur Verfügung zu stellen.
gefährlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Denn sie verkennt die Realitäten: Kein einziger Cent,
Nun kommen wir zur Demokratieerklärung. Die Grü-
den wir zur Prävention von Linksextremismus und isla-
nen fordern in ihrem Antrag die Streichung der Demo-
mistischem Extremismus ausgeben, wurde bei der
kratieerklärung.
Rechtsextremismusprävention abgezogen.
Seit ich im Amt bin, wurde für die Projekte gegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Rechtsextremismus kein einziger Cent gekürzt. Auch für Caren Marks [SPD]: Zu Recht!)
die Projektarbeit war keine Kürzung geplant, sondern Interessant ist aber, dass sie dies nur für Träger von
das Ganze hatte etwas mit Verwaltung zu tun. Deshalb Projekten gegen Rechtsextremismus fordern.
bedeutet die Entscheidung der Koalitionsfraktionen vom
Dienstag, dass ich 2 Millionen Euro zusätzlich für Pro- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
jekte gegen Rechtsextremismus zur Verfügung habe. Lesen Sie mal unseren Antrag!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17097
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
(A) Sie sprechen in Ihrem Antrag lediglich das Programm darum, dass staatliche Gelder beantragt werden, die dem (C)
zur Prävention von Rechtsextremismus an. Sie sprechen Zweck dienen sollen, Extremismus zu bekämpfen sowie
nicht die Initiative „Demokratie stärken“ an, bei der es Demokratie und Toleranz zu stärken. Da ist es nicht zu
um Linksextremismus und Islamismus geht. Die Grünen viel verlangt, dass diejenigen, die staatliche Gelder in
sagen: Denen, die gegen Rechtsextremismus kämpfen, Anspruch nehmen wollen, um Demokratie und Toleranz
ist ein Bekenntnis zum Grundgesetz nicht zuzumuten. zu stärken, sich gleichzeitig zu Demokratie und Toleranz
bekennen; das ist eine Selbstverständlichkeit, meine Da-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men und Herren.
NEN]: Es wird nicht besser, wenn Sie es wie-
derholen!) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
FDP – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wo le-
Bei denen, die gegen Linksextremismus und Islamismus ben wir denn? – Steffen Bockhahn [DIE
kämpfen, halten die Grünen dies offensichtlich für erfor- LINKE]: Demokratieerklärung für V-Leute!)
derlich. Da sieht man: Das ist Doppelmoral. – Bitte, Herr
Kindler. Herr Kindler, Sie hatten eine Frage gestellt. Dabei haben
Sie wieder die einzelnen Extremismusarten genannt. Das
Vizepräsidentin Petra Pau:
ist doch gerade der Punkt: Sie reden immer nur über
Rechtsextremismus und haben jetzt gesagt, dass Sie die
Frau Ministerin, das Wort vergebe noch immer ich. – Programme nur noch auf den Rechtsextremismus aus-
Ich halte jetzt die Uhr, die, was die Redezeit Ihrer Frak- richten wollen.
tion angeht, ins Minus läuft,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Caren Marks [SPD]: Nicht nur bei der Rede-
zeit!) Die Wahrheit ist deutlich komplexer. Ich will nicht, dass
Linksextremismus von Rechtsextremisten bekämpft
bei dieser Frage an. Ich möchte nur darauf aufmerksam wird; ich will nicht, dass Rechtsextremismus von Links-
machen; wir müssen nachher eine Einigung herbeifüh- extremisten bekämpft wird. Und ich will nicht, dass Isla-
ren. – Bitte, Kollege Kindler. mismus von Islamhassern bekämpft wird. Ich will, dass
Demokraten für die Demokratie kämpfen. Darum geht
Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es.
NEN):
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank, dass Sie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der
die Zwischenfrage zulassen. – Wenn Sie unseren Antrag SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
richtig gelesen hätten, dann wäre Ihnen aufgefallen, dass (D)
(B)
wir ein 50-Millionen-Euro-Programm „Maßnahmen für Ich komme zu meinem letzten Punkt, Frau Präsiden-
eine demokratische Kultur, gegen Gruppenbezogene tin, und will mich dabei der SPD zuwenden. Auch die
Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus“ fordern SPD sollte genau schauen, was unter ihrer Verantwor-
und keine Erweiterung auf sogenannte andere Extremis- tung passiert. In Mecklenburg-Vorpommern müssen Ki-
musformen vornehmen. Das heißt, wir wollen die ent- tabetreiber eine Demokratieerklärung unterschreiben,
sprechenden Programme wie die Linkspartei streichen. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Wer
Deswegen ist da keine Extremismusklausel notwendig. ist denn da Ministerin?)
Weiterhin könnten Sie darauf eingehen, was der Wis- seit es einen Versuch der NPD gab, eine Kita zu unter-
senschaftliche Dienst dieses Hohen Hauses auf die An- wandern. Kein Mensch spricht hier von einem General-
frage des Kollegen Thierse hin gesagt hat: Er hat klar verdacht gegen Kitas. Sie halten das für völlig richtig –
dargelegt, dass die sogenannte Demokratieerklärung ge- ich auch. Ich unterstütze die zuständige Ministerin, Frau
gen die Verfassung verstößt, weil nämlich erstens das Schwesig, hierbei, weil es mir um die Sache geht, unsere
Grundgesetz keinen Bekenntniszwang vorsieht und es in Demokratie vor Feinden zu schützen.
Deutschland die Meinungsfreiheit gibt und zweitens
diese Partnerüberprüfung, die zu Schnüffelei führt, völ- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
lig unverhältnismäßig ist. Deswegen hat der Wissen- der FDP)
schaftliche Dienst gesagt: Die Demokratieerklärung geht
nicht mit der Verfassung zusammen. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Marks das
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wort.
LINKEN) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie können
sich nur blamieren! – Weiterer Zuruf von der
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- CDU/CSU: Besser wäre es, Sie würden
lie, Senioren, Frauen und Jugend: schweigen!)
Herr Kindler, in diesem Fall verkennen Sie und auch
– das muss ich sagen – der Mitarbeiter des Wissenschaft- Caren Marks (SPD):
lichen Dienstes – das hat uns auch Herr Ossenbühl bestä- Frau Ministerin, ich möchte Sie auffordern, die
tigt, der dazu ein Gutachten angefertigt hat –, dass es ebenso dreiste wie unwahre Behauptung, die Sie in Ihrer
hier nicht um Meinungsfreiheit geht. Vielmehr geht es Rede aufgestellt haben, zurückzunehmen, die SPD wolle
17098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Caren Marks
(A) den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der ab 2013 Das sieht man an den Publikationen, die Sie herausbrin- (C)
gilt, verschieben. Kommen Sie mir, Frau Ministerin, bei gen.
Ihrer Antwort bitte nicht mit Christian Ude; denn der hat
(Beifall bei der SPD)
zu Recht auf die Gefahr hingewiesen, dass der Rechtsan-
spruch ins Leere läuft, wenn Sie sich weiter Ihrer Verant- Ich habe einige davon mitgebracht und möchte etwas
wortung nicht bewusst sind und nicht endlich beginnen, dazu sagen.
zu handeln.
Das erste ist eine wunderbare Halbzeitbilanz dieser
Vielen Dank. Legislaturperiode. Diese Publikation, auf Hochglanzpa-
pier gedruckt, hat jeder zugeschickt bekommen, der sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben wollte. In dieser Halbzeitbilanz kommen aller-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dings wichtige Themen überhaupt nicht vor, beispiels-
LINKEN) weise der Ausbau der Betreuungseinrichtungen für unter
Dreijährige. Dazu gibt es kein Kapitel, keinen Abschnitt,
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- das wurde einfach vergessen.
lie, Senioren, Frauen und Jugend: Was allerdings vorkommt – erstaunlicherweise – ist
Frau Kollegin Marks, ich habe vor vier Wochen das Betreuungsgeld. Dazu gibt es ein Kapitel. Nun wis-
Christian Ude getroffen; er hatte mich als Präsident des sen wir seit gestern, dass es in dieser Frage noch harte
Deutschen Städtetages eingeladen. Ich habe eineinhalb Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition gibt, ins-
Stunden mit ihm und weiteren kommunalen Vertretern besondere zwischen CDU und CSU, aber auch mit der
über den Rechtsanspruch auf Kitaplätze diskutiert. FDP. Also habe ich einmal nachgeguckt, was Frau
Christian Ude – auch mit anderen Vertretern der SPD, Haderthauer in einem Informationspapier dazu sagt. Ich
aber vor allem war es Christian Ude – hat mich glasklar darf zitieren, was Frau Haderthauer auf der Homepage
aufgefordert, dass ich ein Moratorium für den Kita- ihres Ministeriums eingestellt hat. Dort ist Folgendes zu
anspruch durchsetzen soll. Es solle, was den Rechts- lesen:
anspruch angeht, eine Verschiebung geben.
Langzeitstudien weisen nach, dass frühe Krippen-
(Caren Marks [SPD]: Weil Sie nicht handeln!) betreuung keine messbaren Bildungsvorteile, dafür
aber möglicherweise Risiken für die emotionale
Insofern kann ich dazu leider nur sagen: Es gibt aus der
Entwicklung mit sich bringen kann, daher gibt es
SPD heraus diese Forderung. Mag sein, dass Ihnen das
keinen Grund für staatliche Einseitigkeit zugunsten
nicht passt. Sie sollten aber dennoch dazu stehen, dass
von Krippen bei der Förderung von Betreuungsfor-
aus Ihren Reihen die Eltern im Stich gelassen werden
(B) men. (D)
sollen.
Dann kommt ein Hinweis auf sogenannte psychoso-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zial belastete Kinder. Es heißt:
Caren Marks [SPD]: Sie sind einfach nur pein-
lich! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nächstes Diese Kinder haben oft ein Defizit in der seelischen
Mal erst Ude fragen und dann hier eine Frage und emotionalen Reifung, und in dieser Kategorie
stellen!) werden sie in Krippen sogar zusätzlich belastet und
geschädigt …
Vizepräsidentin Petra Pau: Sie sind bei der Klärung innerhalb der Koalition noch
Der Kollege Rolf Schwanitz für die SPD-Fraktion ist nicht einen Schritt vorangekommen, da wird in Mün-
der nächste Redner in dieser Debatte. chen schon eine Diffamierungskampagne gegen die Ki-
tas gestartet.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich würde
jetzt auf die Rede verzichten!) (Caren Marks [SPD]: Ja!)
Von Ihnen kommt dazu kein Wort.
Rolf Schwanitz (SPD): (Caren Marks [SPD]: Kein Wort von ihnen!)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, es wäre eine Frage der intellektuellen Red- Das ist Ihre Politik.
lichkeit, wenigstens darauf hinzuweisen, dass es hier ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nen Konflikt bzw. ein Problem mit allen Bürgermeiste- DIE GRÜNEN)
rinnen und Bürgermeistern in diesem Land gibt. Ich
weiß nicht, wie viele CDU-Bürgermeister bei Ihnen vor- Ein weiteres Thema, das in der wunderbaren Halb-
stellig werden und auf die Notlagen hinweisen, die durch zeitbilanz nicht vorkommt, ist die Antidiskriminierungs-
Ihr Nichthandeln entstehen. Das haben Sie nicht ge- stelle. Die gibt es nicht; das Wort taucht überhaupt nicht
macht. Das ist unredlich. auf, weder im Schlagwortregister noch im Text. Antidis-
kriminierungsstelle? Fehlanzeige! Die Übeltäter beim
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Thema Antidiskriminierungsstelle – das ist völlig klar –
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sitzen hier: Das waren die Koalitionäre im Haushaltsaus-
schuss.
Frau Ministerin, Ihr Haushalt ebenso wie Ihre Politik
sind Ausweis der Passivität und der vertanen Chancen. (Caren Marks [SPD]: Mattfeldt vor allem!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17099
Rolf Schwanitz
(A) Das Signal, das Sie damit setzen, dass Sie die Arbeit der GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Kleingeis- (C)
Antidiskriminierungsstelle einfach ausblenden, ist eine tig!)
Einladung für Mattfeldt und Co., sich bei diesem Thema
Die Antidiskriminierungsstelle handelt auf einer ge-
auszutoben. Insofern tragen Sie Mitschuld daran.
setzlichen Grundlage,
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven- (Caren Marks [SPD]: Ja!)
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]) die der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Was Sie
machen, ist Rechtsbruch durch die Hintertür. Ich fordere
Ich möchte zusammenfassen, was hier geschehen ist. Sie auf, wieder zu Recht und Ordnung zurückzukehren.
Trotz aller Widerstände, trotz des Aufschreis aller Be-
troffenen haben die Haushälter der Koalition den Sollan- (Beifall bei der SPD)
satz für die Antidiskriminierungsstelle im dritten Jahr in Frau Schröder, ich will noch etwas zu dem Thema
Folge gekürzt: im Haushalt 2012 um 367 000 Euro, das Extremismusprävention sagen, das Sie in Ihrer Rede an-
sind schlappe 13 Prozent weniger, als Sie in Ihrem Vor- gesprochen haben. Wie einige meiner Vorredner will
schlag vorgesehen hatten. Anschließend haben sich die auch ich ausdrücklich kritisieren – das kritisieren viele in
Koalitionäre aus dem Staub gemacht. Sie haben ihr Ver- diesem Haus –, dass Sie mit Ihrem Steckenpferd, der
halten kleingeredet. Die Antidiskriminierungsstelle wurde Linksextremismusbekämpfung, eine falsche Schwer-
diffamiert. Es wurde behauptet, man könne dort nicht punktsetzung vornehmen.
mit Geld umgehen. Die wahren Motive wurden eher zu-
gedeckt. (Caren Marks [SPD]: Wohl wahr!)

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich habe etwas mitgebracht, eine Broschüre für die Leh-
Unglaublich!) rer in Deutschland: Demokratie stärken – Linksextremis-
mus verhindern. Sie wird jetzt tausendfach verschickt,
Die Folgen dieses Handelns kennen wir seit der Pres- quasi, damit die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen
seerklärung von dieser Woche durch die Antidiskrimi- auch Unterricht gegen Linksextremismus machen kön-
nierungsstelle selber. nen. Darin stehen Dinge, die wirklich lächerlich sind,
beispielsweise werden Musiktitel von „Ton Steine
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: „Übeltäter“! Scherben“ als Ausweis für Linksextremismus angeführt.
Wo sind wir denn?)
(Heiterkeit bei der SPD – Caren Marks [SPD]:
Das Projekt „Offensive diskriminierungsfreie Gesell- Das ist peinlich! – Monika Lazar [BÜND-
(B) schaft“ ist akut gefährdet. Der Aufbau von Betreuungs- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Rio Reiser würde (D)
netzwerken unterbleibt. Auch die Aufklärungskampagne sich im Grab umdrehen!)
für Diskriminierungsopfer, die für nächstes Jahr geplant
war, ist akut gefährdet oder sogar eventuell nicht durch- Schwamm drüber! Lassen wir das!
führbar. Dass Sie mit der Schuldenbremse argumentie- (Zuruf von der LINKEN: „Halt Dich an
ren, meine Damen und Herren von der Koalition, ist von Deiner Liebe fest“!)
einer intellektuellen Schlichtheit, da fällt mir nichts
mehr ein. Darauf will ich gar nicht eingehen. – Wunderbar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Das geht noch viel weiter. In dieser Broschüre finde
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ich eine Differenzierung in gute Antifaschisten und in
NEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Set- schlechte Antifaschisten. Meine Damen und Herren, was
zen!) wir brauchen, ist ein Bündnis, eine Aktivierung der Anti-
faschisten in diesem Land. Darum muss es gehen und
Ich will die eigentlichen politischen Motive, die da- nicht um eine Spaltung der Menschen.
hinterstehen, deutlich machen. Ich will Herrn Mattfeldt
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
mit einem Satz zitieren, den er zwar heute nicht gesagt
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth
hat – die wunderbare Formulierung von der Sozialindus-
[Kyffhäuser] [FDP]: Aktivierung der Demo-
trie hat er ja mehrfach selbst gebracht –, der aber auf sei-
kraten!)
ner Homepage zu lesen ist. Er schreibt: Die Mittel für
diese Antidiskriminierungsstelle Im Haushaltsausschuss habe ich Sie danach gefragt.
Da kam der Hinweis auf die seit 2009 in Berlin brennen-
werden in vielen Fällen dazu benutzt, die Arbeitge- den Autos. Sie haben gesagt: Das waren die Linksextre-
ber an den Pranger und unter Generalverdacht zu misten. Ich habe Sie gefragt: Woher wissen Sie das ei-
stellen. Daraus erwächst ein Klima des Misstrauens gentlich? – Jetzt weiß ich, woher Sie das wissen: Das
in diesem Land, das uns nicht gut tut und uns kei- steht hier drin.
nen Schritt vorwärts bringt!
(Heiterkeit bei der SPD – Caren Marks [SPD]:
Das ist eine solche ideologische Verbohrtheit. Dazu fällt Toll!)
mir wirklich nichts mehr ein.
Es gibt eine ganze Seite zur linksextremistischen Ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten walt. Zu den Brandanschlägen in der Zeit nach 2009
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE steht da – ich will zwei Sätze zitieren –:
17100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Rolf Schwanitz
(A) Wer hinter diesen Anschlägen steht, kann die Poli- Hinweis nachzukommen. Ich möchte versuchen, in mei- (C)
zei nur schwer ermitteln. Ein beträchtlicher Teil ner Rede auf die Arbeit des Ministeriums in ihrer ganzen
geht auf linksextremistische Gewalt zurück … Breite und den gesamten Haushalt einzugehen; denn die
Diskussion ist zuletzt sehr stark auf einige Aspekte ver-
(Caren Marks [SPD]: Die schlichte Frau
engt worden.
Schröder!)
Ich finde, dass in den vergangenen zwei Regierungs-
Ich weiß es zwar nicht so richtig, aber sagen kann ich es
jahren und unter Familienministerin Kristina Schröder
schon mal! Das macht sich besonders gut, wenn es um
– das kam heute noch nicht so zum Ausdruck, gehört
die rechtsstaatliche Erziehung in unseren Schulen geht.
aber zu einer Zwischenbilanz – viele Projekte angesto-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ßen worden sind, und das in einer Situation, in der wir fi-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nanziellen Zwängen unterliegen, die manches nicht ein-
fach machen. Wenn man sich das Ganze anschaut, muss
Das, was Sie hier praktizieren – nehmen Sie das an
man feststellen: Es ist eine ganze Menge erreicht wor-
von jemandem, der aus der Region kommt, die in dieser
den.
Woche in unseren Diskussionen so oft im Fokus stand –,
dieses Differenzieren in gute und in schlechte Antifa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
schisten, ist nicht nur eine Diffamierung der Aktivisten der CDU/CSU)
vor Ort; das ist das eine. Das andere ist das Auseinander-
Die Haushaltsmittel sind angestiegen; das ist als solches
dividieren und Legitimieren der Zurückhaltung. In wei-
aber noch kein Kriterium. Man kann jedoch feststellen,
ten Teilen der neuen Länder lehnen sich konservative
dass insbesondere aufgrund des Elterngeldes im Jahr
Kommunalpolitiker doch noch immer eher zurück, wenn
2012 für Familien weit mehr ausgegeben werden wird
es um die Aktivitäten geht, die notwendig sind.
als im vorherigen Jahr.
(Caren Marks [SPD]: Schlimm genug!)
(Zuruf der Abg. Caren Marks [SPD])
Mit dieser Diffamierung schaffen Sie Legitimations- und
– Ja, aber es kommt bei den Familien an. Es ist nicht nur
Bezugspunkte.
ein Rechtsanspruch, sondern Geld, von dem man sich et-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) was kaufen oder mit dem man als Familie etwas unter-
nehmen kann, und zwar mehr als je zuvor.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Caren Marks [SPD]: Nur Hartz-IV-Familien
Kollege Schwanitz, achten Sie bitte auf die Zeit. nicht! Da haben Sie das ja gestrichen!)
(B) Darauf sollte und darf man in einer Haushaltsdebatte (D)
Rolf Schwanitz (SPD):
einmal hinweisen,
Ich komme zum Schluss. – Im Deutschen Bundestag
ist am Dienstag etwas Außergewöhnliches passiert: Die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Koalition hat das Herz über die Hürde geworfen und ge-
ohne dass daraus gleich wieder ein Vorwurf der Opposi-
sagt: Okay, die 2 Millionen Euro setzen wir wieder
tion konstruiert wird. Es ist ja auch Ihr Gesetz. Freuen
drauf. – Das ist in Ordnung gewesen. Frau Schröder, zei-
Sie sich doch darüber, dass das angenommen wird.
gen Sie an dieser Stelle einmal Größe. Schaffen Sie diese
Klausel ab! Führen Sie die Initiativen zusammen, anstatt Ich möchte nur kursorisch auf das hinweisen, was im
zu spalten! vergangenen Jahr angestoßen worden ist: Das Hilfetele-
fon für Frauen, die in ihrer Familie Gewalt erfahren, ist
Herzlichen Dank.
von den Fraktionen angestoßen worden; Kollegin
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Sibylle Laurischk ist hier. Wir haben dies noch im letz-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten Haushalt untergebracht; es kommt jetzt. Das ist ein
ganz bedeutender Fortschritt. – Wir sind die Familien-
Vizepräsidentin Petra Pau: pflegezeit angegangen, ein Angebot an pflegende Ange-
Ich erlaube mir, einen Hinweis zu wiederholen, den hörige, das, wie ich finde, ein gutes Modell geworden
ich gestern schon geben musste, ohne einzelne Akteure ist.
für das Protokoll zu benennen: Wir sollten uns in der Sa- Der Übergang vom Zivildienst in ein neues Freiwilli-
che auseinandersetzen und uns nicht gegenseitig mit wie gendienstformat – das war eine gewaltige Aufgabe – ist
auch immer missverständlichen Vokabeln oder Titeln be- gelungen. Ich habe mich viele Jahre mit diesem Thema
legen. beschäftigt und ehrlich gesagt nicht damit gerechnet,
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDP- dass es so schnell möglich ist, da zu sein, wo wir heute
Fraktion. stehen. Natürlich kann noch einiges verbessert werden;
aber es ist in kurzer Zeit gelungen, ein gutes Freiwilli-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gendienstformat auf die Beine zu stellen.
CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Florian Toncar (FDP):
Vielen Dank. – Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Wir haben uns als Haushälter entschlossen, im kom-
Kolleginnen und Kollegen! Ich werde versuchen, diesem menden Jahr einen Teil der Mittel für die Jugendfreiwil-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17101
Florian Toncar
(A) ligendienste zu sperren. Ich lege Wert darauf, im Plenum in den nächsten Jahren mit Ihnen, Frau Ministerin, daran (C)
und in der Öffentlichkeit deutlich zu sagen, dass das arbeiten müssen, dass dieses Ungleichgewicht zwischen
nicht darauf zurückzuführen ist, dass wir Zweifel haben, den Bundesländern beseitigt wird und dass sich die et-
dass das Geld gebraucht wird. Das Geld wird gebraucht, was schlechte Zahlungsmoral bezüglich des Unterhalts-
und zwar in voller Höhe. Es ist lediglich so, dass die Art vorschusses zugunsten unseres Haushalts verbessert.
und Weise, wie das Geld verteilt wird, wie die Förder- Dafür haben Sie die Unterstützung der Haushälter.
sätze ausgestaltet sind, neu konzipiert und mit dem Bun-
Wir sind mit der Arbeit des Familienministeriums
desrechnungshof abgestimmt werden muss. Dass wir
sehr zufrieden und glauben, dass wir einen sehr guten
den Einfluss darauf behalten, ist der Grund für die
Haushalt und eine sehr gute Halbzeitbilanz für dieses
Sperre. Wir wissen, dass die Mittel gebraucht werden,
Ministerium vorweisen.
und wir haben auch vor, sie freizugeben, wenn das För-
dersystem allen Anforderungen genügt. Das will ich für (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die Öffentlichkeit ganz deutlich klarstellen.
Im Haushalt ist wiederum – nunmehr im zweiten Jahr – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die Qualifizierungsoffensive enthalten. Dies zeigt, dass Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
diese Bundesregierung über das bisherige Ausbaupro- Jörn Wunderlich.
gramm für Kinderbetreuung hinaus auch in die Qualität
(Beifall bei der LINKEN)
der Betreuung investiert. Es braucht eben nicht nur Kita-
plätze, sondern in einigen Teilen Deutschlands auch qua-
lifiziertes Personal für Sprachförderung und andere Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Dinge. Dafür stellen wir extra Geld bereit. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je-
des Kind hat den Anspruch auf einen Kindertagesstätten-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten platz. Diesen Rechtsanspruch haben wir endlich im Ge-
der CDU/CSU) setz verankert. – So hieß es seinerzeit, und die Koalition
Damit zeigen wir, dass es gut ist, an die Ursache der Pro- war geradezu besoffen von diesem Erfolg hinsichtlich
bleme heranzugehen, und dies ist in der Regel ein Man- der Kinderbetreuung.
gel an Integration, an Bildung. Genau dafür geben wir (Patrick Döring [FDP]: Nicht um diese Uhr-
Geld aus, und zwar mehr Geld. Wir kürzen also nicht zeit!)
ohne Sinn und Verstand, sondern setzen die richtigen
Schwerpunkte. Wie sieht die Realität aus? Die Mittel werden in zu ge-
ringem Umfang abgerufen, der Ausbau geht zu langsam
Es ist nach vielen Jahren gelungen, eine Lösung für voran.
(B) (D)
die Heimkinder zu entwickeln. Auch das findet sich in
diesem Haushalt wieder. Darüber hinaus ist es der Schon vor Jahren hat die Linke die Familienministe-
Ministerin gelungen, ein Nachfolgeprogramm für die rin – damals war es Frau von der Leyen – darauf hinge-
Mehrgenerationenhäuser zu entwickeln, die sich bewährt wiesen, dass die Rechnung der Regierung nicht aufgeht.
haben. Auch das ist gesichert. Die Betreuungsquote ist zu gering bemessen, der Rechts-
anspruch wird mangels Plätzen und mangels entspre-
Wir haben also – das können wir als Koalition heute chend qualifizierten Personals nicht umgesetzt werden
selbstbewusst sagen – trotz Sparzwängen, trotz begrenz- können. Frau von der Leyen hat das damals begriffen,
ter finanzieller Mittel zusätzliche Projekte angestoßen konnte oder wollte es aber nicht umsetzen. Ich weiß
und Schwerpunkte gesetzt, die für unsere Gesellschaft nicht, wie das Verständnis gegenwärtig ist. Fakt ist: Es
insgesamt sehr sinnvoll sind. werden nicht ausreichend Kindergarten- und Krippen-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten plätze zur Verfügung stehen, und die Regierung ist nicht
der CDU/CSU) bereit, auf Bundesebene in dieser Hinsicht etwas zu un-
ternehmen. Hier muss sich etwas ändern.
Auf einen Punkt möchte ich noch hinweisen: den Un-
terhaltsvorschuss. Wir geben jedes Jahr sehr viel Geld (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
für Unterhaltsvorschüsse aus. Einen Unterhaltsvorschuss neten der SPD)
bekommen Elternteile, die einen Unterhaltsanspruch ins-
Stattdessen wird das Betreuungsgeld in Aussicht ge-
besondere für ihr Kind haben, wo aber der Unterhalts-
stellt, das Eltern davon abhalten soll, ihre Kinder in eine
pflichtige nicht leistungsfähig bzw. nicht auffindbar ist.
Kindertagesstätte zu bringen. Hier soll ein finanzieller
Der Staat holt sich das Geld später von denen zurück, die
Anreiz für Eltern geschaffen werden, um den nicht um-
eigentlich zahlen müssten. Das Problem ist, dass wir
setzbaren Rechtsanspruch abzufangen. Eltern sollen
sehr viel mehr ausgeben, als wir von den Unterhalts-
wieder in zwei Klassen eingeteilt werden: gute, welche
pflichtigen zurückbekommen. Die Quote ist nicht gut;
zu Hause ausschließlich ihre Kinder erziehen, und weni-
sie liegt bei ungefähr einem Viertel. Sie ist auch trotz ge-
ger gute, welche neben der Kindererziehung auch noch
sunkener Arbeitslosigkeit kein bisschen besser gewor-
eine Kindertagesstätte in Anspruch nehmen. Deren Er-
den. Man dachte ja, dass damit der Hinderungsgrund bei
ziehungsleistung ist nach Ansicht der Koalition nicht zu
manchen Unterhaltspflichtigen wegfallen würde. Noch
honorieren. Welch perfide Einstellung zu Eltern!
dazu ist die Quote von Bundesland zu Bundesland sehr
unterschiedlich. Das zeigt, dass diese Thematik nicht in (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
allen Bundesländern ernsthaft verfolgt wird. Wir werden neten der SPD)
17102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Jörn Wunderlich
(A) Bei Eltern im Hartz-IV-Bezug wird das Betreuungs- digungshaushalt um ein Sechstel kürze, kann ich den (C)
geld natürlich verrechnet, sodass unter dem Strich nichts Ansatz im Familienhaushalt verdoppeln. Das muss man
bleibt. Das muss sich ändern. sich einmal vor Augen führen.
(Beifall bei der LINKEN) Ich muss noch etwas zum Thema Rechtsextremismus
sagen. So wie Kollege Schwanitz komme auch ich aus
Als Argument höre ich immer das Lohnabstandsgebot. der Gegend, über die nun viel gesprochen wird. Ich
Lohnabstandsgebot hier, Lohnabstandsgebot da. Ich komme aus dem Kreis Zwickau und habe vor Ort meine
frage Sie von der Koalition: Haben Sie schon einmal et- Erfahrungen mit Rechtsextremisten gemacht.
was vom Lohnanstandsgebot gehört?
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der LINKEN) NEN]: Vielleicht sollten Sie einmal die Minis-
Wir brauchen anständige Löhne; da liegt der Hund be- terin einladen!)
graben. Die Regierung argumentiert immer so: Euch im – Die Ministerin sollte vielleicht einmal zu uns kommen;
Niedriglohnbereich geht es schon mies, also muss es aber ich glaube, ich kann ihr nicht genügend Personen-
euch im Hartz-IV-Bezug noch mieser gehen. – Das ist schutz gewährleisten, damit sie wieder sicher aus meiner
die christlich-liberale Politik dieser Regierungskoalition. Stadt herauskommt.
Jeder kann sich überlegen, was daran christlich oder li-
beral sein soll. Hier geht es nur um die Förderung von (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!
Familien, die es sich leisten können. Wenn es um die – Patrick Döring [FDP]: Wenn Sie vorange-
Anerkennung der Erziehungsleistung ginge, dann müss- hen, traut sich keiner! – Georg Schirmbeck
ten alle Familien Betreuungsgeld bekommen. Aber das [CDU/CSU]: Was Sie hier erzählen, ist un-
würde den Haushaltsrahmen des Familienministeriums glaublich! – Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sagen
sprengen. Wir müssen also den Ausbau der Kindertages- Sie, schämen Sie sich eigentlich gar nicht?)
stätten forcieren und den Bundesanteil aufstocken, damit
der Rechtsanspruch der Kinder auch umgesetzt werden Den schönen Reden, die wir am Dienstag gehört ha-
kann. ben, müssen Taten folgen. Im interfraktionellen Ent-
schließungsantrag haben wir uns gemeinsam darauf ver-
Zur ADS ist schon einiges gesagt worden. Die Aufga- ständigt, dem Rechtsextremismus entschieden entgegen-
ben sind vielfältig und nehmen ständig zu, auch im Hin- zutreten. Dafür sollten wir auch die entsprechenden Mit-
blick auf Altersdiskriminierung. Jetzt haben wir mit Frau tel zur Verfügung stellen.
Lüders endlich eine taffe Frau an der Spitze dieser Stelle
– die Vorgängerin möchte ich namentlich nicht erwäh- Die Grünen haben eine Erhöhung dieses Haushaltsti-
(B) nen; ihre Arbeit war eine Katastrophe –, tels beantragt, die SPD hat es gemacht, und die Linke hat (D)
es auch gemacht. Was wollen Sie von der Koalition? Von
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihnen höre und sehe ich dazu nichts. Vielleicht können
NEN]: Ja!) wir uns auf den Mittelweg, die von uns beantragten
35 Millionen Euro, einigen. Das wäre jedenfalls ein Si-
und jetzt werden die Mittel zusammengestrichen. Die gnal an die Menschen im Lande und ein deutliches Zei-
Rücknahme der Kürzungen in Höhe von 367 000 Euro chen an den – ich formuliere es einmal so – braunen
ist das Mindeste, was wir tun müssen, um eine arbeitsfä- Sumpf, dass ihm wirklich der Kampf angesagt wird.
hige Antidiskriminierungsstelle zu haben.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Ich finde es ganz schrecklich, dass es erst zu solchen
Ereignissen, die jetzt ans Licht gekommen sind, kom-
Nächster Punkt – ich kann nur auf einige Punkte ein- men musste und dass die Koalition erst wachgerüttelt
gehen –: Das Elterngeld ist auszubauen, wenn tatsäch- werden musste. Müssen erst wieder Tote die Straßen
lich mehr Väter in die Verantwortung genommen werden pflastern, damit sich in dieser Richtung etwas bewegt?
sollen. Es ist schon gesagt worden, dass es ein bisschen
aufgestockt wurde. Das war deutlich zu wenig. Die (Patrick Döring [FDP]: Unerträglich!)
4,9 Milliarden Euro, die dafür in den Haushalt einge-
stellt sind, reichen nicht aus. Das Elterngeld ist ein wirk- – Auch ich finde: Die Situation im Hinblick auf den
sames Instrument. Es ist auszubauen und zu erweitern. Rechtsextremismus ist unerträglich.
Der Sockelbetrag muss, bei Hartz IV anrechnungsfrei,
erhöht werden. Das Elterngeld muss auch derart ausge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
staltet werden, dass jeder Elternteil Anspruch auf zwölf Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege
Monate Elternzeit hat. Wunderlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Das kostet natürlich etwas; das ist klar. Deswegen müs- Wer wirklich etwas will, der findet einen Weg. Wer
sen wir zusätzliche Mittel in Höhe von 2,3 Milliarden etwas nicht will, der findet Gründe.
Euro in den Haushalt einstellen. Jetzt wird jeder
schreien, dass 2,3 Milliarden Euro sehr viel Geld sind. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
Das ist richtig. Aber wenn ich die Mittel für den Vertei- [FDP]: Erbärmlich!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17103

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Dörner von bei der SPD und der LINKEN – Caren Marks
Bündnis 90/Die Grünen. [SPD]: Das wäre schön!)
Ministerin Schröder hat in der ganzen Angelegenheit
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): offensichtlich gar nichts zu sagen. Sie kam aus der Ba-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! bypause zurück, hat eine Pressekonferenz gegeben und
Liebe Kollegen! Kollege Mattfeldt hat das Hohelied einen Kompromissvorschlag zum Betreuungsgeld unter-
vom Sparen und von der Schuldenbremse gesungen. breitet, hinter dem sich dann angeblich alle Seiten ver-
Gleichzeitig planen Sie ein Betreuungsgeld, sammeln können. Von diesem Kompromissvorschlag ist
(Caren Marks [SPD]: Ja!) überhaupt keine Rede mehr. Er wurde einfach einkas-
siert.
das einen Betrag von 1,5, 2 oder 2,5 Milliarden Euro
jährlich verschlingen wird. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie eigentlich alles!)
(Caren Marks [SPD]: Absurdistan!)
Nächste Woche soll ein Friedensgespräch stattfinden, an
Das ist doch einfach absurd. Man kann Sie in der heuti- dem unter anderem Herr Kauder und Maria Böhmer teil-
gen Haushaltsdebatte überhaupt nicht mehr ernst neh- nehmen.
men.
(Patrick Döring [FDP]: Dann kann ja nichts
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mehr passieren!)
bei der SPD und der LINKEN)
Die zuständige Fachministerin ist aber nicht eingeladen.
Beim Betreuungsgeld sprechen wir von einer Maß-
nahme, über die Maria Böhmer, die Chefin der Frauen- (Caren Marks [SPD]: Vielleicht ja nachträg-
Union, gesagt hat, die Frauen-Union hätte sich eine an- lich!)
dere Lösung gewünscht. Ich frage mich: Wofür haben wir eine Familienministe-
(Caren Marks [SPD]: Hört! Hört! – Rolf rin, wenn sie bei ihren ureigenen Kernthemen nicht ein-
Schwanitz [SPD]: Richtig!) mal gefragt wird?
Wir sprechen über eine Maßnahme, über die unsere Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
legin Miriam Gruß – ich habe extra noch einmal nachge- bei der SPD und der LINKEN – Hartwig
sehen – vor einem Monat gesagt hat: Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Frau Dörner,
(B) wissen Sie, was Krokodilstränen sind?) (D)
(Caren Marks [SPD]: Mit uns nicht!)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Ausgestaltung
Wir, die FDP, sind absolut gegen diese Leistung. – Wir
des Betreuungsgeldes, die nun von der CSU durchge-
sprechen über eine Maßnahme, über die unsere Kollegin drückt werden soll, ist absolut absurd.
Rita Pawelski – auch sie ist heute da – in den Medien ge-
sagt hat, die Frauen in der Union seien über das, was da (Patrick Döring [FDP]: Haben Sie schon einen
in Planung ist, entsetzt gewesen. Gesetzentwurf?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Der Bezug des Betreuungsgeldes wird nicht einmal mehr
bei der SPD und der LINKEN – Caren Marks am Kriterium der Berufstätigkeit der Eltern festgemacht.
[SPD]: Ja! Alle bis auf Frau Schröder! – Rolf
Schwanitz [SPD]: Das hat aber nicht lange an- (Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!)
gehalten! – Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Alle Eltern sollen das Betreuungsgeld bekommen, nur
Wir sprechen heute über den Haushalt, Frau nicht die, die ihre Kinder in eine Kita geben.
Dörner! – Patrick Döring [FDP]: Was hat denn
das mit dem Haushalt zu tun, Frau Dörner?) (Caren Marks [SPD]: Ja! – Patrick Döring
[FDP]: Woher wissen Sie denn das? – Gegen-
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich habe wirklich ruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Lesen Sie
viel Verständnis für politische Kompromisse. Aber ich mal Zeitung!)
habe keinerlei Verständnis für Maßnahmen wider alle
Vernunft. Das bedeutet: Doppelverdienereltern bekommen ihre
Nanny zukünftig mit 150 Euro im Monat subventioniert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Patrick Döring [FDP]: Kennen Sie schon ei-
nen Gesetzentwurf?)
Ich bin der Gruppe der Frauen in der Union tatsächlich
dankbar, dass sie den Mumm hat, sich dem billigen Kuh- Im letzten Jahr haben Sie den ALG II beziehenden El-
handel, der am 6. November dieses Jahres im Bundes- tern im Rahmen Ihres Sparpakets schon den Sockelbe-
kanzleramt ausbaldowert wurde, zu widersetzen. Ich bin trag des Elterngeldes gestrichen.
froh, dass es mittlerweile positive Signale von der Mi- (Caren Marks [SPD]: Ja! – Patrick Döring
nisterpräsidentin des Saarlandes, Annegret Kramp- [FDP]: Und das zu Recht!)
Karrenbauer, gibt, sich im Bundesrat an unserer Initia-
tive gegen das Betreuungsgeld zu beteiligen. Das ist absolut unsozial und völlig absurd.
17104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Katja Dörner
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
bei der SPD und der LINKEN – Caren Marks und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
[SPD]: Das ist eine ungerechte und unliberale LINKEN – Rolf Schwanitz [SPD]: Ein Hoch
Koalition!) den Landfrauen!)
Fakt ist: Ich komme zum Schluss. In der FAZ stand vor einigen
Tagen ein Artikel, aus dem ich kurz zitieren möchte:
(Patrick Döring [FDP]: Fakt ist gar nichts!)
Damit drängt sich die Frage auf, ob Familien künf-
So wie das Betreuungsgeld jetzt angelegt ist, wird es zu tig auch eine Entschädigung bekommen, wenn sie
einer reinen Kitafernhalteprämie. ihre Kinder nicht auf die staatlich finanzierte Uni-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: versität, sondern zur Ausbildung in einen Hand-
Ganz genau!) werksbetrieb schicken … Oder an diejenigen, die
keine geförderte Solaranlage auf ihrer Garage ha-
Ich muss wirklich sagen: Ein Schelm, wer Böses dabei ben? Seit dem Beschluss zum Betreuungsgeld
denkt. Gerade haben wir nämlich die neuen Zahlen zum scheinen auch solche Absurditäten nicht mehr un-
Kitaausbau bekommen. Wir wissen, dass dieser viel zu denkbar.
schleppend vorangeht. Deshalb müssen wir jetzt eine
Richtungsentscheidung treffen. Wir brauchen mehr Die schwarz-gelbe Familienpolitik ist zu einer Absurdi-
Geld, auch vom Bund, für die Investitionen in die Kitas, tät verkommen. Sie ist ein reines Trauerspiel. Sie sollte
damit der Rechtsanspruch 2013 umgesetzt werden kann. schnellstmöglich beendet werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) bei der SPD und der LINKEN – Georg
Schirmbeck [CDU/CSU]: Gnädige Frau!)
Solider Kitaausbau oder Betreuungsgeld, das ist letztlich
die Frage. Da können wir uns doch nicht von der CSU
auf der Nase herumtanzen lassen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Erwin Rüddel von der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU-Fraktion.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich möchte mich ganz besonders an die Haushälter
(B) der Regierungsfraktionen wenden. Beispielsweise Herr Erwin Rüddel (CDU/CSU): (D)
Toncar wurde in den Medien damit zitiert, er wisse gar
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
nicht, woher die zusätzlichen Milliarden für das Betreu-
ren! Wir diskutieren eine äußerst erfolgreiche Familien-
ungsgeld kommen sollen. Haben Sie einmal mit den
politik.
Landesregierungen in Bayern und in Thüringen gespro-
chen? Dort gibt es nämlich schon eine Art Betreuungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
geld; das nennt sich Landeserziehungsgeld. Es wird Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
doch darauf hinauslaufen, dass diese Länder ihren Haus- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
halt auf Kosten des Bundes sanieren. So herum wird ein NEN – Caren Marks [SPD]: In welchem Film
Schuh daraus. So wird es mit dem Betreuungsgeld ab- sind Sie denn? Die Tabletten müssen gut sein!)
laufen.
Deshalb, Frau Dörner, läuft Ihre Kritik absolut ins Leere.
(Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!)
Mit dem Familienhaushalt stellt die christlich-liberale
Das sollte doch Ihnen als Haushälter zu denken geben. Koalition unter Beweis, dass Konsolidierung der Finan-
zen und nachhaltige Investitionen in die Zukunft unserer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesellschaft kein Widerspruch sind. Wir beweisen, dass
sowie bei Abgeordneten der SPD)
sich Sparen und Gestalten keineswegs ausschließen.
Ich weiß, dass sich einige meiner Kollegen im Haus-
(Beifall bei der CDU/CSU)
haltsausschuss sehr für den ländlichen Raum engagieren,
Wir reden nicht nur vom gesellschaftlichen Wandel und
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist das!)
von der Zivilgesellschaft, sondern wir fördern sie mit zu-
Schorschi Schirmbeck etwa, der auch anwesend ist. Des- kunftsweisenden Projekten.
halb habe ich die Pressemitteilung der Landfrauen mit-
Wir fördern das bürgerschaftliche Engagement und
gebracht, die auf einer knappen Seite wunderbar sach-
schaffen nach der Aussetzung des Zivildienstes eine
lich darlegen, warum sie das Betreuungsgeld ablehnen
neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland. Jung und
und warum das Betreuungsgeld nichts mit Wahlfreiheit
Alt, Frau oder Mann, jeder kann einen Freiwilligenplatz
zu tun hat, auch und gerade nicht für Frauen im ländli-
bekommen und so zum Zusammenhalt unserer Gesell-
chen Raum. Diese Pressemitteilung werde ich den Kol-
schaft aktiv beitragen.
legen gleich zur Verfügung stellen. Ich hoffe, dass die
Frauen-Union dann viele Mitstreiter im Haushaltsaus- Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell. Man kann es
schuss findet. nicht oft genug wiederholen: Schon jetzt wählt jeder
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17105
Erwin Rüddel
(A) vierte Vater eine Auszeit vom Beruf, um zu Hause Ver- aber, daraus 10 Millionen Euro für die Unterstützung bei (C)
antwortung zu übernehmen. Diesen gesellschaftlichen ungewollter Kinderlosigkeit zu machen.
Wandel begrüßen wir ausdrücklich. Für 2012 planen wir
Für die erfolgreichen Mehrgenerationenhäuser, die
deshalb Mehraufwendungen von rund 300 Millionen
exemplarisch für bürgerschaftliches Engagement auf
Euro ein.
kommunaler Ebene stehen, haben wir ein Folgepro-
Für die Initiative „Frühe Chancen“ zur sprachlichen gramm mit den Schwerpunkten Pflege und Integration
Förderung in unseren Kitas stellen wir in diesem Jahr aufgelegt.
82 Millionen Euro bereit. Im nächsten Jahr werden es Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Familien-
102 Millionen Euro sein. In diesem Jahr sind 3 000 pflegezeit. Mit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeit
Schwerpunktkitas eingerichtet worden. Im nächsten Jahr von Pflege und Beruf werden sicherlich nicht alle Pro-
werden 1 000 weitere hinzukommen. Bis 2014 investie- bleme im Bereich der Pflege gelöst; aber es ist ein Mei-
ren wir insgesamt 400 Millionen Euro, die ganz konkret lenstein auf dem Weg, das große Thema der bedarfsge-
dem späteren Bildungserfolg und einer gelungenen Inte- rechten Pflege in einer rasch alternden Gesellschaft zu
gration zugutekommen. Es sei an dieser Stelle erwähnt, bewältigen.
dass der Bund die Kommunen bei der Grundsicherung
um 12 Milliarden Euro entlastet. Das gibt den Kommu- Meine Damen und Herren, wir geben moderne Ant-
nen sicherlich Spielraum, den Kitaausbau zu betreiben. worten auf den gesellschaftlichen Wandel. Wir schaffen
faire Chancen. Wir fördern das bürgerschaftliche Enga-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gement, die soziale Teilhabe und den Zusammenhalt der
neten der FDP) Generationen.
Die Mittel für die Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Die Koalition trägt den Veränderungen in unserer Ge-
Demokratie erhöhen wir, wie schon erwähnt, auf 29 Mil- sellschaft Rechnung. Deshalb bin ich der festen Über-
lionen Euro. zeugung, dass wir mit unserem Familienhaushalt auf
dem richtigen Weg sind.
(Caren Marks [SPD]: Das stimmt gar nicht!
Sie nehmen nur die Kürzung zurück! – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP)
NEN]: Das sind feine Unterschiede!)
Sie dienen primär der Prävention. Denn wir sind der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Auffassung, dass jeglicher Extremismus ein Angriff auf Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPD-
Fraktion.
(B) unser demokratisches Gemeinwesen ist. (D)
(Beifall bei der SPD)
Ich bin der Ministerin dankbar,
(Caren Marks [SPD]: Die hat damit gar nichts Sönke Rix (SPD):
zu tun!) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst komme ich zu einem Thema, das
dass sie bereits lange vor Bekanntwerden dieser schreck-
schon eine Rolle gespielt hat, zum Übergang vom Zivil-
lichen Geschehnisse von den Maßnahmenträgern eine
dienst zum Freiwilligendienst.
Demokratieerklärung verlangt hat. Die Projektträger von
staatlich geförderten Maßnahmen sollen nicht nur weiter (Markus Grübel [CDU/CSU]: Endlich etwas
sensibilisiert, sondern auch beraten und geschützt wer- Positives!)
den.
– Ich weiß nicht, Herr Grübel, ob das wirklich positiv ist. –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die meisten Redner haben festgestellt, trotz der An-
fangsschwierigkeiten seien jede Menge junger Men-
Familienpolitik ist aber mehr als Extremismusbekämp- schen gewonnen worden, die in Freiwilligendiensten tä-
fung. Wir müssen Strukturen schaffen, damit Extremis- tig sind.
mus keinen Nährboden hat.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Zu Recht!)
Im Rahmen des neuen Kinderschutzgesetzes fördern
wir die Arbeit der Familienhebammen. Wir wollen jun- Das ist gut so, und es will niemand in Abrede stellen,
gen Frauen frühzeitig helfen. Wir wollen helfen, bevor dass das zu loben ist und den jungen Menschen, die die-
es zu spät ist. Für diesen präventiven Ansatz stellen wir sen Dienst antreten, egal ob im Bundesfreiwilligendienst
im nächsten Jahr 30 Millionen Euro bereit. In den nächs- oder im Jugendfreiwilligendienst, unser gemeinsamer
ten vier Jahren sind es insgesamt 120 Millionen Euro. Dank gebührt.
Umso ärgerlicher finde ich die Einlassungen einiger ro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ter und grüner Landesministerinnen, die gegen dieses der CDU/CSU und der FDP)
wichtige Vorhaben öffentlich Stimmung machen. Für
parteitaktische Manöver auf dem Rücken von Kindern Aber es gibt natürlich Probleme beim Start. Es wird
und Familien hat niemand Verständnis. darauf hingewiesen, dass diese Startprobleme daran lie-
gen, dass wir sehr schnell ein System für die Zeit nach
Wir haben 7 Millionen Euro für die Förderung der dem Zivildienst entwickeln mussten. Wer sagt denn,
künstlichen Befruchtung bereitgestellt. Das Ziel bleibt dass das so schnell gehen musste? Warum haben Sie so
17106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Sönke Rix
(A) auf das Tempo gedrückt? Ich glaube, sowohl die Bun- Natürlich spielt dabei auch die Extremismusklausel (C)
deswehr als auch die zivilgesellschaftlichen Organisatio- eine Rolle. Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn sich
nen wären dankbar gewesen, wenn Sie eine längere Leute zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung be-
Übergangsfrist vorgesehen und vorgeschlagen hätten, kennen. Schlimm ist aber, dass Sie mit dieser Extremis-
sich gemeinsam an den Tisch zu setzen, um zusammen musklausel – Sie nennen das „Demokratieerklärung“ –
ein Konzept zu erarbeiten, statt es im Eiltempo durchzu- abfragen, ob die Verantwortlichen selbst, die Organisa-
ziehen. Dieser Zeitdruck war nicht notwendig. tion, und diejenigen, die mit ihnen zusammenarbeiten,
auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Was bedeutet
(Beifall bei der SPD)
das denn, Frau Ministerin?
Jetzt wird deutlich – wir haben uns mit den Trägern
darüber auseinandergesetzt –: Beim Bundesfreiwilligen- (Caren Marks [SPD]: Ja!)
dienst ist natürlich nicht alles Gold, was glänzt. Das Sie haben im Ausschuss geantwortet: Ich kann die Na-
Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufga- men googeln; dann weiß ich, ob sie extremistisch sind
ben ist für die Umsetzung des Bundesfreiwilligendiens- oder nicht. – Sie müssen sich gegenseitig ausspionieren.
tes zuständig. Beim Bundesfreiwilligendienst muss der So kann keine vertrauensvolle Arbeit entstehen.
Vertrag im Gegensatz zum Jugendfreiwilligendienst vom
Bundesamt, vom Träger, von der Einsatzstelle und vom (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Freiwilligen unterzeichnet werden. Bis dieser Vertrag der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
zurückkommt, vergehen mehrere Wochen. Die Einsatz- GRÜNEN)
stelle weiß nicht damit umzugehen. Das gleiche Problem
haben wir leider mit dem Geldfluss. Die Einsatzstellen, Zu kritisieren ist auch, dass diejenigen, die Mittel aus
die die Bundesfreiwilligendienstler einstellen, müssen dem Topf gegen Rechtsextremismus beantragen, die Er-
über Monate hinweg warten, bis die Mittel dafür fließen. klärung unterschreiben müssen, während beispielsweise
Das ist kein gelungener Start des Bundesfreiwilligen- der Bund der Vertriebenen, der auch staatliche Gelder
dienstes. Das ist ein Bürokratiemonster. Insbesondere bekommt, so etwas nicht unterschreiben muss.
von den Kollegen der FDP hätten wir eigentlich anderes
erwartet. (Caren Marks [SPD]: Warum eigentlich
nicht?)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Warum gibt es eigentlich diese Ungleichbehandlung
vonseiten der Bundesregierung?
Wie kommen wir da heraus? Ich habe schon öfter ge-
sagt: Wir brauchen keine Doppelstruktur bei den Frei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) (D)
willigendiensten. Wir brauchen nicht auf der einen Seite DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
den staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienst und LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]:
auf der anderen Seite den zivilgesellschaftlich organi- Hallo! Was wollen Sie damit sagen? Was soll
sierten Jugendfreiwilligendienst. Das ist unnötig. Wir denn diese Anspielung?)
müssen zusehen, dass wir in der nächsten Zeit – hoffent-
lich gemeinsam – die Richtung verfolgen, einen gemein- Sie loben sich hier, indem Sie sagen, sie hätten die
samen Freiwilligendienst zu organisieren, der unter der Haushaltsmittel um 2 Millionen Euro erhöht. Das ist na-
Verantwortung der Zivilgesellschaft steht. türlich ein toller Taschenspielertrick.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann (Caren Marks [SPD]: Ja!)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Zunächst kürzen Sie die Mittel im Entwurf, dann neh-
Natürlich möchte auch ich noch etwas zu dem aktuellen men Sie die Kürzung drei Tage vor der Haushaltsbera-
Thema Strategien zur Bekämpfung des Rechtsextremis- tung wieder zurück, und jetzt stellen Sie sich hierhin und
mus sagen. Frau Ministerin, es geht uns gar nicht darum, tun so, als hätten Sie die Mittel erhöht. Das ist ein Skan-
dass es aus Ihrer Sicht Mittel gegen den Linksextremismus dal, Frau Ministerin. Sie wollten kürzen, und dazu hätten
und Mittel gegen den Rechtsextremismus gibt. Bei der ak- Sie einmal stehen sollen.
tuellen Debatte geht es nicht um Linksextremismus, son-
dern um rechtsextremistischen Terror. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten LINKEN)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Jetzt wird öffentlich betont, es seien sogar noch meh-
rere Millionen Euro übrig. Wir haben Informationen,
Stellen Sie sich bitte die Angehörigen der Opfer vor,
dass Organisationen, die das gelesen haben, sofort ange-
wenn die Ministerin hier bedauert, dass es diesen Terror
rufen und gesagt haben: Davon hätten wir gerne etwas
gibt, aber sofort hinterherschiebt: „Aber Linksextremis-
Geld. Aus dem Ministerium hieß es dann: Nein, nein, die
mus und Islamismus sind auch schlimm.“ Diese Haltung
Gelder sind schon längst bewilligt; sie werden wahr-
ist nicht zu ertragen.
scheinlich bis Ende des Jahres abgeflossen sein. Was ist
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem das für eine Art, Frau Ministerin? Wie wollen Sie eigent-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks lich dafür sorgen, dass sich die Zivilgesellschaft tatsäch-
[SPD]: Ja, Relativierung! Unglaublich!) lich engagiert?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17107
Sönke Rix
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Es wurde von einigen Vorrednern zu Recht betont,
dass uns die schrecklichen und menschenverachtenden
Erst erfolgt die Rücknahme von 2 Millionen Euro, Verbrechen der Neonazi-Bande betroffen machen, dass
und dann brüsten Sie sich, die Mittel zur Stärkung von sie uns erschüttern und dass uns die Ermittlungspannen
Demokratie und Toleranz erhöht zu haben. Es fehlt eine empören. Deswegen ist es auch richtig, dass wir als zu-
Gesamtstrategie der Bundesregierung. Wenn Sie ehrlich ständige Fachpolitiker für die Präventionspolitik hier in
wären, würden Sie auch einräumen, dass die Mittel für den Haushaltsberatungen zu diesem Thema Stellung
die Bundeszentrale für politische Bildung um mehrere nehmen. Aber es liegt auch in unserer Verantwortung,
Millionen Euro gekürzt werden. Auch die Arbeit der die Debatte nicht in parteipolitisches Gezänk ausarten zu
Bundeszentrale ist Extremismusbekämpfung und trägt lassen. Nichts anderes tun Sie doch. Sie stellen die glei-
zur Förderung von Demokratie und Toleranz bei. Deren chen Forderungen auf, die wir schon seit Wochen und
Mittel aber haben Sie gekürzt. Auch das gehört zur Monaten von Ihnen kennen, diesmal aber tun Sie es un-
Wahrheit. ter dem Deckmantel dieser schrecklichen Ereignisse. Sie
haben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, zu
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schauen, was wir als Präventionspolitiker tatsächlich aus
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diesen schrecklichen Ereignissen lernen können; denn
Einen Satz möchte ich mir nicht ersparen. Wir haben wenn man das tut, müsste man auf ein Datum eingehen,
am Dienstag erklärt, welche gemeinsame Position wir nämlich das Jahr 1998.
zum Rechtsterrorismus in diesem Haus haben. Aber Das Jahr 1998 ist das Gründungsjahr des Nationalso-
wenn Sie dann den Vorwurf erheben, es sei parteipoli- zialistischen Untergrunds. Spätestens in diesem Jahr ha-
tisch, auf Fehler aufmerksam zu machen, dann muss ich ben sich drei junge Menschen von Demokratie, Vielfalt
Sie fragen: Was ist eigentlich so schlimm an Parteipoli- und Toleranz abgewendet und ein gewaltbereites und
tik? Es ist auch ein Teil von Demokratie, dass man über menschenverachtendes Netzwerk gebildet. Das heißt für
Unterschiede streiten kann. Wir sollten das nicht als ne- uns als Präventionspolitiker: Spätestens im Jahr 1998 hat
gativ darstellen. unsere Präventionspolitik versagt. Das ist auch gar kein
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wunder; denn im Jahr 1998 gab es noch gar nicht so et-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) was wie eine vom Bund geförderte Präventionspolitik.
Erst nach dem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge
Wir haben am Dienstag ein gemeinsames Zeichen ge- im Jahr 2000 hat Rot-Grün mit dem Bündnis für Demo-
setzt und deutlich gemacht, wie wir uns verhalten wer- kratie und Toleranz reagiert und erstmals Mittel für den
(B) den. Wir haben beschlossen, dass wir dafür Sorge tragen, (D)
Kampf gegen den Rechtsextremismus eingestellt.
der Zivilgesellschaft keine weiteren Hindernisse in den
Weg zu legen, um die Demokratie zu stärken. Heute ha- (Caren Marks [SPD]: Sie haben dagegen ge-
ben wir die Möglichkeit, wenn Sie den drei Anträgen der stimmt! Sie und die CDU/CSU!)
Grünen, der Linkspartei und vor allen Dingen der SPD Ihr eigener Bundeskanzler Gerhard Schröder hat da-
zustimmen, diese Hindernisse abzuräumen. Lassen Sie mals gesagt – ich zitiere –:
uns ein gemeinsames Zeichen setzen!
Ich glaube, wir alle haben zu häufig die Probleme,
Herzlichen Dank. die es in diesem Bereich gibt, einfach nicht zur
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Kenntnis genommen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerhard Schröder hat damit das auf den Punkt gebracht,
was Präventionspolitik eigentlich ausmachen sollte,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nämlich zu reagieren, bevor es zu spät ist und zu Todes-
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian opfern kommt. Genau das ist das Absurde an Ihrer Argu-
Bernschneider das Wort. mentation. Sie sagen: Weil es noch nicht so viele Todes-
opfer durch Linksextremisten und weil es noch keine
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Todesopfer durch religiöse Extremisten gab, können wir
Patrick Döring [FDP]: Jetzt kommt Klarheit in die Mittel sparen und sie in den Kampf gegen Rechts-
die Sache!) extremismus investieren.
(Caren Marks [SPD]: Oh wei!)
Florian Bernschneider (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Das hat nichts mit Präventionspolitik zu tun.
ren! Herr Kollege Rix, erlauben Sie mir wenigstens ei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nen Satz zu den Freiwilligendiensten, zum Zivildienst der CDU/CSU)
und zur Wehrpflicht. Sie haben gesagt, wir hätten das al-
les über das Knie gebrochen. Ich sage Ihnen: Es ist mir Sie verpassen einmal mehr mit diesen ideologischen
lieber, dass wir die Wehrpflicht kurzfristig ausgesetzt ha- Grabenkämpfen die Chance, Präventionspolitik tatsäch-
ben, als es so langfristig wie Rot-Grün anzugehen. Unter lich voranzubringen. Das ist auch gar nichts Neues. Man
Rot-Grün wurde es nämlich nie etwas mit der Ausset- muss nur einmal in die Protokolle des Deutschen Bun-
zung der Wehrpflicht. destages der vergangenen Wochen und Monate sehen.
17108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Florian Bernschneider
(A) Schwarz-Gelb hat einen Antrag eingebracht, wie wir die Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C)
Präventionsprogramme verbessern können. Sie haben Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
Ihre Redezeit, wie auch heute, vor allem darauf verwen- liebe Kollegen! Ich darf mich zunächst sehr herzlich bei
det, uns zu erklären, dass es gar keinen Linksextremis- allen Fraktionen in diesem Hohen Haus dafür bedanken,
mus in diesem Land gibt. Ich will einmal eine Forderung dass es vorgestern gelungen ist, die gemeinsame Initia-
aus dem Antrag zitieren, den Schwarz-Gelb gegen Ihre tive gegen Rechtextremismus auf den Weg zu bringen.
Stimmen auf den Weg gebracht hat:
Leider beißt sich momentan ein Großteil der Opposi-
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- tion an der sogenannten Extremismusklausel – genauer:
rung … auf, … bei der Weiterentwicklung dieser an der Demokratieerklärung – die Zähne aus. Ich will Ih-
Programme auch … geschlechterdifferenzierte An- nen eines sagen: Als ich das gehört habe, habe ich mich
sätze verstärkt einzubeziehen. erst einmal kundig gemacht, was eigentlich darin steht.
Mit der Erlaubnis des geschätzten Präsidenten zitiere
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was ist ich:
das eigentlich für ein Ideologe da vorn? Fürch-
terlich!) Hiermit bestätigen wir, dass wir uns zu der freiheit-
lichen demokratischen Grundordnung der Bundes-
Wie richtig das war, was wir damals beschlossen ha- republik Deutschland bekennen und eine den Zielen
ben, zeigt dieses Trio tatsächlich; denn Beate Zschäpe ist des Grundgesetzes förderliche Arbeit gewährleis-
doch für diese schreckliche Bande das freundliche Ge- ten.
sicht nach außen gewesen.
Als Träger der geförderten Maßnahmen haben wir
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zudem im Rahmen unserer Möglichkeiten …
NEN]: Lesen Sie bitte unsere Anträge! Das
– niemand verlangt, dass man Google oder den Bundes-
steht da drin!)
nachrichtendienst einschaltet –
Deswegen war der Ansatz, den Schwarz-Gelb gewählt und auf eigene Verantwortung dafür Sorge zu tra-
hat, nämlich in der Präventionspolitik auf die geschlech- gen, dass die als Partner ausgewählten Organisatio-
terspezifischen Rollen einzugehen, richtig. Genau so nen, Referenten etc. sich ebenfalls den Zielen des
eine sachliche Politik und vor allem eine genau so sach- Grundgesetzes verpflichten. Uns ist bewusst, dass
liche Diskussion muss man von uns erwarten. keinesfalls der Anschein erweckt werden darf, dass
Anstatt über solche wichtigen Punkte zu diskutieren, einer Unterstützung extremistischer Strukturen
wie man die Präventionspolitik tatsächlich verbessern durch die Gewährung materieller oder immateriel-
(B) kann, halten Sie heute wieder die Extremismusklausel ler Leistungen Vorschub geleistet wird. (D)
hoch. Nehmen Sie doch bitte einfach einmal zur Kennt- Was ist daran falsch?
nis, dass die Extremismusklausel keine Erfindung von
uns ist, sondern von Ihrem eigenen Staatssekretär ge- (Beifall bei der CDU/CSU)
wählt wurde. Er wollte übrigens nicht nur Google ein- Meine Damen und Herren und insbesondere liebe Zu-
binden; er hat sogar noch angeboten, die Verfassungs- schauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen sowie an
schutzbehörden anzurufen, wenn man Fragen zu seinen den Fernsehgeräten, wir sprechen bei den Fördergeldern
Projektpartnern hat. von Steuergeldern. Wir sind Sachwalter Ihrer Steuergel-
Es hat eben nicht dazu geführt, dass die Zivilgesell- der. Wir können sie für diese oder jene Initiative bzw.
schaft die Mittel nicht mehr in Anspruch nimmt, seitdem Organisation einsetzen. Es ist völlig richtig, wenn die
wir die Extremismusklausel haben, sondern die Mittel- Frau Ministerin sagt: Wir wollen Extremismus nicht mit
abrufe sind nach wie vor konstant. Von den über Extremismus bekämpfen. – Deshalb ist dies zumutbar
500 Projektpartnern hat sich weniger als eine Handvoll und keinesfalls anstößig.
geweigert, die Extremismusklausel zu unterschreiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorhin ist sehr viel über den Haushalt 2012 ausge-
Reden Sie einmal mit den Trägern!) führt worden. Leider hat es sich nicht vermeiden lassen,
dass einige Kolleginnen und Kollegen schon über den
Ich hoffe, dass wir, wenn Sie dieses schreckliche Haushalt 2013 diskutiert und immer wieder das Thema
Theater hier im Plenum des Deutschen Bundestages be- Betreuungsgeld thematisiert haben.
endet haben, wenigstens im Ausschuss wieder sachlich
über Präventionspolitik diskutieren können. Um 12.15 Uhr hat Frau Gesine Lötzsch unserer Ar-
beitsministerin an diesem Mikrofon sinngemäß vorge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) worfen, arme Menschen erziehen zu wollen, anstatt ih-
nen zu helfen. Frau Lötzsch hat in diesem Punkt nicht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: recht: Wir wollen Menschen gerade nicht erziehen, son-
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der dern ihnen helfen. Deshalb möchten wir eine Alternative
CDU/CSU-Fraktion. zur staatlichen Betreuung in Kitas anbieten. Deswegen
gibt es das Betreuungsgeld. Ich weise darauf hin, dass
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das mit dem Haushalt 2012 nichts zu tun hat. Wir reden
neten der FDP) jetzt in dieser erhitzten Debatte schon über den Haushalt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17109
Paul Lehrieder
(A) 2013. In Thüringen hat man gute Erfahrungen gemacht. Kues für die gute Arbeit bedanken und ihnen weiterhin (C)
Die sogenannte Fernhalteprämie, wie es Hubertus Heil viel Erfolg auf ihrem Weg wünschen.
um 12.57 Uhr oder Frau Kollegin Marks um 14 Uhr hier
Danke schön.
ausgeführt haben, ist keine Fernhalteprämie, weder in
Thüringen noch in der übrigen Bundesrepublik. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wollen damit unterschiedliche Lebensentwürfe und Er-
ziehungsmodelle anerkennen und nicht nur eine einsei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tige staatlich geförderte Betreuung fördern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die letzten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fünf Minuten noch so viel Ruhe zu bewahren, dass sich
neten der FDP) auch unsere letzte Rednerin Gehör verschaffen kann.
Erlauben Sie mir, noch ein paar Sätze zum Haushalt zu Als letzter Rednerin zu diesem Einzelplan erteile ich
sagen. Nach den Hauptausgaben des Ministeriums für Fa- das Wort der Kollegin Stefanie Vogelsang.
milie, Senioren, Frauen und Jugend befragt, fallen einem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
spontan zumeist die Begriffe „Elterngeld“, „Kindergeld“ neten der FDP)
und auch „Kinderzuschlag“ ein. Im Haushaltsgesetz 2012
sind allein für diese drei zentralen Ausgabenblöcke ins-
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
gesamt 5,143 Milliarden Euro vorgesehen. 4,6 Milliarden
Euro fließen 2012 in das Elterngeld. Das sind rund Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
215 Millionen Euro mehr als in diesem Jahr und in der Meine Damen und Herren! Als letzte Rednerin in dieser
Gesamtbetrachtung mehr als zwei Drittel des gesamten Debatte möchte ich auf drei Punkte aufmerksam ma-
Haushalts des Familienministeriums. chen, die mir wichtig sind. Zuerst möchte ich etwas zum
Kinderschutzgesetz und zu der morgigen Abstimmung
An der Erhöhung der Mittel für das Elterngeld haben im Bundesrat sagen. Mein zweites Thema sind die Kin-
insbesondere die aktiven Väter in unserem Land erhebli- derwunschbehandlung und die Aktionen unserer Minis-
chen Anteil. Bislang nahm knapp jeder vierte Vater mit terin. Mein drittes Thema ist der von Frau Künast ange-
den Partnermonaten eine Auszeit vom Beruf, um sich sprochene Kompass für das Regierungshandeln.
dem gemeinsamen Nachwuchs zu widmen. Bei der Ver-
abschiedung des Gesetzes, also vor Einführung des El- Am Dienstag dieser Woche lautete eine Schlagzeile in
terngeldes vor fünf Jahren, hätte wohl niemand mit einer der Berliner Morgenpost: „Getötetes Baby – Bezirk
solchen Zahl gerechnet. Die Vorgängerleistung, das Er- überprüft Jugendamt“. Am Mittwoch dieser Woche lau-
ziehungsgeld, war 2006 lediglich von 3,5 Prozent der tete eine Schlagzeile: „Jugendamt holt halb verhungertes
(B) Männer in Anspruch genommen worden, das Elterngeld Kind von der Mutter weg“. Frau Kollegin Lazar hat vor- (D)
2007 immerhin schon von 7 Prozent. Laut den aktuellen hin gesagt, wir alle seien uns einig, dass nun Taten fol-
Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, die gen müssen. Es ist dringend notwendig, dass nun Taten
Sie heute der Tagespresse entnehmen können, ist die Vä- folgen. Ich bitte jeden, der Kontakt zu den Ländervertre-
terbeteiligung, also der Anteil der Väter, die Elterngeld terinnen und -vertretern hat, dazu beizutragen, dass der
bezogen haben, für im zweiten Quartal 2010 geborene Bundesrat morgen dem dringend benötigten Kinder-
Kinder noch einmal angestiegen, und zwar auf derzeit schutzgesetz zustimmt. Das ist wichtig für die Kinder in
25,4 Prozent. Im ersten Quartal 2010 waren es 24,4 Pro- Deutschland.
zent. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich muss insbesondere den Sachsen – leider ist Frau Es gibt viele Paare, die sich Kinder wünschen, aber
Kollegin Lazar gerade entschwunden – ein Kompliment – aus welchen Gründen auch immer – keine bekommen
machen. Die sächsischen Mannsbilder sind noch etwas können. Bis zum Jahr 2005 haben wir Kinderwunschbe-
besser als die bayerischen. 32,8 Prozent der sächsischen handlungen über die gesetzlichen Krankenkassen finan-
Väter nehmen das Elterngeld in Anspruch. Schlusslicht ziert. Was die Zahl der infolge solcher Behandlungen
ist Bremen mit 16,9 Prozent. Dort muss man noch ein geborenen Kinder anbelangt, standen wir als Bundes-
bisschen besser werden. Aber die große Nachfrage und republik Deutschland an der Spitze.
Akzeptanz zeugen vom Erfolg des Elterngeldes. Es zeigt
sich, dass gerade junge Eltern eine partnerschaftliche Dann hat Rot-Grün damals das Gesetz geändert und
Aufgabenteilung begrüßen. festgelegt, dass maximal drei Behandlungen finanziert
werden. Das hat man an den Zahlen gemerkt. Die Zahl
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Kinder, die infolge solcher Behandlungen geboren
neten der FDP) worden sind, ist in erheblichem Maße gesunken. Ich bin
der Ministerin Kristina Schröder ausgesprochen dank-
Anhand dieses Ausgabenblocks, den ich aus Zeit-
bar, dass sie dieses Thema aufgegriffen hat, sich dafür
gründen als einzigen beschrieben habe, wird ersichtlich
eingesetzt hat, dafür gekämpft hat und diesen Akzent in
und mehr als deutlich, dass die Familienpolitik der
der Familienpolitik gesetzt hat,
christlich-liberalen Koalition sehr am Herzen liegt. Fa-
milienpolitik ist Zukunftspolitik. Diese Überzeugung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
spiegelt sich im Haushaltsentwurf 2012 wider. neten der FDP)
Ich darf mich sehr herzlich bei unserer Frau Ministe- sodass es in Zukunft wieder eine stärkere Unterstützung
rin Kristina Schröder und beim Herrn Staatssekretär in diesem Bereich gibt.
17110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Stefanie Vogelsang
(A) Frau Künast hat vom Kompass beim Regierungshan- Zuerst stimmen wir über den Änderungsantrag der (C)
deln gesprochen. Frau Marks, Sie haben in Ihrer Rede Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7817 ab. Ich er-
vorhin ebenfalls das Thema „Kompass und Regierungs- öffne die namentliche Abstimmung.
handeln“ angesprochen.
Haben die Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte
(Caren Marks [SPD]: „Kompass“ nicht, weil abgegeben? – Das ist offenkundig der Fall. Dann
das nicht zur Regierung passt! Das habe ich schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszäh-
nie gesagt! Ich weise das weit von mir!) lung zu beginnen.1)

– Sie haben sich damit auseinandergesetzt; lesen Sie es Wir kommen dann zur Abstimmung über den Än-
einfach nach. – Ich persönlich bin ausgesprochen froh derungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
über den Kompass, den diese Familienministerin in un- 17/7819. Die Urnen sind besetzt. Dann eröffne ich die
serer Bundesregierung hat. Als 2003 der Generalsekretär zweite namentliche Abstimmung.
der SPD in einer Erklärung sagte: „Wir müssen die Luft- Haben alle Kolleginnen und Kollegen bei der zweiten
hoheit über den Kinderbetten in diesem Land zurück- namentlichen Abstimmung ihre Stimmkarte eingewor-
erobern“, war das eine Aussage, die mich geschockt hat. fen? – Ich schließe die zweite namentliche Abstimmung
Ich bin sehr froh darüber – sehr froh! –, dass wir jetzt und bitte, auch hier mit der Auszählung zu beginnen.2)
eine Familienpolitik haben, bei der kein Lebensmodell
gegen das andere ausgespielt wird, Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Drucksache 17/7821. Die Urnen sind besetzt. Ich eröffne
neten der FDP) die dritte namentliche Abstimmung.

bei der jeder nach seiner Fasson seine Kinder erziehen Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihre
kann und bei der jeder nach seiner Fasson seine Schwer- Stimmkarte für die dritte namentliche Abstimmung ein-
punkte setzen kann und kein übermächtiger Staat hinein- geworfen? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die dritte
redet. namentliche Abstimmung und bitte, mit der Auszählung
zu beginnen.3)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wir setzen die Abstimmungen über die weiteren Än-
der FDP)
derungsanträge fort. Ich hatte vorhin gesagt, dass es sich
In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung von um sechs Anträge handelt. Über drei Anträge haben wir
heute, liebe Rita Pawelski, steht: „Der neue Babyboom namentlich abgestimmt. Damit kommen jetzt noch drei
weitere Abstimmungen.
(B) in Hannover“. Die sozialdemokratische Stadtregierung (D)
in Hannover erklärt den Babyboom in der Stadt ursäch- Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-
lich mit der veränderten Familienpolitik im Bund seit nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7818. Wer stimmt
2005. Jetzt ist Familienpolitik nicht mehr nur Gedöns für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
wie unter Schröder, sondern die Familienpolitik gibt Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
Müttern wieder das Signal, dass sie gern gesehen sind. men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Das ist der Grund für den Babyboom. Oppositionsfraktionen abgelehnt.
(Caren Marks [SPD]: Das hat was mit der gu- Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksa-
ten SPD-Politik in der Region Hannover zu che 17/7816. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
tun!) Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Dieser Änderungsan-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Das finde ich toll. Jetzt sollten wir zu den Abstimmun- Gegenstimmen von SPD und der Fraktion Die Linke und
gen kommen. Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lehnt.
neten der FDP) Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/7820. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
Ich schließe die Aussprache. die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 17 Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen
– Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung, weil wir an-
Jugend – in der Ausschussfassung einschließlich der be- schließend über diesen Haushalt insgesamt abstimmen.
reits am Dienstag beschlossenen Änderungen. Hierzu Halten Sie sich aber bitte zur Verfügung. Wenn wir die Er-
liegen sechs Änderungsanträge vor, über die wir zuerst gebnisse haben, werden wir die Sitzung sofort fortsetzen.
abstimmen. Wir beginnen mit drei Änderungsanträgen,
zu denen namentliche Abstimmung verlangt wurde. (Unterbrechung von 16.00 bis 16.11 Uhr)

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die 1) Ergebnis Seite 17111 C
Plätze an den Urnen zu besetzen. – Sind die Plätze be- 2) Ergebnis Seite 17113 A
setzt? – Das ist der Fall. 3) Ergebnis Seite 17116 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17111

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Änderungsantrag der SPD zum Einzelplan 17, Druck- (C)
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. sache 17/7817: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben
gestimmt 137, mit Nein haben gestimmt 312, Enthaltun-
Ich gebe Ihnen die von den Schriftführerinnen und gen 122. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Schriftführern ermittelten Ergebnisse der drei nament-
lichen Abstimmungen bekannt:

Endgültiges Ergebnis Michael Hartmann Axel Schäfer (Bochum) Dr. Reinhard Brandl
Abgegebene Stimmen: 571; (Wackernheim) Bernd Scheelen Helmut Brandt
davon
Hubertus Heil (Peine) Marianne Schieder Dr. Ralf Brauksiepe
Rolf Hempelmann (Schwandorf) Dr. Helge Braun
ja: 138 Dr. Barbara Hendricks Werner Schieder (Weiden) Heike Brehmer
nein: 312 Gustav Herzog Ulla Schmidt (Aachen) Ralph Brinkhaus
enthalten: 121 Gabriele Hiller-Ohm Silvia Schmidt (Eisleben) Cajus Caesar
Petra Hinz (Essen) Carsten Schneider (Erfurt) Gitta Connemann
Frank Hofmann (Volkach) Ottmar Schreiner Alexander Dobrindt
Ja
Dr. Eva Högl Swen Schulz (Spandau) Thomas Dörflinger
SPD Christel Humme Ewald Schurer Marie-Luise Dött
Josip Juratovic Frank Schwabe Dr. Thomas Feist
Ingrid Arndt-Brauer Oliver Kaczmarek Dr. Martin Schwanholz Enak Ferlemann
Rainer Arnold Johannes Kahrs Rolf Schwanitz Ingrid Fischbach
Heinz-Joachim Barchmann Dr. h. c. Susanne Kastner Stefan Schwartze Hartwig Fischer (Göttingen)
Doris Barnett Ulrich Kelber Rita Schwarzelühr-Sutter Dirk Fischer (Hamburg)
Dr. Hans-Peter Bartels Lars Klingbeil Dr. Carsten Sieling Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Klaus Barthel Hans-Ulrich Klose Sonja Steffen Land)
Sören Bartol Dr. Bärbel Kofler Peer Steinbrück Dr. Maria Flachsbarth
Bärbel Bas Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Frank-Walter Steinmeier Klaus-Peter Flosbach
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Fritz Rudolf Körper Christoph Strässer Herbert Frankenhauser
Dirk Becker Anette Kramme Kerstin Tack Dr. Hans-Peter Friedrich
Uwe Beckmeyer Angelika Krüger-Leißner Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Hof)
Lothar Binding (Heidelberg) Ute Kumpf Franz Thönnes Michael Frieser
Gerd Bollmann Christine Lambrecht Wolfgang Tiefensee Erich G. Fritz
Klaus Brandner Christian Lange (Backnang) Ute Vogt Dr. Michael Fuchs
(B) Willi Brase Dr. Karl Lauterbach Dr. Marlies Volkmer Hans-Joachim Fuchtel (D)
Bernhard Brinkmann Steffen-Claudio Lemme Andrea Wicklein Alexander Funk
(Hildesheim) Burkhard Lischka Heidemarie Wieczorek-Zeul Ingo Gädechens
Edelgard Bulmahn Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Thomas Gebhart
Marco Bülow Kirsten Lühmann Uta Zapf Norbert Geis
Ulla Burchardt Caren Marks Dagmar Ziegler Alois Gerig
Petra Crone Katja Mast Manfred Zöllmer Eberhard Gienger
Dr. Peter Danckert Hilde Mattheis Brigitte Zypries Michael Glos
Elvira Drobinski-Weiß Petra Merkel (Berlin) Josef Göppel
Ullrich Meßmer Peter Götz
Garrelt Duin
Dr. Matthias Miersch
Nein Dr. Wolfgang Götzer
Sebastian Edathy
Franz Müntefering Reinhard Grindel
Ingo Egloff CDU/CSU
Dr. Rolf Mützenich Hermann Gröhe
Siegmund Ehrmann
Andrea Nahles Ilse Aigner Michael Grosse-Brömer
Petra Ernstberger Peter Altmaier
Dietmar Nietan Markus Grübel
Karin Evers-Meyer Manfred Nink Peter Aumer Manfred Grund
Elke Ferner Thomas Oppermann Thomas Bareiß Monika Grütters
Gabriele Fograscher Holger Ortel Norbert Barthle Olav Gutting
Dr. Edgar Franke Aydan Özoğuz Günter Baumann Florian Hahn
Dagmar Freitag Heinz Paula Ernst-Reinhard Beck Dr. Stephan Harbarth
Sigmar Gabriel Johannes Pflug (Reutlingen) Jürgen Hardt
Michael Gerdes Dr. Wilhelm Priesmeier Manfred Behrens (Börde) Gerda Hasselfeldt
Martin Gerster Florian Pronold Veronika Bellmann Dr. Matthias Heider
Iris Gleicke Dr. Sascha Raabe Dr. Christoph Bergner Helmut Heiderich
Günter Gloser Mechthild Rawert Peter Beyer Mechthild Heil
Ulrike Gottschalck Stefan Rebmann Steffen Bilger Ursula Heinen-Esser
Angelika Graf (Rosenheim) Gerold Reichenbach Clemens Binninger Frank Heinrich
Kerstin Griese Dr. Carola Reimann Peter Bleser Rudolf Henke
Michael Groschek Sönke Rix Wolfgang Börnsen Michael Hennrich
Michael Groß René Röspel (Bönstrup) Jürgen Herrmann
Wolfgang Gunkel Dr. Ernst Dieter Rossmann Wolfgang Bosbach Ansgar Heveling
Hans-Joachim Hacker Karin Roth (Esslingen) Norbert Brackmann Ernst Hinsken
Bettina Hagedorn Michael Roth (Heringen) Klaus Brähmig Peter Hintze
Klaus Hagemann Anton Schaaf Michael Brand Christian Hirte
17112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Robert Hochbaum Eduard Oswald Marco Wanderwitz Dr. Martin Lindner (Berlin) (C)
Karl Holmeier Henning Otte Kai Wegner Michael Link (Heilbronn)
Franz-Josef Holzenkamp Dr. Michael Paul Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Erwin Lotter
Joachim Hörster Rita Pawelski Peter Weiß (Emmendingen) Oliver Luksic
Anette Hübinger Ulrich Petzold Sabine Weiss (Wesel I) Horst Meierhofer
Thomas Jarzombek Dr. Joachim Pfeiffer Ingo Wellenreuther Patrick Meinhardt
Dieter Jasper Sibylle Pfeiffer Karl-Georg Wellmann Gabriele Molitor
Dr. Franz Josef Jung Beatrix Philipp Peter Wichtel Jan Mücke
Andreas Jung (Konstanz) Ronald Pofalla Klaus-Peter Willsch Petra Müller (Aachen)
Dr. Egon Jüttner Christoph Poland Elisabeth Winkelmeier- Burkhardt Müller-Sönksen
Bartholomäus Kalb Ruprecht Polenz Becker Dr. Martin Neumann
Hans-Werner Kammer Eckhard Pols Dagmar G. Wöhrl (Lausitz)
Steffen Kampeter Thomas Rachel Dr. Matthias Zimmer Dirk Niebel
Alois Karl Dr. Peter Ramsauer Wolfgang Zöller Hans-Joachim Otto
Bernhard Kaster Eckhardt Rehberg Willi Zylajew (Frankfurt)
Siegfried Kauder (Villingen- Lothar Riebsamen Cornelia Pieper
Schwenningen) Josef Rief FDP Gisela Piltz
Volker Kauder Klaus Riegert Dr. Christiane Ratjen-
Jens Ackermann Damerau
Dr. Stefan Kaufmann Dr. Heinz Riesenhuber Christian Ahrendt
Eckart von Klaeden Johannes Röring Dr. Birgit Reinemund
Christine Aschenberg- Dr. Peter Röhlinger
Ewa Klamt Dr. Norbert Röttgen Dugnus
Volkmar Klein Dr. Christian Ruck Dr. Stefan Ruppert
Daniel Bahr (Münster) Björn Sänger
Jürgen Klimke Erwin Rüddel Florian Bernschneider
Axel Knoerig Albert Rupprecht (Weiden) Jimmy Schulz
Sebastian Blumenthal Marina Schuster
Jens Koeppen Anita Schäfer (Saalstadt) Claudia Bögel
Manfred Kolbe Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Erik Schweickert
Nicole Bracht-Bendt Werner Simmling
Hartmut Koschyk Dr. Annette Schavan Klaus Breil
Thomas Kossendey Dr. Andreas Scheuer Judith Skudelny
Rainer Brüderle Dr. Hermann Otto Solms
Gunther Krichbaum Karl Schiewerling Angelika Brunkhorst
Dr. Günter Krings Norbert Schindler Joachim Spatz
Marco Buschmann Dr. Max Stadler
Rüdiger Kruse Tankred Schipanski Sylvia Canel
Bettina Kudla Georg Schirmbeck Torsten Staffeldt
Helga Daub Dr. Rainer Stinner
Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Reiner Deutschmann
Günter Lach Stephan Thomae
Patrick Schnieder Dr. Bijan Djir-Sarai
Dr. Karl A. Lamers Florian Toncar
(B) Dr. Andreas Schockenhoff Patrick Döring (D)
(Heidelberg) Serkan Tören
Nadine Schön (St. Wendel) Mechthild Dyckmans Johannes Vogel
Andreas G. Lämmel Dr. Kristina Schröder Rainer Erdel (Lüdenscheid)
Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder Jörg van Essen Dr. Daniel Volk
Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte Ulrike Flach Dr. Guido Westerwelle
Ulrich Lange Uwe Schummer Otto Fricke Dr. Claudia Winterstein
Dr. Max Lehmer Armin Schuster (Weil am Paul K. Friedhoff Dr. Volker Wissing
Paul Lehrieder Rhein) Dr. Edmund Peter Geisen Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Dr. Ursula von der Leyen Detlef Seif Hans-Michael Goldmann
Ingbert Liebing Johannes Selle Heinz Golombeck
Matthias Lietz Reinhold Sendker Miriam Gruß Enthalten
Dr. Carsten Linnemann Dr. Patrick Sensburg Joachim Günther (Plauen)
Patricia Lips Bernd Siebert Dr. Christel Happach-Kasan DIE LINKE
Dr. Jan-Marco Luczak Thomas Silberhorn Heinz-Peter Haustein Agnes Alpers
Daniela Ludwig Johannes Singhammer Manuel Höferlin Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Michael Luther Jens Spahn Birgit Homburger Herbert Behrens
Karin Maag Carola Stauche Dr. Werner Hoyer Karin Binder
Hans-Georg von der Marwitz Erika Steinbach Heiner Kamp Matthias W. Birkwald
Andreas Mattfeldt Christian Freiherr von Stetten Michael Kauch Heidrun Bluhm
Stephan Mayer (Altötting) Dieter Stier Dr. Lutz Knopek Steffen Bockhahn
Dr. Michael Meister Gero Storjohann Pascal Kober Christine Buchholz
Maria Michalk Stephan Stracke Dr. Heinrich L. Kolb Eva Bulling-Schröter
Dr. h. c. Hans Michelbach Max Straubinger Gudrun Kopp Dr. Martina Bunge
Dr. Mathias Middelberg Karin Strenz Dr. h. c. Jürgen Koppelin Roland Claus
Philipp Mißfelder Thomas Strobl (Heilbronn) Sebastian Körber Dr. Diether Dehm
Dietrich Monstadt Lena Strothmann Holger Krestel Werner Dreibus
Marlene Mortler Michael Stübgen Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Gerd Müller Dr. Peter Tauber Heinz Lanfermann Klaus Ernst
Stefan Müller (Erlangen) Antje Tillmann Sibylle Laurischk Nicole Gohlke
Dr. Philipp Murmann Dr. Hans-Peter Uhl Harald Leibrecht Diana Golze
Bernd Neumann (Bremen) Arnold Vaatz Sabine Leutheusser- Dr. Gregor Gysi
Michaela Noll Volkmar Vogel (Kleinsaara) Schnarrenberger Heike Hänsel
Dr. Georg Nüßlein Stefanie Vogelsang Lars Lindemann Dr. Rosemarie Hein
Franz Obermeier Andrea Astrid Voßhoff Christian Lindner Dr. Barbara Höll
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17113
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Andrej Hunko Kathrin Senger-Schäfer Dr. Thomas Gambke Agnes Malczak (C)
Ulla Jelpke Raju Sharma Katrin Göring-Eckardt Jerzy Montag
Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Petra Sitte Britta Haßelmann Kerstin Müller (Köln)
Harald Koch Kersten Steinke Bettina Herlitzius Beate Müller-Gemmeke
Jan Korte Sabine Stüber Priska Hinz (Herborn) Ingrid Nestle
Jutta Krellmann Dr. Kirsten Tackmann Dr. Anton Hofreiter Omid Nouripour
Caren Lay Dr. Axel Troost Bärbel Höhn Friedrich Ostendorff
Sabine Leidig Alexander Ulrich Ingrid Hönlinger Dr. Hermann E. Ott
Ralph Lenkert Kathrin Vogler Thilo Hoppe Lisa Paus
Michael Leutert Sahra Wagenknecht Uwe Kekeritz Brigitte Pothmer
Stefan Liebich Halina Wawzyniak Katja Keul Manuel Sarrazin
Ulla Lötzer Jörn Wunderlich Memet Kilic Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gesine Lötzsch Sabine Zimmermann Sven-Christian Kindler Christine Scheel
Thomas Lutze Maria Klein-Schmeink Dr. Gerhard Schick
Ulrich Maurer BÜNDNIS 90/ Ute Koczy Dr. Frithjof Schmidt
Cornelia Möhring DIE GRÜNEN Tom Koenigs Dorothea Steiner
Kornelia Möller Kerstin Andreae Sylvia Kotting-Uhl Dr. Wolfgang Strengmann-
Niema Movassat Marieluise Beck (Bremen) Oliver Krischer Kuhn
Wolfgang Nešković Volker Beck (Köln) Agnes Krumwiede Hans-Christian Ströbele
Thomas Nord Cornelia Behm Fritz Kuhn Dr. Harald Terpe
Petra Pau Birgitt Bender Stephan Kühn Markus Tressel
Jens Petermann Viola von Cramon-Taubadel Renate Künast Jürgen Trittin
Richard Pitterle Ekin Deligöz Markus Kurth Daniela Wagner
Yvonne Ploetz Katja Dörner Monika Lazar Wolfgang Wieland
Ingrid Remmers Harald Ebner Dr. Tobias Lindner Dr. Valerie Wilms
Paul Schäfer (Köln) Hans-Josef Fell Nicole Maisch Josef Philip Winkler

Änderungsantrag der Fraktion Die Linke, Drucksache


17/7819: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben ge-
stimmt 257, mit Nein haben gestimmt 313, Enthaltung 1.
Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
(B) (D)

Endgültiges Ergebnis Petra Crone Rolf Hempelmann Petra Merkel (Berlin)


Abgegebene Stimmen: 570; Dr. Peter Danckert Dr. Barbara Hendricks Ullrich Meßmer
davon Elvira Drobinski-Weiß Gustav Herzog Dr. Matthias Miersch
Garrelt Duin Gabriele Hiller-Ohm Franz Müntefering
ja: 256
Sebastian Edathy Petra Hinz (Essen) Dr. Rolf Mützenich
nein: 313 Ingo Egloff Frank Hofmann (Volkach) Andrea Nahles
enthalten: 1 Siegmund Ehrmann Dr. Eva Högl Dietmar Nietan
Petra Ernstberger Christel Humme Manfred Nink
Ja Karin Evers-Meyer Josip Juratovic Thomas Oppermann
Elke Ferner Oliver Kaczmarek Holger Ortel
SPD Gabriele Fograscher Johannes Kahrs Aydan Özoğuz
Dr. Edgar Franke Dr. h. c. Susanne Kastner Heinz Paula
Ingrid Arndt-Brauer Dagmar Freitag Ulrich Kelber Johannes Pflug
Rainer Arnold Sigmar Gabriel Lars Klingbeil Dr. Wilhelm Priesmeier
Heinz-Joachim Barchmann Michael Gerdes Dr. Bärbel Kofler Florian Pronold
Doris Barnett Martin Gerster Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Sascha Raabe
Dr. Hans-Peter Bartels Iris Gleicke Fritz Rudolf Körper Mechthild Rawert
Klaus Barthel Günter Gloser Anette Kramme Stefan Rebmann
Sören Bartol Ulrike Gottschalck Angelika Krüger-Leißner Gerold Reichenbach
Bärbel Bas Angelika Graf (Rosenheim) Ute Kumpf Dr. Carola Reimann
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Kerstin Griese Christine Lambrecht Sönke Rix
Dirk Becker Michael Groschek Christian Lange (Backnang) René Röspel
Uwe Beckmeyer Michael Groß Dr. Karl Lauterbach Dr. Ernst Dieter Rossmann
Lothar Binding (Heidelberg) Wolfgang Gunkel Steffen-Claudio Lemme Karin Roth (Esslingen)
Gerd Bollmann Hans-Joachim Hacker Burkhard Lischka Michael Roth (Heringen)
Klaus Brandner Bettina Hagedorn Gabriele Lösekrug-Möller Anton Schaaf
Willi Brase Klaus Hagemann Kirsten Lühmann Axel Schäfer (Bochum)
Edelgard Bulmahn Michael Hartmann Caren Marks Bernd Scheelen
Marco Bülow (Wackernheim) Katja Mast Marianne Schieder
Ulla Burchardt Hubertus Heil (Peine) Hilde Mattheis (Schwandorf)
17114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Werner Schieder (Weiden) Cornelia Möhring Friedrich Ostendorff Michael Frieser (C)
Ulla Schmidt (Aachen) Kornelia Möller Dr. Hermann Ott Erich G. Fritz
Silvia Schmidt (Eisleben) Niema Movassat Lisa Paus Dr. Michael Fuchs
Carsten Schneider (Erfurt) Wolfgang Nešković Brigitte Pothmer Hans-Joachim Fuchtel
Ottmar Schreiner Thomas Nord Manuel Sarrazin Alexander Funk
Swen Schulz (Spandau) Petra Pau Elisabeth Scharfenberg Ingo Gädechens
Ewald Schurer Jens Petermann Christine Scheel Dr. Thomas Gebhart
Frank Schwabe Richard Pitterle Dr. Gerhard Schick Norbert Geis
Dr. Martin Schwanholz Yvonne Ploetz Dr. Frithjof Schmidt Alois Gerig
Rolf Schwanitz Ingrid Remmers Dorothea Steiner Eberhard Gienger
Stefan Schwartze Paul Schäfer (Köln) Dr. Wolfgang Strengmann- Michael Glos
Rita Schwarzelühr-Sutter Kathrin Senger-Schäfer Kuhn Josef Göppel
Dr. Carsten Sieling Raju Sharma Hans-Christian Ströbele Peter Götz
Sonja Steffen Dr. Petra Sitte Dr. Harald Terpe Dr. Wolfgang Götzer
Peer Steinbrück Kersten Steinke Markus Tressel Reinhard Grindel
Dr. Frank-Walter Steinmeier Sabine Stüber Jürgen Trittin Hermann Gröhe
Christoph Strässer Dr. Kirsten Tackmann Daniela Wagner Michael Grosse-Brömer
Kerstin Tack Dr. Axel Troost Wolfgang Wieland Markus Grübel
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Alexander Ulrich Dr. Valerie Wilms Manfred Grund
Franz Thönnes Kathrin Vogler Josef Philip Winkler Monika Grütters
Wolfgang Tiefensee Sahra Wagenknecht Olav Gutting
Ute Vogt Halina Wawzyniak Nein Florian Hahn
Dr. Marlies Volkmer Jörn Wunderlich Dr. Stephan Harbarth
Andrea Wicklein Sabine Zimmermann CDU/CSU Jürgen Hardt
Heidemarie Wieczorek-Zeul Gerda Hasselfeldt
Dr. Dieter Wiefelspütz BÜNDNIS 90/ Ilse Aigner Dr. Matthias Heider
Uta Zapf DIE GRÜNEN Peter Altmaier
Helmut Heiderich
Dagmar Ziegler Peter Aumer
Kerstin Andreae Mechthild Heil
Manfred Zöllmer Thomas Bareiß
Marieluise Beck (Bremen) Ursula Heinen-Esser
Brigitte Zypries Norbert Barthle
Volker Beck (Köln) Frank Heinrich
Günter Baumann
Cornelia Behm Rudolf Henke
DIE LINKE Ernst-Reinhard Beck
Birgitt Bender Michael Hennrich
(Reutlingen)
Agnes Alpers Viola von Cramon-Taubadel Jürgen Herrmann
Manfred Behrens (Börde)
Dr. Dietmar Bartsch Ekin Deligöz Veronika Bellmann Ansgar Heveling
(B) Herbert Behrens Katja Dörner Dr. Christoph Bergner Ernst Hinsken (D)
Karin Binder Harald Ebner Peter Beyer Peter Hintze
Matthias W. Birkwald Hans-Josef Fell Steffen Bilger Christian Hirte
Heidrun Bluhm Katrin Göring-Eckardt Clemens Binninger Robert Hochbaum
Steffen Bockhahn Britta Haßelmann Peter Bleser Karl Holmeier
Christine Buchholz Bettina Herlitzius Wolfgang Börnsen Franz-Josef Holzenkamp
Eva Bulling-Schröter Priska Hinz (Herborn) (Bönstrup) Joachim Hörster
Dr. Martina Bunge Dr. Anton Hofreiter Wolfgang Bosbach Anette Hübinger
Roland Claus Bärbel Höhn Norbert Brackmann Thomas Jarzombek
Dr. Diether Dehm Ingrid Hönlinger Klaus Brähmig Dieter Jasper
Werner Dreibus Thilo Hoppe Michael Brand Dr. Franz Josef Jung
Dr. Dagmar Enkelmann Uwe Kekeritz Dr. Reinhard Brandl Andreas Jung (Konstanz)
Klaus Ernst Katja Keul Helmut Brandt Dr. Egon Jüttner
Nicole Gohlke Memet Kilic Dr. Ralf Brauksiepe Bartholomäus Kalb
Diana Golze Sven-Christian Kindler Dr. Helge Braun Hans-Werner Kammer
Dr. Gregor Gysi Maria Klein-Schmeink Heike Brehmer Steffen Kampeter
Heike Hänsel Ute Koczy Ralph Brinkhaus Alois Karl
Dr. Rosemarie Hein Tom Koenigs Cajus Caesar Bernhard Kaster
Dr. Barbara Höll Syliva Kotting-Uhl Gitta Connemann Siegfried Kauder (Villingen-
Andrej Hunko Oliver Krischer Alexander Dobrindt Schwenningen)
Ulla Jelpke Agnes Krumwiede Thomas Dörflinger Volker Kauder
Dr. Lukrezia Jochimsen Fritz Kuhn Marie-Luise Dött Dr. Stefan Kaufmann
Harald Koch Stephan Kühn Dr. Thomas Feist Eckart von Klaeden
Jan Korte Renate Künast Enak Ferlemann Ewa Klamt
Jutta Krellmann Markus Kurth Ingrid Fischbach Volkmar Klein
Caren Lay Monika Lazar Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke
Sabine Leidig Dr. Tobias Lindner Dirk Fischer (Hamburg) Axel Knoerig
Ralph Lenkert Nicole Maisch Axel E. Fischer (Karlsruhe- Jens Koeppen
Michael Leutert Agnes Malczak Land) Manfred Kolbe
Stefan Liebich Jerzy Montag Dr. Maria Flachsbarth Hartmut Koschyk
Ulla Lötzer Kerstin Müller (Köln) Klaus-Peter Flosbach Thomas Kossendey
Dr. Gesine Lötzsch Beate Müller-Gemmeke Herbert Frankenhauser Gunther Krichbaum
Thomas Lutze Ingrid Nestle Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Günter Krings
Ulrich Maurer Omid Nouripour (Hof) Rüdiger Kruse
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17115
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Bettina Kudla Dr. Norbert Röttgen Elisabeth Winkelmeier- Heinz Lanfermann (C)
Dr. Hermann Kues Dr. Christian Ruck Becker Sibylle Laurischk
Günter Lach Erwin Rüddel Dagmar G. Wöhrl Harald Leibrecht
Dr. Karl A. Lamers Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Matthias Zimmer Sabine Leutheusser-
(Heidelberg) Anita Schäfer (Saalstadt) Wolfgang Zöller Schnarrenberger
Andreas G. Lämmel Dr. Wolfgang Schäuble Willi Zylajew Lars Lindemann
Dr. Norbert Lammert Dr. Annette Schavan Christian Lindner
Katharina Landgraf Dr. Andreas Scheuer SPD Dr. Martin Lindner (Berlin)
Ulrich Lange Karl Schiewerling Michael Link (Heilbronn)
Bernhard Brinkmann
Dr. Max Lehmer Norbert Schindler Dr. Erwin Lotter
(Hildesheim)
Paul Lehrieder Tankred Schipanski Oliver Luksic
Dr. Ursula von der Leyen Georg Schirmbeck Horst Meierhofer
FDP
Ingbert Liebing Christian Schmidt (Fürth) Patrick Meinhardt
Matthias Lietz Patrick Schnieder Jens Ackermann Gabriele Molitor
Dr. Carsten Linnemann Dr. Andreas Schockenhoff Christian Ahrendt Jan Mücke
Patricia Lips Nadine Schön (St. Wendel) Christine Aschenberg- Petra Müller (Aachen)
Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Kristina Schröder Dugnus Burkhardt Müller-Sönksen
Daniela Ludwig Dr. Ole Schröder Daniel Bahr (Münster) Dr. Martin Neumann
Dr. Michael Luther Bernhard Schulte-Drüggelte Florian Bernschneider (Lausitz)
Karin Maag Uwe Schummer Sebastian Blumenthal Dirk Niebel
Hans-Georg von der Marwitz Armin Schuster (Weil am Claudia Bögel
Hans-Joachim Otto
Andreas Mattfeldt Rhein) Nicole Bracht-Bendt
(Frankfurt)
Stephan Mayer (Altötting) Detlef Seif Klaus Breil
Cornelia Pieper
Dr. Michael Meister Johannes Selle Rainer Brüderle
Gisela Piltz
Maria Michalk Reinhold Sendker Angelika Brunkhorst
Dr. Christiane Ratjen-
Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Patrick Sensburg Marco Buschmann
Damerau
Dr. Mathias Middelberg Bernd Siebert Sylvia Canel
Helga Daub Dr. Birgit Reinemund
Philipp Mißfelder Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer Reiner Deutschmann Dr. Peter Röhlinger
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler Jens Spahn Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Stefan Ruppert
Dr. Gerd Müller Carola Stauche Patrick Döring Björn Sänger
Stefan Müller (Erlangen) Erika Steinbach Mechthild Dyckmans Jimmy Schulz
Dr. Philipp Murmann Christian Freiherr von Stetten Rainer Erdel Marina Schuster
Bernd Neumann (Bremen) Dieter Stier Jörg van Essen Dr. Erik Schweickert
Michaela Noll Gero Storjohann Ulrike Flach Werner Simmling
(B) Dr. Georg Nüßlein Stephan Stracke Otto Fricke Judith Skudelny (D)
Franz Obermeier Max Straubinger Paul K. Friedhoff Dr. Hermann Otto Solms
Eduard Oswald Karin Strenz Dr. Edmund Peter Geisen Joachim Spatz
Henning Otte Thomas Strobl (Heilbronn) Hans-Michael Goldmann Dr. Max Stadler
Dr. Michael Paul Lena Strothmann Heinz Golombeck Torsten Staffeldt
Rita Pawelski Michael Stübgen Miriam Gruß Dr. Rainer Stinner
Ulrich Petzold Dr. Peter Tauber Joachim Günther (Plauen) Stephan Thomae
Dr. Joachim Pfeiffer Antje Tillmann Dr. Christel Happach-Kasan Florian Toncar
Sibylle Pfeiffer Dr. Hans-Peter Uhl Heinz-Peter Haustein Serkan Tören
Beatrix Philipp Arnold Vaatz Manuel Höferlin Johannes Vogel
Ronald Pofalla Volkmar Vogel (Kleinsaara) Birgit Homburger (Lüdenscheid)
Christoph Poland Stefanie Vogelsang Dr. Werner Hoyer Dr. Daniel Volk
Ruprecht Polenz Andrea Astrid Voßhoff Heiner Kamp Dr. Guido Westerwelle
Eckhard Pols Marco Wanderwitz Michael Kauch Dr. Claudia Winterstein
Thomas Rachel Kai Wegner Dr. Lutz Knopek Dr. Volker Wissing
Dr. Peter Ramsauer Marcus Weinberg (Hamburg) Pascal Kober Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Eckhardt Rehberg Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Heinrich L. Kolb
Lothar Riebsamen Sabine Weiss (Wesel I) Gudrun Kopp
Josef Rief Ingo Wellenreuther Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Enthalten
Klaus Riegert Karl-Georg Wellmann Sebastian Körber
SPD
Dr. Heinz Riesenhuber Peter Wichtel Holger Krestel
Johannes Röring Klaus-Peter Willsch Patrick Kurth (Kyffhäuser) Hans-Ulrich Klose
17116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Änderungsantrag vom Bündnis 90/Die Grünen, (C)
Drucksache 17/7821: Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja
haben gestimmt 258, mit Nein haben gestimmt 314, Ent-
haltungen keine. Auch dieser Änderungsantrag ist abge-
lehnt.

Endgültiges Ergebnis Hubertus Heil (Peine) Marianne Schieder Jan Korte


Abgegebene Stimmen: 571; Rolf Hempelmann (Schwandorf) Jutta Krellmann
davon Dr. Barbara Hendricks Werner Schieder (Weiden) Caren Lay
Gustav Herzog Ulla Schmidt (Aachen) Sabine Leidig
ja: 258
Gabriele Hiller-Ohm Silvia Schmidt (Eisleben) Ralph Lenkert
nein: 313 Petra Hinz (Essen) Carsten Schneider (Erfurt) Michael Leutert
Frank Hofmann (Volkach) Ottmar Schreiner Stefan Liebich
Ja Dr. Eva Högl Swen Schulz (Spandau) Ulla Lötzer
Christel Humme Ewald Schurer Dr. Gesine Lötzsch
SPD Josip Juratovic Frank Schwabe Thomas Lutze
Oliver Kaczmarek Dr. Martin Schwanholz Ulrich Maurer
Ingrid Arndt-Brauer Rolf Schwanitz Cornelia Möhring
Johannes Kahrs
Rainer Arnold Stefan Schwartze Kornelia Möller
Dr. h. c. Susanne Kastner
Heinz-Joachim Barchmann Rita Schwarzelühr-Sutter Niema Movassat
Ulrich Kelber
Doris Barnett Dr. Carsten Sieling Wolfgang Nešković
Lars Klingbeil
Dr. Hans-Peter Bartels Sonja Steffen Thomas Nord
Klaus Barthel Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig) Peer Steinbrück Petra Pau
Sören Bartol Dr. Frank-Walter Steinmeier Jens Petermann
Bärbel Bas Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme Christoph Strässer Richard Pitterle
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Kerstin Tack Yvonne Ploetz
Dirk Becker Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ingrid Remmers
Uwe Beckmeyer Franz Thönnes Paul Schäfer (Köln)
Lothar Binding (Heidelberg) Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang) Wolfgang Tiefensee Kathrin Senger-Schäfer
Gerd Bollmann Ute Vogt Raju Sharma
Klaus Brandner Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme Dr. Marlies Volkmer Dr. Petra Sitte
Willi Brase Andrea Wicklein Kersten Steinke
(B) Bernhard Brinkmann Burkhard Lischka (D)
Gabriele Lösekrug-Möller Heidemarie Wieczorek-Zeul Sabine Stüber
(Hildesheim)
Kirsten Lühmann Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Kirsten Tackmann
Edelgard Bulmahn
Caren Marks Uta Zapf Dr. Axel Troost
Marco Bülow
Katja Mast Dagmar Ziegler Alexander Ulrich
Ulla Burchardt
Hilde Mattheis Manfred Zöllmer Kathrin Vogler
Petra Crone
Petra Merkel (Berlin) Brigitte Zypries Sahra Wagenknecht
Dr. Peter Danckert
Ullrich Meßmer Halina Wawzyniak
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Matthias Miersch DIE LINKE Jörn Wunderlich
Garrelt Duin
Franz Müntefering Sabine Zimmermann
Sebastian Edathy Agnes Alpers
Ingo Egloff Dr. Rolf Mützenich Dr. Dietmar Bartsch
Andrea Nahles BÜNDNIS 90/
Siegmund Ehrmann Herbert Behrens
Dietmar Nietan DIE GRÜNEN
Petra Ernstberger Karin Binder
Karin Evers-Meyer Manfred Nink Matthias W. Birkwald Kerstin Andreae
Elke Ferner Thomas Oppermann Heidrun Bluhm Marieluise Beck (Bremen)
Gabriele Fograscher Holger Ortel Steffen Bockhahn Volker Beck (Köln)
Dr. Edgar Franke Aydan Özoğuz Christine Buchholz Cornelia Behm
Dagmar Freitag Heinz Paula Eva Bulling-Schröter Birgitt Bender
Sigmar Gabriel Johannes Pflug Dr. Martina Bunge Viola von Cramon-Taubadel
Michael Gerdes Dr. Wilhelm Priesmeier Roland Claus Ekin Deligöz
Martin Gerster Florian Pronold Dr. Diether Dehm Katja Dörner
Iris Gleicke Dr. Sascha Raabe Werner Dreibus Harald Ebner
Günter Gloser Mechthild Rawert Dr. Dagmar Enkelmann Hans-Josef Fell
Ulrike Gottschalck Stefan Rebmann Klaus Ernst Dr. Thomas Gambke
Angelika Graf (Rosenheim) Gerold Reichenbach Nicole Gohlke Katrin Göring-Eckardt
Kerstin Griese Dr. Carola Reimann Diana Golze Britta Haßelmann
Michael Groschek Sönke Rix Dr. Gregor Gysi Bettina Herlitzius
Michael Groß René Röspel Heike Hänsel Priska Hinz (Herborn)
Wolfgang Gunkel Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Rosemarie Hein Dr. Anton Hofreiter
Hans-Joachim Hacker Karin Roth (Esslingen) Dr. Barbara Höll Bärbel Höhn
Bettina Hagedorn Michael Roth (Heringen) Andrej Hunko Ingrid Hönlinger
Klaus Hagemann Anton Schaaf Ulla Jelpke Thilo Hoppe
Michael Hartmann Axel Schäfer (Bochum) Dr. Lukrezia Jochimsen Uwe Kekeritz
(Wackernheim) Bernd Scheelen Harald Koch Katja Keul
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17117
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Memet Kilic Helmut Brandt Dr. Egon Jüttner Christoph Poland (C)
Sven-Christian Kindler Dr. Ralf Brauksiepe Bartholomäus Kalb Ruprecht Polenz
Maria Klein-Schmeink Dr. Helge Braun Hans-Werner Kammer Eckhard Pols
Ute Koczy Heike Brehmer Steffen Kampeter Thomas Rachel
Tom Koenigs Ralph Brinkhaus Alois Karl Dr. Peter Ramsauer
Sylvia Kotting-Uhl Cajus Caesar Bernhard Kaster Eckhardt Rehberg
Oliver Krischer Gitta Connemann Siegfried Kauder (Villingen- Lothar Riebsamen
Agnes Krumwiede Alexander Dobrindt Schwenningen) Josef Rief
Fritz Kuhn Thomas Dörflinger Volker Kauder Klaus Riegert
Stephan Kühn Marie-Luise Dött Dr. Stefan Kaufmann Dr. Heinz Riesenhuber
Renate Künast Dr. Thomas Feist Eckart von Klaeden Johannes Röring
Markus Kurth Enak Ferlemann Ewa Klamt Dr. Norbert Röttgen
Monika Lazar Ingrid Fischbach Volkmar Klein Dr. Christian Ruck
Dr. Tobias Lindner Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Erwin Rüddel
Nicole Maisch Dirk Fischer (Hamburg) Axel Knoerig Albert Rupprecht (Weiden)
Agnes Malczak Axel E. Fischer (Karlsruhe- Jens Koeppen Anita Schäfer (Saalstadt)
Jerzy Montag Land) Manfred Kolbe Dr. Wolfgang Schäuble
Kerstin Müller (Köln) Dr. Maria Flachsbarth Hartmut Koschyk Dr. Annette Schavan
Beate Müller-Gemmeke Klaus-Peter Flosbach Thomas Kossendey Dr. Andreas Scheuer
Ingrid Nestle Herbert Frankenhauser Gunther Krichbaum Karl Schiewerling
Omid Nouripour Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Günter Krings Norbert Schindler
Friedrich Ostendorff (Hof) Rüdiger Kruse Tankred Schipanski
Dr. Hermann E. Ott Michael Frieser Bettina Kudla Georg Schirmbeck
Lisa Paus Erich G. Fritz Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth)
Brigitte Pothmer Dr. Michael Fuchs Günter Lach Patrick Schnieder
Manuel Sarrazin Hans-Joachim Fuchtel Dr. Karl A. Lamers Dr. Andreas Schockenhoff
Elisabeth Scharfenberg Alexander Funk (Heidelberg) Nadine Schön (St. Wendel)
Christine Scheel Ingo Gädechens Andreas G. Lämmel Dr. Kristina Schröder
Dr. Gerhard Schick Dr. Thomas Gebhart Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder
Dr. Frithjof Schmidt Norbert Geis Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte
Dorothea Steiner Alois Gerig Ulrich Lange Uwe Schummer
Dr. Wolfgang Strengmann- Eberhard Gienger Dr. Max Lehmer Armin Schuster (Weil am
Kuhn Michael Glos Paul Lehrieder Rhein)
Hans-Christian Ströbele Josef Göppel Dr. Ursula von der Leyen Detlef Seif
(B) Dr. Harald Terpe Peter Götz Ingbert Liebing Johannes Selle (D)
Markus Tressel Dr. Wolfgang Götzer Matthias Lietz Reinhold Sendker
Jürgen Trittin Reinhard Grindel Dr. Carsten Linnemann Dr. Patrick Sensburg
Daniela Wagner Hermann Gröhe Patricia Lips Bernd Siebert
Wolfgang Wieland Michael Grosse-Brömer Dr. Jan-Marco Luczak Thomas Silberhorn
Dr. Valerie Wilms Markus Grübel Daniela Ludwig Johannes Singhammer
Josef Philip Winkler Manfred Grund Dr. Michael Luther Jens Spahn
Monika Grütters Karin Maag Carola Stauche
Olav Gutting Hans-Georg von der Marwitz Erika Steinbach
Nein Florian Hahn Andreas Mattfeldt Christian Freiherr von Stetten
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Dieter Stier
CDU/CSU
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Gero Storjohann
Ilse Aigner Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Stephan Stracke
Peter Altmaier Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Max Straubinger
Peter Aumer Helmut Heiderich Dr. Mathias Middelberg Karin Strenz
Thomas Bareiß Mechthild Heil Philipp Mißfelder Thomas Strobl (Heilbronn)
Norbert Barthle Ursula Heinen-Esser Dietrich Monstadt Lena Strothmann
Günter Baumann Frank Heinrich Marlene Mortler Michael Stübgen
Ernst-Reinhard Beck Rudolf Henke Dr. Gerd Müller Dr. Peter Tauber
(Reutlingen) Michael Hennrich Stefan Müller (Erlangen) Antje Tillmann
Manfred Behrens (Börde) Jürgen Herrmann Dr. Philipp Murmann Dr. Hans-Peter Uhl
Veronika Bellmann Ansgar Heveling Bernd Neumann (Bremen) Arnold Vaatz
Dr. Christoph Bergner Ernst Hinsken Michaela Noll Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Peter Beyer Peter Hintze Dr. Georg Nüßlein Stefanie Vogelsang
Steffen Bilger Christian Hirte Franz Obermeier Andrea Astrid Voßhoff
Clemens Binninger Robert Hochbaum Eduard Oswald Marco Wanderwitz
Peter Bleser Karl Holmeier Henning Otte Kai Wegner
Wolfgang Börnsen Franz-Josef Holzenkamp Dr. Michael Paul Marcus Weinberg (Hamburg)
(Bönstrup) Joachim Hörster Rita Pawelski Peter Weiß (Emmendingen)
Wolfgang Bosbach Anette Hübinger Ulrich Petzold Sabine Weiss (Wesel I)
Norbert Brackmann Thomas Jarzombek Dr. Joachim Pfeiffer Ingo Wellenreuther
Klaus Brähmig Dieter Jasper Sibylle Pfeiffer Karl-Georg Wellmann
Michael Brand Dr. Franz Josef Jung Beatrix Philipp Peter Wichtel
Dr. Reinhard Brandl Andreas Jung (Konstanz) Ronald Pofalla Klaus-Peter Willsch
17118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Elisabeth Winkelmeier- Reiner Deutschmann Holger Krestel Dr. Christiane Ratjen- (C)
Becker Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Kurth (Kyffhäuser) Damerau
Dagmar G. Wöhrl Patrick Döring Heinz Lanfermann Dr. Birgit Reinemund
Dr. Matthias Zimmer Mechthild Dyckmans Sibylle Laurischk Dr. Peter Röhlinger
Wolfgang Zöller Rainer Erdel Harald Leibrecht Dr. Stefan Ruppert
Willi Zylajew Jörg van Essen Sabine Leutheusser- Björn Sänger
Ulrike Flach Schnarrenberger Jimmy Schulz
SPD Otto Fricke Lars Lindemann Marina Schuster
Paul K. Friedhoff Christian Lindner Dr. Erik Schweickert
Hans-Ulrich Klose
Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Martin Lindner (Berlin) Werner Simmling
Hans-Michael Goldmann Michael Link (Heilbronn) Judith Skudelny
FDP
Heinz Golombeck Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Erwin Lotter
Jens Ackermann Miriam Gruß
Oliver Luksic Joachim Spatz
Christian Ahrendt Joachim Günther (Plauen)
Horst Meierhofer Dr. Max Stadler
Christine Aschenberg- Dr. Christel Happach-Kasan
Dugnus Heinz-Peter Haustein Patrick Meinhardt Torsten Staffeldt
Daniel Bahr (Münster) Manuel Höferlin Gabriele Molitor Dr. Rainer Stinner
Florian Bernschneider Birgit Homburger Jan Mücke Stephan Thomae
Sebastian Blumenthal Dr. Werner Hoyer Petra Müller (Aachen) Florian Toncar
Claudia Bögel Heiner Kamp Burkhardt Müller-Sönksen Serkan Tören
Nicole Bracht-Bendt Michael Kauch Dr. Martin Neumann Johannes Vogel
Klaus Breil Dr. Lutz Knopek (Lausitz) (Lüdenscheid)
Rainer Brüderle Pascal Kober Dirk Niebel Dr. Daniel Volk
Angelika Brunkhorst Dr. Heinrich L. Kolb Hans-Joachim Otto Dr. Guido Westerwelle
Marco Buschmann Gudrun Kopp (Frankfurt) Dr. Claudia Winterstein
Sylvia Canel Dr. h. c. Jürgen Koppelin Cornelia Pieper Dr. Volker Wissing
Helga Daub Sebastian Körber Gisela Piltz Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
plan 17 in der Ausschussfassung einschließlich der am des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dienstag beschlossenen Änderungen. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Einzel- Klaus Hagemann (SPD):
(B) (D)
plan 17 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
men. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausgaben für
Bildung und Forschung steigen auf den ersten Blick um
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt II.17 auf: circa 10 Prozent. Das ist zunächst einmal, Frau Ministe-
rin und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
Einzelplan 30 gut so.
Bundesministerium für Bildung und For-
schung (Beifall des Abg. Albert Rupprecht [Weiden]
[CDU/CSU])
– Drucksachen 17/7123, 17/7124 –
Sie werden sich sicher wieder selbst loben und das als
Berichterstattung: ordentlich darstellen.
Abgeordnete Eckhardt Rehberg
Klaus Hagemann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Heinz-Peter Haustein neten der FDP – Patrick Döring [FDP]: Wenn
Michael Leutert Sie uns das abnehmen!)
Priska Hinz (Herborn) Aber lassen Sie uns dahinterblicken. Andere und auch
ich schauen da schon kritischer hin
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
der SPD vor. Außerdem liegt ein Entschließungsantrag (Patrick Döring [FDP]: Aber Sie loben uns
der Fraktion Die Linke vor, über den wir am Freitag doch!)
nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
und überprüfen, ob das, was gesagt worden ist, auch tat-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sächlich geschieht. Wir beobachten die in den Medien
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es geäußerten Kritiken sehr genau, und zwar in Medien al-
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so ler Couleur.
beschlossen.
Es gibt Kritiken, beispielsweise im Bereich Studium.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Es wird gefragt, was aus der 2008 groß angekündigten
ner dem Kollegen Klaus Hagemann von der SPD-Frak- Bildungsrepublik geworden ist. Auch ich möchte diese
tion das Wort. Frage stellen. Der renommierte Bildungsforscher Klaus
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17119
Klaus Hagemann
(A) Klemm hat gemeinsam mit dem Gewerkschaftsbund Ich möchte auf ein weiteres Minus eingehen – schon (C)
eine Untersuchung vorgelegt. bei der ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen –: Je-
des Jahr werden Mittel, die vom Parlament bewilligt
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein DGB-
worden sind, nicht verausgabt. Zwischenzeitlich sind das
Gutachten!)
fast 900 Millionen Euro. Im Gesamthaushalt des Bundes
Die Fragestellung war, ob es durch die zusätzlichen Mil- wurden im Bildungsbereich fast 3 Milliarden Euro nicht
liarden für das Bildungswesen, für den Ausbau der Krip- verausgabt bzw. gestrichen. Deswegen ist das Ganze
penplätze oder das Senken der Zahl der jungen Men- eine Mogelpackung.
schen ohne abgeschlossene Ausbildung Fortschritte
(Beifall bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/
gegeben hat. Das Ergebnis: Die Fortschritte sind kaum
CSU]: Blanker Neid!)
messbar.
Wir haben dieser Tage eine Statistik erhalten, die be-
Die DGB-Vizevorsitzende
sagt, dass 515 000 junge Männer und Frauen begonnen
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha, der haben, zu studieren. Das entspricht einem Plus von
DGB! Jetzt sagen Sie, woher es kommt!) 16 Prozent. Das ist auch gut so.
– Frau Sehrbrock ist Mitglied Ihrer Partei, der CDU – (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das ist die
sagt: Die Bildungsrepublik ist in weiter Ferne. Die Bil- erfolgreiche Bildungspolitik unter Frau Minis-
dungsrepublik ist eine Fata Morgana. terin Schavan! Das sind die Erfolge!)
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da hat sie Nur, für die Studienanfänger, lieber Kollege Rehberg,
leider recht!) herrscht bei der Studienplatzvergabe das gleiche Chaos,
Dem ist nichts hinzuzufügen. Herr Klemm hat recht, das schon in den letzten drei Jahren herrschte; denn das
Frau Sehrbrock hat recht, und auch der Deutsche Ge- dialogorientierte Serviceverfahren ist wieder nicht zu-
werkschaftsbund hat recht. stande gekommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU:
der LINKEN) Oh!)

Wenn wir genau hinsehen, dann stellen wir fest, dass Die Zeit schreibt dazu – ich zitiere –:
das 12-Milliarden-Paket eine Mogelpackung ist, zumin- Endloses Drama um die Software zur Studienplatz-
dest von der Zahl her; denn auf meine Anfrage hin hat vergabe: Wie konnte so viel schiefgehen? Und wer
die Bundesregierung eingeräumt, dass nur die Auf- ist schuld?
(B) wüchse in die Rechnung einbezogen wurden. Die Kür- (D)
zungen im Bereich Bildung, und zwar in allen betroffe- Zehntausende … werden keinen Studienplatz ergat-
nen Haushalten, zum Beispiel beim Haushalt für Arbeit tern, obwohl irgendwo noch welche frei sind.
und Soziales, werden einfach nicht mitgezählt bzw. weg- (Zuruf des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])
gelassen.
Das ist Realität. Da können Sie noch so viel herum-
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So ist das!) schreien. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
Es handelt sich um große Summen an Mitteln für Bil- (Beifall bei der SPD)
dung. Meine Kollegin Bettina Hagedorn hat in ihrem
Redebeitrag darauf hingewiesen. Sie machen es so wie Ich möchte auch die Probleme bei der Umsetzung des
die Sonnenuhr: Man zählt einfach nur die schönen Stun- Qualitätspakts Lehre ansprechen. Die Jugendlichen
den, die anderen, das Unangenehme, lässt man weg. brauchen Studienplätze, aber auch Dozenten und Profes-
soren, damit sie ordentlich studieren können. Das Minis-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten terium hat mir mitgeteilt, dass Bescheide ergangen sind
der LINKEN) und bisher nur 90 Professoren mehr eingestellt wurden,
Bei der beruflichen Qualifizierung haben Sie kräftige um all die Studierenden zu betreuen. 90 Professoren
Kürzungen vorgenommen: bei der Qualifizierung Ju- mehr für 400 Hochschulen, das ist viel zu wenig.
gendlicher ohne Hauptschulabschluss, bei den Ausbil- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Zusätzlich!)
dungsabbrechern, bei den ausbildungsbegleitenden Hil-
fen sowie bei der beruflichen Weiterbildung. Für das Jahr Ich wette, dass es auch hier wieder Haushaltsausgabe-
2010 und 2011 fielen fast 1,8 Milliarden Euro an Bil- reste geben muss. Schon im Juli 2010 haben wir im
dungsmitteln weg. Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan, Haushaltsausschuss beantragt, dass hierfür mehr Mittel
wo waren Sie? Wo haben Sie Widerstand gegen die star- zur Verfügung gestellt und für den Qualitätspakt Lehre
ken Kürzungen im Berufsbildungsbereich geleistet? entsperrt werden.
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie können (Beifall bei der SPD)
nicht lesen! Das ist Aufwuchs, Herr
Ich möchte den Forschungsbereich ansprechen. Die-
Hagemann!)
ser Tage wurde der Rechnungshofbericht vorgelegt. Ich
Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung und möchte nicht jede Aussage unterstreichen, aber doch da-
im Bereich des Auswärtigen Amtes – die Zahlen sind rauf hinweisen, dass der Rechnungshof – ich zitiere –
nachgewiesen – gibt es Kürzungen im Bildungsbereich. begründete Zweifel hat, ob das 12-Milliarden-Euro-Pro-
17120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Klaus Hagemann
(A) gramm die gewünschte Wirkung entfalten kann. Frau (Patrick Meinhardt [FDP]: Einen schönen (C)
Ministerin, ich frage Sie: Was wollen Sie tun, um die Antrag!)
Kritik zurückzuweisen? Welche Abläufe werden Sie än-
dern? Werden Sie das untersuchen, um den guten Ruf Wir fordern 10 Milliarden Euro für verschiedene Maß-
der deutschen Forschung zu erhalten? Ist nach zehn Jah- nahmen in den nächsten zehn Jahren: von der Förderung
ren programmorientierter Förderung nicht eine externe der Kinderkrippen über das Ganztagsschulprogramm bis
Evaluierung der Abläufe erforderlich? Darüber haben hin zum Qualitätspakt Lehre und zur Ausbildungsförde-
wir uns in dieser Woche in einem Berichterstatterge- rung. Wir haben dazu ein detailliertes Programm vorge-
spräch unterhalten. Am Schluss hatte ich aber mehr Fra- legt. Allein die Handlungsanleitungen für den Bildungs-
gen als gegebene Antworten. bereich umfassen drei Seiten. Sie brauchen dem nur
zuzustimmen. Dann haben Sie einen Ausgleich zu Ihrer
Lassen Sie mich auch die steuerliche Forschungsför- Mogelpackung.
derung ansprechen. Ich kann mich daran erinnern, dass
die von mir hochgeschätzte Kollegin Flach hier jedes In diesem Sinne bitte ich Sie, dass Sie unseren Ände-
Jahr gesagt hat: Wir brauchen für die Forschung eine rungsanträgen zustimmen; denn es sind gute Anträge.
steuerliche Entlastung. Wo bleiben denn die Gesetzent- (Beifall bei der SPD)
würfe? Die Hälfte der Legislaturperiode ist vorbei. Hier
muss gehandelt werden. Legen Sie die entsprechenden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gesetzentwürfe vor! Bisher ist nichts geschehen. Auf ei-
nem sogenannten Forschungsfrühstück des BDI, an dem Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Rehberg von
ich teilgenommen habe, hieß es: Für die Hoteliers haben der CDU-Fraktion.
sie Geld, aber für die Forschungsförderung haben sie
kein Geld. Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/ Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
CSU]: Das war ja originell! In welchem Hotel gen! „Bildungsrepublik ist eine Fata Morgana“, „kaum
waren Sie?) messbar“, Herr Kollege Hagemann, aus Ihren Worten
spricht aus meiner Sicht der pure Neid
Lassen Sie mich noch ein anderes Thema ansprechen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Auch hier gab es große
Ankündigungen, aber auch hier ist nichts geschehen. Sie auf eine erfolgreiche Politik. Bei uns gestaltet sich Poli-
haben die Laufzeit der Leitlinien, die wir für diesen Be- tik nicht nach dem Motto „Versprochen, gebrochen“,
reich in der Großen Koalition entwickelt haben, schon sondern nach dem Motto „Versprochen, gehalten“.
(B) zweimal verlängert – der Kollege Rehberg kann das be- (D)
stätigen –, das sogenannte Wissenschaftsfreiheitsgesetz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
liegt aber immer noch nicht vor. Fehlanzeige! Wenn die hochgeschätzte Frau Sehrbrock vom DGB
Zu den Personalkosten möchte ich nur Folgendes sa- meint, Fakten nicht anerkennen zu müssen, dann nenne
gen: Das Ministerium hat etwa 1 000 Beschäftigte. Es gibt ich sie:
aber ein Schattenministerium: Es gibt weitere 300 Be- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ist sie nun
schäftigte bei den Projektträgern, die in keinem Stellen- hochgeschätzt?)
plan auftauchen. Ich bin dankbar, dass die Koalition den
Rechnungshof endlich gebeten hat, auch dies zu untersu- Wir haben einen Aufwuchs der Haushaltsmittel in die-
chen. Wir stehen voll hinter diesem Beschluss. sem Bereich von 2011 auf 2012 von 11,1 Prozent.
Eine ganze Reihe weiterer Punkte wäre zu nennen. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
Sie können das auf meiner Homepage unter „Schwarz-
Das heißt, wir haben allein im Hochschulpakt 550 Mil-
buch Schavan“ nachlesen.
lionen Euro draufgepackt. Damit haben wir die doppel-
(Patrick Meinhardt [FDP]: Nee, das brauchen ten Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht
wir nicht!) ausfinanziert.

Das Büro des Kollegen Rupprecht hat sich dafür schon Darüber hinaus entlasten wir die Kommunen. Nach ei-
im Vorfeld interessiert. nem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gibt es Leis-
tungen für Behinderte nicht nur nach dem Sozialgesetz-
Lassen Sie mich zum Schluss, meine sehr verehrten buch über die Kommunen, sondern auch über BAföG.
Damen und Herren, auf Folgendes hinweisen: Investitio- Allein diese beiden Positionen on top sind runde 700 Mil-
nen in Bildung und Forschung sind Zukunftsinvestitio- lionen Euro. Dass Ihnen das nicht passt, Herr Hagemann,
nen. kann ich mir sehr gut vorstellen. Das ist erfolgreiche und
im Übrigen auch verlässliche Politik.
(Patrick Meinhardt [FDP]: Richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen haben wir ein Programm formuliert, das sich
auf die Bildungsausgaben aller zuständigen Ministerien Wenn irgendwelche Bildungsforscher meinen, dass
bezieht: „Nationaler Pakt für Bildung und Entschuldung. Effekte nicht eintreten, lassen Sie mich zwei Beispiele
Wir denken an morgen!“ nennen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17121
Eckhardt Rehberg
(A) Erstens. Die Zahl der Altbewerber ist in den letzten eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und (C)
drei Jahren um 80 000, nämlich von 260 000 auf rund eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.
180 000, zurückgegangen. Damit Sie nicht in eine völ-
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja! Wofür
lige Amnesie verfallen, meine Damen und Herren von
sind Sie denn?)
der SPD: Sie haben uns 2005 eine Jugendarbeitslosigkeit
von fast 16 Prozent hinterlassen. Wir haben sie fast hal- Ich sehe nicht einmal ansatzweise, Herr Kollege
biert. Auch das ist erfolgreiche Politik. Rossmann, dass zwei Drittel der Länder dafür sind, das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kooperationsverbot aufzuheben.

Zweitens. Wir haben in den letzten sechs Jahren den Jetzt denken Sie einmal schön zurück. Die beiden
Anteil der Gymnasiasten von 23 auf 30 Prozent gestei- Vorreiter, die auf dem Kooperationsverbot bestanden ha-
gert. Das Ergebnis ist: Im Jahre 2011 haben wir die ben, waren Kurt Beck aus Rheinland-Pfalz – er ist noch
höchste Zahl von Erstsemesterstudenten, die die Bun- im Amt – und Roland Koch.
desrepublik Deutschland je gesehen hat, nämlich (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und Frau
515 800. Auch hier beweist sich, dass unsere Politik er- Schavan!)
folgreich ist. Dass Ihnen das nicht passt, ist mir vollkom-
men klar. Das gestehe ich selbstkritisch ein. Es gibt aktuell aber
keine Zweidrittelmehrheit. Hören Sie auf, uns zu erzäh-
Herr Kollege Hagemann, wenn Sie behaupten, dass len, dass Ihre Anträge seriös und solide sind. Das sind
die Mittel nicht abfließen: Von 46 Milliarden Euro sind Schaufensteranträge.
in der Amtszeit von Frau Schavan weniger als 1 Mil-
liarde Euro, also 1,7 Prozent, nicht abgeflossen. Ich kann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ihnen einmal die Zahlen von Frau Bulmahn nennen. Nur Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein, das
eine einzige – 2003, Ganztagsschulprogramm –: Bis ist Strukturpolitik nach vorn für Bildung! Was
zum Ende der Amtszeit 2005 waren weniger als 1 Mil- sagen Sie denn den Schleswig-Holsteinern von
liarde Euro abgeflossen. Erst Frau Schavan hat die Mit- CDU und FDP, die genau das einbringen?)
tel im Ganztagsschulprogramm vernünftig umgesetzt. – Herr Kollege Rossmann, wir beide haben uns schon
Kommen Sie uns nicht mit dem Märchen, die Mittel flie- einmal über Steuern unterhalten. – Wir werden, was die
ßen nicht ab! Ich finde es eine mehr als herausragende Länder betrifft, in den nächsten Jahren Steuermehrein-
Leistung, wenn seit 2006 von 46 Milliarden Euro ledig- nahmen verzeichnen: 9 Milliarden Euro von 2011 auf
lich 1 Milliarde Euro nicht abfließt. 2012, 8,5 Milliarden Euro von 2012 auf 2013, 9 Milliar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- den Euro von 2013 auf 2014. Jetzt denken Sie einmal da-
(B)
ruf von der SPD: Tricksen, Täuschen und Tar- ran zurück, welches Steuerminus Sie mit der Steuerre- (D)
nen ist das!) form 2000 provoziert haben.
Auch hier noch einmal ein Blick zurück: Schauen Sie (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, waren
sich einmal an, wie angeblich sozial Sie beim Thema Sie dagegen? Sie waren dafür!)
BAföG waren! In sieben Jahren Rot-Grün haben Sie das Allein im Bereich der Körperschaftsteuer und Gewerbe-
Schüler-BAföG um 28 Euro steuer waren es im letzten Jahrzehnt kumulativ über
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie haben 120 Milliarden Euro. Dafür sind Sie verantwortlich.
die Eigenheimzulage blockiert!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und das Studierenden-BAföG um 34 Euro erhöht. Ich neten der FDP – Dr. Ernst Dieter Rossmann
nenne Ihnen einmal, Herr Rossmann, die Steigerungs- [SPD]: Sie wollten noch mehr!)
sätze von 2005 bis 2011: Schüler-BAföG um 190 Euro, Wenn Sie auf die Kommunen schauen, sehen Sie,
also das Sechsfache, Studierenden-BAföG um mehr als dass wir die Kommunen bis 2015 mit 12 Milliarden Euro
200 Euro, auch das Sechsfache. Kommen Sie uns nicht bei der Grundsicherung ausstatten, und zwar ohne Ge-
mit irgendwelchen Schaufensteranträgen zum Thema genleistung.
BAföG! Wir brauchen keinen Nachhilfeunterricht, son-
dern wir haben in den letzten sechs Jahren gehandelt. (Ulla Burchardt [SPD]: Das hat die SPD in der
Verhandlung durchgesetzt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das sind in 2014 allein für Mecklenburg-Vorpommern
Wenn Sie, Herr Kollege Hagemann, uns kritisieren
72 Millionen Euro. Kommen Sie uns nicht damit, dass
und behaupten, wir veranstalteten beim Mittelabfluss ir-
wir nichts dafür tun, dass Kommunen in der Lage sind,
gendwelche Mätzchen, muss ich sagen: Wenn wir Ihren
zum Beispiel bei Kindergärten, bei Kinderkrippen die
Antrag hinsichtlich der 400 Millionen Euro beim Ganz-
Gegenfinanzierung sicherzustellen. Ich möchte nicht
tagsschulprogramm angenommen hätten, dann – das un-
wissen, was in Nordrhein-Westfalen bei diesem Thema
terstelle einmal – wäre nicht 1 Cent abgeflossen.
los ist. Nein, wir stellen uns der Verantwortung, während
(Klaus Hagemann [SPD]: Woher wissen Sie die Kommunen in den SPD-geführten Ländern knapp
das?) bei Kasse gehalten werden.
Voraussetzung für die Aufhebung des Kooperationsver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen
bots, das heißt eine Änderung des Grundgesetzes, ist des Abg. Klaus Hagemann [SPD])
17122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Eckhardt Rehberg
(A) Wir, die Koalitionsfraktionen, haben in der Bereini- (Klaus Hagemann [SPD]: Da seid ihr doch gar (C)
gungssitzung, nicht zuständig!)
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das oder über den Rückgang der Zahl von Schülern ohne
Kooperationsverbot aufgehoben?) Schulabschluss sprechen – sind überall positive Zahlen
zu vermelden.
so meine ich, einige wesentliche Änderungen vorgenom-
men. (Lachen des Abg. Klaus Hagemann [SPD])

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ach so!) Was den Forschungsbereich betrifft, ist es mittler-
weile so, dass hochkarätige Wissenschaftler und For-
Zum Beispiel beim Programm zur Berufsorientierung scher aus der ganzen Welt an die Türen der Forschungs-
– die 50 Millionen Euro wurden vollständig in Anspruch einrichtungen und Universitäten in Deutschland klopfen,
genommen; die Mittel sind gebunden – stocken wir um weil sie dort arbeiten wollen.
15 Millionen Euro auf, damit noch mehr Schulen an die-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können
sem Programm teilnehmen können. Kollege Hagemann,
so viele Haare in der Suppe finden, wie Sie wollen: Die
so sieht es in der Wirklichkeit aus.
Fakten und die Realitäten sind andere.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herzlichen Dank.
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben im Bereich „Weiterbildung und lebenslanges
Lernen“ 5 Millionen Euro für ein Programm zur Alpha-
betisierung aufgelegt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert von der
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie bitte? Fraktion Die Linke.
In welchem Umfang haben Sie Alphabetisie-
(Beifall bei der LINKEN)
rung aufgelegt, Herr Kollege?)
– Herr Kollege Rossmann, wir haben speziell für diesen Michael Leutert (DIE LINKE):
Zweck den Titel um 5 Millionen Euro aufgestockt. Das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ist konkrete und nachhaltige Politik. Herr Rehberg, ich möchte versuchen, einiges geradezu-
Zum Schluss. Sie sagen, bei der Forschung komme rücken. Es ist ja bekannt, dass dieses Ministerium für
nichts heraus. Herr Kollege Hagemann, was Sie im Au- Ihre Koalition das Ministerium der großen Worte ist. Sie
(B) genblick in der Forschungslandschaft machen, ist schä- sagen, dass Sie 12 Milliarden Euro mehr für Forschung (D)
digend für den Forschungsstandort Deutschland. und Bildung zur Verfügung stellen. 10 Prozent des Brut-
toinlandsproduktes sollen für Forschung und Bildung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ausgegeben werden. Als einziges Ministerium erfährt Ihr
Klaus Hagemann [SPD]: Was mache ich Ministerium, Frau Schavan, in diesem Jahr einen respek-
denn?) tablen Aufwuchs von über 1 Milliarde Euro. Man kann
sagen: Sie leiten ein Ministerium, das eigentlich im Geld
– Ich sage gleich noch ein paar Sätze dazu. – Sie sollten schwimmt.
sich ganz genau überlegen, ob all das, was Sie in den
letzten Tagen und Wochen treiben, dazu beiträgt, dass (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Ach was!)
das Wissenschaftsfreiheitsgesetz so ausgestaltet sein Aber Sie täuschen die Öffentlichkeit und führen die
wird, wie wir es uns wünschen. An dieser Stelle möchte Menschen an der Nase herum. Ich frage Sie: Was haben
ich mehr dazu nicht sagen. Sie eigentlich mit Bildung zu tun? Die Antwort lautet:
Ich möchte noch etwas zu den Forschungsausgaben Nichts. Ich möchte das kurz skizzieren. Die meisten
insgesamt anmerken. Beim ZIM haben wir Hebelfakto- Menschen bringen mit dem Begriff „Bildung“ die
ren von eins zu acht. Bei den Innovationsallianzen haben Schule in Verbindung. Schulen werden in den Kommu-
wir Hebelfaktoren von eins zu fünf. Es ist mittlerweile nen gebaut. Lehrer werden von den Ländern bezahlt. So-
gelungen, dass die Wirtschaft selber im Bereich For- wohl die Länder als auch die Kommunen haben nicht
schung und Entwicklung insgesamt über 56 Milliarden mehr Geld zur Verfügung – im Gegenteil. Das wissen
Euro auf den Tisch packt. Wir steuern unsere 13 Milliar- hier alle, und das hat auch etwas mit der Politik von
den Euro bei. Wir sind kurz davor, das 3-Prozent-Ziel zu Schwarz-Gelb zu tun.
erreichen, Stück für Stück, aber beharrlich. Wenn man Was ist Ihr Anteil daran? Sie müssen auf Bundes-
sich ansieht, wie viel Prozent des Bruttoinlandsprodukts ebene versuchen, das viele Geld, das Sie bekommen, ir-
andere Länder in Europa für Forschung und Entwick- gendwie loszuwerden. Sie haben beschlossen, dass die
lung ausgeben, kann man, glaube ich, feststellen: Die Si- Forschungseinrichtungen jedes Jahr pauschal 5 Prozent
tuation in Deutschland kann sich mehr als sehen lassen. mehr Geld bekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Das ist doch
gut!)
Ich sage Ihnen: Im Bildungsbereich – ob wir über den
Anstieg der Zahl von Gymnasiasten und Erstsemester- Ein ganz konkretes Beispiel: Die Helmholtz-Gemein-
studenten schaft hatte im Jahr 2005 knapp 1,5 Milliarden Euro zur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17123
Michael Leutert
(A) Verfügung. Im Jahr 2015 wird die Helmholtz-Gemein- zur Verfügung steht, dass aber im Forschungsbereich (C)
schaft knapp 3 Milliarden Euro zur Verfügung haben. Geld herumliegt und nicht ausgegeben wird, liebe Kolle-
Das ist eine Verdopplung. Vielen ist aber nicht bekannt, ginnen und Kollegen.
dass der Bund die Helmholtz-Gemeinschaft nicht allein
(Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht
finanziert. Vielmehr sind die Länder mehr oder weniger
[Weiden] [CDU/CSU]: Das ist doch absurd,
gezwungen, 10 Prozent beizusteuern.
was Sie da sagen! Ahnungslos ist der Mann! –
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Ja, ganze Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie verwechseln
10 Prozent! Nun ist es aber gut! – Uwe Äpfel und Birnen!)
Schummer [CDU/CSU]: Das Leben ist wirk-
– Besuchen Sie einmal Schulen in Berlin. Dann werden
lich grausam!)
Sie sehen, wie die Situation dort ist, Herr Kollege.
Dafür müssen von den Ländern also 150 Millionen Euro
mehr aufgebracht werden. 150 Millionen Euro werden in (Patrick Döring [FDP]: Kein Wunder! Da ha-
ben Sie ja auch fast zehn Jahre regiert! – Ge-
den Ländern gebunden und können nicht für die Schulen
genruf der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
zur Verfügung gestellt werden.
LINKE]: So alt ist er doch noch gar nicht! –
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Ihre Rede ist Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]:
auch grausam! – Weitere Zurufe von der CDU/ Heißt das jetzt, die Linken wollen weniger
CSU: Oh!) Geld für Forschung, oder was?)
Ich kann nur sagen, Frau Schavan: Durch dieses Vorge- Das Gleiche passiert im Übrigen auch an anderer
hen nehmen Sie den Ländern Geld weg, das sie für die Stelle. Wir haben im Haushaltsausschuss miteinander
Schulen benötigen. gerungen und uns dafür eingesetzt, dass für berufliche
Bildung, für Weiterbildung und für lebenslanges Lernen
(Patrick Meinhardt [FDP]: Bei so viel ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird. Aber ge-
Schwachsinn applaudiert ja noch nicht mal rade in dem Bildungsbereich, in dem Sie etwas tun
Ihre Fraktion! – Eckhardt Rehberg [CDU/ könnten, wird das meiste Geld eben nicht ausgegeben.
CSU]: Da klatscht keiner, weil sie es nicht ver- Allein im Jahr 2010 sind 144 Millionen Euro in diesem
stehen! Also wirklich, Herr Leutert: Wenn Sie Bereich übrig geblieben. Auch in diesem Jahr sind viele
über Leibniz geredet hätten, hätte ich ja noch Gelder nicht abgeflossen.
ein bisschen Verständnis gehabt! Aber so?)
Frau Ministerin, wenn Sie in irgendeinem Bereich
– Hören Sie weiter zu! versuchen, etwas Neues zu tun, zum Beispiel in der
(B) Auch wir Linke wissen, dass Forschung ein wichtiger Hochschulpolitik, dann versenken Sie das Geld in unsin- (D)
Bereich ist, und sind ebenfalls dafür, dass dafür Geld zur nige Projekte. Ich nenne hier nur das Deutschlandstipen-
Verfügung gestellt wird. Man muss aber auch dafür sor- dium.
gen, dass dieses Geld ausgegeben wird. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
An dieser Stelle komme ich wieder auf die Helm- Statt das BAföG so aufzustocken, wie es nötig wäre, da-
holtz-Gemeinschaft zu sprechen – Herr Rehberg, Sie mit die Studierenden in unserem Land die tatsächlichen
wissen genau, worum es geht; wir hatten erst in der letz- Kosten eines Studiums decken können, versuchen Sie,
ten Woche ein Berichterstattergespräch über dieses ein Stipendium einzuführen, das von der überwiegenden
Thema –: Bei der Helmholtz-Gemeinschaft ist so viel Anzahl der Experten als unsinnig bezeichnet wird, das
Geld angekommen, dass sie nicht in der Lage ist, es aus- nicht funktioniert – von 10 Millionen Euro sind lediglich
zugeben. Ein Betrag von 315 Millionen Euro wird in die 3,5 Millionen Euro abgeflossen; das sollten Sie sich ein-
nächsten Jahre übertragen. mal überlegen – und das auch noch sozial ungerecht ist.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie wissen es (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
doch besser! Sie wissen, dass das nicht neten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]:
stimmt!) Seit wann sind Stipendien ungerecht?)
Der Bundesrechnungshof hat dazu seitenweise Papier – Sie scheinen ja sehr getroffen zu sein, so wie Sie re-
beschrieben und diese Praxis aufs Schärfste kritisiert. Er agieren. Ich sage Ihnen klipp und klar: Dieses Ministe-
fordert eine externe Evaluierung. Der Bundesrechnungs- rium ist kein Bildungsministerium; es ist ein reines For-
hof hält es nicht für vertretbar, die nächste Programm- schungsministerium.
periode zu beginnen, ohne das Verfahren zuvor ernsthaft
auf den Prüfstand zu stellen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN) Der Ehrlichkeit halber sollten wir seinen Namen in „For-
schungsministerium“ ändern, zumindest solange Sie re-
Ihr Ministerium, Frau Schavan, hält eisern dagegen, das
gieren.
sei überhaupt kein Problem. Ich sage Ihnen klipp und
klar: Das, was hier passiert, ist natürlich ein Problem. Wissen Sie, Frau Schavan, die Politik, die Sie hier seit
Das Geld wird nämlich im Bildungsbereich dringend ge- Jahren betreiben – es ist eine Politik, die zeigt, dass Sie
braucht. Es darf nicht so sein, wie ich es beschrieben nicht in der Lage sind, das Geld auszugeben, das vom
habe: dass auf Länderebene kein Geld für die Schulen Parlament zur Verfügung gestellt wird, eine Politik, bei
17124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Michael Leutert
(A) der das Geld dann, wenn es ausgegeben wird, an der fal- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
schen Stelle ausgegeben oder in schlechten Projekten
Die Mittel für den Qualitätspakt Lehre wurden um
versenkt wird –, wird bei uns mittlerweile als Schavanis-
25 Prozent auf immerhin 175 Millionen Euro aufge-
mus bezeichnet.
stockt. Wir investieren in die Forschung – zum Beispiel
(Heiterkeit bei der LINKEN – Uwe Schummer in die Gesundheitsforschung, die Klimaforschung, die
[CDU/CSU]: Darüber haben Sie lange nachge- naturwissenschaftliche Forschung –, Stichwort „High-
dacht! Es kann nur besser werden!) tech-Strategie“, insgesamt 4,8 Milliarden Euro; das ist
ein Plus von 7 Prozent. Das kann sich doch sehen lassen.
Für so eine Politik stehen wir nicht zur Verfügung. Wir
können den Haushalt nur ablehnen. Wir haben auch die Mittel für zahlreiche Institute er-
höht: Als Zuschuss vom Bund erhalten das Bundesinsti-
(Beifall bei der LINKEN) tut für Berufsbildung 35 Millionen Euro, die Deutsche
Forschungsgemeinschaft 982 Millionen Euro, die Max-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Planck-Gesellschaft 678 Millionen Euro, die Leibniz-
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein Gesellschaft über 380 Millionen Euro, die Fraunhofer-
von der FDP-Fraktion. Gesellschaft 462 Millionen Euro und die Helmholtz-Ge-
meinschaft sage und schreibe 1,83 Milliarden Euro. Das
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
lässt sich sehen. Ein Dank an die Institute für ihre Leis-
Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Eine klare
tung für unser Land!
Stimme aus dem Vogtland!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Heinz-Peter Haustein (FDP): der CDU/CSU)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Das sind erst einmal Zahlen. Diese Zahlen lassen sich
Damen und Herren! In genau einem Monat ist Heilig- besser verstehen, wenn man Vergleiche zieht.
abend. Dann kommt der Weihnachtsmann.
(Zuruf von der SPD: Ich dachte, die Zahlen
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das lügen nicht!)
Christkind!)
Wie war es denn unter Rot-Grün?
Beim Einzelplan 30 hat man den Eindruck: Der Weih-
nachtsmann war schon da und hat üppige Geschenke (Klaus Hagemann [SPD]: Wie war es vorher? –
mitgebracht. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und unter
Schwarz-Gelb?)
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
Von 1998 bis 2005, also in sieben Haushalten, gab es ei-
Doch ehe ich zu den Zahlen komme – das muss man nen Aufwuchs von 908 Millionen Euro. Das war in sie-
als Haushälter tun –, bedanke ich mich bei den Bericht- ben Jahren Rot-Grün.
erstattern, besonders bei Dir, Ecki Rehberg, auch bei Dir,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – René
Klaus Hagemann, und natürlich bei dem Ministerium
Röspel [SPD]: Ohne die SPD gäbe es dieses
von Frau Schavan, einem kompetenten Haus.
Haus gar nicht!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Richten wir den Blick auf unsere christlich-liberale
Der Einzelplan 30 umfasst einen Aufwuchs von rund Koalition: In drei Haushalten gab es einen Aufwuchs
11 Prozent; das sind 1,3 Milliarden Euro mehr. Es ist von 2,7 Milliarden Euro – das ist der Unterschied –,
klar, dass es da der Opposition schwerfällt, eine Kritik
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
anzubringen; dieser Haushalt des Ministeriums für Bil-
der CDU/CSU)
dung und Forschung ist nämlich einfach ein Erfolgs-
haushalt. Ich möchte ein paar Zahlen nennen; denn Zah- und das, obwohl wir die Schuldenbremse einhalten, ob-
len lügen nicht. Gerade im Bereich des Bildungswesens wohl wir sparen und obwohl wir die Nettokreditaufnahme
gibt es zum Beispiel bei der Position „Studenten- und gesenkt haben.
Wissenschaftleraustausch“ ein Plus von 22 Prozent auf
(Klaus Hagemann [SPD]: Das merkt man!
135 Millionen Euro. Bei den Zuschüssen zur Begabten-
Mehr Schulden!)
förderung gibt es ein Plus von 34 Prozent; das bedeutet
eine Aufstockung auf 264 Millionen Euro. Auch haben – Wir machen weniger Schulden. Ich erinnere daran, wer
wir die Position „Verbesserung der Berufsorientierung“ Schulden gemacht hat: Sie haben in sieben Jahren Rot-
auf 65 Millionen Euro aufgestockt. Grün fast 300 Milliarden Euro Schulden gemacht. Sie ha-
ben unter Rot-Grün alles schuldenfinanziert.
Ein anderes Stichwort ist der Fachkräftemangel. Hier
haben wir die richtigen Weichen gestellt. Wir müssen in (Klaus Hagemann [SPD]: Und wie viel macht
die Köpfe investieren. Das machen wir; die Zahlen lügen ihr in eurer Legislaturperiode?)
nicht. Die Position „Wettbewerbsfähigkeit des Wissen-
Heute werfen Sie uns vor, Schulden zu machen. So funk-
schafts- und Innovationssystems“ wurde um 17 Prozent
tioniert das nicht.
auf 4,8 Milliarden Euro erhöht. Das ist richtig viel Geld.
Dafür vielen Dank an die Steuerzahlerinnen und Steuer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zahler! der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17125
Heinz-Peter Haustein
(A) Kollege Leutert hat davon gesprochen, wir gäben das spiel durch Investitionen in Bildung eine Einwande- (C)
Geld nicht aus. Ist das denn schlimm? Der Haushalt legt rungsgesellschaft prägen, wie wir sie gestalten können,
die maximalen Ausgaben fest: 306 Milliarden Euro. was das alles für die Kinder und Jugendlichen in unse-
Wenn wir weniger ausgeben, ist das nicht schlimm, rem Bildungssystem bedeutet und wie es uns gelingt, in
Michael Leutert. der Infrastruktur für Anerkennung und Offenheit zu sor-
gen.
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Doch!)
– Nein, es ist nicht schlimm, wenn auch in den Ministe- (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]:
rien gespart wird. Wir müssen das Geld nicht ausgeben. Deshalb haben wir das Anerkennungsgesetz
Es gibt keinen Zwang, Geld auszugeben. Auch das ge- beschlossen!)
hört zur soliden Haushaltsführung. – Ich komme gleich darauf. – Dann kommen Sie mit Ih-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rem „Wir gegen die“. Das Gleiche findet leider auch in
der CDU/CSU) der Gesellschaft statt. Ich finde, ein solches „Wir gegen
die“ kann es beim Brennball- oder Volleyballspiel ge-
Ich fasse zusammen: Rot-Grün hat in sieben Jahren ben; es sollte aber nicht in unseren bildungspolitischen
für Forschung und Bildung fast nichts gemacht. Debatten und auch nicht in unseren Bildungseinrichtun-
(Lachen bei der SPD) gen stattfinden.

Hier geht jetzt der D-Zug ab, oder, um beim Bild von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weihnachten zu bleiben: Bei euch gab es Bockwurst, bei sowie bei Abgeordneten der SPD)
uns gibt es Weihnachtsgänse.
Für uns sollte gelten: Bildung hat Priorität in dieser
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz- Gesellschaft. Deshalb ist es recht und billig, dass wir in
gebirge. Bildung investieren. Es darf nicht nur um die Frage ge-
hen, was die einen und was die anderen gemacht haben,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sondern auch darum, wie wir das Ganze gemeinsam
voranbringen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von Ehrlich gesagt, habe ich in der Anmutung Ihrer De-
Bündnis 90/Die Grünen. batten diese Botschaft bisher schwer vermisst. Geht es
Ihnen tatsächlich darum, die Bildungspolitik voranzu-
bringen, oder geht es Ihnen um Rechthaberei? Ich habe
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) das Gefühl, es geht Ihnen nur um das Zweite. (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer auch immer in
dieser Woche über Bildung spricht, darf nicht nur über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zahlen reden.
Kommen wir zu der Frage, welche Rolle die Bil-
(Beifall des Abg. René Röspel [SPD] – Heinz- dungsministerin dabei spielt, gerade auf Bundesebene.
Peter Haustein [FDP]: Der Haushälter darf da- Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, brauchen wir
rüber reden! – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: mehr interkulturell ausgebildetes Personal. Dabei sind
Das gehört aber dazu!) Sie in der Pflicht. Gerade in dieser Woche wünsche ich
Er darf auch nicht nur über Gänse, Bockwurst und weiß mir von Ihnen die Botschaft: Es ist wichtig, dass es auch
Gott was reden, was Rot-Grün im Gegensatz zu Ihrer in den Bildungseinrichtungen Menschen mit Migrations-
Koalition gemacht hat. Wer auch immer in dieser Woche hintergrund gibt. Ich wünsche mir eine Ministerin, die
über Bildung redet, muss auch über Demokratie, über dafür gerade in einer Zeit, in der wir über den Mangel an
Toleranz, über interkulturelles Miteinander reden. Erzieherinnen und Erziehungseinrichtungen reden, Be-
geisterung schafft. Es reicht nicht, zu wissen, dass man-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che Sachen schiefgehen werden. Das Wichtigste wird
Wir haben es in den letzten Tagen erlebt: Wir sind in der sein, entsprechend zu handeln und etwas dagegen zu tun.
Verantwortung, die Grundlagen für diese Begriffe klar- Was tun Sie gegen den Fachkräftemangel? Was tun
zumachen. Bildung ist ein essenzieller Bereich, um diese Sie für die Weiterbildung von Erzieherinnen in diesem
Grundlagen zu vermitteln. All das kann uns nur dadurch Land? Was tun Sie, um mehr Migrantinnen und Migran-
gelingen, dass wir durch Bildung in die Menschen und in ten für diese Berufe zu begeistern?
das Miteinander der Menschen investieren.
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Anerkennungs-
(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Einfach zustim- gesetz!)
men!)
Hierauf wünsche ich mir Antworten. Diese Antworten
Ich bedaure es sehr und ich rege mich auch ein biss-
finde ich gerade in Ihrer Politik nicht.
chen darüber auf, dass Sie die ganze Bildungsdebatte auf
das verkürzen, was Sie bisher vorgeführt haben. Denn es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
steckt doch viel mehr dahinter.
Zu Ihrem Anerkennungsgesetz.
Was erwarten wir von Bildung? Ich erwarte gerade in
dieser Woche eine Debatte darüber, wie wir zum Bei- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha!)
17126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Ekin Deligöz
(A) Sie tun so, als ob Sie damit etwas Großartiges geschaf- Bildungsrepublik nicht gewagt, sondern sie hat diesen (C)
fen hätten. Weg durch irgendwelche Prüfaufträge zulasten der Kin-
der in diesem Land aufgeweicht.
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja, das
haben wir!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Dieses Gesetz wurde mit der Zusage verabschiedet, dass DIE GRÜNEN und der SPD)
jeder eine Beratung erhält, für den dies notwendig ist. Wenn Sie die Eltern, die Lehrer, die Schulleitungen
Alle Menschen, die hier arbeiten wollen, sollen eine ent- und die Bürgermeister landauf, landab fragen, dann wer-
sprechende Beratung und die nötige Anerkennung be- den Sie feststellen: Von den Menschen und von der Ge-
kommen. sellschaft bekommen Sie sehr wohl Unterstützung. Nur
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Richtig!) weil Ihre Partei nicht so weit ist wie die Gesellschaft,
heißt das noch lange nicht, dass das, was die Gesell-
Was tun Sie dafür, dass diese Beratung überhaupt schaft will, falsch ist.
stattfindet? Sie müssten doch jetzt dafür sorgen, dass im
Haushalt Mittel dafür eingestellt werden. Sie sagen: Na (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
ja, das ist nicht unser Haushalt, sondern der von Frau Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ganz schwa-
von der Leyen. Okay, dann tun Sie etwas dafür, dass die che Leistung! – Lachen bei Abgeordneten der
Mittel im Haushalt von Frau von der Leyen eingestellt CDU/CSU)
werden. Diese Mittel sehe ich dort aber leider auch nicht. Liebe Frau Schavan, an diesem Punkt kann ich Sie
Sie haben diese Zusagen gemacht. Also setzen Sie sie nur auffordern: Seien Sie mutig! Nehmen Sie all Ihren
auch um! Es reicht nicht, nur mit Begriffen um sich zu Mut zusammen! Versuchen Sie, den Bundesrat für eine
werfen, sondern Sie müssen Ihr Vorhaben schon umset- Verfassungsänderung zu gewinnen! Wir werden Sie da-
zen, wenn Sie in diesem Bereich tatsächlich etwas ver- rin unterstützen – auch gegen Ihre Partei. Mutig müssen
ändern wollen. Ich warte noch immer auf die Angabe, Sie aber schon sein. Ein Bekenntnis dazu haben Sie
wo wir diese Mittel wiederfinden werden. Ich sehe sie schon abgelegt. Jetzt müssen Sie es auch umsetzen, liebe
nicht. Frau Schavan.
Zur Qualitätsentwicklung in diesem Bereich. Wer ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
in Deutschland zuständig dafür? Welche Institution wird und bei der SPD)
sagen, nach welchen Kriterien das Ganze erfolgen soll?
Hierauf sind Sie die Antwort schuldig. Sie haben ein Ge-
setz vor sich liegen und wissen eigentlich gar nicht, wie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) Sie es umsetzen sollen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege (D)
Albert Rupprecht das Wort.
Zur beruflichen Bildung junger Menschen. Sie sagen:
Wir haben hier Geld investiert. Gleichzeitig gibt es noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Eckhardt
immer 300 000 jugendliche Altbewerberinnen und Alt- Rehberg [CDU/CSU]: Guter Mann!)
bewerber, die nicht wissen, wohin, die also gewisserma-
ßen auf der Straße sind. Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sie sitzen Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
in den Geschäftsstellen der Grünen, nicht auf Liebe Frau Kollegin Deligöz, Sie haben beim Thema In-
der Straße!) tegration vollkommen ausgeblendet, dass wir vor weni-
gen Wochen hier im Deutschen Bundestag das Anerken-
An diesem Punkt sieht man doch: Allein mit mehr
nungsgesetz beschlossen haben.
Geld löst man die Probleme an dieser Stelle nicht. Die
Frage ist: Welche Strukturen schaffen Sie, damit auch (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
diese jungen Menschen tatsächlich einen Platz in dieser Aber ich habe doch etwas dazu gesagt!)
Gesellschaft finden?
Ich glaube, es ist unstrittig – das wurde von allen Fach-
Es reicht hier nicht, dass Sie die Jugendlichen eine leuten anerkannt –, dass das ein Meilenstein für die Inte-
Schleife nach der anderen durchlaufen lassen, ohne dass gration ist.
sie in dieser Zeit weiterqualifiziert werden. Nicht nur
mehr Geld, sondern auch eine Strukturreform ist not- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wendig. Dafür ist Mut erforderlich, und genau diesen Sie hatten sieben Jahre lang Zeit und haben in diesem
Mut wünsche ich mir auch von Ihnen und von der Minis- Bereich nichts gemacht. Das ist ohne Zweifel ein außer-
terin. ordentlich komplexes Werk. Deswegen war das keine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sache, die von heute auf morgen erledigt werden konnte;
aber wir haben das Ganze vollzogen.
Frau Schavan, Sie haben auf Ihrem Parteitag etwas
sehr Wichtiges gesagt: „Kindeswohl schlägt Koopera- Es gehört zur demokratischen Kultur, dass man sich
tionsverbot“. Leider ist Ihre Partei Ihren Weg in eine mit den Anträgen der Opposition sehr ernsthaft aus-
moderne Bildungsrepublik nicht mitgegangen. Leider einandersetzt. Wir haben sowohl die Anträge, die Sie im
waren die Ideologiedebatten beherrschend, und leider Ausschuss, als auch die, die Sie in der ersten Lesung hier
gab es zu viele Ängste. Ihre Partei hat den Schritt in die eingebracht haben, und Ihre Argumente sehr sauber
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17127
Albert Rupprecht (Weiden)
(A) strukturiert, untersucht, geprüft und diskutiert. Ich möchte Ministerpräsidenten wollen den Wissenschaftsrat beauf- (C)
sie im Wesentlichen in vier Bereichen zusammenfassen. tragen.
Erstens. Sie kritisieren im Bereich der Projektförde- (Ulla Burchardt [SPD]: Die Wissenschaft!)
rung Kürzungen oder angebliche Kürzungen, beispiels- Angesichts dessen stelle ich der SPD-Fraktion die Frage,
weise bei den neuen Werkstoffen oder der Produktions- ob sie der Ansicht ist, dass wir heute entscheidungsreif
forschung. Wir haben das geprüft. Ich maße mir nicht an, sind, und ob sie den Auftrag an den Wissenschaftsrat
zu behaupten, dass man als Parlamentarier bei einem ernst nimmt. Nehmen Sie den Auftrag ernst, dann müs-
Haushalt von beinahe 13 Milliarden Euro jede Position sen wir bis 2013 warten. Unserer Meinung nach ist es
bis ins Letzte durchdrungen hat; deswegen braucht es notwendig, die Analyse zu vertiefen und die Diskussion
auch die Diskussion zu diesen Themen. zu führen. Wir werden die Zeit nutzen, um zu diskutie-
Ihre Kritik stimmt nicht: Es gab hier keine Kürzung. ren. Aber wir werden letztendlich erst 2013 auf Basis
Die Erklärung dafür ist schlichtweg, dass die Pro- dieser Vorlagen entscheiden können.
gramme im Haushalt 2012 unter anderen Titelüber- (Klaus Hagemann [SPD]: Vor oder nach der
schriften eingeordnet sind. Ich nenne ein Beispiel. Sie Wahl?)
haben kritisiert, dass bei der Elektromobilität angeblich
gekürzt wird. In Wirklichkeit ist es so, dass dieser Be- – Ich gehe davon aus, dass der Wissenschaftsrat seinen
reich herausgenommen wurde und im Bereich Energie- Vorschlag im Frühjahr 2013 vorlegen wird. Dann sind
und Klimafonds neu erfasst wird. Wir haben unter dem wir – davon gehe ich aus – entscheidungsreif.
Strich sogar einen massiven Aufwuchs der entsprechen- Drittens. Ein weiterer Kritikpunkt von Ihnen ist der
den Mittel. Mittelabfluss. Ecki Rehberg hat ihn angesprochen. Herr
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hagemann, Sie sind seit September in Deutschlands Me-
neten der FDP) dienlandschaft mit der Aussage unterwegs, Ministerin
Schavan habe es nicht im Griff, zusätzliches Geld ver-
Zweitens. Sie haben, auch heute, mehrere Anträge zur nünftig unter die Leute zu bringen. Herr Hagemann, die-
Ganztagsschule, zum Hochschulpakt und zur Nach- ser Vorwurf ist vollkommen falsch.
wuchsoffensive eingebracht, deren Umsetzung ein Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stoß gegen die Verfassung wäre. Nach dem Stand der
Verfassung, den wir heute haben, führten diese Anträge Zu den Fakten – ich wiederhole die Zahl, die Ecki
zu einem Verstoß gegen die Verfassung, weil sie die Zu- Rehberg schon genannt hat –: Das Ministerium hat, seit
ständigkeit der Bundesländer betreffen. Wir können an Ministerin Schavan Verantwortung trägt, 46 Milliarden
(B) (D)
dieser Stelle gerne darüber diskutieren, ob und auf wel- Euro verausgabt. 98,3 Prozent dieser Summe sind er-
che Art und Weise wir die Verfassung ändern wollen. folgreich investiert worden. Das ist im Vergleich zu an-
Fakt ist aber, dass wir den Haushalt diese Woche be- deren Ressorts ein hervorragender Wert.
schließen. Wir haben einen Haushalt zu verabschieden,
der verfassungskonform ist. Ich erwarte schon, dass Par- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lamentarier im Deutschen Bundestag die Verfassung re- Wenn es zu Verzögerungen gekommen ist, dann liegt
spektieren und einhalten. das primär an zwei Elementen:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erstens. Länder, die die Gelder verwenden können,
René Röspel [SPD]: Aus dem Freistaat Bayern haben sie nicht ausreichend schnell abgerufen. Wir ha-
solche Äußerungen!) ben uns die Liste vergegenwärtigt: Das sind insbeson-
dere SPD-geführte Länder.
Weder Sie noch wir haben derzeit einen präzisen Vor-
schlag für eine Verfassungsänderung, der sowohl im (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das wundert
Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehr- mich nicht!)
heit bekommen würde. Deswegen sind diese Anträge in Darüber müssen Sie mit Ihren Ministerpräsidenten re-
der Tat Schaufensteranträge – Ecki Rehberg hat das zu den.
Recht gesagt –, die vollkommen fehl am Platze sind und
die hier im Grunde genommen nichts zu suchen haben. Zweitens. Es handelt sich um internationale Großpro-
jekte, bei denen es sein kann, dass sich Verhandlungen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie beispielsweise bei FAIR, um einige Monate verzö-
neten der FDP) gern.
Wir wollen ein Mehr an Kooperation, Herr Rossmann; Deswegen, Herr Hagemann, sage ich an dieser Stelle
aber das muss sauber überlegt sein. noch einmal klar und deutlich: Sie erwecken wider bes-
seres Wissen in der Öffentlichkeit und auch bei den Kol-
(Klaus Hagemann [SPD]: Was heißt das?) legen den Eindruck, als hätten wir im Bereich der For-
schung und Bildung zu viel Geld.
Es ist der richtige Weg, dass der Wissenschaftsrat beauf-
tragt wird, bis 2013 eine vertiefte, saubere Analyse und (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Setzen Sie
einen Vorschlag vorzulegen. Das, Herr Rossmann, wol- sich einmal mit dem Bundesrechnungshof aus-
len auch Ihre SPD-Ministerpräsidenten; auch die SPD- einander!)
17128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Albert Rupprecht (Weiden)


(A) Damit schaden Sie der Bildung und der Forschung in un- (Klaus Hagemann [SPD]: Mit dem Finanz- (C)
serem Land, sehr geehrter Herr Hagemann. ministerium nicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sind seit Jahren Mitglied des Haushaltsausschusses
und haben im Grundsatz jedes Jahr die Hand zu diesem
Das ist inakzeptabel. Verfahren gehoben; denn es macht Sinn, dass man Pro-
Nachdem Sie gemerkt haben, dass das Thema Mittel- jekte über Projektträger abwickelt, weil das günstiger
abfluss im Grunde genommen fachlich und sachlich kommt, als wenn man eine entsprechende Zahl von Mit-
nicht belastbar und Ihre Argumentation letztendlich wi- arbeitern im eigenen Haus beschäftigen würde. Deswe-
derlegbar ist, haben Sie seit einigen Wochen ein neues gen ist das ein vernünftiges Verfahren. Darüber hinaus
Thema, nämlich Projektträger – „Schattenministerium“. zeigen die Zahlen ganz klar, wie bereits formuliert, dass
Das ist sozusagen eine Medienkampagne „Hagemann, das auch ein effizientes Verfahren ist.
die Zweite“. Eigentlich schauen Sie wie ein seriöser, so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lider Buchhalter aus. Aber in Wirklichkeit sind Sie ein
Medienmann, Herr Hagemann, die Realität ist ganz anders, als Sie
sie darstellen. Noch nie war Forschung und Bildung in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Deutschland so erfolgreich wie unter Kanzlerin Merkel
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des und Ministerin Schavan. In diesem Etatbereich gibt es
Abg. Florian Pronold [SPD]) gegenüber 2005 eine Steigerung um sage und schreibe
allerdings brutal oberflächlich. Sie werfen dem Ministe- 74 Prozent. Das ist in Deutschland historisch einzigartig.
rium vor, dass es über Projektträger eine Art Schatten- Darüber hinaus ist das auch international herausragend.
ministerium aufbaue, und zum anderen, dass das Geld Wir erleben derzeit, dass in Zeiten der Staatsverschul-
ineffizient in der Verwaltung versickere und nicht bei dungskrise überall – mit Ausnahme des asiatischen
den Menschen ankomme. Auch diese Medienstory ist Raums – in diesen Bereichen gespart wird. In den USA
schlichtweg falsch. sitzen die Forscher auf gepackten Koffern und überle-
gen, nach Deutschland zu kommen. Deutschland wird
Die Projektmittel sind seit 2005 um sage und schreibe aus dieser großen weltweiten Krise nicht nur im wirt-
89 Prozent gestiegen. schaftlichen Bereich, sondern auch im Forschungs- und
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Bildungsbereich gestärkt hervorgehen. Das ist unser
Hört!) Weg, und den werden wir gehen.

Das ist ein Riesenerfolg für den Forschungsstandort Herzlichen Dank.


(B) Deutschland, wie wir meinen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Aber die Zahl der tatsächlich beschäftigten Mitarbeiter Zu einer Kurzintervention erteile ich Ernst Dieter
bei diesen Projektträgern ist in diesem Zeitraum von 710 Rossmann das Wort.
auf 746 gestiegen, das heißt um 5 Prozent. Die Mittel
sind um 89 Prozent und die Zahl der Mitarbeiter ist um
5 Prozent gestiegen. Herr Hagemann, auch dieser Vor- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
wurf ist eine vollkommene Luftnummer. In Wirklichkeit Herr Kollege, weil Sie das gemeinsame Anliegen,
ist die Effizienz dramatisch positiv gestiegen: fast eine wieder zu einem vernünftigen Verhältnis zwischen Bund
Verdoppelung der Mittel, aber fast dieselbe Personen- und Ländern zu kommen, was die Förderung von Bil-
zahl. dung, Forschung und Wissenschaft angeht, mit einer ge-
wissen Schärfe angesprochen haben, möchte ich dazu
(Klaus Hagemann [SPD]: Das ist der Trick!) viererlei feststellen:
Sie sollten das anerkennen und wertschätzen, statt in den Das Erste. Wenn Sie hier schon den Wissenschaftsrat
Medien den Eindruck zu erwecken, dieses Haus könne ins Spiel bringen – es wird noch zu fragen sein, auf wel-
mit Geld nicht vernünftig umgehen und habe zu viel cher Grundlage und von wem eigentlich autorisiert –:
Geld. Sie schaden dem Forschungs- und Bildungsstand- Sie erinnern sich hoffentlich noch daran, dass es Sie da-
ort Deutschland, Herr Hagemann. Das leisten und bewir- mals, als wir für die Zusammenarbeit zwischen Bund
ken Sie damit. und Ländern bei der Förderung von Wissenschaft und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen Bildung leider gravierende Fehlentscheidungen getrof-
bei Abgeordneten der SPD) fen haben, einen Dreck interessiert hat, was der Wissen-
schaftsrat dazu gesagt hat. Er war nämlich vehement da-
Im Übrigen ist der Weg über Projektträger jahrzehnte- gegen und hat vor Fehlentwicklungen gewarnt.
lang praktiziert worden.
(Beifall bei der SPD)
(Klaus Hagemann [SPD]: Aber nicht in dieser
Dimension!) Das Zweite. Wenn Sie es nicht können, wird Frau
Schavan liefern müssen. Sie muss dann sagen, ob es ei-
Das ist jedes Jahr mit dem Haushaltsausschuss, dem nen Beschluss der Ministerpräsidenten gibt, nicht aktiv
Bundesrechnungshof und dem Finanzministerium abge- zu werden, sondern den Wissenschaftsrat zu beauftra-
stimmt worden. gen. Sie werden heute hier liefern müssen, nachdem Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17129
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) behauptet haben, dass es diesen Beschluss geben soll. diskutiert und haben nach jeder Diskussion festgestellt, (C)
Sie haben die Ministerpräsidenten sozusagen mit in Haft dass das Thema ausgesprochen komplex ist und diffe-
genommen, als Sie sagten, dass so etwas beschlossen renziert zu behandeln ist. Wenn wir Zuständigkeiten
worden sei. Sie werden das gleich hoffentlich belegen übernehmen, müssen wir sie auch finanziell schultern
können. Sonst wäre das sehr merkwürdig, hier einen sol- können. Zudem sind klare Verantwortlichkeiten notwen-
chen Prozess anzustoßen. dig.
Zum Dritten. Sie unterbinden, dass wir einen guten Die entscheidende Frage lautet in der Tat: Sind wir in-
Weg einschlagen. Sie können diesen guten Weg offen- haltlich ausreichend fit, um 2011 oder 2012 zu entschei-
sichtlich nicht zusammen mit SPD, Grünen, Linken und den? Wir haben beschlossen, die Empfehlungen des
anderen gehen, weil Sie in Ihrer eigenen Regierungs- Wissenschaftsrates abzuwarten;
koalition durch unglückselige Entscheidungen des FDP-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ihr seid also
Parteitages derart blockiert sind, dass Sie das Ganze ver-
nicht fit!)
schieben müssen.
denn der Wissenschaftsrat kennt die Wissenschaftsland-
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP:
schaft. Sie haben darauf hingewiesen, dass das bei der
Quatsch!)
letzten Föderalismuskommission so nicht gehandhabt
Zu einer wahrhaftigen und differenzierten Betrachtung wurde. Das heiße auch ich nicht gut. Wie Sie wissen,
gehört, dass wir gerne anerkennen, dass der Beschluss sind damals viele Themen verhandelt und teilweise re-
des CDU-Parteitags eine gewisse Offenheit aufweist. gelrecht verhackstückt worden. Was dabei herausgekom-
Offenheit darf aber nicht bedeuten, dass man das jetzt men ist, entsprach nicht unbedingt der Position unserer
endlos auf der Zeitachse nach hinten schiebt, sondern Forschungs- und Bildungspolitiker. Da kann man
muss beinhalten, dass man in der Sache jetzt zu einem nachtarocken, aber es ist nun einmal, wie es ist.
Konsens und zu einer Lösung kommt. Man darf nicht
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Gibt es ei-
abwarten, sondern muss das politisch aufgreifen und an-
nen Beschluss der Ministerpräsidenten?)
gehen. Das ist unser Angebot.
Ich glaube, jetzt, im Jahr 2011, ist der richtige Zeitpunkt,
Zum Vierten sagen wir frank und frei: Es stört uns gar
um das noch einmal zu vertiefen.
nicht, wenn sich Frau Merkel und Frau Schavan noch in
dieser Legislaturperiode die Feder an den Hut stecken Zum letzten Punkt: Sie haben gefragt, ob es tatsäch-
und eine Grundgesetzänderung durchsetzen, die dazu lich einen Beschluss der Ministerpräsidenten gibt. Ich
führt, dass Bund und Länder im Bildungsbereich besser habe gesagt, dass die Ministerpräsidenten einen Be-
zusammenwirken. Es würde uns aber stören, erneut Zeit schluss fassen wollen. Mein Kenntnisstand ist: Man wird
(B) zu verlieren. Frau Schavan, heften Sie sich diese Feder (D)
im Januar oder Februar nächsten Jahres tagen. Dann
gerne an den Hut! Gleich dazu sage ich: Dann können wird sich entscheiden, ob der Wissenschaftsrat beauf-
Sie auch gehen. tragt wird.
Danke schön. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist
aber ein Unterschied!)
(Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/
CSU]: Eine Unverschämtheit ist das!) Ich meine, dass das notwendig und richtig wäre. Ich
frage Sie, Herr Rossmann, ob Sie ebenfalls der Meinung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sind, dass der Wissenschaftsrat beauftragt werden soll.
Kollege Rupprecht, bitte. Wir plädieren dafür. Wenn Sie die Frage mit Ja beant-
worten und der Wissenschaftsrat beauftragt wird, sollten
wir die Diskussion führen und nicht bis 2013 abwarten.
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
Aber entscheiden können wir erst 2013.
Herr Kollege Hagemann, es gibt nicht nur Offenheit – –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Zurufe von der SPD) neten der FDP)
– Entschuldigung, Herr Rossmann! Ich war so sehr auf
Herrn Hagemann eingeschossen. Er war heute sozusa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gen mein Lieblings-Sozi. Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPD-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der Fraktion.
SPD: Unser auch!) (Beifall bei der SPD)
Herr Rossmann, es gibt sicherlich Offenheit in der
Unionsfraktion und in der Unionspolitik. Beispielsweise Oliver Kaczmarek (SPD):
hat der bayerische Kultusminister Spaenle an dieser Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Stelle deutlich formuliert – wenn Sie damals genau zu- will es – auch in der Gesamtschau der ersten Lesung des
gehört haben, erinnern Sie sich bestimmt –, dass er für Haushaltsplans und der heutigen Lesung – gleich vor-
Vorschläge zu Einrichtungen und Vorhaben im Hoch- wegnehmen: Wir kritisieren als Opposition nicht, dass in
schulbereich offen ist. Es gibt also Offenheit. Aber es den Einzelplan 30 mehr Mittel eingestellt sind. Das ist
bedarf in der Tat einer substanziellen Diskussion. Wir gar nicht der Kritikpunkt. Allerdings muss man – Herr
haben zig Kamingespräche geführt und mit Fachleuten Kollege Hagemann hat es bereits ausgeführt – den ge-
17130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Oliver Kaczmarek
(A) samten Haushalt in den Blick nehmen. Vor diesem Hin- – ja, wir werden das auch bei weiteren Debatten immer (C)
tergrund kritisieren wir, dass Sie das Geld falsch ausge- wieder betonen, so lange, bis Sie es zurücknehmen –
ben und mehr Wert auf spektakuläre Überschriften legen
als auf bildungspolitische Kärrnerarbeit. Das ist unsere (Beifall bei der SPD)
Kritik an dem, was Sie hier vorgelegt haben. Steuerausfälle in Höhe von über 2 Milliarden Euro bei
den Ländern und über 1,5 Milliarden Euro bei den Kom-
(Beifall bei der SPD) munen entstehen.
Ich will da anknüpfen. Entscheidend ist doch: Wenn (Ulla Burchardt [SPD]: Jährlich!)
wir ambitionierte bildungspolitische Projekte wie Aus-
bau der Betreuung der unter Dreijährigen, Ausbau der Herr Rehberg, dass diese Koalition die Kommunen tat-
Ganztagsschulen, Reduzierung der Zahl der Schulabgän- sächlich entlastet hat, ist, glaube ich, eine exklusive
ger ohne Abschluss oder bessere Studienbedingungen in Sichtweise, die nur diese Koalition selbst hat.
Angriff nehmen wollen, dann müssen wir eine gesamt-
(Beifall bei der SPD)
staatliche bildungspolitische Anstrengung initiieren.
Dazu sehe ich keine Impulse vonseiten der Bundesregie- Das ist genau das Geld, das fehlt, um in den Ländern
rung. und in den Kommunen Zukunftsinvestitionen in Bil-
dung, in den Ausbau der Ganztagsbetreuung, in Ganz-
Wir müssen den Erwartungen der Menschen entspre- tagsschulen oder auch in bessere Studienbedingungen
chen. Es ist keinem mehr zu vermitteln, dass es Bund tätigen zu können. Allein mit dem Geld, das Sie für das
und Ländern nicht erlaubt sein soll, bei der Finanzierung pädagogisch umstrittene Betreuungsgeld – so sage ich
von wichtigen bildungspolitischen Vorhaben zusammen- es einmal – ausgeben wollen, könnten bundesweit
zuarbeiten. Wir wollen, dass Bund und Länder gemein- 55 000 Ganztagsbetreuungsplätze finanziert werden.
sam Verantwortung für Bildung übernehmen können. Deshalb sage ich: Wer sich politisch so unverantwortlich
Deswegen ist die Aufhebung des Kooperationsverbotes verhält wie diese Koalition, der hat keinen bildungspoli-
ein entscheidender Schritt. tischen Kompass; der ist einfach mental und politisch
(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Uwe sehr weit von dem entfernt, was Sie „Bildungsrepublik
Schummer [CDU/CSU]) Deutschland“ nennen.
(Beifall bei der SPD)
Die FDP hat sich mit ihrem Parteitagsbeschluss aus
der Diskussion abgemeldet; das ist zu verschmerzen. Die Kolleginnen und Kollegen, wir als SPD haben zur
CDU ist in ihrem Beschluss hinreichend beliebig. Wir Finanzierung von langfristigen Aufgaben im Bildungs-
(B) werden in der übernächsten Woche auf unserem Partei- wesen einen Pakt für Bildung und Entschuldung vorge- (D)
tag in Berlin einen ganz konkreten Vorschlag für eine legt,
Grundgesetzänderung vorlegen. Da sind wir gesprächs-
bereit. Sie können sicher sein – das sage ich, weil das (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Belastung
hier gerade eine Rolle gespielt hat –: Die sozialdemokra- der Bürger!)
tischen Ministerpräsidenten werden diesen Weg mitge- mit dem wir ab 2016 zusätzlich 10 Milliarden Euro beim
hen. Herr Schummer, die sozialdemokratische Minister- Bund und auch 10 Milliarden Euro bei den Ländern für
präsidentin von Nordrhein-Westfalen wird an der Spitze Bildung mobilisieren wollen. Dazu wollen wir schon ab
dieser Bewegung sein. Wir sind gesprächsbereit und dem nächsten Jahr – ich komme damit auf unseren Än-
wollen sehen, was dabei herauskommt. derungsantrag zu sprechen – einen moderaten Beitrag
derjenigen einfordern, die besonders hohe Einkommen
(Beifall bei der SPD) oder Vermögen haben.
Wenn man über Bund-Länder-Beziehungen spricht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Tankred
gilt auch: Wer von den Ländern immer größere Anstren- Schipanski [CDU/CSU]: Beitrag? Keine
gungen erwartet – zumindest bei der ersten Lesung des Steuer?)
Etats sind die Redner der Koalitionsfraktionen nicht
müde geworden, darauf hinzuweisen –, der darf ihnen fi- Wir halten das für gerecht, weil es hier um die Finanzie-
nanziell nicht das Wasser abgraben. Allein durch die rung von Zukunftschancen junger Menschen geht.
Steuersenkungen, die Sie für die Zeit ab 2013 vereinbart
Die Debatte um die Studienanfängerzahlen, die sich
haben bzw. planen – man weiß es noch nicht so genau;
in den letzten Tagen neu entzündet hat, und das, was das
es gibt keine ganz konkreten Unterlagen dazu –, werden
Statistische Bundesamt vorgelegt hat, müssen ein Weck-
den Ländern Steuerausfälle in Höhe von etwa 2 Milliar-
ruf für Ihre Koalition sein, wie mein Kollege Swen
den Euro jährlich entstehen.
Schulz gegenüber den Medien ganz richtig erklärt hat.
Nicht vergessen dürfen wir dabei – wir haben ver- Wir brauchen jetzt wirksame Maßnahmen, damit junge
sprochen, dass wir das bei jeder Beratung hier zum Aus- Menschen, die das wollen, ein Studium aufnehmen und
druck bringen –, dass durch Ihr großzügiges Geschenk auch zu Ende – nach unserer Meinung bis zum Master –
an Hoteliers und reiche Erben zu Beginn der Legislatur- studieren können. Von der Bildungsministerin haben die
periode Studierenden in dieser Hinsicht offensichtlich nicht viel
zu erwarten. So interpretieren wir zumindest die Äuße-
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) rungen, die wir in den letzten Tagen dazu gelesen haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17131
Oliver Kaczmarek
(A) Wir als SPD-Fraktion haben deshalb unter anderem Kommen wir einmal zu den Grunddaten zurück. Mit- (C)
beantragt, den Hochschulpakt 2020 bundesseitig um telfristiges Ziel dieser Regierungskoalition ist es, 10 Pro-
200 Millionen Euro aufzustocken, um damit 50 000 zu- zent des Bruttoinlandsprodukts der Bundesrepublik
sätzliche Studienplätze noch in 2012 zu finanzieren; Deutschland in den Bereich Bildung und Forschung zu
investieren. Zum Zeitpunkt der Abfrage beim Stifterver-
(Beifall bei der SPD) band waren es 2,77 Prozent im Bereich Forschung und
denn der Freude über erhöhte Studienanfängerzahlen 6,5 bis 6,8 Prozent im Bereich Bildung. Wir liegen also
müssen auch konkrete Taten für bessere Studienbedin- bereits jetzt bei 9,5 bis 9,6 Prozent des Bruttoinlandspro-
gungen folgen. dukts.
Lassen Sie mich noch ein Thema ganz kurz erwäh- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Diese
nen, weil man den Eindruck hat, dass die Ministerin sich Rechnung verstehe ich allerdings nicht!)
gern im Glanz großer Zahlen sonnt, aber manchmal die Es war eine gigantische Kraftanstrengung, das bis zum
Mühen der Ebene etwas scheut. Ich möchte hier über jetzigen Zeitpunkt zu erreichen. Das Ziel ist, 2015
7,5 Millionen Menschen in Deutschland sprechen, die als 10 Prozent des BIP in Bildung und Forschung zu inves-
funktionale Analphabeten gelten. Das ist eine Riesenhe- tieren.
rausforderung für unser Bildungssystem. Hinsichtlich der
Unterzeichnung eines Paktes für Alphabetisierung und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Grundbildung hören wir von der Bundesregierung seit Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist gar
Monaten eher wenig Konkretes. Wenn es nicht bald zur nicht belegt!)
Unterzeichnung dieses Paktes kommt, der einer sehr
großen Gruppe von Menschen, die am Rand des Bil- Um das zu erreichen, bedarf es eines Motors. Dieser
dungssystems stehen, nützt, dann wird die Luft für die Motor ist dieser Bundeshaushalt. Dass wir innerhalb von
Träger der Grundbildung dünn. Sie wissen doch – das vier Jahren 12 Milliarden Euro mehr in Bildung und For-
steht zum Teil auch in dem Etat der Bildungsministerin –, schung investieren, dass wir in diesem Jahr ganz konkret
dass es Projekte gibt, die Ende des Jahres auslaufen. So- einen Aufwuchs von 11,1 Prozent zu verzeichnen haben,
mit würden Trägerstrukturen infrage gestellt; die Träger dass der Haushalt in den vergangenen zweieinhalb Jah-
müssten sich überlegen, ob sie Personal entlassen oder ren um 27 Prozent auf fast 13 Milliarden Euro gesteigert
ihre Fixkosten reduzieren. Insofern darf Ihnen das nicht wurde – wir haben es hier mit einem Rekord-Bildungs-
gleichgültig sein; denn so werden Strukturen beschädigt, und -Forschungsetat zu tun! –, ist in einer Krise genau
die wir für die Grundbildung und zur Alphabetisierung die richtige Antwort. Genau das macht diese Regie-
brauchen. Deshalb muss der Alpha-Pakt kommen. Die rungskoalition: Investitionen in Bildung, Investitionen in
(B) Bundesregierung und die Ministerin müssen hier ihrer Forschung, Investitionen in Innovation. (D)
Verantwortung gerecht werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genauso wichtig
ist es, dass wir schauen, an welchen Stellen wir welche
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn
Maßnahmen treffsicher einsetzen. Wir wissen, wie wich-
man viel Geld in einen Haushalt einstellt, muss man es
tig der Wettbewerb der Länder und der Bildungseinrich-
auch richtig einsetzen können. Man muss die richtigen
tungen um die bestmöglichen Bildungsangebote ist. Vor
Prioritäten setzen und die Lage von jungen Menschen im
allem seit wir den Lernatlas haben, wissen wir, wie
Bildungswesen erkennen und politisch aufgreifen. Inso-
wichtig der Wettbewerb der Regionen um die bestmögli-
fern reicht es nicht, sich auf Überschriften und Prestige-
che Bildungspolitik werden wird. Umso wichtiger und
projekte zu konzentrieren. Vielmehr ist da bildungspoli-
richtiger war es, dass diese Regierungskoalition sich da-
tische Kärrnerarbeit gefragt.
rauf verständigt hat, lokale und regionale Bildungsbünd-
Vielen Dank. nisse, Allianzen für Bildung, zu stärken. Denn nur wo
regionale Bildungsnetzwerke Wirkung entfalten, kann
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bildungspolitik zur Förderung des Einzelnen beitragen.
der LINKEN) Deswegen ist dieser Ansatz goldrichtig.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das Wort hat nun Patrick Meinhardt für die FDP- Genauso wichtig ist es, so früh wie nur möglich mit
Fraktion. der Förderung zu beginnen. Sprachförderung ist wichtig.
Deswegen haben wir die Offensive „Frühe Chancen“ bis
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – zum Jahre 2014 mit 400 Millionen Euro ausgestattet.
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Der Parteifüh- Das Projekt „Lesestart“ haben wir mit 26 Millionen Euro
rungsbesieger!) ausgestattet. Angesichts dessen – das ist angesprochen
worden –, dass wir 7,5 Millionen funktionale Analpha-
Patrick Meinhardt (FDP): beten in der Bundesrepublik Deutschland haben, brau-
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen chen wir einen Grundbildungspakt; auch das ist im Be-
und Kollegen! Wir erleben hier eine äußerst sphärische reich der Sprachförderung ein sehr wichtiges Thema.
Debatte; jedenfalls lässt das, was ich hier gerade wieder Diese Regierung macht sich auf den Weg, einen solchen
gehört habe, darauf schließen. Grundbildungspakt zu schließen. Um den Alphabetisie-
17132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Patrick Meinhardt
(A) rungspakt in die Wege leiten zu können, haben wir in Bildung dadurch überhaupt nicht geringer werden. Man (C)
diesen Haushalt 5 Millionen Euro zusätzlich eingestellt. kann sie nicht so einfach wegloben, wie Sie das hier ver-
Damit haben wir den entsprechenden Haushaltsansatz suchen.
um 60 Prozent gesteigert. Das ist die korrekte Darstel-
lung und nicht das, was eben hier gesagt worden ist. An den Hochschulen jedenfalls ist von Ihrer viel be-
schworenen Bildungsrepublik wenig zu spüren. Sie soll-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten vielleicht einfach einmal dort hingehen. Die Semi-
nare sind überfüllt, Laborplätze fehlen, sieben von acht
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lebenslanges
Lernen entlang einer Bildungskette ist ein enorm wichti- Lehrenden arbeiten auf befristeten Stellen. Wenn man in
ger Punkt. So stellen wir uns Bildung vor. 31 Millionen Hochschulstädten eine Wohnung sucht, dann sollte man
am besten reiche Eltern haben. Die Wohnheime, aber
Euro fließen in diese Bildungsketten. Viel wichtiger ist
für mich aber, in diesem Zusammenhang hervorzuheben: auch die Mensen und die Bibliotheken sind völlig über-
Es ist ein gutes Zeichen, dass wir innerhalb kürzester lastet.
Zeit den Erfolg der Weiterbildungsprämie feiern können. (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]:
150 000 Weiterbildungsprämien, 75 000 allein in diesem Rot-roter Senat!)
Jahr, sind ein Zeichen dafür, dass wir bei der Weiterbil-
dung eine Erfolgsgeschichte schreiben. Das muss auch 500 Meter weiter weg von hier, in der Mensa der
einmal an dieser Stelle hervorgehoben werden. Humboldt-Universität, wird das Essen neuerdings nur
noch auf Plastiktellern serviert. Keramik und Spülma-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schinen kann man sich da nicht mehr leisten. Das sind
Klaus Hagemann [SPD]: Bei „Arbeit und So- die Ergebnisse auch Ihrer Politik. Das hat schon auch
ziales“ habt ihr das gestrichen!) was mit der Bundespolitik zu tun. Nehmen Sie das ein-
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Talente fördern, fach einmal zur Kenntnis!
schlummernde Begabungen wecken – das ist eine Auf- (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
gabe der Bildungspolitik. Deswegen haben wir das Pro- [FDP]: Sie haben regiert in Berlin! Nicht wir!
gramm zu den Aufstiegsstipendien erfolgreich fortge- Das ist das Ergebnis von Rot-Rot!)
setzt und 3 000 Aufstiegsstipendien gewährt, deswegen
dehnen wir die Begabtenförderung auf die berufliche Wenn Sie mir schon nicht glauben – dafür habe ich
Bildung aus, deswegen kriegen die Begabtenförderungs- Verständnis, weil ich Ihnen natürlich auch nichts glaube –,
werke 40 Millionen Euro im kommenden Jahr mehr, und dann würde ich Ihnen raten: Sprechen Sie doch einfach
deswegen legen wir beim Deutschlandstipendium auch einmal mit den Angestellten der Mensa! Lassen Sie sich
noch einmal 26,7 Millionen Euro oben drauf. über die aktuellen Arbeitsbedingungen, über die aktuelle
(B) Arbeitsbelastung aufklären! Oder reden Sie einfach ein- (D)
Einer der wichtigsten Grundsätze lautet: Es zählt mal mit einem der vielen Bewerber oder einer der vielen
nicht, woher du kommst, sondern wer du bist. Das setzen Bewerberinnen, die jetzt wegen der verschärften Zulas-
wir mit dieser Talentförderung um. sungsbeschränkungen keinen Studienplatz bekommen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – haben, die jetzt vor den verschlossenen Toren der Hoch-
René Röspel [SPD]: Oi! Oi! Das ist ja ein schule stehen, obwohl sie sich ein Abitur erarbeitet ha-
neues Programm für die FDP! Bravo!) ben.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dieser Haus- (Patrick Döring [FDP]: Es gibt kein Men-
halt verstärkt das Fundament einer bildungsgerechten schenrecht auf einen Studienplatz!)
Gesellschaft und ist ein Schaufenster für Innovation und Genau deswegen, wegen dieser ganzen Probleme, die
für Zukunft dieser Gesellschaft. die Regierung so geflissentlich ignoriert, sind letzte Wo-
Vielen herzlichen Dank. che wieder Tausende Schülerinnen und Schüler und Stu-
dierende auf die Straße gegangen, und sie haben recht,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wenn sie lautstark für ihre Zukunftschancen eintreten.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordne-
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die ten der SPD)
Linke. Alle wissen, es gibt die doppelten Abiturjahrgänge,
(Beifall bei der LINKEN) die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, und immer mehr
junge Menschen wollen studieren. Nicht nur wir als
Linke haben Sie seit Jahren darauf hingewiesen, alle ha-
Nicole Gohlke (DIE LINKE):
ben Sie darauf hingewiesen, und trotzdem haben Sie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! nicht gehandelt. Das Schlimmste daran ist, Sie haben gar
Meine Damen und Herren von der Regierung, es hilft nicht vor, das zu korrigieren, zum Beispiel mit diesem
auch nichts, wenn Sie sich hier einfach nur sehr viel Haushalt. Bereits in diesem Jahr fehlen mindestens
selbst loben. 66 000 Studienplätze. Die Zahlen sind von gestern, vom
(Beifall bei der LINKEN) Statistischen Bundesamt.
Zunächst wissen Sie ja, was man über Eigenlob sagt, (Patrick Döring [FDP]: Dafür ist aber der
aber vor allem ist es doch so, dass die Probleme in der Bund nicht zuständig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17133
Nicole Gohlke
(A) Bis 2015 sollen nun 336 000 Studienplätze geschaffen Kommen Sie jetzt als Nächstes nicht mit dem Argu- (C)
werden. ment der leeren Kassen: Sie könnten ja im Rahmen des
Haushaltsplans einfach einmal auf die Idee kommen, die
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
Einnahmeseite zu verbessern. Führen Sie doch die Millio-
– Ja. – Aber alle Experten sagen Ihnen – von der Hoch- närsteuer ein, heben Sie den Spitzensteuersatz an, setzen
schulrektorenkonferenz über die Gewerkschaft Erzie- Sie endlich die Finanztransaktionsteuer durch!
hung und Wissenschaft bis hin zum Centrum für Hoch-
(Patrick Döring [FDP]: Wir wollen die Men-
schulentwicklung; dann glauben Sie halt denen –, dass
schen nicht mehr belasten! – Weitere Zurufe
mindestens 500 000 Studienplätze benötigt werden. Ihr
von der CDU/CSU und der FDP)
Haushalt hat mit einer bedarfs- oder mit einer nachfrage-
gerechten Ausfinanzierung nichts zu tun. Das ist die – Dann machen Sie das doch! Kündigen Sie es doch
Wahrheit über Ihren Haushalt. nicht nur an! Setzen Sie die Finanztransaktionsteuer
doch einfach durch!
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
In dieser Situation behauptet dann Frau Schavan in
ihrer gestrigen Pressemitteilung – ich zitiere –: Die Linke fordert eine ausreichende öffentliche Finan-
zierung für alle Hochschulen – darum geht es –, nicht
Die Bundesregierung hat vorgesorgt, um den neuen
nur für zwölf ausgesuchte.
Studierenden einen guten Start ins Studium zu er-
möglichen. (Patrick Döring [FDP]: Wir haben so hohe
Steuereinnahmen wie nie zuvor!)
Und dann noch:
Wir brauchen die Ausfinanzierung der bestehenden
Der Hochschulpakt wirkt.
Studienplätze und bis zum Jahre 2015 mindestens
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 500 000 zusätzliche Studienplätze.
Patrick Döring [FDP])
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das sind
– Sind Sie schon einmal in einen Hörsaal gegangen, Ihre Zahlen!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) – Das sind nicht meine Zahlen, das sind die offiziellen
Zahlen. Die sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
in dem die Leute auf dem Boden sitzen oder sich anstel-
len müssen, um überhaupt hineinzukommen? Solange Sie Ihre Ausgaben für Bildung nicht an die
realen Bedarfe anpassen, sondern damit letztlich Ihre ab-
(Beifall bei der LINKEN) gehobenen Elitevorstellungen verwirklichen, kann von (D)
(B)
Fakt ist doch, dass der Hochschulpakt das Dauerdefi- einer Bildungsrepublik nicht die Rede sein. Die Bil-
zit im Hochschulsystem nicht im Ansatz kompensieren dungsstreikenden hatten auf ihren Plakaten den Slogan
kann. Sie kalkulieren zum Beispiel die Kosten pro Stu- – das sollten Sie sich einmal anhören – „Reiche Eltern
dienplatz mit 6 500 Euro. Das Statistische Bundesamt für alle!“ stehen. Es ist kein Wunder, dass die Leute auf
weist allerdings die Kosten mit 7 130 Euro aus. Jeder solche Sprüche kommen. „Reiche Eltern für alle“ klingt
Studienplatz ist in Ihrem Haushalt also bereits jetzt um wahrscheinlich in den Ohren vieler realistischer als die
mindestens 630 Euro unterfinanziert. Und Ihr groß ange- Vorstellung, mit Schwarz-Gelb die soziale Selektivität
kündigter Qualitätspakt Lehre schafft die Misere am im Bildungssystem zu beseitigen.
Ende auch nicht aus der Welt. 200 Millionen Euro für (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
über 350 Hochschulen – neten der SPD)
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie sprechen Wenn Sie wirklich Interesse an einer Bildungsrepu-
so schnell! Ich kann Ihnen gar nicht folgen!) blik haben, dann machen Sie endlich Schluss mit einsei-
man muss wirklich kein Finanzexperte sein, um zu er- tiger Förderung und sozialer Diskriminierung!
kennen, dass das nicht reicht. Vielen Dank.
Aber statt umzudenken, wollen Sie auch im Jahre (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
2012 die Exzellenzinitiative fortsetzen. Das heißt: zu- [FDP]: Nichts dazugelernt!)
sätzliche Gelder für gerade einmal ein Dutzend Hoch-
schulen. Was passiert mit dem Rest? Wissenschaftler
wandern an vermeintlich exzellente Unis ab. Weil das Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Exzellenzsiegel fehlt, wird zusätzlich zur Unterfinanzie- Das Wort hat nun Bundesministerin Annette Schavan.
rung auch noch die Position gegenüber Drittmittelgebern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Kooperationspartnern geschwächt. Mit Ihrer Exzel-
lenzinitiative schaffen Sie ein Zweiklassensystem in der
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
Hochschullandschaft. Mit dem Grundsatz „Gute Bildung
dung und Forschung:
für alle“ hat das wirklich gar nichts zu tun.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Meinhardt Meine sehr verehrten Damen und Herren! Irgendwie
[FDP]: Sie wissen gar nicht, was Exzellenz scheint Sie das mit der Bildungsrepublik ziemlich aufzu-
ist!) regen.
17134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Zu Recht! – (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wenn er aus- (C)
Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, weil es keine finanziert ist!)
ist! Das ist das, was aufregt!)
Wir gehen nämlich nicht von einer Zahl x aus und sagen,
Ich finde, es ist eine der vornehmsten Aufgaben unse- dass diese unverrückbar ist. Das können Sie schon daran
rer Gesellschaft, dieses Hauses und all derer, die politi- sehen, dass für die erste Phase des Hochschulpaktes zwi-
sche Verantwortung tragen, jeden Tag ein bisschen mehr schen Bund und Ländern, übrigens auf Grundlage der
im Hinblick darauf zu lernen, dass es nicht mehr um uns Prognose der Länder, geplant war, 90 000 Studienplätze
geht, sondern um künftige Generationen, dass wir in – das zu finanzieren, wir in Wirklichkeit am Ende sogar
wünschte ich mir – allen Haushalten Sorge dafür tragen, 180 000 Studienplätze finanziert haben. Es ist das rich-
dass die Zukunftschancen der jungen Generation Priorität tige Instrument, es ist ein atmendes System. Deshalb
haben. gilt: Wenn es sich so fortsetzt, wie wir es jetzt erleben
– wir alle finden das aus vielen Gründen richtig und gut –,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dann wird sich der Hochschulpakt auch in den nächsten
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Auch bei
Jahren bewähren. Es gibt im Moment in Europa nicht ein
Frau von der Leyen? Arbeitslosigkeit! Berufs-
einziges Land, in dem die Möglichkeit besteht, zusätzlich
ausbildung!)
in Bildung und Forschung zu investieren. Das ist ein
Es stimmt ja, was Frau Deligöz gesagt hat. Wir reden Alleinstellungsmerkmal Deutschlands; das gehört zu den
nicht nur über Zahlen – bei den Zahlen sorgen wir ein- Alleinstellungsmerkmalen dieser Regierung.
fach dafür, dass die Kasse stimmt –,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aha!) Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da gibt es
schon noch ein paar mehr Länder!)
wir reden auch nicht nur von Institutionen, sondern wir
sprechen über Grundeinstellungen von jungen Leuten, Als zweite Nachricht möchte ich den Deutschen
über gesellschaftliches Klima, über das, was das kultu- Lernatlas, den die Bertelsmann-Stiftung vorgelegt hat,
relle Klima in unserer Gesellschaft hergibt. Hierzu gibt erwähnen. Ich finde, das ist eine der interessantesten
es in dieser Woche zwei interessante Meldungen. Analysen über die Bildungsrepublik Deutschland seit
langem, weil darin nicht einfach ein Vergleich der Län-
Die eine, heute schon mehrfach zitiert, lautet:
der angestellt wird und weil dort nicht einfach festge-
515 000 junge Leute beginnen mit einem Studium. Da
stellt wird, dass es im Süden besser ist als im Norden,
gibt es manchen überfüllten Hörsaal. Es mag auch sein,
sondern weil jeder Kreis in Deutschland eine Rolle
dass es Mensen mit Plastiktellern gibt, die gab es übri-
spielt. Ich bin fest davon überzeugt: Vieles von dem, was
(B) gens früher auch schon. Das ist keine richtige Katastro- darin enthalten ist, ist eine wunderbare Fundgrube bei (D)
phe.
der Konzeptionierung der Bildungspolitik. Denn natür-
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Auch Einfüh- lich gilt der Satz: Nicht Institutionen machen uns zu
rungsveranstaltungen in einem Fußballsta- dem, was und wer wir sind. Bildungsprozesse sind an-
dion?) spruchsvoller; sie haben etwas mit Kultur zu tun.
Das alles ist wahr, aber dennoch: Ich finde es super, dass Ein herausragendes Beispiel im Lernatlas der Bertels-
so viele junge Menschen sagen: Ja, ich will gerade jetzt mann-Stiftung ist die Stadt Jena, die sich in den letzten
studieren. Jahren zu einer regelrechten Bildungsstadt entwickelt
hat, in der Chancen genutzt wurden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ernst Dieter (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des
Rossmann [SPD]: Das war früher anders bei Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU] – Patrick
den Konservativen!) Meinhardt [FDP], an den Abg. Dr. Peter
Röhlinger [FDP] gewandt: Ja! Er!)
Ich möchte an dieser Stelle den Hochschulen dafür dan-
ken, dass sie in den letzten Wochen und Monaten enorm – Jawohl, das ist derjenige Kollege, der 16 Jahre lang
viel getan haben, um vielen jungen Leuten die Türen ih- Oberbürgermeister dieser Stadt war. Insofern ist es mir
rer Hochschulen zu öffnen. Herzlichen Dank an unsere eine besondere Freude, hier aus dem Lernatlas zu zitie-
Hochschulen und Universitäten. ren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg.
Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Wer sich die Beschreibung dieser Stadt ansieht und
liest, welche Weichenstellungen in den letzten 20 Jahren
Der Hochschulpakt – der übrigens über alle Par- getroffen wurden, der stellt fest: Natürlich sind wir in
teigrenzen hinweggeht, weil alle Parteien in den Ländern den letzten Jahren in der Bildungsrepublik Deutschland
mit dabei waren, sogar Ihre Partei, deshalb würde ich enorm vorangekommen. Natürlich hat sich viel getan.
mich darüber gar nicht aufregen – Natürlich ist Kommunalpolitik mehr denn je davon ge-
(Zuruf von der LINKEN: Doch! Alles regt prägt, etwas für die Bildungschancen zu tun. Deshalb
mich auf!) lassen wir uns überhaupt nicht davon abbringen; die Bil-
dungsrepublik Deutschland muss peu à peu entwickelt
ist genau das richtige Instrument. werden. Dies gilt umso mehr, als die demografische Ent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17135
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) wicklung in Deutschland – wir werden weniger, wir wer- Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, (C)
den älter, wir werden bunter – das Bildungssystem in die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Leibniz-
seiner ganzen Bandbreite in besonderer Weise herausfor- Gemeinschaft. Das gilt auch für die Helmholtz-Gemein-
dern wird. schaft, mit der wir gerade ganz entscheidende Schritte
auf dem Wege der strukturellen Weiterentwicklung unse-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – res Wissenschaftssystems gehen. Denken Sie an das
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Kein Un- KIT; keiner von Ihnen ist doch im Ernst dagegen. Den-
terschied an der Stelle!) ken Sie an JARA in Aachen, und denken Sie an das, was
Ich möchte aber auch ein Wort zu den Forschungs- wir jetzt in Berlin angekündigt haben. Deshalb sage ich:
organisationen sagen. Herr Hagemann, zu dem, was Sie Entscheiden Sie sich, ob Sie mit uns diese Politik für
gesagt haben und was schon vielfach besprochen worden Autonomie wollen.
ist, treffe ich diese einfache Aussage: Sie müssen sich (Klaus Hagemann [SPD]: Legen Sie doch mal
entscheiden, ob Sie Wissenschaftsfreiheitsinitiative und ein Gesetz vor, Frau Ministerin!)
-gesetz wollen oder nicht.
Das, was im Gesetz stehen würde, muss jetzt schon prak-
(Klaus Hagemann [SPD]: Sie legen ja nichts
tiziert werden. Sie aber reden unentwegt dagegen. Das
vor! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Erst
ist das Problem.
einmal muss die Regierung vorlegen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie müssen sagen, ob Sie bereit sind, den Beschlüssen,
die Sie selbst gefasst haben, zu folgen. Sie wissen, dass
wir Beschlüsse zur Wissenschaftsfreiheitsinitiative ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
fasst haben, dass alles, was die Helmholtz-Gemeinschaft Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
tut, mit Ihnen abgesprochen ist und dass es zum Herz- Kollegen Hagemann?
stück der Initiative für eine größere Selbstständigkeit der
Forschungsorganisationen gehört, dass sie bis zu 20 Pro- Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
zent ihrer Finanzmittel überjährig einsetzen können. Wir dung und Forschung:
wollten das, weil wir davon überzeugt waren, dass das Nein.
Geld so zielsicherer in die Finanzierung von For-
schungsaufgaben fließen wird. (Zurufe von der SPD: Oh! – Swen Schulz
[Spandau] [SPD]: Feige!)
(Klaus Hagemann [SPD]: Das kritisiert nie-
mand! Aber wo ist Ihr Gesetz?) Herr Hagemann, diese Diskussion haben wir zigfach ge-
(B) führt. Sie müssen sich entscheiden. Genau das ist das (D)
Insofern sage ich Ihnen: Ich stehe zur Selbstständig- Thema und sonst gar nichts.
keit unserer Forschungsorganisationen und zur Wissen-
schaftsfreiheitsinitiative, die längst beschlossen ist; (Klaus Hagemann [SPD]: Nein, Sie müssen
vorlegen!)
(Klaus Hagemann [SPD]: Die haben wir schon
zweimal verlängert! – Ulla Burchardt [SPD]: Herr Leutert, was Sie mit Ihrer Rede betrieben haben,
Wo ist denn das Gesetz?) habe ich in diesem Haus noch nicht erlebt.
ich stehe auch dazu, das in Gesetzesform zu gießen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das war
Aber Sie stehen nicht dazu; Sie reden, wenn die Vertreter eine sehr gute Rede!)
der Wissenschaft anwesend sind, anders, als Sie in der
Ich sage ausdrücklich: Es ist absurd, im Deutschen Bun-
Öffentlichkeit reden.
destag Bildung gegen Forschung ausspielen zu wollen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Klaus Hagemann [SPD]: Was? Das ist doch
Quatsch!) und hier zu erklären, dass zu viel Geld in die Forschung
gehe
– Nein, das ist kein Quatsch. Sie haben in den letzten
Wochen deutlich gemacht, dass Sozialdemokraten eben (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das hat über-
nicht Autonomie wollen; Sozialdemokraten wollen in al- haupt keiner gemacht! Er hat über Gewichtung
les irgendwie hineinreden und hineinregieren. gesprochen! Hören Sie mal genau zu!)
(Klaus Hagemann [SPD]: Es war ein sozial- und dass wir dieses Geld besser nicht mehr in die For-
demokratischer Finanzminister!) schung investieren sollten. Bildung und Forschung sind
zwei Seiten einer Medaille. Deshalb müssen wir uns um
Insofern sind Sie, was den Umgang mit modernen For-
das eine genauso kümmern wie um das andere. Wir müs-
schungsorganisationen angeht, völlig ungeeignet.
sen daher unseren Beitrag im Bereich der beruflichen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bildung und der Weiterbildung leisten und gleichzeitig
dafür sorgen, dass Deutschland einer der attraktivsten
Angesichts dessen, was hier gesagt worden ist, sage Forschungsstandorte der Welt ist. Das muss unser ehr-
ich ausdrücklich: Für alle Forschungsorganisationen gilt, geiziges Ziel sein.
dass sie international ein großes Ansehen haben und dass
wir um ihre Arbeit beneidet werden. Das gilt für die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
17136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) Meine Damen und Herren, bei den Meilensteinen, die Klaus Hagemann (SPD): (C)
auch in diesem Haushalt deutlich werden, geht es nicht Frau Ministerin, Sie haben eben die Wissenschafts-
nur um eine halbe Million Studienanfänger mehr in die- freiheitsinitiative bzw. das nicht von Ihnen vorgelegte
sem Wintersemester. In diesem Zusammenhang nenne Wissenschaftsfreiheitsgesetz angesprochen, und Sie for-
ich auch noch folgende Punkte: In den Jahren 2008 bis derten uns auf, uns zu entscheiden. Wir brauchen uns
2010 sind die Ausgaben für BAföG um 25 Prozent nicht zu entscheiden, weil wir uns schon vor Jahren in
gestiegen, und in diesem Jahr gibt es 40 000 Ausbil- der Großen Koalition entschieden haben. Unter Bundes-
dungsplätze mehr als im Jahr 2010. Weiterhin war ein finanzminister Peer Steinbrück haben wir beschlossen,
deutlicher Rückgang der Zahl der Schulabbrecher zu die Wissenschaftsfreiheitsinitiative, mit der zurzeit er-
verzeichnen. Es gab ein Anerkennungsgesetz, für dessen folgreich gearbeitet wird, auszuprobieren. 20 Prozent der
Umsetzung wir übrigens 100 Millionen Euro einsetzen. Mittel können die Wissenschaftsorganisationen auf un-
Damit stellen wir Beratung und die Einrichtung entspre- sere Initiative hin selbst verwalten.
chender Kompetenzzentren sicher.
Aber diese Wissenschaftsfreiheitsinitiative war zeit-
Deutschland liegt, was den Innovationsindikator an- lich begrenzt. Ich rufe den Kollegen Rehberg als Zeugen
geht, auf Platz 4. Die Zukunftschancen der jungen Gene- auf: Wir haben diese Initiative, die unter Herrn
ration sind so positiv wie selten zuvor. Deshalb sage ich Steinbrück bzw. in der Großen Koalition gestartet wor-
Ihnen: Wenn Sie in den sieben Jahren der rot-grünen den ist, schon zweimal verlängert – Herr Rehberg, Sie
Bundesregierung müssen mir da zustimmen; denn das war ein gemein-
samer Antrag –,
(Klaus Hagemann [SPD]: Schon wieder!)
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
solche Entwicklungen zu verzeichnen gehabt hätten, hät-
ten Sie alle Glocken in diesem Land läuten lassen. weil Sie noch keinen Gesetzesentwurf vorgelegt haben.
Das ist das Problem; denn diese Initiative muss jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) endlich in eine endgültige Form gebracht werden und
darf nicht nur im Versuchsstadium stecken bleiben. Frau
Über 99 Prozent der Mittel werden ausgegeben. Auch Ministerin, ich lasse mir von Ihnen nichts anhängen. Sie
das hat es früher nie gegeben. Das Haus und alle Projekt- tun so, als ob falsche Entscheidungen getroffen wurden.
träger haben in den letzten Jahren große Anstrengungen Ganz im Gegenteil: Ich bin immer derjenige gewesen,
unternommen, um immer besser zu werden und dieses der dafür gekämpft hat, dass eine entsprechende Selbst-
großartige Ziel zu erreichen. bewirtschaftung erfolgen kann.
Herr Kaczmarek, Sie haben recht: Der Grundbil- (Beifall bei der SPD)
(B) dungspakt muss kommen. Aber fragen Sie doch einmal (D)
in den von Ihnen regierten Ländern nach, wann diese be- Aber man muss doch auch das Recht haben – darum
reit sind, endlich die Unterschrift unter den fertigen Pakt müssten Sie sich einmal kümmern –, die Kritik des
zu setzen. Rechnungshofes genauer zu beleuchten. Ich wiederhole
das, was ich vorhin gesagt habe: Ich schließe mich nicht
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Welche jeder Forderung bzw. jeder Kritik des Rechnungshofes
Unterschriften haben Sie denn schon?) an, aber sie muss überprüft werden; denn es wird kriti-
siert, dass die Mittel nicht zweckgemäß ausgegeben wer-
Auch hier gilt: Der Grundbildungspakt ist vorbereitet. Er den. Das muss man kontrollieren. Wenn es nicht der Fall
liegt den Ländern vor, sie müssen nur unterschreiben. sein sollte, dass die Mittel richtig verwendet werden,
Dann werden wir ihn gemeinsam in Kraft setzen können. dann muss man das eben rückgängig machen. Aber der
Dann werden wir an dieser wichtigen Stelle das tun, was Opposition bzw. mir hier Vorwürfe zu machen, das ist
wir bei der Präsentation der Studie vereinbart haben. nicht in Ordnung; denn sie entsprechen nicht der Wahr-
Lassen Sie mich abschließend den Berichterstattern, heit, Frau Ministerin.
auch denen, mit denen wir streiten, herzlich danken. Ich (Beifall bei der SPD)
danke den Mitgliedern des Haushaltsausschusses und
auch den vielen, die dazu beitragen, dass die Bundesre-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gierung und die sie tragenden Fraktionen Bildung und
Forschung in solcher Weise vorrangig behandeln kön- Kollege Leutert, bitte.
nen. Ich bin davon überzeugt, dass wir daran gemessen
werden, ob wir die Zukunftschancen der jungen Genera- Michael Leutert (DIE LINKE):
tion ganz oben ansiedeln. Frau Ministerin, Sie haben mir leider nicht richtig zu-
gehört.
Vielen Dank.
(Patrick Döring [FDP]: Das war auch schwer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu ertragen!)
Ich habe vorhin ausdrücklich gesagt: Auch für die Linke
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist Forschungspolitik ein wichtiges Feld, das gut durch-
Es gibt zwei Kurzinterventionen. Zunächst hat der finanziert sein muss. Ich habe aber auch gesagt: Es kann
Kollege Hagemann das Wort. Danach folgt der Kollege nicht sein, dass auf der einen Seite Geld im Schulsystem
Leutert. fehlt und auf der anderen Seite das Geld, das Sie in den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17137
Michael Leutert
(A) Forschungsbereich hineinpumpen, nicht abfließt. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
mein erster Punkt. Klaus Hagemann [SPD]: Nein!)
(Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter Deshalb sage ich das so klar: Ich stehe zu dieser Ini-
Haustein [FDP]: Die Mittel fließen ab! Hör tiative. Für mich sind die 300 Millionen Euro kein Zei-
doch zu!) chen dafür, dass zu viel Geld vorhanden ist, sondern
Ausdruck eines sehr verantwortungsbewussten Planens
Mein zweiter Punkt. Man muss darauf achten, für was
der nächsten Phase programmorientierter Forschung. Es
in diesem Land Forschungsgelder ausgegeben werden.
ist nämlich genau festgelegt, wofür dieses Geld einge-
Ich frage Sie: Ist es beispielsweise sinnvoll, dass Daim-
setzt wird.
ler von uns Fördermittel für Energiesparmodelle be-
kommt? Braucht dieser Konzern diese Fördermittel? Meine herzliche Bitte ist: Wer zu dieser Autonomie
Oder könnten wir diese Gelder nicht besser in anderen steht, muss auch dann dazu stehen, wenn kritische Fra-
Bereichen verwenden? Diese Frage könnten Sie eben- gen gestellt werden. Es ist wahr, dass wir mit dem Bun-
falls beantworten. desrechnungshof über die Wissenschaftsfreiheitsinitia-
tive streiten müssen. Ich sage Ihnen – das sage ich als
Mein dritter Punkt. Wir haben immer gesagt: For-
Mitglied dieser Bundesregierung auch dem Bundesrech-
schung darf nicht auf Kosten des Schulsystems betrieben
nungshof –: Ich halte diese Initiative für eine Notwen-
werden. Wir haben früher immer von der Einheit von
digkeit in einem modernen Wissenschafts- und For-
Lehre und Forschung gesprochen. Diesen Grundsatz ha-
schungssystem und stehe daher dazu. Es gibt überhaupt
ben Sie aufgegeben. Das ist ihr Verdienst in der Bil-
keinen Anhaltspunkt dafür, zu sagen: Die Forschungs-
dungsrepublik Deutschland. Dazu kann ich nur herzlich
einrichtungen können mit Geld nicht umgehen. Übrigens
gratulieren.
wird jede programmorientierte Forschung von Beginn an
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Wenn den ständig überprüft. Außerdem werden die Programme in
Kitas und den Schulen das Geld gestrichen wird, dann ihrer Gesamtheit über viele Jahre hinweg evaluiert.
wird uns im Bildungssystem die Basis wegbrechen.
Wenn das Bildungssystem keine klugen Köpfe mehr Das ist meine Position. Ich habe nicht gesagt, dass Sie
produziert, dann brauchen wir in Zukunft auch keine sich pro oder kontra Wissenschaftsfreiheitsinitiative ent-
Forschungspolitik mehr. scheiden müssen. Ich habe aber gefragt, ob Sie tatsäch-
lich bereit sind, die Freiheit, die mit der Wissenschafts-
(Beifall bei der LINKEN – Uwe Schummer freiheitsinitiative verbunden ist, mit uns gemeinsam zu
[CDU/CSU]: Das ist ja eine ganz neue Er- verteidigen.
kenntnis!)
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D)
Klaus Hagemann [SPD]: Wann kommt das
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gesetz?)
Frau Ministerin, bitte.
Herr Leutert, das, was Sie gesagt haben, war eigent-
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
lich eine Wiederholung. Deshalb sage ich noch einmal:
dung und Forschung: Niemand pumpt Geld in ein Forschungssystem, das die-
ses Geld eigentlich nicht braucht. Wir sind seit 2005
Vielen Dank. – Herr Hagemann, dass wir uns gemein-
– das haben wir durch unsere Arbeit zunächst in der
sam auf Initiative des BMBF in der Großen Koalition zu
Großen Koalition und dann in der schwarz-gelben Koali-
einer Wissenschaftsfreiheitsinitiative entschieden haben,
tion erreicht – verlässliche Partner im Wissenschafts-
ist unbestritten. Wenn festgelegt ist, dass die Organisa-
und Forschungssystem. Genau diese Verlässlichkeit über
tionen bis zu 20 Prozent der Zuwendung als Selbstbe-
einen langen Zeitraum hat dafür gesorgt, dass es diese
wirtschaftungsmittel zugewiesen bekommen – wir haben
Fortschritte in Deutschland gegeben hat. Deshalb sage
damals diskutiert, wie wichtig die überjährige Verwen-
ich auch Ihnen: Nein, wir werden nicht bei der For-
dung ist, weil programmorientierte Forschung über viele
schung sparen, um Aufgaben zu übernehmen, für die
Jahre geht –, dann kann man, wenn beispielsweise
eindeutig andere zuständig sind. Jede politische Ebene
312 Millionen Euro für mehrjährige Forschungspro-
hat ihre Aufgaben und soll sie wahrnehmen.
gramme reserviert sind, nicht behaupten: Die For-
schungseinrichtungen schaffen es nicht, das Geld auszu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gegeben. – Genau diese Diskussion haben Sie geführt.
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nau so ist es!) Das Wort hat nun Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich bleibe dabei: Sie müssen sich entscheiden. Wenn
wir das auch in Zukunft wollen und wenn Sie dazu ste-
hen, dann muss damit aufgehört werden, so zu tun, als Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
seien die Mittel, die bis zu einer Höhe von 20 Prozent Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
überjährig eingesetzt werden können, ein Hinweis da- Haushaltsrecht ist auch deshalb das Königsrecht des Par-
rauf, dass dieses Geld nicht ausgegeben wird bzw. dass laments, weil der Haushalt über die Prioritäten der Poli-
die Helmholtz-Gemeinschaft zu viel Geld hat. Genau tik und über die Glaubwürdigkeit von Entscheidungen
diese Debatte haben Sie geführt. Auskunft gibt. Deshalb habe ich in diesem Forschungs-
17138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Sylvia Kotting-Uhl
(A) haushalt den Atomausstieg gesucht. Ich habe ihn nicht – Nein, mit dem Flugzeug. – Dort sind inzwischen 68 Pro- (C)
gefunden. zent der Bevölkerung für den Ausstieg aus der Atom-
kraft. Sie brauchen dafür aber Alternativen.
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Grundlagenfor-
schung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will Ihnen die relevanten Zahlen zum Bereich der In Japan ist noch weniger als in Deutschland die
Energieforschung in diesem Haushalt zur Kenntnis ge- Kohle eine mögliche Alternative, weil diesem Land vor
ben: Es gibt 77,2 Millionen Euro für den Bereich der er- nichts mehr graut, als von Importen womöglich aus
neuerbaren Energien insgesamt. Dagegen stehen 138,7 Mil- China abhängig zu sein. Wenn wir also einem Land wie
lionen Euro für den Bereich der Kernfusion und Japan und vielen anderen Ländern, die sich eine Ener-
14 Millionen Euro für den ITER. Hinzu kommen giestruktur erst noch aufbauen müssen, helfen wollen,
80 Millionen Euro pro Jahr, die über Euratom haupt- eine für ihre eigene Zukunft nachhaltig wirkende Ener-
sächlich in die atomare Forschung fließen. 1,4 Milliar- gieversorgung aufzubauen, dann tun wir das nicht, in-
den Euro für den ITER sind, wie wir wissen, immer dem wir Kernfusion erforschen, die frühestens 2050,
noch nicht finanziert. Im Moment gibt es die Überle- wenn all diese Energiesysteme installiert sein werden,
gung, die Mittel für Euratom um 2,2 Milliarden Euro auf- zum Tragen kommt, sondern indem wir zeigen und auch
zustocken, wovon Deutschland 20 Prozent zu tragen erforschen, wie eine Energiewende vonstatten gehen
hätte. kann.
Dazu muss ich sagen: Wer nicht verstanden hat, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ein Atomausstieg mehr erfordert, als einen Abschaltplan und bei der SPD)
für Atomkraftwerke vorzulegen, der hat nicht verstan-
den, was ein Atomausstieg grundsätzlich bedeutet. Hier brauchen wir mehr Geld, als wir heute im Haus-
halt veranschlagt haben, für Speichertechnologie, für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Netzausbau und auch für die erneuerbaren Energien. Ich
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nenne zum Beispiel die Meereswellentechnologie, die
Einen Wiedereinstieg in atomare Großtechnologie vor- für Japan mit seinen langen Küsten ein Segen wäre. Das
zubereiten, indem man einen Großteil der Forschungs- sind Zukunftsaufgaben. Dies vermisse ich im Forschungs-
gelder in die Bereiche Kernfusion oder Transmutation haushalt.
steckt, das hat mit Atomausstieg nichts zu tun. Ich erkenne stattdessen eine Konzentration auf Kern-
Ich rede jetzt nur über den Forschungshaushalt. Ich fusion, auf Transmutation. Die Gelder für Transmutation
rede nicht über andere Einzelpläne. Natürlich wurden findet man übrigens nicht im Forschungshaushalt,
(B)
Gelder für die nukleare Sicherheitsforschung eingestellt. sondern sie sind versteckt in den Geldern, die an die (D)
Das unterstützen wir; das halten wir natürlich für richtig. Helmholtz-Gemeinschaft gehen. Hier fordern wir mehr
Es wurden im Wirtschaftshaushalt auch Gelder für Effi- Transparenz. Bei aller Autonomie kann es nicht sein,
zienz und Speichertechnologie eingestellt. Es gibt auch dass öffentlich Gefördertes nicht öffentlich sichtbar wird
Gelder für den Bereich der erneuerbaren Energien im und dass wir nicht wissen, was mit diesen Geldern letzt-
Umwelthaushalt. Ich möchte hier aber über den For- endlich gemacht wird. Eine Ausrichtung auf atomare
schungshaushalt reden; denn das ist der Zukunftshaus- Forschung, wie sie die Helmholtz-Gemeinschaft vor-
halt. Der Forschungshaushalt entscheidet darüber, wohin nimmt, passt nicht zu der hier mit breiter Mehrheit be-
die Reise geht. schlossenen Politik.

Wir haben den Atomausstieg in diesem Parlament mit Vielen Dank.


breiter Mehrheit beschlossen, was bedeutet, dass eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wichtige Veränderung in den politischen Zielen von Re- und bei der SPD)
gierung und Parlament gemeinsam beschlossen wurde.
Das müsste sich durch eine andere Prioritätensetzung im
Haushalt niederschlagen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Das tion.
zeigt sich auch!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– Nein, das zeigt sich nicht. Das vermissen wir.
Wenn wir zum Beispiel fordern, die Mittel für den Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Bereich der Kernfusion zu reduzieren bzw. zu streichen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
– wir fordern nicht mehr Geld, sondern machen ein An- Kollegen! Die Aufwüchse des Haushaltsplans 2012 ge-
gebot und sagen, wo man sinnvollerweise einsparen genüber den Vorjahren wurden in der heutigen Debatte
könnte –, dann wird oft gesagt, man müsse über den Tel- bereits umfassend dargestellt. Es wurde eine eindrucks-
lerrand schauen, man müsse schauen, was andere Länder volle Zwischenbilanz vorgelegt, die belegt, welche wei-
machen. teren Projekte die Koalition in dieser Legislaturperiode
Ich bin letzte Nacht aus Japan zurückgekommen. angeht, und die zeigt, dass wir den Erfolgskurs der Re-
gierung auf dem Gebiet Bildung und Forschung weiter-
(Zuruf von der CDU/CSU: Mit dem Fahrrad?) führen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17139
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushaltsplan reden, Herr Hagemann, sondern das, was in der Öffent- (C)
stellt immer ein Gesamtkonzept dar. An dieser Stelle lichkeit ankommt –,
möchte ich einen Gedanken herausstellen, der mir in der
(Klaus Hagemann [SPD]: Das muss kontrol-
bisherigen Debatte aufgefallen ist. Aufgefallen ist mir
liert werden!)
– ob im Ausschuss oder heute im Plenum –, dass der Op-
position wirklich nicht mehr viel Neues einfällt. Sie ge- müssten wir von unserem Projekt Wissenschaftsfrei-
hen immer nach dem gleichen platten Schema vor. heitsgesetz Abschied nehmen. Deshalb – das möchte ich
an dieser Stelle deutlich betonen – müssen wir diesem
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Weil Sie nichts kor-
Denken entgegentreten. Forschung und Entwicklung fin-
rigieren, bleibt uns nichts anderes übrig!)
den unter ganz besonderen Bedingungen statt – darüber
Dieses Schema will ich einmal deutlich darstellen: haben wir schon an verschiedenen Stellen, auch im Aus-
schuss, diskutiert –, Bedingungen, die einen neuen Rah-
Erstens. Es werden Ihrer Ansicht nach überall dort men benötigen.
mehr Gelder benötigt, wo es Ihre Länder einsparen kön-
nen. Zweitens. Dort, wo mehr Gelder investiert werden, Die Koalition wird deshalb im Jahr 2012 dem positi-
reden Sie dann von verfehlten Projekten. Drittens. Sie, ven quantitativen Aufwuchs der Haushaltsmittel bessere
liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, greifen qualitative Bedingungen hinzufügen. Das von uns ge-
sich einzelne Technologiefelder heraus – Frau Kotting- staltete Wissenschaftsfreiheitsgesetz wird den For-
Uhl hat es eben gemacht –, zum Beispiel Kernfusion schungseinrichtungen – das ist ganz wichtig – weitere
oder Bioökonomie, wo es Ihrer Meinung nach nicht an- Flexibilisierung einräumen.
gebracht ist, zu investieren. Anschließend vermitteln Sie (Klaus Hagemann [SPD]: Wann kommt es?)
den Eindruck, als gönne sich diese Koalition den Luxus,
in Projekte und Bereiche zu investieren, die im Grunde Es wird den Wissenschaftseinrichtungen auch – das ist
keine Relevanz besitzen. ganz wichtig; die Wissenschaft braucht dies – mehr Ver-
antwortung übertragen, sodass sie dann mit eigenem
Diese Botschaft, die in die Öffentlichkeit gelangt Controlling und natürlich mit Augenmaß die Mittel be-
– Herr Hagemann, Sie haben es ja heute auch gesagt –, darfsgerecht einsetzen werden.
richtet sich meiner Ansicht nach gegen unser gemeinsa-
mes Anliegen, mehr Geld in Wissenschaft und For- Die Koalition hat einen klaren Haushalt 2012 aufge-
schung zu investieren. Was wundern wir uns dann, wenn stellt. Weitere Akzente für die Forschungseinrichtungen
in der Öffentlichkeit die Frage behandelt wird, ob zu viel und das Wissenschaftssystem werden wir noch setzen.
Geld in die Wissenschaft investiert wird, ob die Wissen- Vielleicht erleben wir dann eine konstruktive Opposi-
schaft mit Geld tatsächlich nicht umgehen kann? Das tion.
(B) (D)
sind Fragen, die man sich in einer von Innovation getra-
Vielen Dank.
genen und von Innovation profitierenden Gesellschaft
nicht stellen darf. Das ist eine ganz wichtige Feststel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
lung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Klaus Hagemann [SPD]: Der Bundesrech- Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.
nungshof hat diese Fragen gestellt!) (Beifall bei der SPD)
Doch mittlerweile werden wir bedrängt, zu erklären, was
die Forschungseinrichtungen eigentlich mit dem Geld René Röspel (SPD):
anfangen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute finde ich es ausnahmsweise nicht schade,
(Ulla Burchardt [SPD]: Was das Ministerium
erkältet zu sein, weil ich dadurch diese Mischung aus
damit macht!)
Pulverdampf und Weihrauch, die in dieser Debatte ent-
Zu Beginn der Haushaltsberatungen – ich erinnere standen ist, nicht riechen kann.
mich ganz genau daran; Herr Hagemann, Sie haben es
(Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordne-
damals auch kritisiert – und – wir hätten darauf warten
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
können – wieder am Ende der Haushaltsdebatte wurde
das Thema Helmholtz behandelt. Frau Ministerin Ich muss zugeben, wir gönnen Ihnen ein bisschen
Schavan hat es angesprochen: Die Helmholtz-Gemein- Selbstbeweihräucherung, weil wir es gut finden – es ist
schaft und alle anderen außeruniversitären Forschungs- ja ein gemeinsames Ziel –, dass Sie mehr Mittel in Bil-
einrichtungen haben die Ermächtigung – wir haben diese dung und Forschung gesteckt haben.
gegeben –, 20 Prozent der Zuwendungsmittel im Rah-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
men der Selbstbewirtschaftung ins folgende Jahr zu
übertragen. Aber wenn wir als Opposition die Souveränität besitzen,
Sie dafür zu loben, dann sollten Sie die Größe haben, die
Obwohl die Helmholtz-Gemeinschaft die Mittel vom
ganze Geschichte der Bildungs- und Forschungspolitik
Haushaltsgeber zugewiesen bekommt, hat sich am My-
der letzten Jahre zu erzählen,
thos der Rücklagen und Kriegskassen nichts geändert.
Wenn wir uns auf diese Vorwürfe einlassen – das ist eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ganz gefährliche Diskussion; nicht das, über das wir hier des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
17140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

René Röspel
(A) sonst entsteht bei den Menschen, die uns zuhören, viel- Sie vielleicht unter dem Weihnachtsbaum einen finden (C)
leicht ein falscher Eindruck. werden.
Als Rot-Grün 1998 die Regierung übernommen hat, (Beifall bei der SPD)
war der Etat von Bildung und Forschung zu vergleichen Aber auch das ist nichts Neues. In vielen Bereichen
mit einem abgehalfterten alten Gaul, der in der dunkels- drehen Sie Pirouetten, wie es Ihnen gerade gefällt. Jahre-
ten Ecke des Kabinetts stand und dessen Rippen man lang waren Sie gegen einen Mindestlohn; jetzt versuchen
zählen konnte. Es war eine sozialdemokratische Bil- Sie, etwas in dieser Richtung auf den Weg zu bringen.
dungsministerin, die dieses Pferd gefüttert und gepflegt
hat, die mehr in Bildung und Forschung investiert hat. Ähnliches gilt für den Bildungs- und Forschungsbe-
Mittlerweile dürfen Sie auf einem Rennpferd reiten und reich. Jahrelang leisteten Sie erbitterte Widerstände ge-
sich auf den Weg zu neuen Erfolgen machen. Das ist gen Ganztagsschulen, Herr Rehberg. Als die rot-grüne
nicht nur Ihr Verdienst, sondern auch ein Verdienst der Regierung 2003 den Betrag von 4 Milliarden Euro zur
Großen Koalition und vor allen Dingen ein Verdienst der Verfügung gestellt hat, um in den Kommunen Ganztags-
rot-grünen Koalition von 1998 bis 2005. schulen auszubauen, weil sie dringend gebraucht wur-
den, haben wir das gegen die erbitterten Widerstände
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihrer beiden Fraktionen machen müssen; in den Proto-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – kollen des Bundestages können Sie nachlesen, dass da-
Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Geschichts- mals von „Verwahranstalt“ und „Einheitsschule“ die
klitterung!) Rede war. Wenn die Mittel schlecht abgeflossen sind
– wir haben das ja genau beobachtet –, dann lag das
Wir haben diese Grundlagen geschaffen. Ein Raketen- nicht an Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz,
start ist in der ersten Phase immer am schwierigsten, da sondern an Hessen und Ministerpräsident Koch, der er-
braucht man die meiste Kraft und den meisten Aufwand, bitterten Widerstand gegen die Ganztagsschule geleistet
und am Ende kann man den Erfolg feiern. hat. Das war ein Fehler.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der FDP) DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/
CSU]: Kommen Sie mal zur Zukunft!)
– Ja, das ist Ballistik; darüber reden wir vielleicht ein an-
deres Mal. Heute freuen wir uns, dass Sie die nächste Pirouette
drehen. Sie haben nämlich in Ihrem bildungspolitischen
(Beifall bei der SPD – Heinz-Peter Haustein Antrag das Ziel formuliert, Ganztagsschulen zu fördern.
[FDP]: Schlaumeier!)
(B) (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Schauen Sie mal (D)
– Danke für das Kompliment. nach vorne! Alles Veteranengeschichten!)
Wir haben in diesen Tagen „Empfehlungen zur Be- Wir warten auf eine entsprechende Initiative zur Ände-
wertung und Steuerung von Forschungsleistungen“ des rung des Grundgesetzes. Dann kann auch der Bund wie-
Wissenschaftsrates auf den Tisch bekommen. Am An- der einen Beitrag leisten, wie es unter Rot-Grün der Fall
fang dachte ich, es sei Zufall, dass wir diese Empfehlun- war.
gen zu dieser Zeit bekommen haben. Aber dieses Papier Der nächste Punkt: das BAföG. Ja, wir sind Freunde
enthält eine ganze Menge guter Ratschläge, wie man des BAföG. Ich habe allerdings noch Presseausschnitte
Forschungsleistungen steuern kann. aus dem Jahr 2005 zu Hause, Frau Schavan,
Einen Aspekt fand ich besonders interessant: eine (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Noch mehr
Warnung vor „Tonnenideologie“ – das ist ein wörtliches Veteranengeschichten!)
Zitat –, also eine Warnung vor dem Glauben, dass man
über einen Zuwachs an Quantität quasi einen Zuwachs die belegen, dass Sie damals sagten: Der Union ist nicht
an Leistung oder sogar Qualität erzielt. Das ist ein gro- am BAföG gelegen. Aber wir werden es aufrechterhal-
ßer Irrtum; da muss man vorsichtig sein. ten, weil sich die SPD dafür einsetzt, dass es erhalten
bleibt. – Sie können uns also nicht vorwerfen, dass die
Bei einigen Reden der Koalitionäre vorhin ist mir klar Zuwächse zur Zeit der Großen Koalition nur klein wa-
geworden, warum wir diese Empfehlung des Wissen- ren. Ich habe diese Zeitungsausschnitte, wie gesagt, zu
schaftsrates zu dieser Zeit bekommen haben. Ich weiß Hause, Frau Schavan. Das fand ich nämlich sehr span-
nicht, welchen Eindruck die Zuschauerinnen und Zu- nend.
schauer mit nach Hause nehmen, wenn sie hören, dass
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Jetzt aber mal
wir hier 300 Millionen Euro und da 5 Millionen Euro in-
nach vorne schauen!)
vestieren. Das alles sind große Zahlen, sie bedeuten gute
Zuwächse. Aber die Frage ist: Was wird bleiben, und in Diese Pirouetten – die Hauptschule wollt ihr ja auch
welche Richtung geht es? Ich muss Ihrem ehemaligen abschaffen; aber das ist okay – drehen Sie leider nicht
Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl wirklich recht geben: aus innerer Überzeugung, sondern weil Sie, wie ich
Diese Regierung hat keinen Kompass und keinen Plan. glaube, einen bitteren Überlebenskampf führen
Wenn Sie ihn hätten, hätten Sie gesagt, wohin die Reise
(Beifall bei der SPD)
gehen soll und wie es weitergehen soll. Aber diese Re-
gierung hat, wie gesagt, keinen Kompass. Ich hoffe, dass und auf das, was Tag für Tag passiert, reagieren müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17141
René Röspel
(A) Nun zum Forschungsbereich. Jahrelang haben Sie Das zweite Beispiel. Wir meinen, dass es an der Zeit (C)
sich für die Atomenergie eingesetzt und es den erneuer- ist, Verbraucherforschung zu betreiben und die entspre-
baren Energien an allen Ecken und Enden schwer ge- chenden Informationen aufzuarbeiten. Dafür haben wir
macht. Es mussten erst Fukushima und die Proteste in nur 5 Millionen Euro verlangt. Die Koalition hat dies ab-
der Bevölkerung kommen, bis Sie sich gezwungen fühl- gelehnt.
ten, eine Energiewende einzuleiten.
Das dritte Beispiel. Wir wissen seit dem letzten Tier-
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie reden unter schutzbericht, dass die Zahl der Tierversuche in
Ihrem Niveau!) Deutschland zunimmt. Wir wollten, dass nur 4 Millionen
Euro für die Entwicklung von Alternativen zu Tierversu-
Das war richtig. Wir freuen uns – Frau Kollegin Kotting- chen bereitgestellt werden. Sie haben das abgelehnt.
Uhl hat das ausgeführt –, dass es im Haushaltsansatz für
diesen Bereich mehr Mittel zu geben scheint. Wenn man Viertes Beispiel. Den Bereich Arbeits-, Dienstleis-
genau hinsieht, stellt man aber fest: Es gibt da eine tungs- und Produktivitätsforschung – ein für Deutsch-
kleine Fußnote. Es heißt nämlich immer: unter Berück- land sehr wichtiger Bereich – streichen Sie gerade zu-
sichtigung der Umsetzung dieser Mittel in den Energie- sammen. In einem Brandbrief hat die DGB-
und Klimafonds. Das ist eine interessante Verschiebung. Vizevorsitzende, Ihre Unionskollegin Frau Sehrbrock,
gefordert, das nicht zu tun und in diesen Bereich, in eine
Was ist der Energie- und Klimafonds? Er ist der beste der großen Chancen Deutschlands, mehr zu investieren.
Inbegriff für heiße Luft.
(Beifall bei der SPD)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Mein letztes Beispiel ist die Friedens- und Konflikt-
In den Energie- und Klimafonds wandern nämlich die forschung. Wer begreift, wie wichtig es in dieser Welt
Erträge aus dem Emissionshandel, aus dem Handel mit ist, Konflikte von vornherein zu erkennen, zu beseitigen
Kohlendioxidzertifikaten. Wir wissen überhaupt noch und eine entsprechende Forschung zu betreiben, der
nicht, wie hoch die Erträge, die hier anfallen, sein wer- muss in diese Forschung investieren. Wir haben bean-
den. Sie aber wollen mit diesem Etat, der unsicher und tragt, nur 5 Millionen Euro bereitzustellen, um das Stif-
konjunkturabhängig ist – außerdem wissen wir nicht, tungskapital zu erhöhen. Sie haben das wieder abge-
wie sich der Wert der Zertifikate entwickelt –, erneuer- lehnt.
bare Energien, Elektromobilität und vieles andere mehr
finanzieren. Dieser Etat ist also überzeichnet. Das ist Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
keine seriöse Haushaltspolitik. Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
(B) (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) René Röspel (SPD):
Ich komme zum Schluss. – 13 000 Millionen Euro be-
Wir wissen, dass wir als Opposition nicht die großen, trägt dieser Haushalt, aber 5 Millionen Euro für Frie-
langen Linien Ihres Haushaltsentwurfes verändern kön- dens- und Konfliktforschung sind Ihnen zu viel. Das
nen. Aber an der einen oder anderen Stelle kann For- kann keine finanziellen, sondern nur politische Gründe
schungspolitik, wie ich finde, auch Impulse setzen. Ich haben. Deutschland braucht keine Tonnenideologie, son-
will fünf Beispiele anführen, die wir als SPD-Fraktion dern eine Forschung, die für die Menschen in diesem
benannt haben, weil sie unserer Meinung nach richtige Land da ist.
Impulse für die Forschungspolitik setzen.
Vielen Dank.
Das erste Beispiel – als wäre es bestellt gewesen –:
Einige von uns haben gestern mit Wissenschaftlern und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Abgeordneten aus Peru zusammengesessen, weil diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe
Interesse daran haben, zu lernen, wie Wissenschaft in Schummer [CDU/CSU]: Das sehen wir auch
Deutschland funktioniert. Einer der Professoren hat so! – Gegenruf des Abg. René Röspel [SPD]:
deutlich gemacht, über welch reichhaltige Naturschätze Dann macht es auch so!)
Peru verfügt, und darauf hingewiesen, wie wichtig Bio-
diversität ist. Es wird nur möglich sein, diese Natur- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schätze kennenzulernen und einzuordnen, wenn es Men- Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kol-
schen gibt, die Arten bestimmen können. Dieses Fach, legin Anette Hübinger für die CDU/CSU-Fraktion das
die Taxonomie, mag für Sie eine Nische sein. Aber: Vor Wort.
zehn Jahren haben wir auch noch geglaubt, dass Elektro-
chemie eine Nische ist, und dieses Fachgebiet vernach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lässigt. Heute zeitigt diese Entscheidung dramatische
Folgen. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass nur 5 Mil- Anette Hübinger (CDU/CSU):
lionen Euro mehr für die Artenkundeforschung einge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
stellt werden. Das haben Sie leider abgelehnt. Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tri-
bünen und am Fernsehen!
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihre Redezeit
dürfte aber langsam abgelaufen sein!) (Zurufe: Abgeschaltet!)
17142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Anette Hübinger
(A) – Abgeschaltet? Schade. Eine Übertragung wäre not- Schwerpunkte eingebracht haben, trägt dieser Haushalt (C)
wendig gewesen. – Frau Kotting-Uhl, Sie haben wie auch unsere Handschrift.
Herr Röspel die fehlende Energieforschung angespro-
chen. Ich nenne nur die Haushaltszahl von 657 Millio- Jeder Bürger kommt im Laufe seines Lebens mit dem
nen Euro für die Energieforschung im Haushalt 2012. deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem oder auch
Als Rot-Grün den Atomausstieg beschlossen hat, lag Wissenschafts- und Forschungssystem in Berührung
diese Zahl bei 407 Millionen Euro. oder ist Teil davon. Wir haben bei unseren Prioritäten
darauf geachtet, dass der Haushalt diesem Aspekt Rech-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE nung trägt. Deshalb reichen unsere Schwerpunkte von
GRÜNEN]: Die Frage ist: Wofür?) der Berufsorientierung während der Schulzeit über die
Berufsausbildung im dualen System oder während eines
Es sind jetzt 250 Millionen Euro mehr. Das bedeutet eine Hochschulstudiums bis hin zur beruflichen Weiterbil-
Steigerung. dung in späteren Lebensphasen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Klaus Hagemann [SPD]: Bei der Bundes-
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- agentur haben Sie die Mittel gestrichen!)
NEN]: Kernfusion!)
– Ich rede jetzt über den Einzelplan 30, mein lieber Herr
Wir werden auch diese Mittel sorgfältig für erneuerbare Kollege. Das sollten wir jetzt in den Mittelpunkt stellen.
Energien und andere Energiequellen verwenden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Lassen Sie mich als letzte Rednerin all die Dinge zu- neten der FDP)
sammenfassen, um die es hier geht. Wir haben einen Re-
kordhaushalt – das ist heute schon öfter festgestellt wor- Daran anknüpfend werden die Maßnahmen zur Stär-
den – von 13 Milliarden Euro für Bildung und kung der beruflichen Bildung um 22,5 Prozent auf
Forschung in 2012. Das ist der Beweis dafür, dass wir 170 Millionen Euro aufgestockt. Die Instandhaltung und
trotz oder vielleicht sogar wegen der Schuldenbremse Modernisierung der überbetrieblichen Berufsbildungs-
Bildung und Forschung eine große Priorität einräumen, stätten wurde mit 40 Millionen Euro im Haushalt fest
weil wir der Auffassung sind, dass darin die Zukunft un- verankert.
seres Landes liegt. Aufgrund doppelter Abiturjahrgänge und der Ausset-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zung der Wehrpflicht streben viele Studienanfänger an
der FDP) die deutschen Hochschulen; auch das wurde schon ange-
sprochen. Damit es keinen Mangel an Studienplätzen
(B) gibt, haben wir den Hochschulpakt erweitert. (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber es gibt
Kollegin Kotting-Uhl? doch einen Mangel!)
Es erfolgt eine Aufstockung um 60 Prozent. Das sind
Anette Hübinger (CDU/CSU): 1,4 Milliarden Euro. So groß war der Ansturm nicht, der
Im Moment nicht, danke. – Schaut man über den na- bewältigt werden musste, um ausreichend Studienplätze
tionalen Tellerrand hinaus, bekommt diese Steigerung zu schaffen.
eine zusätzliche Wertigkeit. Kein europäischer Partner,
kein Industrieland, nicht einmal die USA – das wurde Neben der Anzahl der Studienplätze spielt natürlich
schon angesprochen – haben solche Aufwüchse zu ver- auch die Qualität eine besondere, wenn nicht sogar die
zeichnen. Ganz im Gegenteil: Hier ist der Abschwung zu entscheidende Rolle. Auch hier kommt der Bund seiner
spüren. Verantwortung nach und investiert kräftig in die Ent-
wicklung des Hochschul- und Wissenschaftssystems.
Nun zu Kompass und Plan. Unser Ziel ist es, die
Wachstumskräfte in Deutschland bei gleichzeitiger Kon- Ob Qualitätspakt Lehre, die Weiterentwicklung des
solidierung unseres Haushaltes zu stärken. Wir nehmen Bologna-Prozesses oder das Themenfeld sozial- und
Geld für Dinge in die Hand, aus denen unsere Kinder geisteswissenschaftliche Forschung: Alle diese Vorha-
und Enkelkinder zukünftig Nutzen ziehen können, für ben erfahren im vorliegenden Haushalt einen beachtens-
Bereiche, wo wir die Zukunft Deutschlands maßgeblich werten Aufwuchs.
gestalten können; denn um international weiter in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ersten Liga spielen zu können, sind wir auf ein leistungs- der FDP)
fähiges Bildungs- und Wissenschaftssystem angewiesen.
Wir lassen in unserem Ausbildungssystem auch kei-
Der 11prozentige Aufwuchs im Einzelplan 30 ist so- nen jungen Menschen im Regen stehen. Bedürftigkeit
mit nicht um seiner selbst willen realisiert worden. Jeder und/oder besondere Leistungen bilden nach unserer
zusätzliche Euro wurde mit zukunftsträchtigen Maßnah- Auffassung die richtigen Kriterien für staatliche Unter-
men und Instrumenten hinterlegt. stützung. Deshalb stocken wir die Mittel für die Begab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tenförderung um über 20 Prozent auf. In die Studien-
finanzierung der Studierenden investieren wir 2012
Da wir uns als Parlamentarier der christlich-liberalen insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro. Diese Zahlen kön-
Koalition schon frühzeitig bei der Formulierung der nen sich sehen lassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17143
Anette Hübinger
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und chen deutlich. Das zeigt, dass wir eine Aufstockung (C)
der FDP) brauchten, die auch vorgenommen wurde, wie eben
schon ausgeführt.
Die Internationalisierung des Forschungssystems
stärken wir durch Mittelaufwüchse für den Studenten- Das zeigt aber auch, wie sehr Deutschland als For-
und Wissenschaftleraustausch; Herr Hagemann hat das schungs- und Wissenschaftsraum gewonnen hat. Nicht
schon angesprochen. Die beiden maßgeblichen Akteure, nur Bildung, sondern auch Forschung wird im Einzel-
die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der Deutsche plan 30 sichtbar gestärkt. Ich möchte in diesem Zusam-
Akademische Austauschdienst, erhalten im kommenden menhang die außeruniversitären Forschungseinrichtun-
Jahr 131 Millionen Euro. Dieser Betrag wurde in der Be- gen in Deutschland hervorheben. Wir wissen, dass wir
reinigungssitzung um weitere 4,1 Millionen Euro aufge- mit diesen Instituten wahre Leuchttürme haben und was
stockt. sie für die Internationalisierung der deutschen Wissen-
schafts- und Forschungslandschaft leisten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Gestern – Herr Röspel hat es angesprochen – war eine
Delegation aus Peru zu Besuch. Ich habe die Delega-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tionsgespräche so wahrgenommen, dass unser Know-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der how sehr gefragt ist und dass wir mit unserem Know-how
Kollegin Gohlke? in der Welt auch äußerst sichtbar geworden sind. Das ist
mit eine Folge dieser Institute, der Exzellenzinitiative
und unserer Anstrengungen, diese beiden Dinge sehr
Anette Hübinger (CDU/CSU): stark zu fördern.
Ja, bitte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Der jährliche Aufwuchs der Mittel um 5 Prozent für
Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – diese Wissenschaftsinstitute ist deshalb gut angelegtes
Sie haben gerade von der Qualität im Studium gespro- Geld. Mit diesem Aufwuchs senden wir nämlich auch
chen. Weil noch kein Redner darauf eingegangen ist, ein Zeichen dafür, dass wir für Stabilität stehen. Dieses
möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Sie setzen die Kos- Zeichen an die Wissenschaftscommunity ist von un-
ten pro Studienplatz mit 6 500 Euro an. Beim Statisti- schätzbarem Wert; denn andere Länder reduzieren die
schen Bundesamt sind sie anders berechnet worden, Forschungsbudgets, sowohl für den privaten als auch
nämlich mit 7 130 Euro. Aus meiner Sicht ist klar, dass den staatlichen Bereich.
(B) eine konstante Unterfinanzierung bei jedem Studienplatz Eine Änderung in der Bereinigungssitzung möchte (D)
zulasten der Qualität gehen muss. Darauf hätte ich gerne ich hier noch hervorheben: Die Nachfrage nach den In-
eine Antwort. strumenten zur Verbesserung der Berufsorientierung ab
der 7. Klasse ist höher als erwartet. Das freut uns; denn
Anette Hübinger (CDU/CSU): diese Nachfrage zeigt, dass mit der Berufseinstiegsbe-
Deswegen haben wir den Qualitätspakt Lehre verein- gleitung und der Potenzialanalyse Instrumente geschaf-
bart. Darüber hinaus müssen Sie zur Kenntnis nehmen: fen wurden, die den Bedürfnissen beim Übergang von
Nicht jeder Studienanfänger verlässt später die Hoch- der Schule in die berufliche Ausbildung gerecht werden.
schule so, wie wir es uns wünschen. Insofern ist unseres Die Aufstockung der dafür vorgesehenen Mittel um
Erachtens zunächst einmal eine Überfinanzierung gege- 15 Millionen Euro eröffnet vielen Jugendlichen eine
ben, neue Lebensperspektive.
(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wollen Sie, dass es noch mehr Studien- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
abbrecher gibt?) Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
weil bei den Ausgaben die Zahl der Studienanfänger zu-
grunde gelegt wird. Die Mittel werden fortgeschrieben, Anette Hübinger (CDU/CSU):
ohne dass eine Überprüfung erfolgt, ob eine entspre- Ja, danke. – Diese Anpassung an den Bedarf ist gut
chende Zahl von Studierenden tatsächlich ihren Ab- und richtig.
schluss macht. Damit wird auch Geld vom Bund in die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Hochschule gepumpt, ohne dass dies zu seinen originä- der FDP)
ren Aufgaben gehört. Ich denke, damit ist eine gute
Finanzierung gewährleistet. Auch die Länder sind nicht Der vorliegende Haushalt ist ein hervorragender
unzufrieden damit. Haushalt. Man kann ihn nur unterstützen, und ich bitte
auch um die Unterstützung der Opposition.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herzlichen Dank.
Zurück zur Internationalisierung: Die nochmals gestie-
gene Nachfrage nach Auslandsstipendien und die überaus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zahlreichen Anmeldungen zum Sofja-Kovalevskaja-Preis
wurden während des Kongresses der CDU/CSU-Frak- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
tion zum Thema Internationalisierung vor wenigen Wo- Ich schließe die Aussprache.
17144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 30 Innenausschuss (C)
– Bundesministerium für Bildung und Forschung – in Sportausschuss
Rechtsausschuss
der Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsan- Finanzausschuss
träge der Fraktion der SPD vor, über die wir zuerst ab- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
stimmen. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache Ausschuss für Arbeit und Soziales
17/7835? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Verteidigungsausschuss
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koali- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
tionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthal- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
tung von Linken und Grünen abgelehnt. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache Ausschuss für Bildung, Forschung und
17/7836? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Technikfolgenabschätzung
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Koalitionsfraktionen und der Grünen gegen die Stimmen Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
der SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Ausschuss für Kultur und Medien
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel- Haushaltsausschuss
plan 30 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? – Wer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 30 ist Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenom-
men. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt V sowie Zu-
satzpunkt 2 auf: (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
V Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
Joachim Spatz (FDP):
CSU und FDP
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU ren! Wir erleben hier ein Stück weit eine Neuerung; man
2014–2020 – Ein strategischer Rahmen für könnte auch sagen: eine historische Neuerung. Erstmals
nachhaltige und verantwortungsvolle Haus- wird ein Mehrjähriger Finanzrahmen nicht so verhandelt,
haltspolitik mit europäischem Mehrwert dass wir ein Ergebnis, das die Regierungen ausgehandelt
(B) (D)
– Drucksache 17/7767 – haben, nur mehr oder weniger kritisch begleiten dürfen,
sondern wir als Deutscher Bundestag können, unsere Be-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
teiligungsrechte nutzend, in der Verhandlungsphase un-
Auswärtiger Ausschuss sere Wünsche und Forderungen äußern und der Regie-
Innenausschuss rung unseren Rahmen vorgeben.
Sportausschuss
Rechtsausschuss Auch die SPD hat einen Antrag eingebracht. Mich
Finanzausschuss wundert aber Folgendes: Der Kollege Sarrazin fordert
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie immer ein, dass der Bundestag die Rechte, die er hat,
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
auch wahrnimmt. Jetzt fehlt ausgerechnet von den Grü-
Ausschuss für Arbeit und Soziales nen – wer bei euch auf der Bremse steht, weiß ich nicht –
Verteidigungsausschuss ein entsprechender Antrag. Das ist bedauerlich.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung der CDU/CSU)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Europa hat Zukunftsaufgaben zu bewältigen. Wir sind
Ausschuss für Bildung, Forschung und der Meinung, dass dabei der gültige Rahmen von 1 Pro-
Technikfolgenabschätzung zent des BNE auch in Zukunft eingehalten werden muss.
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Das wird zur Folge haben, dass einige Politikfelder neu
Ausschuss für Tourismus bewertet werden müssen. Das betrifft die Landwirt-
Ausschuss für Kultur und Medien schaft, die Kohäsionspolitik und Binnenfragen, Fragen,
Haushaltsausschuss die die europäische Verwaltung betreffen, zum Beispiel
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD das Beamtenstatut. Das machen wir, um notwendige Zu-
kunftsinvestitionen in Forschung und Technologie sowie
Für einen progressiven europäischen Haushalt – in die Entwicklung transnationaler Netze in den Berei-
Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU chen Verkehr, Energie und Kommunikations- und Infor-
2014–2020 mationstechnologien zu ermöglichen. Alle diese neuen
– Drucksache 17/7808 – Schwerpunkte müssen einen klaren europäischen Mehr-
Überweisungsvorschlag:
wert kreieren. Wenn das der Fall ist, können zusätzliche
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Mittel dafür bereitgestellt werden, wobei der vorgege-
Auswärtiger Ausschuss bene Rahmen insgesamt eingehalten werden muss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17145
Joachim Spatz
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten macht. Sie warten sehnsüchtig auf die Anträge der Grü- (C)
der CDU/CSU) nen, Sie loben unseren Antrag, aber Sie schweigen über
Ihren Koalitionspartner. Da schwant mir Schlimmes.
Wir lehnen die Forderungen nach Euro-Bonds ab.
Aber ich nehme es mit Gelassenheit; denn das, was wir
Auch in unserem Antrag gibt es ein klares Nein zu dieser
derzeit beim Mehrjährigen Finanzrahmen erleben, über-
falschen Zielrichtung. rascht uns nicht. Auch hier ist die Koalition zerstritten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Viola von Cramon-Taubadel (Joachim Spatz [FDP]: Das ist ein gemeinsa-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts ver- mer Antrag!)
standen! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Eine klare, einheitliche Position auf diesem wichtigen
Wir sprechen uns noch einmal!) europapolitischen Feld – Fehlanzeige.
Ich kann nur bekräftigen, was die Kanzlerin in Richtung (Joachim Spatz [FDP]: Sieben Seiten gemein-
von Herrn Barroso deutlich gemacht hat: dass endlich samer Antrag!)
Schluss sein muss mit der Forderung nach einem Finan-
zierungsinstrument, das für uns, aber auch für andere Das, was Sie derzeit betreiben, Herr Kollege Spatz,
Länder Europas schlicht und ergreifend nicht infrage ähnelt schon sehr der Quadratur des Kreises. In den
kommt. Sonntagsreden fordern Sie Sparen, strikte Ausgabendis-
ziplin und die Begrenzung des Haushalts der Europäi-
Genauso wenden wir uns gegen die Einführung einer schen Union auf maximal 1 Prozent des Bruttonational-
europäischen Steuer, egal ob sie direkt oder indirekt er- einkommens. Wenn es aber ans Eingemachte geht, wenn
hoben wird. Wir sind positiv überrascht, dass auch die es konkret um Sparen und Haushaltsumschichtungen
SPD in ihrem Antrag schreibt, dass dafür rechtliche und geht, bremsen und blockieren Sie. Das passt nicht ganz
politische Hürden gesetzt seien und das zum gegenwärti- zusammen.
gen Zeitpunkt nicht funktioniere. Man hört zwar bei die-
ser Formulierung das Bedauern heraus – deshalb ist es Sie sind kategorisch gegen alles. Sie sagen Nein zu
schon besser, man setzt in diesem Punkt auf die Koali- höheren Beitragszahlungen der Mitgliedstaaten. Sie sa-
tion –, aber für diesen Mehrjährigen Finanzrahmen, über gen Nein zur Reform der Eigenmittel. Sie sagen Nein zu
den schon im Laufe des nächsten Jahres ganz wesentlich Kürzungen und Umschichtungen in wesentlichen Fel-
und im übernächsten Jahr endgültig verhandelt wird, ist dern des Haushalts, und Sie sagen Nein zu weitreichen-
es ein positives Zeichen, dass sich die SPD auch hier ein den Reformschritten in der Agrar- und der Kohäsions-
Stück weit bewegt hat. politik.
(B) Zum Schluss noch ein Wort zur Finanztransaktion- (Joachim Spatz [FDP]: Haben Sie unsere An- (D)
steuer. Da gibt es die abwegige Überlegung, die Einnah- träge gelesen, Herr Kollege?)
men aus dieser Steuer in den europäischen Haushalt ein-
zuspeisen. Ich sehe schon unsere Kollegen nach London Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt nicht zusam-
fahren und sagen: Leute, die Steuer, die ihr sowieso nicht men. Damit tragen Sie zur Unglaubwürdigkeit Ihres ei-
wollt, dürft ihr gleich in Brüssel abliefern, und ihr dürft genen europapolitischen Handelns bei.
sie nicht in euren nationalen Haushalt überführen. – Wer (Beifall bei der SPD – Joachim Spatz [FDP]:
glaubt, dass das realistisch ist, Spärlicher Applaus!)
(Jörg van Essen [FDP]: Dem ist nicht zu
Wenn wir über den Mehrjährigen Finanzrahmen re-
helfen!)
den, der auf sieben Jahre angelegt ist, nämlich von 2014
den kann ich nur bewundern. bis 2020, dann kommen wir um die Agrar- und Kohä-
sionspolitik nicht herum. Das sind insgesamt 70 Prozent
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der der Ausgaben. Mich überrascht schon, mit welcher Kalt-
CDU/CSU) blütigkeit sich Frau Agrarministerin Aigner an die Spitze
Ich denke, dass eine europaweite und nicht nur eine der deutschen Agrarindustrie stellt. Denn alles, was bis-
Euro-Zonen-weite Einführung angestrebt werden soll. lang an weitreichenden Reformvorschlägen auf den
Die Einnahmen sollen aber in die nationalen Haushalte Tisch gekommen ist, wird von Schwarz-Gelb und der ei-
fließen, aus denen dann der jeweilige Anteil am Haus- genen Agrarministerin kategorisch vom Tisch gefegt.
halt der Europäischen Union finanziert wird.
(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
Danke schön. DIE GRÜNEN]: Eingesammelt! So ist es!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist mit uns nicht zu machen.
Aus unserer Sicht ist niemandem in der Europäischen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Union mehr zu erklären, warum die Direktzahlungen in
Das Wort hat nun Michael Roth für die SPD-Fraktion. der Agrarpolitik so unterschiedlich und so ungerecht er-
folgen, wie das derzeit der Fall ist. Wir haben auf der ei-
Michael Roth (Heringen) (SPD): nen Seite die Niederländer, die 458 Euro pro Hektar er-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! halten. Wir haben auf der anderen Seite die Letten, die
Werter Herr Spatz, irgendetwas haben wir falsch ge- gerade einmal 69 Euro pro Hektar an Direktzahlungen
17146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Michael Roth (Heringen)


(A) erhalten. Das hat mit europäischer Solidarität und Ge- Ein großer Skandal in der Europäischen Union ist, (C)
rechtigkeit nichts zu tun. dass es uns nicht gelingt, die Jugendarbeitslosigkeit in
einigen Mitgliedstaaten erfolgreich zu bekämpfen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD)
NEN)
Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von annähernd 50 Pro-
Sie machen Politik nach dem Motto: Wasch‘ mich, aber zent in Spanien und über 40 Prozent in Griechenland
mach‘ mich nicht nass. Und das geht nicht. Gerade ein- dürfen wir uns nicht wundern, wenn die betroffenen jun-
mal 3 Milliarden Euro sollen im Bereich der Agrarsub- gen Menschen ihre Hoffnungen auf ein solidarisches,
ventionen umgeschichtet werden. zukunftsgewandtes Europa aufgeben. Im Haushalt der
Europäischen Union muss sich widerspiegeln, dass nicht
(Joachim Spatz [FDP]: Quatsch!) allein die Mitgliedstaaten, sondern auch die Europäische
Sie kämpfen für die deutschen Landwirte – das ist Union etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit der jun-
völlig in Ordnung –, aber gleichzeitig sagen Sie, ohne gen Generation tut. Hierzu erwarten wir klare Beiträge.
Einsparungen funktioniere das nicht. Aber wie wollen
(Beifall bei der SPD)
Sie denn den mittel- und osteuropäischen Landwirten er-
klären, dass die Bauern in den überwiegend westeuro- In einem Punkt sind wir mit den Vorschlägen der EU-
päischen Ländern weiterhin viel mehr Geld erhalten als Kommission nicht einverstanden. Es kann nicht ange-
zum Beispiel der Bauer in Polen oder Lettland? hen, dass man versucht, über Schattenhaushalte das, wo-
für man keine Mittel in den regulären Haushalt einstellen
Die Kohäsionspolitik steht gerade in diesen Krisenzei-
kann, zu finanzieren. Es gibt inzwischen einen Europäi-
ten unter einem ganz besonderen Fokus. Die Kohäsions-
schen Entwicklungsfonds, einen Nothilfefonds, einen
politik bleibt für uns wichtig; denn sie ist ein zentrales In-
Globalisierungsfonds, einen Solidaritätsfonds und Reser-
strument, um insbesondere die Zukunftsinvestitionen in
ven für die Bewältigung von Krisen im Agrarsektor. Ins-
Beschäftigung und Nachhaltigkeit finanziell entspre-
gesamt handelt es sich um ein Budget von knapp 60 Mil-
chend auszustatten. Sie ist gerade auch in einer Zeit wich-
liarden Euro. Das alles muss aus unserer Sicht – wenn
tig, in der die notleidenden Staaten zu weitreichenden
man sich denn ehrlich machen will – in den regulären
Sparanstrengungen gezwungen sind. Aber Einsparungen
Haushalt überführt werden. Das ist für uns aus zweierlei
ohne Wachstum und Investitionen in Beschäftigung sind
Gründen wichtig: Zum einen leistet das einen Beitrag für
nicht zukunftsfähig. Insofern erwarten wir von der Euro-
mehr Transparenz. Zum anderen sorgt das für die not-
päischen Union und der Bundesregierung auch hier eine
wendige demokratische Legitimation; denn nur über den
entsprechende engagierte Unterstützung, damit die Kohä-
(B) sionspolitik ein wichtiger Schlüssel europäischer Struk- regulären Haushalt ist gesichert, dass das Europäische (D)
Parlament seine gewachsenen Rechte im Bereich des
turpolitik bleibt.
Haushaltsverfahrens wahrnehmen kann. Für uns ist mehr
(Beifall bei der SPD) Geld für die Europäische Union nur akzeptabel, wenn
das Europäische Parlament angemessen beteiligt wird,
Wir könnten uns hier durchaus eine Zusammenführung wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht.
von zwei Instrumenten vorstellen, nämlich auf der einen
Seite des Strukturfonds und auf der anderen Seite des (Beifall bei der SPD)
Kohäsionsfonds.
Herr Kollege Spatz, Sie haben den Britenrabatt ange-
Die neue Prioritätensetzung muss die eigentlich zen- sprochen. Hier sollten wir der Wahrheit ins Auge bli-
trale Botschaft für die Haushaltsentwicklung der Euro- cken: Diesen Rabatt haben diejenigen zu verantworten,
päischen Union ab 2014 sein. die das vor vielen Jahren ausgehandelt haben. Wie Sie
wissen, handelt es sich um einen Eigenmittelbeschluss,
Wir haben neue Zuständigkeiten gewonnen, auch der der Einstimmigkeit unterliegt. Das heißt, eine Ab-
durch den Lissabon-Vertrag. Aber diese neuen Zustän- schaffung oder eine Abmilderung des Britenrabatts ist
digkeiten müssen sich auch im Haushalt widerspiegeln: ohne die Zustimmung der Briten gar nicht realisierbar.
bei Energie, Klimawandel, Innovation, aber vor allem Das können wir zwar fordern. Aber ich gehe nicht davon
auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich aus, dass sich die Briten hier bewegen werden.
bin mir nicht sicher, ob das, was seitens der Kommission
derzeit an finanziellen Zuwächsen im Bereich der Au- Der Mehrjährige Finanzrahmen ist – das ist ein großer
ßen- und Sicherheitspolitik vorgesehen ist, ausreicht, um Schritt nach vorne und eine wesentliche Errungenschaft
der gewachsenen Erwartungserhaltung gegenüber der des Vertrags von Lissabon – nicht mehr allein Angele-
Europäischen Union in der Außen- und Sicherheitspoli- genheit der nationalen Regierungen. Vielmehr spielt
tik angemessen Rechnung zu tragen. auch hier das Europäische Parlament eine zentrale Rolle.
Ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments kann
Wir unterstützen ebenso, dass man die inhaltliche der Mehrjährige Finanzrahmen nicht in Kraft treten. Wir
Ausrichtung der Finanz- und Haushaltspolitik der Euro- hoffen seitens der SPD-Fraktion, dass diese größere de-
päischen Union stärker mit den Strategien in Überein- mokratische Legitimation zu besseren Ergebnissen führt.
stimmung zu bringen versucht. Da ist die Strategie Dabei sind wir uns allerdings noch nicht ganz sicher.
„Europa 2020“ von ganz zentraler Bedeutung. Hier muss
ein klarer Beitrag für mehr Wachstum und mehr Be- Ich will über einen anderen Punkt offen sprechen, bei
schäftigung geleistet werden. dem die Fraktionen weit auseinanderliegen; das ist auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17147
Michael Roth (Heringen)
(A) in Ihrem Redebeitrag, Herr Spatz, deutlich geworden. heute einen Antrag vorgelegt, übrigens, Herr Roth, einen (C)
Wenn wir uns vor Augen halten, dass der Mehrjährige Antrag mit ganz konkreten Punkten. Wir haben in unse-
Finanzrahmen bis 2020 Gültigkeit besitzt, fände ich es rem Antrag nicht bloß, wie die SPD, Überschriften ge-
verantwortungslos, wenn wir uns einer grundlegenden setzt wie „Einnahmeseite“ und „Ausgabenseite“; wir ha-
Reform des Eigenmittelregimes verweigern würden. Ich ben unseren Antrag ganz exakt inhaltlich gefüllt und
glaube, dass wir das derzeitige Eigenmittelregime nicht dargestellt, wie wir uns die Zukunft des Mehrjährigen
werden durchhalten können. Es ist nicht zukunftsfähig Finanzrahmens vorstellen; denn der Finanzrahmen setzt
und führt zu Ungerechtigkeiten. Ich hoffe, dass es hier die Schwerpunkte der Ausgaben für immerhin sieben
noch Bewegung gibt. Jahre fest. Das ist ganz entscheidend für die nachhaltige
Entwicklung innerhalb der Europäischen Union.
Sie werden uns weiterhin an Ihrer Seite haben, wenn
es um die Einführung einer Finanztransaktionsteuer Sie haben erwähnt: Die Kommission hat die Vor-
geht. Wir kämpfen selbstverständlich für eine Finanz- schläge vorgelegt. – Aber die Vorschläge finden teilweise
transaktionsteuer. Uns als SPD-Fraktion ist aber genauso nicht unsere Zustimmung. Man muss hier die Realität se-
klar: Wenn wir eine solche Steuer nicht EU-weit einfüh- hen und berücksichtigen, vor welchem Hintergrund die
ren können, dann müssen wir sie in der Euro-Zone Vorschläge gemacht werden.
durchsetzen. Wenn das auch in der Euro-Zone nicht
durchgesetzt werden kann, dann müssen eben Deutsch- Das Budget wird vor dem Hintergrund der größten
land, Frankreich, die Beneluxstaaten, Österreich und an- Staatsschuldenkrise weltweit und in Europa aufgestellt.
dere Staaten voranschreiten; denn es müssen endlich Deswegen ist es selbstverständlich, dass wir Ausgaben
auch die Verursacher der Krise an der Finanzierung der deckeln müssen und dass wir nicht einfach mehr ausge-
Bewältigung der Krise beteiligt werden. Das geht nur ben können.
mit einer Finanztransaktionsteuer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Gleichwohl müssen auch neue Aufgaben finanziell un-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tersetzt werden; das ist selbstverständlich. Deswegen
Die Probleme der derzeitigen Verhandlungen über müssen vernünftige Umschichtungen innerhalb des Etats
den Mehrjährigen Finanzrahmen liegen – Sie haben völ- vorgenommen werden.
lig recht, dass im Jahr 2012 nicht über alles entschieden (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
wird; ich befürchte, dass es erst Ende 2013 ans Einge- DIE GRÜNEN]: Aber vernünftig wenigstens!
machte geht – nicht alleine in Brüssel, sondern auch hier Das wäre ja schon mal was!)
in Berlin. Wer sonntags mehr Europa einfordert, aber
(B) dann von montags bis freitags einfordert, dass weniger Diese Umschichtungen haben auch ihre Logik im Hin- (D)
Geld nach Brüssel gezahlt werden soll, macht sich un- blick auf die Fortentwicklung der Europäischen Union
glaubwürdig. und im Hinblick auf die Integration der Mitgliedstaaten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Roth, es hat mich gefreut, dass Sie das Thema
DIE GRÜNEN) Transparenz angesprochen haben. Auch das findet sich
in unserem Antrag. Wir fordern mehr Nachweise über
Wer Kürzungen fordert, aber gleichzeitig die Koalition den Einsatz der Mittel. Hier ist die Informationspolitik
der Sparunwilligen in Brüssel anführt, der trägt nicht der EU noch etwas unbefriedigend. Das muss sich ver-
dazu bei, dass das Vertrauen in die Europäische Union bessern.
wächst. Das sollte aber eigentlich im gemeinsamen Inte-
resse aller Bundestagsfraktionen liegen. Hier wünschen Zu den Instrumenten der EU ist zu sagen: Viele In-
wir uns von Ihnen mehr Engagement und mehr Drive. strumente haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehn-
ten bewährt. Es besteht keine Veranlassung, bewährte In-
Vielen herzlichen Dank. strumente um der Reform willen abzuschaffen.
(Beifall bei der SPD) Ich möchte auf einige Schwerpunkte der Ausgaben-
bereiche eingehen:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Agrarpolitik ist im Hinblick auf den Anstieg der
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU- Weltbevölkerung und den erhöhten Nahrungsmittelbe-
Fraktion. darf selbstverständlich der größte Ausgabenposten. Hier
(Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin setzen wir uns für eine starke erste Säule und eine finan-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind aber ziell ausreichend untersetzte zweite Säule ein.
jetzt Vorschusslorbeeren!) (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Also bleibt alles so, wie es
Bettina Kudla (CDU/CSU): ist!)
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Wir lehnen Vorschläge ab, die eine Deckelung für Groß-
und Herren! Um was geht es heute in der Debatte? Es betriebe vorsehen.
geht um einen Betrag von über 1 000 Milliarden Euro.
Diesen Betrag will die EU in den Jahren 2014 bis 2020 (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE
ausgeben. Die Regierungsfraktionen haben dazu für GRÜNEN]: Also bleibt alles, wie es ist!)
17148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Bettina Kudla
(A) Wir wollen nicht mehr Bürokratie durch irgendwelche Um all diesen Ausgabenerfordernissen gerecht zu (C)
komplizierten Konstruktionen, werden, brauchen wir ein vernünftiges, stabiles und
planbares Einnahmesystem. Wir stehen auf dem Stand-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dafür haben punkt, dass sich das bisherige Einnahmesystem, das an
wir ja den Stoiber!) der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen
bei denen man entsprechende Lohnsummen abziehen Staaten ausgerichtet ist, bewährt hat.
muss, damit man eine Förderung bekommt. Das lehnen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wir ab.
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ich wundere Wir sprechen uns nicht für ein eigenes Steuererhe-
mich, dass Sie so ehrlich sind! Denn eigentlich bungsrecht der EU aus, und zwar aus mehreren Gründen.
wollen Sie nichts ändern!) Die Akzeptanz der Europäischen Union wird nicht bes-
ser, wenn wir die Bürger mit neuen Steuern belasten.
– Wir wollen sehr viel ändern. – Das haben Sie zum Bei-
spiel gar nicht erwähnt: Wir wollen Übergänge maßvoll (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
gestalten. Die Gestaltung der Übergänge ist deswegen so DIE GRÜNEN]: Natürlich! Die Sichtbarkeit
wichtig, damit durch die EU-Mittel eine wirklich nach- Europas wird besser!)
haltige Entwicklung eintritt. Es kann nicht sein, dass sich
Um mehr Akzeptanz zu erreichen, müssen wir Europa
Förderregionen, die in den letzten Jahren gerade über die
besser vermitteln, und wir müssen die Bürger mitneh-
Schwelle von 75 Prozent des durchschnittlichen BIP ge-
men. Zusätzliche Belastungen sind da keine Lösung.
rutscht sind, durch einen abrupten Abbruch der Förde-
rung rückwärts entwickeln und dann unter dieser Grenze (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
liegen. In dem Fall würden Fördermittel nicht sinnvoll
eingesetzt, und den Kommunen würden plötzlich erheb- Ein eigenes Einnahmerecht der Europäischen Union
liche Mittel fehlen. Deshalb treten wir für ein Sicher- würde auch das Risiko beinhalten, dass die EU eigene
heitsnetz von zwei Dritteln der Förderung ein. Das ist Schulden aufnimmt. Es wird ja viel über Fehler bei der
besonders für die neuen Bundesländer wichtig, muss Konstruktion der EU diskutiert. Aber es wurde auch sehr
aber unter der Maßgabe erfolgen, dass die Ausreichung viel richtig gemacht. Richtig war zum Beispiel, dass die
der Mittel degressiv gestaltet wird. EU keine eigenen Schulden aufnehmen darf. Dieses
Risiko würde aber bei einem eigenen Steuererhebungs-
Neue Förderregionen lehnen wir ab. Das würde För- recht entstehen.
derung nach dem Gießkannenprinzip bedeuten und hat
(B) zu wenig Mehrwert. (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ (D)
DIE GRÜNEN]: Warum das denn?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Angesichts des hohen Betrags der nicht ausgeschöpf- Wir treten ferner dafür ein – Herr Spatz hat es bereits
ten Mittel innerhalb des EU-Budgets wollen wir mehr erwähnt –, dass die Finanztransaktionsteuer in den natio-
Anreize dafür schaffen, dass die Mittel planmäßig und nalen Haushalten vereinnahmt wird. Schließlich haben
zügig abgerufen werden. Hier erwarten wir von der die nationalen Haushalte auch enorme Summen für Kon-
Kommission Vorschläge, wie in Zukunft verfahren wer- junkturpakete ausgegeben.
den soll. Gleichzeitig erwarten wir Vorschläge, wie mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der sogenannten Bugwelle dieser Mittel umgegangen
werden soll. Wir setzen uns ferner dafür ein, dass man einen ver-
Wir möchten, dass die Zukunftsbereiche innerhalb nünftigen Korrekturmechanismus, ein vernünftiges Ra-
des MFR gestärkt werden. Das muss bedeuten: Vorfahrt battsystem installiert. Unsere Nettozahlerposition darf
für Investitionen vor konsumtiven Ausgaben. Wir wol- sich nicht verschlechtern. Ich wundere mich schon, wie
len die Forschungsprogramme stärken. Wir wollen ins- leichtfertig die SPD in ihrem Antrag Positionen, die im
besondere die Infrastruktur verbessern. Hier werden im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger sind, einfach
Bereich der Verkehrsnetze, der Telekommunikation und aufgibt.
der Energienetze in den nächsten Jahren erhebliche In- Zusammenfassend darf ich sagen: Mit dem Antrag
vestitionen erforderlich sein. Deshalb sprechen wir uns fordern die CDU/CSU und die FDP die Bundesregierung
dafür aus, Modelle zu finden, bei denen privates Kapital auf, klare Eckpunkte in die Verhandlungen um den MFR
für öffentliche Investitionen mobilisiert werden kann. einzubringen.
Das führt teilweise zu einem doppelten Mehrwert: Inves-
titionen werden schneller durchgeführt, und der private Ich möchte schließen mit einem Dank an den Außen-
Investor hat dann unter Umständen ein besonderes Inte- minister, an den zuständigen Staatssekretär Dr. Hoyer
resse an der entsprechenden Region. Das bedeutet, zu- und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswär-
sätzliche private Investitionen werden in die Region ge- tigen Amt sowie im BMF, da ich weiß, dass hier intensiv
zogen. am MFR gearbeitet wird.
Aber wir sind auch für Transparenz. Wir wollen, dass Vielen Dank.
diese Projekte im Haushalt entsprechend abgebildet wer-
den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17149

(A) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Die finanzielle Ausstattung der Gemeinsamen Au- (C)
Das Wort hat nun Diether Dehm für die Fraktion Die ßen- und Sicherheitspolitik, GASP, verbinden Sie aus-
Linke. drücklich mit dem Anspruch auf eine bessere militäri-
sche Handlungsfähigkeit. Also, hier soll nicht gespart
(Beifall bei der LINKEN) werden. Sie wollen die Militarisierung der EU,

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): (Lachen bei der FDP)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ei- wir Linken wollen mehr Geld für friedliche Konfliktlö-
gentliche Problem ist doch: Deutscher Markt-Extremis- sung.
mus – –
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: Marx-Extremis-
mus? – Heiterkeit) Dann soll zugunsten des Forschungsatomreaktors
ITER bei anderen Forschungsprojekten gespart werden,
– Das fänden Sie schön: „Marx-Extremismus“. Nein! obwohl ITER frühestens 2050 Strom produziert – wenn
Deutscher Markt-Extremismus überhaupt. Obwohl auch ITER radioaktiven Müll bringt.
Toller Atomausstieg!
(Zurufe von der CDU/CSU: Ah!)
Sollten wir nicht statt ITER noch konsequenter erneu-
prägt auch den Mehrjährigen Finanzrahmen. Herr
erbare Energien fördern?
Kauder triumphierte unlängst: In Europa spricht man
jetzt wieder Deutsch. – Hat der Mann Fingerspitzenge- Generell steht bei europäischen Forschungsprojekten
fühl? als Vergabekriterium im Bereich Forschung ausdrück-
lich die Marktrelevanz im Vordergrund. Wann begreifen
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie endlich, dass Marktrelevanz und gesellschaftlicher
Meinte er Hochdeutsch?, ist die Frage!) Nutzen zwei völlig getrennte Dinge sind?
Am deutschen Lohndumpingwesen soll wohl Europa ge- (Beifall bei der LINKEN)
nesen. Aber auf den Straßen skandieren die Menschen
Griechisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und – wie Unter Punkt 17 Ihres Antrags propagieren Sie öffent-
heute beim Generalstreik in Portugal – Portugiesisch. lich-private Partnerschaftsmodelle für die Finanzierung
Und das ist auch gut so. von Infrastrukturprojekten. Haben Sie noch nie etwas
von einer Stadt namens Berlin gehört? Deren Wasser-
(Beifall bei der LINKEN) preise sind jetzt vom Bundeskartellamt ins Visier ge-
(B) Die Unterordnung demokratischer Souveränität und nommen worden. (D)
Sozialstaatlichkeit unter die Rettungsprogramme für (Lachen bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Großspekulanten und Finanzhaie durchzieht den Koali- Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
tionsantrag. Die Deckelung der Ausgaben auf 1 Prozent GRÜNEN]: Ich glaube, ich weiß, wer da lange
des Bruttonationaleinkommens wird als Ausdruck der regiert hat!)
Stabilität gepriesen. Was die Deckelung aber tatsächlich
bedeutet, kann man bereits bei der Einigung auf den EU- Auch Teilprivatisierung ist ein Brandbeschleuniger für
Haushalt 2012 sehen. Dieser wird um 1,86 Prozent Preise.
wachsen. Bei einer allgemein prognostizierten Infla-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
tionsrate von 2 Prozent haben wir es also de facto mit ei-
ner Schrumpfung zu tun – und das, obwohl Griechen- Zum Sparen bleibt dann also nur noch die Kohäsions-
land, Spanien, Italien nichts so dringend brauchen wie politik,
frisches Geld in der Realwirtschaft.
(Joachim Spatz [FDP]: Berlin, wer war denn
(Beifall bei der LINKEN) das?)
Auch die geforderte Integration der bestehenden der EU-Haushaltsbereich, der auf die Lebenswirklich-
Schattenhaushalte bedeutet, dass an anderen Stellen ge- keit und die Realinvestitionen in wirtschaftlich darnie-
kürzt werden muss. Konkret reden wir hier von einem derliegenden Regionen die unmittelbarsten Auswirkun-
Volumen von 58 Milliarden Euro. Die wichtige Frage ist gen hat. Indem Kohäsionspolitik nun aber konditioniert
dann: Wo soll gekürzt werden? wird und in relevanten Teilen auf revolvierende Fonds
– also Fonds, deren Ressourcen aus damit finanzierten
Berechnungen aus Bundesministerien besagen, dass
Projekten aufgefüllt werden – umgestellt werden soll,
bei der Integration der außerhalb des Agrarbudgets ste-
wird erneut offenkundig, dass das Soziale bei Ihnen auf
henden Finanzierungselemente die tatsächlichen Ausga-
entwürdigendste Weise dem Wettbewerb untergepflügt
ben für die Gemeinsame Agrarpolitik bis 2020 nicht auf
wird.
ein Drittel des gesamten EU-Budgets sinken, im Gegen-
teil: Sie werden noch um 10 Prozent über den bisherigen Konkret sagt die EU-Kommission über den Europäi-
Ausgaben liegen. Aber das kommt eben nicht regionalen schen Sozialfonds – ich zitiere –: Er ist
Kreisläufen zugute, sondern Großagrariern.
das Hauptfinanzinstrument der Europäischen Union
(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE für die Investition in Menschen. Er verbessert die
GRÜNEN]: Das stimmt! Da hat er recht!) Beschäftigungsmöglichkeiten europäischer Bürger,
17150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Diether Dehm


(A) fördert eine bessere Bildung und verbessert die Wenn wir dieses Fundament noch beschneiden, ist die (C)
Lage der am stärksten armutsgefährdeten Men- EU nicht mehr handlungsfähig. Das wollen wir nicht.
schen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wer aber Armutsbekämpfung rentabel und selbstfinan- sowie bei Abgeordneten der SPD)
zierend machen will, der handelt menschenverachtend.
Außerdem darf man nicht vergessen – was auch Sie
(Beifall bei der LINKEN) und die Bundesregierung ebenso wie viele andere Mit-
gliedstaaten nicht sagen –, dass Kosten auf den EU-
Wer dabei die superreichen Reeder in Griechenland
Haushalt abgewälzt wurden. Das Europäische Parla-
und die Ackermänner in Deutschland steuerlich schont,
ment, dessen Kosten früher aus dem Haushalt der natio-
zerstört den Euro und die europäische Integration. Ihr
nalen Parlamente bestritten wurden, wird jetzt vollstän-
Dogma vom hemmungslosen Wettbewerb ist und bleibt
dig über den EU-Haushalt finanziert,
antieuropäisch.
(Joachim Spatz [FDP]: Das wird ein Betrag
(Beifall bei der LINKEN)
sein!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und dadurch haben wir dort netto höhere Kosten. Das ist
Das Wort hat nun Viola von Cramon-Taubadel von einfach so. Der EU-Haushalt wurde in dem Zeitraum
Bündnis 90/Die Grünen. aber nicht erhöht.
Es gibt sicherlich Möglichkeiten, die Synergien, also
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE den europäischen Mehrwert, zu nutzen. Darüber haben
GRÜNEN): wir häufig gesprochen. Obwohl es eine EU-Delegation
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! gibt, obwohl es einen Europäischen Auswärtigen Dienst
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Link hat be- gibt, gibt es nach wie vor in jedem Land 27 Botschaften,
reits gestern in den Haushaltsberatungen nach dem 27 nationale Vertretungen. Das ist auf Dauer nicht zu
„Wunschkonzert der Grünen“ gefragt. Kollege Spatz hat halten. Hier müssen wir mit unserem Auswärtigen Amt
heute noch einmal darauf hingewiesen, dass Sie sich umdenken. Wir müssen uns bewegen und sagen: An die-
sehr darauf freuen. Da die Vorfreude die schönste Freude ser Stelle können wir Kräfte bündeln, an jener Stelle
ist, müssen Sie sich leider noch etwas gedulden. Es gibt können wir sparen; hier wollen wir zusammenfassen.
einen grünen Antrag, aber noch nicht heute.
Das Gleiche gilt für die EU-Finanzaufsicht. Wir ha-
(Joachim Spatz [FDP]: Wow! Nicht vor 2013!) ben zurzeit drei Behörden. Die können zusammenarbei-
(B) ten, die können kooperieren. Wir können diese Kräfte (D)
Nun zur Sache: Europa und Finanzen – das ist im Mo- bündeln, indem wir von der nationalen Ebene Kräfte zu-
ment kein leichtes Thema. Damit lässt sich weder in rückziehen und das auf die EU-Ebene übertragen. Da-
Berlin noch in anderen Hauptstädten derzeit ein Blumen- durch können wir an dieser Stelle sicherlich Kosten spa-
topf gewinnen. Und dabei ist – angesichts der immensen ren; das liegt in unser aller Interesse.
Herausforderungen, die vor uns liegen – ein klug aufge-
stellter EU-Haushalt mit ausreichend Manövriermasse (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
besonders wichtig, um diese Krise zu bewältigen und um Joachim Spatz [FDP]: Effizienzsteigerungen
langfristig eine stabile EU-Politik zu gewährleisten. haben wir drin!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt – wir haben das häufig angespro-
chen –: das ungerechte und vollkommen undurchsichtige
Damit komme ich zum ersten Punkt: der Einnahme-
Rabattsystem. Es ist kein Geheimnis, dass auch Deutsch-
seite. Wer die EU zukunftssicher aufstellen will, wer
land in großem Maße davon profitiert. Niemand versteht
grüne Arbeitsplätze schaffen will, wer die EU weiterhin
es. Daher ist unsere Forderung: Setzen Sie sich endlich
als Global Player sehen möchte und vor allem wer mit
für einen transparenten und fairen Haushalt ein, den
dem europäischen Mehrwert arbeiten möchte, sollte
nicht nur wir Politikerinnen und Politiker, sondern auch
nicht unter der Höhe des aktuellen Finanzrahmens
jede Bürgerin und jeder Bürger in der Europäischen
– nämlich 1,12 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU –
Union irgendwann einmal nachvollziehen kann.
bleiben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Denn während früher noch – das ist noch gar nicht so
Der dritte Punkt, der immer wieder unter den Tisch
lange her – die Töpfe der EU vor allem durch Zölle und
fällt: die Frage der Nettozahlerposition in der EU. Wir
Agrarabschöpfungen gefüllt wurden, existieren diese
haben gelernt, dass man damit an Stammtischen sehr gut
Quellen nicht mehr. Was früher einmal – wie die besag-
Politik machen kann. Fakt ist allerdings, dass sich die
ten 1,12 Prozent des BNE – als residual, also als ergän-
Nettozahlerposition in den letzten 10 bis 15 Jahren deut-
zende Finanzierung, gedacht war, macht mittlerweile
lich zugunsten Deutschlands verändert hat: Während wir
fast das vollständige Fundament des EU-Haushalts aus.
1994 noch knapp 11,3 Milliarden Euro netto eingezahlt
(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Sicherlich haben, zahlen wir jetzt nur noch gut 8 Milliarden Euro
gibt es noch Zölle! Was glauben Sie eigent- ein. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Das wird aber
lich!) nicht erwähnt, weil es schicker und angenehmer ist, mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17151
Viola von Cramon-Taubadel
(A) der Nettozahlerposition zu kokettieren und zu sagen, dafür, dass es um den Schutz und die Integration von (C)
dass wir in Europa die größte Leistung erbringen. Das ist Flüchtlingen und besonders Schutzbedürftigen geht. Das
allerdings nicht mehr so. ist uns ein besonderes Anliegen, damit die Menschen-
rechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern am Ende
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)
auch umgesetzt werden.
Der vierte Punkt. Ich glaube, Frau Kudla hat da noch
nicht so ganz verstanden, worum es eigentlich geht. Na- Vielen Dank.
türlich benötigen wir eine finanzielle Autonomie der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU; natürlich benötigen wir eigene EU-Steuern. Die Lo- sowie bei Abgeordneten der SPD)
gik, dass eigene EU-Steuern gleich zu mehr Schulden
oder überhaupt zu Schulden im Haushalt führen sollen,
hat sich mir aber nicht erschlossen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU-Fraktion.
sowie bei Abgeordneten der SPD – Thomas
Silberhorn [CDU/CSU]: Sie haben es nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
verstanden, Frau Kollegin!) neten der FDP)
Wir wollen selbstverständlich eine Finanzmarkttrans-
aktionsteuer, und wir wollen eine Mindestenergiesteuer. Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Das schafft mehr Klarheit, das schafft Identität für Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa. Wenn unsere geneigten Zuhörerinnen und Zuhörer ver-
nehmen, was die Vertreter der Opposition heute verkün-
(Joachim Spatz [FDP]: „Das schafft … Identi- den, dann wird ihnen, glaube ich, deutlich: Wir können
tät“? Steueridentität? – Weiterer Zuruf von der froh sein, dass die Union und die FDP regieren.
FDP: Abkassieridentität!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Damit können wir wichtige Klima- und Entwicklungs-
der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD –
projekte finanzieren.
Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist eine
Was die Ausgabenseite des EU-Haushalts betrifft: Für Minderheitsmeinung! – Michael Roth [Herin-
uns Grüne ist natürlich klar: Wenn wir umsteuern wol- gen] [SPD]: Das aus deinem Mund! Und to-
len, dann müssen wir nicht nur mit der deutschen Wirt- sender Beifall!)
schaft umsteuern, sondern im großen Stil. Dazu brau-
(B) chen wir auf EU-Ebene einen Green New Deal. Sie predigen hier Ausgabenorgien – 1,12 Prozent des (D)
Bruttonationaleinkommens –; Sie fordern neue Einnah-
(Joachim Spatz [FDP]: Habe ich das richtig mequellen der Europäischen Union. Für Euro-Bonds
verstanden? Sie wollen eine Wirtschafts- und die Vergemeinschaftung der Schulden sind Sie so-
steuer?) wieso. Sagen Sie: Auf welchem Planeten leben Sie ei-
Dieser Umbau zu einem nachhaltigen und integrativen gentlich? Haben Sie noch nicht gemerkt, dass alle Mit-
Europa – EU 2020 – muss sich wie ein grüner Faden gliedstaaten der Europäischen Union ernsthaft bemüht
durch den gesamten Haushalt ziehen: Angefangen von sind, ihre Haushalte zu konsolidieren und gravierende
der Agrarpolitik über die Struktur- und Kohäsionspolitik Strukturreformen zu unternehmen?
wollen wir reformieren. Geld darf es nur noch für jene (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geben, die beim umweltpolitischen Umbau mitmachen NEN]: Sie wollen das nicht! Der Mitgliedstaat
wollen, nicht für jene, die unsere Lebensgrundlagen, un- Deutschland ist nicht ernsthaft bemüht, den
sere Ressourcen verschwenden oder sogar vernichten. Haushalt zu konsolidieren! Sie konsolidieren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Haushalt nicht! Das haben Sie offenkun-
und bei der SPD) dig nicht vor! – Viola von Cramon-Taubadel
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Nettokre-
Für uns bedeutet das: nicht in alte Wachstumsideale, ditaufnahme ist gerade auf 27 Milliarden ge-
nicht in Beton investieren. Wir wollen Köpfe und Know- stiegen!)
how sowie bildungs- und sozialpolitische Teilhabe för-
dern. Das ist die Zukunft der EU. Die Europäische Union muss selbstverständlich eben-
falls auf diesen Sparkurs getrimmt werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. neten der FDP)
(Joachim Spatz [FDP]: Gott sei Dank!) Die Kommission schlägt vor, eine Ausgabenober-
grenze von 1,05 Prozent des Bruttonationaleinkommens
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE festzulegen. Sie verschweigt dabei, dass sie weitere
GRÜNEN): 58 Milliarden Euro in Schattenhaushalten vergraben hat.
Der innenpolitische Haushalt macht uns große Sor- Deshalb ist unsere erste Forderung: Schluss mit solchen
gen. Wir befürchten, dass es hier wieder vorwiegend um Tricksereien! Wir fordern Wahrheit und Klarheit im
Flüchtlingsabwehr und Grenzsicherung geht. Sorgen Sie Haushalt.
17152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Thomas Silberhorn
(A) (Beifall des Abg. Michael Stübgen [CDU/ Das Steueraufkommen muss aber bei den Mitgliedstaa- (C)
CSU]) ten liegen. Wir haben eine Mehrwertsteuerquelle. Es ist
aber richtig, dass die Beiträge aus der Mehrwertsteuer
Alle Ausgaben müssen transparent im EU-Haushalt offen- von den Mitgliedstaaten an die Europäische Union über-
gelegt werden. Sagen wir es deshalb deutlich: Der Vor- wiesen werden und diese nicht ein eigenes Steuererhe-
schlag der Kommission sieht Ausgaben von 1,11 Prozent bungsrecht erhält. Es ist doch klar, was passieren wird,
des Bruttonationaleinkommens vor; das übersteigt die wenn man der Europäischen Union ein Steuererhebungs-
jetzige Obergrenze von 1 Prozent. Das macht einen Un- recht gibt. Auf europäischer Ebene werden sich alle ei-
terschied: 1 083 Milliarden Euro gegenüber 971 Milliar- nig sein, dass man mehr Geld einnehmen muss.
den Euro. Das ist eine Differenz von 112 Milliarden
Euro in 7 Jahren. Wenn Sie das durch sieben teilen und (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
einen deutschen Anteil von einem Viertel nehmen, kom- NEN]: Herr Silberhorn, das ist doch unter Ih-
men Sie auf eine Differenz, die für Deutschland jedes rem Niveau!)
Jahr etwa 4 Milliarden Euro ausmacht. Wir reden hier
nicht über Kleinigkeiten. Deswegen ist es richtig, dass Niemand wird darüber nachdenken, wie man Ausgaben
wir als Koalition daran festhalten: Die Ausgabenober- sparen kann, sondern man wird schlichtweg beschließen,
grenze liegt bei 1,0 Prozent des Bruttonationaleinkom- wie man Einnahmen hereinholt. Der Weg von Brüssel in
mens der EU. die Hauptstädte ist manchmal schon lang, aber der Weg
von Brüssel zum Bürger ist noch viel länger. Deswegen
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wo wollen halten wir daran fest: Die Steuererhebungskompetenz
Sie denn sparen?) muss bei den Mitgliedstaaten liegen. Wir wollen keine
Selbstbedienung der Europäischen Union mit eigenen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Steuern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Kollegen Sarrazin? Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch nicht!)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Ich würde das gerne im Zusammenhang ausführen. Dass der Weg von eigenen Steuern in die Verschuldung
Wenn Sie sich nachher noch einmal melden, dann viel- nicht weit wäre,
leicht. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Zurufe von der SPD: Oh!) NEN]: Das zeigt Ihr Haushalt!)
(B) (D)
Meine Damen und Herren, der Haushalt der Europäi- Frau Vorrednerin, ist doch völlig klar. Man hat schon
schen Union wird nicht kleiner, wenn wir die Ausgaben- über den Euro-Rettungsschirm die Möglichkeit eröffnet,
obergrenze auf 1,0 Prozent begrenzen. Der Ausgabenzu- Schuldscheine zu begeben.
wachs der Europäischen Union liegt darin begründet,
Der große Vorteil der Finanzierung der Europäischen
dass das Bruttonationaleinkommen der Bezugsrahmen
Union besteht darin, dass aufgrund der Beitragsfinanzie-
ist. Wenn es also eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, rung auf europäischer Ebene keine Schulden gemacht
steigt der Haushalt der Europäischen Union nominal. Wir
werden können. Wenn Sie jetzt auf der Einnahmeseite
haben einen automatischen Inflationsausgleich im euro-
ein Fass aufmachen, ist man natürlich nicht weit davon
päischen Haushalt – etwas, was wir im Bundeshaushalt entfernt, Kredite aufzunehmen bzw. sich zu verschulden.
nicht haben und was andere Mitgliedstaaten überhaupt
nicht kennen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist schlichtweg Quatsch! – Axel
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist aber weit
NEN]: So ein Quatsch!)
unter Ihrem Niveau!)
Das muss natürlich Berücksichtigung finden, wenn wir
über die Ausgabenobergrenze reden. Das wäre das völlig falsche Signal. Wir sind doch gerade
in allen Mitgliedstaaten auf dem Weg, die Haushalte zu
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- konsolidieren und die Schulden abzubauen. Sie aber
neten der FDP) wollen mit neuen Steuern und Schulden in der Europäi-
schen Union ein neues Fass aufmachen. Das ist ganz si-
Die Kommission – das muss nicht überraschen – wird cher nicht der richtige Weg.
nicht müde, wieder und wieder eigene Einnahmequellen
bzw. neue Steuern der Europäischen Union vorzuschla- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gen. NEN]: Was ist denn mit den bayerischen Bau-
ern?)
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Gucken Sie mal in die Mifrifi!) Der Koalitionsvertrag sieht zwei Punkte vor, die wir
Auch wir sind für eine Finanztransaktionsteuer – oder erstmals in einen Zusammenhang mit dem Mehrjährigen
sagen wir besser: Finanzaktivitätsteuer. Finanzrahmen stellen. Dabei geht es um die Agenturen
und vielfältigen sonstigen Verwaltungsstellen der Euro-
(Zurufe von der SPD: Oh!) päischen Union,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17153
Thomas Silberhorn
(A) (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- überhaupt nicht angetreten wird, werden die Kosten er- (C)
NEN]: Sagen Sie mal etwas zu den bayeri- stattet. Ohne Beamten-Bashing zu betreiben: Diese Aus-
schen Bauern!) wüchse muss man klar benennen.
und es handelt sich um die Bediensteten der Europäi- (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ist es!)
schen Union.
Ich erwarte das klare Signal, dass es so nicht weiterge-
In diesem Hohen Hause haben wir immer wieder in hen kann. Die Bediensteten der Europäischen Union
vielen Ausschüssen gegenüber Vertretern der Kommis- müssen sich an den Standards, die in den nationalen Ver-
sion und vielen anderen deutlich gemacht: Wir möchten, waltungen gelten, orientieren. Deswegen ist es richtig,
dass die europäische Verwaltung nicht ausufert, mäand- dass wir auch diese Forderung in einen Zusammenhang
riert und viele neue Satelliteneinrichtungen schafft, son- mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen stellen.
dern wir legen Wert auf eine integrierte Verwaltung.
Deswegen muss jede Stelle, die in der Europäischen Das Gleiche gilt für die jährlichen Gehaltsanpassun-
Union Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, einer Erfolgs- gen. Die Europäische Union gewährt einen nahezu auto-
bzw. Zielkontrolle unterliegen. matischen Inflationsausgleich. Wir müssen dafür sorgen,
dass die Gehaltsanpassungen die wirtschaftliche Ent-
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wicklung in den Mitgliedstaaten realistisch wiedergeben.
NEN]: ITER!) Auch ein politischer Ermessensspielraum muss zugelas-
Wir wollen Zielvereinbarungen für jede dieser Agentu- sen werden.
ren und sonstigen Einrichtungen, und wir wollen, dass Gestatten Sie mir ein letztes Wort zu den Euro-Bonds.
vereinbart wird, mit welchen Haushaltsmitteln und wel- Wir werden uns hier mit der Opposition nicht einig wer-
chem Personal welche Ergebnisse erzielt werden. Weiter den.
wollen wir auch, dass alle diese Einrichtungen unter der
Aufsicht eines politischen Organs bzw. eines Kommis- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sars stehen und sich nicht verselbständigen. NEN]: Abwarten! Topp, die Wette gilt! –
Heinz-Joachim Barchmann [SPD]: Abwar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten!)
Deswegen ist es, glaube ich, richtig und ein wichtiges Si-
gnal, dass wir diese Verwaltungspraxis der Europäischen Wenn Sie mir noch eine Bemerkung gestatten, Frau Prä-
Union in einen direkten Zusammenhang mit der Finan- sidentin: Wir hatten als Folge der Währungsunion eine
zierung derselben stellen. Deswegen finden sich unsere Zinskonvergenz, die Ursache dafür war, dass die Haus-
Aussagen zu Agenturen und Verwaltungsstellen in die- haltsdisziplin nachgelassen hat. Jetzt haben wir wieder
(B)
sem Antrag zum Mehrjährigen Finanzrahmen. angemessene Zinssätze in den einzelnen Mitgliedstaaten (D)
der Europäischen Union, die dazu führen werden, dass
Gleiches gilt für die Bediensteten der Europäischen die notwendige Haushaltsdisziplin aufgebracht wird.
Union. Ich bin weit davon entfernt, Beamten-Bashing zu Wenn Sie Euro-Bonds einführen und die Zinsen verge-
betreiben. Sie werden von mir keine Äußerung finden, meinschaften, dann nehmen Sie jeglichen Anreiz zur
dass ich jemals von Eurokraten gesprochen hätte. Ich Einhaltung der Haushaltsdisziplin. Das ist das völlig fal-
glaube, dass wir in der Europäischen Union sehr qualifi- sche Signal.
zierte Beamte und sonstige Bedienstete haben. Wir brau-
chen sie auch. Sie müssen wettbewerbsfähig sein und at- (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Erfolgreich
traktiv besoldet werden; das ist gar keine Frage. Aber gespart – Mitgliedsland tot!)
was sich in den letzten Jahren an Vorzugsbehandlungen Deswegen sprechen wir uns in unserem Antrag aus-
angesammelt hat, drücklich gegen Euro-Bonds aus.
(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
DIE GRÜNEN]: Angesammelt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
was weit von der Praxis in den Mitgliedstaaten entfernt Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist, können wir auf Dauer nicht hinnehmen.
NEN]: Nur weil Sie nicht zustimmen wollen,
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heißt das nicht, dass Ihre Fraktion nicht zu-
NEN]: Sie haben doch zugestimmt!) stimmen will!)
Eine wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden, Über-
stundenausgleich selbst in Leitungsfunktionen – wo in Vizepräsidentin Petra Pau:
Europa gibt es denn so etwas? Sonderurlaub wird noch Das Wort hat der Kollege Michael Link für die FPD-
nach Eisenbahnfahrzeiten berechnet Fraktion.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NEN]: Fürst Bismarck! Der war mal in Ihrer der CDU/CSU)
Fraktion! Die Dame Koch-Mehrin ist auch ein
schönes Beispiel!) Michael Link (Heilbronn) (FDP):
und bis zu sechs Tagen pauschal erstattet, auch in das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heimatland des Partners. Selbst wenn der Sonderurlaub Am Schluss dieser Debatte möchte ich noch einmal da-
17154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Michael Link (Heilbronn)


(A) rauf eingehen, worum es heute eigentlich geht; denn das Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
ist extrem wichtig. Kollege Link, manchmal ist mehr auch besser. Zu-
mindest hoffen wir das hinsichtlich Ihrer Redezeit bzw.
Dass wir in der Haushaltswoche überhaupt über die-
Ihrer Rede.
ses Thema beraten, ist ein Novum. Wir tun dies auch
deshalb, weil uns das Bundesverfassungsgericht in letz- Sie wissen, dass wir eine EU-Steuer nicht fordern, um
ter Zeit immer wieder daran erinnert hat, dass alle Haus- auf die Steuerbelastungen der Bürger noch eine Extra-
haltsfragen frühzeitig im Parlament behandelt werden steuer draufzusatteln. Sie wissen, dass wir einen Wech-
müssen. sel vornehmen wollen. Wir wollen, dass die Staaten auf-
Dass wir es als Koalitionsfraktionen geschafft haben, grund dieser Steuer weniger Eigenmittel liefern müssen,
sodass die Belastung für den Bürger gleich bleibt. Das
wirklich über alle Arbeitsgruppen hinweg – Agrarpoli-
haben wir uns nicht einfach so ausgedacht, sondern wir
tik, Struktur- und Kohäsionspolitik, Forschung, Verkehr,
aber natürlich auch Sicherheit und Verteidigung – einen unterstützen diese Position, weil wir sehen, dass die Ei-
genmittelbasis der Europäischen Union in den letzten
Antrag vorzulegen, der in seinen Auswirkungen für
Jahrzehnten rapide kleiner wurde, beispielsweise weil
diese sieben Jahre hochkomplex ist, ist sehr wichtig. Wir
sind auf die Ausschussberatungen gespannt. die Zolleinnahmen durch den Freihandel wegbrechen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und vor dem
Wir möchten das natürlich im Laufe der Verhandlun- Hintergrund der Tatsache, dass Sie eine europäische
gen über den MFR im nächsten Jahr wiederholen; denn Steuer ablehnen, frage ich Sie: Was schlagen Sie zur
je mehr die Verhandlungen über den MFR Fahrt aufneh- Stärkung der Eigenmittelbasis vor?
men, desto eher muss der Bundestag erneut Stellung be-
ziehen, um der Bundesregierung für die Verhandlungs- (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
positionen den Rücken zu stärken. Denn sie muss nicht DIE GRÜNEN]: Zölle!)
nur in Brüssel, sondern auch in anderen Hauptstädten in-
nerhalb der Europäischen Union sagen, wofür der Bun- Michael Link (Heilbronn) (FDP):
destag steht. Die Frage beantworte ich sehr gerne.
Die Stellungnahme des Bundestages spielt weit über Wie Sie wissen, steht in unserem Antrag, dass die Ei-
das übliche Verfahren hinaus eine wichtige Rolle. Wir genmittel im Wesentlichen aus BNE-Abführungen be-
bekräftigen darin die klare Absage an EU-Steuern und stehen sollen. Wir wollen keine Senkung der Beiträge.
Euro-Bonds. Damit möchte ich richtigstellen, was gerade gesagt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wurde. Wir möchten nicht weniger an die EU zahlen,
(B)
der CDU/CSU) mitnichten. Im Gegenteil: Wir möchten, dass die Eigen- (D)
mittel der EU – unter Beibehaltung der Deckelung – im
Das zu bekräftigen, ist gerade in dieser Woche wichtig. Wesentlichen durch BNE-Abführungen, also aus dem
nationalen Steueraufkommen, erbracht werden.
Wieso sind wir so kritisch beim Thema EU-Steuern?
Viele gute und wichtige Argumente sind genannt wor- Es ehrt Sie, wenn Sie sagen, dass Sie die Gesamtbelas-
den. Kollege Silberhorn, Kollegin Kudla und Kollege tung nicht erhöhen wollen. Ich möchte aber einmal wis-
Spatz, ich möchte eines ergänzen: Das insbesondere auf sen, wie das funktionieren soll. Wie wollen Sie rechtlich,
das Bruttonationaleinkommen gestützte System hat den politisch garantieren, dass, wenn die EU-Kommission
Vorteil, dass es sichere, völkerrechtlich klare und plan- zum Beispiel eine EU-Mehrwertsteuer oder eine Finanz-
bare Mittel für die EU gewährleistet. Keine Steuer kann transaktionsteuer auf dem Wege der Gemeinschaftsme-
eine solche Sicherheit in der Planung schaffen. thode einführt, alle Mitgliedstaaten in ihren Gesetzen au-
tomatisch eine entsprechende Senkung verankern? Das
Das BNE-System ermöglicht eine gerechte Verteilung ist fernab der Realität.
nach volkswirtschaftlichen Kriterien. Es bewirkt, dass
die Stärkeren mehr zahlen und die Schwächeren weniger Sie müssen auch sehen – das ist vielleicht das wich-
– das ist, wie ich finde, ein sehr sozialer Aspekt –, und es tigste Argument –, dass die jetzige Form der Finanzie-
verhindert das Problem der Nichtberechenbarkeit von rung der EU eines garantiert: die Verklammerung der na-
Steuereinnahmen. tionalen Ausgaben mit den EU-Ausgaben. Dadurch, dass
beides im Prinzip aus dem gleichen Aufkommen finan-
Vizepräsidentin Petra Pau: ziert wird, haben die Nationalstaaten den Anreiz, bei der
Verabschiedung des EU-Haushalts exakt darauf zu ach-
Kollege Link, gestatten Sie eine Frage des Kollegen ten, dass es bei EU-Haushalt und nationalem Haushalt
Sarrazin? nicht zu Doppelungen kommt. Das ist hochgradig effi-
zient. Das würden wir mit Ihrem Vorschlag aus dem
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Fenster werfen. Das wäre hochgefährlich. Wohin das
Das können wir gerne machen. Darauf habe ich schon führt, sehen Sie bei der Entwicklungspolitik. Dort be-
gewartet. steht ein Nebeneinander von verschiedenen Töpfen, und
das führt zu einem extremen Durcheinander.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Das war jetzt sehr überraschend. – Bitte. CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17155
Michael Link (Heilbronn)
(A) Nicht das Prinzip „Ich besteuere, also bin ich“ gilt für c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana (C)
die EU, Golze, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
(Heiterkeit bei der FDP)
Die UN-Kinderrechtskonvention bei Flücht-
sondern auch hier gilt: Weniger ist mehr. Deshalb wollen lingskindern anwenden – Die Bundesländer in
wir, dass mehr Aufgaben sparsamer bewirtschaftet wer- die Pflicht nehmen
den. Deshalb sagen wir in unserem Antrag klipp und
klar, dass der Agraranteil in Zukunft zurückgehen wird – Drucksache 17/7643 –
und wir die Mittel für die Struktur- und Kohäsionsfonds Überweisungsvorschlag:
– Kollegin Kudla hat das gesagt – abschmelzen werden, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes degres- Innenausschuss
siv gestaltet, weil diese Fonds, so wie sie angelegt sind, Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
eine Hilfe zur Selbsthilfe darstellen.
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Wir sagen deshalb Nein zu Euro-Bonds und Nein zu Golze, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald,
europäischen Steuern, aber klar Ja zu sicheren Eigenmit- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
teln – wir wollen nicht weniger an die EU zahlen – und LINKE
vor allem Ja zu einem modernen Budget für die Europäi-
sche Union. Kinderrechte umfassend stärken und ins
Grundgesetz aufnehmen
Vielen Dank.
– Drucksache 17/7644 –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Vizepräsidentin Petra Pau: Rechtsausschuss
Ich schließe die Aussprache. Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
auf den Drucksachen 17/7767 und 17/7808 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Dörner, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weite-
sind die Überweisungen so beschlossen. rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
(B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt VI a bis f auf: (D)
Kinderrechte stärken
VI a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra – Drucksache 17/7187 –
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag:
tion der SPD Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Sexuelle Gewalt gegen Kinder umfassend be- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
kämpfen – Kampagne des Europarats unter-
stützen f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Agnes Malczak, Tom Koenigs, weiterer
– Drucksache 17/7807 – Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Überweisungsvorschlag: DIE GRÜNEN
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss Keine Rekrutierung Minderjähriger in die
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Bundeswehr
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 17/7772 –
richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Überweisungsvorschlag:
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- Verteidigungsausschuss (f)
trag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tu- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
chenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, weite- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Kinderrechte in Deutschland umfassend stär- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
ken höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

– Drucksachen 17/6920, 17/7800 – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion.
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber (Beifall bei der SPD)
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
Miriam Gruß Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Diana Golze Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
Katja Dörner gen! Vor vier Tagen jährte sich zum 22. Mal die Verab-
17156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) schiedung der UN-Kinderrechtskonvention. Deswegen sich wenden können. In anderen Staaten – selbst in (C)
freue ich mich, dass wir in dieser Woche trotz Haushalts- Russland – gibt es inzwischen Ombudspersonen für Kin-
woche zeitnah eine Debatte über die Kinderrechte füh- der. Auch wir brauchen Ombudsstellen, und wir sollten
ren, und zwar über Kinderrechte, die nicht nur interna- sie so verankern, dass es auf Bundesebene einen Kinder-
tional, sondern auch national gelten. beauftragten bzw. eine Kinderbeauftragte und auch in
den Kommunen Ansprechpartner und -partnerinnen gibt,
Wir sollten einmal schauen, was wir schon gemacht an die sich die Kinder wenden können, wenn sie glau-
haben und was noch ansteht. In den letzten Jahren haben ben, dass ihre Rechte verletzt sind.
wir einiges unternommen. Nichtsdestotrotz gibt es noch
einige Baustellen. Unter anderem haben wir nach der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katja Dörner
Rücknahme der Vorbehaltserklärung noch keine Über- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
prüfung aller bestehenden Gesetze auf die neuen Sach-
verhalte der UN-Konvention vorgenommen. Wir haben Die Diskussionen über Qualität, egal wer sie führt,
das Flüchtlingsrecht, das Asylrecht und das Ausländer- werden absurd, wenn wir ausgerechnet bei der entspre-
recht nicht daraufhin überprüft, ob es mit dem, was jetzt chenden Unterstützung für die Kinder sparen. Deshalb
für uns gültig ist, übereinstimmt. Hier besteht ein großer muss auch eine Debatte über die Qualität der Kinder-
Anpassungsbedarf. Ich begrüße ausdrücklich die Rück- und Jugendhilfe geführt werden, aber nicht aus fiska-
nahme der Vorbehaltserklärung – das habe ich bereits lischen Gründen, sondern wegen der Kinderrechte.
damals in meiner Rede betont –, aber dabei dürfen wir es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nicht belassen. Dringend notwendig ist die Überprüfung DIE GRÜNEN)
der bestehenden Gesetze.
Ich glaube, dass wir für unsere weitere Arbeit eine klare
Seit Jahren besteht Nachholbedarf, wenn es darum
Konzeption der Kinder- und Jugendpolitik im Rahmen
geht, Kinderrechte in unserer Verfassung zu verankern.
eines nationalen Aktionsplans brauchen. Von 2005 bis
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) 2010 hatten wir einen solchen Aktionsplan. Ich bitte da-
rum, dass wir gemeinsam beschließen, dass er für die
Ich finde es ganz toll, dass die Mütter und Väter des Bereiche, in denen wir noch handeln müssen, fortge-
Grundgesetzes unsere Verfassung so geschrieben haben, schrieben wird, damit wir klare Vorstellungen haben und
dass sie auch Kinder lesen können. Aber es fällt auf, dass gemeinsam daran arbeiten können. Dies gilt für die Be-
die Kinder darin nicht als Rechtssubjekte enthalten sind. reiche Gesundheit, Bildung, Absicherung der Existenz,
Es ist daher dringend notwendig, ihre Grundrechte an ei- Schutz vor Gewalt, Beteiligung und Beziehungen zu an-
ner Stelle zu verankern, deren Staaten.
(B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D)
Um zu wissen, was tatsächlich erreicht wurde, brau-
DIE GRÜNEN) chen wir eine Überprüfung, ein sogenanntes Monitoring-
und zwar mit den Elementen der UN-Konvention und Verfahren. Es geht darum, zu wissen, ob das, was wir
der EU-Grundrechtecharta. Die Grundrechtecharta ist ja uns wünschen, auch so umgesetzt ist. Dazu brauchen wir
im Prinzip die Verfassung auf europäischer Ebene. Dort ein von der Regierung unabhängiges Verfahren. Das
sind die Kinderrechte enthalten, nämlich in Art. 24, und heißt, es muss extern erfolgen. Ich hoffe, dass wir das
zwar genau so, wie wir es gerne hätten, mit den drei Säu- hinbekommen, damit wir auf europäischer Ebene regel-
len Schutz, Förderung und Beteiligung von Kindern und mäßig Bericht erstatten können und uns nicht davor
dem Verweis, dass alles Handeln staatlicher Ebenen und scheuen müssen.
aller Menschen vorrangig das Kindeswohl zu berück-
Im Bereich des Kinderschutzes haben wir sehr viel
sichtigen hat. Dies auch in unser Grundgesetz aufzuneh-
gemacht. Das ist lobenswert. Unsere Arbeit zieht sich
men, halte ich für dringend angebracht.
jetzt schon über viele Jahre hin. Der Europarat hat 2007
Ich habe bereits beim letzten Mal gesagt und wieder- eine Konvention zum Schutz von Kindern vor sexueller
hole es hier: Wir haben für etwa 200 000 Soldaten einen Ausbeutung und sexuellem Missbrauch verabschiedet.
Wehrbeauftragten in der Verfassung verankert. Für die Wir haben sie gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Es
Kinder gibt es kein entsprechendes Pendant. Ich hätte ist dringend notwendig, dass diese Konvention ratifiziert
gerne einen Kinderbeauftragten bzw. eine Kinderbeauf- wird. Eben weil wir schon ganz viel auf den Weg ge-
tragte – das Geschlecht ist mir egal – in der Verfassung bracht haben, müssen wir uns nicht davor scheuen. Ei-
verankert. Wenn wir die gleiche personelle Ausstattung gentlich könnten wir uns auf die Schulter klopfen und
dafür vorsehen würden, wären wir bei 2 800 Mitarbei- uns für das loben, was wir im Haus alle miteinander ge-
tern. So viele wollen wir gar nicht. Wir wären mit we- schafft haben. Wenn wir solche Veränderungen erreicht
sentlich weniger zufrieden. Aber ich möchte nicht, dass haben, warum ratifizieren wir dann nicht diese Konven-
es nur ein Sekretariat mit einer Juristin und einer Sekre- tion? Das ist nicht verständlich.
tärin gibt. Wir haben Millionen Kinder unter 18 Jahren
in Deutschland; es ist dringend notwendig, dass sich das Genauso ist es beim Übereinkommen des Europarates
entsprechend niederschlägt. zur Bekämpfung des Menschenhandels. Zwar liegt jetzt
ein entsprechender Gesetzentwurf vor, aber so kann er
Warum erwarte ich das? Wir haben im Rahmen der nicht verabschiedet werden. Der Gesetzentwurf muss
Missbrauchsdebatten festgestellt, dass sich Kinder nie dringend überarbeitet werden, weil er Lücken in der An-
Hilfe geholt haben, weil sie nicht wussten, an wen sie passung der Konvention lässt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17157
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) Ich finde es schön, dass die Grünen in ihrem Antrag der Grund, warum ich mich mein ganzes Leben lang mit (C)
schreiben, dass wir auf einen weiteren Weltkindergipfel Pädagogik befasst habe und mich nach wie vor für Kin-
hinarbeiten müssen. 2002 hat ein Gipfel stattgefunden; der und Jugendliche einsetze. Ich hoffe, dass wir für all
ein weiterer soll bald anstehen. Ich sehe aber nicht, dass die Projekte, die wir in Angriff nehmen müssen, wieder
sich in dieser Richtung etwas tut. Ich glaube, dass Ihre Unterstützung bekommen.
Deutschland da ein Motor sein muss.
In diesem Sinne: Danke schön.
Wir haben in vielen Bereichen klare Handlungsfelder,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die wir beackern müssen. Ich sehe leider nicht, dass dies
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
geschieht. Wir ruhen uns gerne aus, wenn wir etwas gut
CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
gemacht haben; das darf man auch ab und zu. Aber wir
müssen bei den Punkten, die offen sind, weiterarbeiten.
Dazu gehört auch das Kinderrecht im Zusammenhang Vizepräsidentin Petra Pau:
mit Adoptionen. Über das Thema Auslandsadoptionen Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
diskutieren wir immer nur aus der Perspektive der Men- Unionsfraktion.
schen, die keine Kinder haben, aber nicht mit Blick auf
die Kinderrechte. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir re-
Ich würde mir wünschen, dass wir diese Diskussion auf den heute wieder über Kinderrechte, und das ist gut. Gut
den Weg bringen. ist auch – vielleicht sogar noch besser –, dass wir nicht
nur darüber reden, sondern auch schon das eine oder an-
Ich wünsche mir auch, dass man sich nicht immer nur dere getan haben. Das beginnt bei der Rücknahme der
dann für Kinder einsetzt, wenn ein tragischer Fall pas- Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention
siert und es deshalb gerade Thema ist. Man muss sich, so durch die christlich-liberale Koalition; ich glaube, wir
wie wir es heute tun, öfter fragen: Welche Vorstellungen sind uns alle einig, dass dies ein guter und wichtiger
haben wir von der Gesellschaft, von der Welt, in der wir Schritt war. Es geht weiter mit der Feststellung – die wir
Kinder aufwachsen lassen wollen? Dafür gibt es klare durch eine entsprechende gesetzliche Änderung getrof-
Vorgaben, und zwar in internationalen Übereinkommen, fen haben –, dass der Krach, den Kinder machen, kein
insbesondere im Übereinkommen über die Rechte von Lärm, sondern Zukunftsmusik ist.
Menschen mit Behinderungen. Da ist von einer Gesell-
schaft und einer Welt, die inklusiv ist, die Rede. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) heißt, dass man es zulässt, dass Menschen verschieden neten der FDP) (D)
sind, und dass wir sie in ihren Stärken unterstützen, da-
mit sie sich entfalten können, dass es aber keinen Selek- Es geht weiter über das Kinderschutzgesetz, über das wir
tionsmechanismus geben darf, weder in der Schule noch diskutiert haben, das in der letzten Legislaturperiode
sonst wo. Wir müssen uns endlich auf den Weg machen aber leider nicht verabschiedet werden konnte. Wir hof-
und sagen: Das ist nicht nebenbei zu machen. – Diese fen, dass die Sozialdemokraten ihm im Bundesrat zu-
Sehnsucht mit unseren Kindern zu verwirklichen, bedeu- stimmen werden.
tet, dafür zu sorgen, dass wir auch in Europa eine Zu- Das jüngste Beispiel ist: Vor vier Tagen, am 20. No-
kunft haben, eine Zukunft für Kinder und mit Kindern. vember – die Kollegin Rupprecht hat darauf hingewie-
sen –, haben wir den Tag der Kinderrechte gefeiert.
Das betrifft übrigens auch die neue Jugendstrategie,
Deutschland hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die
die der Europarat auf den Weg gebracht hat. Ich würde
UN-Generalversammlung ein neues Beschwerdeverfah-
mir wünschen, dass wir uns der Kampagne zum Schutz
ren für Kinder auf den Weg gebracht hat; auch das ist
der Kinder, die der Europarat gestartet hat, anschließen.
eine gute Sache. Darüber haben wir in den letzten
Es gibt sogar eine Extrakampagne für Abgeordnete bzw.
Plenardebatten und Ausschusssitzungen immer wieder
für das Parlament. Es wäre schön, wenn wir sagen wür-
geredet.
den: Ja, wir unterstützen diese Kampagne zum Schutz
der Kinder. – Sehr viele Punkte, um die es dort geht, sind Warum ist das so wichtig? „Die besten Kinderrechte
bei uns übrigens schon in Gesetzgebungsverfahren ein- helfen nichts, wenn sie nur auf dem Papier bestehen“,
geflossen. Es wäre gut, wenn ein so großes Land wie hat die Ministerin vor kurzem gesagt. Da hat sie recht;
Deutschland Vorbild für andere Länder wäre. Wir sollten denn Kinder müssen in der Tat in die Lage versetzt wer-
sagen: Wir haben schon viel getan. Deshalb stehen wir den, ihre Rechte aktiv einzufordern. Dazu braucht es ein
auf der Seite derer, die ebenfalls für den Schutz der Kin- entsprechendes Verfahren. Wir haben es auf den Weg ge-
der kämpfen. – Mein heutiger Wunsch ist, dass Sie sa- bracht bzw. dabei geholfen, es auf den Weg zu bringen.
gen: Ja, wir machen bei der Europaratskampagne der Das ist eine weitere wirklich gute Maßnahme.
Parlamente mit.
Frau Kollegin Rupprecht, Sie haben die schöne und
Ich hoffe, dass wir es in diesem Haus immer wieder plakative Forderung erhoben: Wenn wir schon einen
schaffen, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass Wehrbeauftragten für die Soldaten haben, dann müsste
man miteinander debattieren kann, ohne sich niederzu- es auch einen Kinderbeauftragten geben! Die Sache hat
machen, dass man Gegensätze klar benennen kann und aus meiner Sicht einen Haken: Soldaten sind in ihren
die Welt trotzdem konstruktiv mitgestalten kann. Das ist Grundrechten eingeschränkt; deswegen gibt es einen
17158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Peter Tauber


(A) Wehrbeauftragten. Es ist gut, dass Kinder in ihren ner sozialdemokratisch geprägten Kreisverwaltung, (C)
Grundrechten nicht eingeschränkt sind. möchte nicht, dass diese junge Frau bleibt, und das Ge-
setz – das ist gut so – räumt der Verwaltung einen Er-
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Sie messensspielraum ein. Sie kann nach genauer Betrach-
können sie aber nicht durchsetzen!) tung des Falls zu dem Urteil kommen, dass dieser junge
Das mag der eine oder andere Jugendliche, der in der Mensch integriert ist und in Deutschland bleiben kann
Pubertät ist, individuell anders empfinden; aber Gott sei oder eben nicht. Diese Landratsverwaltung und dieser
Dank ist es so. Natürlich kann man darüber streiten, ob Landrat scheinen sich die Fälle, die auf dem Tisch lie-
die Kinderrechte im Grundgesetz separat verankert wer- gen, nicht genau anzuschauen. Ganz ehrlich: Da hilft das
den sollten; dazu wird sich der Kollege Geis vielleicht beste Gesetz nicht.
noch äußern. Wir reden über Menschen. Wir reden darüber, dass
Ich möchte auf einen anderen Punkt eingehen, der im- andere Menschen für Menschen Entscheidungen treffen
mer wieder zu Diskussionen und Streitigkeiten zwischen und Verantwortung übernehmen. Wir reden nicht nur
uns führt. Es geht um die ganz zentrale Frage, ob unser über Systeme. An dieser Stelle versagt nicht das Gesetz,
Asylgesetz, ob unsere Ausländergesetze das abbilden, sondern an dieser Stelle versagt ein sozialdemokrati-
was wir in der UN-Kinderrechtskonvention mittragen, scher Landrat. Das muss man einmal deutlich sagen.
ob Kinder ausländischer Eltern, die nach Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU)
kommen oder die in Deutschland groß werden, hier ihre
Rechte gewahrt sehen. Diese junge Frau, die einen Arbeitsplatz hat, könnte in
Deutschland bleiben, wenn in der Verwaltung Menschen
Ich habe in dem Wahlkreis, den ich betreue, in der wären, die verantwortlich handelten und dieses Gesetz
Wetterau, einen Fall: eine junge Frau, im Alter von im Sinne der jungen Frau auslegten. Das müsste man
5 Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen, machen.
nur mit einer Geburtsurkunde ausgestattet, ohne weitere
Papiere – sie hat sie bis heute nicht bekommen –, die von (Caren Marks [SPD]: Klarere Gesetze!)
sich aus sagt: Deutschland ist meine Heimat. Ich kenne – Klarere Gesetze? Frau Marks, Ihr Problem ist Ihre
nichts anderes. – Sie ist hier zur Grundschule gegangen, Gläubigkeit ins System. Das ist bei Sozialisten nichts
hat einen Schulabschluss erworben, hat die Berufsschule Ungewöhnliches.
besucht, spricht perfekt Deutsch und spielt Fußball in ei-
nem Fußballverein. Ihr droht die Abschiebung. Da wer- (Zurufe von der SPD: Oh!)
den Sie sagen: Das ist so ein Fall. Über einen solchen Klarere Gesetze helfen nicht, weil es klarere Gesetze im
(B) Fall reden wir. Es kann nicht sein, dass eine solche junge Umkehrschluss nicht erlauben, auf individuelle Schick- (D)
Frau, die perfekt integriert ist, abgeschoben werden sale einzelner Personen Rücksicht zu nehmen.
muss.
Ich erwarte, dass nach der Verabschiedung eines Ge-
Die junge Frau wurde gefragt, was ihr größter setzes Menschen auf der Grundlage dieses Gesetz im
Wunsch sei. Sie hat drei Wünsche. Der erste Wunsch Sinne der Menschen, die ihnen begegnen, entscheiden.
wäre die Erlaubnis, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Das können und müssen Beamte leisten. Dafür gibt es
Der zweite Wunsch wäre die Erlaubnis, eine Fahrschule Ermessensspielräume.
zu besuchen und den Führerschein zu machen. Der dritte
Wunsch wäre eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. (Caren Marks [SPD]: Fragen Sie mal Innen-
Auch da werden Sie wieder sagen: Genau, so muss das minister Schünemann!)
sein. Das muss es doch geben. Ich wünsche mir, dass die Geschichte dieser jungen Frau
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ein Happy End findet. Die gesetzlichen Grundlagen da-
Aber doch nicht in dieser Reihenfolge!) für haben wir geschaffen. Das ist eine gute Nachricht für
Kinder mit Migrationshintergrund in diesem Land.
Das Schöne ist – das ist eine gute Nachricht –: Eigent-
lich geht das alles. Nach dem Gesetz – es hat einen sehr Deswegen ist diese Frage positiv beantwortet. Sie
lyrischen Titel, wie unsere Gesetze das immer haben – können sicher sein, dass wir uns um das Thema Kinder-
über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Inte- rechte weiterhin engagiert kümmern werden.
gration von Ausländern im Bundesgebiet, umgangs- Herzlichen Dank.
sprachlich Aufenthaltsgesetz genannt, könnte diese junge
Frau einen Aufenthaltsstatus bekommen, könnte den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Job, der ihr angeboten wurde, bekommen und wahrneh-
men. Das wäre alles kein Problem. Also könnte man sa- Vizepräsidentin Petra Pau:
gen: Es gibt für diese junge Frau ein Happy End. Wir, Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Frak-
die christlich-liberale Koalition, haben mit diesem Ge- tion Die Linke.
setz die Grundlage dafür geschaffen, dass diese junge
Frau in Deutschland bleiben kann, weil sie perfekt inte-
Diana Golze (DIE LINKE):
griert ist.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Die Sache hat nur leider einen Haken. Der Landkreis, Kollegen! Am 20. November 1989 hat die Vollversamm-
geführt von einem sozialdemokratischen Landrat und ei- lung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17159
Diana Golze
(A) die Rechte der Kinder, die sogenannte UN-Kinderrechts- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C)
konvention, verabschiedet. Ich finde es gut, dass der neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Bundestag heute in zeitlicher Nähe zu diesem Jahrestag GRÜNEN)
diese Debatte führt, weil es ein guter Anlass ist, zu fra-
gen, wie weit wir mit der Umsetzung der UN-Kinder- Zweites Beispiel. Auch bei jüngeren Kindern werden
rechtskonvention in Deutschland sind. im Übrigen nach wie vor Unterschiede gemacht. Meine
Fraktion hat einen Bericht vom Bundesministerium für
Regelmäßig muss auch Deutschland einen Staatenbe- Arbeit und Soziales angefragt und auch erhalten. Am
richt an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes 22. November sind wir über die Leistungen aus dem Bil-
abgeben, und regelmäßig holt sich Deutschland dort ei- dungs- und Teilhabepaket informiert worden. Es ging
nen Rüffel ab, wie ich finde, zu Recht. Dafür gibt es auch um die Frage, ob sie Kindern von Asylbewerberin-
viele Gründe. Ich will einige Beispiele nennen. nen und Asylbewerbern gewährt werden. Es stellte sich
heraus, dass sie nicht flächendeckend und im Freistaat
Erstens. Die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechts- Sachsen gar nicht zur Verfügung gestellt werden. Der
konvention sind schon angesprochen worden. Deutsch- Freistaat Sachsen hat mitgeteilt, er gehe davon aus, dass
land hat sich bei der Ratifizierung vorbehalten, weiterhin die Kommunen die Leistungen Kindern von Asylbewer-
Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu berinnen und Asylbewerbern nicht zur Verfügung stel-
machen. Bezogen auf das Beispiel der UN-Kinderrechts- len. Ich finde, das ist ein Skandal.
konvention heißt das, dass man auch 16- und 17-jährige
minderjährige Flüchtlinge in Deutschland wie Erwach- (Beifall bei der LINKEN)
sene behandelt.
Das Bildungs- und Teilhabepaket ist schon an sich ein
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Pfui! Schämt Problem, weil es eben nicht für alle Kinder den Zugang
euch!) zu Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft sichert.
Aber es kann doch nicht wahr sein, dass nicht einmal
Es wird also danach unterschieden, wie alt sie sind und dieses Wenige an Kinder von Asylbewerberinnen und
welchen Pass sie haben. Asylbewerber ausgegeben wird. Das verstößt eklatant
gegen die UN-Kinderrechtskonvention und gegen die
Minderjährige Flüchtlinge, die mit 16 oder 17 in un- Würde dieser Kinder.
ser Land kommen, haben also das Problem, Herr Tauber,
dass sie wie Erwachsene behandelt werden. Das heißt, (Beifall bei der LINKEN)
sie haben im Asylverfahren keinen Rechtsbeistand. Oft
verstehen sie die Sprache nicht und bekommen Briefe, Drittes Beispiel. Bereits mehrfach wurde Deutschland
(B) die sie zwar öffnen, aber nicht lesen und verstehen kön- vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes aufgefor- (D)
nen. Pro Asyl beschreibt Fälle, in denen die Betroffenen dert – das liegt Ihnen schriftlich vor –, die Aufnahme
keinen Widerspruch eingelegt haben, weil sie nicht ein- von Kinderrechten in das Grundgesetz zu prüfen. Wir
mal wussten, dass es die Möglichkeit gibt, gegen einen haben das schon oft debattiert. Hierzu liegen drei An-
negativen Bescheid im Asylverfahren Widerspruch ein- träge der Oppositionsfraktionen vor. Wenn Sie sagen,
zulegen. Herr Tauber, dass die Regierung auch hier weiter han-
deln möchte, frage ich Sie: Wo sind Ihre Anträge? Wo
Sie werden in Sammelunterkünften untergebracht. Sie sind Ihre parlamentarischen Initiativen dazu? Ich muss
werden sogar in Abschiebehaft genommen, und sie ha- mir schon im Ausschuss sagen lassen, dass es eine In-
ben keine ausreichenden Ansprüche auf Bildung, Jugend- strumentalisierung von Schülern ist, wenn man mit ih-
hilfe und eine ausreichende gesundheitliche Versorgung. nen über das Grundgesetz und die Rolle spricht, die sie
Ich finde, dass es Aufgabe des Bundestages ist, dafür zu darin einnehmen.
sorgen, dass allen Menschen ihre Würde erhalten bleibt,
Ich frage mich: Wo bleiben Ihre Initiativen? Sie ma-
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie chen nicht einmal eine Initiative zum Individualbe-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schwerderecht, auf das Sie sich in Ihrem Koalitionsver-
GRÜNEN) trag verständigt haben. Dass ein entsprechender Antrag
vorliegt, haben wir den Grünen zu verdanken. Von Ihrer
dass sie auch in einem Asylverfahren als vollwertige Seite kam dazu nichts.
Menschen akzeptiert werden und dass sie die Unterstüt-
zung bekommen, die ihnen nach der UN-Kinderrechts- (Caren Marks [SPD]: Ich habe von dieser Seite
konvention zusteht. Das ist in Deutschland auch nach auch nichts erwartet!)
der Rücknahme des Vorbehaltes nicht der Fall. Sie brau-
chen nicht den Kopf zu schütteln. Ich möchte auch ansprechen, wie doppelzüngig sich
gerade die Unionsfraktion hier verhält. Denn aus den
(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das ist ein Bundesländern liegen Bundesratsinitiativen vor, zum
freies Land! Sie regieren nicht!) Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern und Branden-
burg, die von anderen Bundesländern unterstützt werden
Die Rücknahme des Vorbehaltes zur UN-Kinderrechts- und die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz
konvention war nichts weiter als eine Showveranstal- fordern. In Mecklenburg-Vorpommern wurde der Antrag
tung, solange ihr nicht auch gesetzliche Änderungen im von der SPD, den Linken und der CDU gestellt. Im Bun-
Asyl- und Sozialrecht folgen. desland Brandenburg mit einer rot-roten Regierung hat
17160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Diana Golze
(A) die CDU einem solchen Antrag vor genau zwei Wochen Wir haben die Prävention dabei vor alles andere ge- (C)
zugestimmt. stellt. An erster Stelle steht die Prävention. Wichtig sind
aber auch Maßnahmen der Hilfe und, wenn es nicht an-
(Caren Marks [SPD]: Geht doch!)
ders geht, die Intervention, damit Kinder, die in Not
Warum werden dann solche Initiativen hier im Bund von sind, tatsächlich eine echte Hilfe finden. Wir wollen da-
Ihnen blockiert und abgelehnt? Ich verstehe nicht, wa- mit die Akteure stärken, sodass gerade die Eltern Unter-
rum Sie hier mit gespaltener Zunge sprechen. stützung finden. Aber auch Kinderärzte, Jugendämter
und Familiengerichte müssen als Netz in enger Abstim-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mung miteinander Sorge für das Kindeswohl und den
bei der SPD und der LINKEN)
Kindesschutz tragen. Ich glaube, insofern haben wir et-
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte was auf den Weg gebracht, dessen Anwendung und Um-
es zusammenfassend noch einmal betonen, weil man es setzung interessant sein wird.
gar nicht oft genug sagen kann: Kinder sind keine klei-
Wir haben frühe Hilfen installiert, und wir wollen,
nen Erwachsenen. – Sie haben ein Recht auf mehr als
dass durch die sogenannten Familienhebammen tatsäch-
das, wozu ihre Eltern laut Grundgesetz verpflichtet sind,
lich eine frühe Ansprache von Familien erfolgt, die sich
nämlich zu Pflege und Erziehung.
in einer Problemlage befinden, die unsicher sind, in de-
Wir, die Opposition, fordern hier in allen drei Anträ- nen das Kind vielleicht nicht wirklich angenommen
gen wiederholt: Kinder müssen das Recht auf Schutz, wird. Hier muss ein Zugang erreicht werden, sodass eine
auf Förderung, auf Beteiligung und auf den Vorrang des frühe Unterstützung durch das Netz möglich ist, wodurch
Kindeswohls bei allen staatlichen Entscheidungen ha- den Familien auf einen guten Weg geholfen und insbe-
ben. Das vermisse ich nach wie vor, und es wird Zeit, sondere den Kindern der Weg ins Leben eröffnet werden
dass sich hier endlich etwas ändert. kann.
Vielen Dank. Das Jugendamts-Hopping haben wir ausgeschlossen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Wir wollen, dass die fachliche Begleitung der Familien
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fortlaufend gewährleistet ist. Daneben haben wir zum
Beispiel auch die Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträ-
ger entsprechend geändert, sodass die Informationswei-
Vizepräsidentin Petra Pau: tergabe an das Jugendamt möglich ist. Wir haben also
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die die ganz klare Aussage gemacht: Wo Kinder Schutz
FDP-Fraktion. brauchen, sollen sie ihn bekommen.
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann hier nur an Sie appellieren, dass der Bundes- (D)
rat diesem wegweisenden Gesetz morgen tatsächlich zu-
Sibylle Laurischk (FDP): stimmt, sodass hier in Deutschland ein einheitliches Si-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der gnal für die Familien und für die Kinder gegeben wird.
Schutz der Kinder und die Wahrung ihrer Rechte sind für
uns natürlich ganz zentrale Aufgaben, und ich freue Danke schön.
mich, dass hier durchaus auch eine Initiative der Opposi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tion zu sehen ist.
Nur – Frau Rupprecht, Sie haben es eingangs gesagt –: Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir sollten das tun, was am nächsten liegt. Wir sollten Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frak-
uns um das kümmern, was ansteht. Hier muss ich sagen: tion Bündnis 90/Die Grünen.
Aus unserer Sicht steht nun einmal zuerst ganz deutlich
und ganz klar an, dass das Kinderschutzgesetz auch von- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
seiten der Bundesländer angenommen wird und dass wir
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
diesem Gesetz auch zu seiner Wirksamkeit verhelfen.
Kolleginnen! Ich freue mich, dass wir heute Abend wie-
Den Gesetzentwurf haben wir ja weitgehend gemeinsam
der über die Kinderrechte debattieren können. Ich finde
auf den Weg gebracht Die Opposition war hier vielleicht
es rund um den 20. November, den Kinderrechtetag der
etwas zurückhaltend, aber durchaus auch der Meinung,
Vereinten Nationen, und auch grundsätzlich angesichts
dies solle Realität werden. Das steht morgen an. Inso-
der Bedeutung des Themas sehr wichtig und richtig, dass
fern, denke ich, ist hier ein Signal von uns allen gefor-
das heute wieder gelungen ist. Ich habe in unserer De-
dert, aber ganz wesentlich auch von der Opposition. Das
batte vor rund zwei Monaten länger darüber gesprochen,
sollten wir nicht vergessen, wenn wir diese Diskussion
warum wir als grüne Fraktion es richtig und sehr wichtig
hier führen.
fänden, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.
Ich glaube, wir haben mit dem Kinderschutzgesetz Ich habe auch darüber gesprochen, warum wir es sehr
ein Signal für Deutschland gesetzt, das beispielgebend bedauerlich finden, dass die Ministerin den Aktionsplan
sein soll und sicherlich auch weiterentwickelt werden für ein kindergerechtes Deutschland so sang- und klang-
muss. Dieses Signal besagt, dass der Kinderschutz, der los beerdigt hat. Aber ich denke, dass die Kinderrechte
Schutz des kleinen Kindes bis hin zum Schutz des Ju- bei dieser Bundesregierung nicht ganz oben auf der
gendlichen, eine ganz zentrale Aufgabenstellung für uns Agenda stehen, ist hinlänglich bekannt. Darauf muss
ist. man nicht lange verweisen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17161
Katja Dörner
(A) Ich möchte heute ein anderes Thema in den Fokus land kommen. Nicht selten – das hat meine Kollegin (C)
rücken, nämlich die Tatsache, dass es leider in der Bun- Diana Golze schon ausgeführt – sind diese jungen Men-
desrepublik immer noch möglich ist, Minderjährige für schen in ihren Herkunftsländern sogar selbst als Kinder-
die Bundeswehr zu rekrutieren. Rund tausend 17-Jährige soldaten missbraucht und auf unvorstellbare Art und
werden jedes Jahr in die Bundeswehr aufgenommen und Weise traumatisiert worden. Diese jungen Menschen
dort auch an der Waffe ausgebildet. 17-Jährige sind nach kommen zu uns, suchen hier Schutz und müssen erleben,
der Definition der UN-Kinderrechtskonvention Kinder dass auch in Deutschland die UN-Kinderrechtskonven-
und stehen damit unter einem ganz besonderen Schutz. tion für sie nicht vollständig gilt. Sie werden im Asylver-
Ich bin der Ansicht, dass die Bundesregierung diesem fahren wie Erwachsene behandelt, sie können in Ab-
Schutz nicht gerecht wird, solange die Rekrutierung schiebehaft genommen und gar in Sammelunterkünfte
Minderjähriger weiter erlaubt ist. gesteckt werden. Sie haben keine Ansprüche auf Leis-
tungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Kin-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deswohlbelange – das muss man einfach konstatieren –
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten spielen an der Stelle offenbar keine Rolle, und das, ob-
der SPD) wohl Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention, wonach
Leider hat sich die Forderung „Straight 18“ bei den das Kindeswohl immer vorrangig zu berücksichtigen ist,
Verhandlungen über das „Fakultativprotokoll zum Über- selbstverständlich auch für Flüchtlingskinder gelten
einkommen über die Rechte des Kindes betreffend der muss.
Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten“, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
das auch Deutschland ratifiziert hat, nicht durchgesetzt. sowie bei Abgeordneten der SPD und der
Die Länder können für sich selber festlegen, ab welchem LINKEN)
Alter Kinder bzw. Minderjährige rekrutiert werden kön-
nen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich auf das Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung, die wir alle
Alter von 17 Jahren festgelegt. Hierfür gibt es aus mei- begrüßt haben – wir alle fanden sie richtig –, reicht nicht
ner Sicht überhaupt keine überzeugenden Gründe. aus. Lassen Sie die Rücknahme nicht zur Symbolpolitik
verkommen. Lassen Sie Änderungen im Asyl-, Auslän-
Deutschland hat seit Anfang des Jahres den Vorsitz der- und Sozialrecht folgen, damit dieser für die Bundes-
der Arbeitsgruppe „Kinder in bewaffneten Konflikten“ republik wirklich unwürdige Zustand endlich beendet
des UN-Sicherheitsrates inne und ist aus meiner Sicht wird.
dringend aufgefordert, hier eine Vorreiterrolle einzuneh-
men. Andere europäische Länder haben offensichtlich Vielen Dank.
keine Probleme damit, auf die Rekrutierung Minderjäh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) riger zu verzichten. Das machen unter anderem – ich bei der SPD und der LINKEN) (D)
nenne nur einige – Spanien, Portugal, Dänemark, Finn-
land, Schweden, Norwegen, die Schweiz, Belgien, die
Vizepräsidentin Petra Pau:
Tschechische Republik, Rumänien, die Slowakei, Slo-
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Norbert
wenien, Lettland und Litauen. Und bei uns soll die Bun-
Geis das Wort.
deswehr auf Minderjährige angewiesen sein? Das ist
doch absurd. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Norbert Geis (CDU/CSU):
der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Aufnahme der Kinderrechte in das Grund-
Insgesamt müssen wir bei der Werbung für die Bun- gesetz ist genannt worden. Frau Rupprecht und auch an-
deswehr bei Minderjährigen, insbesondere was Schulen dere haben etwas dazu ausgeführt. Diese Forderung ist
angeht, sehr kritisch hinschauen. Eigentlich darf Wer- auch in den Anträgen enthalten, die heute zur Entschei-
bung an Schulen gar nicht stattfinden, aber der aktuelle dung vorliegen.
„Schattenbericht Kindersoldaten“ von UNICEF, Terre
des Hommes, missio und der Kindernothilfe dokumen- Frau Rupprecht, die Rechte der Kinder sind bereits im
tiert leider sehr eindrucksvoll, dass Werbung selbst für Grundgesetz verankert.
Auslandseinsätze an Schulen faktisch stattfindet. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
finde das wirklich indiskutabel. Ich höre ab und an das der FDP – Caren Marks [SPD]: Quatsch!)
Argument, die Bundeswehr brauche jetzt, da sie eine
Freiwilligenarmee sei, auch andere Rekrutierungswege. Jedes Kind hat Grundrechte, wie auch jeder andere
Das stimmt auch. Aber gerade angesichts des gestiege- Mensch. Ein Kind hat nicht mehr und nicht weniger
nen Rekrutierungsdrucks darf der Schutz der Jugend- Grundrechte, aber es hat Grundrechte. Das gilt beispiels-
lichen nicht unter die Räder kommen, und da sind wir weise für Art. 1 des Grundgesetzes. Selbstverständlich
tatsächlich in der Pflicht. gilt das Grundrecht hinsichtlich der Würde des Men-
schen für jeden, der in Deutschland lebt, egal ob er Aus-
Der „Schattenbericht“ befasst sich noch mit einem länder ist oder nicht, welche Religion er hat, welcher
weiteren sehr wichtigen Aspekt, und zwar – das ist Herkunft er ist, egal ob er alt oder jung ist, selbst ob er
schon angesprochen worden – mit Kindern und Jugend- geboren oder nicht geboren ist. Jeder Mensch hat das
lichen, die als unbegleitete Flüchtlinge nach Deutsch- Recht auf Achtung seiner Würde.
17162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Norbert Geis
(A) Das Gleiche gilt für Art. 2 des Grundgesetzes, näm- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
lich für das Recht auf die freie Entfaltung der Persön- Jetzt kann die Kollegin Rupprecht ihre Frage stellen.
lichkeit und das Recht auf Leben.
(Sönke Rix [SPD]: Diese Rede haben Sie Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
schon einmal gehalten, Herr Kollege!) Herr Kollege, Sie wissen, dass eine Verfassung immer
Ausfluss einer gesellschaftlichen Wertehaltung ist. Ein
Dieses Recht gilt für alle Kinder, für alle Menschen, die Entwurf unserer Verfassung beinhaltete ursprünglich die
in Deutschland leben. Das kann nicht stärker ausge- Kinderrechte, er ist verworfen worden. Letztlich wurden
drückt werden. Dieses Recht gilt sowohl für geborene diese Rechte nicht in das Grundgesetz aufgenommen.
als auch für ungeborene Kinder – das sollten wir nicht Man hat bis 1968 geglaubt, dass Kinder Objekte sind,
vergessen –, wie es das Bundesverfassungsgericht in sei- die den Eltern gehören. Erst das Bundesverfassungs-
nen zwei Urteilen, nämlich am 25. Februar 1975 und am gericht hat 1968 eindeutig klargestellt: Auch Kinder sind
28. Mai 1993, festgestellt hat. Das Recht auf Leben gilt Grundrechtsträger.
für Geborene und Ungeborene, ob in der Petrischale
Herr Geis, Sie haben natürlich recht, wenn Sie darauf
oder im Mutterleib.
hinweisen, dass mit Grundrechtsträgern auch Kinder ge-
(Caren Marks [SPD]: Falsches Thema!) meint sind. Das bestreitet niemand. Die entscheidende
Frage ist aber, ob wir im 21. Jahrhundert, wo Kinder als
Dieses Recht ist bei uns fest im Grundgesetz verankert. Subjekte gesehen werden, unsere Verfassung aus dem
Deshalb meine ich, dass diese Forderung eigentlich ins 20. Jahrhundert, wo Kinder als Objekte betrachtet wur-
Leere geht; denn diese Rechte sind schon vorhanden. den, endlich entsprechend anpassen, damit jeder, der un-
sere Verfassung liest, erkennt, dass sich ein gesellschaft-
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas er- licher Wandel vollzogen hat, weg vom Objekt Kind hin
wähnen – das steht in dem Antrag der Grünen –, nämlich zum Subjekt Kind mit eigenen Rechten; darum geht es.
die Forderung, dass eine Ergänzung des Art. 6 des Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, ob eine Verfassung
Grundgesetzes erfolgen soll. Der Art. 6 des Grundgeset- in solch grundlegenden Dingen nicht auch den Werte-
zes normiert das Recht der Eltern, ihre Kinder selbst wandel und die veränderte Sichtweise wiedergeben
erziehen zu dürfen. Das steht so in Art. 6 des Grund- muss. Wir stellen entsprechende Anträge, um das deut-
gesetzes. Die Grünen verlangen nun, dass die Kinder ein lich zu machen.
Recht auf Erziehung und Pflege gegenüber ihren Eltern
haben sollen. Richtig, das steht so nicht im Grundgesetz. Herr Geis, Sie sind Jurist und wissen in dieser Bezie-
hung sicherlich sehr genau Bescheid.
(B) Vizepräsidentin Petra Pau: (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: (D)
Herr Geis, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Fragen Sie etwas!)
Rupprecht? – Nein, ich muss nicht fragen. Ich kann laut Geschäfts-
ordnung des Bundestages auch einen Kommentar abge-
Norbert Geis (CDU/CSU): ben.
Ich möchte diesen Gedanken noch zu Ende bringen. – Für mich ist entscheidend, ob wir es gemeinsam
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom schaffen, dies zu verankern. Vielleicht gehen Sie in Ihrer
1. April 2008 festgestellt, dass das Recht der Eltern, ihre Fraktion noch einmal in die Meinungsbildung. Ich gebe
Kinder selbst erziehen zu dürfen, mit dem Recht der zu bedenken: Staaten, deren Verfassungen jüngeren Da-
Kinder auf Erziehung gegenüber ihren Eltern korrespon- tums sind, haben solche Rechte bereits aufgenommen,
diert. Die Kinder haben nach diesem Urteil ein einklag- während Staaten, deren Verfassungen älteren Datums
bares Recht auf Erziehung. Damit ist diese Frage eigent- sind, das noch nicht getan haben.
lich erledigt. Deswegen kann ich nicht erkennen, dass
eine Änderung des Grundgesetzes notwendig ist.
Norbert Geis (CDU/CSU):
(Caren Marks [SPD]: Es geht nicht nur um Ich nehme die Meinung, die Sie hier vortragen,
Erziehung!) durchaus ernst. Ich wische sie nicht einfach vom Tisch,
zumal sie auch in den Reihen meiner Fraktion vertreten
– Es geht auch um andere Rechte. Sie könnten jetzt das wird, wie ich ausgeführt habe. Ich selbst bin aber nicht
ganze Grundgesetz durchgehen, aber dann würde die Ihrer Meinung, dass 1948/49, als die Väter und Mütter
Zeit nicht reichen. Ich habe drei Punkte herausgearbeitet, unserer Verfassung das Grundgesetz verfasst haben, das
insbesondere Art. 6 des Grundgesetzes, der eigens in Kind als Objekt betrachtet wurde. In unserer Verfassung
dem Antrag der Grünen steht. Deswegen komme ich auf ist häufig der Satz zu lesen: „Jeder hat das Recht“, zum
diesen Artikel zu sprechen. Eine Änderung ist hier nicht Beispiel auf Schutz der Menschenwürde. Das bedeutet,
notwendig. Dies wäre sonst eine Doppelung von Grund- dass auch jedes Kind das Recht hat.
rechten in unserer Verfassung.
Ich stimme Ihnen zu, dass im Lauf der Zeit weitere
Ich weiß, dass die CDU in den Ländern anderer Mei- Aspekte aus der Verfassung heraus entwickelt worden
nung ist. Auch in der CSU gibt es andere Meinungen. sind. Das Bundesverfassungsgericht muss feststellen, ob
Ich weiß, dass die bayerische Justizministerin hier ande- die vorgetragenen neuen Aspekte dem Sinn und der
rer Meinung ist. Aber ich meine, es ist nicht erforderlich. Motivation unserer ursprünglichen Verfassungsgeber
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17163
Norbert Geis
(A) entsprechen. Wenn das der Fall ist, kann das Bundesver- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: (C)
fassungsgericht das Ganze weiterentwickeln. Das hat es Aber Herr Geis, das machen Eltern, auch wenn
schon getan. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, sie – –)
dass Kinder laut unserer Verfassung Grundrechtsträger
sind. Vielleicht meinen Sie, Frau Rupprecht, dass wir Vizepräsidentin Petra Pau:
uns mehr Gedanken darüber machen sollten, wie wir Es tut mir leid. Das geht jetzt nicht mehr, weder mit
aufgrund unserer Verfassung Kinderrechte mehr normie- Zwischenbemerkungen noch mit Zwischenfragen. Der
ren können; dabei handelt es sich aber um Gesetze unter- Kollege Geis hat bestimmt bemerkt, dass ich ihn schon
halb der Verfassung. Wenn Sie das meinen, stimme ich mahne.
mit Ihnen überein; darüber kann man ständig diskutie-
ren. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]:
Genau! Alles gesagt!)
Aus dem Grundrecht auf Erziehung durch die Eltern
folgt natürlich das Recht des Kindes, dass der Staat die Norbert Geis (CDU/CSU):
Familien unterstützt und dass die Eltern Erziehungskom- Ich sehe es hier aufleuchten: „Präsident“. „Frau Präsi-
petenz haben. Aber der Staat darf sich nicht einbilden, dentin“ müsste es jetzt eigentlich heißen. – Ich habe das
dass er das Primat der elterlichen Fürsorge an sich zie- zu respektieren.
hen kann. Das wäre der falsche Weg. – Ich weiß, Frau
Rupprecht, dass Sie das nicht befürworten. Ich wollte Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
nur darauf hinweisen. noch vieles in meinem Konzept: über Kinderschutz, über
sexuelle Gewalt, über die grundsätzliche Frage des Ju-
Der Staat hat nur eine Wächterfunktion. Er muss ein- gendschutzes. Seit 1951 haben wir das Jugendschutzge-
greifen, wenn die Rechte der Kinder nicht gewahrt sind. setz; das darf man nicht vergessen. Wir haben 2000 – da-
Wenn die Eltern nicht entsprechend ihrem Auftrag nach mals noch mit Frau Däubler-Gmelin – das Recht auf
Art. 6 des Grundgesetzes handeln, kann der Staat auf- gewaltlose Erziehung ins BGB eingefügt. Ich hätte also
grund seiner Wächterfunktion eingreifen. Aber er darf noch einige Punkte vorzutragen, aber ich bedanke mich
das Recht der Eltern nicht an sich ziehen; denn hier geht für Ihre Aufmerksamkeit und bedanke mich bei der Prä-
es um das Recht der Kinder auf Erziehung durch die El- sidentin dafür, dass sie so lange Geduld hatte.
tern. Manchmal entsteht in der öffentlichen Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Eindruck, dass Kinder vor ihren Eltern geschützt
werden müssten. Laut Statistik ist das aber nur in maxi- Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) mal 5 Prozent der Fälle so. Der Rest der Eltern will die Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin (D)
Kinder liebend umhegen. Es gibt niemanden, der die Bracht-Bendt.
Kinder besser liebend umhegen und für sie sorgen kann
als die eigenen Eltern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU – Marlene
Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Bestreiten Nicole Bracht-Bendt (FDP):
wir nicht!) Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
– Da sind wir völlig einer Meinung. – Das kann natürlich Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als die Verein-
auch die Kita nicht leisten. ten Nationen vor genau 22 Jahren in der Vollversamm-
lung das Übereinkommen über die Rechte von Kindern
Deswegen muss der Staat – jetzt komme ich zu einem einstimmig verabschiedeten, fiel eine überfällige Ent-
Punkt, in dem Sie mir nicht ganz zustimmen – dafür sor- scheidung. Es ist wichtig, dass wir jedes Jahr diesen Tag
gen, dass die Eltern in der Lage sind, ihre Kinder ent- zum Anlass nehmen, um uns kritisch mit den Kinder-
sprechend zu erziehen. rechten in Deutschland und in der Welt auseinanderzu-
setzen.
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Da
Hier brauchen wir den Blick gar nicht nur auf Miss-
stimme ich auch zu!)
stände in anderen Ländern zu richten; hier liegt auch in
Das sind sie oft nicht, weil sie zur Arbeit gehen müssen, Deutschland noch einiges im Argen. Ich denke an alltäg-
weil sie Geld dazuverdienen müssen. Das ist der eigent- liche Fälle, zum Beispiel an Scheidungsverfahren, von
liche Grund – daran kommen wir nicht vorbei – für das denen Kinder häufiger betroffen sind. Um deren Wohl-
Betreuungsgeld. Deswegen verstehe ich nicht, warum ergehen geht es allerdings weniger. Vielmehr ist es Ziel
wir hier so auseinander sind, warum hier oft mit viel Po- der beteiligten Anwälte, den Streit zwischen Vätern und
lemik argumentiert wird. Man kann wahrscheinlich ver- Müttern zu schlichten und deren Interessen zu vertreten.
schiedener Meinung sein; das ist auch in meiner eigenen Es geht um Geld und, wenn Kinder da sind, um Sorge-
recht.
Fraktion der Fall. Ich bin der Meinung, dass es ein Men-
schenrecht des Kindes gegenüber dem Staat ist, dass es Als Vorsitzende der Kinderkommission habe ich ge-
in den ersten zwei Jahren von seinen Eltern erzogen rade zu diesem Thema Sachverständige in die Kinder-
wird. Da hat der Staat nicht hineinzureden. Der Staat hat kommission eingeladen. Übereinstimmend bestätigten
aber die Aufgabe, das zu ermöglichen. die Experten, dass bei Scheidungen überwiegend aus
17164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Nicole Bracht-Bendt
(A) Sicht der Eltern verhandelt wird. Absprachen, ge- Den staatlichen Umgang mit Flüchtlingskindern in (C)
schweige denn eine enge Zusammenarbeit zwischen Ju- Deutschland bestimmt … nicht die Sorge um …
gendamt und Richter, gibt es in den seltensten Fällen. Entwicklungschancen der Kinder, sondern ein von
Misstrauen geprägtes nationalstaatliches Abwehr-
Hier fangen für mich Kinderrechte an. Wir alle sind
denken mit dem Ziel, unerwünschte Einwanderung
gefordert, mehr als bisher die Auswirkungen – sei es von
und Zuflucht möglichst effektiv zu verhindern.
Gesetzen oder im ganz persönlichen Bereich bei einer
Trennung – aus dem Blickwinkel von Kindern zu hinter- Das ist harter Tobak, eine Diffamierung. Diese Worte
fragen. zeugen von einem Weltbild, das leider ein gemeinsames
Vorgehen zur Stärkung der Rechte von Kindern unmög-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
lich macht.
Das Wohl der Kinder muss bei allen politischen und ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
sellschaftlichen Entscheidungen im Vordergrund stehen.
Diana Golze [DIE LINKE]: Dann unterhalten
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Beschluss der Sie sich mal mit Pro Asyl! Informieren Sie
Generalversammlung der Vereinten Nationen, ein Indi- sich über die Wahrheit!)
vidualbeschwerderecht für Kinder einzuführen, begrüßt
die FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der FDP – Miriam Gruß [FDP]: Es Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Eckhard
war unsere Idee!) Pols das Wort.
– Genau. – Die FDP setzt sich seit langem dafür ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Rechte sind nichts wert, wenn sie nicht eingefordert
Eckhard Pols (CDU/CSU):
werden können. Der Kinderrechtsausschuss der Verein-
ten Nationen kann durch das neue Verfahren nicht nur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
individuelle Beschwerden von Kindern und Mitteilun- Kolleginnen und Kollegen! Exkanzler Helmut Kohl hat
gen von Staaten über die Missachtung von Kinderrech- einmal gesagt: Ein Land mit Kindern ist ein Land mit
ten entgegennehmen, sondern auch aus eigener Initiative Zukunft. – Das hat nichts an Wertigkeit verloren und ist
systematische Verletzungen der Kinderrechtskonvention zum Leitbild unserer Familienpolitik geworden. Kinder
untersuchen. Wir legen dabei besonderen Wert auf ein sind unsere Zukunft, und deshalb müssen wir ihre
kindgerechtes Verfahren. Kinder und Jugendliche müs- Rechte achten, schützen und auch stärken. Darum geht
sen die Möglichkeit haben, sich zu äußern, und auch an- es in der heutigen Debatte anlässlich des Jahrestages der
(B) gehört werden. Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir wollen für Kinder in allen Bereichen kindgerechte
der CDU/CSU) Lebensverhältnisse schaffen. Wir wollen die Rechte von
Kindern stärken und im Bewusstsein der Erwachsenen
Hier wird Deutschland mit gutem Beispiel vorange- verankern. Wir wollen Kinder und Jugendliche von Be-
hen. Die christlich-liberale Koalition hat schon im Ko- ginn an stärker beteiligen und sie dort einbeziehen, wo
alitionsvertrag angekündigt, die Kinderrechte zu stärken. ihre Lebenswelt berührt ist. Dies haben wir schon 2009
Die Bilanz kann sich sehen lassen: Aufgrund einer Ini- im Koalitionsvertrag festgelegt.
tiative der FDP-Bundestagsfraktion wurde nach 20 Jah-
ren endlich die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinder- Erfolgreiche Impulse haben wir mit dem Nationalen
rechtskonvention zurückgenommen. Kinder haben ein Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005
Recht auf kindgerechtes Aufwachsen. Kinderlärm ist bis 2010“ gesetzt. Frau Rupprecht ist schon darauf ein-
deshalb seit diesem Jahr kein Grund mehr zur Klage und gegangen, dass dies in sechs Handlungsfeldern gebün-
kann nicht länger mit Industrielärm gleichgesetzt wer- delt wurde. Nun geht es aber darum, die aus dem NAP
den. gewonnenen Erkenntnisse in den Alltag von Kindern
und Jugendlichen zu transferieren. Zwar endete der NAP
(Beifall bei der FDP) im Jahre 2010, jedoch nicht der Prozess, der damit auf
allen gesellschaftlichen Ebenen angestoßen wurde.
Vor kurzem haben wir im Bundestag das erste Bundes-
kinderschutzgesetz Deutschlands verabschiedet. Dieses Meine Damen und Herren, die Stärkung von Kinder-
Gesetz vernetzt alle Handelnden im Kinder- und Jugend- rechten und die Schaffung von mehr Kindergerechtigkeit
schutz. Auf Betreiben der FDP wurde der Schwerpunkt durch Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist
auf Prävention gelegt. eine dauerhafte Aufgabe, die man nicht zu einem be-
stimmten Zeitpunkt als erledigt einstufen kann. Das
Was die von den Oppositionsfraktionen geforderte
bedeutet: Auch wenn die aktuelle Gesetzeslage der
Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz betrifft,
UN-Kinderrechtskonvention entspricht, so gibt es doch
bleiben wir bei unserem Standpunkt. Es ist doch klar,
stets Verbesserungsbedarf, um die Kinderrechte in
dass das Grundgesetz nicht nur die Belange der Erwach-
Deutschland weiter zu festigen. Mit der Forderung einer
senen, sondern auch die der Kinder berücksichtigt.
Weiterführung des NAP von SPD und Grünen verkennt
Noch ein Wort zum Antrag der Fraktion Die Linke die Opposition wieder einmal die Tatsache, dass die
zur UN-Kinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern. Kompetenz des Bundes darauf beschränkt ist, Anstöße
Darin heißt es wörtlich: zu geben, um modellhaft Verfahren zu erproben. Diese
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17165
Eckhard Pols
(A) Einschränkung ist dem föderalen System in Deutschland Es ist richtig, ich glaube, alle drei Fraktionen haben (C)
geschuldet. Entscheidend ist daher die Umsetzung vor sich bei diesem Gesetz enthalten, und dafür haben wir
Ort; das heißt, Kindergerechtigkeit und Kinderfreund- alle ähnliche Gründe angeführt. Zu diesen Gründen ge-
lichkeit fangen zu Hause an. Deshalb möchte ich die hörte erstens die Implementierung der Familienhebam-
Länder und Kommunen ermutigen, sich mit Aktivitäten men. Hier haben wir gesagt, dass das eigentlich in den
auf ihrer Ebene für eine Stärkung der Kinderrechte und Gesundheitsbereich gehört und auf Dauer angelegt sein
ein kinderfreundliches Umfeld einzusetzen. müsste, nicht nur als Modellprojekt. Als zweiten Grund
haben wir genannt, dass die Kommunen das Ganze auch
Auch ich möchte das Zitat unserer Bundesfamilien- irgendwie umsetzen können müssen. Sie müssen es
ministerin bemühen: „Die besten Kinderrechte helfen finanzieren können.
nichts, wenn sie nur auf dem Papier bestehen.“ Dem
kann man nur zustimmen. Vor diesem Hintergrund ist es Das sind genau die beiden Gründe, weshalb morgen
sehr fragwürdig, ob die von der Opposition schon seit im Bundesrat der Fachausschuss empfehlen wird, zu die-
mehreren Jahren geforderte Aufnahme der Kinderrechte sen beiden Punkten eine Runde im Vermittlungsaus-
ins Grundgesetz tatsächlich zu einer Verbesserung der schuss zu drehen. Diese Forderung wird auch von CDU-
Lebensbedingungen führen würde. Die Aufnahme von geführten Bundesländern getragen.
Kinderrechten ins Grundgesetz würde dem Kind nicht
mehr Rechte zubilligen, als es nach dem geltenden Recht Wie erklären Sie sich – wenn es doch ein so tolles Ge-
schon hat. Schon in der jetzigen Fassung hat jedes Kind setz ist –, dass die Bundesländer das so nicht mittragen
eine eigene Subjektstellung. Eine Ergänzung des Grund- wollen? Das hat nicht nur etwas mit einer Verweige-
rechtekatalogs hätte primär betrachtet eine reine Sym- rungshaltung der Opposition im Bundestag zu tun, son-
bolwirkung. Wichtiger wäre jedoch konkretes Handeln dern damit, dass dieses Gesetz zwar ein netter Versuch
durch einfache Gesetzgebung. ist, aber nicht gut gemacht.

Deswegen ist es richtig, dass wir endlich das so drin- (Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken
gend benötigte Bundeskinderschutzgesetz beschlossen [CDU/CSU]: Eine Frage!)
haben, das von der SPD in der letzten Legislaturperiode
noch blockiert wurde. Aber bei der letzten Abstimmung Eckhard Pols (CDU/CSU):
Ende Oktober hat sich die SPD – wie auch die anderen
Frau Golze, ich habe ja nicht gesagt, dass Sie sich
Oppositionsparteien – enthalten. Nun fragt man sich
verweigert haben. Ich habe nur gesagt, dass sich die op-
wirklich: Wie ernst wird das Thema Kinderschutz in de-
positionsregierten Länder der Sache verweigern. Natür-
ren Reihen genommen?
lich ist es richtig, dass die Kommunen gestärkt werden
(B) Mit dem Bundeskinderschutzgesetz haben wir eine sollen. Dahin kommen wir auch. (D)
neue Qualität im Kinderschutz erreicht, indem wir glei-
chermaßen auf Prävention und Intervention setzen. Kinder Es geht aber grundsätzlich darum, dass wir zunächst
werden in allen Lebensbereichen besser vor Vernachläs- einmal ein Gesetz schaffen und es auf den Weg bringen.
sigung, Misshandlung und Verdrängung von Entwick- Die Kinder, um die es in dem Bundeskinderschutzgesetz
lungsdefiziten geschützt. eigentlich geht, stehen nicht besser da, wenn wir immer
nur reden. Sie müssen doch erkennen, dass wir endlich
einen Schritt nach vorne kommen müssen und nicht nur
Vizepräsidentin Petra Pau: ständig diskutieren können. Dieses Gesetz diskutieren
Kollege Pols, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- wir nun schon seit sechs oder sieben Jahren. In der letz-
kung der Kollegin Golze? ten Legislaturperiode ist es – das habe ich schon gesagt –
an der SPD gescheitert. Jetzt haben wir es auf den Weg
(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) gebracht. Sie haben sich enthalten, vermutlich, weil Sie
dieses Gesetz im Sinne der Kinder wollen. Es kann aber
Eckhard Pols (CDU/CSU): doch nicht sein, dass Sie einem wunderbaren Gesetz
Ja. nicht zustimmen, nur weil es aus der Regierungskoali-
tion kommt.
Diana Golze (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren
Es tut mir leid, aber Sie werden sich noch ein paar Marks [SPD]: Das ist doch Unsinn!)
Minuten länger mit Kinderrechten befassen müssen.
Frau Dörner, ich möchte noch ein Wort zu Ihnen ver-
lieren. Sie haben dargestellt, dass Kinder bei der Bun-
Eckhard Pols (CDU/CSU): deswehr mit 17 rekrutiert würden. Es mag richtig sein,
Das ist schön, Frau Golze. dass sie mit 17 an der Waffe ausgebildet werden können.
Sie werden aber nicht rekrutiert, sondern sie gehen
– wenn überhaupt – dann freiwillig und nur mit der Zu-
Diana Golze (DIE LINKE):
stimmung der Eltern zur Bundeswehr, solange sie noch
Sehr geehrter Herr Pols, ich freue mich, dass Sie die keine 18 sind.
Zwischenfrage zulassen. Es ging um das Kinderschutz-
gesetz und darum, wie sich die Opposition hier im Bun- (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
destag dazu verhalten hat. NEN]: Das habe ich nicht gesagt!)
17166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Eckhard Pols
(A) Sie haben hier den Eindruck vermittelt – weil hier die Überweisungsvorschlag: (C)
Öffentlichkeit zuhört –, dass diese Kinder mit 17 even- Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
tuell in Auslandseinsätzen eingesetzt würden. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ausschuss für Kultur und Medien
NEN]: Das habe ich ausdrücklich nicht ge-
sagt!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
So hat sich das aber in Ihrer Rede angehört, und dem höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. –
möchte ich massiv widersprechen, ebenso der Gleichset-
Liebe Kolleginnen, ich würde gerne die Aussprache er-
zung Jugendlicher, die mit 17 zur Bundeswehr gehen,
öffnen.
mit Kindersoldaten, wie wir sie aus Entwicklungshilfe-
ländern kennen. Die Aussprache ist eröffnet. Das Wort hat die Kolle-
gin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das habe ich auch nicht gesagt! So et- (Beifall bei der LINKEN)
was würde ich niemals machen!)
Das ist nicht in Ordnung. In der Bundeswehr werden Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
eventuell Kinder mit 17 an der Waffe ausgebildet. Diese Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Jugendlichen werden aber in anderen Ausbildungsberu- Herren! Wenn wir über den Industriestandort Deutsch-
fen, wie zum Beispiel Kfz-Mechatroniker, ausgebildet. land reden, dann reden wir normalerweise über Autos,
Sie werden auf keinen Fall zu Auslandseinsätzen vermit- Stahl und Kohle. Eine ganz andere Industrie erfreut sich
telt. ebenfalls guter Konjunktur, spricht aber nicht gern da-
rüber. Reden wir doch heute einmal über das lukrative
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Habe ich beides nicht gesagt!) Geschäft der Abmahnindustrie. Es ist zumindest für die
Betreiber lukrativ, die mit dem Unwissen und der Angst
So viel noch einmal zu diesem Thema. der Bürgerinnen und Bürger sowie mit der Androhung
unglaublich hoher Kosten riesige Gewinne machen.
Vielen Dank.
Wie funktioniert dieses Geschäft? Ein Schüler bei-
(Beifall bei der CDU/CSU) spielsweise lädt durch Filesharing einen Musiktitel he-
runter. Die schlaue Abmahnkanzlei verklagt den Schü-
Vizepräsidentin Petra Pau: ler, weil dieser dem Musiklabel damit einen unglaublich
(B) Ich schließe die Aussprache. hohen Schaden zugefügt hätte. Der angeblich hohe (D)
Schaden wiederum bildet den Streitwert, der Grundlage
Tagesordnungspunkt VI a sowie c bis f: Interfraktio- für die Gebührenrechnung der Anwaltskanzlei ist.
nell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 17/7807, 17/7643, 17/7644, 17/7187 und 17/7772 Unglaublich ist dabei vor allem die Begründung zur
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Berechnung der Schadenshöhe. Die Kanzlei rechnet
vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 17/7644, nämlich wie folgt: Jedes in der Tauschbörse angebotene
Tagesordnungspunkt VI d, soll federführend beim Aus- Werk werde von vier Nutzern pro Stunde heruntergela-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beraten den. Nach einer Stunde verfügten also fünf Nutzerinnen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. und Nutzer über diesen illegalen Download, den sie in
Dann sind die Überweisungen so beschlossen. der kommenden Stunde jeweils vier weiteren Menschen
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- zugänglich machten. Nach sieben Stunden, so besagt es
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu rein rechnerisch die sogenannte Vervielfältigungskette,
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kin- seien bereits 78 125 illegale Kopien im Umlauf. Nach
derrechte in Deutschland umfassend stärken“. Der Aus- 15 Stunden verfügte demzufolge jeder Bürger und jede
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Bürgerin auf dieser Welt über eine sogenannte Raubko-
Drucksache 17/7800, den Antrag der Fraktion der SPD pie. So rechnen Leute mit zwei juristischen Staatsexa-
auf Drucksache 17/6920 abzulehnen. Wer stimmt für men. Ich frage mich: Wer hat hier eigentlich den schwe-
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – ren Schaden? Das ist absurd.
Wer möchte sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung (Beifall bei der LINKEN)
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Die in den vergangenen Jahren entstandene Abmahn-
industrie arbeitet dabei wie folgt: Zuerst ermitteln die
Ich rufe den Tagesordnungspunkt VII auf: Firmen die IP-Adressen, dann beantragen Anwälte mit
Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Unterstützung von Gerichten bei den Providern die He-
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte, weiteren rausgabe der Daten der Anschlussinhaber. Allein die
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein- Deutsche Telekom gibt nach Aussage einer Sprecherin
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begren- jährlich 2,4 Millionen Adressen heraus. Mithilfe dieser
zung der Haftung und der Abmahnkosten bei Adressen beginnt dann das Abmahnen und Absahnen.
Urheberrechtsverletzungen
Nun hat der Gesetzgeber die Erstattungspflicht von
– Drucksache 17/6483 – Abmahnkosten vor einigen Jahren auf 100 Euro be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17167
Halina Wawzyniak
(A) grenzt, allerdings nur, wenn ein einfach gelagerter Fall dem massiven Lobbying seitens der klassischen Verwer- (C)
und kein gewerbliches Handeln vorliegt, die Rechtsver- tungsgesellschaften etwas entgegensetzen; denn die An-
letzung unerheblich ist und der Abgemahnte nicht be- zahl illegaler Downloads geht zurück, die Anzahl der
reits wegen ähnlicher Vorfälle auffällig geworden ist. Sie Abmahnungen steigt.
merken: vier Bedingungen für 100 Euro. Die Idee ist gut,
die Formulierung schlecht. Sie sichert gerade keinen Zum Schluss: Wir sagen, digitale Technologien und
ausgewogenen Interessenausgleich. Verbreitungswege eröffnen große Chancen. Die Fort-
schreibung des Urheberrechts sollte deshalb nicht von
Im Ergebnis ist die Maßnahme voll ins Leere gelau- der Angst vor den damit einhergehenden Veränderungen
fen. Allein im Jahr 2010 sind im Auftrag von Rechtein- diktiert sein. Sie sollte stattdessen der Förderung des
habern rund 600 000 Abmahnungen mit einem geschätz- schöpferischen Potenzials, das in und mithilfe der digita-
ten Gesamtvolumen von 500 Millionen Euro verschickt len Welt erschlossen werden kann, verpflichtet sein.
worden. Dieses fragwürdige wie unverhältnismäßige
Agieren der Abmahnindustrie gegen Bürgerinnen und (Beifall bei der LINKEN)
Bürger wird die Linke nicht hinnehmen, und Sie sollten
es auch nicht tun. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der LINKEN) Kollegin Wawzyniak, wollen Sie die Chance nutzen,
Ihre Redezeit zu verlängern, indem Sie dem Kollegen
Es kommt nämlich noch hinzu, dass Menschen von Kauder eine Frage beantworten oder sich eine Anmer-
Anwaltskanzleien allzu häufig völlig zu Unrecht be- kung von ihm anhören?
schuldigt werden, Musik oder Filme im Internet feilge-
boten zu haben. Das hat manchmal eine unfreiwillige Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Komik, allerdings nicht für die Betroffenen. So be-
Ich bin jetzt aber fertig.
schreibt die Frankfurter Rundschau einen Fall, in dem
eine 36-jährige Frau zu Unrecht beschuldigt wird, einen (Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit)
Pornofilm mit dem Titel Ohne Höschen Vol. 19 illegal
verbreitet zu haben. Dafür wurde ein Streitwert von
Vizepräsidentin Petra Pau:
30 000 Euro festgelegt. Das sagt einiges darüber aus,
was der Abmahnanwalt als künstlerisch wertvoll erach- Der Kollege Ansgar Heveling hat für die Unionsfrak-
tet. Dem Mann ist nicht zu helfen, wohl aber der zu Un- tion das Wort.
recht beschuldigten Frau, wenn wir endlich die gesetzli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen Bestimmungen entsprechend ändern.
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN) Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Die Linke hat am 6. Juli einen Gesetzentwurf vorge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
legt, um genau diesem Gebaren einen Riegel vorzuschie- Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines
ben. Die Justizministerin erklärt vier Monate später, sie Gesetzes zur Begrenzung der Haftung und der Abmahn-
wolle nun der Abmahnindustrie den Kampf ansagen. kosten bei Urheberrechtsverletzungen, der von der Frak-
Wir erlauben ihr, bei uns abzuschreiben. tion Die Linke vorgelegt worden ist. Zunächst einmal ist
das ein sehr sektoral orientierter Gesetzentwurf, denn
(Heiterkeit bei der LINKEN) Abmahnungen sind an sich ein Instrument, das gang und
gäbe ist. Wir kennen es aus dem Bereich des Persönlich-
Meine Fraktion schlägt mit ihrem Gesetzentwurf vor,
keitsrechts, aus dem Markenrecht, dem Wettbewerbs-
zwischen privater und kommerzieller Rechtsverletzung
recht und natürlich auch aus dem Urheberrecht.
zu differenzieren, anstatt wie bisher im Urheberrecht nur
zwischen privat und öffentlich zu unterscheiden. Wir sa- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gen: Was im Internet passiert, ist immer öffentlich. NEN]: Aber da ist es kodifiziert!)
Flankieren wollen wir dies durch die Schaffung eines Grundsätzlich muss man ganz deutlich festhalten,
Gegenkostenanspruchs, wenn jemand zu Unrecht abge- dass Abmahnungen ein legitimes Mittel zur Rechts-
mahnt wird. Wir wollen klare Regeln, um Auskunfts- durchsetzung sind. Sie stellen für die Rechteinhaber ein
pflichten Dritter sinnvoll zu begrenzen, und wir schaffen schnelles außergerichtliches Instrument zur Rechtewah-
Regelungen zur Streitwertminderung. Wir wollen nicht, rung dar. Man darf nicht aus dem Blick lassen, dass es
dass die Rechteinhaber insbesondere solcher Werke von gegenüber anderen Verfahren für den Rechtsverletzer
zweifelhafter Güte oder auch aus anderen Gründen ge- durchaus auch Vorteile gibt. Er wird vor Klageverfahren
ringer Markttauglichkeit Abmahnungen gezielt als In- bewahrt. Oftmals sind die Kosten einer Abmahnung – da
strument für ansonsten nicht realisierbare Gewinne nut- eben außergerichtlich – auch geringer als die Kosten ei-
zen. Kurz gesagt: Niemand soll mehr die Möglichkeit nes Klageverfahrens. Gerade im Urheberrecht kommt es
haben, für Schrott den Bürgerinnen und Bürgern Geld nach einem Abmahnverfahren nicht zu strafrechtlicher
aus der Tasche zu ziehen. Verfolgung. Urheberrechtsverletzungen sind von daher
(Beifall bei der LINKEN) auch in rechtstatsächlicher Hinsicht im Großen und Gan-
zen auf diesem Wege durchaus entkriminalisiert. Das ist
Die Linke will mit ihren Vorschlägen zum Urheberrecht ein großer Schritt, der in dieser Richtung auf die Rechts-
die Rolle der Nutzerinnen und Nutzer stärken. Sie will verletzer zugegangen worden ist.
17168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Ansgar Heveling
(A) Die Abmahnungen haben ohne Frage – da muss man Was aber bieten sich für Lösungen an, um miss- (C)
die Beobachtung der Fraktion Die Linke bestätigen – bräuchliche Abmahnungen zu begrenzen? Ich habe es
stark zugenommen. Bloße Quantität ist aber zunächst eingangs schon angesprochen: Es gibt den Bereich miss-
einmal kein Kriterium für Missbrauchsanfälligkeit. bräuchlichen Vorgehens in berufsrechtlicher Hinsicht,
Wenn jemandem ein Recht zusteht, muss er auch die dass die Anwälte, die missbräuchlich vorgehen, den
Möglichkeit haben, dieses durchzusetzen. Das ist etwas Rechtsanwaltsstatuten zuwiderhandeln. Insofern stellt
vollkommen Legitimes und gilt grundsätzlich auch sich die Frage, ob man berufsrechtlich eingreifen kann
dann, wenn es um Werke von, wie Sie in Ihrem Gesetz- und die Rechtsanwaltskammern stärkt, um auf berufs-
entwurf schreiben, „zweifelhafter Güte“ oder „hohem rechtlichem Wege dagegen vorzugehen.
Alter“ geht. Recht ist zunächst einmal Recht und kann
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen]
durchgesetzt werden.
[CDU/CSU]: Da laufen schon Verfahren!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sicherlich kann man auch darüber nachdenken, den
neten der FDP) § 97 a Abs. 2 des Urheberrechtsgesetzes zu modifizie-
Die Linke möchte für einen einzigen Rechtsbereich, ren. Man kann auch an eine Streichung denken. Auch die
das Urheberrecht, die Abmahnmöglichkeiten begrenzen. Streitwertbegrenzung ist ein Ansatzpunkt, über den man
Ob der mit dem Gesetzentwurf eingeschlagene Weg al- nachdenken sollte. Dann sollte es aber so sein, dass man
lerdings der richtige ist, erscheint uns doch sehr fraglich; zwischen verschiedenen Fallkonstellationen differen-
denn an vielen Stellen ist die Herangehensweise nicht ziert und keine pauschale Streitwertbegrenzung vorsieht.
besonders differenziert. Der Gesetzentwurf erweckt den Der Bereich Aufklärung und Prävention, der in die-
Eindruck, es gebe eine vermeintlich einfache Lösung, sem Bereich des Urheberrechts eine immer größere Be-
aber auf komplizierte Sachverhalte gibt es nun einmal deutung gewinnt, fehlt im Gesetzentwurf der Fraktion
keine einfachen Antworten. Die Linke macht es sich zu Die Linke völlig. Gerade das ist ein Bereich, in dem sich
einfach. unsere Bundesjustizministerin engagieren will.
Im Gesetzentwurf ist an vielen Stellen, jedenfalls in Wir sehen, wie häufig Missbräuche bei Abmahnun-
der Begründung, die Spur des Populismus zu erkennen, gen vorkommen. Wir sehen auch die verschiedenen Fall-
wenn vom „Goldrausch“ und von der „selbstreferentiel- konstellationen. Dementsprechend werden im Bundes-
len Abmahnindustrie“ die Rede ist. Da geht es wohl justizministerium passgenaue Lösungsansätze geprüft.
mehr um die symbolische Wirkung als um die tatsächli- Dabei wird insbesondere Rücksicht genommen – deswe-
chen rechtlichen Regelungen. gen braucht das noch eine gewisse Zeit – auf die Ergeb-
nisse der mit Blick auf das Warnhinweismodell vonsei-
(B) Es ist nicht von der Hand zu weisen: Es gibt schwarze (D)
ten des Wirtschaftsministeriums in Auftrag gegebenen
Schafe, die Abmahnverfahren zu einem Geschäftsmo- vergleichenden Studie, die in den nächsten Wochen vor-
dell entwickelt und dabei gegen viele Grundsätze des gelegt wird. Aus meiner Sicht ist sehr gut nachvollzieh-
Anwaltsberufs verstoßen haben. Valide Daten dazu sind bar, dass man diese Ergebnisse erst einmal abwartet, um
allerdings kaum verfügbar. Es gibt nur quantitative In- die daraus gewonnenen Erkenntnisse in ein Gesetzge-
formationen. Deswegen sollten wir genau wissen, wie bungsvorhaben, das sich nicht nur auf das Urheberrecht,
groß der Handlungsbedarf ist und wo richtigerweise an- sondern auch auf das UWG bezieht, einbauen zu kön-
gesetzt werden sollte. nen. Das wird derzeit abgestimmt, damit die Überprü-
Dass es schwarze Schafe gibt, ist das eine. Der Ge- fung auf der Grundlage valider Daten erfolgen kann. Ich
setzentwurf der Linken erweckt allerdings den Eindruck, begrüße sehr, dass das Ministerium diese Ergebnisse ab-
als seien Abmahnungen im Urheberrecht schon per se warten will.
rechtsmissbräuchlich, was nicht der Fall ist. Das wäre Es lässt sich festhalten, auch in Anbetracht der Studie,
eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Dinge. Wenn es die in Kürze vorgelegt wird: Das, was die Linke vorlegt,
schwarze Schafe gibt, dann geht man ja auch nicht hin ist ein Schnellschuss. Das zeigt, dass es den Linken nicht
und schlachtet gleich die ganze Herde. Auch das muss um eine solide Regelung auf der Grundlage der neuesten
man sehen. Daten geht, sondern darum, Stimmung zu machen und ein
Wenn wir uns dem Abmahnwesen genauer zuwenden Symbol zu platzieren.
wollen, dann müssen wir sehr genau zwischen den Inte- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ressen der Rechteinhaber und dem Schutz der Bürger vor der FDP)
Missbrauch abwägen. Kleine Änderungen können zu
großen Verschiebungen führen, kleine Änderungen kön- Im Gegensatz zur Linken, die Gefühlspolitik betreibt
nen auch große Auswirkungen haben. Der Gesetzent- und auf Verdacht einen Gesetzentwurf vorgelegt hat,
wurf der Fraktion Die Linke geht da sehr begrenzt vor wird das Bundesjustizministerium handwerklich sauber
und orientiert sich im Wesentlichen an einer Begrenzung arbeiten und in der nächsten Zeit sicherlich eine entspre-
des Streitwertes. Damit gehen Sie auf viele Nebeneffekte chende Lösung vorlegen. Wir werden den Gesetzentwurf
gar nicht ein. Auch die Alternativen werden nicht ausdif- natürlich beraten. Ich kann mir aber nicht vorstellen,
ferenziert diskutiert. Insofern ist uns dieser Gesetzent- dass er auf Zustimmung stoßen wird.
wurf zu pauschal. Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17169

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: rungen an das Impressum ins Telemediengesetz aufge- (C)
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Zypries für die nommen wurden. Dadurch wurde wenigstens ein Teil
SPD-Fraktion. der Beschwernisse weggenommen.
(Beifall bei der SPD) Die Abmahnwelle hat sich mittlerweile aber auf die
Wettbewerbsverstöße verlagert. Ich meine, dass der
Bundestag sehr wohl aufgerufen ist, sich Gedanken da-
Brigitte Zypries (SPD):
rüber zu machen, wie man insbesondere den kleinen Un-
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen ternehmungen, die im Internet Geld verdienen wollen,
und Kollegen! Es ist lobenswert, dass die Fraktion Die und dem Mittelstand zur Seite stehen kann, damit diese
Linke mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung Geschäftsmodelle funktionieren.
der Haftung und der Abmahnkosten bei Urheberrechts-
verletzungen in diesem Hohen Haus eine Debatte zum (Beifall bei der SPD)
Urheberrecht initiiert; denn, wie alle Fraktionen wissen,
Nun verhält es sich mit diesem Thema aber leider wie
der Gesetzentwurf aus dem Bundesministerium der Jus-
mit anderen Ankündigungen aus dem Hause der Justiz-
tiz zum sogenannten dritten Korb des Urheberrechts ist
ministerin. Auch hier wurde eine Gesetzesinitiative an-
ebenso überfällig wie andere Gesetzentwürfe. Als Stich-
gekündigt. Es ist allerdings für mich und für meine Frak-
worte nenne ich nur „verwaiste Werke“ und „Leistungs-
tion nicht zu erkennen – es ist nicht nur unser Problem –,
schutzrecht“. Es gibt noch andere Themen, zu denen die
wann jemals ein Gesetzentwurf dazu kommen wird.
Ministerin Gesetzentwürfe angekündigt hat, die aber bis
Vielleicht können Sie Aufklärung schaffen, Herr Staats-
heute leider nicht vorgelegt wurden. Der Gesetzentwurf
sekretär.
als solcher ist aber, wie mein Vorredner eben schon aus-
geführt hat, nicht ausgereift; diesbezüglich gebe ich Ih- (Stephan Thomae [FDP]: Gut Ding will Weile
nen völlig recht. haben! – Siegfried Kauder [Villingen-Schwen-
ningen] [CDU/CSU]: Nicht mehr vor Weih-
Die Idee, eine Deckelung der Abmahnkosten einzu- nachten!)
führen, die wir in der letzten Legislaturperiode hatten,
ist, wie ich meine, nach wie vor richtig; denn es gibt in – Das steht zu befürchten. Die Frage ist nur, in welchem
der Tat zahlreiche Auswüchse, die es zu bekämpfen gilt. Jahr, Herr Kollege.
Richtig ist aber auch – auch das haben wir damals schon
gesagt –: Es muss dem Urheber möglich sein, mit geisti- Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke ist also
gen Werken im Internet Geld zu verdienen; das ist doch schon deswegen verdienstvoll, weil er dem Hohen Haus
völlig unstreitig. Dafür bedarf es im Einzelfall auch der Gelegenheit gibt, die Ministerin daran zu erinnern, dass
(B) Möglichkeit der Rechtsverfolgung. Abmahnungen sind die Aufgabe eines Ministers nicht nur die Verhinderung (D)
ja nicht per se zu kritisieren; da haben Sie völlig recht, von Gesetzen ist, sondern auch deren Vorlage für eine
Herr Kollege. Es geht vielmehr darum, dass es schwarze sinnvolle Weiterentwicklung des Rechts in Deutschland.
Schafe unter den Anwälten gibt, die dieses Abmah- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
nungsrecht sehr weit auslegen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben uns schon in der letzten Legislaturperiode
immer wieder darum bemüht, die zuständigen Berufs- Vizepräsidentin Petra Pau:
organisationen dazu zu bewegen, ihrerseits zu schauen, Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die
was verschiedene Anwälte so machen. Ich meine, dass FDP-Fraktion.
hier auch die Bundesrechtsanwaltskammer in der Ver-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
antwortung steht und etwas tun muss. Das muss über-
prüft werden.
Stephan Thomae (FDP):
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kol-
[CDU/CSU]: Die tut schon etwas!) legen! Der Kollege Heveling sprach gerade von schwar-
Es wird immer viel geredet über illegale Tauschbör- zen Schafen im Besonderen und von Schafen im Allge-
sen und über die Frage, wie die Musikindustrie im Inter- meinen. Ich habe überlegt: Warum gibt es eigentlich in
net Geld verdienen kann, bzw. darüber, wie sie es ver- Deutschland mehr Schafe oder Kühe als
liert. Ich möchte den Fokus auf einen anderen Punkt (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
richten: Es ist nach wie vor ein sehr großes Ärgernis für NEN]: Wölfe!)
den deutschen Mittelstand, dass verantwortungslose An-
wälte auch mit ihnen fragwürdige Geschäfte machen Störche oder Wildschweine? Ganz einfach: Weil Kühe
wollen. Unter Ausnutzung der Möglichkeit, dass man je- oder Schafe jemandem gehören. Warum gibt es in
manden wegen Wettbewerbsverstößen abmahnen kann, Deutschland mehr geistig schöpferische Menschen als
werden Abmahnungen an Unternehmen geschickt, deren zum Beispiel in Nigeria?
Impressum zum Beispiel nicht dem Telemediengesetz (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
entspricht oder die die Vorgaben der Preisangabenver- NEN]: Jetzt aber vorsichtig!)
ordnung nicht ordnungsgemäß eingehalten haben. Auch
dieses Problem kennen wir schon länger. Es wurde be- Ganz einfach: Weil bei uns Kreativität stärker geschützt
reits ein erster Schritt unternommen, indem die Anforde- wird.
17170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Stephan Thomae
(A) Grundsätzlich sind wir uns einig, dass wir ein Be- terwerfungsangebote. Natürlich müssen Abmahnungen (C)
kenntnis zum Schutz geistigen Eigentums ablegen soll- hoch genug sein, um ernst genommen zu werden, aber
ten. Ich lese in der Begründung des Gesetzentwurfs der auch niedrig genug, um akzeptiert zu werden. Deswegen
Linken, Frau Wawzyniak: planen wir – Diskussionen darüber sind im Gange –,
Mechanismen zu finden, mit denen eine nachvollzieh-
Das Schutzregime von Sachgütern kann nicht un- bare Streitwertermittlung – es geht nicht um eine Pau-
differenziert und unmittelbar auf das Immaterial- schale – möglich ist. Das ist Gegenstand unserer Überle-
güterrecht übertragen werden. Es ist schon fraglich, gungen. Solche Mechanismen werden in Ihrem Gesetz-
ob immateriellen Rechtsgütern überhaupt der glei- entwurf nicht angesprochen.
che abwehrrechtliche Schutz geboten werden muss.
Das zweite Problem, dessen wir uns annehmen wol-
Das löst bei mir einen Reflex aus, den ich nur schwer len – eine Behandlung finde ich in Ihrem Gesetzentwurf
unterdrücken kann. Da leuchtet nämlich durch, worauf nicht –, ist das Problem des sogenannten fliegenden Ge-
es Ihnen eigentlich ankommt. Wer so argumentiert, Frau richtsstandes,
Wawzyniak, der legt die Axt an Grundvoraussetzungen
unserer Eigentums- und damit auch unserer Gesellschafts- (Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE
ordnung. LINKE])
(Marco Buschmann [FDP]: Sozialismus des also das Problem, dass der Abmahner, der Rechteinha-
geistigen Eigentums!) ber, sich aussucht, wo er Klage erhebt. Ein Abmahnan-
walt kann sich immer zu dem Gerichtsstand begeben,
Wer etwas investiert, wer etwas riskiert, der muss die
von dem er weiß, dass er verbraucherfeindlich und urhe-
Chance haben, die Früchte seines Fleißes und die
berfreundlich urteilt. Wir müssen einmal schauen, ob es
Früchte seines Risikos zu ernten. Diese Chance muss der
Möglichkeiten gibt, die Festlegung des Gerichtsstands
Staat schützen, egal ob diese Rechtsgüter materiell oder
so zu regeln, dass auch der Abmahnende ein gewisses
immateriell sind. Das ist die erste Feststellung, die ich
Prozesskostenrisiko zu tragen hat.
im Hinblick auf Ihre Gesetzentwurfsbegründung vortra-
gen will. (Burkhard Lischka [SPD]: Ändern, nicht nur
Die zweite Feststellung ist, dass wir Liberale, wir bür- schauen!)
gerliche Parteien uns zunächst solidarisch mit dem erklä- Dadurch könnte eine Art Waffengleichheit hergestellt
ren, der sich rechtmäßig verhält. Jeder Abmahnung – so werden.
ärgerlich sie auch sein mag und sosehr man über manche
Einzelheiten diskutieren müssen wird – geht zunächst (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
(B) einmal ein Rechtsverstoß voraus, im Zusammenhang mit CDU/CSU) (D)
einer Urheberrechtsverletzung eine Urheberrechtsverlet- – Es darf geklatscht werden.
zung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des Abg. Burkhard Lischka [SPD])
NEN]: Oder nicht, Herr Kollege!)
Das dritte Problem ist der Gegenanspruch; auch dies
Zunächst: Was ist die rechtliche Funktion der Abmah- wird in Ihrem Gesetzentwurf angesprochen. Bei unge-
nung? Sie enthält eine Warnung. Sie ist ein außergericht- rechtfertigten Abmahnungen muss der Abmahnende mit
liches, ein vorgerichtliches Instrument und kann ein der Gefahr eines ernsten Kostenerstattungsanspruchs
noch teureres Gerichtsverfahren überflüssig machen. konfrontiert sein. Dieses Thema wird in Ihrem Gesetz-
Die Abmahnung soll auch ein Angebot, ein Unterwer- entwurf zu Recht angesprochen.
fungsangebot sein, um einen zivilrechtlichen Streit vor
Gericht zu vermeiden, hat also auch die Funktion, kos- (Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])
tengünstig Rechtsfrieden herzustellen. Es ist also auch
ein prozessökonomisches Instrument. Das ist in meinen Es gibt ein paar Punkte, die wir sehr konstruktiv und
Augen eine weitere wichtige Feststellung: dass eine Ab- nachdenkenswert finden. Wir werden uns Ihren Gesetz-
mahnung immer noch besser ist als eine Klage. Aber entwurf noch einmal in verbesserter Form zu Gemüte
solch ein Unterwerfungsangebot muss Akzeptanz finden führen und dann beizeiten – gut Ding will Weile haben –
können – da haben Sie in der Begründung Ihres Gesetz- einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen.
entwurfs nicht unrecht – und darf deswegen nicht über- Lassen Sie mich ein Fazit formulieren:
zogen sein.
Erstens. Das Bekenntnis zum geistigen Eigentum
Dritte Feststellung. In der Tat hat die Bundesministe- sollte Grundbestand dieses Parlaments sein.
rin der Justiz im Oktober 2011, also unlängst, angekün-
digt, dass sie drei Hauptprobleme angehen will. Zwei da- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
von haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf angesprochen. CDU/CSU)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das Zweitens. Abmahnungen sind zunächst einmal sinn-
können Sie abschreiben!) voller als eine klageweise Geltendmachung.
Erstens geht es um das Problem der hohen Streit- Drittens. Auswüchse bei Abmahnungen müssen wir
werte. Hohe Streitwerte senken die Akzeptanz der Un- uns im Zusammenhang mit den drei Punkten „Streitwert“,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17171
Stephan Thomae
(A) „fliegender Gerichtsstand“ und „Kostenerstattung“ ge- verlangt werden, während die Rechtsanwaltskanzleien (C)
nauer ansehen und, wenn möglich, beseitigen. oder die mit ihnen verbundenen Firmen bei den Rechte-
inhabern mit der für sie völligen Kostenlosigkeit des Ab-
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Frau mahnverfahrens werben. Dieses Geschäftsmodell ist im
Wawzyniak, in ihrem Gesetzentwurf schreiben die Lin- Ergebnis kriminell und verstößt in hohem Maße gegen
ken, dass Verletzungen geistigen Eigentums – ich zitiere anwaltliche Berufspflichten.
jetzt wörtlich aus ihrem Gesetzentwurf – „keine weiteren
Folgen für den Inhaber haben“. Dazu muss ich sagen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Oben auf der Besuchertribüne sitzt jemand, der ein Ab- bei der SPD und der LINKEN)
rechnungssystem für Tankstellen geschaffen hat. Das ist
eine geistige Schöpfung. Wenn jemand diese stiehlt, Im Abmahnverfahren geltend gemachte sogenannte
dann sagen Sie, dass dies keine weiteren Folgen für den Pauschalen für Aufwand und Schadensersatz in Höhe
Inhaber hat. von mehreren Hundert bis mehreren Tausend Euro stel-
len selbst für die Rechteinhaber, die nur einen Bruchteil
(Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Noch dieses Betrags erhalten, das Zigfache dessen dar, was
mal lesen!) aus Einnahmen aus legaler Lizenzierung zu erzielen
wäre. So wirbt das Unternehmen DigiRights Solution
Wir sagen, dass das für ihn sehr wohl weitere Folgen hat. mit folgenden Worten – Zitat –:
Es ist für ihn unter Umständen sogar existenzbedrohend.
Wir nehmen diese Sache also ernster als Sie. Wir wollen Der Ertrag aus erfassten und bezahlten illegalen
Auswüchse beseitigen. Sie müssen Ihr Verhältnis zu Downloads beträgt das 150-Fache eines legalen
Fleiß, zu Risiko und zu Eigentum grundlegend überden- Downloads.
ken.
Auch das Bundesjustizministerium bestätigt diesen
Vielen Dank. gewerblich organisierten und systematischen Miss-
brauch des Urheberrechts und der Abmahnungen und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kündigt deswegen einen eigenen Gesetzentwurf an. Al-
lerdings weist das BMJ zu Recht darauf hin – auch Frau
Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Zypries hat darauf hingewiesen –, dass es sol-
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol- che Missbrauchsstrukturen auch im Wettbewerbsrecht
lege Montag das Wort. gibt und dass der Gesetzentwurf der Linken dazu
schweigt.
(Beifall bei der SPD – Dr. Edgar Franke [SPD]:
(B) Herr Montag, wir klatschen für Sie!) Ich kann zum Gesetzentwurf der Linken an dieser (D)
Stelle nur kursorisch Stellung nehmen. Sie wollen die
Abmahnung als Rechtsinstitut im Urheberrecht nicht ab-
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaffen; da geht Ihre Polemik fehl. Aber § 97 a Abs. 2
Danke. Das hätte ich nicht erwartet. – Frau Präsiden- des Urheberrechtsgesetzes wollen Sie ersatzlos strei-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Problemdar- chen. Damit wollen Sie die im Gesetz vorgegebene Be-
stellung im Gesetzentwurf der Linken ist durchaus rich- schränkung der Anwaltsgebühren auf eine Höhe von
tig. Wenn allein von deutschen Internetprovidern 100 Euro in einfach gelagerten Fällen gewährleisten.
monatlich über 300 000 Adressauskünfte wegen angeb- Dazu sage ich Ihnen: Ja, diese Vorschrift hat viele
licher Urheberrechtsverletzungen im Internet eingeholt Schlupflöcher, weil „unerhebliche Verletzung“ und „ein-
werden, dann ist die Größenordnung „Hunderttausende fach gelagerte Fälle“ Kaugummibegriffe sind.
von Abmahnungen in Deutschland pro Jahr“ sicherlich
nicht zu hoch gegriffen. Dazu passt der immense An- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Deswegen
stieg der Zahl gerichtlicher Entscheidungen nach § 101 machen wir eine neue Regelung!)
Abs. 9 Urheberrechtsgesetz. An manchen Landgerichten Das habe ich bereits 2008 an dieser Stelle kritisiert, und
gibt es bis zu 3 000 Verfahren pro Jahr, pro Verfahren ich habe um eine Präzisierung gebeten.
mit mehreren Tausend IP-Adressen. Es gibt Gerichtsver-
fahren, in denen Beschlüsse zu über 11 000 IP-Adressen (Stephan Thomae [FDP]: Da haben Sie recht
gefasst wurden. gehabt!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verbraucherzentra- Ich bin mir nicht sicher, dass der Weg der Linken der
len berichten, dass ihre Arbeit inzwischen zu mehr als richtige Weg ist. Es sollte Ihnen zu denken geben, dass
50 Prozent in der Beratung zu Abmahnverfahren besteht. auch die FDP 2008 hier in diesem Hause die Streichung
Es ist festzustellen, dass sich diese Abmahnungen auf dieser Vorschrift vorgeschlagen hat.
spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien konzentrieren,
dass diese wiederum eng mit Firmen zusammenarbeiten, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber wir
deren Geschäftszweck ausschließlich darin besteht, die machen das anders!)
Urheberrechte nur zum Zwecke des Abmahnwesens zu Sie wollte damit den Rechtsanwälten zu hohen Gebüh-
bündeln und das Geschäft der Internetrasterung nach ren verhelfen.
noch so banalen Urheberrechtsverletzungen zu betrei-
ben. Dabei ist festzustellen, dass Abmahngebühren in (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber wir
Höhe von mehreren Hundert bis mehreren Tausend Euro haben eine Alternative!)
17172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Jerzy Montag
(A) Aber hilft die Abschaffung dieser Vorschrift im Ab- Sogar mit missbräuchlichen Abmahnungen lässt sich (C)
mahnwesen? So wie in Ihrem Gesetzentwurf vorgese- Kasse machen.
hen, hilft sie nicht.
Ich rate allerdings davon ab, Abmahnungen deswegen
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Doch! pauschal zu verurteilen; diesem Impuls sollten wir nicht
Streitwert auf 1 000 Euro!) nachgeben. Abmahnungen bleiben ein wichtiges Instru-
ment, um Urheberrechtsverletzungen zu unterbinden, ef-
Sie versuchen, die Streitwerte über § 104 a Urheber-
fektiv, zeitnah und im Übrigen auch kostengünstig für
rechtsgesetz und § 51 b Gerichtskostengesetz zu erfas-
alle Beteiligten. Das war der Grund, weshalb wir bei der
sen, beziehen diese Streitwertreduzierungen aber nur auf
letzten Urheberrechtsnovelle 2008 in § 97 a Abs. 1 aus-
§ 97 Urheberrechtsgesetz,
drücklich aufgenommen haben, dass der in seinem Recht
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein!) Verletzte abmahnen soll; denn es liegt natürlich auch im
Interesse des Rechtsverletzers, dass er zunächst einmal
lassen also den § 97 a Urheberrechtsgesetz außen vor.
die Chance erhält, im Wege der Abmahnung eine außer-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein!) gerichtliche Beilegung herbeizuführen.
Damit wird den Hunderttausenden abgemahnter und ab- Es ist auch wichtig, zu betonen, dass Urheberrechts-
gezockter Bürger nicht geholfen. verletzungen kein Kavaliersdelikt darstellen. Das Inter-
net ist kein rechtsfreier Raum. Wer also Film- oder Mu-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist
sikdateien in Tauschbörsen illegal herunterlädt und mit
falsch!)
anderen teilt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden über die Unrecht begeht. Der Urheber ist darauf angewiesen, dass
weiteren Punkte, die Sie vorschlagen, in unseren Bera- sein Werk auch im Internet Schutz erfährt, zumal in der
tungen im Rechtsausschuss und in der Sachverständi- digitalen Welt sein Werk binnen Sekunden illegal ver-
genanhörung, die wahrscheinlich kommen wird, näher vielfältigt werden kann.
diskutieren. Wir werden Ihren Gesetzentwurf mit dem
Deswegen ist es nicht hinnehmbar, wenn Sie vorschla-
Gesetzentwurf vergleichen, von dem ich hoffe, dass er
gen, die Kosten der Rechtsverfolgung auf vorsätzliche
uns vielleicht doch noch vor Weihnachten 2011 als Refe-
Rechtsverletzungen zu beschränken und auf Tätigkeiten,
rentenentwurf zugestellt wird, sodass wir im nächsten
die gewerblicher Natur oder selbstständiger beruflicher
Jahr, nach Möglichkeit gemeinsam, zu einer Lösung
Natur sind. Damit würden die Urheber gegenüber Urhe-
kommen können, die der kriminellen und massenhaften
berrechtsverletzungen, die nicht vorsätzlich, nicht ge-
Abzocke der Bürgerinnen und Bürger im Urheberrecht,
werblich oder nicht beruflich erfolgen, völlig auf sich
aber auch im Wettbewerbsrecht Einhalt gebietet.
(B) selbst gestellt sein. Sie könnten die Kosten ihrer Rechts- (D)
Danke. verfolgung nicht geltend machen. Das würde massenhaf-
ten Rechtsverletzungen geradezu Tür und Tor öffnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ist ein völlig falsches Signal.
und bei der SPD)
Die Linke versucht sich mit ihrem Gesetzentwurf am
Vizepräsidentin Petra Pau: Urheberrecht; aber das bleibt natürlich Flickschusterei,
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die wenn nicht zumindest auch das Wettbewerbsrecht mit in
Unionsfraktion. den Blick genommen wird. Auch im Wettbewerbsrecht
haben wir es mit Massenabmahnungen zu tun, die oft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wegen Lappalien völlig überzogene Kosten verursachen.
Die Bundesregierung hat das offenkundig erkannt und
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): deswegen ihren Staatssekretär Hintze aus dem zuständi-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen Bundeswirtschaftsministerium in diese Debatte ent-
Urheberrechtsverletzungen im Internet haben massiv zu- sandt. Herzlich willkommen!
genommen. In der digitalen Welt ist es eben sehr leicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und es kann sehr schnell gehen, dass Rechtsverletzungen
begangen werden. Deswegen haben die Rechteinhaber Wir dürfen die Missstände bei Abmahnungen also nicht
zunächst einmal Wege und Mittel finden müssen, um ge- isoliert betrachten, sondern wir brauchen ein schlüssiges
gen massenhafte Urheberrechtsverletzungen wirksam Gesamtkonzept, das neben dem Urheberrecht zumindest
vorzugehen. auch das Wettbewerbsrecht umfasst.
Das Instrument der Abmahnung ist dabei ein probates Ich habe viel dafür übrig, die Abmahnkosten zu be-
Mittel, weil es eben ermöglicht, die Unterlassung von grenzen. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir den so-
Urheberrechtsverletzungen durchzusetzen. Erst in den genannten fliegenden Gerichtsstand einschränken. Und
letzten Jahren ist diese zu Recht kritisierte Abmahn- wir sollten in der Tat über angemessene Streitwerte
industrie entstanden. Es ist ein Phänomen, dass Mas- nachdenken.
senabmahnungen zu einem eigenen Geschäftsmodell
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
werden, das gar nicht so sehr mit dem Schutz des Wett-
des Abg. Stephan Thomae [FDP])
bewerbs oder der Urheber zu tun hat, sondern ganz un-
abhängig davon der Gewinnerzielung dient. Selbst bei Was die Abmahnkosten angeht: Wir haben mit § 97 a
geringsten Rechtsverletzungen entstehen hohe Kosten. Abs. 2 im Urheberrechtsgesetz bereits den Versuch un-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17173
Thomas Silberhorn
(A) ternommen, diese Abmahnkosten zu begrenzen. Aber ten. Bagatellverstöße führen also zu gewaltigen Kosten- (C)
die Deckelung auf 100 Euro in einfach gelagerten Fällen folgen.
bei erstmaligen und unerheblichen Rechtsverletzungen
Wir sollten von der Möglichkeit, den Streitwert he-
hat praktisch kaum Bedeutung erlangt. Die Rechtsbe-
rabzusetzen, besser Gebrauch machen. In der Praxis fin-
griffe sind schlichtweg zu unbestimmt, sodass diese Re-
det das offenbar vielfach nicht statt. Vielleicht könnten
gelung weitgehend ins Leere läuft. Wir sollten hier also
wir diesen Weg erweitern. Wir sollten darüber hinaus ins
nachsteuern. Entweder schaffen wir es, die tatbestandli-
Auge fassen, das Gerichtskostengesetz zu ändern, um
chen Voraussetzungen zu präzisieren und zum Beispiel
bei der Streitwertfestsetzung den wirtschaftlichen Belan-
auf bestimmte, praktisch bedeutsame Fallgestaltungen
gen beider Seiten besser gerecht zu werden.
zu konzentrieren, oder wir sollten darüber nachdenken,
diese Regelung wieder zu streichen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen
den unlauteren Wettbewerb verhindern und die Urheber-
Es spielt in diesem Zusammenhang sicherlich eine rechte schützen. Aber wir müssen auch die Auswüchse
Rolle, dass vor allem bei unberechtigten und miss- der Abmahnindustrie da zurückschneiden, wo sie auf
bräuchlichen Abmahnungen die Kostenfolgen besonders Gewinnerzielung gerichtet sind und wo das eigentliche
virulent sind. Deswegen habe ich Verständnis für den Interesse, nämlich den Wettbewerb und den Urheber zu
Vorschlag, dem vermeintlichen Rechtsverletzer ebenfalls schützen, nicht mehr ersichtlich ist. Abmahnungen dür-
den Anspruch einzuräumen, dass ihm die Kosten seiner fen nicht länger ein eigenständiges Geschäftsmodell zur
Rechtsverfolgung ersetzt werden. Das ist ein Gebot der bloßen Gewinnerzielung sein. Das Bundesjustizministe-
Waffengleichheit und ganz sicher ein wirksamer Schutz rium arbeitet an entsprechenden Gesetzentwürfen. Auf
vor unberechtigten und auch vor missbräuchlichen Ab- dieser Grundlage werden wir zeitnah weiter beraten kön-
mahnungen. nen.
Ein Bruchteil der Fälle landet letztlich vor den Ge- Vielen Dank.
richten. Dabei ist bemerkenswert, dass die Rechteinha-
ber ihre Ansprüche oft nicht mehr verfolgen, wenn die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Abgemahnten Rechtsbeistand einholen und die geltend Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
gemachten Unterlassungsansprüche und Abmahnkosten Das war eine gute Rede!)
zurückweisen. Das ist wohl ein Indiz dafür, dass manche
Abmahnung doch nicht berechtigt war. Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Edgar Franke für die
Wir haben aber den sogenannten fliegenden Gerichts-
SPD-Fraktion.
stand, der es den Klägern ermöglicht, den für sie güns-
(B) tigsten Gerichtsstand auszuwählen. Wenn man bedenkt, (Beifall bei der SPD) (D)
dass das ein Gerichtsstand sein kann, der oft weit ent-
fernt vom Rechtsverletzer liegt, dann erkennt man: Das Dr. Edgar Franke (SPD):
kann für den Rechtsverletzer selbst bei unberechtigten Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Bei
und missbräuchlichen Abmahnungen dazu führen, dass der Einbringung des Justizhaushaltes im Mai dieses Jah-
er die Kosten seiner Vertretung scheut und dass am Ende res habe ich bereits ein paar Anmerkungen zum Abmah-
die Vertretung seiner eigenen Interessen verhindert wird. nungsunwesen im Urheberrecht gemacht. Ich habe mich
Deswegen sollten wir darüber nachdenken, den Ge- damals gefragt, ob dieses Thema für eine allgemeine
richtsstand im Grundsatz auf den Wohnsitz oder den Ge- Haushaltsdebatte nicht zu banal ist und ob man darüber
schäftssitz des Beklagten zu beschränken. im Rahmen der Haushaltsberatungen überhaupt spre-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der chen sollte. Aber – Sie werden es kaum glauben – ich
LINKEN) habe unmittelbar danach, noch am selben Tag, über
200 E-Mails und unzählige Briefe bekommen. Darunter
Die hohen Kosten von Abmahnungen und Unterlas- waren Kommentare, Anfragen und Erfahrungsberichte
sungsklagen liegen meist in Gegenstands- und Streitwer- über den Kontakt mit großen Rechtsanwaltskanzleien.
ten begründet, die als überhöht empfunden werden und Sie haben von schwarzen Schafen gesprochen, Herr
es wohl oft auch sind. Dabei spielt eine Rolle, dass sich Heveling. Ich glaube, davon gibt es – das muss man
die Streitwerte selbst in Bagatellfällen auf über auch in dieser Debatte ehrlich sagen – eine ganze Reihe.
5 000 Euro eingependelt haben, weil damit die Zustän- Es waren teilweise wirklich auch Hilferufe. Die Leute
digkeit der Landgerichte begründet werden kann. Dann fühlten sich subjektiv eingeschüchtert und ungerecht be-
kommt man natürlich schnell auf viele Hundert Euro handelt, wenn sie von großen Kanzleien Unterlassungs-
Abmahnkosten und viele Tausend Euro, wenn Gerichts- erklärungen zugesandt bekamen und damit konfrontiert
kosten und Rechtsanwaltsgebühren dazukommen. wurden. Das ist ja immer mit einer Schadensersatzforde-
rung verbunden, Frau Wawzyniak.
Dabei stehen die hohen Streitwerte oft in keinem Ver-
hältnis zur begangenen Rechtsverletzung. Wenn etwa Ich habe dabei auch wieder etwas gelernt: Es sind oft-
Kinder unbedacht, aber illegal Lieder von Teeniebands mals nicht die großen politischen Fragestellungen, son-
aus dem Internet herunterladen, dann sehen sich die Fa- dern die kleinen Probleme, bei denen die Menschen Un-
milien oft mit exorbitanten Kosten konfrontiert. Ähnlich gerechtigkeit empfinden und die sie bewegen – auch
ergeht es vielen Unternehmen, wenn sie zum Beispiel emotional. Ich habe den einen oder anderen angerufen
die Impressumspflicht auf ihren Internetseiten missach- und mir ein paar Beispiele schildern lassen. Sie haben ja
17174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Dr. Edgar Franke


(A) auch schon ein skurriles Beispiel genannt. Ich will hier Streitwert ausgehen. Ich finde, darüber sollte man nach- (C)
ganz kurz von einem weiteren Beispiel berichten: Ein denken. Das kann nicht vernünftig, richtig und vom Ge-
Ehepaar – er 67, sie 58 Jahre alt – hat mich angerufen. setzgeber gewollt sein.
Sie sollen den Film Fast & Furious Five – dabei geht es
um schnelle Autos und um Verfolgungsjagden in Park- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jerzy Montag
häusern – in den sogenannten Tauschbörsen zum Tausch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
angeboten haben. Sie waren zum angegebenen Zeitpunkt Wenn man § 32 ZPO nicht ändern will, sollte man
gar nicht zu Hause, und trotzdem war es für die Leute in wenigstens darüber nachdenken, die Gegenstandswerte
der Praxis ganz schwer, zu beweisen, dass sie nichts ge- im Gerichtskostengesetz – auch das haben Sie angespro-
macht haben. chen – zu begrenzen.
Oftmals geht es hier um ein ganz praktisches Pro- Eine kritische Anmerkung muss ich abschließend
blem: Der Provider benutzt bei der Ermittlung der IP- noch machen, Frau Wawzyniak. Der von Ihnen vorgese-
Adresse eine Software, die feststellt, welcher PC in den hene neue § 104 a des Urheberrechtsgesetzes, nach dem
Peer-to-Peer-Filesharing-Netzwerken – so heißt das, der Streitwert dann gemindert werden kann, wenn der
glaube ich –, in den Tauschbörsen, aktiv wird. Selbst Ex- Betroffene kein Geld hat, ist eher eine Robin-Hood-
perten, mit denen ich telefoniert habe, haben mir gesagt, Norm und nicht unbedingt praktikabel, zumal wir auch
dass die Zuverlässigkeit der Software angezweifelt wer- Prozesskostenhilfe für wirtschaftlich Schwächere haben.
den muss. Wenn der sogenannte Zeitstempel nicht exakt Vor diesem Hintergrund ist die Umsetzung Ihres Vor-
generiert wird, lässt sich eine zuverlässige Zuordnung schlags ein bisschen schwierig.
des Anschlussinhabers nicht immer herstellen. Da die
Zeitbestimmung so problematisch ist, ergeben sich in Grundsätzlich ist das Rechtsinstitut der Abmahnung
der Praxis sehr große Fehlerquellen. In mehreren Berich- – darüber sind wir, glaube ich, alle einer Meinung – ver-
ten der Frankfurter Rundschau stand, dass man insge- nünftig, weil es letztlich die Gerichte entlastet. Es ist ein
samt von 100 000 zu Unrecht Abgemahnten ausgehen Instrument, das beibehalten werden soll, aber wir müs-
muss. sen im Rahmen der Beratungen schauen, was wir ändern
können. Wir sollten, am besten zusammen, ganz kon-
Da hier der Anscheinsbeweis zugunsten des Verletz- struktiv die eine oder andere zivilrechtliche Vorschrift
ten Anwendung findet, hat es der unbegründet Abge- kritisch überprüfen. Das ist wichtig und sinnvoll. Ich
mahnte in der Praxis sehr oft schwer. Herr Heveling, freue mich, dass wir dahin gehend heute Abend einer
sonst wäre auch eine solche Rückmeldung wie die des Meinung sind.
von mir angesprochenen Ehepaares nicht unbedingt
Danke schön.
(B) nachvollziehbar. Diese würde es auch sonst so nicht ge- (D)
ben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Norbert
Ich glaube, es ist heute von allen viel Richtiges gesagt Geis [CDU/CSU])
worden. Auch ich möchte jetzt inhaltlich ein paar grund-
legende Anmerkungen zum Gesetzentwurf der Linken Vizepräsidentin Petra Pau:
machen. Ich glaube, die Analyse ist richtig – das hat Ich schließe die Aussprache.
Frau Zypries ja schon betont –, aber an einigen Punkten
müssen wir nacharbeiten, auch rechtlich. Ihr Gesetzent- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurf hat nämlich ein paar handwerkliche Schwächen. wurfs auf Drucksache 17/6483 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Von vielen – von Herrn Silberhorn, von Herrn dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Montag und eigentlich auch von allen anderen – ist Dann ist die Überweisung so beschlossen.
§ 97 a Abs. 2 Urheberrechtsgesetz angesprochen wor-
den. Ich glaube, es war zunächst einmal richtig und gut, Ich rufe den Tagesordnungspunkt VIII auf:
dass man ihn in das Urheberrechtsgesetz aufgenommen Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
hat. Wir müssen ihn sicherlich modifizieren, weil er oft- Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer
mals ins Leere läuft. Es gibt allerdings – ich habe einmal Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
nachgeschaut – einige Urteile gerade aus dem Bereich DIE GRÜNEN
Südhessen, auch vom Amtsgericht Frankfurt, wo er kon-
sequent angewendet wird. Wir können zwar im Detail Grundrechte von intersexuellen Menschen
diskutieren, ob wir das eine oder andere modifizieren wahren
oder präzisieren müssen, aber im Prinzip geht er in die – Drucksache 17/5528 –
richtige Richtung. Frau Wawzyniak, ich denke, wir soll-
ten Abs. 2 vielleicht eher präzisieren, als eine grundle- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
gend neue Systematik einzuführen. Innenausschuss
Rechtsausschuss
(Beifall bei der SPD) Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Herr Silberhorn, Sie haben zu Recht den sogenannten
fliegenden Gerichtsstand angesprochen. In der Praxis ru- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
fen spezialisierte Kanzleien ja nur Gerichte in den Ge- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
richtsbereichen an, die erfahrungsgemäß vom höchsten höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17175
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Die grüne Bundestagsfraktion hat nach vielen Gesprä- (C)
gin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- chen mit intersexuellen Menschen und Expertinnen und
nen. Experten einen Maßnahmenkatalog vorbereitet, den wir
Ihnen heute hier präsentieren. Neben der Forderung,
dass das prophylaktische, medizinisch nicht erforderli-
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
che Entfernen und Verändern der Genitalien bei inter-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sexuellen Kindern unterbleiben soll, schlagen wir vor,
Wir beraten heute zum ersten Mal in der Geschichte des die Fiktion, wonach intersexuelle Menschen in unserer
Bundestages einen Antrag, der sich mit der Situation in- Gesellschaft nicht existieren, zu beenden.
tersexueller Menschen befasst. Damit brechen wir ein
Tabu, das jahrzehntelang dazu geführt hat, dass Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schen, bei denen Chromosomen und innere oder äußere
Dafür müssen wir das Personenstandsgesetz sowie
Geschlechtsorgane nicht übereinstimmend einem weibli-
die gesetzlichen Grundlagen für die offizielle statistische
chen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden Erhebung so ändern, dass bei der Angabe „Geschlecht“
konnten oder die in sich uneindeutig waren, medizini- nicht nur zwei Antworten möglich sind. Ansonsten wird
schen Menschenversuchen unterzogen und gesellschaft- das geltende Recht das medizinische Personal und auch
licher Ausgrenzung ausgesetzt wurden. intersexuelle Menschen weiterhin zu den kontrafakti-
Deswegen möchte ich in erster Linie meinen Respekt schen Angaben zwingen.
allen mutigen intersexuellen Menschen ausdrücken, die Ferner fordern wir die Bundesregierung auf, gemein-
mit ihren höchstpersönlichen Lebensgeschichten in die sam mit den Ländern ein unabhängiges Beratungs- und
Öffentlichkeit gegangen sind, allen, die trotz der Gefahr, Betreuungsangebot für betroffene Kinder und deren El-
erneut von unserer Gesellschaft unmenschlich behandelt tern, für betroffene Heranwachsende und Erwachsene zu
zu werden, so viel Kraft gefunden haben, und schließlich schaffen und dabei die Beratungs- und Selbsthilfeein-
allen, die angesichts der Untätigkeit der staatlichen Or- richtungen der Betroffenenverbände einzubeziehen;
gane nicht aufgegeben haben, sondern sich an internatio- denn das sind die wirklichen Experten in der Gesell-
nale Organisationen in der Hoffnung gewendet haben, schaft.
dass sich dann das, was ihnen passiert ist, nicht wieder-
holt. Den intersexuellen Menschen wie deren Familien, die
der Medizin und dem Rechtsstaat vertraut haben, sind wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine nachträgliche Unterstützung schuldig. Aber auch
sowie der Abg. Christel Humme [SPD]) den intersexuellen Menschen, die künftig geboren wer-
(B) den, müssen wir helfen. Daher muss eine Beratungsstelle (D)
Sie haben uns die Augen geöffnet, die diese Probleme für die Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe
lange nicht gesehen haben. Dafür danke ich dem Verein zur medizinischen, psychologischen und gesellschaftli-
Intersexuelle Menschen, der Internationalen Vereinigung chen Aufklärung eingerichtet werden. Ihre Ausbildungs-
Intergeschlechtlicher Menschen und der Selbsthilfe- und Prüfungsordnungen sollen um das Thema Inter-
gruppe „XY-Frauen“. Diese Menschen haben uns gezeigt, sexualität ergänzt werden. Ebenso brauchen wir verstärkt
wie unvorbereitet und unsensibel wir als Gesellschaft Fort- und Weiterbildungen.
sind, wenn wir mit dem Phänomen der Intersexualität
konfrontiert werden. Die Schicksale, die uns geschildert Nicht zuletzt brauchen wir weitere wissenschaftliche
worden sind, sind grausam. Basierend auf heute falschen interdisziplinäre Forschungen zum Thema Intersexuali-
wissenschaftlichen Erkenntnissen hat man sie nach ihrer tät mit einem interdisziplinären Ansatz, auch unter Be-
Geburt an ihren Genitalien operiert, um der in unserer Ge- teiligung von Kultur- und Gesellschaftswissenschaften
sellschaft erwarteten geschlechtlichen Eindeutigkeit ge- sowie der Betroffenenverbände. Das sind wir den inter-
recht zu werden. Sie wurden dabei kastriert und von einer sexuellen Menschen schuldig.
lebenslangen Hormontherapie abhängig gemacht. Deshalb bitte ich alle Fraktionen um Unterstützung
Als sie später fragten, was mit ihnen passiert ist und der von mir gerade skizzierten Forderungen, was einer-
seits für die Menschen, die etwas Schlimmes erfahren
wieso sie die Medikamente nehmen müssen, hat man ih-
haben, etwas Wiedergutmachung bedeuten könnte und
nen oft die Wahrheit verschwiegen. Darüber hinaus wur-
andererseits künftig Geborene vor ähnlichen Erfahrun-
den sie im Dienst der Medizin als Objekte missbraucht,
gen bewahren sollte.
indem sie beispielsweise in Publikationen abgebildet
wurden. Wir können uns gar nicht vorstellen, was es be- Ich biete gern die Zusammenarbeit in den Beratungen
deutet, wenn diese Menschen später in Lehrbücher an, sodass wir am Ende vielleicht zu einer gemeinsamen
schauen und dann ihre eigenen Fotos sehen. Lösung kommen. Dazu soll unser Antrag eine Anregung
sein.
Wir alle haben viel zu lange das Problem nicht wahr-
genommen. Umso wichtiger ist es, dass wir versuchen, Ich bedanke mich.
gemeinsam und entschlossen das Problem anzugehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg.
bei der SPD und der LINKEN) Dr. Peter Tauber [CDU/CSU])
17176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Damit sind wir schnell bei der Frage: Was brauchen (C)
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die intersexuelle Menschen denn eigentlich? Zu beurteilen,
Unionsfraktion. was diese Menschen – auch individuell – brauchen, ist
sicherlich nicht ganz leicht. Diese Frage stellen wir uns
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei allen soziologischen Gruppen, mit denen wir uns be-
fassen. Immer geht es dabei am Ende aber um Indivi-
duen. Jedes Individuum hat durchaus – das wissen wir
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
schon aus unseren Arbeitsgruppen und Fraktionen – un-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und terschiedliche Bedürfnisse. Wir müssen auch aufpassen,
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Es dass wir bei der Antwort auf diese Frage nicht Gefahr
ist das erste Mal, dass der Deutsche Bundestag über die- laufen, alle intersexuellen Menschen über einen Kamm
ses Thema berät. In Deutschland gibt es nach offiziellen zu scheren. Auf alle Fälle muss das Ziel unserer Politik
Angaben etwa 8 000 bis 10 000 intersexuelle Menschen; sein, den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu wer-
andere Zahlen liegen sogar noch darüber. Wir zählen den, wenn wir politische Rahmenbedingungen setzen. Es
jährlich etwa 150 bis 340 Personen, die so geboren wer- geht also wieder um die Frage: Welche spezifischen,
den. Schon diese Spannbreite von 150 bis 340 Personen konkreten Bedürfnisse haben diese Menschen neben der
zeigt, welchen Nachholbedarf wir bei diesem Thema ha- Enttabuisierung dieses Themas und der Hilfe bei der Lö-
ben; denn in einem Land wie Deutschland, in dem jedes sung von Problemen? Ich glaube, dass es wichtig ist, den
Detail statistisch erfasst wird, ist es nahezu unvorstell- Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ihre Wünsche,
bar, dass darüber keine klareren Zahlen vorliegen. Ziele und Vorstellungen selbst zu artikulieren. Derje-
nige, der in der Situation ist, kann das am besten nach-
Auch deswegen ist es gut, dass wir heute über dieses
empfinden und uns sagen, was ihn umtreibt. Es ist nicht
Thema reden – es wird dem einen oder anderen ähnlich
klug, zu glauben, wir könnten die Situation der Betroffe-
gegangen sein –: Bei der Frage: „Worüber sprichst du in
nen beurteilen und gute Ratschläge geben.
der Debatte? Was ist das für ein Thema?“, hat man zu-
nächst einmal ein bisschen was zu erklären und zu erzäh- Der Deutsche Ethikrat hat sich im Auftrag der Bun-
len. Das ist gut. Deswegen ist es richtig und wichtig, desregierung mit der Situation intersexueller Menschen
dass wir uns heute hier ausführlicher mit diesem Thema intensiv befasst und ist dabei, dem Handlungsbedarf
befassen, und hoffentlich nicht nur heute und hier. nachzuspüren. Ich habe den Eindruck, dass der Deutsche
Ethikrat das in den zurückliegenden Monaten sehr be-
Intersexualität bezeichnet unterschiedliche Formen hutsam und kompetent getan hat. Wir rechnen damit,
der Uneindeutigkeit der Geschlechtszugehörigkeit eines dass das Gutachten zum Jahresende abgeschlossen, dann
(B) Menschen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was das final beraten und im ersten Quartal 2012 der Bundesre- (D)
nicht nur individuell für jeden Betroffenen, sondern für gierung vorgelegt wird. Diese beachtenswert behutsame,
diese Menschen in den letzten Jahrzehnten und Jahrhun- vielleicht sogar empathische Art bei der Annäherung an
derten in unserem Land und heute vielleicht noch in an- dieses Thema verdient Anerkennung und Respekt.
deren Teilen dieser Welt bedeutete. Wichtig war bei diesem Diskurs, dass alle Seiten zu
Jetzt leben wir in Deutschland in einem Sozialstaat. Worte kamen: Mediziner, Psychologen, Juristen, Vertre-
Wir haben das Grundgesetz mit seinen unveränderbaren ter von Elterninitiativen, Vereinen und Organisationen
Grundrechten. Das ist eine gute Grundlage, um sich die- sowie nicht zuletzt die Betroffenen selbst. Es gab eine
ses Themas weiter anzunehmen; denn das Grundgesetz Diskussionsplattform im Internet mit wissenschaftlichen
spricht ganz klar davon, dass allen Menschen unabhän- Beiträgen, an der sich alle, die Interesse an dem Thema
gig von ihren körperlichen, geistigen und sonstigen Ei- hatten, beteiligen konnten. Über die laufende Diskussion
genschaften dieselben Grundrechte zustehen. Wir alle hinaus wurden dort alle relevanten Themen dokumen-
stehen in der Pflicht – auch wir von staatlicher Seite –, tiert, sodass wir darauf in der weiteren Diskussion zu-
dass die im Grundgesetz verankerten Rechte und Pflich- rückgreifen können.
ten gegenüber allen Menschen gewahrt werden. Nun Aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen und
mag bei intersexuellen Menschen die Eindeutigkeit der notwendige gesellschaftliche Diskurse anzuregen, ge-
Geschlechtszugehörigkeit aus medizinischer Sicht um- hört zu den im Ethikratgesetz verankerten Aufgaben des
stritten sein. Niemals darf jedoch ihre Zugehörigkeit zu Ethikrates. Die von der Bundesregierung in Auftrag ge-
unserer Gesellschaft und damit der Anspruch auf die gebene Stellungnahme zu diesem Thema wird uns, wie
universellen Grundrechte infrage gestellt werden. gesagt, zu Beginn des kommenden Jahres vorliegen. Sie
wird eine Auseinandersetzung mit Fragen der Legitimi-
Intersexuelle Menschen sind Menschen, die nicht in tät medizinischer Eingriffe, der gesundheitlichen Fehl-
das medizinische und rechtliche Konstrukt zweier ab- versorgung, des Personenstandsrechts und der Möglich-
grenzbarer Geschlechter passen, die also weder klar als keit eines finanziellen Ausgleichs für widerfahrenes
männlich noch klar als weiblich definierbar sind. Diese Leid bieten müssen. Einige dieser Themen haben Sie ja
Menschen können gängigen Geschlechternormen nicht bereits in Ihrem Antrag genannt.
zugeordnet werden; darauf hat die Kollegin von den
Grünen bereits hingewiesen. Aber sie teilen mit uns die Die Wahrheit ist: Intersexualität ist ein Thema, für das
wohl zentrale und wichtigste Eigenschaft: Wir alle sind es vielleicht noch nicht in ausreichendem Maße Sensibi-
Teil dieser Gesellschaft. Das sollte sich auch im tägli- lität und Verständnis gibt. Daher freut es mich umso
chen Leben widerspiegeln. mehr, dass wir auf der erwähnten Plattform eine Fülle
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17177
Dr. Peter Tauber
(A) von Wortmeldungen registrieren konnten, die Anregun- Christel Humme (SPD): (C)
gen und Impulse für die weitere Diskussion, auch für un- Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
sere Diskussion gegeben haben. In dem allgemeinen Was wir nicht verstehen können, das darf nicht sein. – Ich
Prozess, der in dem Diskursverfahren des Ethikrats von- glaube, das ist das Motto, nach dem bisher im Umgang
stattenging, stellten sich schnell drei Punkte heraus, über mit intersexuellen Menschen verfahren wurde. Diesen
die Konsens herrscht. Da sie unstrittig sind, sollte man Eindruck gewinnt man eindeutig.
sie an dieser Stelle durchaus erwähnen. Natürlich haben
Wir haben schon gehört, um welche Menschen es
intersexuelle Menschen das Menschenrecht auf Nicht-
geht: Es geht um Menschen, die nicht in unser vor-
diskriminierung. Natürlich haben sie das Recht auf kör-
herrschendes Klassifizierungssystem „männlich“ oder
perliche Unversehrtheit und Gesundheit. Und sie haben
„weiblich“ passen. Mit dieser Zuordnung beginnt für
– das ist ganz wichtig – ein Selbstbestimmungsrecht, das diese Menschen gleichzeitig ein langer Leidensweg. Ich
über dem Elternrecht steht. Sie haben das Recht, zu ent- glaube, es ist an der Zeit, zu sagen: Den dürfen wir nicht
scheiden, wer und wie sie sein möchten. Diese Entschei- länger dulden.
dung darf ihnen von niemandem genommen werden,
nicht von ihren Eltern und auch nicht von der Politik. Die Medizin spricht von einer Störung der Ge-
schlechtsentwicklung und empfiehlt eine kosmetische
Diese Menschen müssen ihr ganzes Leben mit den Genitaloperation – und das bereits im Säuglings- oder
Entscheidungen, die sie treffen, leben. Das gilt insbeson- Kleinkindalter. Viele intersexuelle Menschen, die in frü-
dere für diejenigen, die in einem Körper leben, der ohne hester Jugend diese Operation über sich ergehen lassen
gesundheitliche Relevanz und aus einem vermeintlich mussten, sehen sich zu Recht als Opfer von Verstümme-
ästhetischen Ideal heraus im frühen Kindesalter operativ lung. Sie sind ihr Leben lang schwer traumatisiert.
verändert wurde. Deswegen, glaube ich, müssen wir auf-
passen, dass wir keine pauschalen Regelungen aus dem Ärzte maßen sich an, stellvertretend für die Betroffe-
Boden stampfen, dass wir diese Menschen nicht wieder nen eine nicht korrigierbare Entscheidung zu treffen. Sie
in Kategorien zwängen und ihnen nicht wieder eine Son- und die Eltern befinden darüber, ob ein Kind künftig ein
derrolle abseits einer wie auch immer gearteten Norm Junge oder ein Mädchen zu sein hat – und das, obwohl
zuweisen. Im Idealfall akzeptieren wir diese Menschen sie wissen, dass sich zu diesem Zeitpunkt die sexuelle
so, wie sie sind, als Teil unserer Gesellschaft, räumen ih- Identität noch gar nicht ausgebildet hat.
nen keine Sonderrolle ein, sondern geben ihnen die Herr Tauber hat schon gesagt, dass es sich nicht um
Möglichkeit der Wahrnehmung der gleichen unveräußer- Einzelfälle handelt – leider –, sondern dass in der Bun-
lichen Rechte wie jedem anderen Menschen in unserem desrepublik jährlich bis zu 340 intersexuelle Menschen
Land auch. geboren werden und wir bis heute von insgesamt 10 000
(B) (D)
ausgehen müssen. Da es immer eine Dunkelziffer gibt,
Wir sehen der Stellungnahme des Ethikrats mit gro- lässt sich vermuten, dass es wahrscheinlich noch viel
ßem Interesse entgegen. Ich gehe davon aus, dass sie ge- mehr Menschen sind.
eignet sein wird, viele Fragen zu klären und ein sicheres
Fundament für etwaige politische Entscheidungen zu ge- Was ist zu tun? Sie haben viel Gutes in dem Antrag
ben. So werden das Interesse und die Rechte der Betrof- der Grünen aufgeschrieben, Frau Lazar. Ich möchte noch
fenen gewahrt und so weit wie möglich unterstützendes einmal drei Punkte hervorheben:
staatliches und gesellschaftliches Handeln initiiert. Erstens. Es ist vollkommen richtig, zu sagen, dass wir
Änderungen im deutschen Personenstandsrecht brau-
Es ist ganz gut, dass wir diese Debatte heute begon-
chen. Man muss sich das einmal vorstellen: Neugebo-
nen haben. Ich hoffe, dass wir den sachlichen Ton, der
rene – das wissen Sie vielleicht – müssen in Deutschland
uns bei anderen Themen vielleicht manchmal fehlt, bei
innerhalb einer Woche angemeldet werden. Es wird eine
diesem Thema fortführen können; denn, um mit den
Geburtsurkunde erstellt, die den Namen des Kindes und
Worten von Frau Veith, der Vorsitzenden des Vereins In- seiner Eltern und das Geschlecht enthält. Damit beginnt
tersexuelle Menschen e. V., zu sprechen: eigentlich schon der Leidensweg der Betroffenen; denn
Es gilt, das Tabu um das Leben intersexueller Men- nach unserem deutschen Recht kann man entweder
schen zu beseitigen, eine gesellschaftliche Akzep- „männlich“ oder „weiblich“ eintragen. Damit geraten
tanz zu schaffen und die Rechte aller, auch inter- Eltern unter unnötigen und sogar gefährlichen Zug-
sexueller Menschen zu wahren. Intersexuelle zwang; denn sie werden gedrängt, eine Entscheidung zu
Menschen … sind, was sie sind: Menschen. fällen, die die gesamte Zukunft ihres Kindes nachhaltig
beeinflusst.
Herzlichen Dank. Sollte es nicht eine weitere Kategorie, nämlich „inter-
(Beifall im ganzen Hause) sexuell“, geben? Was spricht dagegen, das entspre-
chende Feld im Ausweis unter Umständen bis zur Puber-
tät oder vielleicht sogar, was ich begrüßen würde, bis zur
Vizepräsidentin Petra Pau: Volljährigkeit einfach freizulassen? Australien zum Bei-
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme für die spiel hat ganz aktuell eine Lösung gefunden. Vielleicht
SPD-Fraktion. sollten wir uns das etwas näher ansehen. Ich weiß: Man-
che befürchten, dass, wenn so etwas im Ausweis steht,
(Beifall bei der SPD) Kinder und Jugendliche Diskriminierung erfahren. Aber
17178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Christel Humme
(A) genau an diesem Punkt entlarven wir uns. Denn es fehlt Schönen Dank. (C)
an umfangreicher Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit:
(Beifall im ganzen Hause)
für die Betroffenen, ihre Angehörigen und letztlich für
uns alle.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich glaube, wir sollten auch noch einmal darüber Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
nachdenken, ob die Stelle, die auch für Diskriminierung FDP-Fraktion.
wegen der sexuellen Identität zuständig ist, nämlich die
Antidiskriminierungsstelle, in ihr noch aufzubauendes (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Beratungsnetzwerk auch diese Menschen einbezieht.
Das fände ich gut, Sibylle Laurischk (FDP):
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Monika Lazar Situation von intersexuellen Menschen bin ich erstmals
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kostet durch eine Veranstaltung aufmerksam geworden, auf der
wieder Geld!) sie sich vorgestellt haben und auf der ich mich mit Men-
schen, die sich als intersexuell bezeichnen, gesprochen
sowohl mit Blick auf die Öffentlichkeitsarbeit als auch habe. Das war für mich eine sehr eindrucksvolle Erfah-
hinsichtlich der Hilfestellung. Kürzungen sind an dieser rung. Sie hat mich durchaus erschüttert, weil mir Men-
Stelle der falsche Weg. schen gegenübersaßen, die eine Frau oder ein Mann zu
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, nun zum meiner sein schienen, aber ein anderes Geschlecht hatten und
Ansicht nach wichtigsten Punkt, dem Selbstbestim- sich auch damit auseinandersetzen mussten, dass sie als
mungsrecht der intersexuellen Menschen. Herr Tauber Kinder Operationen erlebt haben, die sie nicht verstan-
hat das schon sehr eindringlich betont. Wir dürfen die den haben, über die sie keine Informationen hatten und
Deutungshoheit – das ist meine Überzeugung – über das die sie ein Leben lang belasten, weil sie von Kindheit an
Phänomen Intersexualität nicht länger der Medizin über- nicht mit ihrer Situation umzugehen gelernt haben.
lassen; denn Intersexualität ist weder eine Krankheit Das hat mir deutlich gemacht, dass wir, auch wenn es
noch eine Störung. Eine Geschlechts-OP sollte künftig sich nur um eine kleine Gruppe in unserer Bevölkerung
nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn die Opera- handelt, es hier mit grundlegenden Menschenrechtsfra-
tionseinwilligung von den Betroffenen selbst gegeben gen zu tun haben, insbesondere mit Fragen der Men-
wird. schenwürde. Ich denke, es ist sehr sinnvoll, dass wir uns
mit diesem Thema nachdrücklich und nachdenklich aus-
Die heutige Praxis wird nicht nur von Nichtregie-
(B) rungsorganisationen klar als Menschenrechtsverletzung einandersetzen, es ernst nehmen und es nicht als partei- (D)
politische Fragestellung missverstehen. Dass das keiner
bezeichnet. Auch der Gleichstellungsausschuss der Ver-
tut, davon bin ich überzeugt.
einten Nationen, CEDAW, hat im Jahr 2009 Deutschland
gemahnt, internationale Menschenrechte auch bei inter- Wir wissen mittlerweile, dass es Menschen gibt, die
sexuellen Menschen zu garantieren. Auch die UN-Kin- eben nicht eindeutig als Mädchen oder Junge, als Mann
derrechtskonvention, die vorhin bei den Kinderrechten oder Frau geboren werden. Wir wissen auch, dass das in
schon ein wichtiges Thema war, verpflichtet die Bundes- der Vergangenheit über viele Jahre große Irritationen
regierung dazu, die Rechte des Kindes als Individuum zu ausgelöst hat. Noch bis in die 80er-Jahre des letzten
achten. Jahrhunderts wurden uneindeutige genitale, chromo-
somale und gonadische Geschlechtsmerkmale meist
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schon in frühester Kindheit chirurgisch „angepasst“, oder
DIE GRÜNEN)
es wurde versucht, die Geschlechtsidentität hormonell zu
Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass endlich beeinflussen. Auch heute gibt es noch solche Ansätze.
die Betroffenen allein über ihre sexuelle Identität ent-
Die Betroffenen können bzw. konnten sich im Kin-
scheiden dürfen – und darüber, ob sie eine ge-
desalter nicht dagegen wehren und verstehen erst lang-
schlechtsangleichende OP in Anspruch nehmen möchten
sam, was ihnen widerfahren ist. Sie fordern, Intersexua-
oder nicht.
lität rechtlich und gesellschaftlich anzuerkennen. Dabei
Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, das berufen sie sich auch auf das Diskriminierungsverbot der
Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung und sexuelle UN und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. In
Selbstbestimmung müssen auch für intersexuelle Men- diesem Zusammenhang ist fast alles gesellschaftlich,
schen selbstverständlich sein. rechtlich und medizinisch umstritten. Nicht nur Zeit-
punkt und Reichweite der Maßnahmen, sondern auch die
Frau Lazar, Sie haben viele gute Vorschläge gemacht.
rechtlichen Konsequenzen, die ein „drittes Geschlecht“
Herr Tauber, ich war begeistert davon, dass Sie in Ihrer
haben könnte, sind bislang völlig ungeklärt.
Rede vieles unterstützt haben. Darum wäre ich dafür,
dass wir nicht nur die Ergebnisse des Ethikrates abwar- Der Deutsche Ethikrat ist daher vom Familienminis-
ten, sondern uns zugleich selber bemühen, eine Anhö- terium zu einer Stellungnahme aufgefordert worden und
rung mit den Gesundheitspolitikern, den Rechtspoliti- hat unter anderem eine Onlinedebatte gestartet. Davon
kern und den Innenpolitikern durchzuführen, um dieses haben wir schon gehört. Der Ethikrat näherte sich zuerst
differenzierte Problem zu erfassen und gemeinsam eine der Frage, ob es sich bei den einzelnen Formen von In-
Lösung für diese Menschen zu finden. tersexualität um eine Störung oder um eine Variante der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17179
Sibylle Laurischk
(A) Geschlechtsentwicklung handelt. In diesem Zusammen- schlechtszuweisende Operationen grundgesetzwidrig sein (C)
hang mussten viele Erfahrungen und Bedürfnisse von könnten und umgehend verboten werden müssten.
Betroffenen bewertet und berücksichtigt werden. In ei-
Es mag sein, dass Intersexualität den Zahlen nach nur
ner ersten Einschätzung der öffentlichen Anhörung vom
eine kleinere Gruppe der Gesellschaft betrifft. Die Größe
8. Juni dieses Jahres hat der Deutsche Ethikrat verlaut-
einer Gesellschaft beweist sich aber im Umgang mit ih-
bart:
ren Minderheiten.
Medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisung (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
betreffen den Kern des Persönlichkeitsrechts jedes
Menschen, seine Geschlechtsidentität, sexuelle Das unglaubliche und unwürdige Vorgehen, welches die-
Empfindungsfähigkeit und seine Fortpflanzungsfä- ser Gruppe bisher widerfuhr, müssen wir thematisieren,
higkeit. Hier findet das Elternrecht seine Grenzen und wir müssen eine Lösung herbeiführen, die einem de-
und auch dies spricht dafür, mit solchen Eingriffen mokratischen Rechtsstaat würdig ist und die die Würde
so lange wie möglich zu warten, damit die betroffe- intersexueller Menschen schützt.
nen Intersexuellen selbst entscheiden können.
(Beifall im ganzen Hause)
Die abschließende Darstellung des Ethikrats wird für
Anfang 2012 erwartet. Darauf sind wir alle sehr ge- Vizepräsidentin Petra Pau:
spannt. Den Redebeitrag der Kollegin Dr. Barbara Höll für
Den Begriff der Intersexualität prägte 1915 der Gene- die Fraktion Die Linke nehmen wir zu Protokoll1).
tiker Richard Goldschmidt. Er verwies damit auf ge- Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke für die
schlechtliche Erscheinungsformen, die er als Mischun- Unionsfraktion.
gen zwischen einem idealtypischen männlichen und
weiblichen Phänotyp betrachtete. Obwohl das Phäno- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
men nunmehr fast 100 Jahre bekannt ist, stehen wir noch neten der FDP)
immer ganz am Anfang der Debatte.
Jürgen Klimke (CDU/CSU):
Die häufig angenommene Theorie, man könne das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Geschlecht medizinisch festlegen, führt heute noch im- Ich freue mich, dass ich hier als Menschenrechtspolitiker
mer vor allem zu genitalangleichenden Operationen. der Union zu den Grundrechten intersexueller Menschen
Diese Eingriffe erfordern meist langfristige Nachbe- Stellung nehmen kann und darf. Denn das Recht der se-
handlungen. Betroffene wissen oft nichts über den Hin- xuellen Selbstbestimmung betrifft nicht nur die sexuelle
(B) tergrund. Dies führt zu falschen medizinischen Folgebe- Orientierung, sondern auch die Geschlechtsidentität und (D)
handlungen. So werden zum Beispiel die auf der Kranken- damit auch die Intersexualität. Deshalb ist es auch Auf-
kassenkarte als weiblich gekennzeichneten Menschen, gabe von uns Menschenrechtspolitikern, an der Umset-
die aber im Kerngeschlecht xy-chromosomal sind, falsch zung dieses Grundrechtes in adäquate Gesetzgebung
behandelt. mitzuwirken.
Zu den psychischen Schäden gehören starke Trauma- Das Thema intersexuelle Menschen und der Gedanke,
tisierungen durch die Operationen und ihre Folgen. Zu- dass hier noch mehr vorhanden ist als die beiden Ge-
dem sind die Reaktionen des auf eine angeblich mögli- schlechter „männlich“ und „weiblich“, ist jenseits von
che Geschlechtsfestlegung drängenden sozialen Umfeldes Betroffenen und einigen Experten weitgehend neu. Was
und die Tabuisierung der Intersexualität oft belastend. uns nicht persönlich trifft, sollten wir jedoch nicht igno-
Betroffene kritisieren aus diesen Gründen zu Recht rieren. Vielmehr sind wir Politiker in diesem Zusam-
die Zwangsfestlegung – insbesondere im Kindesalter – menhang zum Handeln aufgerufen.
und fordern, die Genitaloperationen erst dann durchzu- Eines muss gleich am Anfang angemerkt werden: Das
führen, wenn der intersexuelle Mensch die Operation lange vorherrschende Denken, dass die Festlegung auf
aus eigenem Willen möchte und ihr zustimmen kann. ein Geschlecht für die weitere Entwicklung von Interse-
Chirurgische Anpassungen im Kindesalter werden von xuellen die einzige Lösung sei, ist der falsche Weg, ob
Betroffenen mit der unsäglichen Praxis der Beschnei- wir uns das nun vorstellen können oder auch nicht. In
dung weiblicher Genitalien gleichgesetzt. Das ist eine der Fachwelt zeichnet sich inzwischen ein Paradigmen-
Auffassung, für die ich viel Verständnis habe. Persönlich wechsel ab. Die breite Öffentlichkeit ist jedoch jenseits
bin ich der Auffassung, dass niemand ohne Erlaubnis von Klischees noch nicht genügend über das Thema auf-
und ohne die durch das Lebensalter der Betroffenen an- geklärt und auch noch nicht genügend sensibilisiert. Das
zunehmende Einsicht das Recht hat, an den Genitalien gilt teilweise auch für das Fachpersonal im Gesundheits-
eines Kindes oder Jugendlichen herumzuschneiden. wesen, für Ärzte, Psychotherapeuten oder eben auch
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Hebammen.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Während Homosexualität heute in vielen Bereichen
Neben diesen Geboten der Ethik wirft die bisherige in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und von
Praxis erhebliche rechtliche Fragestellungen auf, denen einem überwiegenden Teil der Menschen akzeptiert
wir uns stellen müssen. So kommen mittlerweile etliche
Gutachten und Dissertationen zu dem Ergebnis, dass ge- 1) Anlage 2
17180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

Jürgen Klimke
(A) wird, kann man das von der Intersexualität nicht behaup- terschiedliche Ausformung der Geschlechtsmerkmale (C)
ten. Homosexuelle Menschen und ihre Familien können sowie die selbstempfundene Zuordnung sind hier zu be-
sich in einer Vielzahl von Beratungsstellen Unterstüt- rücksichtigen. Allein dies zeigt, dass es nicht die Inter-
zung für den Umgang mit ihrer Situation einholen. Zu- sexualität gibt, sondern eine Vielzahl verschiedener For-
dem sind wir gerade in den letzten Jahren mit der politi- men.
schen Gleichberechtigung der Homosexuellen vorange- Während früher bei Intersexualität die Zuweisung zu
kommen. einem der beiden Geschlechter – verbunden mit Opera-
Das können wir über intersexuelle Menschen nicht tionen, Medikamenteneinnahme und eindeutig männli-
sagen. An wen sollen sich Eltern wenden, wenn sie das cher oder weiblicher Erziehung – der Lösungsweg oder
Geschlecht ihres Kindes nicht eindeutig zuordnen kön- der vermeintliche Lösungsweg war, wurde im Rahmen
nen? Ist in einem solchen Fall die Hebamme, der Gynä- eines Hamburger Forschungsprojekts festgestellt, dass
kologe, der Kinderarzt oder der Psychotherapeut der diese Geschlechtskorrektur eigentlich nur selten das Ziel
richtige Ansprechpartner? Wird dessen Rat wirklich in individueller Zufriedenheit erreicht hat. Ich zitiere Frau
Richter-Appelt aus ihrem Vortrag: Die hohe psycho-
angemessener Weise den aktuellen wissenschaftlichen
soziale Belastung und das beeinträchtigte Körpererleben
Erkenntnissen gerecht? Ich glaube, man darf hier noch
machen es deutlich, dass trotz medizinischer Behandlun-
Zweifel haben. Auch im Personenstandsrecht wird inter-
gen häufig kein psychophysisches Wohlbefinden ge-
sexuellen Menschen nicht genügend Rechnung getragen. währleistet werden konnte.
Um wirklich zielführende Verbesserungen zu errei- Wir benötigen also auch im medizinischen Bereich
chen, benötigen wir aber zuallererst fundierte wissen- andere Ansätze, die der Vielfalt der Intersexualität stär-
schaftliche Informationen und ethische Bewertungen. ker Rechnung tragen und die gegebenenfalls auch zu ei-
Hier ist der Deutsche Ethikrat – es ist hier mehrfach an- ner stärkeren Beschäftigung der Psychotherapie mit die-
gesprochen worden – die richtige Stelle. sem Thema führen könnten. Um es zusammenzufassen:
Richtig ist auch, dass der Deutsche Ethikrat aufgrund Wir brauchen mehr Forschung, mehr Sensibilität, mehr
Aufklärung und Beratung sowie eine andere Herange-
der großen Bedeutung und der Komplexität des Themas
hensweise bei geschlechtskorrigierenden Maßnahmen.
ein Gutachten erarbeitet – es wurde eben angesprochen –,
Weiter benötigen wir eine Regelung, die intersexuellen
das in den nächsten Monaten die Bundesregierung errei-
Menschen in unserem binären Geschlechtskonzept bes-
chen wird. Erste Veröffentlichungen bestärken mich in ser gerecht wird.
der Annahme, dass dieses Gutachten zu einer ausgewo-
genen, einer neuen Betrachtungsweise führen wird und Der Ethikrat arbeitet zurzeit an all diesen Punkten. Er
einen Leitfaden auch für den weiteren politischen Um- wird sicher zu einem Ergebnis kommen, das die Bundes-
(B) gang mit diesem Thema bieten kann. regierung in politisches Handeln umsetzen kann. Vor (D)
diesem Hintergrund glaube ich, dass wir das Ende dieser
Ich bitte deshalb die Grünen, zu überlegen, ob es Arbeit noch abwarten sollten. Sosehr ich nachvollziehen
nicht sinnvoll ist, den Antrag so lange zurückzustellen, kann, dass aus Sicht der Grünen hier Handlungsbedarf
bis der Bericht vorliegt und vielleicht von uns behandelt besteht, so sehr glaube ich doch, dass wir jetzt nicht mit
worden ist, damit wir auf Grundlage eines noch breiteren Schnellschüssen Anträge beschließen, sondern dazu bei-
Expertenwissens debattieren und entscheiden können. tragen sollten, gerade diesen Bereich sehr eingehend, sehr
intensiv und sehr individuell zu beraten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Expertengespräch des Deutschen Ethikrates vom (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Juni 2004 kann man auf der Website des Deutschen Ethik-
rates nachlesen. Es offenbart vor allen Dingen die große Vizepräsidentin Petra Pau:
Komplexität des Themas. Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-
Fraktion.
Ich möchte hier weder auf unterschiedliche Ursachen
noch auf unterschiedliche Ausformungen der Intersexua- (Beifall bei der SPD)
lität eingehen. Ein Hinweis sei mir jedoch gestattet: Es
muss immer der einzelne Mensch mit seiner Persönlich- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
keit und seinen psychischen Besonderheiten betrachtet Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
werden. Ein Pauschalschema für den Umgang mit der Herr Klimke, ich glaube, das ist kein Schnellschuss, den
Intersexualität sollte es meiner Meinung nach künftig die Grünen mit diesem Antrag versuchen, sondern es ist
nicht geben. Es geht um Individuen. Das betrifft ganz der Versuch, dieses Thema in den Deutschen Bundestag
besonders auch diejenigen Operationen, die die Genital- hineinzutragen und uns alle damit zu beschäftigen. Ich
organe verändern. gratuliere den Grünen ausdrücklich dazu, dass das ge-
lungen ist; denn alle Rednerinnen und Redner haben sich
Lassen Sie mich auf einen Beitrag eingehen, den Frau
am heutigen Abend hinter diesen Antrag und seine Not-
Professor Richter-Appelt vom Universitätsklinikum Ham-
wendigkeit gestellt. Ich finde, es ist ausgesprochen wich-
burg-Eppendorf bei dem Expertengespräch vorgetragen
tig, dass wir hier über die Grundrechte intersexueller
hat. Sie begann ihren Vortrag mit der Frage, wen man
Menschen sprechen.
überhaupt als Frau oder als Mann bezeichnen kann. Die
unterschiedliche Ausstattung mit Chromosomen, die un- (Beifall im ganzen Hause)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17181
Angelika Graf (Rosenheim)
(A) In dem vorliegenden Antrag werden Vorschläge zur Ver- che Belastung mit sich herumzutragen? Das sind Fragen, (C)
besserung der Situation intersexueller Menschen ge- über die man sich Gedanken machen muss. Wie entwi-
macht. Auch aus menschenrechtlicher Sicht befürworte ckeln sich Kinder, die ihrem Umfeld sagen müssen: „Ich
ich ihn ausdrücklich. weiß noch nicht, was ich einmal werde, ich bin noch in
der Entwicklung“?
Wir wissen sehr wenig über die Situation intersexuel-
ler Menschen. Es gibt nur diffuse Schätzungen über die Wenn das Kind nach der Pubertät eine eindeutige so-
Zahlen. Es werden jährlich zwischen 150 und 340 inter- ziale Geschlechtsidentität gefunden hat, dann stellt sich
sexuelle Kinder geboren. Auf der anderen Seite schätzt die Frage nach eventuell vorhandenen medizinischen
die Bundesregierung die Zahl der intersexuellen Men- Möglichkeiten der Geschlechtsangleichung, die aufwen-
schen zwischen 8 000 und 10 000. Wenn man ein biss- dig und schmerzhaft ist, aber nur, wenn der erwachsene
chen nachrechnet, stellt man fest, dass es mehr sein Betroffene das auch wirklich will. Vielleicht will sich
müssten. Dabei handelt es sich nur um eine Schätzung. ein intersexueller Mensch im Erwachsenenalter gar nicht
Das macht deutlich, wie wenig wir darüber wissen. Nicht- festlegen. Wir können das wirklich nicht wissen. Diese
regierungsorganisationen wie Zwischengeschlecht.org vielen Fragen und die nicht vorhandenen Antworten zei-
oder die Selbsthilfegruppen gehen von weit höheren gen, dass unsere Gesellschaft noch nicht darauf einge-
Zahlen aus. Ich denke, sie haben recht. Dazu kommt stellt ist. Wir als Gesellschaft müssen massiv daran ar-
noch, dass die Intersexualität aufgrund ihrer verschiede- beiten, Antworten zu finden.
nen Ausprägungen manchmal erst in der Pubertät er-
Was ist zu tun? Erstens. Rechtlich müssten wir dafür
kannt wird.
sorgen, dass Operationen nur dann vorgenommen wer-
Deswegen ist es ein Anachronismus, wenn Kleinkin- den, wenn sie medizinisch notwendig sind. Selbsthilfe-
der auch heute noch an ihren nicht eindeutigen Genita- gruppen fordern deshalb, dass Intersexualität nicht mehr
lien operiert werden, damit sie sozial und rechtlich ei- als Krankheit oder Defekt eingestuft wird. Zweitens. Wir
nem eindeutigen Geschlecht zugeordnet werden können. müssen den behördlichen Entscheidungsdruck auf eine
Studien haben ergeben, dass die Behandlungsunzufrie- eindeutige Geschlechtszuordnung aufheben. Drittens.
denheit von operierten Intersexuellen sehr hoch ist. Das Wir müssen endlich mehr über intersexuelles Leben er-
besagt die Hamburger Studie auf der einen Seite und fahren, das heißt: mehr interdisziplinäre Beratung und
auch das „Netzwerk DSD/Intersexualität“ auf der ande- Hilfen für Betroffene, Eltern und das soziale Umfeld.
ren Seite. Mehr als ein Viertel der operierten Menschen Wir müssen in diesem Bereich mehr forschen. Vielleicht
erleiden medizinische Komplikationen, die häufig Nach- gelingt es ja auch, die sexuelle Identität im Grundgesetz
operationen nötig machen. Die ständig notwendigen Me- aufzunehmen, damit Diskriminierung verhindert wer-
(B) dikationen sind ein weiteres Problem. Aber nicht nur den kann. (D)
das: Viele Menschen können sich im Laufe des Erwach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
senwerdens nicht mit ihrem durch die Entscheidung an- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
derer – der Eltern und der Ärzte – sozial und biologisch
zugeordneten Geschlecht identifizieren. Später versu- Ich denke, das wäre ein erster Schritt in die richtige
chen sie, es noch einmal auf aufwendige Weise zu wech- Richtung.
seln. Das ist eine furchtbare Situation.
Vielen herzlichen Dank.
Die Psyche leidet darunter erheblich. 47 Prozent der
Befragten haben angegeben, Suizidgedanken zu haben. (Beifall im ganzen Hause)
Die Traumatisierung durch die Operationen im Kindes-
alter belastet oft sehr stark die Eltern-Kind-Bindung. Vizepräsidentin Petra Pau:
Viele berichten davon, dass sie sich wegen dieser Be- Wir sind uns offensichtlich einig, dass wir erst am
handlung, die im Kindesalter erfolgt ist, nicht verlieben Anfang der Debatte über dieses Thema stehen. Deshalb
können und keine sexuellen Interessen haben. Das hat sage ich ganz ausdrücklich: Ich schließe die Aussprache
nichts mit der Intersexualität zu tun, sondern das hat mit für den heutigen Tag.
der so früh erfolgten Operation zu tun. Deswegen müs-
sen wir uns damit beschäftigen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5528 an die in der Tagesordnung aufge-
Ich verstehe, dass es in unserer Gesellschaft für Eltern führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
und das soziale Umfeld sehr schwierig ist, solchen Kin- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
dern den Freiraum zur Selbstentdeckung bezüglich ihrer so beschlossen.
geschlechtlichen Identitätsfindung zu ermöglichen; denn
die Familie, die Freunde und die Behörden fragen: Ist es Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ein Mädchen oder ein Bub? Das ist eine eindeutige ordnung.
Frage, die man in dem Fall aber nicht eindeutig beant-
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
worten kann.
destages auf morgen, Freitag, den 25. November 2011,
Wie können Eltern, ohne dass die Gesellschaft offener 8.30 Uhr, ein.
für solche Themen wird, unter diesem Zuordnungsdruck Die Sitzung ist geschlossen.
ihr Kind so erziehen, dass es später eine eigene Entschei-
dung frei treffen kann? Wie ist es für ein Kind, eine sol- (Schluss: 21.50 Uhr)
Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17183

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

van Aken, Jan DIE LINKE 24.11.2011 Widmann-Mauz, CDU/CSU 24.11.2011


Annette
Burgbacher, Ernst FDP 24.11.2011
Wolff (Wolmirstedt), SPD 24.11.2011
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 24.11.2011 Waltraud

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 24.11.2011


* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 24.11.2011 lung des Europarates

Granold, Ute CDU/CSU 24.11.2011

Groth, Annette DIE LINKE 24.11.2011* Anlage 2

Hoff, Elke FDP 24.11.2011 Zu Protokoll gegebene Rede


zur Beratung des Antrags: Grundrechte von in-
Höger, Inge DIE LINKE 24.11.2011 tersexuellen Menschen wahren (Tagesord-
nungspunkt VIII)
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 24.11.2011

Kurth (Quedlinburg), BÜNDNIS 90/ 24.11.2011 Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Zwitter, Herm-
Undine DIE GRÜNEN aphroditen oder intersexuelle Menschen sind Bezeich-
(B) nungen für Menschen, bei denen – im biologischen (D)
Lindemann, Lars FDP 24.11.2011 Sinne – sowohl die männlichen wie auch die weiblichen
Geschlechtsmerkmale vorhanden sind.
Menzner, Dorothée DIE LINKE 24.11.2011
In nicht wenigen früheren menschlichen Gesellschaf-
Dr. von Notz, BÜNDNIS 90/ 24.11.2011 ten wurde sowohl die Vielfalt sexueller Orientierung als
Konstantin DIE GRÜNEN auch die körperliche Vielfalt der Menschen akzeptiert.
Den Menschen wurde zugebilligt, so zu leben, wie sie
Reiche (Potsdam), CDU/CSU 24.11.2011 waren. Heute ist das anders. Unsere Gesellschaft ist sich
Katherina dem Leben und dem Leiden von intersexuellen Men-
schen nicht bewusst. Das Recht der Betroffenen wird
Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 24.11.2011 bisher nicht zur Kenntnis genommen. Dabei schreit die
Claudia DIE GRÜNEN schwere Menschenrechtsverletzung danach, beendet zu
werden.
Sager, Krista BÜNDNIS 90/ 24.11.2011
Biologische Sexualtheorien, juristische Bestim-
DIE GRÜNEN
mungen des Individuums und Formen administrati-
Schlecht, Michael DIE LINKE 24.11.2011 ver Kontrolle haben seit dem 18. Jahrhundert in den
modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die
Schnurr, Christoph FDP 24.11.2011 Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in
einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedes-
Seiler, Till BÜNDNIS 90/ 24.11.2011 sen die freie Entscheidung der zweifelhaften Indivi-
DIE GRÜNEN duen zu beschränken. Jedem ein Geschlecht, und
nur ein einziges.
Süßmair, Alexander DIE LINKE 24.11.2011 So der französische Philosoph Michel Foucault in sei-
nem Buch „Über Hermaphrodismus“.
Dr. Wadephul, Johann CDU/CSU 24.11.2011
David Infolgedessen wurde gerade das Leiden und Leben in-
tersexueller Menschen quasi unsichtbar. Es kann nicht
Weinberg, Harald DIE LINKE 24.11.2011 geben, was „nicht sein darf“. Mit der Entwicklung der
medizinischen Möglichkeiten wurde, beginnend in der
Werner, Katrin DIE LINKE 24.11.2011* ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Vielzahl von
17184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011

(A) operativen Eingriffen an intersexuellen Menschen vor- Antwort, dass die frühkindlichen Operationen im Inte- (C)
genommen, um sie der Norm männlich/weiblich anzu- resse der Betroffenen und der Eltern geschähen. Ihnen
passen. Erst in den letzten Jahren, auch und gerade durch sei ein Leben zwischen den Geschlechtern nicht zuzu-
das mutige Agieren intersexueller Menschen, die das ih- muten. Diese Haltung der Bundesregierung ist skanda-
nen zugefügte Leid öffentlich machten, rückte das lös. Denn es handelt sich um eine schwere Menschen-
Thema Intersexualität in die Öffentlichkeit. rechtsverletzung. Und diese kann und darf nicht länger
geduldet werden.
Wie viele Menschen heute letztendlich betroffen sind,
lässt sich nicht eindeutig sagen, konkrete Zahlen gibt es Die Linke fordert seit langem, dass die Betroffenen
nicht, Schätzungen jedoch gehen von wenigstens einigen und ihr Umfeld unterstützt werden müssen. Insbeson-
10 000 Betroffenen aus, Menschen, deren Schicksal dere müssen die frühkindlichen Operationen unterbun-
kaum bekannt ist. den werden. Betroffene sollten erst nach dem Kindesal-
Schauen wir es uns an. Wenn ein Kind geboren wird ter, wenn sie einwilligungsfähig sind, selbst entscheiden,
und Ärzte feststellen, dass das Baby zweierlei Ge- ob ein medizinischer Eingriff vonnöten ist.
schlechtsmerkmale aufweist, so raten sie den Eltern zu-
meist zu einer schnellen Operation, um ein Geschlecht Zugleich brauchen wir ein Umdenken in der Gesell-
herzustellen. Hierbei werden in einem noch frühkindli- schaft.
chem Stadium Eierstöcke entfernt, Penisnachbildungen Eltern von Betroffenen müssen unterstützt werden.
implantiert oder Vaginen hergestellt und das in vielen
schweren aufeinanderfolgenden Operationen. Der oder die Mediziner, Psychologen, Therapeuten und Lehrperso-
Betroffene bzw. das Kind ist daraufhin gezwungen, ein Le- nal müssen weitergebildet werden.
ben lang Hormone einzunehmen. Zumeist verheimlichen
die Eltern – auf Rat der sogenannten Experten – dem Den Betroffenen muss vom frühesten Kindesalter an
Kind die schwerwiegenden Folgen eines solchen schwe- jegliche Unterstützung geboten werden.
ren medizinischen Eingriffs. Viele Betroffene erfahren
erst im Rahmen der Pubertät davon. Bei einigen bilden Das Recht, insbesondere das Personenstandsrecht,
sich Geschlechtsmerkmale wieder heraus, die frühkind- muss so verändert werden, dass intersexuelle Menschen
lich entfernt wurden. Also ein Junge stellt fest, dass er als Rechtssubjekt anerkannt werden.
eher ein Mädchen ist, oder umgekehrt. Traumatisierun-
Wir sollten akzeptieren, dass es mehr als zwei Ge-
gen und Suizidversuche sind häufige Folgen.
schlechter gibt. Der Antrag der Grünen greift Forderun-
Die Linke hat die Bundesregierung mehrfach zu die- gen auf, die die Linke in ihrem Grundsatzprogramm ver-
(B) ser Problematik befragt. Immer wieder erhielten wir die ankert hat. Er findet unsere volle Unterstützung. (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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