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Plenarprotokoll 16/20

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

20. Sitzung

Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 15: Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . 1503 D


a) Zweite und dritte Beratung des von der Diana Golze (DIE LINKE) (Erklärung
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1505 A
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Elke Reinke (DIE LINKE) (Erklärung
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1505 B
(Drucksachen 16/99, 16/688, 16/689) . . . 1487 A
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) (Erklärung
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1505 C
schusses für Arbeit und Soziales zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Katja Kipping, Kornelia Möller
Tagesordnungspunkt 16:
und der Fraktion der LINKEN: Anglei-
chung des Arbeitslosengeldes II in den Antrag der Abgeordneten Werner Dreibus,
neuen Ländern an das Niveau in den al- Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer
ten Ländern rückwirkend zum 1. Ja- Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN:
nuar 2005 Mindestlohnregelung einführen
(Drucksachen 16/120, 16/688) . . . . . . . . . 1487 B (Drucksache 16/398) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1506 C
Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1487 C
in Verbindung mit
Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1489 D
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . 1491 B
Zusatztagesordnungspunkt 5:
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 1492 A
Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 1493 A
Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth,
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1495 A BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mindest-
arbeitsbedingungen mit regional und bran-
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . 1497 A
chenspezifisch differenzierten Mindestlohn-
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 1499 D regelungen sichern
(Drucksache 16/656) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1506 C
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . 1500 A
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 1506 D
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1500 C
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1508 B
Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1501 B
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 1509 D
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU) . . . . 1502 D
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 1510 C
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . 1503 B
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1510 D
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1503 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1511 A
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1512 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1540 A
Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1513 B
Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 1541 B
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1514 D Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 A
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1516 D Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 1544 A
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1517 C Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1545 C
Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 1519 B
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 20:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1520 C
Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1520 D
Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer
Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 1521 B Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Of-
fene Fragen zur Entsorgung radioaktiver
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1521 D Abfälle klären – Verantwortung für nach-
Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1523 A folgende Generationen übernehmen
(Drucksache 16/267) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1546 C
Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1524 A
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1546 C
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 1525 A
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 1547 D
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . 1526 C
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1549 A
Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . 1550 A
Tagesordnungspunkt 18:
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1551 B
Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrach- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1552 B
der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittel-
versorgung Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 1553 C
(Drucksachen 16/194, 16/691) . . . . . . . . . . . . 1528 A
Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 1528 B
Tagesordnungspunkt 21:
Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . . 1529 C
Antrag der Abgeordneten Dr. Norman Paech,
Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1530 B Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN:
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . 1531 C
Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz
Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . 1533 B gegen den Iran
(Drucksache 16/452) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1554 A
Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 1534 A
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1535 A
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . 1535 D
Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin Zusatztagesordnungspunkt 6:
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1536 B Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin,
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1538 A Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN: Für ein friedliches
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1538 B Vorgehen im Konflikt über das iranische
Atomprogramm – Demokratische Entwick-
lung unterstützen
Tagesordnungspunkt 19: (Drucksache 16/651) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1554 B
Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 1554 C
Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 1555 C
NISSES 90/DIE GRÜNEN: Progressiv- Dr. Werner Hoyer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 1557 B
Modell statt Kombilohn
(Drucksache 16/446) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1540 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 1558 B
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 III

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 1559 A Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 1573 C


Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . 1559 C Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1574 C
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1560 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1575 A

Zusatztagesordnungspunkt 8: Anlage 1

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1577 A
der FDP: Haltung der Bundesregierung
zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum Luftsicherheitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . 1561 C Anlage 2
Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1561 C Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Lutz Heilmann (DIE LINKE) zur Abstim-
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 1562 C
mung über den Entwurf eines Ersten Gesetzes
Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1563 D zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
setzbuch (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . . . . . 1578 A
Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 1564 D
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1565 D Anlage 3
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1567 A Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Ersten
Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . 1568 B Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . . 1569 C Sozialgesetzbuch (Tagesordnungspunkt 15 a) 1578 A
Hermann Gröhe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 1570 D
Jörn Thießen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1571 D Anlage 4
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 1572 D Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1578 B
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1487

(A) (C)

Redetext

20. Sitzung

Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Sitzung ist eröffnet. Die Grünen vor.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sozialgesetzbuch
(Beifall bei der SPD)
– Drucksache 16/99 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Klaus Brandner (SPD):
(B) schusses für Arbeit und Soziales (11. Aus- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- (D)
schuss) ginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die
Menschen in Ost und West.
– Drucksache 16/688 –
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Berichterstattung: Na ja, das wollen wir mal sehen!)
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Man sollte ganz deutlich daran erinnern – auch Fritz
bb)Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Kuhn weiß dies –, dass wir im letzten Jahr das Vorhaben
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung gestartet haben, gleiche Regelsätze in Ost und West
einzuführen. Wir werden dieses Gesetz nun gemeinsam
– Drucksache 16/689 – mit der CDU/CSU verabschieden. Insofern ist es wich-
Berichterstattung: tig, heute festzustellen: Das Arbeitslosengeld II ist künf-
Abgeordnete Waltraud Lehn tig in Ost und West gleich. Das entsprechende Gesetz
Hans-Joachim Fuchtel wurde einer kontinuierlichen Bewertung unterzogen.
Dr. Claudia Winterstein Wir können heute sagen: Wir haben dem gesellschaftli-
Dr. Gesine Lötzsch chen Wandel Rechnung getragen. So sieht eine lernende
Anja Hajduk Gesetzgebung aus. Dafür steht die neue Koalition. Daran
wollen wir uns messen lassen.
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
der CDU/CSU)
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Katja Kipping, Kornelia Ich will ganz klar feststellen: Wer glaubt, es bedürfe
Möller und der Fraktion der LINKEN in Deutschland nur einer abschließenden Reform, irrt.
Die Welt ist nicht statisch. Wir müssen an den Verände-
Angleichung des Arbeitslosengeldes II in den rungen arbeiten. Wir haben deshalb Schluss gemacht mit
neuen Ländern an das Niveau in den alten der Vorstellung, dass das Nettoeinkommen und die Le-
Ländern rückwirkend zum 1. Januar 2005 benshaltungskosten im Osten niedriger sind, dass es im
– Drucksachen 16/120, 16/688 – Osten ein unterschiedliches Verbraucherverhalten gibt
und dass deshalb ungleiche Regelsätze in Ost und West
Berichterstattung: gerechtfertigt sind. Wir haben sie auf ein Niveau zusam-
Abgeordnete Brigitte Pothmer mengeführt. Wir haben damit ein Stück Spaltung
1488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Klaus Brandner
(A) überwunden. Das ist das Ergebnis unserer Politik und Wir haben ein Verhältnis von 75 langzeitarbeitslosen (C)
das finden wir richtig so. Jugendlichen pro Fallmanager entwickelt. Wir müssen
erwarten können, dass dieser die Differenziertheit der
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Lebenssituation aufgreift und im Notfall denjenigen, die
besonderer individueller Hilfe bedürfen, diese zuteil
Ich sprach von lernender Gesetzgebung. Das heißt kommen lässt.
auch, dass wir die aktuellen Entwicklungen nicht aus
dem Auge verlieren dürfen. Dazu will ich ganz deutlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
sagen: Wir müssen den Erwartungen und den Verände-
Das ist Ergebnis unserer Politik. Da lassen wir auch
rungen Rechnung tragen. Damit meine ich ganz konkret nicht nach.
die Frage, wie sich die Zahl der Bedarfsgemeinschaften
in Deutschland entwickelt hat. Denn die Zahl der Ein- Wir wollen, dass die Jugendlichen in Deutschland
personenbedarfsgemeinschaften ist überdurchschnitt- sich auf uns, auf die Politik verlassen können. Denn wer
lich stark gestiegen: allein von Januar bis September im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage bereits ausge-
2005 um 19,5 Prozent. zogen ist, muss nicht ins Elternhaus zurück und erhält
auch weiterhin die 100-prozentige Leistung des
Doch wer darin Missbrauch sieht – das will ich gleich Arbeitslosengeldes II. Das heißt, das Arbeitslosengeld II
klar sagen –, liegt falsch. Denn CDU/CSU, SPD und und die Kosten der Unterkunft werden wie bisher ge-
Grüne haben es gemeinsam zu verantworten, dass diese zahlt. Weder Zwangsfamilie noch Zwangsräumung ist
Gesetzgebung ermöglicht worden ist und dies Rechtszu- hier angesagt. Das muss heute Morgen sehr deutlich
stand ist. Deshalb will ich mich klar gegen jegliche Form klargestellt werden.
von Diskriminierung derjenigen zur Wehr setzen, die nur
ihre rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, in einer solidarischen Ge-
Ob das sinnvoll ist, ist eine ganz andere Frage. Wir müs- sellschaft müssen alle Verantwortung füreinander über-
nehmen. Deshalb sagen wir an diesem Punkt sehr deut-
sen darüber nachdenken, ob bei all den Ausgaben, die
lich, dass Jugendliche unter 25 Jahren künftig in der
die Gesellschaft zu tragen hat, die Justierung dieser Aus-
Regel 80 Prozent der Regelleistung erhalten. Sie werden
gaben in der bisherigen Form zu Recht erfolgt ist. Denn damit nicht schlechter gestellt als Ehe- bzw. Lebenspart-
es kann nicht Aufgabe des Staates sein, für Jugendliche ner. Denn ein Alleinstehender erhält 100 Prozent der Re-
ein Auszugsprogramm zu organisieren. gelleistung; kommt ein Partner hinzu, erhöht sich der
(B) Wir haben diesen Punkt aufgegriffen, wobei wir die Betrag um 80 Prozent. Genau das regeln wir auch für Ju- (D)
Sorgen der Menschen ernst nehmen. Wir wehren uns gendliche oberhalb des 18. Lebensjahres, die in der el-
terlichen Bedarfsgemeinschaft verbleiben. Das ist ange-
– ich finde, zu Recht – gegen die Hysterie, die in diesem
messen. Dazu stehen wir auch.
Lande teilweise entfacht worden ist, dass es ganze Um-
zugskarawanen gegeben haben soll. Wir weisen aus- Manche haben das als Sparen bezeichnet. Aber wofür
drücklich darauf hin: Der Zustand, den wir jetzt erlebt sparen? Wir sparen für Investitionen in die Zukunft, in
haben, ist so nicht gewollt gewesen. Aber von massen- die bessere Kinderbetreuung, in die bessere Ausbildung,
haftem Missbrauch kann auch nicht die Rede sein. in mehr Fortbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen.
Darin zu investieren, kann kein Schade sein. Das sind In-
Deshalb wollen wir, dass klargestellt wird, dass auch vestitionen in die Zukunft. Dazu stehen wir. Das wollen
zukünftig jungen Menschen die notwendige Unterstüt- wir fortsetzen.
zung bereitgestellt wird und dass es auch zukünftig keine
Zwangsfamilien geben wird. Um es klar zu sagen: Wer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gute Gründe hat, aus dem Elternhaus auszuziehen, der Worauf kommt es an? Wir wollen den Beitrag an die
hat dazu auch in der Zukunft die Möglichkeit. Wer zum gesetzliche Rentenversicherung für Arbeitslosen-
Beispiel eine Arbeitsstelle fernab vom Elternhaus antre- geld-II-Bezieher zukünftig absenken. Wir senken damit
ten will, der muss dazu die Möglichkeit haben. aber nicht die Rentenzeiten ab. Wir minimieren damit
auch nicht den Versicherungsschutz in der gesetzlichen
Wir haben diese Jugendlichen nicht zu Bittstellern ge- Rentenversicherung. Er soll voll erhalten bleiben. Denn
macht. Vielmehr haben wir im Gesetz drei konkrete wir wollen nicht, dass Menschen dauerhaft im Arbeitslo-
Gründe vorgesehen, bei denen man nach wie vor eine sengeld-II-Bezug bleiben. Vielmehr wollen wir, dass
Bedarfsgemeinschaft gründen kann. Denjenigen, die Menschen die Chance bekommen, aus dem Arbeitslo-
schwerwiegende soziale Gründe vorweisen können, die sengeld-II-Bezug wieder in normale Arbeitsverhältnisse
im Elternhaus vorliegen, wird weiterhin ein Umzug er- einzutreten. Insofern ist es uns wichtig, dass keine ge-
möglicht. Diejenigen, die zur Eingliederung in den Ar- brochenen Erwerbsbiografien entstehen, sondern dass
beitsmarkt einen Umzug in Anspruch nehmen müssen, durchgehende Versicherungsverläufe bleiben, dass
können dies. Wir haben hinzugefügt, dass ein sonstiger durchgängig Anspruch auf Rehabilitation bleibt und dass
schwerwiegender Grund Anlass sein kann, aus der elter- die vollen Leistungen bei Erwerbsminderung möglich
lichen Bedarfsgemeinschaft auszuziehen. Wir wissen, bleiben. Das ist sozialstaatlich geboten. Dazu stehen wir.
dass dies zwei sehr konkrete Gründe und ein dritter, Das werden wir auch weiterhin einhalten.
nicht so konkreter Grund sind. Letzterer trägt aber den
Lebenswirklichkeiten Rechnung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1489
Klaus Brandner
(A) Ich will in diesem Zusammenhang ganz deutlich sa- Wir bauen die Chancen für die Jugend aus. Deshalb (C)
gen, dass wir gemeinsam die Langzeitarbeitslosen, die sagen wir ganz deutlich: Die Koalition sieht es als eine
in der Vergangenheit oft als Sozialhilfeempfänger nicht Schwerpunktaktivität an, Vorfahrt für junge Menschen
rentenversichert, nicht krankenversichert und nicht pfle- zu gewähren. Der Pakt für Ausbildung und Fachkräf-
geversichert waren, in das solidarische Sozialsystem tenachwuchs ist ein Element in diesem Paket. Die Ver-
aufgenommen haben und damit Rechtsfortschritt in die- mittlung und Qualifizierung junger Menschen sind ein
sem Lande organisiert haben. Schwerpunkt der Bundesagentur für Arbeit. Wir wissen,
dass auf diesem Gebiet noch viel zu leisten ist. Die Be-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schäftigten der BA haben unsere volle Unterstützung da-
Wir waren es, die dafür gesorgt haben, dass man auf ei- bei, sich genau diesem Schwerpunkt stärker als in der
ner sicheren Grundlage die Zukunft angehen kann. Vergangenheit zu widmen.

(Dirk Niebel [FDP]: Wir alle!) Wir müssen auch daran erinnern, dass die Länder eine
große Verantwortung für die Erstausbildung tragen.
Ich will ganz deutlich sagen: Dazu gehört auch, dass Wenn nämlich junge Menschen ohne ein gutes Bildungs-
diejenigen, die in der Vergangenheit ausgegrenzt waren, niveau die Schulen verlassen, ist ein Eintritt ins Arbeits-
erstmals Anspruch auf alle Leistungen am Arbeitsmarkt leben nicht möglich. Hier haben die Länder zukünftig
haben. Alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente stehen ihre Aufgaben und ihre Verantwortung stärker wahrzu-
den Langzeitarbeitslosen zur Verfügung. Das haben wir nehmen.
durchgesetzt. Uns kommt es darauf an, den Menschen zu
helfen, sie zu unterstützen, sie nicht auszugrenzen. (Dirk Niebel [FDP]: Man darf sich auch nicht
aus der Verantwortung für die jungen Arbeits-
In diesem Zusammenhang wird in vielen Fällen über losen herausstehlen!)
die Frage der Mietschulden – über Einzelfälle – disku-
Sie können diese Aufgaben nicht einfach der Bundes-
tiert und die Frage gestellt: Gibt es auch zukünftig die
agentur übereignen. Vielmehr fordern wir die Verpflich-
Möglichkeit, eine dem Einzelfall angemessene Regelung
tung der Länder ein, hier das zu tun, was ihnen aufgrund
zur Begleichung von Miet- oder Energieschulden zu
unserer Verfassung gebührt.
finden? Ich möchte ganz deutlich sagen: Wir wollen zu-
allererst, dass diejenigen, die Schulden machen, auch da- Wir wollen, dass die intensive Betreuung Jugend-
für aufkommen müssen. Deshalb müssen sie zuallererst licher insbesondere in den Arbeitsgemeinschaften ver-
– ich sage es hier klipp und klar – auf Darlehen verwie- bessert und ausgebaut wird. So verstehen wir die Verän-
sen werden. derungen im Sozialgesetzbuch II, bei deren Umsetzung
(B) wir alle mithelfen und mitwirken sollen, damit sie zu ei- (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nem Erfolg werden, damit zukünftig die arbeitslosen Ju-
CDU/CSU) gendlichen, von denen – ich sage es deutlich – eine viel
Ich sage aber auch: Da, wo es im Einzelfall notwen- zu große Zahl keine abgeschlossene Berufsausbildung
dig ist, wo Härtefälle auftreten, wo zum Beispiel Woh- hat, eine nachhaltige Chance zum Eintritt ins Arbeitsle-
nungslosigkeit droht, muss es möglich sein, dass anstatt ben erhalten. Das wird unsere Zukunftsaufgabe sein. Da-
des Darlehens eine Beihilfe gewährt wird. Wir haben im für sind wir angetreten; dafür haben wir die Veränderun-
Ausschuss sichergestellt – das Ministerium hat das zwei- gen im Sozialgesetzbuch vorgenommen. Ich bitte Sie,
felsfrei beantwortet –, dass der Gesetzestext genau dies diese gemeinsam zu unterstützen.
hergibt. Damit geben wir ein Signal an die Fallmanager, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
an die Kommunen, an diejenigen, die Leistungen zur
Verfügung stellen, genau so zu verfahren: Die Beihilfe
ist nicht die Regel, aber sie ist im Einzelfall möglich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das wollen wir sichergestellt wissen. Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDP-
Fraktion.
Ich bin mir insgesamt darüber im Klaren, dass wir die
Jugend fördern und nicht alimentieren müssen. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
muss unsere Orientierung sein: Wir müssen all unsere
Kräfte auf das Fördern konzentrieren. 2005, nachdem Dirk Niebel (FDP):
dieses riesige Gesetzeswerk in Kraft getreten ist, hat das Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
noch nicht so geklappt, wie wir uns das vorgestellt ha- Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
ben. und Sozialhilfe sollte unter anderem Kosten sparen und
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist wohl wahr!) die Vermittlung in Arbeit verbessern. Beide Ziele sind
offenkundig nicht erreicht worden. Die Vermittlung in
Wir wissen: Viele Arbeitsgemeinschaften sind erst im Arbeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, ist nicht
Laufe des Jahres 2005 entstanden; nur etwa 50 Prozent signifikant besser geworden; aber dafür sind die Kosten
der Aktivierungsmittel sind abgerufen worden. Das ist signifikant gestiegen: auf 26 Milliarden Euro statt
bedauerlich. Das heißt aber nicht, dass der Reformschritt 14 Milliarden Euro. Von daher ist es bemerkenswert,
nicht klug und richtig war. Vielmehr müssen wir genau dass die Angleichung des Arbeitslosengeldes II Ost auf
hier ansetzen, den Reformschritt mit mehr Fahrt umzu- Westniveau durchgeführt wird. Wir sind der Ansicht,
setzen und die Maßnahmen zu unterstützen. dass das Trennende zwischen Ost und West im 16. Jahr
1490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dirk Niebel
(A) der deutschen Einheit nicht mehr Maßstab für Sozialge- nach München ziehen, dann kann Kreuzberg das geneh- (C)
setzgebung sein darf. migen und die Münchener müssen das bezahlen. Viel
Freude dabei! Das wird einen enormen Verwaltungsauf-
(Beifall bei der FDP) wand zwischen den Kommunen verursachen. Das Pro-
Allerdings gibt es Unterschiede nicht nur zwischen blem wird dadurch nicht gelöst.
Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. So-
Natürlich ist es problematisch, dass 58 Prozent aller
gar in den ostdeutschen Bundesländern gibt es ganz un-
Bedarfsgemeinschaften Einpersonenhaushalte sind. Das
terschiedlich strukturierte Regionen, genauso wie in den
Gesetz, wie Sie es auf den Weg gebracht haben, hat zu
westlichen Bundesländern. Von daher wäre es sinnvoll
gewesen, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe einer wahren Zellteilung deutscher Familien geführt.
abzuwarten, um zu wissen, wo man im Land wie teuer Der Anstieg der Zahl der unter 25-jährigen Arbeitslosen
lebt, um das Problem dann differenzierter anzugehen. ist mit 28 Prozent im letzten Jahr doppelt so hoch wie
Bei der Sozialhilfe für Nichterwerbsfähige tun Sie das der Anstieg der Zahl der anderen Langzeitarbeitslosen
immerhin. mit 14 Prozent.

Es stellt sich zugleich die Frage, weshalb die große Das von Ihnen vorgelegte Gesetz setzt das fort, was
Koalition nun beim Arbeitslosengeld II eine Anglei- Rot-Grün gemacht hat. Ich wundere mich schon, dass
chung anstrebt, nicht aber bei den Sozialhilfeempfän- die Union dabei mitmacht. Denn es setzt Flickwerk fort.
gern, bei den Erwerbsunfähigen, denen es meist noch
(Beifall bei der FDP)
schlechter geht als denen, die jung und gesund sind.
Fest steht: Um durch einen regulären Arbeitsplatz das Wie ist die Situation denn tatsächlich bei der Beweisfüh-
gleiche Einkommensniveau wie beim Arbeitslosengeld II rung der eheähnlichen Lebensgemeinschaften? Was war
erreichen zu können, müssen je nach Familienstand zwi- mit den zu viel abgeführten Krankenversicherungs-
schen 8 und 10 Euro brutto pro Stunde verdient werden. beiträgen der Bundesagentur? Das Geld ist immer noch
Das kann in der nächsten Debatte über die Mindestlöhne nicht zurückgekommen und die Krankenversicherungen
nicht außer Acht gelassen werden. werden natürlich ihre Kostenpauschale abziehen; da ha-
ben Sie wieder das Geld anderer Leute verprasst. Was ist
In diesem Gesetz sind neben der Angleichung des mit dem EDV-Programm A2LL? Ich höre immer wieder,
Arbeitslosengeldes II auch noch andere Dinge enthalten, dass es nicht funktioniert. Bei der Bundesagentur über-
zum Beispiel die Absenkung des Rentenversicherungs- legt man sich schon seit langer Zeit, ob man vielleicht
beitrages für Langzeitarbeitslose um 2 Milliarden Euro. ein teures Nachfolgeprojekt braucht. Es würde mich
(B) Die maroden Rentenversicherungskassen werden noch nicht wundern, wenn es noch teurer wird, wie alle ande- (D)
einmal zusätzlich um 2 Milliarden Euro belastet, damit ren EDV-Projekte. Aber dass die Bundesagentur und üb-
sich der Staat seinen Haushalt schönrechnen kann, rigens auch die Bundesregierung wissen, dass das, was
sie hier vorlegen, erst zum 1. Januar 2007 EDV-tech-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Skandal!)
nisch ernsthaft umgesetzt werden kann und sie es trotz-
obwohl wir seit gestern wissen, dass die Steuerschätzung dem zum 1. Juli dieses Jahres einführen, das ist schlicht-
ergeben hat, dass wir in diesem Jahr 20 Milliarden Euro weg verantwortungslos und führt die Menschen in die
Steuereinnahmen mehr als vorausgesehen haben werden. Irre, die glauben, dass es ihnen jetzt besser gehen
könnte, und die darauf setzen, dass Ihre Gesetzgebung
Des Weiteren ist in dieses Gesetz die Neuregelung eine minimale Halbwertzeit hat.
für die jugendlichen Langzeitarbeitslosen eingearbei-
tet. Wir sind der festen Überzeugung: Jeder Mensch in (Beifall bei der FDP)
diesem Land darf aus dem Elternhaus ausziehen, wenn
er es sich leisten kann. Wir sind auch der festen Über- Die Langzeitarbeitslosen müssen dort betreut werden,
zeugung: Wer es sich nicht leisten kann und dafür die wo man sich auf sie einstellen kann: in den kommuna-
Hilfe der Allgemeinheit braucht, der muss sich schärfe- len Job-Centern. Wir müssen endlich von der sozialen
ren Kriterien unterwerfen. In der Art und Weise, wie Sie Begleitung der Langzeitarbeitslosigkeit wegkommen
diese Regelung allerdings vorsehen, sind die Kriterien und auf den Pfad einer wachstumsorientierten Wirt-
der Überprüfung der schwerwiegenden Gründe für einen schaftspolitik zurückkehren. Denn soziale Größe zeigt
Arbeitsvermittler nicht nachvollziehbar. sich nicht an der Höhe einer Transferleistung, sondern
daran, dass die Möglichkeit besteht, einen Arbeitsplatz
Sie schaffen es ja noch nicht einmal, festzustellen, ob zu bekommen, damit man seinen Lebensunterhalt selbst
es eheähnliche Gemeinschaften gibt. Sie wollen doch erwirtschaften kann.
nicht hinter jeden jugendlichen Arbeitslosen einen Ar-
beitsvermittler oder einen „Arbeitslosenpolizisten“ stel- Um das zu erreichen, dafür hat die große Koalition
len, um zu überprüfen, ob die Kriterien tatsächlich erfüllt überhaupt nichts auf den Weg gebracht: weder in ihrer
werden. Das wird in der Praxis kaum handhabbar sein, Koalitionsvereinbarung noch in der Regierungserklä-
insbesondere weil über die Frage, ob man ausziehen rung noch im Rahmen ihrer praktischen Gesetzgebung.
darf, die abgebende Gemeinde entscheidet und nicht die Deswegen werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf
aufnehmende. Wenn also der Bezirk Kreuzberg Kosten mit Enthaltung abstrafen. Denn er ist Flickwerk, bei dem
sparen möchte und der Jugendliche meint, er müsse drin- Sie genauso gemurkst haben, wie es früher Rot-Grün ge-
gend ganz weit weg vom Elternhaus, weil es da kriselt, tan hat.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1491

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen. Eine der großen Fragen unserer Zeit ist, wie wir in (C)
Herr Kollege Niebel, schauen Sie bitte einmal auf die unseren Systemen der sozialen Sicherung für mehr Effi-
Uhr. zienz und mehr Effektivität sorgen.
Dieses Ziel auf einem wichtigen Sektor zu realisieren,
Dirk Niebel (FDP): hat sich die große Koalition vorgenommen. Dabei geht
Ja, Frau Präsidentin. Wie ich sehe, habe ich schon es um den Bereich der Grundsicherung, vulgo: um das
40 Sekunden überzogen. ALG II und um Hartz IV. Hierbei handelt es sich um
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) eine Erneuerung in Stufen. Wir wollen das ALG II ziel-
gerechter, sachgerechter und effektiver gestalten. Das
Ich komme zu meinem letzten Satz. sind wir den Malochern in unserer Gesellschaft schuldig,
denen wir jeden Tag große Solidaropfer zumuten.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich will vier Aspekte unseres Gesetzentwurfes darle-
45 Sekunden, Herr Kollege. gen – Überschneidungen mit dem, was der Kollege
Brandner gesagt hat, sind nicht zufällig, sondern groß-
Dirk Niebel (FDP): koalitionär bedingt –:
Mittlerweile sind es 47 Sekunden.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der und der SPD)
FDP und der CDU/CSU)
Erstens. Das ALG II wird gerechter gestaltet. Wir
Den Entschließungsantrag der Grünen werden wir lei- gleichen den Zahlbetrag in Ostdeutschland an den Zahl-
der ablehnen müssen; denn in ihm wird eine Ausweitung betrag in Westdeutschland an, wie es uns auch der
der Leistungen gefordert. Hier geht es allerdings um das Ombudsrat nahe legt. Die Regelleistung in den neuen
Geld anderer Leute, das diese mit ihrer Hände Arbeit zu Bundesländern wird um 14 Euro – von 331 Euro auf
erwirtschaften haben. Mit diesen Steuergeldern können 345 Euro – erhöht. Das muss angesichts des linkspopu-
Sie offensichtlich nicht anständig umgehen. Wir Libe- listischen Getöses der PDS immer wieder betont werden.
rale können das.
(Zuruf von der LINKEN: Aha!)
(Beifall bei der FDP)
Um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, müssen wir mehr
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Geld ausgeben; daher wird diese Leistung erhöht. Dabei
geht es immerhin um einen Betrag von 260 Millionen
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-
(B) Euro, den wir gemeinsam mit den Kommunen zur Verfü- (D)
Fraktion.
gung stellen. Nicht nur, aber auch deshalb müssen wir an
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Stellen, an denen wir eindeutig über das Ziel hinaus-
neten der SPD) geschossen sind, Ressourcen einsparen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Zweitens. Da wir ein Faible für Fakten haben, sage
Herren! Lieber Kollege Niebel, wenn Sie sagen, dass Sie ich Ihnen Folgendes: Das neue Recht gilt ab dem
den vorliegenden Gesetzentwurf kraftvoll mit Enthal- 1. Januar 2005. Seit diesem Zeitpunkt – Herr Brandner
tung abstrafen werden, hat darauf hingewiesen – ist die Zahl der Einpersonenbe-
darfsgemeinschaften – so heißt dieses Wortungetüm –
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU um 19,6 Prozent gestiegen, sogar noch deutlich stärker
und der SPD) als die Zahl der Mehrpersonenbedarfsgemeinschaften.
dann merkt jeder, dass etwas nicht stimmt. Ich selbst bin (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gelernter Oppositionspolitiker und sage Ihnen: Wenn wir NEN]: Ja, die sind nämlich um 16 Prozent ge-
uns, als wir noch in der Opposition waren, enthalten ha- stiegen! 16 Prozent und 19 Prozent, das ist
ben, war es immer so, dass das, was die Regierung vor- wirklich ein deutlicher Unterschied!)
gelegt hatte, gar nicht so schlecht war.
– Ja, das ist deutlich mehr. Der Unterschied beträgt na-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
hezu 4 Prozentpunkte.
Man muss sich nun einmal entscheiden, wie man ab-
Gleichzeitig ist die Zahl der erwerbsfähigen Hilfsbe-
stimmt; das ist Ihr gutes Recht und das respektieren wir
dürftigen unter 25 Jahre um 28 Prozent gestiegen – Herr
auch.
Kurth, doppelt so stark wie die Zahl der erwerbsfähigen
Wir müssen die knappen Mittel unseres Sozialstaates Hilfsbedürftigen über 25 Jahre. Diese beiden statisti-
zielgenauer einsetzen; denn sie fließen nicht wie Milch schen Daten braucht man nur zusammenzubringen, dann
und Honig in einem Land der Verheißung, sondern sie weiß man, was geschehen ist: Junge Leute sind auf
müssen von den Erwerbstätigen täglich hart erarbeitet Staatskosten, auf Kosten der Gemeinschaft von zu
werden. Mit diesen knappen Mitteln müssen wir zielge- Hause ausgezogen; sie haben den zu großzügig bemesse-
richtet und verantwortungsvoll umgehen. Unser Sozial- nen Rechtsrahmen genutzt, den der Gesetzgeber gestal-
staat muss mit seinen begrenzten Mitteln mehr errei- tet hat. Kollege Brandner, das ist natürlich kein Miss-
1492 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Gerald Weiß (Groß-Gerau)


(A) brauch. Aber es ist ein Mitnahmeeffekt, den wir nicht ten „schwer wiegende soziale Gründe“ für reichlich un- (C)
wollen können. bestimmt. So ist es aber nicht: Die Verwaltung hat viel
Erfahrung und Praxis auf diesem Feld und es gibt eine
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
umfangreiche Rechtsprechung dazu. Außerdem ist da
neten der SPD)
noch der gesunde Menschenverstand.
Deswegen verändern wir heute gemeinsam die Rahmen-
Die zweite Ausnahme greift, wenn jemand eine Ar-
bedingungen.
beitsstelle antritt. Dann ist das Hilfe zur Selbsthilfe.
Wenn jemand in Zukunft seinen Lebensunterhalt bestrei-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten kann, beim Start aber auf Hilfe angewiesen ist, müs-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sen wir ihm selbstverständlich helfen. In diesen beiden
Kollegen Seifert? Fällen wird Hilfe gewährt; alle übrigen Fälle sind Privat-
sache.
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ja, bitte. der SPD)
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Jeder muss sich schon selbst um seinen Lebensunterhalt
Herr Kollege Weiß, Sie haben gerade von einer zu kümmern.
großzügigen Ausstattung der jugendlichen ALG-II- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Empfänger gesprochen. Würden Sie mir bitte erklären,
wieso ein 20-Jähriger oder ein 23-Jähriger als Soldat Die Fehlanreize sind damit beseitigt. Die sozialpoliti-
nach Afghanistan geschickt werden kann, sche Wirksamkeit wird erhöht. Wir gestalten diese neue
Norm mit dem allerbesten Gewissen; sie ist eine ver-
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ nünftige Balance zwischen Eigenverantwortung und ge-
CSU und der SPD) sellschaftlicher Verantwortung.
aber nicht einmal eine eigene Wohnung haben darf? Dasselbe gilt für meinen dritten Punkt: dass wir die
(Dirk Niebel [FDP]: Das darf er sehr wohl: Bedarfsgemeinschaften präziser definieren. Bisher ist
wenn er sie selbst bezahlt!) es so, dass jemand, der volljährig wird, automatisch den
Status einer Bedarfsgemeinschaft erhält, mit 100 Prozent
Regelsatz. Die Lebenswirklichkeit ist doch die, dass je-
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
mand, der zu Hause lebt, zu den Generalkosten – Versi-
So etwas kann ja nur einem Linken einfallen! cherungen, Strom, haushaltstechnische Geräte – in der
(B) (D)
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Regel nichts beizutragen hat. Da ist es nur recht und bil-
CDU/CSU – Beifall bei der LINKEN) lig, wenn wir solche im Elternhaus wohnende junge
Menschen in die elterliche Bedarfsgemeinschaft einbe-
Wir müssen doch in den Kategorien von Eigenverant- ziehen und ihren Regelsatz auf 80 Prozent kürzen. Auch
wortung, Familienverantwortung und gesellschaftlicher das bedeutet eine größere Treffsicherheit im Sozialstaat.
Verantwortung denken. Wir tun etwas Richtiges, wenn wir auf die Fehlentwick-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lungen, die wir beobachten, entsprechend reagieren.
Wir schreiben doch niemandem seinen Lebensstil vor; (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
wir verordnen niemandem, wie lange er bei den Eltern Mein vierter Aspekt: Mehr Zielgenauigkeit auch mit
– gestern hat jemand vom „Hotel Mama“ gesprochen – Blick auf die EU-Ausländer. Die Freizügigkeit ist ein
wohnen muss. Das ist Privatsache; das soll jeder selbst hohes Gut. Gemeint sind auch nicht die EU-Ausländer,
entscheiden. Allerdings darf die Gemeinschaft mit dieser die hier bei uns den Status eines Arbeitnehmers besitzen,
privaten Lebenswegentscheidung nicht länger belastet weil sie gearbeitet haben. Wer aber aufgrund des Leis-
werden. Das ist die Folgerung aus dem Prozess, den wir tungsrechts nach Deutschland einreisen will, den schlie-
eben dargestellt haben. ßen wir künftig von Leistungen aus.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU)
neten der SPD)
Ich denke, auch das ist eine normale und richtige Folge-
Grundsicherung, Herr Seifert, ist Hilfe für Hilfsbe- rung. In Zukunft werden wir es nicht mehr zulassen, dass
dürftige, nicht aber die Finanzierung bestimmter Le- die Freizügigkeit genutzt wird, um nach der Einreise ein-
benswegentscheidungen und persönlicher Lebensstile. zig und allein Leistungen zu beziehen.
Grundsicherung ist Hilfe, auf die man angewiesen ist.
Deshalb hat Herr Brandner zu Recht die beiden Ausnah- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir handeln
men angesprochen, die wir in den Gesetzentwurf aufge- verantwortungsbewusst und machen die Statik der
nommen haben. Die Genehmigung zum Auszug aus dem Grundsicherung belastungssicherer und tragfähiger. Das
Elternhaus und zur Gründung eines eigenen Hausstandes ist ein erster Schritt einer großen Reform. Ich bin mir si-
– samt Umzug und Erstausstattung – auf Kosten der Ge- cher, dass es eine kluge Entscheidung ist.
meinschaft bleibt möglich, wenn schwer wiegende so-
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
ziale Gründe gebieten, dass der junge Mensch von zu
Hause auszieht. Manche, Herr Niebel zum Beispiel, hal- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1493

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: betragen sollte. Die Angleichung der Regelsätze Ost (C)
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion und West ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist
Die Linke. wahrlich schon ein Armutszeugnis für die Sozialdemo-
kratie, dass es erst vehementer Montagsdemonstrationen
(Beifall bei der LINKEN)
und der Linkspartei bedurfte, damit Sie überhaupt auf
diese Idee kommen.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ge- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf
planten Verschärfungen von Hartz IV sind ein Angriff Brauksiepe [CDU/CSU]: Ihr wisst, wie die
auf die Eigenständigkeit junger Menschen und auf Bür- Wirkung von Montagsdemonstrationen ist! –
gerrechte. Katja Mast [SPD]: Das waren die Ombuds-
leute! – Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Das
(Beifall bei der LINKEN) glauben Sie doch selber nicht! – Andrea
Dabei sind Sie es doch immer gewesen, meine Damen Nahles [SPD]: Ist das jetzt dreist oder ist das
und Herren von SPD und CDU, die nach mehr Selbst- dumm?)
ständigkeit, nach mehr Flexibilität bei jungen Menschen Indem Sie die Angleichung Ost an West mit Kürzun-
rufen. gen bei den Rentenbeiträgen und bei den EU-Ausländern
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Aber sowie mit einem faktischen Auszugsverbot für junge Er-
nicht staatlich gefördert!) wachsene verbinden, beweisen Sie eigentlich nur eines:
Sie verfolgen nach wie vor die Politik des Gegeneinan-
Dann degradieren Sie Volljährige unter 25 Jahre zu der-Ausspielens der gesellschaftlichen Schichten, die so-
Minderjährigen, dann verdonnern Sie junge Erwachsene wieso am wenigsten haben. Daran werden wir als Linke
zum Sitzenbleiben im „Hotel Mama“ und kürzen gleich uns nicht beteiligen. Da brauchen Sie sich gar keine fal-
noch die Regelleistungen auf 276 Euro. Das ist nun schen Hoffnungen zu machen.
wirklich die falsche Richtung.
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der
(Beifall bei der LINKEN) SPD)
Ich muss mich schon wundern, wie schnell Sie aus 14 Monate lang prellen Sie die ostdeutschen Erwerbs-
dem Häuschen sind, wenn jemand Ihren Ansatz des losen nun schon pro Monat um 14 Euro. 14 Euro sind für
Sozialabbaus grundsätzlich nicht teilt. Daran werden einen ALG-II-Empfänger wahrlich kein Klacks. Den of-
Sie sich gewöhnen müssen. fiziellen Berechnungen zufolge hat ein Erwerbsloser
(B) (Beifall bei der LINKEN – Ute Kumpf [SPD]: seine gesamten Gesundheitskosten und seine gesamten (D)
Ein bisschen Distanz, Frau Kollegin Kipping, Kosten für die Körperpflege pro Monat von 13 Euro und
dann ist es okay!) 19 Cent zu finanzieren. Seien wir doch einmal ehrlich:
Wie weit würden wir mit knapp 14 Euro kommen, um
Es kann ja sein, dass Sie in den letzten Jahren etwas ver- damit die Kosten für Kosmetik und Gesundheit zu de-
wöhnt wurden. Man war halt mehr unter sich. Von der cken? Da die Differenz zwischen Ost- und Westdeutsch-
Opposition gab es eher Kritik im Detail. Sie werden sich land unrechtmäßig war, fordern wir Sie auf, diesen Be-
jetzt aber daran gewöhnen müssen, dass es nicht mehr trag rückwirkend nachzuzahlen. Das ist für uns eine
nur zwei Frauen von der PDS gibt, die Ihren Grundkon- Selbstverständlichkeit.
sens durchbrechen, sondern dass im Bundestag jetzt wie-
der eine gesamte Fraktion sitzt, die der Meinung ist, dass (Beifall bei der LINKEN)
wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht auf dem Rü- Nun wenden Sie ein, das sei ein zu großer bürokrati-
cken der Schwächsten austragen dürfen. scher Aufwand. Gut, wir müssen keine unnötige Arbeit
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf verursachen. Lassen Sie uns dann gemeinsam nach einer
Brauksiepe [CDU/CSU]: Wir erschrecken unbürokratischen Lösung, beispielsweise einer einmali-
schon! Wir zittern schon vor Angst!) gen Pauschale, suchen.
– Herr Brauksiepe, anstatt über Leistungskürzungen zu (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
reden, sollten wir mal darüber reden, was man beim Le- NEN]: Ein Hartz-IV-Begrüßungsgeld, oder
ben jenseits von Armut eigentlich braucht. was?)
Wenn man im 2. Armuts- und Reichtumsbericht nach- Apropos bürokratischer Aufwand. Sie dürfen nicht so
schlägt, dann kann man lesen: tun, als ob die von Ihnen geplanten Verschärfungen bei
den unter 25-Jährigen völlig unbürokratisch seien.
In Deutschland beträgt die so errechnete Armuts-
risikogrenze 938 Euro... (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Das haben
wir auch nie gesagt!)
938 Euro, meine Damen und Herren von der SPD – das
ist die Zahl Ihrer Regierung! Sie alle kennen die Stellungnahme der Bundesagentur, in
der ausgeführt wird, dass das Softwaresystem die Auf-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
nahme der Kategorie „Volljährige Kinder, die das
Folgt man dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, so 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ in eine be-
stellt man fest, dass der Regelsatz mindestens 420 Euro stehende Bedarfsgemeinschaft nicht zulässt. Man könnte
1494 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Katja Kipping
(A) fast meinen, das Softwareprogramm verfüge über ein nung: Nicht finanzielle Abhängigkeit, sondern gegensei- (C)
rechtsstaatliches Verständnis, von dem sich hier so man- tige Achtung und gegenseitiger Respekt sollten die
cher eine Scheibe abschneiden könnte. Grundlagen des Zusammenlebens bilden.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
In den Debatten der letzten Tage wurden von den Be- Mit Ihrem Familienverständnis, meine Damen und
fürwortern der Kürzung vor allen Dingen vier Argu- Herren von SPD und CDU/CSU, beweisen Sie aller-
mente genannt, die ich gemeinsam mit Ihnen gerne nä- dings, wie Recht Karl Marx hatte, als er im „Kommunis-
her beleuchten möchte. tischen Manifest“ schrieb:
Erstens. Die Herausbildung falscher Verhaltensmuster Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen
war ein Argument. Die Metapher von der Zellteilung rührend-sentimentalen Schleier entrissen und es auf
machte die Runde. Aber wenn man genauer nachfragt, ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
wo das belastbare Zahlenmaterial sei, dann wurde es
verdammt dünn. Um einmal Herrn Senius von der Bun- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg.
desagentur – übrigens der Sachverständige, den die gro- Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU])
ßen Koalition benannt hat – zu zitieren: Man habe keine – Herr Brauksiepe, Sie werden sich wieder daran gewöh-
gesicherten Angaben. nen müssen, dass auch hier im Bundestag der in wissen-
(Dirk Niebel [FDP]: Dass die Bundesagentur schaftlichen Schriften am meisten zitierte Autor wieder
keine gesicherten Angaben hat, wundert uns eine Rolle spielt.
nicht!) (Lachen bei der CDU/CSU)
Der Vertreter der Wohlfahrtspflege wurde noch deut- Die Argumente, die SPD und CDU/CSU für die Fort-
licher. Ich zitiere: Nach unserer Interpretation – wir sind setzung ihres Kürzungskurses vorbringen, überzeugen
sehr tief in die Statistik eingestiegen – gibt es keinerlei einfach nicht. Wenn Frau Connemann argumentiert, der
Anzeichen, nach denen man auf ein so genanntes Phäno- staatlich finanzierte Auszug sei kein Bürger- und Men-
men der Zellteilung schließen kann. – Sie haben keine schenrecht, dann lässt das aufhorchen. Wollen Sie hier
belastbare Grundlage für Ihre Behauptungen. Aber Sie etwa einen Testballon für weitere Kürzungen steigen
nehmen Ihr diffuses Empfinden als Grundlage für tiefe lassen? Ihre Logik, Frau Connemann, zu Ende ge-
Einschnitte. dacht, bedeutet, man könne die Grenze genauso gut
(Widerspruch bei der SPD) bei 35, 55 oder am besten bei 67 Jahren ziehen, um da-
nach nahtlos in Rente zu gehen.
(B) Eine solche Politik aus dem Bauch heraus wird in Zu- (D)
kunft zu weit mehr als Bauchschmerzen führen. (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Das sind Karrieren,
(Beifall bei der LINKEN)
wie ihr sie euch vorstellt!)
Zweitens. Menschen unter 25 Jahre – so Ihre Argu-
Die Kürzungen, die heute Erwachsene unter
mentation – sollen sowieso in einen Ausbildungs- oder
25 Jahren treffen, können von Ihnen schon morgen für
Arbeitsplatz vermittelt werden. Dazu kann ich nur sa-
die unter 35-Jährigen oder für die über 55-Jährigen dis-
gen: Schön wäre es! Ihr Anspruch nützt jedoch dem Ju-
kutiert werden. Wir Linken meinen jedoch: Junge Men-
gendlichen, der bereits seine 50. Bewerbung vergeblich
schen dürfen nicht zum Experimentierfeld für weitere
geschrieben hat, leider sehr wenig.
Leistungskürzungen werden.
Drittens. Es handele sich hier – so führen Sie an – um
eine steuerfinanzierte Leistung, für die die Menschen (Beifall bei der LINKEN)
aufkommen müssten, welche jeden Tag bei Wind und Zusammenfassend ist zu sagen: Hartz IV junior ist
Wetter zur Arbeit gehen. kein Deut besser als Hartz IV senior. Es lohnt sich also,
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: hier in diesem Haus über Alternativen zu reden.
Genau so ist es!) Erstens sollten wir endlich das Konstrukt der Bedarfs-
Es ist tatsächlich ein Problem, dass das Steueraufkom- gemeinschaft abschaffen
men immer mehr von den Menschen getragen wird, die (Dirk Niebel [FDP]: Freies Geld für alle!)
eine Arbeit haben.
und schrittweise das Individualprinzip einführen. Es
(Beifall bei der LINKEN) geht schließlich um soziale Rechte jedes Einzelnen.
Hier müssen wir tatsächlich etwas verändern. Also wa- (Beifall bei der LINKEN)
gen wir uns endlich daran, Gewinne und Vermögen bes-
ser zu besteuern, um die Beschäftigten etwas zu entlas- Zweitens sollten wir das Arbeitslosengeld II durch
ten. eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung ersetzen,
die ein Leben jenseits der Armut und unabhängig vom
Viertens. Sie sagen, die Familie sei eine Verantwor- Einkommen der Verwandtschaft ermöglicht. Es ist
tungsgemeinschaft. Als emanzipatorische Linke habe höchste Zeit dafür.
ich ein anderes Familienverständnis. Das mag Ihnen alt-
modisch vorkommen, aber ich bin nach wie vor der Mei- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1495
Katja Kipping
(A) Drittens sollten wir – um die Finanzierung dieser es nicht zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So- (C)
Maßnahmen sicherzustellen – endlich einen Kurswech- zialhilfe gekommen wäre, hätten sich im vergangenen
sel in der Steuerpolitik vornehmen und uns daran wagen, Jahr auf 40 Milliarden Euro belaufen. Die Kosten für das
Vermögen und Gewinne von Unternehmen ordentlich zu Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft betru-
besteuern. gen hingegen 41 Milliarden Euro. Ich kann da keine
Kostenexplosion entdecken.
(Dirk Niebel [FDP]: Warum zahlen wir über-
haupt noch Löhne? Alles enteignen und glei- Berücksichtigt man zudem, dass 4,2 Milliarden Euro
ches Taschengeld für alle!) in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt worden
sind und ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand entstan-
Ihre bisherige Steuerpolitik hat die Löcher in den Haus-
den ist, so zeigt sich, dass die Leistungsempfänger – also
halten nur weiter vergrößert.
die Arbeitslosen – die Letzten sind, die für Kostensteige-
(Beifall bei der LINKEN) rungen verantwortlich gemacht werden können.
Ich denke, wir können es uns nicht mehr leisten, auf Das Argument einer vermeintlichen Kostensteigerung
diese Steuereinnahmen zu verzichten. oder gar -explosion kommt Ihnen aber sehr gelegen, um
die Leistungsverbesserungen zu stutzen, die das
Es kann nicht sein, dass die Folgen Ihrer verfehlten Arbeitslosengeld II – jedenfalls bisher – positiv von der
Steuerpolitik, die Sie zu verantworten haben, auf dem früheren Sozialhilfe unterscheiden.
Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Es ist höchste
Zeit für einen politischen Kurswechsel in diesem Land. Es war das erklärte Ziel der rot-grünen Koalition
– vor allem vom Bündnis 90/Die Grünen – in der letzten
Besten Dank.
Legislaturperiode, mit dem Arbeitslosengeld II den Ein-
(Lebhafter Beifall bei der LINKEN) stieg in eine Grundsicherung zu erreichen. Bei allen
Mängeln, die das Gesetz zweifellos aufweist, ist diese
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zielsetzung richtig. Wir sind dem Ziel in einigen Punk-
ten schon ein ganzes Stück näher gekommen: gesetzli-
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/
che Krankenversicherung für alle, Rentenversicherungs-
Die Grünen.
beiträge auf der Basis von 400 Euro, Zugang zur aktiven
Arbeitsmarktpolitik auch für frühere Sozialhilfebezie-
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hende und nicht zuletzt der Anspruch auf eine eigenstän-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dige Leistung mit dem Erreichen der Volljährigkeit in
An dieser Stelle wird häufig das so genannte strucksche Verbindung mit der Verpflichtung der Job-Center, diesen
(B) Gesetz bemüht, demzufolge ein Gesetz nicht so aus dem jungen Menschen ein Angebot zu machen. Das war kein (D)
Parlament herauskommt, wie es dort eingebracht worden Betriebsunfall in der Gesetzgebung; es ist vielmehr ein
ist. Meistens wird das in diesem Hohen Hause von Ab- wichtiges Element der Grundsicherung des Arbeitslo-
geordneten in der Hoffnung geäußert, dass das Gesetz, sengelds II.
das im Parlament beschlossen wird, besser ist als der
eingebrachte Gesetzentwurf. Dass auch der umgekehrte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Fall möglich ist, nämlich dass ein Gesetz das Parlament Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
in einer schlechteren Fassung verlässt, beweist der vor- haben Sie nicht selbst noch im Wahlkampf die teilweise
liegende Gesetzentwurf zur Änderung des als Hartz IV einschneidenden Kürzungen durch Hartz IV mit genau
bekannt gewordenen SGB II. Eingebracht wurde näm- diesen Verbesserungen begründet und gerechtfertigt?
lich das Vorhaben einer durchaus sympathischen Anglei-
chung der Regelsätze in Ost und West. Herausgekom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
men ist dagegen ein relativ krudes und unsystematisches Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt seien
Spargesetz mit weiteren Leistungseinschränkungen. Sie mal nicht so streng mit den Sozialdemo-
kraten!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ist denn nicht Ihr Vorsitzender Platzeck im Hartz-Som-
Sparen ist an sich keine Sünde, sofern Begründung, mer 2003 mit genau den Verbesserungen, die ich gerade
Ziel und Grundannahmen stimmen. Das alles stimmt im genannt habe, über das Land gezogen, um Stimmen zu
vorliegenden Fall jedoch nicht. Sie behaupten, dass es gewinnen, damit Sie mit einem blauen Auge davonkom-
bei Hartz IV zu Kostensteigerungen gekommen ist. Sie men?
widersprechen nicht den öffentlich geäußerten Behaup-
tungen, dass es bei Hartz IV sogar zu einer Kostenexplo- Jetzt bauen Sie den Popanz einer angeblichen Kosten-
sion gekommen sei. explosion und angeblicher Massenauszüge auf, um die
Grundsicherungselemente von Hartz IV zu demontieren.
(Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt ja auch!)
Sie diskutieren hier hinlänglich über die unter 25-Jähri-
Sie treten auch nicht dem Eindruck entgegen, dass die gen; das ist sicherlich ein wichtiger Punkt. Aber bislang
Leistungsempfänger dafür verantwortlich sind. hat niemand erwähnt, dass der größte Kostenblock die
2 Milliarden Euro sind, die zulasten der Rentenversiche-
Wahr ist aber – das ist an dieser Stelle festzuhalten –: rung eingespart werden.
Die gesamten Leistungen für Sozialhilfe, Arbeitslosen-
hilfe und Wohngeld, die zu zahlen gewesen wären, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
1496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Markus Kurth
(A) Sie erwecken den Eindruck, die Jugendlichen führten auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt konzen- (C)
auf Kosten der Steuerzahler ein Leben in Saus und trieren können. Aber Sie handeln unwirtschaftlich.
Braus. Sie unterschlagen aber geflissentlich, dass die Ju-
gendlichen bei Androhung der vollständigen Leistungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
kürzung – 100 Prozent Leistungskürzung! – verpflichtet Wenn sich diese Art der Änderungen des Arbeitslosen-
sind, ein Angebot anzunehmen. Aber wo sind denn die geldes II fortsetzt, werden wohl Zug um Zug alle fort-
Angebote? Das Problem ist, dass es an Angeboten man- schrittlichen Ansätze des Zweiten Buches Sozialgesetz-
gelt buch entfernt, sodass vermutlich am Ende nur noch eine
verschlechterte Sozialhilfe übrig bleibt, die nicht nur auf
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
der Leistungsseite defizitär ist, sondern das Ganze auch
und dass der Zugang zur Arbeitsförderung sowie zu bürokratischer macht.
Qualifizierung und Zuschüssen, den wir im Gesetz vor- Notwendig wären aber ganz andere Verbesserungen
gesehen haben, unzulänglich geblieben ist. Das mag na- im SGB II. In unserem Entschließungsantrag sind ja die
türlich auch mit dem schleppenden Aufbau der Job-Cen- dringlichsten Vorhaben benannt, die man sofort umset-
ter zu tun haben. Aber hier müsste der Gesetzgeber zen könnte. Wir bräuchten in erster Linie eine generelle
herangehen; hier müsste man etwas machen. Fast die Überprüfung der Regelsätze auf Grundlage der aktuellen
Hälfte der bereitgestellten Mittel für das Fördern im Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Wir müssen
Rahmen von Hartz IV ist im vergangenen Jahr nicht aus- die Regelleistung Arbeitslosengeld II in einem transpa-
gegeben worden. Tun Sie wirklich alles, damit sich das renten Verfahren anpassen. Reden wir in diesem Zusam-
in diesem Jahr nicht wiederholt? Ich habe nicht den Ein- menhang einmal über die von Ihnen genannte Zahl, Frau
druck. Wenn Sie mit der gleichen Anstrengung, mit der Kipping. Die 938 Euro umschreiben doch keinesfalls das
Sie Leistungskürzungen betreiben, Jugendliche förder- soziokulturelle Existenzminimum, um das es in diesem
ten, bräuchten wir uns um Auszüge beileibe nicht so Fall geht, sondern die Armutsrisikoquote. Das sind doch
viele Gedanken zu machen. ganz unterschiedliche Werte. Sie sollten sich einmal mit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Eckdaten des Sozialhilferechts und des Sozialrechts
vertraut machen.
Sie unterschlagen des Weiteren, dass es sich keines-
falls um ein Massenphänomen handelt. Herr Weiß und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herr Brandner haben behauptet, die Zahl der Einperso- sowie bei Abgeordneten der SPD)
nenbedarfsgemeinschaften sei um 19 Prozent gestie- Sie jammern über die Höhe des Arbeitslosengeldes II.
gen. Tatsächlich ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften Ich erinnere Sie daran, dass die Regelsatzverordnung
(B) insgesamt angestiegen. Die Zahl der Mehrpersonenhaus- eine Verordnung ist, die nicht im Parlament beschlossen (D)
halte ist um 16 Prozent angestiegen. Ich kann zwischen wird, sondern von der Bundesregierung zusammen mit
einem Anstieg um 16 Prozent und einem um 19 Prozent den Bundesländern erlassen wird. Sie sind doch in zwei
keine so gewichtige Differenz feststellen. Bundesländern mit in der Regierung. Schauen Sie sich
einmal das Abstimmungsverhalten des Landes Berlin bei
(Otto Fricke [FDP]: Das sieht man bei der
der Regelsatzverordnung an, bevor Sie hier über die
Mehrwertsteuer!)
Höhe des Arbeitslosengeldes II Krokodilstränen vergie-
Es ist erstaunlich, dass Sie das für etwas Gravierendes ßen!
und Außergewöhnliches halten. Wenn es das Phänomen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der so genannten Zellteilung, also dass Jugendliche aus- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
ziehen und Einpersonenbedarfsgemeinschaften grün- SPD und der FDP)
den, tatsächlich gegeben hätte, hätte dann in der Statistik
nicht nachweisbar sein müssen, dass die Zahl der Zwei-, Es sind weiterhin einige Veränderungen zu berück-
Drei- und Vierpersonenhaushalte in Arbeitslosigkeit zu- sichtigen. Es ist zum Beispiel nicht nachvollziehbar, wa-
rückgegangen ist? Genau das Gegenteil ist der Fall. rum bei den Stromkosten ein 15-prozentiger Abschlag in
der Regelsatzverordnung vorgenommen worden ist. An-
Das Verfahren im Umgang mit den unter 25-Jährigen gesichts des Anstiegs der Energiekosten gerade der letz-
ist exemplarisch. Ich nenne als weiteres Beispiel nur die ten fünf Jahre um fast 26 Prozent ist eine Nachbesserung
Mietschulden. Hier wird ebenfalls auf fadenscheinige erforderlich. Ebenso ist die Gesundheitsreform mit den
Art und Weise zu kurz gesprungen. Herr Brandner – wo Zuzahlungen nicht im Regelsatz systematisch verortet.
ist er denn? –, Sie haben behauptet, die Mietschulden
könnten nun auch im Rahmen der Beihilfe übernommen Das sind die entscheidenden Punkte. Fangen Sie da-
werden. Tatsächlich deckt dies das Gesetz nicht ab. Ich mit an, Hartz IV zu einer echten Grundsicherung auszu-
habe mir gerade aus meinem Büro den entsprechenden bauen! Wenn schon in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Änderungsantrag kommen lassen. Hier steht: Geldleis- im Moment nicht alle Schritte getan werden können,
tungen sollen als Darlehen erbracht werden. – Dabei hat dann erfüllen Sie wenigstens das verfassungsrechtliche
die Sachverständige aus der kommunalen Praxis eindeu- Gebot der Sicherung des soziokulturellen Existenzmini-
tig gesagt: Die bestehenden Beihilferegelungen sind Pra- mums.
xis in den Kommunen und sind günstig. Es rechnet sich Vielen Dank.
für die öffentliche Hand, wenn den Hilfsbedürftigen der
Mietschuldenrucksack abgenommen wird und sie sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sind nicht nur unterschiedlich zwischen West und Ost, (C)
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär sie sind auch unterschiedlich zwischen Nord und Süd,
Gerd Andres. zwischen ländlichen Regionen und Ballungsregionen
usw. Eine gesonderte Abstufung nur für die östlichen
Bundesländer ist deshalb überhaupt nicht zu rechtferti-
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
gen. Wir setzen diese Empfehlung des Ombudsrates des-
minister für Arbeit und Soziales:
halb gerne um, und zwar gemeinsam.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Arbeit bedeutet Teilhabe und Teilhabe schafft (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gesellschaftliche Chancengerechtigkeit. Diese Formel ist
so kurz wie zutreffend. Sie beschreibt die Zielsetzung, Wir bekennen uns auch weiterhin und unmissver-
mit der wir gemeinsam – jetzt schaue ich die Damen und ständlich zur Einführung der Grundsicherung für Arbeit-
Herren in der Mitte an – die Arbeitsmarktreformen in der suchende. Wir hatten dabei von Beginn an festgelegt,
letzten und in der vorletzten Legislaturperiode auf den dass wir aus Erfahrung lernen und gegebenenfalls die
Weg gebracht haben. Wir wollten erreichen, dass dieje- Konsequenzen ziehen wollen.
nigen, die im Sozialhilfesystem, aber erwerbsfähig wa- Eine derart komplexe und umfangreiche Reform darf
ren, erstmals Zugang zu allen Leistungen der Bundes- nicht von Anfang an in Stein gemeißelt sein. Sie muss
agentur für Arbeit erhalten. Wir wollten ihnen Chancen Raum für Anpassungen lassen, damit die notwendigen
auf Weiterbildung eröffnen, auf Qualifizierung und Ver- Konsequenzen aus den gesammelten Erfahrungen gezo-
mittlung. Wir wollten diesen Menschen alle Möglichkei- gen werden können.
ten eröffnen – das werden wir auch weiterhin tun –, da-
mit sie statt des Verharrens in einem Transfersystem Dieses SGB II gibt es jetzt 14 Monate. Wir sammeln
ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst bestreiten kön- Erfahrungen. Wir haben Aufbauerfahrungen gemacht.
nen. Das ist völlig richtig und das ist die Grundlage des- Die Koalition hat im Koalitionsvertrag verschiedene
sen, was wir uns in der großen Koalition vorgenommen Konkretisierungen für den Regelungsbereich des SGB II
haben. beschlossen. Sie wurde darin nach intensiver Beratung
in den Ausschüssen und in einer öffentlichen Anhörung
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) von Sachverständigen bestätigt. Teil dieses Paketes ist
„Fördern und fordern“ – das will ich nicht auslassen – die Modifizierung von bisherigen Regelungen der
lautete das Schlagwort, mit dem wir die Zusammenle- Grundsicherung für Arbeitsuchende.
gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbs- Bevor ich die Inhalte darstelle, möchte ich zunächst
fähige zu einer einheitlichen Grundsicherung für Ar- etwas zur Kollegin Kipping sagen: Der wissenschaftli-
(B) beitsuchende beschrieben haben. Dieser Grundsatz gilt (D)
che Sozialismus zeichnet sich dadurch aus – das haben
nach wie vor. Der Staat unterstützt diejenigen, die der wir gelernt –, dass diejenigen, die sich darauf berufen,
Hilfe bedürfen. Deshalb sollen die Leistungen auch nur immer nur das zitieren, was man gebrauchen kann; den
diejenigen erreichen, die ohne diese Unterstützung in Rest lässt man weg. Wenn Sie schon Werke von Marx
ernste Bedrängnis geraten würden. Diese Zielgenauig- und Engels zitieren, dann passen Sie auf, dass Sie nicht
keit sind wir allen Steuerzahlern, aber auch den Men- irgendwann bei den Stalin-Bänden landen. Alles, was
schen schuldig, die Tag für Tag durch ihre Arbeitsleis- darin steht, hat sich ja als äußerst brauchbar herausge-
tung diese Unterstützung von Hilfebedürftigen in stellt.
unserer Gesellschaft ermöglichen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Insoweit wollte ich mich doch mit Ihnen, Frau Kipping,
Die Einführung des Arbeitslosengeldes II hat in auseinander setzen, damit klar ist, worüber wir hier re-
Deutschland hohe Wellen geschlagen. Daran haben sich den. Sie waren ja ganz stolz auf das Zitat; deswegen soll-
viele die Finger gewärmt und das muss keinen erstau- ten Sie auch fair und korrekt sein. Ich sage Ihnen: Jede
nen. Manchmal kommt der angebliche Fortschritt als Politik beginnt damit, zur Kenntnis zu nehmen, was ist.
ganz plumper Populismus daher. Ich sage noch einmal
vor dem Hintergrund dessen, was ich hier dargestellt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
habe: Wir hielten die Einführung dieses Systems für CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der
richtig und wir halten es nach wie vor für richtig. Wir LINKEN)
lassen uns nicht bange machen. Wir haben versucht, auf Sie haben einen Satz des Sachverständigen Senius zi-
die Proteste und die populistischen Kampagnen großer tiert. Ich lese Ihnen seine Aussage jetzt im Zusammen-
Boulevardzeitungen und anderer, die es gegeben hat, zu hang vor:
reagieren, indem wir den Ombudsrat eingesetzt haben.
Wir haben nur eine eingeschränkte Empirie, auf die
Der Ombudsrat hat empfohlen, die Angleichung der wir zugreifen können. Wir haben keine gesicherten
Regelleistung Ost an die Regelleistung West vorzuneh- Angaben, wie groß die Anzahl der Ein-Personen-
men. Dieser Empfehlung folgen wir hiermit ausdrück- Bedarfsgemeinschaften vor In-Kraft-Treten des
lich. Er hat dafür eine ganz einfache Begründung gelie- SGB II letztendlich war.
fert, die ziemlich stichhaltig ist: Die Löhne und Gehälter
sind ebenso wie Lebenshaltungskosten und Verbraucher- Das kann Ihnen jeder hier bestätigen. Auch das müssten
verhalten von Region zu Region unterschiedlich. Sie Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Weiter sagt er:
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Parl. Staatssekretär Gerd Andres


(A) Fakt ist aber, dass seit 1. Januar 2005 die Zahl der Ich komme auf den nächsten Punkt zu sprechen. Man- (C)
Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften um 19,6 Pro- che ziehen hier einen grenzenlosen Populismus ab. Ich
zent angestiegen ist, während die Zahl der Mehr- finde die Argumentationsweise teilweise relativ übel. Ich
Personen-Bedarfsgemeinschaften um „nur“ 16 Pro- will noch einmal ganz deutlich sagen: Es geht überhaupt
zent gestiegen ist. nicht darum, dass diese Koalition, dass diese Regierung
junge Menschen daran hindern möchte, selbstständig zu
Also haben wir hier zum einen eine deutlich stärkere
leben. Darum geht es überhaupt nicht. Das ist alles Un-
Steigerung der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften,
sinn. Wir haben ein steuerfinanziertes Bedarfssystem.
zum anderen haben wir einen deutlichen Anstieg der
Danach bekommt nur derjenige etwas, der bedürftig ist
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unter 25 Jahren. Der
und diese Bedürftigkeit nachweist. Wenn sich in einem
war schlicht und einfach doppelt so stark im Anstieg wie
Jahr oder in 14 Monaten herausstellt – ich habe die ent-
der Anstieg aller erwerbsbedürftigen Hilfebedürftigen:
sprechenden Zahlen vorgetragen –, dass dieses System
14 Prozent zu 28 Prozent bei den über 25-jährigen er-
dazu führt, dass die Selbstständigmachung der Bedürfti-
werbsfähigen Hilfebedürftigen.
gen mehr als die anderer gefördert wird, dann stimmt et-
Nachdem wir diese Zahlen dargelegt haben, will ich was nicht.
sagen: Weil es so nicht beabsichtigt war, finde ich es völ-
Was falsch war, das stellen wir jetzt richtig.
lig korrekt, dass wir „Bedarfsgemeinschaft“ neu definie-
ren. Künftig gehört auch ein unter 25-Jähriger zur Be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
darfsgemeinschaft – er bildet nicht automatisch eine
eigene Bedarfsgemeinschaft –, sofern er im elterlichen Wir sorgen dafür, dass ein unter 25-Jähriger nur mit Ge-
Haushalt lebt. Wenn er zur Bedarfsgemeinschaft gehört, nehmigung des Leistungserbringers ausziehen kann. Ich
dann bekommt er nicht den vollen Satz von 345 Euro, halte das auch für angemessen. Hinzufügen will ich
sondern nur 80 Prozent davon. Selbst Frau Pothmer hat gleich – wir haben auch das öffentlich erklärt –: Wir
sich in der Aktuellen Stunde am vergangenen Mittwoch wollen nicht, dass junge Menschen im „Hotel Mama“ le-
dazu herabgelassen, zu erklären – das kann man im Pro- ben. Auch das ist Unsinn. Selbst wenn Zeitungen das
tokoll nachlesen –, dass der Neuregelung eine gewisse schreiben, muss das noch nicht richtig sein. Das wollen
Systematik zugrunde liegt. wir gar nicht.

(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- Wir legen mit dem Gesetz mit dem Stichtag heute
NIS 90/DIE GRÜNEN]) fest, dass für die jungen Menschen unter 25 Jahren, die
nicht mehr im elterlichen Haushalt leben und die sich
– Ich habe zugehört. Ich komme gleich auf Sie zu spre- nach der bisher geltenden Gesetzesregelung verhalten
chen. haben, die gesetzlichen Änderungen, die wir jetzt vor-
(B) (D)
nehmen, nicht gelten. Es gibt da also einen Vertrauens-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schutz. Demjenigen, der bis heute ausgezogen ist und
Herr Staatssekretär, ich muss Sie fragen, ob Sie eine eine eigene Bedarfsgemeinschaft gegründet hat, wird
Zwischenfrage der Abgeordneten Kipping zulassen. diese nicht genommen. Wenn er künftig umziehen
möchte, wird ihm auch nicht gesagt, dass er doch wieder
zu Mama oder Papa zurückgehen soll. Das wäre auch
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Unsinn. Das wollen wir nicht.
minister für Arbeit und Soziales:
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
möchte das jetzt hier darstellen.
Ich sage auch hier noch einmal eindeutig – wir haben
(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) es schon dreimal im Ausschuss erklärt; ich kann es nur
immer wiederholen; Sie wollen es nicht begreifen und
– Sie haben Ihr Pulver schon verschossen. Es ist doch
das ist das eigentliche Problem –, dass es diese Siche-
gut.
rung gibt und dass diejenigen, die künftig eine eigene
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Wir haben noch Bedarfsgemeinschaft gründen wollen, dafür einer
viel mehr!) Genehmigung bedürfen. Von diesem Genehmigungser-
fordernis gibt es Ausnahmen. Die sind auch vernünftig.
Frau Pothmer, Sie haben hier erklärt, dass Sie für die
Wenn wir nämlich einen generellen Genehmigungsvor-
Neuregelung großes Verständnis haben. Populistisch ha-
behalt festlegen, schaffen wir als Gesetzgeber nicht die
ben Sie aber hinzugefügt, dass die Reduzierung nicht auf
Möglichkeit, bestimmten Fällen, etwa dem Fall der Ar-
80 Prozent, sondern auf 90 Prozent erfolgen müsse. Das
beitsaufnahme oder dem Fall, dass es den Betroffenen
habe ich schon verstanden.
überhaupt nicht zugemutet werden kann, im elterlichen
Wir halten die Neuregelung für sachgerecht. Sie ist Haushalt zu leben, gerecht zu werden. Für diese Fälle
richtig, weil derjenige, der zur Bedarfsgemeinschaft ge- treffen wir Regelungen. Die sind vernünftig. Auch das
hört, anders als der Haushaltsvorstand keine Generalkos- kann man öffentlich vertreten.
ten zu tragen hat: Man hat eine Waschmaschine, man hat
Als Nächstes komme ich zu dem Rentenversiche-
eine Küche und man hat bestimmte Aufwendungen nicht
rungsbeitrag. Ich will auf ein paar Spezialbereiche hin-
zu erbringen. Deswegen halten wir die Neuregelung für
weisen. Es gibt Menschen, die erwerbsfähig und auch er-
bedarfsgerecht und richtig.
werbstätig sind und dazu ergänzende Hilfe bekommen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Weil sie ergänzende Hilfe bekommen, wird für sie ein
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Parl. Staatssekretär Gerd Andres
(A) Rentenversicherungsbeitrag bezahlt, obwohl sie in ei- werden bürokratische Hürden beseitigen. Was die Frage (C)
nem Beschäftigungsverhältnis stehen und schon auf- der Effizienz angeht, werden wir eine ganze Reihe von
grund dieses Beschäftigungsverhältnisses Rentenversi- Veränderungen vornehmen. Ich bitte Sie herzlich um
cherungsbeiträge gezahlt werden. Können Sie mir Ihre Unterstützung und um Ihre Mitarbeit dabei.
einmal erklären, warum der Staat das zweimal bezahlen
soll? Nun will ich aus meiner eigenen Erfahrung, aus dem,
was ich in den vielen zurückliegenden Jahren in diesem
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wieso der Staat? Arbeitsfeld miterlebt habe, noch etwas zu den Grünen
Einmal zahlt der Arbeitgeber!) sagen. Wenn es keine Neuwahl gegeben hätte, meine
sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen, dann
Erst wir – ich will das einmal ausdrücklich sagen – hätten wir in der alten Koalition in diesem Jahr genauso
haben die Rentenversicherungspflicht für diesen Perso- Veränderungen vorgenommen, wie sie die neue Koali-
nenkreis eingeführt. tion jetzt vornimmt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD)
der CDU/CSU)
Ich bin mir relativ sicher – das können Sie glauben, weil
Wir haben lange darüber diskutiert und uns mit der wir viele Dinge zusammen mit den handelnden Personen
Frage auseinander gesetzt, wie wir das ausgestalten. Wir gemacht haben –, dass viele der Maßnahmen, die wir
haben das so ausgestaltet, dass alle Anwartschaftszeiten jetzt treffen, mit Ihnen ganz genauso getroffen worden
genutzt werden können und Maßnahmen der Rehabilita- wären. Deswegen habe ich die herzliche Bitte: Kommen
tion sowie andere Dinge in Anspruch genommen werden Sie ein bisschen weg von dem platten Populismus!
können. Aber wir reduzieren für den Staat die Beitrags-
zahlung von jetzt 78 Euro auf 40 Euro und sparen damit (Dirk Niebel [FDP]: Aber so sind die Grünen!
– das ist auch überhaupt nicht zu leugnen; wir müssen So waren sie eigentlich schon immer! Flach
nämlich sparen – knapp 2 Milliarden Euro ein, die sonst wie eine Flunder und populistisch!)
steuerfinanziert vom Staat dafür aufgebracht werden
müssten. Auch das halten wir für sachgerecht und regeln Erinnern Sie sich daran, was Sie in den sieben Jahren un-
es entsprechend. serer gemeinsamen Koalition mitgetragen haben! Geben
Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem Gesetz zu!
Es ist schon einiges über den Leistungsausschluss
für Ausländer gesagt worden. Dazu muss ich noch ein- Herzlichen Dank.
mal Folgendes feststellen: Es geht nicht darum, dass
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(B) Ausländer nicht die ihnen zustehenden Leistungen erhal- (D)
ten sollen. Aber wenn Personen in die Bundesrepublik
Deutschland einreisen, nur um ALG II zu erhalten, dann Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
muss dem ein Riegel vorgeschoben werden. Das tun wir Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an die
jetzt. Kollegin Katja Kipping.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Katja Kipping (DIE LINKE):
Ich halte alles das, was wir machen, für sachgerecht
Frau Präsidentin! Da Herr Andres den Eindruck er-
und notwendig. Damit niemand sagen kann, er habe es
weckt hat, ich hätte beim Zitieren bewusst etwas wegge-
nicht gewusst – es steht im Koalitionsvertrag; wir arbei-
lassen, und dann stolz präsentiert hat, es habe bei der
ten auch schon an der Umsetzung –, will ich hier Folgen-
Zahl der Ein-Personen-Haushalte einen Anstieg um
des ankündigen: Die große Koalition wird in den nächs-
19 Prozent und bei Mehr-Personen-Haushalten einen
ten Monaten mit einem Optimierungsgesetz in einer
Anstieg um 16 Prozent gegeben,
ganzen Reihe von Positionen des SGB II und des
SGB III nachsteuern und da zu Veränderungen kommen. (Dirk Niebel [FDP]: Zwischen 16 und 19 Pro-
Das ist auch sinnvoll. zent haben die Sozialdemokraten Probleme!
Ich sage noch einmal: Ich halte die Reform, die am Das merkt man bei der Mehrwertsteuer!)
1. Januar des vergangenen Jahres in Kraft getreten ist, möchte ich schon noch einmal darauf verweisen, dass
für eine gewaltige Sozialreform. Sie ist nur mit der gro- auch in der Anhörung dargelegt wurde, dass die von Ih-
ßen Rentenreform im Jahr 1957 oder mit der Einführung nen so stolz zitierten Zahlen nicht das Phänomen der
der Arbeitsförderung im Jahre 1969 zu vergleichen. Sie Zellteilung beschreiben. Als Beleg zitiere ich Herrn
müssen sich einmal anschauen, wie viele Menschen da- Schneider von der Bundesarbeitsgemeinschaft der
von betroffen sind. Es gibt 3,8 Millionen Bedarfsge- Freien Wohlfahrtspflege:
meinschaften. Wir haben festgestellt, dass hier mehr als
300 000 Menschen aufgetaucht sind, die vorher in kei- Für das Phänomen der „Zellteilung“ wird sich je-
nem anderen System waren. Wer sich anschaut, wie sich doch eine Abnahme bei den Mehr-Personen-Haus-
das SGB II entwickelt, der muss zugeben: Da muss halten finden lassen müssen. Dann kann man von
nachgesteuert werden; da muss verändert werden. Das einer „Zellteilung“ sprechen. Das ist nicht passiert.
werden wir in diesem Jahre tun. Wir werden dabei auch Das heißt, es findet sich nirgendwo eine Auflösung
über den Ausschluss von Missbräuchen diskutieren. Wir von Zwei- oder Mehr-Personen-Haushalten wieder.
1500 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Katja Kipping
(A) Weiter führt Herr Schneider aus: Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es finden sich statistisch nicht nur keine Anhalts- Der Kollege Brandner – ich freue mich, ihn jetzt wieder
punkte für das Phänomen der Zellteilung, sondern hier im Plenum zu sehen – hat einleitend in seiner Rede
Indizien, dass es dieses nicht gibt. gesagt, heute sei ein guter Tag für die Menschen in unse-
Wenn Sie, Frau Nahles, dem Vertreter der Wohlfahrts- rem Lande. Nun, Herr Brandner, wenn der Tag ein guter
pflege Realitätsverlust unterstellen, Tag ist, an dem ein stümperhaft gemachtes Gesetz nach-
gebessert wird, dann mag es heute ein guter Tag sein.
(Andrea Nahles [SPD]: Ihnen!) Tatsache ist, Sie handeln auf diesem wichtigen Feld der
Politik nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“.
dann ist das Ihr Ding. Wir meinen, die genauen statisti-
schen Untersuchungen sprechen eine klare Sprache. Das (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])
Phänomen Zellteilung ist so nicht belegbar.
An Warnungen vor der Gefahr, dass die Zahl der von un-
(Beifall bei der LINKEN) ter 25-Jährigen gegründeten Haushalte zunehmen werde,
hat es ja damals im Gesetzgebungsverfahren wirklich
nicht gefehlt. Deshalb muss man hier klipp und klar und
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
ohne Umschweife feststellen: Mit geordneter Gesetzge-
Herr Staatssekretär, bitte. bung hat das, was Sie in diesem Bereich in der Vergan-
genheit getan haben und auch heute wieder tun – das ist
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sehr wahrscheinlich; ich komme darauf zurück –, wirk-
minister für Arbeit und Soziales: lich nichts zu tun.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Kurzintervention, (Beifall bei der FDP)
weil ich dadurch die Gelegenheit habe, noch etwas zu
den Aussagen des Sachverständigen Schneider zu sagen. Es wird über die Frage diskutiert, ob es massenhaften
Seine Argumentation ist wirklich toll. Er sagt, von einer Missbrauch gegeben hat. Diese muss man wahrschein-
Explosion der Anzahl an Bedarfsgemeinschaften in lich mit Nein beantworten, weil diese Möglichkeit, Herr
Form von Ein-Personen-Haushalten könne nur dann die Brandner, im Gesetz ausdrücklich zugelassen war. Tatsa-
Rede sein, wenn es gleichzeitig eine Abnahme bei der che ist und bleibt aber, Frau Kollegin Kipping,
Zahl der Mehr-Personen-Haushalten gebe.
(Klaus Brandner [SPD]: Was denn jetzt, Herr
(Andrea Nahles [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Kolb?)
(B)
Das ist blühender Unsinn; der müsste selbst Ihnen auf- dass die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II unter an- (D)
fallen. Wenn aus einer Bedarfsgemeinschaft, die aus vier derem auch deswegen gestiegen sind, weil viele volljäh-
Personen besteht, einer auszieht, gibt es nach wie vor ei- rige Jugendliche, die ALG II bezogen, eine eigene Be-
nen Mehr-Personen-Haushalt, nunmehr mit drei Perso- darfsgemeinschaft gegründet und sich in einer eigenen
nen, und zusätzlich entsteht ein neuer Ein-Personen- Wohnung selbstverwirklicht haben. Ich habe keinen
Haushalt. So viel zu dem von Ihnen zitierten Herrn Zweifel daran, dass es deren persönlicher Entwicklung
Schneider. gut getan hat und dass das auch ihre Selbstständigkeit
fördert, aber in Ordnung ist das nicht, jedenfalls dann
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nicht, wenn es keine zwingenden Gründe dafür gibt und
bei Abgeordneten der FDP) wenn es auf Kosten der Solidargemeinschaft geschieht.
Das will ich hier sehr deutlich sagen.
Ich möchte Ihnen ganz schlicht noch etwas sagen:
Wenn Sie in der Aktuellen Stunde dem zugehört hätten, (Beifall bei der FDP)
was beispielsweise Frau Connemann und andere gesagt
haben, dann wüssten Sie es. So muss ich Ihnen empfeh- Leistungen der Solidargemeinschaft müssen den wirk-
len, einmal verschiedene Arbeitsgemeinschaften aufzu- lich Bedürftigen vorbehalten bleiben. Wir finden es rich-
suchen, sich dort umzuschauen und mit den Fachleuten, tig, dass die Familie oder das Elternhaus finanziell wie-
die das genehmigen müssen, zu reden. Dann erhalten Sie der stärker in die Pflicht genommen wird, wenn junge
ganz viele Belege dafür, dass insbesondere die Zahl der Menschen nicht für sich selbst sorgen können.
Ein-Personen-Haushalte mit unter 25-Jährigen kräftig (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])
explodiert ist. Deswegen ist es richtig, dass wir hier die
Regelungen ändern. Deswegen, Herr Kollege Brandner – das sage ich
auch den Kollegen von der Union –, finden wir es nicht
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie in Ordnung, wenn der Status quo jetzt sozusagen hono-
bei Abgeordneten der FDP) riert wird. Die Findigen werden belohnt, während die
Anständigen, die die Hausstandsgründungsmöglichkei-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten auf Kosten des Steuerzahlers nicht in Anspruch ge-
Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb, FDP-Frak- nommen haben, nun die Dummen sind. Wir meinen, wo
tion. es sinnvoll und möglich ist, muss es im Rahmen der
sechsmonatigen Überprüfung der Anspruchsvorausset-
(Beifall bei der FDP) zungen auch einen gewissen Druck in Richtung einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1501
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Rückführung in die Haushalte geben, wenn ein offen- dung zwischen der vorigen und der jetzigen Wahlperiode (C)
sichtlicher Missbrauch von Steuergeldern zu erkennen hergestellt. Herzlichen Dank dafür, auch für die Sach-
ist. lichkeit in dieser Frage.
(Beifall bei der FDP) Darüber, dass es sich bei der Zusammenführung der
Dann haben Sie so getan, Herr Kollege Brandner, als Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe im Januar letzten
ob mit diesem Gesetz nichts eingespart würde. Ich habe Jahres um eine große Veränderung für die betroffenen
mir einmal das Zahlentableau besorgt, das Sie im Ge- Menschen und für unsere Gesellschaft handelt, sind wir
setzgebungsverfahren vorgelegt haben. Das ist schon uns, glaube ich, sehr einig. Deshalb ist es ganz natürlich,
sehr erheblich. Sie führen die Öffentlichkeit hier ein dass die Umsetzung dieser Reform einerseits mit beson-
Stück weit hinters Licht. Die Abschaffung der Renten- ders hohen Erwartungen verbunden ist. Andererseits ist
versicherungspflicht von erwerbstätigen Leistungsbezie- es aber auch normal, dass so ein Prozess nicht ohne Fra-
hern zum Beispiel bringt der Haushaltskasse in den gen und Probleme ablaufen kann.
nächsten Jahren 150 Millionen Euro per anno. Hier muss Da es sich beim Arbeitslosengeld II grundsätzlich um
man eines sehr deutlich sagen: Die Abschaffung der eine bedürftigkeitsabhängige Leistung handelt, die nur
Rentenversicherungspflicht von erwerbstätigen Leis- in der Höhe gewährt wird, in der tatsächlich Hilfebedürf-
tungsbeziehern ist ein falsches Signal. Da widerspreche tigkeit besteht, und die ausschließlich vom Steuerzahler
ich ausdrücklich auch dem Kollegen Andres. Das ist erbracht wird, ist Sorgfalt und Kontrolle absolut notwen-
aber offensichtlich soziale Gerechtigkeit nach Lesart der dig.
großen Koalition. Ein reiner ALG-II-Empfänger stellt
sich hinsichtlich der erworbenen Rentenansprüche bes- Einen kritischen Punkt hat die Bundesregierung auf
ser als jemand, der eine Arbeit aufnimmt und hinzuver- Empfehlung des Ombudsrates aufgegriffen – nicht, Frau
dient. Auch hier gilt: Die Fleißigen sind die Dummen. Kollegin Kipping, weil Demonstrationen kurz vor Land-
Das ist Ihre Politik. tagswahlen, vor allen Dingen in Sachsen, von Ihnen
(Beifall bei der FDP) missbraucht worden sind; jetzt gibt es nämlich keine De-
monstrationen mehr –, der den Prozess sachlich begleitet
Schließlich bleibt die Frage des In-Kraft-Tretens die- hat, und jetzt ein erstes Änderungsgesetz mit den Inhal-
ses Gesetzes. Ich habe ein Stück weit die Befürchtung, ten, die heute schon angesprochen worden sind, vorge-
dass sehenden Auges ein erneutes Chaos im Bereich legt. Ich will mich jetzt aber auf den Kernpunkt dieser
Hartz IV angerichtet wird. Sie wollen mit dem Kopf Vorlage konzentrieren, nämlich die Angleichung des
durch die Wand. Der Ausschussvorsitzende, Herr Weiß, Ostbetrages auf das Westniveau.
(B) hat in anderem Zusammenhang – bezogen auf das (D)
Saisonkurzarbeitergeld, das in dieser Woche von der Ta- Mit der bisherigen Fassung der in den neuen und alten
gesordnung abgesetzt wurde – in diesen Tagen gesagt, Bundesländern unterschiedlichen Regelleistungen zur
Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Bei der Nachbesserung Sicherung des Lebensunterhalts sollten die Unterschiede
von Hartz IV allerdings geht Sorgfalt offensichtlich in der Verbrauchsstruktur und im privaten Konsumver-
nicht vor Schnelligkeit, sondern hier soll politisches halten berücksichtigt werden. Aber solche Unterschiede
Handeln demonstriert werden. Ob das Ganze am Ende lassen sich eben nicht an Himmelsrichtungen festma-
gelingt, ist mehr als fraglich. Es hat jedenfalls mit sorg- chen und gleichen sich, wie wir wissen, in der Summe
fältiger Gesetzgebung nichts zu tun. der konsumtiven Verhaltensweisen in den Regionen aus.
Es muss der Bedarfsdeckungsgrundsatz erfüllt wer-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den; das so genannte soziokulturelle Existenzminimum
(Beifall bei der FDP – Peter Weiß (Emmendin- muss sichergestellt werden.
gen) [CDU/CSU]: Stimmt ihr jetzt zu oder
Die Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitsu-
nicht? – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L.
chende sollen die Bedarfe des täglichen Lebens und für
Kolb [FDP]: Das haben wir schon gesagt!)
eine Teilnahme am kulturellen Leben der Hilfsbedürfti-
gen decken. Den größten Anteil am Regelsatz haben die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausgaben für Nahrungsmittel und Getränke. Von der
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk, CDU/ amtlichen Statistik werden gegenwärtig jedoch keine re-
CSU-Fraktion. gional differenzierten Preisindizes für entsprechende
(Beifall bei der CDU/CSU) Warenkörbe ermittelt, aus denen sich eine objektiv nach-
vollziehbare Differenzierung der Lebenshaltungskosten
nach Ost und West, nach Bundesländern oder gar nach
Maria Michalk (CDU/CSU): Kreisen ableiten ließe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Unser aller Leben ist gekennzeichnet von Die augenscheinlichste Differenzierung bei den
permanenten Veränderungen. Mal sind es gewollte, mal Lebenshaltungskosten liegt wohl bei den Wohnungs-
ungewollte, mal sind es kleinere, mal größere. Jetzt ste- mieten. Das ist unstrittig. Diese Kosten werden aber
hen wir am Anfang eines langen Reformweges. Deshalb, über die Erstattung der Kosten für die Unterkunft separat
lieber Kollege Kurth: Emotionen runter! Sachlichkeit, gedeckt. Sie beeinflussen die Regelsätze also nicht. Es
Nüchternheit, Beharrlichkeit und auch Gemeinsamkeit ist daher konsequent, das Arbeitslosengeld auf Westni-
sind angesagt. Der Herr Staatssekretär hat die Verbin- veau zu vereinheitlichen.
1502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Maria Michalk
(A) 14 Euro mehr im Monat ist vielleicht für den einen pflichtung, die Festsetzung der Regelsätze nach dem (C)
oder anderen in diesem Hause gerade einmal der Preis Gleichheitsgrundsatz vorzunehmen.
für ein Mittagessen. Für den Betroffenen ist es eine
Um der Grundsicherung in der Bevölkerung insge-
große Summe, die ihm hilft. Besser wäre es natürlich,
samt mit Blick auf das, was sie eigentlich sein sollte,
die Betroffenen hätten einen Arbeitsplatz und sie könn-
nämlich Hilfe zur Selbsthilfe, wie mein Kollege Weiß
ten sich durch ihr selbst verdientes Einkommen ihr Le-
schon ausführlich begründet hat, auf die sich jeder ver-
ben gestalten. Auch das ist unstrittig.
lassen, auf der sich aber keiner zulasten der anderen aus-
Diese Erhöhung um 14 Euro pro Person und Monat ruhen kann, wieder Akzeptanz zu verschaffen, musste
führt zu einer jährlichen Mehrbelastung in Höhe von eine neue Balance gefunden werden.
260 Millionen Euro. Davon trägt der Bund 220 Millio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen Euro und die Länder 40 Millionen Euro, wobei – auf neten der SPD)
diesen Punkt möchte ich ausdrücklich hinweisen – diese
in der Revision nach § 46 Abs. 6 SGB II berücksichtigt Ein überteuertes, uneffektiv gewordenes soziales Netz
werden sollen. Diese Kostenfrage sollte man nicht klein- strapaziert nicht nur unsere internationale Wettbewerbs-
reden, zumal als mittelbare Folge unserer heutigen Ent- fähigkeit. Es droht am Ende ein Wohlstandsverlust für
scheidung, nämlich der Erhöhung von Sozialleistungen, alle, am meisten für die sozial schwachen Gruppen unse-
grundsätzlich mit einer Ausweitung des Kreises berech- rer Gesellschaft, für die wir das soziale System erhalten
tigter Personen zu rechnen ist, die dann erstmals – auch wollen.
das sollte man nicht verschweigen – Anspruch auf auf- Deshalb: Wir sind erst am Anfang eines langen Re-
gestockte Leistungen nach dem SGB II erhalten werden. formprozesses. Ich bitte darum, dass wir diesen in Ruhe
und vernünftig gemeinsam weitergestalten.
Da die durchschnittlichen Bruttoverdienste in den
neuen Bundesländern derzeit in vielen Branchen noch Vielen Dank.
deutlich unter den durchschnittlichen Bruttoverdiensten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
im alten Bundesgebiet liegen, wird es auch zu einem An-
neten der SPD)
stieg der Zahl der Bedarfsgemeinschaften kommen, was
zu einer Erhöhung des Verwaltungs- und Personalauf-
wandes zur Betreuung dieser Gemeinschaften führen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
kann. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Karl
Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion.
Als Beispiel will ich nur anführen, dass das monatli-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) che Nettoeinkommen von 50 Prozent aller Erwerbstäti- neten der SPD) (D)
gen in den neuen Bundesländern zwischen 400 und
1 100 Euro liegt. Die Bedenken, dass die sozialpolitische
Wirkung eines verringerten Lohnabstandes zur Demoti- Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
vation der arbeitsuchenden Personen führt, teile ich mit Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
Blick auf die neuen Bundesländer nicht. Bis auf wenige legen! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die De-
Ausnahmen kenne ich ausschließlich Leute, die wirklich batte, die wir in dieser Woche – sei es in der Aktuellen
arbeiten wollen, die aber keine Arbeit aufnehmen kön- Stunde und heute Morgen – zu diesem Thema geführt
nen, weil ganz einfach die Arbeitsplätze fehlen. Das ist haben, noch einmal durch den Kopf gehen lasse, dann
unser grundsätzliches Problem, an dessen Lösung wir habe ich den Eindruck, dass eine ganze Menge an Ver-
weiter arbeiten müssen. wirrung gestiftet worden und Nebel entstanden ist. Es
geht nicht um alle Jugendlichen in dieser Republik. Es
Die Mobilität derjenigen, die Arbeit haben und alles geht um diejenigen, die der Hilfe bedürfen, die arbeitslos
dafür tun, diese zu behalten, können Sie heute am sind, in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern le-
Freitag spätabends zum Beispiel auf der A 4 bewundern. ben und ausziehen wollen, obwohl sie selbst keine eige-
Es gibt Kolonnen von Fahrzeugen, die von Westen in nen wirtschaftlichen Grundlagen haben. Um nichts an-
Richtung Bautzen und Görlitz fahren. deres geht es hier.
Aus fachlicher und rechtssystematischer Sicht kann Ich habe den Eindruck, als sollte nach außen vermit-
man bei der Angleichung des Ostbetrages auf das West- telt werden, wir hätten nichts anderes vor, als junge
niveau schon Fragen stellen, da die Anpassungssystema- Menschen zu ärgern. Es geht nicht um Ärgern und auch
tik nach § 20 Abs. 4 SGB II eigentlich durchbrochen nicht um Sozialabbau. Die Sozialpolitik richtet sich
wird. Denn die Höhe der Regelleistung orientiert sich an nicht danach aus, wie viel Geld irgendwohin fließt. Die
den Veränderungen des aktuellen Rentenwertes und an Sozialpolitik richtet sich danach aus, was man mit dem,
den Regelsätzen des SGB XII. was man einsetzt, bewirkt und erreicht. Eines der we-
sentlichen Ziele der Sozialpolitik ist es, Hilfe zur Selbst-
Wir müssen also sehen: Rechtssystematisch war der hilfe zu gewähren. Nichts anderes ist in SGB II vorgese-
ursprüngliche Ansatz richtig. Wir folgen aber den Emp- hen.
fehlungen des Ombudsrates – insofern ist dies auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
eine politische Entscheidung – und beschließen heute
aus diesen politischen Gesichtspunkten die Vereinheitli- Die letzten 14 Monate haben gezeigt – Staatssekretär
chung der Regelsätze. Damit erfüllen wir unsere Ver- Andres hat es eindrucksvoll dargestellt –, dass es mit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1503
Karl Richard Schiewerling
(A) dem SGB II ein völlig neues Projekt zur sozialen Siche- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
rung in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
SGB II ist natürlich an verschiedenen Stellen zu verän- frage des Kollegen Kurth?
dern. Es gibt Handlungsbedarf.
Die immense Kostenexplosion, die wir erlebt haben, Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
hat unter anderem auch damit zu tun, dass vermehrt Ar- Ja, aber dann keine mehr.
beitslose zwischen 18 und 25 Jahren auf Kosten des
Staates aus dem Elternhaus ausziehen. Was anfänglich Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
dafür gedacht war, junge Menschen bei einem Auszug Herr Schiewerling, Sie haben gerade einen Auszubil-
zu unterstützen, weil sie in einer anderen Stadt einen denden, der 350 Euro verdient, einem Bezieher von
Ausbildungsplatz oder eine Arbeit gefunden haben, hat Arbeitslosengeld II gegenübergestellt. Würden Sie mir
sich mittlerweile unter jungen Menschen als kostenloses aber darin zustimmen, dass der Auszubildende, sofern er
Umzugspaket herumgesprochen. in einem eigenen Haushalt lebt, Anspruch auf ergänzen-
Wenn junge Menschen in einer Kommune meines des Arbeitslosengeld II und die Übernahme der Kosten
Wahlkreises auf einen Ausbildungsplatz mit einer Ver- für die Unterkunft hat und insofern dem Bezieher von
gütung von knapp 350 Euro im ersten Jahr verzichten, Arbeitslosengeld II, der keinen Ausbildungsplatz hat,
weil es finanziell attraktiver ist, nach SGB II zu leben, gleichgestellt ist?
das heißt eine Grundsicherung plus die Übernahme der
Mietkosten für die lang ersehnte eigene Wohnung und Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
dazu noch den Umzug finanziert zu bekommen, dann, so Die exakten Regelsätze habe ich im Augenblick nicht
behaupte ich, ist etwas falsch in unserer Gesellschaft, in präsent.
unseren Köpfen und damit auch in der Vorgehensweise
unseres Staates. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es geht um das Prinzip!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Meine Aussage bezog sich nicht auf die Höhe der Aus-
bildungsbeihilfe bzw. Ausbildungsvergütung. Meine
Aussage bezog sich vielmehr darauf, dass, wenn jemand
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, auf diesen
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des aber verzichtet, weil das aus materiellen Gründen attrak-
Kollegen Wunderlich? tiver ist, die Chancen in unserer Gesellschaft von den
(B) Einzelnen nicht richtig erkannt werden. Das war meine (D)
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): Botschaft.
Ja. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:


Vielen Dank. – Herr Kollege, Sie haben von Hilfe zur Herr Kollege, wir sind zwar nicht in der Fragestunde,
Selbsthilfe gesprochen. Definieren Sie die Senkung der aber es gibt trotzdem noch die Bitte um Zulassung einer
Rentenversicherungsbeiträge bei ALG-II-Empfängern Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Lötzsch.
und die damit einhergehende Rentenkürzung auch als
Hilfe zur Selbsthilfe?
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Eine Frage lasse ich noch zu. Dann müssen wir aber
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
sehen, dass wir heute noch fertig werden.
Die Senkung der Rentenbeiträge hat mit Hilfe zur
Selbsthilfe nichts zu tun, sondern ist Auswirkung der
Einzahlungen in das Rentensystem. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Vielen Dank für die Großzügigkeit, Herr Kollege. –
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben gerade angemerkt, dass das Thema „Höhe der
Deswegen gehört das nicht in diese Diskussion. Rentenversicherungsbeiträge“ nicht in diese Debatte ge-
höre. Stimmen Sie mir aber zu, dass mit der Entschei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – dung über diesen Gesetzentwurf, die jetzt zu treffen ist,
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was gerade die Kürzung des Rentenversicherungsbeitrages
tun Sie jetzt? – Weitere Zurufe von der LIN- erfolgt? Ich könnte meine Frage vereinfacht formulieren:
KEN) Haben Sie das Gesetz gelesen?
– Regen Sie sich nicht auf! Es geht hier um die Frage, ob (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]:
es uns gelingt, junge Menschen und Menschen, die der Sie hat natürlich Recht!)
Hilfe anderer bedürfen, aus der Sozialhilfe und damit
aus dem SGB II herauszuholen und ihnen eine Perspek-
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
tive aufzuzeigen. Das hat mit der Rentenversicherung
Durch die Senkung des Beitrags zur Rentenversiche-
und mit der Absicherung der Rente nichts zu tun.
rung senkt sich die Rentenanwartschaft von etwas mehr
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) als 4 Euro im Monat auf 2,18 Euro. Das weiß ich
1504 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Karl Richard Schiewerling


(A) natürlich. Aber das hat doch mit der Hilfe zur Selbst- Es ist meines Erachtens eine Frage der Menschen- (C)
hilfe, die ich vorhin angesprochen habe, nichts zu tun. würde, dass ein junger Mensch die Möglichkeit und die
Aufgabe hat, mit seines eigenen Kopfes und seiner eige-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Bei aller Sympathie für die Emanzipation junger Falls er das nicht kann, weil er nicht beliebig qualifizier-
Menschen: Es ist nicht Aufgabe des Staates, zu finanzie- bar ist oder eine leichte Behinderung hat, muss ihm der
ren, dass junge Menschen nicht zu Stubenhockern wer- Staat helfen. Aber zunächst einmal ist jeder selbst gefor-
den. dert.
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der wich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tig ist. Ich gehe davon aus, dass Kinder, die bereits vor neten der SPD)
Vollendung des 18. Lebensjahres im Haushalt ihrer El- Wir müssen die jungen Menschen erreichen – das ist
tern gelebt haben, nicht plötzlich mit Vollendung des ein Punkt, der mir große Sorge bereitet –, die aus einem
18. Lebensjahres von ihren Eltern an den Kosten der Elternhaus kommen, das bereits in zweiter oder dritter
Wohnung, zum Beispiel für Versicherungen und Fern- Generation von Sozialhilfe lebt.
sehgebühren, beteiligt werden. Deshalb halte ich es für
zumutbar, die Ansprüche junger Menschen auf 80 Pro- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zent zu reduzieren, vor allem dann, wenn sie nicht selbst NEN]: Genau! Die müssen da raus!)
für sich sorgen können.
Das ist ein Themenbereich, der uns sehr bewegt. Ich
Dass wir hier nicht willkürlich vorgehen, ist im ge- glaube, dass es notwendig ist, gerade den jungen Men-
planten § 22 Abs. 2 a SGB II des vorliegenden Gesetz- schen eine Perspektive aufzuzeigen, dass es sich lohnt,
entwurfes, über den wir gleich abstimmen werden, gere- sich zu engagieren, und dass es sich nicht lohnt, ein Le-
gelt. Heute Morgen wurde schon ausführlich dargestellt, ben lang von Transferleistungen des Staates zu leben.
unter welchen Bedingungen auch ein Auszug aus dem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Elternhaus akzeptiert und mitgetragen wird.
neten der SPD)
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass die
Mein Appell an die jungen Menschen lautet: Ihr
geplante Kürzung des Arbeitslosengeldes II keine Erfin-
könnt mehr, als ihr denkt! Ihr könnt mehr, als ihr euch
dung im Rahmen der Hartz-IV-Reform ist. Die Anpas-
bis jetzt vielleicht selbst zugetraut habt! Ich appelliere an
sung im Familienbereich ist bereits im SGB XII geregelt
die Eltern, gemeinsam mit ihren Kindern die Beratungs-
und schon lange bewährte Praxis. Dies wird jetzt im
möglichkeiten und Unterstützung bei Berufsorientierung
Prinzip nur auf das SGB II übertragen. Der gekürzte Re-
(B) gelsatz für unter 25-Jährige gefährdet nicht das Existenz- und Lebenshilfe anzunehmen, die vonseiten des Staates (D)
und der freien Träger angeboten werden, damit sie aus
minimum dieser jungen Menschen. Wir haben im
eigener Kraft die Brücke begehen können, die ihnen der
SGB XII geregelt, dass Jugendliche, die im Haushalt ih-
Staat und die Gesellschaft bauen.
rer Eltern leben, 237 Euro bekommen. Nach SGB II er-
halten die Jugendlichen – das ist bereits der gekürzte Be- Ich fordere die Arbeitsgemeinschaften und die optie-
trag – 276 Euro. Das ist nicht weniger, sondern das sind renden Kommunen auf, noch mehr als bisher jungen
39 Euro mehr. Nicht alles was neu ist, ist unbedingt Menschen auf ihrem Weg in Arbeit beratend und beglei-
schlecht. tend zur Seite zu stehen, die vorhandenen Netzwerke zu
nutzen und die Eingliederungsmittel, die der Bund zur
Meine Damen und Herren, mit dem Prinzip des For-
Verfügung stellt, auch wirklich abzurufen und gut einzu-
derns und Förderns sind wir auf dem richtigen Weg.
setzen.
Dieses Grundprinzip des SGB II trägt dazu bei, dass
Menschen ohne Arbeit gefordert werden, ihren Lebens- Eines ist klar: Das SGB II löst keine Probleme wie
unterhalt möglichst rasch wieder aus eigener Kraft be- Vereinsamung, Schwierigkeiten in der Erziehung oder
streiten zu können. Schließlich wollen wir Menschen in Bildungsarmut. Das SGB II gewährt eine Grundversor-
Arbeit bringen und sie somit aus dem Bezug staatlicher gung, nicht mehr und nicht weniger. Beim Sprung aus
Leistungen herausholen. der Grundversorgung wollen wir helfen, aber springen,
meine Damen und Herren, muss jeder selbst.
Unser oberstes Ziel ist und bleibt die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Um dieses Ziel zu erreichen, müs- Herzlichen Dank.
sen alle mithelfen: jeder Einzelne, die Tarifpartner, der
Staat und die Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben den Arbeitsgemeinschaften und den optie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
renden Gemeinden vorgegeben: Vorfahrt für junge Men-
Ich schließe die Aussprache.
schen. Junge Arbeitsuchende werden gezielt unterstützt.
Sie sollen umgehend in einen Ausbildungsplatz, ein Bevor wir zur Abstimmung über diesen Tagesord-
Praktikum oder einen Zusatzjob mit Qualifizierung kom- nungspunkt kommen: Mir liegen Meldungen zu drei
men. Dass die Eingliederungsmaßnahmen fruchten, be- mündlichen Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
legt auch die sinkende Zahl arbeitsloser junger Men- nung vor, und zwar von Diana Golze, Elke Reinke und
schen. Sie ist im vergangenen Monat um über 52 000 Jörn Wunderlich, die ich dann aufrufen werde. Außer-
gesunken. dem liegen mir noch zwei schriftliche Erklärungen zur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1505
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
(A) Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
Dagmar Enkelmann und Lutz Heilmann vor. Zu einer weiteren Erklärung erhält das Wort Jörn
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat die Wunderlich.
Kollegin Diana Golze. (Unruhe bei der CDU/CSU – Markus Kurth
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind hier
Diana Golze (DIE LINKE): nicht im Bierzelt! Wir sind hier im Parlament!)
Ich stimme gegen dieses Gesetz, da ich den Gedanken
der Gleichbehandlung konsequent zu Ende denke. Es Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
geht nicht, wie vorhin gesagt wurde, um ein staatlich ge-
fördertes Auszugsprogramm. Wir wollen auch keine Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolle-
Umzugskarawane organisieren. Ich begrüße die längst ginnen und Kollegen! Ich stimme gegen diesen Gesetz-
überfällige Angleichung der Regelleistungen Ost und entwurf. Denn als das Änderungsgesetz zum SGB II auf
West, aber wir dürfen nicht gleichzeitig beschließen, Drucksache 16/99 zum ersten Mal in den Ausschuss
dass es Jugendliche erster und zweiter Klasse gibt. Wenn kam, ging es lediglich um die Angleichung des ALG II
wir nicht in der Lage sind, jedem jungen Menschen ei- vom Ost- auf das Westniveau.
nen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bieten, dürfen wir (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
sie nicht für unser Versagen bestrafen und zahlen lassen.
Dem hätte ich noch zustimmen können. Es wurde dann
Wir führen jede millionenschwere Initiative zur Stär- aber sofort von der Tagesordnung genommen.
kung des Selbstbewusstseins und des Demokratiever-
ständnisses junger Menschen ad absurdum, wenn wir ih- In der jetzigen Form kann ich dem nicht mehr zustim-
nen gleichzeitig kein eigenständiges Leben ermöglichen men. Denn in Drucksache 16/688 sind noch schnell Ver-
und ihnen immer tiefer in die Tasche greifen. 345 Euro schärfungen gestrickt worden, die sozial unerträglich
sind schon zu wenig, aber 276 Euro für unter 25-Jährige sind. Ich begrüße ausdrücklich eine Anhebung des
sind ein Skandal. Das hat mit Vorfahrt für Jugend nichts ALG II. Aber aufgrund der massiven sozialen Ein-
zu tun. schnitte kann ich dem Gesetzentwurf in der vorliegenden
Danke schön. Form nicht zustimmen. Was ich von den neuen Änderun-
gen halte, habe ich – so denke ich jedenfalls – am Mitt-
(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: woch deutlich gemacht.
Sprechzettel des SED-Politbüros!)
Ich stimme gegen diesen Gesetzentwurf, damit ich
morgen noch in den Spiegel schauen kann, ohne mich
(B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D)
schämen zu müssen.
Das Wort zu einer weiteren Erklärung erhält die Kol-
legin Elke Reinke. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem
NEN]: Holen Sie jetzt Debattenbeiträge nach? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang
Sie betreiben Missbrauch der Geschäftsord- Grotthaus [SPD]: Erschrick nicht, wenn du in
nung!) den Spiegel schaust!)

Elke Reinke (DIE LINKE): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:


Ich bedanke mich für die Möglichkeit, hier eine per- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
sönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
abgeben zu dürfen. rung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Druck-
sache 16/99. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
(Ute Kumpf [SPD]: Das ist eine Ausweitung
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
der Redezeit!)
lung auf Drucksache 16/688, den Gesetzentwurf in der
Ich lehne den von der Bundesregierung eingebrachten Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
Gesetzentwurf ab, weil in ein Änderungsgesetz zum dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
längst überfälligen Ost-West-Angleich in einer Nacht- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
und-Nebel-Aktion zusätzliche Hartz-IV-Verschärfungen Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
eingeflochten wurden. Sie stopfen Haushaltslöcher auf Beratung mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei
Kosten junger Erwachsener und ihrer Familien. Mich er- Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
reichen täglich Anrufe, und zwar nicht nur von Hartz-IV- Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP angenom-
Betroffenen. Die Menschen sind enttäuscht und zornig men.
über dieses Gesetz. Sie meinen, dass das wie Zuckerbrot
und Peitsche und eine riesige Sauerei ist. Sie sagen: Die- Dritte Beratung
sem Machwerk dürft ihr als Linke nicht zustimmen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Danke. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? –
(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind hier (Zuruf von der CDU/CSU: Die PDS ist gegen
nicht auf dem Marktplatz!) die Ost-West-Angleichung!)
1506 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit mit dem- Grünen und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die (C)
selben Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung Linke angenommen.
in der dritten Beratung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 5
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der auf:
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/696 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungs- 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
antrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ich würde Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, wei-
jetzt gern wissen, wie das Abstimmungsverhalten der terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Fraktion der Linken ist. Meiner Ansicht nach hat ein Teil Mindestlohnregelung einführen
der Fraktion der Linken dagegen gestimmt und ein Teil
hat sich enthalten. – Drucksache 16/398 –
Überweisungsvorschlag:
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ihr gutes Recht!) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Das ist ihr gutes Recht, sehr richtig, Herr Kollege. –
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus
Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
von SPD, CDU/CSU und FDP bei einigen Gegenstim- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
men der Fraktion der Linken und einigen Enthaltungen
der Linken abgelehnt. Mindestarbeitsbedingungen mit regional und
branchenspezifisch differenzierten Mindest-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lohnregelungen sichern
NEN]: Sagen Sie „bei Konfusion der Lin-
ken“! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: – Drucksache 16/656 –
Es hat auch ein Teil zugestimmt!) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
– Es hat kein Teil zugestimmt, Frau Kollegin Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Enkelmann. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
Doch!) höre keinen Widerspruch.
– Nein, Sie haben überhaupt nicht abgestimmt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
(B) Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. (D)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ich
habe zugestimmt!)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
– Ich habe Sie gesehen. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie gen! Seit Jahren fordern alle Fraktionen im Deutschen
müssen auch zu uns herübersehen!) Bundestag das Gleiche, schlagen allerdings höchst un-
terschiedliche Wege vor, um die Erwerbsmöglichkeiten
– Frau Kollegin Enkelmann, mein Blick war auf die in Deutschland auszubauen und die Arbeitslosigkeit ab-
Fraktion der Linken gerichtet. Sie haben definitiv über- zubauen. Die unterschiedlichen Vorstellungen, die es
haupt nicht abgestimmt. hierzu gibt, haben natürlich auch zu gravierenden politi-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: schen Auseinandersetzungen geführt. Dabei spielt zu-
Ach! – Gegenruf des Abg. Peter Weiß [Em- nehmend die Frage eine Rolle, was man eigentlich ver-
mendingen] [CDU/CSU]: Sie müssen auch dient, wenn man sich in Erwerbstätigkeit begibt,
aufpassen!) (Ute Kumpf [SPD]: Das ist ganz unterschied-
Tagesordnungspunkt 15 b. Abstimmung über die Be- lich, lieber Herr Gysi!)
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So- und ob man das, wie manche sagen, dem freien Spiel der
ziales auf Drucksache 16/688 zu dem Antrag der Frak- Kräfte überlassen kann.
tion Die Linke mit dem Titel „Angleichung des
Arbeitslosengeldes II in den neuen Ländern an das Ni- In den letzten Jahren haben wir in Deutschland eine
veau in den alten Ländern rückwirkend zum 1. Januar Entwicklung erlebt, die es erforderlich macht, dass der
2005“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei- Gesetzgeber tätig wird:
ner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE
sache 16/120 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
LINKE])
schlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Tariflöhne sind in den neuen Bundesländern zu einer
(Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU], zur
Ausnahme geworden und es gibt sie auch in den alten
Fraktion Die Linke gewandt: Na, also! Es geht
Bundesländern immer seltener. Im Osten kommen sehr
doch! Weiter so!)
häufig Haustarife zur Anwendung, kaum mehr Flächen-
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit tarifverträge. In vielen Unternehmen gibt es nicht einmal
den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die einen Haustarifvertrag; dort wird Monat für Monat
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1507
Dr. Gregor Gysi
(A) entweder ausbezahlt, was da ist, oder es werden andere Die Zahl derjenigen, die sich in einer solchen Situa- (C)
Kriterien zugrunde gelegt. Es gibt für die Arbeitnehme- tion befinden, nimmt zu. Hinzu kommt – auch daran
rinnen und Arbeitnehmer also keine verlässlichen Maß- möchte ich erinnern – die Bolkestein-Regelung. Hier
stäbe mehr. wurde ein Kompromiss erarbeitet. Dabei handelt es sich
um einen Kompromiss für Rechtsanwälte; denn seine
Solange überall bzw. in zumindest 90 Prozent der Formulierungen sind so schwammig, dass darüber – das
Fälle Tarifverträge gegolten haben und die Gewerk- ist schon jetzt klar – irgendwann einmal der Europäische
schaften dafür sorgen konnten, dass angemessene Min- Gerichtshof wird entscheiden müssen. Weil man sich
destlöhne gezahlt wurden, konnte man auf eine Rege- darauf nicht eindeutig verlassen kann, hilft uns diese Re-
lung verzichten; das war in den früheren Jahrzehnten der gelung nicht weiter.
Bundesrepublik der Fall. Heutzutage ist das unverant-
wortlich. Ob in Deutschland oder in Frankreich, bei uns werden
Unternehmen aus anderen Ländern zu ganz anderen
(Beifall bei der LINKEN) Lohnbedingungen, zu ganz anderen Sozialbedingungen
Man muss sagen, was jemand pro Stunde Erwerbsarbeit Arbeit anbieten. Diese Konkurrenz bedeutet Dumping:
in Deutschland mindestens verdienen muss. weil sie ausschließlich auf das Drücken der Löhne hi-
nausläuft.
Ich höre schon jetzt, was die Redner der FDP, die ja (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
immer die Freiheit betonen, vermutlich sagen werden: CDU/CSU: Hören Sie doch auf!)
dass man all das wunderbar miteinander vereinbaren
kann. Die Kosten in Deutschland sinken aber doch nicht: We-
der wird die Miete geringer noch werden Busfahrten bil-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warten Sie doch liger noch Bahnfahrten. Im Gegenteil, alles wird teurer.
erst einmal ab, Herr Gysi!) Deshalb ist es doch nicht zu viel verlangt, dass der Ge-
– Das haben Sie früher immer gesagt. Warum also soll- setzgeber von den Unternehmen die Zahlung eines Min-
ten Sie heute etwas anderes sagen? destlohns erwartet und sie dazu verpflichtet.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unverhofft (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/
kommt oft!) CSU: Das wird Arbeitsplätze zerstören!)
– Auf die Arbeitsplätze komme ich noch zu sprechen.
Eines möchte ich Ihnen aber entgegenhalten: Selbst für
Ihre Klientel, die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Wenn man für einen solchen Mindestlohn streitet,
(B) muss man auch sagen, wo er liegen soll; dafür braucht (D)
(Dirk Niebel [FDP]: Ach, Sie haben also FDP ge- man einen Maßstab.
wählt? Machen Sie das in Zukunft öfter!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)
– leider gibt es eine ganze Reihe von ihnen, die zu Ihrer
Klientel gehören – und die Ärztinnen und Ärzte, gelten Wir können uns nach dem richten, was der Gesetzgeber
Mindestlöhne. Diese Berufsgruppen haben Gebühren- als pfändungsfreies Einkommen festgelegt hat. Wenn Sie
ordnungen, in denen steht, wie viel sie mindestens ver- jemandem ein Darlehen gewähren, dieser es nicht zu-
dienen. Hier haben Sie nichts dagegen. Darüber würde rückzahlt und Sie nach drei Jahren endlich Ihren Voll-
ich an Ihrer Stelle einmal nachdenken. streckungstitel haben, dann bekommen Sie, wenn diese
Einzelperson nur 985 Euro netto hat, gar nichts davon.
(Beifall bei der LINKEN) Erst wenn die Person mehr als 985 Euro hat, können Sie
pfänden. Das ist doch ein Maßstab! Damit hat der Ge-
Wir sagen: Diese Art der Sicherheit brauchen auch setzgeber – die Mehrheit im Bundestag – gesagt: An die-
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- sen Betrag lassen wir auch einen Gläubiger nicht heran.
land. Genau dieser Betrag muss der Mindestlohn in Deutsch-
(Dirk Niebel [FDP]: So, so! Herr Gysi gehört land werden: Wer arbeitet, muss mindestens den pfän-
also zu unserer Klientel! Jetzt habe ich es end- dungsfreien Betrag verdienen.
lich verstanden!) (Beifall bei der LINKEN)
Inzwischen gibt es in Deutschland mehr als 3 Millionen So kommt unsere Rechnung zustande: Bei 8 Euro brutto
erwerbstätige Menschen, die weniger als den pfändungs- pro Stunde kommen Sie bei einer 40-Stunden-Arbeits-
freien Betrag – dazu sage ich noch etwas – verdienen. woche auf einen Bruttolohn im Monat, dem netto etwa
Darunter befinden sich sehr viele Menschen, die weniger diese 985 Euro entsprechen. Damit würde jeder mindes-
als 800 Euro im Monat verdienen. Mit Ausnahme jener, tens den pfändungsfreien Betrag verdienen. Das ist doch
die wirklich in dieser Situation waren, kann niemand nicht zu viel verlangt.
hier im Hause ernsthaft sagen, wie man von diesem Be-
trag leben kann. Es gibt noch ein Argument für unser Anliegen:
14 europäische Staaten haben einen Mindestlohn einge-
(Beifall bei der LINKEN) führt – und sie haben damit keine schlechten Erfahrun-
gen gemacht.
Da wir diese Frage nicht beantworten können, müssen
wir als Gesetzgeber eine andere Regelung schaffen. (Andrea Nahles [SPD]: 19!)
1508 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Gregor Gysi


(A) Sagen Sie jetzt nicht: Die sind alle doof und wir sind als Es war schon etwas gespenstisch, wie das hier eben vor- (C)
einzige schlau. Nein, sie hatten gute Gründe, einen Min- getragen wurde; die Anmerkung sei mir vorweg gestat-
destlohn einzuführen. tet.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Reden Sie einmal mit einem Taxifahrer, mit einer Fri- Mit der Forderung, die hier von der PDS erhoben
seuse, mit Leuten aus dem Bäckereihandwerk oder gar worden ist, steht sie an der Spitze der Forderungen, die
mit Wachpersonal! in Hinsicht auf die Höhe eines Mindestlohns erhoben
(Ute Kumpf [SPD]: Wann gehen Sie denn zum worden sind.
Friseur?) (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Nicht able-
– Ja, ich bin jetzt ein paar Jahre einem normalen Beruf sen! – Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Freie
nachgegangen. Da lernen Sie viele Leute kennen. Da Rede!)
müssen Sie mal wieder rein; das ist zur Abwechslung gar Ich würde Ihnen empfehlen, einmal nachzulesen, was
nicht schlecht. das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Nürnberg dazu gesagt hat, was das für das Lohngefüge
bedeutet, gerade in den neuen Ländern, die Sie hier her-
Wenn Sie mit diesen Leuten reden, werden Sie eins fest- vorheben: 34 Prozent der Menschen, die in den neuen
stellen: Es gibt Leute, deren Bruttoeinkommen bei Ländern arbeiten – nehmen Sie den Fall: mit zwei Kin-
3 Euro, 4 Euro die Stunde liegt. dern –, haben ein Einkommen im Monat, mit dem sie
den Betrag, den Sie hier gefordert haben, nicht errei-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen. Für 34 Prozent der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten würde das bedeuten: Ihr Arbeitsplatz ist
Herr Kollege, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erin-
akut gefährdet, wenn das, was in Ihrem Antrag gefordert
nern. Sie reden sonst auf Kosten Ihrer Kollegen.
wird, umgesetzt wird. In der Realität einer sozialen
Marktwirtschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb be-
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): haupten muss, ist so etwas nicht zu machen; das haben
So viele Überstunden können Sie gar nicht machen, Sie gefälligst zur Kenntnis zu nehmen. Solche Forderun-
dass Sie davon Ihren Lebensunterhalt einigermaßen be- gen kosten Arbeitsplätze, sie treiben zusätzlich Men-
streiten können. Ich sage, es ist eine Frage des Anstands, schen in die Arbeitslosigkeit. Das ist reiner Populismus.
dass wir – der Bundestag – dafür sorgen, nicht von Ar-
(B) mut umgeben zu sein. Dafür brauchen wir den Mindest- (Widerspruch bei der LINKEN) (D)
lohn. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Selbst Groß-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: britannien hat einen Mindestlohn!)
Das Wort hat der Kollege Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion. Nun wird man natürlich zur Kenntnis nehmen müs-
sen, dass sich im Bereich des Niedriglohnsektors in den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vergangenen Jahren etwas verändert hat, und zwar auch
zum Negativen. Im Vorgriff auf das, worüber wir gleich
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): vielleicht noch diskutieren, will ich ausdrücklich sagen:
Auf unserem Arbeitsmarkt und im Niedriglohnbereich
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
ist eben nicht alles wunderbar geordnet. – Traditionell
gen! Herr Gysi, nach Ihrem Beitrag bin ich in einer Hin-
und richtigerweise haben wir die Tarifautonomie. Die
sicht erleichtert: Anscheinend gibt es in Ihrer Fraktion
Tarifvertragsparteien haben in den letzten Jahren aber an
doch Leute, die die freie Rede beherrschen; das klang ja
Bindungskraft verloren.
vorhin bei den abgelesenen Erklärungen anders.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sie sind ja (Dirk Niebel [FDP]: Zu Recht!)
gerade heute ein feuriger Redner!) Die Wirkungen der Vereinbarungen der Tarifvertragspar-
Mir ist gleichwohl klar, dass die Zettel, die hier eben ab- teien haben Bedeutung eingebüßt.
gelesen wurden, nicht aus SED-Zeiten stammen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Woran liegt
(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) das?)

Denn zu DDR-Zeiten konnten die Leute auf solche Sum- Deswegen ist es auch richtig, dass wir uns darüber Ge-
men, wie Sie sie hier einfordern, nicht hoffen; das waren danken machen, wo in diesem Bereich politischer Hand-
damals andere Zeiten. lungsbedarf besteht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nachtigall, ick
Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) hör dir trapsen!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1509
Dr. Ralf Brauksiepe
(A) Die große Koalition hat sich das im Koalitionsvertrag Dirk Niebel [FDP]: Sind Sie jetzt für Mindest- (C)
entsprechend vorgenommen. Wir haben uns vorgenom- löhne?)
men, die Geltung des Entsendegesetzes zu erweitern.
Im Übrigen will ich in diesem Zusammenhang deut-
(Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) lich sagen: Die Frage, was denn nun eigentlich eine an-
ständige Entlohnung für eine Arbeit ist, ist sehr alt. Ich
– Hören Sie zu, Herr Kollege Niebel! – Wir werden es
darf das sagen: Dies ist eine sehr christliche Frage und
auf den Bereich der Gebäudereiniger ausweiten und wir
sie hängt mit unserem Verständnis von Menschenwürde
haben uns vorgenommen, eine weitere Ausdehnung auf
und mit unserem christlichen Menschenbild zusammen.
weitere Branchen zu prüfen. Das ist der eine Punkt.
Wer anständig arbeitet, hat auch einen Anspruch auf ei-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Prüfen heißt im- nen anständigen Lohn.
mer, dass ihr euch nicht einig seid! – Dirk (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Niebel [FDP]: Der Koalitionsvertrag ist ein
einziger Prüfauftrag!) Das ist nicht Gegenstand einer neuen Debatte. Schon
Papst Leo XIII. hat Ende des 19. Jahrhunderts die ersten
Daneben haben wir uns vorgenommen, Lösungsmög- Gedanken zu dieser Frage formuliert. Papst Pius XI. hat
lichkeiten für den Bereich der Kombilöhne vorzuschla- dann in seiner Sozialenzyklika von 1931 darauf hinge-
gen – das werden wir im Laufe dieses Jahres machen –, wiesen, dass bei der Bemessung eines gerechten Lohns
um auch im Niedriglohnbereich etwas zu tun. verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind,
Hier geht es natürlich darum, dass wir den Staat und eben auch die allgemeine Wohlfahrt. Ich zitiere ihn sehr
die Steuerzahler vor Ausbeutung schützen. Deswegen gerne. Schon damals hat er gesagt:
wird darüber zu reden sein, wie man das, was ein Arbeit- Die Gemeinwohlgerechtigkeit verbietet daher, ohne
nehmer durch sein Markteinkommen und die hinzukom- Rücksicht auf das Gemeinwohl nur dem eigenen
menden staatlichen Transfers erhält, justieren und in ein Vorteil gemäß die Löhne über den zulässigen Spiel-
vernünftiges Verhältnis zueinander setzen kann. Aus die- raum hinaus hinabzudrücken oder hinaufzutreiben;
sem Grund ist im Koalitionsvertrag an dieser Stelle auch …
der Zusammenhang mit den Themen Mindestlohn und
Entsendegesetz aufgeführt. Wir haben deutlich gemacht, Das schrieb Pius XI. schon vor gut 80 Jahren. Da war er
dass eine Debatte über den Kombilohn natürlich auch schon sehr viel weiter als die Linke heute.
diese Themen berührt. Die Bundeskanzlerin hat in den
vergangenen Wochen mehrfach völlig zu Recht auf die- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
sen Zusammenhang hingewiesen. Wir sind an dieser Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
(B) Stelle offen, uns auch Gedanken darüber zu machen, wie Kollegen Kolb? (D)
wir im Bereich des Niedriglohns vorankommen. Wir
sind hier offen und wir werden unaufgeregt, mit der nöti-
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
gen Sorgfalt und ohne irgendwelche ideologischen Vor-
Aber gerne, Herr Kolb.
behalte an diese Fragen herangehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Kollege Brauksiepe, nachdem ich Ihnen auf-
Das war der Worthülsen genug!) merksam zugehört habe, weiß ich zwar jetzt, was Papst
Ich möchte das ausdrücklich auch vor dem Hinter- Leo XIII. und Papst Pius XI. in dieser Frage gedacht ha-
grund der Vereinbarungen sagen, die gestern im Euro- ben. Aber so recht hat sich mir noch nicht erschlossen,
päischen Parlament getroffen worden sind. Wir haben wie Ihre persönliche Position oder die Position Ihrer
nun die Dienstleistungsrichtlinie. Ich denke, das geht Fraktion zu dem Thema Mindestlohn aussieht.
im Grundsatz in die richtige Richtung. Ich finde es rich- Wäre es zu viel verlangt, mir in Kürze zu sagen, ob
tig, dass der Bundesarbeitsminister und der Bundeswirt- Sie dafür oder dagegen sind?
schaftsminister auch vor diesem aktuellen Hintergrund
gemeinsam bekräftigt haben, dass die Koalition bei ih- (Beifall bei der FDP)
rem Willen bleibt, den deutschen Arbeitsmarkt gegen
Lohndumping zu schützen und rechtzeitig entsprechende Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. Nein, das ist nicht zu viel verlangt, Herr Kollege
Kolb. Ich habe noch 3,25 Minuten an Redezeit, die ich
Ich denke, für die Koalitionsfraktionen gilt gemein-
diesem Thema widmen werde.
sam, dass tarifliche Lösungen immer Vorrang vor ge-
setzlichen Lösungen haben. Deswegen werden die Mög- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben jetzt
lichkeiten, die uns durch das Entsendegesetz geboten noch mehr!)
werden, in diesem Zusammenhang zu prüfen sein. Dabei
– Ja, jetzt habe ich noch mehr Redezeit. – Ich will Ihnen
werden wir insbesondere auch unsere Möglichkeiten
deutlich sagen: Es geht in der Tat darum, dass wir ver-
prüfen, ein Absinken der Löhne ins Bodenlose zu ver-
schiedene Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichti-
hindern.
gen, auf die ich im Laufe der nächsten Minuten noch zu
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sind Sie jetzt für sprechen kommen werde. Ich beginne mit dem Punkt,
oder gegen Mindestlöhne, Herr Brauksiepe? – der eben angesprochen worden ist.
1510 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Ralf Brauksiepe


(A) Ich sage Ihnen erst einmal etwas zu der Frage der in finden, von denen ich sicher bin, dass sie tragfähig sein (C)
den anderen europäischen Ländern so weit verbreiteten werden.
Mindestlöhne, die angeblich dafür sprechen, Mindest-
Wir müssen aber von dem Denken in ideologischen
löhne auch in Deutschland einzuführen. Es heißt, dass es
Kampfbegriffen wegkommen. Ich bin froh, dass im Zu-
in 14 Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich will Ihnen die
sammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie dieses
Mindestlöhne in ein paar Ländern nennen: Lettland:
Gerede um das Herkunftslandprinzip vom Tisch ist. Es
71 Cent die Stunde, Litauen: 85 Cent die Stunde, Est-
geht um die Sache, nicht um das Hochhalten irgendwel-
land: 93 Cent, Slowakei: 93 Cent. So viel zum Mindest-
cher Prinzipien.
lohn in anderen Ländern und den angeblich guten Grün-
den, die dafür sprechen. Genau das wollen wir nicht. (Dirk Niebel [FDP]: Bitte?)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch bei dieser Debatte geht es darum, wie wir im Nied-
Machen Sie doch mit England weiter!) riglohnbereich vorankommen. Die Sozialdemokraten
entwickeln ihre Vorstellungen und wir entwickeln unsere
Jetzt zu der Frage, wie es in Deutschland sinnvoller- Vorstellungen. In dieser Frage werden wir zu einer ge-
weise laufen soll. Ich habe eben darauf hingewiesen: Es meinsamen Lösung kommen:
gibt bei uns die Tradition der Tarifautonomie, die unser
Land aus guten Gründen von anderen Ländern unter- (Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])
scheidet. In Großbritannien gibt es seit 1909 Mindest- unideologisch, unaufgeregt und nach dem Motto
löhne, in Frankreich seit 1915 und in anderen Ländern „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“, anstelle kurzfristiger
sieht es ähnlich aus. Bei uns steht anstelle der Tradition populistischer Erfolge, die den Menschen im Niedrig-
der Mindestlöhne die Tarifautonomie. lohnsektor nicht helfen. Um sie geht es uns.
(Dirk Niebel [FDP]: Nein, die Sozialhilfe!) Vielen Dank.
Diese hat für uns Vorrang; das will ich Ihnen deutlich sa- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
gen.
In der Frage, wie wir bei Niedriglöhnen, Kombilohn Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
oder Mindestlohn vorankommen können, sind drei Leit- Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
linien im Auge zu behalten. Ich hoffe, Herr Kollege Kollegen Wolfgang Gehrcke.
Kolb, dass wir darin mit Ihnen einig sind. Die erste Leit-
linie ist: Die Löhne in diesem Land dürfen nicht ins Bo- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
(B) denlose sinken. Es muss eine sittliche Untergrenze ge- Sehr geehrter Herr Kollege Brauksiepe! Liebe Kolle- (D)
ben, unterhalb derer niemand arbeiten muss. Derjenige, ginnen und Kollegen! Nachdem sich das Parlament nun
der anständig arbeitet, muss einen angemessenen Lohn eine Vorlesung, eine geschichtliche Abhandlung zu den
bekommen. Sollten die Tarifvertragsparteien bei den Mindestlöhnen, angehört und man vielleicht aufgrund
Löhnen etwas übersehen haben, ist der Gesetzgeber ge- des rhetorischen Feuerwerks die Logik nicht verstanden
fordert, dem Einhalt zu gebieten. hat, bleibt für mich eine einfache Frage. Sie haben Lö-
sungen angekündigt. Wann werden Sie diese Lösungen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorstellen? In Ihrer Rede haben Sie das jedenfalls nicht
neten der SPD) getan.
Die zweite Leitlinie, die zu beachten ist – ich denke, Ich habe noch eine Frage. Waren die Angaben zu den
auch da werden Sie uns zustimmen –: Es dürfen keine Mindestlöhnen in Litauen, Estland und Lettland viel-
zusätzlichen Anreize für Schwarzarbeit geschaffen wer- leicht ein Hinweis darauf, welche Mindestlöhne in
den. Das setzt allen Regelungen, die wir treffen, Gren- Deutschland zu erwarten sind, wenn Sie darüber ent-
zen nach oben. scheiden könnten?
Die dritte Leitlinie ist: Die Löhne müssen für die Un- (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang
ternehmen finanzierbar bleiben. Es dürfen keine zusätz- Meckelburg [CDU/CSU]: Er hat das Gegenteil
lichen nicht tragbaren Belastungen für den Haushalt gesagt! Sie hätten nur zuhören müssen!)
entstehen. Das haben wir im Koalitionsvertrag im Zu-
sammenhang mit dem Kombilohn festgehalten. Es wird Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
und darf keine flächendeckende Subventionierung von
Herr Kollege Brauksiepe, bitte.
Unternehmen geben. – Um diese Leitlinien geht es.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege, Sie wissen, dass ich genau das Gegen-
Also: Erstens. Kein Absinken der Löhne ins Boden-
teil gesagt habe. Mit uns wird es kein Abgleiten der
lose! Zweitens. Keine zusätzlichen Anreize für Schwarz-
Löhne ins Bodenlose geben. Wir werden dazu Vor-
arbeit! Drittens. Das Problem muss in einer Weise gelöst
schläge erarbeiten, die wir noch in diesem Jahr vorlegen
werden, die den Staat insgesamt nicht finanziell überfor-
werden.
dert. Von diesen Linien lassen wir uns leiten. Wir haben
uns vorgenommen, dieses Thema in diesem Jahr anzuge- Die von mir genannten Zahlen belegen eines: Je stär-
hen, und das werden wir auch tun. Wir werden Lösungen ker der real existierende Sozialismus in der Vergangen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1511
Dr. Ralf Brauksiepe
(A) heit verbreitet war, desto größer ist das Elend der arbei- der gering Qualifizierten – zu einer Verdrängung von Ar- (C)
tenden Menschen heute. Das und nichts anderes belegen beitsplätzen und fördern die Verlagerung von Arbeits-
diese Zahlen. plätzen ins Ausland. Im Übrigen fördern sie auch die
Schwarzarbeit.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
der LINKEN) (Beifall bei der FDP)
Ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: von der Koalition, dass Sie das nicht sehen wollen. Jeder
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb, FDP- Mindestlohn – ob kollektiv oder staatlich vorgeschrieben –
Fraktion. grenzt einen unteren Produktivitätsbereich aus dem Ar-
(Beifall bei der FDP) beitsmarkt aus.
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon jetzt wirken die staatlichen Transfers der sozia-
Linke und Grüne wollen mit der heutigen Debatte Druck len Sicherung – auch das ALG II – faktisch wie ein
auf die zerstrittene Koalition ausüben, Mindestlöhne ein- Mindestlohn. Überproportionale Lohnerhöhungen bzw.
zuführen. In der Tat ist zu befürchten – das ergibt sich Sockellohnanhebungen haben schon in der Vergangen-
auch aus dem, was Herr Kollege Brauksiepe gesagt bzw. heit dazu geführt, dass in vielen Bereichen gering Quali-
nicht gesagt hat –, dass die Koalition ernsthaft einen sol- fizierte verdrängt worden sind. Unter gesetzlichen Min-
chen Schritt erwägt. Auch Äußerungen von Bundes- destlöhnen haben in der Regel gering qualifizierte
arbeitsminister Müntefering lassen diesen Schluss zu. Langzeitarbeitslose zu leiden.

(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) (Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]:
Herr Kollege Kolb, wissen Sie, welche Nied-
In der Tat, es klingt durchaus heimelig, Herr Kollege riglöhne wir in Deutschland haben?)
Brandner, wenn Herr Müntefering feststellt: „Wer seinen
Job richtig macht, muss auch so viel Geld bekommen, – Melden Sie sich doch zu einer Zwischenfrage, Herr
dass er seine Familie davon ernähren kann.“ Brandner!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Die Forderung nach Mindestlöhnen lässt die aus mei-
Klaus Brandner [SPD]: Recht hat der Minis- ner Sicht entscheidende Frage offen, wer zu solchen Be-
ter!) dingungen noch Arbeitsplätze schaffen soll. Die deut-
sche Volkswirtschaft leidet schon jetzt unter massiven
(B) Im Ergebnis stimme ich ihm zwar zu – das wird Sie Problemen: unter zu geringen Wachstumsraten, unter (D)
sicherlich wundern, Herr Kollege Brandner –, aber das überzogener Bürokratie, unter den hohen Steuer- und
erreicht man nicht dadurch, dass man die Löhne auch für Abgabelasten und der zu hohen Regelungsdichte im Ar-
einfache Tätigkeiten per Gesetz hochschraubt beits- und Tarifrecht.
(Klaus Brandner [SPD]: Wasch mir den Pelz, Ich finde, es ist eher mehr als weniger Flexibilität not-
aber mach mich nicht nass!) wendig.
– hören Sie zu, Herr Brandner! –, sondern dadurch, dass (Beifall bei der FDP)
man Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch
ihre eigene Tätigkeit finanzieren können, bei Bedarf ei- Wir brauchen ein flexibleres Tarifrecht, damit sich die
nen ergänzenden staatlichen Transfer gewährt, wie es die Löhne wieder an der Produktivität orientieren können.
FDP mit ihrem Konzept des Bürgergeldes vorgeschla- Notwendig sind auch Öffnungsklauseln für betriebliche
gen hat. Bündnisse für Arbeit und ein funktionierender Nie-
driglohnsektor, damit sich auch die Aufnahme einer ge-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ring entlohnten Tätigkeit gegenüber der Inanspruch-
der CDU/CSU) nahme staatlicher Transferleistungen lohnt.
Ich stelle für die FDP-Bundestagsfraktion klipp und (Beifall bei der FDP)
klar fest: Gesetzliche Mindestlöhne – egal, in welcher
Form – lösen keine Probleme; sie verschärfen sie. Ich habe bereits festgestellt, dass das von der FDP
vorgeschlagene Bürgergeld – also das System einer ne-
(Beifall bei der FDP) gativen Einkommensteuer – in diese richtige Richtung
Das hat der jetzige Unionsfraktionsvorsitzende, Volker wirkt. Ich kann Sie nur ermuntern, Herr Brandner, sich
Kauder, am 9. April 2005 in einem Interview mit der damit zu befassen.
„Welt“ noch genauso gesehen. Es ist wirklich erschre-
(Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]:
ckend, festzustellen, wie sich zwischenzeitlich die CDU/
Wer soll das bezahlen?)
CSU in dieser Frage immer mehr sozialdemokratischen
Positionen annähert. Abschließend stellt sich die Frage – die auch der Kol-
lege Gysi bereits angesprochen hat –, wie hoch der Min-
(Beifall bei der FDP)
destlohn sein soll. Wir glauben, dass der Markt diese
Mindestlöhne sind faktisch Arbeitsplatzvernich- Frage beantwortet. Ich habe Ihre Angaben, meine Da-
tungsprogramme. Sie führen – besonders im Bereich men und Herren von der Linken, nachvollzogen und bin
1512 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) – diese Rechenaufgabe habe ich ohne Taschenrechner Gestern ist im Europäischen Parlament eine Entschei- (C)
gelöst – bei 985 Euro und einer Arbeitszeit von rund dung getroffen worden, über die wir uns in Deutschland
160 Stunden im Monat – das ist zwar etwas mehr als sehr freuen dürfen. Gemeinsam mit den christlich-kon-
eine 35-Stunden-Woche, aber so rechnet es sich besser – servativen haben die sozialistisch-sozialdemokratischen
auf einen Stundenlohn von 6,15 Euro als gesetzlichen Abgeordneten einerseits die Dienstleistungsfreiheit
Mindestlohn gekommen. durchgesetzt und damit unnötige Hemmnisse für den
freien Dienstleistungsverkehr in ganz Europa beseitigt.
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das eine ist Andererseits ist das Herkunftslandprinzip, das einen
brutto, das andere netto!) weiteren unseligen Dumpingwettlauf um niedrige Löhne
– 985 Euro netto? Dann wird es ja sogar noch mehr. Ich sowie geringe Umwelt- und Sozialstandards ausgelöst
rechne gerne noch einmal nach hätte, auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet.
Dorthin gehört es auch. Darüber dürfen wir uns sehr
(Klaus Brandner [SPD]: Aber dann mit Ta- freuen.
schenrechner!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und werde mich nachher vielleicht noch einmal zu Wort der CDU/CSU)
melden. Aber besser wird es dadurch nicht, Herr Gysi.
Nun ist das Herkunftslandprinzip zwar weg. Aber wir
(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE haben im Zielland unsere Hausaufgaben noch nicht ge-
LINKE]) macht. Dass im gesamten europäischen Umland bei der
– Hören Sie mir zu! Ich entschuldige mich ja. Aber da- Umsetzung der Entsenderichtlinie der Europäischen
durch wird es, wie gesagt, nicht besser; denn dann wer- Union viel mehr Branchen als in Deutschland einbezo-
den noch mehr Arbeitsplätze und noch mehr Menschen gen worden sind, ist nun für uns ein Problem. Wenn in
in Beschäftigung aus dem ersten Arbeitsmarkt ver- den nächsten Jahren in Deutschland die volle Freizügig-
drängt. Ich frage Sie, ob Sie das ernsthaft wollen. keit gilt, dann sind wir – unabhängig von der Dienstleis-
tungsrichtlinie – ohne eine Ausweitung der Entsende-
Es bleibt festzuhalten: Mindestlöhne lösen keine Pro- richtlinie und des Entsendegesetzes auf weitere
bleme, sondern schaffen welche. Branchen verwundbar. Dann haben wir unsere Interes-
sen nicht adäquat vertreten. Wir brauchen also eine Aus-
Ein weiteres Problem, das noch zu nennen wäre, ist
weitung des Entsendegesetzes hier in Deutschland.
die Bürokratie. Es bedarf letztendlich eines riesengro-
ßen Kontrollapparates, um festzustellen, ob die Mindest- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
lohnregelungen eingehalten werden. Der Präsident des CDU/CSU)
(B) Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig (D)
Georg Braun, warnt daher zu Recht vor den bürokrati- Es ist Angela Merkel gewesen, die festgestellt hat,
schen Folgen einer solchen Regelung. dass es in 19 europäischen Ländern einen Mindestlohn
gibt und dass es daher nur schwer zu erklären ist, warum
Wir können klipp und klar, ohne Wenn und Aber, wir in Deutschland noch nicht einmal darüber sollen re-
ohne Wackeln und Herumeiern sagen: Wir sind gegen den dürfen.
gesetzliche Mindestlöhne in Deutschland.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Wer verbietet
(Beifall bei der FDP) Ihnen denn das?)
Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, ist, warum
Präsident Dr. Norbert Lammert: wir überhaupt über die Einführung eines gesetzlichen
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Nahles, Mindestlohns diskutieren müssen. Dass es Steuerdum-
SPD-Fraktion. ping in Europa gibt, wissen wir alle. Es gibt aber auch
Lohndumping. Wir müssen darüber nachdenken, wie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sich das verhindern lässt. In Deutschland gibt es mittler-
der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Jetzt weile 3 Millionen Menschen, die Vollzeit arbeiten und
wieder was Qualifiziertes!) Armutslöhne bekommen. Es gibt dafür einen ganz kla-
ren Gradmesser. Die Armutslohngrenze liegt nämlich
Andrea Nahles (SPD): bei 1 400 Euro brutto. Jeder fünfte ostdeutsche Arbeit-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und nehmer arbeitet zurzeit für weniger als 1 300 Euro. Das
Kollegen! Für die ostdeutsche Floristin, die für sind Armutslöhne. Das heißt, dass das, was in den USA
1 000 Euro brutto 41 Stunden in der Woche arbeitet, als Working Poor bezeichnet wird, längst Deutschland
muss es wie Hohn klingen, wenn Sie, Herr Kolb, sagen, erreicht hat.
dass der Markt dieses Problem letztlich schon lösen
(Dirk Niebel [FDP]: Nehmt denen weniger
werde. Das kann ich nur zurückweisen.
Steuern und Abgaben weg, dann bleibt auch
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) mehr übrig!)
Wir werden über diese Frage noch einmal ernsthafter Es gibt nämlich Armut trotz Arbeit. Das können wir So-
diskutieren müssen. zialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht hinneh-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1513
Andrea Nahles
(A) men, das können wir nicht akzeptieren. Ich hoffe, das (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb (C)
gilt auch für die Bundesregierung. [FDP]: Das ist eine wichtige Frage! – Dirk
Niebel [FDP]: Es betrifft die Bürger!)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk
Niebel [FDP]: Warum erhöht ihr die Mehr- – das ist Ihr wichtigster Profilierungspunkt –, gerne an
wertsteuer um 3 Prozentpunkte? Damit die anderer Stelle diskutieren können. Wenn Sie aber sagen,
Leute noch weniger haben?) dass Sie ausdrücklich keinen gesetzlichen Mindestlohn
wollen, dann ist das eine weitaus größere Bedrohung für
Es geht aber nicht nur darum, dass wir Armutslöhne untere Einkommensgruppen in Deutschland
in Bereichen haben, in denen wir keine tarifvertraglichen
Regelungen haben. (Lachen bei der FDP)

(Dirk Niebel [FDP]: Gerade die Sozialdemo- als die Mehrwertsteuererhöhung. Lassen Sie uns darüber
kraten dürften die Mehrwertsteuer nicht erhö- streiten, wenn das Thema an der Reihe ist. Machen Sie
hen!) jetzt bitte keine Show zu einem Thema, das heute gar
nicht zur Debatte steht.
Mittlerweile sind in Ostdeutschland nur noch
54 Prozent der Unternehmen tarifvertraglich gebunden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk
Zieht man davon den öffentlichen Dienst ab, dann wird Niebel [FDP]: Merkelsteuer!)
man feststellen, dass die Zahl der tarifvertraglich nicht Man kann feststellen, dass das Problem der unteren
gebundenen Unternehmen relativ noch höher ist. Einkommensgruppen durch tariflich festgesetzte
Löhne leider nicht gelöst wird. In den unteren Einkom-
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider die Wahr- mensbereichen gibt es Tariflöhne, die 4 Euro betragen,
heit!) teilweise sogar weniger. Es reicht also nicht, wie es
Es reicht also nicht, Löhne tariflich abzusichern oder heute von den Grünen vorgeschlagen wird, beispiels-
eine Tarifgruppe für allgemeinverbindlich zu erklären. weise durch das Gesetz zur Festsetzung von Mindestar-
Das wird denen, die überhaupt nicht mehr tariflich ein- beitsbedingungen die unteren Tarifgruppen festzuschrei-
gebunden sind, weil deren Arbeitgeber sich aus der Ta- ben. Ich kann Sie nur auffordern, sich einmal die
rifgemeinschaft herausgestohlen haben, nichts nützen. Tabellen mit den tariflich festgelegten Löhnen im unte-
ren Einkommensbereich anzusehen. Da wird Ihnen eini-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ges auffallen. Sie sind den entscheidenden Schritt nicht
gegangen. Sie vermeiden ja heute eine klare Aussage
Deswegen müssen wir über diese tarifliche Absicherung zum Mindestlohn. Das trauen Sie sich offensichtlich
(B) hinausgehen und auch deshalb brauchen wir Mindest- nicht. Ihre Vorschläge reichen nicht aus, um das Niveau, (D)
löhne. Das steht für mich außer Frage. das wir brauchen, zu erreichen und die Leute aus der Ar-
mut zu holen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Frau Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischen- Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
frage des Kollegen Niebel? NEN]: Wie hoch ist das Niveau?)
Ich glaube auch, dass wir uns heute von der Linkspar-
Andrea Nahles (SPD):
tei nicht in eine Debatte treiben lassen sollten, in der es
Gerne. um 20 oder 50 Cent mehr oder weniger Mindestlohn
geht.
Dirk Niebel (FDP): (Zuruf von der LINKEN)
Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben eben beklagt,
dass die verfügbaren Einkommen von vielen Men- Es geht zunächst einmal nicht um die Höhe des Mindest-
schen, insbesondere in den neuen Bundesländern, nach lohns, sondern um die Frage, ob wir eine untere Halte-
Ihrem Dafürhalten zu gering sind. Widerspricht das nicht linie brauchen. Ich sage Ihnen: Ja. Muss das im Verbund
dem Willen der großen Koalition, die auch von der SPD- mit den Tarifparteien und unter Berücksichtigung der
Fraktion mitgetragen wird, die Mehrwertsteuer um Tarifautonomie in Deutschland geschehen? Da sage ich
3 Prozentpunkte zu erhöhen, weil damit den Menschen auch: Ja. Brauchen wir aber auch jenseits der Tarifver-
noch mehr Kaufkraft entzogen wird? träge, die nicht mehr verhindern, dass die Löhne in
Deutschland abrutschen, zusätzliche Regelungen? Auch
(Jürgen Koppelin [FDP]: Merkelsteuer!) dazu sage ich: Ja. Wir brauchen Mindestlöhne.
Warum schlagen Sie vor, dass das alles gesetzlich
Andrea Nahles (SPD): festgelegt wird? Warum soll das alles über einen Kamm
Herr Niebel, erstens wird diese große Koalition nicht geschoren werden? Sie treten hier dafür ein, dass ein be-
auch, sondern ganz ausdrücklich von der SPD mitgetra- stimmter Betrag festgelegt wird. Wir hingegen wollen
gen. Zweitens ist es selbstverständlich richtig, dass wir eine unabhängige Kommission – es gibt ein sehr gutes
die Frage der Mehrwertsteuererhöhung, die Sie offen- Vorbild in Großbritannien –, die die Tarifparteien einbe-
sichtlich in jede Debatte hier im Deutschen Bundestag zieht und die ein Mindestentgelt festlegt. Das ist ein an-
einfließen lassen derer Ansatz als der, dass wir hier im Bundestag
1514 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Andrea Nahles
(A) versuchen, einmal ein bisschen mehr oder ein bisschen destabsicherung auf dem Niveau von ALG II liegt. (C)
weniger gesetzlich festzulegen. Uns muss doch klar sein, dass Arbeit anders als Trans-
ferleistungen die Schaffung von Mehrwert bedeutet. Die
Mein Petitum hier ist: Lassen Sie uns denen, die von Höhe eines Mindestlohns sollte sich deshalb ganz
der Sache wirklich etwas verstehen, beispielsweise den schlicht daran orientieren, dass diejenigen, die Vollzeit
Tarifparteien, eine Mitsprachemöglichkeit in Bezug auf arbeiten, mehr verdienen als diejenigen, die Sozialgeld,
das, was auf diesem Gebiet in diesem Lande geschieht, zum Beispiel ALG II, beziehen.
einräumen. Das ist besser, als hier von vornherein über
20 Cent mehr oder weniger zu streiten. Das ist kein hilf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
reicher Weg. CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Aber Arbeit
ist doch auch auf der Höhe von ALG II zumut-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) bar! Haben Sie das vergessen?)
Wenn wir uns an dieser Stelle über Mindestlöhne Hier wird immer wieder behauptet – das fand ich sehr
streiten, dann darf dabei nicht vergessen werden, was interessant, Herr Kolb –, der Mindestlohn würde scha-
Löhne eigentlich sind. Löhne sind eben mehr als ein den.
Kostenfaktor oder eine Variable im Standortwettbewerb.
Löhne stehen zunächst einmal für die schiere Existenz (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)
vieler Menschen. Löhne bedeuten darüber hinaus ein Das kann ich nicht feststellen.
Stück weit die Absicherung des Lebensstandards. Löhne
haben aber auch etwas mit Würde zu tun: Für gute Ar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie waren auch
beit bekommt man auch gutes Geld. Das hat auch etwas noch nie in der Wirtschaft!)
damit zu tun, dass man überhaupt die Eintrittskarte für
Wir haben diese Debatte in Großbritannien und in den
diese Gesellschaft erhält.
USA gehabt. In unserer Arbeitsgruppe Wirtschaft war
(Dirk Niebel [FDP]: Deshalb brauchen wir vor einigen Tagen Herr Zimmermann vom DIW. Ob-
auch Arbeitsplätze!) wohl er ein Gegner des Mindestlohns ist, hat er, mögli-
cherweise zähneknirschend,
Es muss uns heute darum gehen, dafür zu sorgen, dass
der eigentliche Zweck von Löhnen – Menschen erhalten (Dirk Niebel [FDP]: Das Zähneknirschen
den Verdienst für ihre eigene Arbeit – gesichert und be- kommt von eurer Gesundheitsreform! Er kann
fördert wird. nicht mehr zum Zahnarzt gehen!)
(Dirk Niebel [FDP]: Warum drängen Sie die sagen müssen: Die Einführung von Mindestlöhnen hat
(B) Leute aus dem Arbeitsprozess heraus?) auf die Beschäftigung weder einen positiven noch einen (D)
negativen Einfluss. – In Großbritannien, wo man 1999
In den letzten Jahren haben wir Folgendes erlebt: Auf einen Mindestlohn eingeführt hat – da wurde für die
der linken Seite wurde so getan, als gäbe es irgendwo Wirtschaft sozusagen der Untergang des Abendlandes
eine Quelle der Geldvermehrung und als ginge es nur beschworen –, hat es nicht nur keinen negativen, sondern
noch darum, Grundeinkommen zu verteilen. Von dieser sogar einen positiven Effekt auf dem Arbeitsmarkt gege-
Vorstellung ist auch das Modell des Bürgergeldes nicht ben.
weit entfernt. Auf der anderen Seite wurde der Eindruck
erweckt, das Manko in Deutschland sei der Niedriglohn- Das heißt, es geht bei der Frage Mindestlohn nicht um
bereich und man müsse dafür sorgen, dass möglichst eine Schwächung des Arbeitsmarkts,
viele Menschen in diesem Bereich tätig sind. Wir sind (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es geht um die
ein Hochlohnland und wir wollen es bleiben. Deswegen geringer Qualifizierten, darum, ob die noch
müssen wir in diesem Land in Bildung, Innovation und Arbeit finden!)
Wachstum investieren.
sondern um die Stärkung von Arbeit gegenüber Transfer.
Aber wir dürfen nicht zulassen, dass der untere Rand Es geht um Würde und es geht darum, dass wir Armuts-
unseres Hochlohnlandes entkoppelt wird, sodass ganze löhne und Sozialdumping in diesem Land verhindern.
gesellschaftliche Gruppen aus der Armutsfalle – sie exis- Deswegen brauchen wir das.
tiert, auch wenn wir sie nicht bewusst herbeigeführt ha-
ben – nicht mehr herauskommen. Wir wollen Möglich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
keiten des Ausstiegs aus dem Niedriglohnbereich der CDU/CSU)
organisieren. Deswegen wollen wir mehr Geld in Prä-
vention und Aktivierung investieren. Das bringt mehr, Präsident Dr. Norbert Lammert:
als immer nur Transferleistungen zu erbringen. Die ge- Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erhält
samte Arbeitsmarktpolitik, die wir in den letzten Jahren nun das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer.
vertreten haben, folgt dieser Logik.
(Dirk Niebel [FDP]: Sagen Sie auch was zur
(Beifall bei der SPD) Mehrwertsteuer! – Weitere Zurufe)
Demzufolge ist eine Hochlohnlandstrategie ohne eine
Definition von Mindestabsicherung, von würdigem Ent- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gelt für Arbeit in diesem Land nicht möglich. Wir kön- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
nen uns nicht damit zufrieden geben, dass die Min- Nahles und Herr Brauksiepe als Vertreter der großen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1515
Brigitte Pothmer
(A) Koalition haben hier den Vorteil, dass sie wahrlich kom- zierten Dienstleistungen unbürokratisch im europäischen (C)
fortabel mit Redezeit ausgestattet sind. Ausland zu erbringen. Das schafft Arbeitsplätze auch in
Deutschland.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das hat der
Wähler so gewollt! – Dr. Heinrich L. Kolb Was wir aber nicht wollen, ist: Hungerlöhne und mi-
[FDP]: Wenn ihr mehr Prozente gehabt hättet, serable Arbeitsbedingungen, die das Ergebnis von Un-
hättet ihr die auch!) terbietungskonkurrenz und von Schmutzkonkurrenz
sind. Dagegen müssen wir ganz deutlich Stellung bezie-
Sie haben aber wieder unter Beweis gestellt: „Viel hilft
hen.
viel“ trifft nicht immer zu. Sie haben hier viel geredet,
aber nicht gesagt, was sie wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich will Sie noch einmal an den Fleischskandal des
bei der FDP und der LINKEN) letzten Sommers erinnern. Allein in Nordrhein-Westfa-
len sind durch die Kontrollaktion der dortigen Landesre-
Frau Nahles, das trifft auch auf Sie zu, und ich finde
gierung 50 Verdachtsfälle von illegaler Beschäftigung
es schon ein bisschen absurd, dass Sie uns vorwerfen,
zur Anzeige gekommen.
wir hätten keine klare Linie. Wir haben einen Antrag
vorgelegt, der sehr klar und sehr differenziert darstellt, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber illegale Be-
wofür sich die Grünen in dieser Frage einsetzen. schäftigung ist ein anderes Thema! – Gegenruf
des Abg. Klaus Brandner [SPD]: Das liegt
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
aber nahe zusammen, Herr Kolb!)
SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ralf Brauksiepe
[CDU/CSU]: Das kommt erst in der nächsten – Wir müssen aber schauen, wie wir auch darauf reagie-
Debatte!) ren.
Wir setzen uns dafür ein, weil wir sehen, dass Sozial- Statt zwischen acht und zehn Stunden – das wären die
und Lohndumping inzwischen tatsächlich die Substanz normalen Arbeitszeiten – ist da zum Beispiel
unserer Wirtschaftsordnung zu zerstören droht. Herr 19,5 Stunden gearbeitet worden.
Kolb, da hilft auch kein Mantra: „Die soziale Marktwirt-
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist aber illegal!)
schaft wird es schon richten“. Da hilft auch kein intensi-
ves Wünschen. Da müssen Sie schon handeln, wenn Sie Die Unterbringung hatte mit Menschenwürde wirklich
verhindern wollen, dass immer mehr Beschäftigte unter- nichts mehr zu tun. Arbeiter sind zum Teil im Schweine-
halb der Bedingungen des Mindeststandards arbeiten. stall untergebracht worden. Das ist soziale Realität!
(B) Es trifft inzwischen nicht nur den nicht organisierten (Dirk Niebel [FDP]: Das ist doch illegal! – (D)
Bereich im Niedriglohnsektor. Es trifft inzwischen auch Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist alles
den tariflich organisierten Niedriglohnbereich. illegal!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und in den tarif- – Ja, genau, darauf komme ich jetzt. – Wir meinen, dass
lich organisierten Bereich wollt ihr eingrei- die Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes keinen
fen?) Beitrag dazu leistet, solche Situationen zu verhindern,
sondern im Gegenteil immer noch so wie in der Vergan-
Wir sehen, dass die Einkommen insgesamt immer stär-
genheit dazu führen kann, dass solches Handeln eher ge-
ker unter Druck geraten. Natürlich müssen wir auf das
fördert wird, weil die Menschen in die Illegalität getrie-
reagieren, was durch die Erweiterung der Europäischen
ben werden.
Union und durch die angekündigte Dienstleistungs-
richtlinie auf uns zukommt, wenn wir verhindern wol- (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP])
len, dass die Lohnspirale immer weiter nach unten geht.
Wir sind also der Auffassung, dass es falsch ist, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeitnehmerfreizügigkeit noch einmal, wie es die
Bundesregierung plant, für weitere drei Jahre einzu-
Ich frage Sie, Herr Kolb, und Ihre Kollegen von der
schränken. Das ist der falsche Weg. Wir setzen auf eine
FDP-Fraktion: Was ist eigentlich Ihre Antwort auf eine
umfassende Festlegung von Mindestarbeitsbedingun-
Situation zum Beispiel im Bereich der Gebäudereiniger,
gen, die für in- und ausländische Arbeitnehmerinnen
in dem es inzwischen Löhne von 3 Euro bis 4 Euro die
und Arbeitnehmer gleichermaßen gelten müssen.
Stunde gibt? Das zeigt doch das Ausmaß dieser wirklich
irrwitzigen Entwicklung. Da können Sie nicht einfach Folgendes möchte ich an die Kolleginnen und Kolle-
sagen: Die Marktwirtschaft wird es schon richten. gen von der Linkspartei sagen:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Frage ist: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben doch
Arbeit, ja oder nein?) ganz schön viel Redezeit, Frau Pothmer!)
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir von den Grünen Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns be-
wollen unbedingt ein offenes und auch freizügiges Eu- gibt man sich auf einen sehr schmalen Grat zwischen
ropa, weil wir im Gegensatz zu vielen von Ihnen darin Schutz und Verderben gerade für diejenigen, für die wir
eine richtig große Chance auch für unsere Unternehmen uns in besonderer Weise einsetzen wollen, nämlich für
und für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer se- die Geringqualifizierten. Mindestlöhne können näm-
hen; denn denen wird es erleichtert, ihre hoch qualifi- lich tatsächlich zum Einstellungshindernis werden, wenn
1516 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Brigitte Pothmer
(A) sie, gemessen an der Produktivität der Arbeitskräfte, zu sident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (C)
hoch festgesetzt werden. Wenn sie hingegen zu niedrig Michael Rogowski. Er hat gesagt, wir brauchen auf gar
festgesetzt werden, können sie gleichsam eine staatliche keinen Fall einen Mindestlohn, im Gegenteil, die tarifli-
Legitimation für einen Niedriglohnbereich schaffen. Wir chen Untergrenzen müssen weiter durchbrochen werden.
brauchen also eine sehr fein taxierte Regelung, die auf Ich hoffe zutiefst, dass diese Position eine Position aus
der einen Seite Lohndumping verhindert, auf der ande- einer anderen Zeit ist. Diese Hoffnung speist sich aus
ren Seite aber nicht zur Ausgrenzung derjenigen führt, meinem Eindruck, dass sich etwas bewegt, sogar bei der
um die es uns in besonderer Weise geht. In dieser Frage CDU/CSU, auch wenn die Formulierungen in der Rede
haben Sie sich – das muss ich ganz ehrlich sagen – im von Herrn Brauksiepe noch sehr vorsichtig waren.
letzten Jahr nun nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein Euphemis-
Ursprünglich hatten Sie nämlich in Ihrem letztjähri- mus!)
gen Wahlprogramm 1 400 Euro Mindestlohn gefordert.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden aus den Kanzlerin Merkel jedenfalls hat da schon einmal Posi-
1 400 Euro ganz schnell 1 000 Euro. tion bezogen. Bei Herrn Glos sieht das noch anders aus,
wenn ich das richtig gelesen habe.
(Zurufe von den LINKEN – Klaus Brandner
[SPD]: Der scharfe Wind!) Insgesamt hat sich die große Koalition bis jetzt die-
sem Thema verweigert. Nun kommt der Arbeitsminister
Ich frage mich, wie lang die Halbwertzeit Ihrer heutigen in die Strümpfe. Fehlt nur noch, dass die Regierung jetzt
Forderung nach 8 Euro Stundenlohn ist. tatsächlich in die Siebenmeilenstiefel steigt. Unser Vor-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlag zur Einführung von branchen- und regionalspezi-
sowie bei Abgeordneten der SPD) fischen Mindestlöhnen könnte dafür vielleicht ein ganz
geeigneter Schuhanzieher sein.
Mit dieser 8-Euro-Forderung laufen Sie Gefahr, dass
ganze Branchen plattgemacht werden. Ich danke Ihnen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Arbeitsbereiche von Wachpersonal, Verkäuferin-


Präsident Dr. Norbert Lammert:
nen, Floristinnen – dieser Bereich wurde ja schon ange-
sprochen –, aber auch Hilfstätigkeiten in der Landwirt- Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gysi das
schaft könnten so verloren gehen. Wort.

(B) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wo sie (D)


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Recht hat, hat sie Recht!)
Herr Präsident! Frau Pothmer, ich wollte eine Sache
Damit ist niemandem geholfen. klarstellen. Man muss politische Entwicklungen in ande-
ren Parteien richtig verfolgen, wenn man sich dazu äu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ßern will. Es gab bei uns immer den Unterschied zwi-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
schen 1 400 Euro brutto und 1 000 Euro netto
der SPD)
Mindestlohn.
Wir wollen regional- und branchenspezifisch differen-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zierte Lösungen. Wir schlagen Ihnen deswegen folgen-
NEN]: Das Brutto-netto-Problem ist uns wirk-
den Dreischritt vor:
lich bekannt! – Dirk Niebel [FDP]: Das war
Erstens wollen wir die Ausweitung des Arbeitneh- doch Scharpings Problem! Lacht mal nicht so
mer-Entsendegesetzes auf alle Branchen ermöglichen. da drüben!)
Zweitens wollen wir eine Reform der Allgemeinver- – Darf ich zu Ende sprechen? Ich sage gleich noch etwas
bindlichkeitserklärung im Tarifvertragsgesetz, um zu dem Unterschied, den auch die FDP offensichtlich
Mindestlöhne unterschiedlich gestalten zu können. nicht mehr begreift. Früher kannten Sie den.
Drittens wollen wir eine Reform des Mindestarbeits- Der Parteitag hat ganz klar beschlossen, dass es bei
bedingungengesetzes von 1952. 1 400 Euro brutto bleibt. Wir hatten einen Nettobetrag
vorgeschlagen; aber er hat ganz klar so entschieden. In-
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir mit
sofern gab es da keine Änderung.
diesem Dreischritt tatsächlich die Gratwanderung zwi-
schen Lohndumping auf der einen Seite und Ausgren- Nun sage ich Ihnen, dass unser Antrag damit in Über-
zung von Geringqualifizierten und Berufseinsteigerin- einstimmung steht. 985 Euro beträgt der pfändungsfreie
nen und -einsteigern auf der anderen Seite Nettobetrag, der einer Bürgerin oder einem Bürger blei-
hinbekommen. ben muss. 985 Euro netto entsprechen etwa 1 440 Euro
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) brutto. Das ist die Situation in Deutschland. Die 8 Euro
pro Stunde, die wir fordern, sind brutto. Netto sind das
In Deutschland hat die Debatte um den Mindestlohn weniger. Mit diesen 8 Euro brutto kommen Sie in etwa
ja leider eine lange und nicht immer rühmliche Ge- auf das Bruttogehalt von 1 440 Euro und damit netto auf
schichte. Einer der Protagonisten war immer der Ex-Prä- die 985 Euro, die in Deutschland pfändungsfrei sind.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1517
Dr. Gregor Gysi
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber für 8 Euro Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
finden viele keinen Arbeitsplatz mehr, Herr Frau Pothmer, möchten Sie erwidern?
Gysi!)
Ich will das einfach einmal sagen, weil das ein Maßstab Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ist. Nein. Das war ja weniger an mich gerichtet als viel-
mehr an die CDU/CSU-Fraktion.
Jetzt wollen Sie das nach Branchen unterscheiden.
Die Lebenskosten in Deutschland sind aber gleich, unab- (Dirk Niebel [FDP]: Und an uns! Ich würde
hängig davon, ob ich in der einen Branche oder in der schon gern erwidern!)
anderen Branche arbeite.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der LINKEN) Wir sind ja jedem dankbar, der sich im Sinne der Be-
Es kann Branchen geben, die so produktiv sind, dass es wirtschaftung der Redezeit nicht angesprochen fühlt und
dort gar keine Mindestlöhne gibt, sondern höher bezahlt damit keinen zusätzlichen Redeanspruch reklamiert.
wird. Aber der Mindestlohn in Deutschland ist die Min- Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Paul
destanforderung, die wir an Arbeitgeber stellen. Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Ich nenne einmal ein Beispiel. Die Union plädiert für (Beifall bei der CDU/CSU)
Kombilöhne. Wir sind nicht dafür. Aber wie wollen Sie
denn Kombilöhne einführen, wenn es keinen Mindest- Paul Lehrieder (CDU/CSU):
lohn gibt? Sie müssen doch einen Betrag ansetzen, bis zu Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
dem Sie aufstocken wollen. Da brauchen Sie einen Min- Liebe Kollegen! Die Linkspartei hat am 18. Januar 2006
destlohn; darum kommen Sie an dieser Stelle nicht he- den hier vorliegenden Antrag auf Einführung eines Min-
rum. destlohns gestellt. Hierbei fällt auf, dass ein Vertreter der
Das Zweite, was uns in dem Zusammenhang wichtig Linkspartei, Herr Lafontaine, noch gestern vor diesem
ist: Das, was zur Schwarzarbeit gesagt worden ist, ist Hohen Haus gefordert hat, das Steuerniveau müsse deut-
wirklich kein Argument. Sie können doch nicht im Ernst lich angehoben werden, da die Unternehmensteuern in
sagen, die Entnahme von Waren im Warenhaus müsse Deutschland im internationalen Vergleich viel zu gering
geduldet werden, damit es weniger Diebstähle gibt. Ver- seien.
stehen Sie? Schwarzarbeit ist eine Straftat. Wenn es (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das ist rich-
Mindestlöhne gibt, besteht zum ersten Mal ein klarer tig!)
(B) Schadenersatzanspruch, (D)
– Ja, ich habe aufgepasst.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer wird denn
Mit der nunmehr erhobenen Forderung nach Einfüh-
da bestraft?)
rung eines Mindestlohns ohne Berücksichtigung und au-
der sich auf die Differenz zwischen dem, was bezahlt ßerhalb des Kontextes von so genannten Kombilohnmo-
wurde, und dem Mindestlohn bezieht. dellen zeigt die Linkspartei abermals unverhohlen ihr
Verständnis von Marktwirtschaft.
Dann noch ein Satz zu den Unternehmen. Natürlich
wissen auch wir, dass es kleinere Unternehmen gibt, die (Beifall bei der CDU/CSU)
heute nicht in der Lage sind, Mindestlöhne zu bezahlen. Im Antrag führen Sie noch wortwörtlich aus:
Deshalb steht in unserem Antrag, dass es für diese Un-
ternehmen Übergangsregelungen geben muss. Die Autonomie der Tarifparteien bei der Lohnfin-
dung ist ein hohes gesellschaftliches Gut in
(Dirk Niebel [FDP]: Bis die so reich sind, dass Deutschland. Die Tarifautonomie ist auch in Zu-
sie es zahlen können!) kunft zu schützen.
Aber eines sage ich Ihnen auch: Wenn alle Bäcker, auch Etwas weiter fordert die Linkspartei die Bundesregie-
der polnische und der tschechische, die in Deutschland rung auf,
arbeiten, den Mindestlohn zahlen müssen, dann haben
wir wieder Wettbewerbsgleichheit; dann fällt das keinem schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen,
Bäckermeister schwer. der sicherstellt, dass alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten, einen
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was kosten denn rechtlichen Anspruch auf einen Lohn von mindes-
dann die Brötchen, Herr Gysi? – Dirk Niebel tens 8 Euro/Stunde (brutto) haben.
[FDP]: Dann gibt es auch staatliche Brot- Der Versuch der Reglementierung von Angebot und
preise!) Nachfrage, der Versuch der Reglementierung von Lohn-
Das ist Marktwirtschaft; das müsste selbst die FDP be- höhen, aber auch von Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen
greifen. hat bei der Vorvorgängerin der Linkspartei, der SED,
über 40 Jahre nicht funktioniert.
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
(Beifall bei der LINKEN) der LINKEN)
1518 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Paul Lehrieder
(A) Mit völlig untauglichen Rezepten versucht die Linkspar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! Daraus (C)
tei nun in offensichtlich populistischer Weise – mögli- kann man lernen!)
cherweise gar gegen besseres Wissen –, durch Einfüh-
rung eines Mindestlohnniveaus zum jetzigen Zeitpunkt In der niedersächsischen Chemieindustrie werden in
abermals eine Vielzahl von gering qualifizierten Arbeits- der untersten Tarifgruppe 11,10 Euro gezahlt, in der Me-
plätzen zu beseitigen bzw. ins Ausland zu verlagern. tall- und Elektroindustrie von Baden-Württemberg be-
trägt der niedrigste Stundenlohn 10,42 Euro. Im Bauge-
Vom Grunde her wird sich unsere Partei einer Diskus- werbe – bestes Beispiel für tarifliche Mindestlöhne –
sion über Sinn und Höhe möglicher Mindestlohnrege- kommt im Zeitraum vom 1. September 2005 bis
lungen nicht entziehen. Zunächst wäre hier aber auch 31. August 2006 ein ungelernter Arbeiter im Westen auf
mit unserem Koalitionspartner, mit unseren neuen einen tariflichen Mindestlohn von 10,20 Euro und im
Freunden von der SPD, zu definieren, ob der Mindest- Osten auf einen tariflichen Mindestlohn von 8,80 Euro.
lohn die Löhne am unteren Rand der Tariflöhne fest-
schreiben soll, um beispielsweise osteuropäische Billig- (Dirk Niebel [FDP]: Mit massenhaften Ar-
anbieter abzuwehren und den Niedriglohnsektor beitsplatzverlusten im Osten!)
einzugrenzen, oder ob der Mindestlohn eine deutlich Für Maler und Lackierer liegt der Mindestlohn bei
niedrigere Untergrenze darstellen soll, mit der verhindert 7,15 Euro im Osten bzw. bei 7,85 Euro im Westen. Bei
werden soll, dass Arbeitgeber den von unserer Fraktion Dachdeckern sind es seit dem 1. Januar 2006 10 Euro.
angepeilten Kombilohn nur dazu nutzen, um die Löhne
allzu stark zu drücken. Oft bleiben die niedrigsten Tarifgruppen jedoch unbe-
setzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren in
Je nach Definition eines so genannten Mindestlohns diesen Branchen Arbeitsplätze zu Hunderttausenden ge-
liegt hier eine enorme Bandbreite zwischen 3,50 und strichen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung
7,50 Euro vor, sodass auf dem von der Linkspartei bean- neuer Stellen ganz zu schweigen.
tragten Niveau von 8 Euro zum jetzigen Zeitpunkt eine
Mindestlohnfestsetzung beim besten Willen nicht erfol- (Dirk Niebel [FDP]: Also seid ihr jetzt gegen
gen kann. den Mindestlohn?)

(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: So ist – Warten Sie noch ein wenig, Herr Niebel. Ich sage Ih-
es!) nen gleich das Ergebnis.

In den Tagesordnungen von Bundestag und Europäi- Dasselbe würde – natürlich in größerem Umfang – für
schem Parlament gibt es dieser Tage interessante Berüh- einen gesetzlichen Mindestlohn auf hohem Niveau gel-
(B)
rungspunkte. Die Vorredner sind zum Teil bereits darauf ten. Er würde zwar ausländische Billigarbeitskräfte fern (D)
eingegangen. Gestern debattierte das Europaparlament halten, aber auch Beschäftigungschancen für niedrig
über die Dienstleistungsrichtlinie; es hat diese mit großer Qualifizierte verringern. Wenn ein Mindestlohn höher
Mehrheit verabschiedet. Heute reden wir hier über den ist, als der Arbeitsmarkt eigentlich hergibt, dann sperrt er
gesetzlichen Mindestlohn. gerade diese Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus.

Die Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie kreiste (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
bei uns in der Vergangenheit vielfach nicht nur um der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört!
Lohndumping und Billiganbieter aus Osteuropa, sie hat Hört!)
auch die Diskussion um einen gesetzlichen Mindestlohn – Sie dürfen ruhig lauter klatschen, Herr Niebel.
stark beeinflusst. Schon 2001, also im Vorfeld der EU-
Osterweiterung, hat die Union vor uneingeschränkter Soll ein Unternehmer zwischen den Alternativen
Dienstleistungsfreiheit gewarnt. Wir sind auch heute der wählen, einen gering Qualifizierten bei hohem Mindest-
Ansicht, dass gegen unzumutbare Billiglöhne konse- lohn einzustellen oder die Produktion in Länder mit
quent vorgegangen werden muss. Dabei ist die Autono- niedrigerem Lohnniveau zu verlagern, braucht man nicht
mie der Tarifparteien auch in Zukunft zu gewährleisten. viel Fantasie zu haben, um sich vorzustellen, wofür er
Wie das mit einem flächendeckenden Mindestlohn von sich letztendlich entscheidet. Diese Möglichkeit besteht
8 Euro gehen soll, den Linkspartei und in ähnlicher für Global Player ungleich stärker als für einen kleinen
Höhe auch einzelne Gewerkschaften fordern, ist mir mittelständischen Handwerksbetrieb. Kleine und mittel-
schlicht schleierhaft. ständische Unternehmen, die 75 Prozent der Arbeits-
und Ausbildungsplätze in unserem Land stellen, werden
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. diesbezüglich entsprechend benachteiligt. Das kann aber
Kolb [FDP]: Was wäre denn angemessen?) eigentlich nicht im Interesse der Tarifvertragsparteien
sein. Es kann nicht darum gehen, das untere Lohnniveau
Probleme gibt es ja schon im Niedriglohnsektor ins- über einen gesetzlichen Mindestlohn anzuheben und so
gesamt – dazu gehören Jahreseinkommen unter als – unerwünschten – Nebeneffekt weite Teile unseres
20 000 Euro – wie auch in den Branchen, in denen ein Arbeitsmarktes von unten stillzulegen.
tariflicher Mindestlohn eingeführt wurde. In Tarifver-
handlungen der Vergangenheit sind Löhne für einfache (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk
Arbeiten so weit angehoben worden, bis diese für viele Niebel [FDP]: Es ist ein sehr vielschichtiges
Unternehmen schlicht zu teuer wurden. Meinungsbild bei der Union!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1519
Paul Lehrieder
(A) Darüber hinaus hat der Mindestlohn, per Gesetz fest- will vor dem Hintergrund unseres Antrages auf diese (C)
gelegt, das Potenzial, die Tarifautonomie auszuhebeln. drei Positionen eingehen.
Der Staat kann aber nicht Ersatz für die Tarifparteien
sein. Zudem würden bei Tarifverhandlungen die Ge- Da ist zunächst die Position der Freien Demokrati-
wichte verschoben: Ein gesetzlich garantierter Mindest- schen Partei,
lohn birgt die Gefahr, dass dieser über gewerkschaftli- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die ist klipp und
chen Druck weiter angehoben wird. Für jede Regierung klar!)
wird es dann sehr schwer, diesen Mindestlohn im Sinne
einer dem Markt überlassenen Lohnfindung wieder zu die klipp und klar gegen Mindestlöhne ist, allerdings nur
senken. Letztlich würden so die gesamten Arbeits- für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
marktreformen konterkariert. Der über das Arbeitslosen- die geringe Löhne erhalten. Denn Sie sind sehr wohl
geld II gesunkene Anspruchslohn, mit dem gering Quali- – Kollege Gysi hat bereits darauf hingewiesen – für
fizierte integriert werden sollen, würde durch die staatlich festgelegte Löhne und staatlich festgesetzte
Hintertür wieder angehoben. Preise, wenn es um Anwälte, Architekten, Ärzte usw.
geht.
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
(Zuruf von der FDP: Das ist eine Unver-
Wie soll es nun weitergehen? Unsere Fraktion be- schämtheit!)
schränkt sich nicht auf ein bloßes Nein zum vorliegen-
den Antrag der Linkspartei. Wir wollen, da die Forde- Mit der Forderung nach einem Honorar von 50 Euro pro
rung nach einem Mindestlohnstandard ohne Stunde für diesen Bereich sind Sie für gesetzliche
Einbeziehung der Kombilohndiskussion grundsätzlich Löhne. Aber wenn es um geringe Löhne geht, versagt
keinen Sinn macht, im Rahmen der Einführung eines auf einmal Ihr Denkvermögen. Darin sehen Sie auf ein-
Kombilohnmodells ohne Aufgeregtheit prüfen, ob und, mal eine große Gefährdung für den Arbeitsplatz.
wenn ja, in welcher Höhe ein Mindestlohn in unser be-
stehendes System eingeführt werden kann. (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles
[SPD]: Da hat er Recht!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, viel Spaß!)
Insofern nehmen wir zur Kenntnis, dass Sie eine dezi-
In jedem Fall soll vermieden werden, dass Ähnliches, dierte Position haben, die im Hinblick auf eine be-
wie heute Morgen bei der vorherigen Abstimmung in stimmte Klientel zwar akzeptabel, letztendlich aber un-
diesem Hohen Haus geschehen – als durch die Ein- glaubwürdig ist. Denn Sie können wirklich niemandem
schränkung der Bildung von Bedarfsgemeinschaften erklären, wieso Sie bei Berufsgruppen, die viel verdie-
durch unter 25-jährige Hartz-IV-Empfänger bestehende nen, für Mindestlöhne sind, aber bei Berufsgruppen, die (D)
(B) gesetzliche Möglichkeiten zurückgefahren werden
wenig verdienen, keine Mindestlöhne vorsehen wollen.
mussten –, bereits nach kurzer Zeit bei der Einführung Das ist niemandem in Deutschland zu erklären.
eines Mindestlohnmodells droht. Die finanziellen Aus-
wirkungen, die tariflichen Einschränkungen wie auch (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
die Auswirkungen auf das kollektive Arbeitsrecht sind Kolb [FDP]: Das ist Quatsch!)
mit den jeweils betroffenen Gruppierungen zu erörtern, Die große Koalition hat sich noch nicht verständigt.
bevor eine sinnvolle Diskussion über die Einführung ei- Es geht uns nicht darum – wie einige gemutmaßt haben –,
nes Mindestlohnsektors zielstrebig geführt werden kann. der großen Koalition irgendwelche Schwierigkeiten zu
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich auf das zutref- bereiten, indem wir dieses Thema auf die Tagesordnung
fende Sprichwort verweisen: Was immer du beginnst, gesetzt haben. Wir glauben, dass wir in Deutschland im
bedenke das Ende. Moment die Situation haben, dass die Bruttolöhne sin-
ken; ich sage das immer wieder. Das heißt, Lohndum-
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ping wird ohne Einschränkung fortgesetzt. Menschen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden arbeitslos, weil sie durch andere ersetzt werden,
die bereit sind, für viel geringere Löhne zu arbeiten. Die-
Präsident Dr. Norbert Lammert: sen Prozess wollen wir stoppen. Wir haben nicht mehr
Herr Kollege Lehrieder, ich gratuliere Ihnen herzlich die Zeit, noch lange zu quatschen. Wir müssen entschei-
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbun- den. Deshalb haben wir diesen Antrag auf die Tagesord-
den mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. nung gesetzt.

(Beifall) (Beifall bei der LINKEN)


Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Oskar Nun möchte ich etwas zu der Argumentation des Kol-
Lafontaine, Fraktion Die Linke. legen Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion sagen. Es
ist schön, dass Sie, wie ich Sie hier erlebt habe, so für
(Beifall bei der LINKEN) Tarifverträge eintreten. Es ist gut, dass Sie diese Posi-
tion einnehmen und auch in Zukunft für Tarifverträge
Oskar Lafontaine (DIE LINKE): eintreten. Nur, beim Mindestlohn geht es überhaupt
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nicht um diese Position. Sie leben außerhalb der Realität.
ren! In diesem Hause werden drei Positionen zu dem Es gibt ganze Bereiche in Deutschland, wo die Tarifver-
heute zur Diskussion stehenden Thema vertreten. Ich träge überhaupt nicht mehr greifen und die Menschen
1520 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Oskar Lafontaine
(A) gar keinen tarifvertraglichen Schutz mehr haben. Des- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
halb brauchen wir Mindestlöhne. Mir geht es eigentlich nicht um die Verlängerung Ih-
rer Redezeit. Aber das muss ich wohl in Kauf nehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Heiterkeit)
Reden Sie doch nicht völlig an der Wirklichkeit vorbei!
Es ist unglaublich, was man sich hier teilweise anhören Sie reden ja so gerne über Tarifverträge. Nehmen Sie
muss. zur Kenntnis, dass das Land Berlin, in dem die PDS bzw.
Linkspartei mitregiert, Tarifflucht betrieben hat, und
Wir sind gespannt, was aus dem Gesäusel wird, das
stimmen Sie mir zu, dass hier auch öffentliche Aufgaben
von der Kanzlerin vorgetragen worden ist: Wir brauchen
durch 1-Euro-Jobs erfüllt werden?
Mindestlöhne; ich nähere mich diesem Projekt. – Irgend-
wann muss man sich entscheiden. Die betroffenen Men-
schen können nicht mehr warten. Sie sind bereits seit Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Jahren arbeitslos. Deshalb kann man dieses Thema nicht Herr Kollege, ich habe schon viele Wahlkämpfe ge-
in der Form ansprechen, wie Sie es getan haben. führt. Es ist rührend, dass Sie jetzt versuchen, Wahl-
kampf zu führen. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen,
(Beifall bei der LINKEN) dass der Tarifvertrag im Land Berlin, unter den der Kol-
Natürlich, Frau Kollegin Pothmer, gibt es Argumente lege Bsirske seine Unterschrift gesetzt hat, differenziert
für die Position der Grünen. Sie krankt aber daran, dass ausgestaltet ist und sogar dafür gesorgt hat, dass Solida-
differenzierte Mindestlohnregelungen letztendlich zu rität innerhalb des öffentlichen Dienstes verwirklicht
einem Lohn von 3,40 oder 3,90 Euro führen würden. werden konnte.
Wir lehnen dies schlicht ab. 3,40 oder 3,90 Euro stellen (Beifall bei der LINKEN)
in Deutschland keine Grundlage dafür dar, anständig le-
ben zu können. Hier unterscheiden wir uns von der Posi- Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, statt kleinkarierte
tion der Grünen. Fragen zu stellen, die einfach falsch sind.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – La-
chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was die Argumentation des Vorredners angeht,
8 Euro seien nun wirklich nicht vertretbar, so frage ich Ich komme zum Schluss: Die Bolkestein-Richtlinie,
mich, ob Sie nicht in der Lage sind, einmal über die die sich zurzeit im Parlament in der Diskussion befindet
Grenze zu schauen. In Frankreich liegt der Mindestlohn – sie ist ja noch nicht verabschiedet worden –, wurde
bei 8,13 Euro. Wieso stellen Sie sich also hierher und tun mittlerweile stark verwässert. Ich will mich gar nicht in
(B) so, als sei dies nicht machbar, als sei eine Massenabwan- die Diskussion darüber einmischen – so viel Zeit steht (D)
derung von Arbeitsplätzen die Folge? Sie betreiben eine mir auch gar nicht mehr zur Verfügung –, wer sich wo
Irreführung der Öffentlichkeit. Was andere europäische durchgesetzt hat. Nachdem nun aber die Bereiche So-
Länder können, können wir auch in Deutschland. Des- zialgesetzgebung und Verbraucherschutz herausgenom-
halb sind wir für den Mindestlohn. men worden sind, muss man schon genau hinsehen, was
hier eigentlich passiert.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Richtlinie stellt aber auf jeden Fall einen Grund
Eine letzte Bemerkung. dar, in Deutschland endlich einen Mindestlohn einzufüh-
(Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren. Sie wird nämlich nicht nur auf die Löhne Druck aus-
NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) üben, die sich unterhalb der Schwelle bewegen – das ist
in Gesamteuropa mittlerweile akzeptiert –, sondern auch
auf die Löhne, die sich über den Mindestlöhnen bewe-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
gen. Das wird bei dieser Diskussion immer ausgeklam-
Herr Kollege, würden Sie – – mert. Deutschland befindet sich mittlerweile in einer
Lohnabwärtsspirale. Es ist höchste Zeit, diese Spirale zu
Oskar Lafontaine (DIE LINKE): stoppen, wenn man überhaupt noch ein Herz für diejeni-
Ja, ich weiß, Herr Präsident. – Die Bolkestein-Richtli- gen hat, die den Euro mehrmals umdrehen müssen, weil
nie stellt für uns eine Herausforderung dar – – Ach, es sie nicht wissen, wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt
geht um eine Frage. Entschuldigung! bezahlen sollen.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie hätten beinahe leichtsinnig die Möglichkeit der
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Verlängerung Ihrer Redezeit ausgeschlagen und wir alle
hätten sagen können: Wir sind dabei gewesen. Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kolb
das Wort.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Vielen Dank für den Tipp, Herr Präsident. Ich sehe,
Sie sind fürsorglich. Schönen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege
Lafontaine, damit es sich nicht versehentlich in Ihren
Bitte schön, Herr Kollege. Köpfen festsetzt, will ich auf Folgendes hinweisen: Bei
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1521
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) der Gebühren- und Honorarordnung – das ist ein Selbst wenn man für staatlich festgesetzte Preise ist, ver- (C)
Thema, über das man sicherlich trefflich streiten kann – ehrter Herr Kollege, ist das für die FDP kein Ruhmes-
handelt es sich, wie Sie zu Recht gesagt haben, um eine blatt, weil Sie ja in jedweder staatlicher Festlegung von
Preisregelung. Wir reden hier über den Umsatz bei- Preisen ein Teufelswerkzeug sehen. Wieso haben Sie im
spielsweise einer Rechtsanwaltspraxis oder eines Archi- Bereich der Selbstständigkeit keine Probleme mit staat-
tekturbüros. lich festgesetzten Preisen?
Ich weiß, dass die Linken ein Problem damit haben, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
zwischen Umsatz und Gewinn zu unterscheiden.
Im Übrigen ist Ihr Hinweis schlicht und ergreifend
(Lachen bei der LINKEN) sachlich falsch. Wir haben Gebühren und Honorare. Die
Gebühren spiegeln – wenn man so will – die Preissteue-
Deshalb will ich noch einmal darauf eingehen. Von dem, rung wider. Honorare sind die Stundensätze. Bei Selbst-
was ein Rechtsanwalt erlöst, muss er noch die Miete für ständigen mit höheren Einkommen – da kommen Sie
die Kanzlei und die Löhne und Gehälter der Rechtsan- nicht raus – sind Sie für staatlich festgesetzte ordentliche
walts- und Notargehilfin zahlen. Der Kollege Gysi kennt Mindestlöhne, während Sie sie den Geringverdienern
das. Was am Schluss verbleibt – das hängt von vielen verwehren wollen. Das macht Ihre Unglaubwürdigkeit
Faktoren ab, auch davon, wie viele Fälle ein Rechtsan- aus.
walt hat –, stellt die Vergütung des Anwalts dar. Dass das
ein gewisser Unterschied ist, sollte man zur Kenntnis (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]:
nehmen. Sie handeln Ihre „Bild“-Zeitungshonorare
doch auch frei aus!)
Einmal nachrichtlich zu den Honorar- und Gebühren-
ordnungen: Die für Architekten sind seit Jahren nicht
mehr angepasst worden, die für Anwälte vielleicht, weil Präsident Dr. Norbert Lammert:
die eine relativ gute Lobby im Deutschen Bundestag ha- Nun haben sich außer dem Präsidenten auch noch
ben, Herr Kollege Gysi. Bei den Architekten ist das viele Kolleginnen und Kollegen, Herr Kollege
schwieriger. So üppig sind die Honorare jedenfalls nicht. Lafontaine, an der Vermehrung Ihrer Redezeit wirklich
tatkräftig beteiligt,
Ich will noch etwas anderes ausdrücklich festhalten:
Ich habe Ihre Anregung aufgenommen, erneut nachge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
rechnet – das war eigentlich nicht erforderlich, weil Sie
was ich wegen gelegentlicher Beschwerden noch einmal
es hier gesagt haben – und festgestellt: Die Linke will ei-
ausdrücklich festhalten möchte. Ich weise im Übrigen
nen Mindestlohn von 8 Euro. Sie verweisen auf Frank-
(B) reich. Das Problem ist nur, dass die Franzosen in der Re- aber schon jetzt darauf hin, dass ich weitere Kurzinter- (D)
ventionen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht mehr
gel einen Mindestlohn festlegen, diesen ins Schaufenster
zulassen möchte, weil wir zu Beginn eine Vereinbarung
legen, ihn dann jedoch mit sehr vielen Ausnahmen aus-
über die Gesamtdebattenzeit getroffen haben.
höhlen, sodass er in der Praxis nicht greift. Wenn wir in
Deutschland flächendeckend einen Mindestlohn von Nun erhält als nächste Rednerin die Kollegin Katja
8 Euro hätten, würde das einen Kahlschlag in vielen Be- Mast für die SPD-Fraktion das Wort.
reichen hervorrufen. Es würden wahrscheinlich Hun-
derttausende von Arbeitsplätzen in Bereichen entfallen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
in denen die Löhne heute deutlich unter diesem Mindest- der CDU/CSU)
lohn liegen. Deswegen kann man Ihrem Vorschlag nicht
mit gutem Gewissen und Verstand folgen. Katja Mast (SPD):
Vielen Dank. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat starten:
(Beifall bei der FDP)
(Dirk Niebel [FDP]: Auch von Marx?)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, bun-
Zur Erwiderung, Herr Kollege Lafontaine. deseinheitliche tarifliche Mindestlöhne in allen
Branchen zu vereinbaren.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist jedenfalls
Ich verstehe, dass die FDP Schwierigkeiten hat, wenn nicht Papst Leo XIII.!)
man sie mit ihrer Widersprüchlichkeit konfrontiert.
Soweit dies nicht erfolgt oder nicht erfolgen kann,
(Dirk Niebel [FDP]: Wir haben keine Schwie- werden wir Maßnahmen für einen gesetzlichen
rigkeiten!) Mindestlohn ergreifen.
Ich gehe zunächst einmal auf Ihren Beitrag ein, in Ich zitiere das SPD-Wahlkampfmanifest aus dem
dem Sie so tun, als ginge es nur um eine Preisfestset- Bundestagswahlkampf des letzten Jahres.
zung. Das ist sachlich falsch.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Daran haltet ihr
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Kollege euch doch sonst nicht! – Dirk Niebel [FDP]:
Gysi hat genickt!) Was stand darin zur Mehrwertsteuer?)
1522 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Katja Mast
(A) Es macht deutlich, dass die SPD in Gänze hinter dem Selbst der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und (C)
Ziel steht: Wer arbeitet, muss auch davon leben können. Verdi-Chef Frank Bsirske legen sich auf einen Betrag
darunter fest, nämlich 7,50 Euro. Aber ich frage mich:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sollen wir nun einen Wettlauf starten, in dem jeder eine
Unser Parteivorsitzender, Matthias Platzeck, hat völlig andere Zahl nennt und die höchste ist die beste Zahl?
Recht, wenn er fordert, existenzsichernde Löhne in
Deutschland zu garantieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Mein persönliches Verständnis von Politik sagt mir: Das
Heute diskutieren wir im Bundestag über existenzsi- ist falsch. Es geht um differenzierte Lösungen, die die
chernde Löhne. In jedem Gespräch mit Bürgerinnen und Tarifautonomie berücksichtigen.
Bürgern wird die Sorge deutlich: Ein Arbeitstag rund um
die Uhr, ohne den eigenen Kindern eine Ausbildung er- Hilfreich finde ich auch einen Blick über die Grenzen.
möglichen zu können! Es gibt viele Beispiele, die eines 18 von 25 EU-Mitgliedstaaten haben einen Mindest-
deutlich zeigen: Unser Handeln als Volksvertreter ist lohn, davon sind 16 gesetzlich festgelegt. In Großbritan-
dringend notwendig. Insgesamt gibt es in Deutschland nien, zum Beispiel, liegt der Mindestlohn unter
zurzeit 3 Millionen Menschen, die Vollzeit arbeiten und 7,50 Euro. Mindestlohn – dies ist vielleicht für die Kol-
dennoch unter der Armutsgrenze leben. Ich weiß nicht, leginnen und Kollegen von der FDP sehr wichtig – ist
ob Sie sich alle vorstellen können, was das heißt, aber schon längst ein international akzeptiertes Instrument als
ich denke, die meisten hier im Haus wissen das. Antwort auf die Globalisierung.
Es gibt Menschen in Deutschland, die bei einer Vier- (Beifall bei der SPD)
zigstundenwoche weniger als 600 Euro brutto verdienen,
zum Beispiel ein Angestellter im Gartenbau in Sachsen Wie soll nun die Höhe des Mindestlohns in Deutsch-
mit einem Stundenlohn – wenn ich Sie jetzt schätzen land aussehen? Wir in der SPD sind der Meinung: Sie
ließe, würden Sie nie auf diesen Stundenlohn kommen – muss die Regelungen der Tarifautonomie berücksichti-
gen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir können das
ausrechnen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

von 2,74 Euro. Das sind 438 Euro brutto im Monat. Ein Das ist ein komplexes System, aber es hat sich in der Pra-
Friseur in Thüringen bekommt 3,18 Euro pro Stunde. xis bewährt. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion setzen
uns deshalb mit den Gewerkschaften zusammen und dis-
(B) (Dirk Niebel [FDP]: Wer hat die Tarifverträge kutieren über Modelle. Unser Ziel ist es, ausgehend von (D)
unterschrieben?) spezifischen Bedürfnissen der Branchen und auch der Re-
Nur zum Vergleich: Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger gionen, Instrumente zu entwickeln, die existenzsichernde
bekommt inklusive Zuschuss zu Miete und Heizkosten Löhne garantieren. Dort, wo es Tarifverträge gibt, sollen
maximal 665 Euro. diese für die gesamte Branche gelten. Das erreichen wir
durch das Entsendegesetz oder die Allgemeinverbind-
Durch die Freizügigkeit in Europa hat sich unser Ar- lichkeitserklärung. Dort, wo es keine Tarifverträge gibt,
beitsmarkt verändert. Jeder Europäer kann vom Grund- brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn, der sich
satz her überall in der Europäischen Union arbeiten. ebenfall an den Besonderheiten orientiert.
Aber in den einzelnen europäischen Staaten sind die
Lohnunterschiede enorm. Für uns in Deutschland stellt Dieses komplexe System macht allerdings auch deut-
sich nun die Frage: Wollen wir uns an das Lohnniveau in lich, dass ein Schnellschuss hierbei alles andere als sinn-
Polen, Rumänien oder Portugal anpassen? In Rumänien voll ist. Wir sind uns sicher, dass wir sowohl in der Zu-
beispielsweise sind Monatslöhne von 150 Euro keine sammenarbeit mit den Gewerkschaften als auch in
Seltenheit. Wir von der SPD wollen uns daran nicht an- unserer Koalitionsarbeitsgruppe zu guten Ergebnissen
passen. kommen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Woher kommt diese Sicherheit? Die Zahl der Befür-
der CDU/CSU) worter einer Neuregelung nimmt auch in konservativen
Kreisen zu.
Denn sonst wäre die Sorge der Menschen berechtigt. So-
wohl unser Wohlstand als auch unser Sozialstaat basie- (Dirk Niebel [FDP]: Ach!)
ren auf dem Prinzip: Wer arbeitet, muss davon seine
Existenz sichern können. Gute Lösungen brauchen Zeit. Diese Zeit wollen wir uns
in diesem Jahr nehmen.
Nun ist natürlich die Frage spannend, wie hoch ein
existenzsichernder Lohn sein soll. Unsere Kolleginnen Wie gesagt, es gibt in der Europäischen Union bereits
und Kollegen von der PDS haben sich festgelegt: Min- 18 Länder mit einem Mindestlohn. Ab nächstem Jahr
destens 8 Euro per Gesetz lautet ihre Forderung. Aber so sind es 19. Denn dann gehören wir dazu. Das sind wir
einfach ist die Welt nicht. den Menschen schuldig, die darauf angewiesen sind.
(Jörg Tauss [SPD]: Die machen es sich immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
einfach!) der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1523

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: wodurch die Menschen die Chance hätten, wieder am (C)
Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
FDP-Fraktion.
(Andrea Nahles [SPD]: Was ist denn mit dem
(Beifall bei der FDP – Dr. Gregor Gysi [DIE Steuerfreibetrag? Sagen Sie dazu auch mal et-
LINKE]: Jetzt sind wir gespannt!) was!)
Indem man aber einen staatlich festgelegten Mindest-
Dirk Niebel (FDP): lohn einführt, greift man in die Tarifautonomie ein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Frau Mast hat bereits angedeutet, dass in all den Berei-
Herren! Herr Gysi, wer Mindestlöhne festlegt, der wird chen, in denen es keinen Tarifvertrag gibt, ein staatlicher
als nächsten Schritt auch die staatlichen Brot- und But- Mindestlohn eingeführt werden soll. Hier widersprechen
terpreise haben. Sie sich selbst. Sie haben ja vorgelesen, wie hoch die Ta-
riflöhne sind. Auch ich habe mich darüber informiert.
(Zurufe von der LINKEN: Oh!)
Teilweise ist es wirklich beängstigend, zu sehen, welche
Denn beidem liegt das gleiche Prinzip zugrunde. Deswe- Regelungen die Tarifvertragsparteien, also auch die Ge-
gen ist Ihr Antrag nicht zielführend. werkschaftsfunktionäre, die Ihrer Partei angehören, un-
terschrieben haben. So gibt es zum Beispiel im privaten
Das Grundproblem in Deutschland ist ein ganz ande- Transport- und Verkehrsgewerbe in Mecklenburg-Vor-
res – es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung in pommern einen Tariflohn in Höhe von 3,91 Euro. Jeder
dieser Debatte überhaupt nicht das Wort ergreift –: Das weiß, dass man in Deutschland nicht von einem solch
Grundproblem besteht darin, dass viel zu viele Men- niedrigen Stundenlohn leben kann.
schen in einer dauerhaft gefestigten Arbeitslosigkeit ver-
harren müssen. Aber man kann das Steuersystem auf vernünftige Art
und Weise so organisieren – das hat auch der Herr Bun-
Weshalb ist das so? 2 Millionen Menschen bzw. despräsident Anfang dieses Jahres im „Stern“ vorge-
39 Prozent der Arbeitslosen sind gering qualifiziert. Die schlagen; wir führen ja nachher noch eine Debatte
hohe Sockelarbeitslosigkeit, Herr Gysi, ist das Ergebnis dazu – und zu einem negativen Einkommensteuersystem
der in den vergangenen Jahrzehnten gut gemeinten und kommen, dass jemand sowohl durch Arbeit Geld verdie-
durchgeführten Sockellohnerhöhungen, bei denen die nen als auch ohnehin vorhandene Transferleistungen be-
Löhne der unteren Lohngruppen deutlich höher – über- ziehen kann, ohne dass durch Mitnahmeeffekte bei den
proportional – angehoben worden sind als die Löhne der Arbeitgebern die Arbeitsplätze „downgegradet“ werden.
anderen. Das war gut gemeint, aber man hat damit die
(B) Menschen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt; denn der (Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer (D)
Preis für ihre Leistung war plötzlich zu hoch. Diese Zwischenfrage)
Leistung wurde dann im Inland oder als legale Leistung – Herr Präsident, falls Sie Herrn Tauss nicht sehen,
nicht mehr nachgefragt. Dass die Schattenwirtschaft mit- möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass er mich
tlerweile ein geschätztes Volumen von 346 Milliarden etwas fragen möchte. Ich würde mich auch fragen las-
Euro hat, ist unter anderem ein Ergebnis dieser gut ge- sen.
meinten Sockellohnerhöhungen;
(Vereinzelt Heiterkeit)
(Beifall bei der FDP)
denn der Faktor Arbeit ist darüber hinaus viel zu stark Präsident Dr. Norbert Lammert:
durch Steuern und Abgaben belastet. Es ist ja sehr schwer, Herrn Tauss nicht zu sehen.
Wenn ich höre, was insbesondere vonseiten der So- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihn nicht zu hören,
zialdemokratie gesagt wird, dann muss ich mich sehr das ist auch sehr schwer, Herr Präsident!)
wundern: Einerseits beklagen Sie, dass die Menschen zu
wenig Geld haben, andererseits tragen Sie die Merkel- Dirk Niebel (FDP):
Münte-Steuererhöhung, die Mehrwertsteuererhöhung
Das ist wohl wahr, ja.
um 3 Prozentpunkte, mit, wodurch Sie den Menschen
noch mehr Geld aus der Tasche ziehen. (Jörg Tauss [SPD]: Herr Niebel würde mich
doch nie übersehen!)
(Beifall bei der FDP sowie des Abg.
Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, warum Deswegen erweckt Ihre Nachfrage unnötigerweise
Sie nicht den umgekehrten Weg gehen: Sie sollten versu- den Eindruck einer bestellten Zwischenfrage. Dass dem
chen, die Menschen zu entlasten und dafür zu sorgen, so ist, möchte ich ausdrücklich ausschließen. Aber ich
dass ihnen von ihrem selbst verdienten Geld mehr übrig vermute, dass Sie die Zwischenfrage des Kollegen Tauss
bleibt. Dann könnten sie investieren und konsumieren. genehmigen möchten.
Dann könnten auch neue Arbeitsplätze geschaffen wer-
den,
Dirk Niebel (FDP):
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist für die ja Ich würde mir diese Freude nie entgehen lassen, Herr
viel zu einfach!) Präsident.
1524 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dirk Niebel
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch gut ansehen, werden Sie das ebenfalls feststellen. Aber nun (C)
so! Der Kollege Tauss möchte nämlich etwas sollten Sie sich einfach hinsetzen und sich um Ihre eige-
lernen!) nen Probleme kümmern.
(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir
Jörg Tauss (SPD): haben doch gar keine! – Weitere Zurufe von
Lieber Herr Niebel, Ihre Freude wird sich noch stei- der SPD: Buh! Buh! – Jetzt geht es aber los! –
gern. Ich will Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit mir eine Dr. Heinrich L. Kolb [FDP], zu Abg. Jörg
Wette abzuschließen, und zwar darüber, ob es in den Tauss [SPD] gewandt: Also, Herr Tauss, ich
letzten Jahren Sockellohnerhöhungen gegeben hat oder nehme Ihre Wette an, wenn sie sich auf die
nicht. Wenn Sie mir beweisen können, dass es in einem letzten 15 Jahre bezieht!)
Tarifvertrag in den letzten Jahren zu Sockellohnerhöhun-
gen gekommen ist, also zu Tariferhöhungen, von denen Ein Aspekt wurde gar nicht beachtet: das
die unteren Lohngruppen überproportional profitiert ha- Arbeitslosengeld II. Sie haben das Arbeitslosengeld II
ben, würden Sie von mir eine Kiste unseres guten nord- als soziokulturelles Existenzminimum eingeführt. Im
badischen Weins bekommen, Rahmen des Vermittlungsverfahrens wurde richtiger-
weise festgestellt, dass jede legale Arbeit zumutbar ist.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was heißt denn (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP], zu Abg. Andrea
„in den letzten Jahren“? Welchen Zeitraum Nahles [SPD] gewandt: Frau Nahles, Sie soll-
meinen Sie denn genau?) ten lieber zuhören! Der Kollege Niebel möchte
Ihnen nämlich etwas Wichtiges sagen!)
und wenn Sie diesen Nachweis nicht erbringen können,
müssten Sie mir eine Kiste geben. Wären Sie bereit, Mit dem Arbeitslosengeld II, bei dessen Berechnung
diese Wette mit mir abzuschließen, damit wir dieses Sie leider immer vergessen, die Wohn- und Energiekos-
Thema im Deutschen Bundestag künftig nicht mehr auf ten einzubeziehen, gibt es bereits einen staatlich festge-
diese Art und Weise erörtern müssen? legten Mindestlohn. Wenn Sie nun einen Anreiz dafür
schaffen wollen, dass die Betroffenen aus dem Bezug
Dirk Niebel (FDP): von Transferleistungen herausgehen, dann müssen Sie
Lieber Herr Kollege Tauss, da ich weiß, dass Sie den den Mindestlohn, den Sie neu einführen wollen, deutlich
guten nordbadischen Wein nach den Landtagswahlen am höher als das Arbeitslosengeld II ansetzen. Denn ande-
26. März dringender benötigen werden als ich, werde ich renfalls hätte das den Effekt, dass kein Mensch einen
diese Wette nicht annehmen; wirtschaftlichen Anreiz hätte, statt des Bezugs einer
(B) Transferleistung eine Arbeitsstelle anzunehmen. (D)
(Jörg Tauss [SPD]: Warum denn das nicht?)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)
denn Sie haben von den „letzten Jahren“ gesprochen.
Diese Formulierung ist zunächst einmal zu definieren. Wir wollen doch nicht dauerhaft eine Gesellschaft von
Taschengeldempfängern organisieren, in der den Men-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so ist es! schen zuerst womöglich alles Selbstverdiente wegge-
Meinen Sie die letzten 15 Jahre oder welchen nommen und ihnen dann etwas zugeteilt wird. Wir wol-
Zeitraum? – Zurufe von der SPD: Das ist doch len den Menschen die Möglichkeit geben, durch eigener
bloß eine Ausrede! – Jetzt weicht er aus! – Hände Arbeit wieder ein Bestandteil der Gesellschaft zu
Spielverderber!) werden und ihren Lebensunterhalt – wenigstens teil-
– Wenn Sie mir eine Frage stellen, müssen Sie auch mit weise – selbst zu verdienen. Das hat etwas mit der
meiner Antwort leben. Würde der Betroffenen zu tun; darum muss es uns ge-
hen.
(Jörg Tauss [SPD]: Dass ich nicht lache!)
(Beifall bei der FDP)
– Sie können mich fragen, was Sie wollen, und ich kann
Ihnen antworten, was ich will; so handhaben wir das. Vor dem Hintergrund der heutigen Debatte fordere ich
Sie noch einmal eindringlich auf: Kehren Sie um! Ver-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP], zu Abg. Jörg lassen Sie den Weg, die Bürger immer weiter abzukas-
Tauss [SPD] gewandt: Wenn es Ihnen um die sieren! Fangen Sie damit an, dass Sie wenigstens auf die
letzten 15 Jahre geht, nehme ich Ihre Wette an, Merkel/Münte-Steuererhöhung verzichten.
Herr Tauss!)
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
Wenn Sie sich die Entwicklung der Arbeitslosenquote
in der Bundesrepublik Deutschland ansehen, werden Sie Sorgen Sie dafür, dass in diesem Land investiert und
feststellen, dass die Massenarbeitslosigkeit, die sich seit konsumiert werden kann! Nur das schafft Arbeitsplätze
dem Ölpreisschock gerade im Bereich der gering Quali- und nur das bringt die Menschen aus der Sockelarbeits-
fizierten verfestigt hat, das Ergebnis der Sockellohnerhö- losigkeit heraus, die unter anderem Sie, Herr Tauss,
hungen ist, zu denen es damals gekommen ist. durch Ihre falsche Tarifpolitik mit zu verantworten ha-
ben.
(Jörg Tauss [SPD]: Nein!)
Vielen herzlichen Dank.
Wenn Sie sich die Tarifverträge, die im öffentlichen Sek-
tor in den letzen 15 Jahren abgeschlossen worden sind, (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1525

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- (C)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Hiller- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Heinrich L.
Ohm für die SPD-Fraktion. Kolb [FDP]: Na, na! Die rot-grüne Zeit ist vor-
bei!)
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Aber man merkt, dass er mit heißer Nadel gestrickt ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
glaube, es war Mitte 2004, als Franz Müntefering mit NEN]: Dabei haben wir so lange daran gear-
seiner Forderung nach Mindestlöhnen die Republik in beitet!)
Aufregung versetzt hat. Inzwischen hat sich der Pulver-
dampf zum Glück verzogen. Bei einem so wichtigen Thema sollten wir uns aber die
nötige Zeit nehmen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt regt sich
die Republik über andere Dinge auf!) Wir lehnen beide Anträge ab.

Ich erinnere mich noch sehr genau an die Bundestags- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
debatte über Mindestlöhne im letzten Jahr, NEN]: Aber aus Prinzip!)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Münte immer im Minister Müntefering hat angekündigt, bis zum Herbst
Mittelpunkt!) einen Vorschlag zu Kombi- und Mindestlöhnen vorzule-
gen. Im Koalitionsvertrag haben wir verabredet, die
als wir mit den Grünen das Entsendegesetz entsprechend Lohnstrukturen am Arbeitsmarkt gemeinsam unter die
anpassen wollten. Schade, dass die PDS zu diesem ihr Lupe zu nehmen, Kombilohnmodelle zu prüfen und da-
doch so wichtigen Thema damals nichts zu sagen hatte: bei auch das Thema Mindestlohn anzupacken. Ich bin
Kein einziges Wort zum Mindestlohn in dieser Debatte! zuversichtlich, dass uns hier etwas Gutes gelingen wird.
Heute lehnen Sie sich dafür umso weiter aus dem Fens- Denn in den Reihen der Union ist Bewegung zu erken-
ter. Voran bringt uns Ihr Schnellschussantrag leider nen.
nicht. Mit Ihrer pauschalen Forderung von 8 Euro für
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? – Dirk
alle Tätigkeiten lassen sie die Vielschichtigkeit des The-
Niebel [FDP]: Das nennt sich auch Eiertanz! –
mas vollkommen außer Acht. Die Sorge ist aber berech-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Laufen im
tigt, dass mit einem beliebig gegriffenen Mindestlohn
Kreis ist auch eine Bewegung!)
– nach dem Prinzip Hoffnung – großer Schaden ange-
richtet werden kann. Was wir brauchen, sind differen- Wenn der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium
(B) zierte und möglichst branchenspezifische Lösungen. Würmeling offen anspricht, dass er glaubt, dass wir in (D)
mehr Branchen in Deutschland Mindestlöhne bekom-
Informieren Sie sich doch einmal bei den Gewerk- men, und betont, dass auch er dafür sei, dann ist das eine
schaften! Diese haben inzwischen einen dreistufigen An- gute Verhandlungsgrundlage.
satz zum Schutz vor Lohndumping entwickelt: An ers-
ter Stelle Tarifverträge, an zweiter die Ausweitung des Diese Aussicht kann Sie, meine Herren von der FDP
Entsendegesetzes – mit dem Vorteil, dass nicht der Ge- – Damen sind keine mehr da, obwohl gerade Frauen die-
setzgeber, sondern die Tarifparteien selbst die Mindest- ses Thema enorm interessieren müsste –, natürlich nicht
löhne vereinbaren – und an dritter Stelle gesetzliche befriedigen.
Mindestlöhne. Ich finde diesen Ansatz gut. Er kommt
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
unseren Vorstellungen sehr entgegen. Ihnen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Linkspartei, sind die Lö- Bei Ihnen ist keinerlei Bewegung zu erkennen. Ich frage
sungsvorschläge der Gewerkschaften in dieser für die Sie: Warum lösen Sie sich nicht endlich aus Ihrer ideolo-
Menschen im Niedriglohnbereich so wichtigen Frage of- gischen Totenstarre und nehmen zur Kenntnis, dass
fensichtlich egal. Deutschland und Europa nicht nur aus Wettbewerb pur
bestehen? Hier leben Menschen, die ein Recht auf Teil-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten habe, Chancengleichheit und natürlich auch existenz-
der CDU/CSU) sichernde Löhne haben. Die Menschen können frei wäh-
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, wird man das Ge- len, wo in Europa sie leben und arbeiten wollen. Wir
fühl nicht los, dass Sie Angst vor der eigenen Courage müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen
haben. Wie sonst kann es sein, dass Sie Übergangsrege- stimmen.
lungen für kleine und mittlere Unternehmen einführen Wir haben gerade erlebt, was passiert, wenn wir nicht
wollen, die damit überfordert sind, 8 Euro die Stunde zu aufpassen und den Rahmen nicht richtig setzen. Dann
zahlen?! Wie lange sollen solche Übergangsfristen gel- verlieren die Menschen das Vertrauen in die Politik. Sie
ten und wer soll das alles kontrollieren? Dazu finde ich wenden sich von einem Europa ab, das ihnen das Gefühl
in Ihrem Antrag kein einziges Wort. vermittelt, Verlierer zu sein. Der massive Protest der Be-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wovon leben die völkerung gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie hat
Menschen in der Zwischenzeit?) gezeigt: Markt ist nicht alles, er kann nur in Überein-
stimmung mit guten Standards im Sozial- und Arbeits-
Zum Antrag der Grünen. Ich will eine gewisse Sym- recht funktionieren. Mindestlöhne sind hier ein wichti-
pathie für Ihren Antrag nicht verhehlen. ger Baustein.
1526 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Gabriele Hiller-Ohm
(A) Herr Niebel, das ist auch ganz unabhängig von der Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Mehrwertsteuererhöhung. Frau Kollegin.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, nein,
nein!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Über die Verstaatlichung der Bierpreise und die
Mit oder ohne Mehrwertsteuererhöhung: Wir brauchen Mehrwertsteuer reden wir dann ein anderes Mal.
Mindestlöhne.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk
(Dirk Niebel [FDP]: Aber Sie brauchen wegen Niebel [FDP]: Dass ich nur einen flotten
der Mehrwertsteuererhöhung 3 Prozent höhere Spruch gemacht habe, stimmt nicht! Das war
Löhne!) mehr als nur einmal im Oktober!)
Herr Niebel, stellen Sie also endlich Ihre Nebelmaschine
ab. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
(Beifall bei der SPD) Kollege Laurenz Meyer das Wort.
Inzwischen begreifen das immer mehr: Wissenschaft- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L.
ler, Gewerkschafter und zum Glück auch unser neuer Kolb [FDP]: Ich hoffe, er stellt diese Sache,
Koalitionspartner. die von der SPD gekommen ist, jetzt klar!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na, na!) Als Vertreter einer einschlägig ausgewiesenen Region
wird er die Frage nach der Entwicklung der Bierpreise
Die FDP hingegen verteufelt den Mindestlohn als maxi- sicher abschließend beantworten.
malen Unsinn. Herr Brüderle spricht vom Antikapitalis-
mus der Sozialdemokraten, der sich in dieser Frage of- (Heiterkeit im ganzen Haus)
fenbare, und erschrickt über die Sozialdemokratisierung
der Union, die sich in erschreckendem Tempo fortsetze. Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
(Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
das Thema Bierpreise werde ich mich hier überhaupt
Frau Merkel wandele in dieser Frage inzwischen gar auf nicht kaprizieren. Ich schlage vor, dass wir das Thema
den Spuren von Marx und Co. Mindestlohn so angehen, wie wir viele andere Themen
auch angehen,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
(B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also gar nicht!) (D)
Also ehrlich: Wenn es denn so wäre und wenn es den
Menschen dann nützt: Ich könnte nichts Schlechtes da- dass wir uns in Europa umschauen und uns ansehen, was
ran finden, Herr Niebel. dort funktioniert und was dort aus unserer Sicht mögli-
cherweise auch nicht funktioniert.
(Beifall bei der SPD)
Zunächst einmal muss ich dabei feststellen: In 19 von
Meine Damen und Herren von der FDP: Sie sollten 25 Ländern gibt es einen Mindestlohn. Als Zweites stelle
sich einmal fragen, warum Sie mit Ihrer Einstellung zum ich fest – darauf hat der Kollege Brauksiepe schon hin-
Mindestlohn zunehmend alleine stehen. Ich will es Ihnen gewiesen –, dass die Unterschiede in Europa riesengroß
sagen: Sie haben sich zu weit von den Lebenswirklich- sind: Der Mindestlohn bewegt sich innerhalb der EU
keiten der Menschen entfernt. zwischen 1 300 Euro und 120 Euro. Deswegen werden
wir uns das ansehen und schauen, ob andere es richtig
(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Das machen. Wenn es Möglichkeiten gibt, zu sinnvollen Lö-
glaube ich nicht! – Dr. Heinrich L. Kolb sungen zu kommen, werden wir sie nutzen.
[FDP]: Das nehmen Sie jetzt sofort zurück!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir brauchten
Herr Niebel, Sie haben im Oktober einen flotten Spruch keine andere Regierung, sondern eine bessere
losgelassen. Koalition!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wieso im Okto- Während ich mir heute die Debatte hier angehört
ber? Das macht er ständig! – Dirk Niebel habe, habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass auf
[FDP]: Wieso denn nur einen?) allen Seiten ideologisch schon richtig abgerüstet worden
ist. Bei der Rede von Herrn Gysi und durch den Antrag
Mit Blick auf die SPD haben Sie gesagt: der Linken habe ich etwas Bemerkenswertes erfahren.
Wer heute Mindestlöhne fordert, verlangt morgen Wenn ich Journalist wäre, dann würde ich mich bezüg-
staatlich festgelegte Bierpreise. lich der Rechnung von Herrn Gysi, mit der er auf seinen
Mindestlohn gekommen ist, nicht nur auf die 8 Euro,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) sondern auch auf die 40 Stunden konzentrieren. Als
Überschrift würde ich schreiben: Gysi fällt Bsirske in
Herr Kollege, richtig muss der Satz lauten: Wer heute den Rücken und akzeptiert die 40-Stunden-Woche.
Mindestlöhne fordert, setzt sich für die Menschen ein,
die von ihrer Hände Arbeit leben müssen und dafür ihren (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der
gerechten Lohn verlangen. – Das tun wir, Herr Niebel. SPD und der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1527
Laurenz Meyer (Hamm)
(A) Das ist die erste Botschaft des heutigen Tages und wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
sollten sie festhalten. der FDP)
Ich komme nun zu dem, was Herr Lafontaine und Aber die Fragestellung, die hinter dem steht, was wir
Herr Gysi über Anwälte und Architekten gesagt haben. hier diskutieren, ist, offen ausgesprochen, ob wir Gefahr
Herr Lafontaine, Herr Gysi, wenn Anwälte anders als laufen wollen, dass die 20 Prozent der Arbeitnehmer, die
Sie nur einen Auftrag in der Woche haben, möglicher- heute weniger als 1 300 Euro verdienen, arbeitslos wer-
weise noch von einem Mandanten mit weniger Geld, den, wenn wir den Mindestlohn bei 1 300 Euro ansetzen.
dann ist das für den Mandanten zwar gut, dass er einen
festen Satz bezahlen muss, aber nicht für den Anwalt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt hat er es!)
Deswegen ist dieses ganze Gerede einfach nur Klassen- Diese Fragestellung müssen wir diskutieren, bevor wir
kampf pur. Hier müssen wir uns fragen: Was wollen Sie Lösungen zustimmen.
damit für die Menschen erreichen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir müssen sicher sein, dass dieser Effekt nicht eintritt,
In der Bauwirtschaft gilt das Arbeitnehmer-Entsen- und wir müssen den Menschen helfen, ihren Arbeitsplatz
degesetz. Wir wissen aber auch, was in diesem Bereich zu behalten. Wir dürfen sie nicht behindern oder durch
passiert. Das brauchen wir uns nur in Ruhe anzusehen. gut gemeinte Regelungen ihren Arbeitsplatz gefährden.
Wenn einer staatlichen Stelle – Frau Nahles, selbst Ge-
werkschaften –, die einen Bauauftrag zu vergeben hat, Bei einem anderen Punkt, den Sie genannt haben, will
ein Angebot mit ausschließlich deutschen Kräften für ich Ihnen aus vollem Herzen widersprechen. Sie haben
10 Millionen Euro und ein anderes Angebot mit Sub- gesagt: Lohn hat etwas mit Würde zu tun.
unternehmen aus dem Ausland für 8 Millionen Euro vor-
(Dirk Niebel [FDP]: Nein, Arbeit hat etwas
liegt, dann ist die Versuchung offensichtlich groß – für
mit Würde zu tun!)
staatliche Stellen wie für Gewerkschaften wie für Ar-
beitgeber –, das Angebot mit den Subunternehmen für Ich sage Ihnen: Arbeit hat etwas mit Würde zu tun. Ob
8 Millionen Euro anzunehmen. Damit sind die ganzen jemand eine Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen
Regelungen ausgehebelt und wir haben ein Problem. hat, hat etwas mit Würde zu tun.
Wenn dann noch die Arbeitszeiten nicht kontrollier- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk
bar sind und die betreffenden Arbeitnehmer bei gleichen Niebel [FDP]: Habt ihr das im Koalitionsaus-
Löhnen fünf Stunden mehr arbeiten als die deutschen schuss besprochen?)
(B) Arbeitnehmer oder sogar Mieten für miserable Unter- (D)
künfte bezahlen, wenn ihnen noch die Löhne wegge- – Über diese Überlegungen werden wir sprechen.
nommen werden, dann ist uns allen nicht geholfen. Da- Selbstverständlich wollen wir, dass Arbeit – der Kol-
mit müssen wir uns beschäftigen. Deswegen müssen wir lege Brauksiepe hat darauf hingewiesen – insgesamt so
mögliche Regelungen kritisch hinterfragen, ehe wir sie entlohnt wird, dass ein Mensch davon leben kann. Wenn
als Lösung akzeptieren. es unter den Bedingungen in Deutschland wegen der
(Beifall bei der CDU/CSU) Produktivität des Einzelnen nicht möglich ist, dass sein
Lohn ausreicht, dann wollen wir ihn mit staatlichen
Auch bei uns gibt es Mindestlöhne. Wir haben den Transferleistungen aufstocken. Es sollte nicht so sein,
Mindestlohn beim Arbeitslosengeld II in vielen Fällen dass jemand ausschließlich von Transferleistungen lebt;
aufgestockt. Arbeitslosengeld-II-Empfänger können ei- vielmehr geht es um eine Kombination von Arbeitsein-
nen 400-Euro-Job oder 1-Euro-Job annehmen, sodass im kommen und Transferleistungen.
Grunde genommen eine Lohnhöhe vorgegeben ist. Je-
mand, der rational denkt, wird sich also fragen: Nehme Schauen Sie sich einmal an, wie viele Menschen
ich jetzt eine Arbeit an oder kombiniere ich das mit heute einen 1-Euro-Job annehmen wollen, wie die Zahl
Schwarzarbeit? So ist die Situation. der Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen und ei-
nen 400-Euro-Job haben, angestiegen ist. Da passiert
Frau Nahles, ich will es für uns noch ein bisschen einiges. Gleichzeitig sehen wir, dass es natürlich eine
komplizierter machen. Sie haben gesagt, jedem fünften Verlockung ist, neben dem 400-Euro-Job schwarzzuar-
Arbeitnehmer in Ostdeutschland stehen weniger als beiten. Frau Nahles, auch Sie haben sicherlich schon
1 400 Euro zur Verfügung. festgestellt, dass es sehr schwer ist, Schwarzarbeit in
(Andrea Nahles [SPD]: Unter 1 300!) Kombination mit einem 400-Euro-Job zu kontrollieren,
weil die Betreffenden bei einer Kontrolle erklären, dies
– Gut, also unter 1 300 Euro. Das ist aber für das, was sei der erste Tag ihres 400-Euro-Jobs.
ich ausdrücken will, nicht entscheidend. Jeder von uns
ist sicherlich der Meinung, dass 1 300 Euro nicht viel Dabei dürfen wir uns nicht von ideologischen Vorstel-
sind. lungen leiten lassen, sondern es geht in der Diskussion
darum: Was wollen wir erreichen?
(Andrea Nahles [SPD]: Brutto!)
Wir wollen erreichen, dass Menschen Arbeit bekommen
– Brutto. Natürlich gönnen wir es jedem, dass er mehr und dass die Mitnahmeeffekte in diesem Prozess auf ein
als nur diese Summe verdient. Minimum reduziert werden.
1528 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Laurenz Meyer (Hamm)


(A) Wir sollten insofern – wie es meines Erachtens heute Ich möchte mich bei allen Beteiligten im Gesund- (C)
bei manchen der Fall war – nicht nur aus der Sicht derer heitswesen bedanken, die unsere Diskussion aktiv und
diskutieren, die bereits Arbeit haben, sondern auch aus konstruktiv begleitet haben.
der Sicht derjenigen, die Arbeit suchen. Wir haben das
Problem, dass die Hälfte der Arbeitslosen Langzeitar- Es gibt im Gesundheitswesen aber auch Interessen-
beitslose sind. Viele von ihnen haben keine Berufsaus- vertreter – insbesondere unter der Ärzteschaft –, die
bildung und auch keinen Schulabschluss. Damit wird durch irreführende Behauptungen die Patienten massiv
sich die CDU/CSU-Fraktion nicht zufrieden geben. verunsichern.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Wol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
len wir, dass diese Zahlen immer weiter steigen, weil wir der CDU/CSU)
nichts tun, oder wollen wir zumindest den ernsthaften Ein solches Verhalten ist unredlich und in intellektueller
Versuch machen, auch diesen Menschen in Deutschland Hinsicht manchmal schon eine Zumutung. Aber solche
wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu bieten? Argumentationen werden sich letztlich gegen die Urhe-
Darum geht es – um nicht mehr und nicht weniger.
ber selbst richten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich kann die Patientinnen und Patienten nur ermuti-
neten der SPD und der FDP)
gen, sich nicht beirren zu lassen. Sie bekommen nach
wie vor die für ihre Behandlung notwendigen Medika-
Präsident Dr. Norbert Lammert: mente.
Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei der SPD)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/398 und 16/656 an die in der Gelegentlich kann es dazu kommen, dass der Arzt ein
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. anderes Medikament verordnet als früher. Das ist aber
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig der nicht schlimm. Sie kennen das bereits aus dem Bereich
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. der rezeptfreien Medikamente: Wenn Sie zum Beispiel
wegen einer starken Erkältung eine Apotheke aufsuchen,
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 18:
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie machen
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
hier Werbung!)
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der dann können Sie Aspirin, Acesal oder ASS kaufen. Das
Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversor- sind verschiedene Medikamente zu unterschiedlichen
(B) gung Preisen, die aber denselben Wirkstoff enthalten. (D)
– Drucksache 16/194 – (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Werbung!)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Ich mache keine Werbung, sondern ich habe alle ein-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss) schlägigen Medikamente aufgeführt. –
– Drucksache 16/691 – (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nicht alle!)
Berichterstattung: Eine ähnliche Regelung wird in Zukunft auch bei den re-
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer zeptpflichtigen Medikamenten gelten.
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Etwa 45 Prozent der Ausgabensteigerung werden
der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
durch einen Wechsel zu teureren, aber nicht wirksame-
Bündnisses 90/Die Grünen vor.
ren Medikamenten verursacht. Der Arzt entscheidet,
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die welches Medikament der Patient erhält. Er trägt die Ver-
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Auch antwortung für eine wirtschaftliche Arzneimittelthera-
das ist offensichtlich einvernehmlich. pie. Er hat den Stift in der Hand. Eine gesetzliche Rege-
lung, die genau an dieser Stelle ansetzt, ist daher
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Dr. Marlies Volkmer für die SPD- überfällig. Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist die
Fraktion. Steuerung der Arzneimittelausgaben über eine Len-
kung des ärztlichen Verordnungsverhaltens sehr wohl
möglich. Das zeigt der Blick auf die regionalen Unter-
Dr. Marlies Volkmer (SPD): schiede bei den Arzneimittelausgaben. Die Ärzte im
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Bereich der kassenärztlichen Vereinigungen mit den
gen! Seit der ersten Beratung des Gesetzentwurfs sind niedrigsten Arzneimittelausgaben geben etwa ein Drittel
ungefähr zwei Monate vergangen. Wir haben die Zeit weniger aus als die mit den höchsten Ausgaben. Das
sehr gut dazu genutzt, alle Maßnahmen zu diskutieren. sind beachtliche Unterschiede.
Ich möchte gleich vorwegschicken: Wir sind der Vor diesem Hintergrund haben wir uns für eine Rege-
Überzeugung, dass mit dem Gesetz die notwendigen lung entschieden, die Ansporn für alle regionalen Ver-
Einsparungen erzielt und die hohe Qualität der Versor-
tragspartner sein soll, zu eigenen Lösungen zu kommen.
gung der Versicherten gewährleistet werden können.
Gute Ansätze gibt es zum Beispiel in der KV Nordrhein
(Beifall bei der SPD) und in der KV Sachsen. Nun wird es zwar eine Bonus-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1529
Dr. Marlies Volkmer
(A) Malus-Regelung auf Bundesebene geben. Sie kann aber Natürlich muss es weitere Überlegungen geben, wie die (C)
außer Kraft gesetzt werden, wenn durch fristgerecht ver- medizinische Versorgung noch wirtschaftlicher durchge-
einbarte regionale Lösungen die Einsparziele der Bonus- führt werden kann. Ich denke hier zum Beispiel an die
Malus-Regelung erreicht werden. Nur wenn also keine Arzneimittelversorgung an der Schnittstelle zwischen
regionale Regelung vereinbart wird, gilt das Bonus- Krankenhaus und ambulanter Versorgung. Darüber sind
Malus-System. Der Malus greift dann, wenn ein Arzt sich alle Beteiligten sicherlich einig.
vereinbarte Durchschnittskosten für verordnungsstarke Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wirkstoffe um mehr als 10 Prozent überschreitet. Ur-
sprünglich sollte diese Zone schon bei 5 Prozent begin- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
nen. Im Übrigen hat ein Arzt, der wirtschaftlich verord-
net, auch in Zukunft keinen Regress zu befürchten. Neu Präsident Dr. Norbert Lammert:
ist, dass bei der Festlegung der Durchschnittskosten je Nächster Redner ist der Kollege Daniel Bahr für die
definierter Dosiereinheit die Besonderheiten unter- FDP-Fraktion.
schiedlicher Anwendungsgebiete berücksichtigt werden (Beifall bei der FDP)
müssen. Hier haben wir die Ergebnisse der Anhörung
berücksichtigt, um die bedarfsgerechte Versorgung der
Patientinnen und Patienten besser zu gewährleisten. Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
Im Gesetz stellen wir klar, dass der Gemeinsame gen! Das soll es also nun sein, das erste gesundheitspoli-
Bundesausschuss unzweckmäßige und unwirtschaftliche tische Gesetz der großen Koalition, das einen Vorge-
Arzneimittel von der Versorgung ausschließen kann. Bei schmack auf eine grundlegende Gesundheitsreform
seiner Entscheidung hat er neben dem Nutzen und der geben soll, das unter Beweis stellen soll, dass sich die
medizinischen Notwendigkeit die Wirtschaftlichkeit ei- große Koalition auf grundlegende Reformschritte einigt,
nes Arzneimittels zu bewerten. Dies ist ein Schritt in die die Interessen von Patienten und Versicherten in den
Richtung einer Kosten-Nutzen-Bewertung von Arz- Mittelpunkt stellt?
neimitteln, der Ärzten eine verlässliche Orientierung bei (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Berg kreißte
einer wirtschaftlichen Verordnung von Arzneimitteln und gebar ein Mäuschen!)
bieten kann.
Das AVWG, das Arzneimittelspargesetz, ist ein Kosten-
(Beifall bei der SPD) dämpfungsmonstrum. Die Arzneimittelversorgung für
die Patienten in Deutschland wird durch dieses Gesetz
Ein weiteres wichtiges Thema in der Diskussion war erheblich verschlechtert, die freie Therapiewahl einge-
(B) die Festbetragsregelung. Wir haben klargestellt, dass schränkt. (D)
das bisherige Verfahren des Gemeinsamen Bundesaus- (Beifall bei der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/
schusses weiterhin angewendet werden soll. Die Neuar- CSU]: Sagen Sie nicht etwas Falsches!)
tigkeit allein wird auch künftig keine Freistellung bewir-
ken. Nur wenn ein Arzneimittel eine therapeutische Frau Kollegin Volkmer, Sie machen es sich meines
Verbesserung bringt, ist es vom Festbetrag freizustellen. Erachtens zu leicht, wenn Sie jetzt nur kritisieren, dass
Das Festbetragssystem bleibt damit das wichtigste In- die Ärzte angeblich Fehlinformationen herausgeben oder
strument der Preisregulierung bei den Arzneimitteln. Die protestieren. Wenn ich in 14 Tagen aus einer Praxis ei-
in der Anhörung vorgetragene Befürchtung, die Versor- nen großen Stapel von Protestschreiben mit Unterschrif-
ten bekomme,
gung der Patientinnen und Patienten mit Medikamenten
zum Festbetrag sei nicht mehr vollständig sichergestellt, (Zurufe von der SPD: Oh!)
haben wir sehr ernst genommen. Zum einen haben wir
dann ist das bedenklich. Ignorieren Sie das nicht, son-
eine Lösung gefunden, die sowohl notwendige Einspa-
dern nehmen Sie das ernst! Es ist doch nicht normal,
rungen erreicht als auch für die Patientinnen und Patien- dass 22 000 Ärzte in Berlin auf die Straße gehen, Haus-
ten genügend Arzneimittel zum Festbetrag zur Verfü- ärzte, Fachärzte, Zahnärzte, angestellte und niedergelas-
gung stellt. Zum anderen haben wir zusätzlich den sene Ärzte. So etwas hatten wir noch nie.
Vorschlag der Spitzenverbände der Krankenkassen auf-
gegriffen, nach dem besonders preisgünstige Arzneimit- (Beifall bei der FDP)
tel gänzlich von Zuzahlungen befreit werden können. Das findet in ganz Deutschland statt. Warum gehen sie
Die Entscheidung darüber müssen die Krankenkassen auf die Straße und warum protestieren die Patientinnen
gemeinsam und einheitlich treffen. Wenn die Kassen die und Patienten? Weil sie Angst haben, dass dieses Gesetz
Regelung umgesetzt haben, sollten die Patientinnen und zu einer weiteren massiven Rationierung führt.
Patienten den Arzt auf die Verordnung solcher zuzah-
lungsfreien Arzneimittel ansprechen. (Elke Ferner [SPD]: Quatsch! Sie wissen
genau, dass das nicht stimmt!)
Das Gesetz ist ein Instrument, um die Ausgaben der Die Bonus-Malus-Regelung, die Sie, Frau Dr. Volkmer,
gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel mit- angesprochen haben, wird dazu führen, dass der Arzt,
telfristig im Zaum zu halten. der bei der Verschreibung rationiert, bevorzugt wird.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur mittel- (Elke Ferner [SPD]: Quatsch! Wo steht denn
fristig?) Rationierung?)
1530 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Daniel Bahr (Münster)


(A) Eine solche Bonus-Malus-Regelung wird das Arzt-Pa- erklärt, dass eine eigene Vereinbarung in der Region (C)
tienten-Verhältnis erschüttern. Ich will nicht den Teufel – Frau Volkmer hat ja von unterschiedlichen regionalen
an die Wand malen, aber allein die Tatsache, dass Patien- Verhältnissen gesprochen – nur in drei KV-Bezirken
ten die Sorge haben, dass ein Arzt nach wirtschaftlichen nach heutiger Sicht funktionieren kann. Das heißt, es
Gesichtspunkten verschreibt und nicht nach den Prin- wird bundesweit eine Bonus-Malus-Regelung geben, die
zipien der freien und richtigen Therapiewahl, wird das meines Erachtens das Therapieverhalten des Arztes er-
Arzt-Patienten-Verhältnis massiv erschüttern. heblich einschränken wird. Wir können das aber gerne in
einem halben Jahr erneut diskutieren.
(Beifall bei der FDP)
Es ist doch nicht so, als ob wir nicht schon Instrumente (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
hätten. Wir haben heute schon viele Instrumente, die den SPD)
Arzneimittelmarkt regulieren: Arzneimittelrichtlinien, von Als Begründung wird die Steigerung der Ausgaben
der Erstattung ausgeschlossene Arzneimittel, Festbeträge für Arzneimittel herangezogen. Ich wage zu bezweifeln,
für Arzneimittel, Nutzenbewertung von Arzneimitteln, dass diese Steigerung der Ausgaben für Arzneimittel
Arzneimittelvereinbarung und Arzneimittelrichtgrößen, nicht abzusehen war; denn wir hatten mit dem GMG
Aut-idem-Regelung, Importförderung, Preisvergleichs- viele Entscheidungen, die in der Folge dazu führten, dass
liste und gesetzliche Zwangsrabatte. Das Arzneimittel- die Arzneimittelausgaben stiegen. Wir hatten Vorzieh-
sparpaket wird diese Unübersichtlichkeit und mangelnde effekte in 2003, es gab den Wegfall des zusätzlichen
Planungssicherheit noch verschärfen und keine grundle- Zwangsrabatts und viele andere Effekte, die dazu führ-
genden Reformen voranbringen. ten, dass die Arzneimittelausgaben gestiegen sind. Ich
(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Mir wage zu bezweifeln, dass das der Grund für das Arznei-
kommen die Tränen, Herr Kollege!) mittelspargesetz ist. Ich habe den Eindruck, Sie machen
das Arzneimittelsparpaket, um im Bereich der gesetzli-
Präsident Dr. Norbert Lammert: chen Krankenversicherung die drohende Mehrwert-
steuererhöhung, die ab 1. Januar 2007 geplant ist, zu
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage
kompensieren. Ich vermute, dass das der wahre Grund
des Kollegen Zöller?
für das Zustandekommen dieses Arzneimittelsparpakets
ist.
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Bitte sehr. Wir halten das für einen Fehler. Wir halten die Mehr-
wertsteuererhöhung für einen grundsätzlichen Fehler.
(B) Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Gerade für den Arzneimittelbereich bedeutet sie eine er- (D)
Herr Kollege Bahr, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu hebliche Einschränkung. Ich weise darauf hin, dass in
nehmen, dass Ihre Äußerung, die Therapiefreiheit den meisten anderen Ländern beim Kauf von Arzneimit-
werde eingeschränkt, falsch ist? teln entweder der niedrigere Mehrwertsteuersatz An-
wendung findet oder gar keine Mehrwertsteuer zu zahlen
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist. Mit dem erhöhten Mehrwertsteuersatz beim Kauf
von Arzneimitteln ist Deutschland eine Ausnahme. Sie
Zu dieser Meinung kann man nur kommen, wenn man
hätten einmal darüber diskutieren sollen, den Mehrwert-
nicht zwischen Wirkstoffgruppen und Wirkstoff unter-
steuersatz für Arzneimittel erheblich zu senken. Eine
scheiden kann. In der Änderung ist nämlich klar festge-
solche Senkung würde die gesetzlichen Krankenver-
legt worden, dass der Arzt den Wirkstoff frei wählen
sicherungen entlasten.
kann. Die Therapiefreiheit bleibt voll erhalten.
(Iris Gleicke [SPD]: Richtig!) Die Patienten werden aber auch durch die Neurege-
lung der Festbeträge massiv belastet. Es ist doch er-
Nur, wenn er sich für einen Wirkstoff entscheidet, soll er staunlich, dass sogar die Krankenkassen vor dieser Neu-
sich preisbewusst verhalten. Bei den Preisen gibt es regelung warnen. Die Krankenkassen haben den
Bandbreiten von 300 bis 400 Prozent. Die Therapiefrei- Auftrag, mit den Beiträgen der Versicherten besonders
heit wird mit diesem Gesetz gegenüber der bisherigen kostengünstig umzugehen. Es ist doch spannend, dass
Regelung sogar verbessert. Möchten Sie das bitte zur die Krankenkassen die Neuregelung der Festbeträge
Kenntnis nehmen? ganz besonders infrage gestellt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Durch die niedrigeren Festbeträge könnte beispiels-
Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist unglaub- weise der Preis für Antidepressiva um 65 Prozent sin-
lich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles wird ken. Die Firmen der Pharmaindustrie werden ihre Preise
gut!) aber nicht zwangsläufig auf die Höhe der Festbeträge ab-
senken, sondern vielleicht nur ein bisschen. Das führt
Daniel Bahr (Münster) (FDP): dann zu Aufzahlungen für die Versicherten. Diese Auf-
Nein, Herr Kollege Zöller, das nehme ich so nicht zur zahlungen fallen – anders als die Zuzahlungen, die be-
Kenntnis. Wir hatten schon im Ausschuss eine Debatte stimmten Grenzen unterliegen – nicht unter die Überfor-
darüber, dass es schwer abzuschätzen ist, wie die neue derungsregelung, sondern sind voll wirksam. Das heißt,
Regelung der Durchschnittskosten je Dosiereinheit über- im Sommer werden die Patientinnen und Patienten
haupt wirkt. Die Staatssekretärin hat mir auf Nachfrage wahrscheinlich massiv belastet.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1531
Daniel Bahr (Münster)
(A) Ich will noch etwas anderes aufgreifen, was die Pa- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): (C)
tienten angeht. Frau Volkmer sprach von den regionalen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Unterschieden. Frau Volkmer, soweit ich weiß, sind Sie Im Gesundheitswesen ist es immer dasselbe: Manche
aus Sachsen. Schauen Sie einmal nach Sachsen-Anhalt! Hähne glauben, dass die Sonne nur ihretwegen aufgeht.
Sie können doch nicht die Ärzte für die regionalen Un- Die Gemüter haben sich in den letzten Wochen etwas be-
terschiede im Verschreibungsverhalten verantwortlich ruhigt. Das ist zumindest der Anfang aller Vernunft.
machen. Ein Grund für unterschiedliches Verschrei-
Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt,
bungsverhalten ist vielmehr, dass beispielsweise die
dass man sie ignoriert. Nüchtern betrachtet ist die Lage
Morbiditätsstruktur und die Versichertenstruktur in
doch klar: Die Arzneimittelausgaben sind im vergange-
Sachsen-Anhalt ganz anders als die in der Region Nord-
nen Jahr im Vergleich zum Vorjahr um über 16 Prozent
rhein sind. Weil es einige wenige KV-Bezirke gibt, in de-
gestiegen. Nicht alles lässt sich dabei mit dem Auslaufen
nen dieser Ansatz gut funktioniert, sollen Ihrer Auffas-
der 10-Prozent-Zwangsrabatt-Regelung und normalen
sung nach sämtliche KV-Bezirke diese Regelung
Ausgabezuwächsen durch Alterung erklären. Vieles
übernehmen. Sie sollten schon berücksichtigen, dass es
– das kann doch die FDP nicht leugnen – hat strukturelle
woanders andere Strukturen gibt. Insofern sehe ich die
Gründe.
regionale Umsetzung sehr kritisch. Ich glaube, dass es
damit eher zu einer bundesweiten Bonus-Malus-Rege- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wie viel
lung kommt. Prozent sind es denn?)
Auch die Krankenhäuser werden arg gebeutelt, wie Dadurch entstehen Kosten im Gesundheitswesen, die
wir feststellen. Von heute auf morgen erfahren die Kran- wir nicht einfach hinnehmen können, die wir auch nicht
kenhäuser, dass sie ihre Planungen für 2006 über Bord einfach an die Patienten und Versicherten weitergeben
werfen und auf niedrigerer Basis neu kalkulieren müs- dürfen. Wir müssen diese Kosten jetzt auffangen.
sen. Ihre Arzneimittel werden teurer, weil die Natural-
Das wollen wir mit dem Gesetzentwurf, den wir vor-
rabatte wegfallen. Gleichzeitig müssen sie ihre Ein-
gelegt haben, erreichen. Wir wollen die Senkung der
kaufspolitik grundlegend ändern; denn zukünftig müssen
Arzneimittelausgaben und die nachhaltige Stabilisierung
sie sich an das halten, was im vertragsärztlichen Bereich
der Arzneimittelversorgung erreichen.
Standard ist. Viele Vertragsärzte wenden sich an uns, um
uns mitzuteilen, dass sie viele ärgerliche Diskussionen Das AVWG ist in den vergangenen Wochen heftig
haben; denn sie müssen die Medikamentierung von Pa- diskutiert worden. Ärzte, Patienten, Apotheker, Arznei-
tienten umstellen, nachdem die Krankenhäuser sie auf mittelhersteller, die Krankenkassen, die Verbände, alle
teure Medikamente eingestellt haben. haben sich zu Wort gemeldet. Da wurde gestreikt und
(B) gestritten, da wurde mobilisiert und polemisiert, aber es (D)
Ich wage aber zu bezweifeln, dass diese Regelung wurde eben auch sehr ernsthaft diskutiert, nicht zuletzt
wirklich ihre Wirkung entfaltet. Ich glaube, sie führt im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages;
eher zu einer Einschränkung bei der stationären Versor- denn alle wissen, dass es keine Einsparmaßnahme ist,
gung. Ich befürchte, dass gerade GKV-Patienten bei der wenn man sich nur billige Ausreden leistet.
stationären Versorgung gegenüber Privatpatienten be-
nachteiligt werden. Die zahllosen Gespräche und die Beratungen haben
sich gelohnt. Wir haben viele Anregungen aufgegriffen.
Gestatten Sie mir, dass ich zum Schluss auf die Natu- Wir haben Änderungen und Präzisierungen in den Ge-
ralrabatte zu sprechen komme. Auch hier gab es sicher- setzentwurf eingearbeitet. Viele Aspekte der Diskussion
lich Auswüchse, über die man nachdenken muss. Die wurden berücksichtigt. Ich glaube, wir können heute mit
Ursache dafür ist meines Erachtens die Aut-idem-Rege- dem Ergebnis zufrieden sein.
lung. Sie verbieten die Naturalrabatte sogar bei Tierarz-
neien. Diese Arzneien sind nun wirklich überhaupt nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
vergleichbar mit der Arzneimittelversorgung von Patien- der SPD)
tinnen und Patienten über die Apotheken. Das geht Das AVWG wird insbesondere die Arzneimittelver-
wahrlich zu weit. sorgung besser als bisher an dem tatsächlichen medizi-
Die in diesem Gesetzentwurf verankerte Regelung nischen Versorgungsbedarf der Patienten ausrichten.
werden wir nicht mittragen. Wir haben einen Entschlie- Medizinisch nicht notwendige Ausgabensteigerungen
ßungsantrag eingebracht. Wir sind auf weitere Vor- können künftig besser vermieden werden. Dabei bleibt
schläge der großen Koalition gespannt. Das „Arzneimit- gewährleistet – das möchte ich ausdrücklich betonen –,
telspargesetz“ ist der falsche Weg. dass Patientinnen und Patienten auch in Zukunft alles,
was medizinisch notwendig ist, auch verordnet bekom-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. men.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das erste Ergebnis dieses Gesetzes ist also: Die Versor-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gung der Patienten ist und bleibt auf hohem Niveau ge-
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Annette sichert.
Widmann-Mauz, CDU-Fraktion.
Lassen Sie mich auf die einzelnen Maßnahmen einge-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hen. Zunächst zur Bonus-Malus-Regelung. Auf unser
1532 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Annette Widmann-Mauz
(A) Drängen wird die viel gescholtene Bonus-Malus-Rege- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die FDP hat (C)
lung jetzt so gestaltet, dass es in der Hand der Ärzte und dagegen gestimmt!)
der Krankenkassen liegt, ob diese gesetzliche Regelung
Ich will einen Hinweis zu einer Sache geben, die Sie
zur Anwendung kommt oder nicht. Das heißt, die Ärzte
kritisch hinterfragt haben, zu der Verordnung aus dem
entscheiden zusammen mit den Krankenkassen, ob diese
Krankenhaus heraus. Für die Ärzteschaft ist ganz wich-
gesetzliche Regelung zum Tragen kommt oder nicht. Die
tig, dass wir hierbei Verbesserungen erreichen und die
Frage ist, ob sie bessere Alternativen haben. Wenn die
Krankenhäuser in der Weise in die Pflicht nehmen, dass
KVen mit den Landesverbänden der Krankenkassen Ver-
vor der Entlassung die Präparate angewendet werden,
einbarungen treffen, mit denen sie dieselben Ausgaben-
die auch nachher im ambulanten Bereich, also im nieder-
ziele bei den Arzneimitteln erreichen können, dann
gelassenen Sektor, wiederum sparsam, verwendet wer-
kommt die gesetzliche Bonus-Malus-Regelung gar nicht
den müssen.
mehr zum Tragen. Das heißt, Vorfahrt für die Selbst-
verwaltung! (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Warten Sie mal
ab, ob das funktioniert!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Das Eintragen teurer Präparate in die ambulante Versor-
gung können wir nicht hinnehmen. Das ist eine Abhilfe,
Die Selbstverwaltung erhält endlich mehr Verantwor- die wir gerade auch für die niedergelassenen Ärzte ver-
tung und einen größeren Spielraum für eine praxisnahe einbart haben.
und partnerschaftliche Gestaltung. Also nur dann, wenn
es nicht zu einer solchen freiwilligen Vereinbarung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
kommt, gilt die gesetzlich vorgesehene Bonus-Malus- Also, die Bonus-Malus-Regelung, wie sie im Gesetz-
Regelung. entwurf steht, muss nicht angewendet werden. Sie kann
Sie ist jetzt sogar verbessert worden. vermieden werden. Die Therapiefreiheit wird gestärkt
und die Versorgungssicherheit der Patienten bleibt ge-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Besser ist aber wahrt.
noch nicht gut!)
Ein weiterer Punkt: die Zuzahlungsbefreiung. Wir
Bei der Ermittlung der Durchschnittskosten je Dosier- haben im AVWG die Möglichkeit geschaffen, dass die
einheit, also den Tagestherapiekosten, ist jetzt auch die Kassen ihren Versicherten bei der Wahl besonders preis-
Indikationsstellung zu berücksichtigen. Herr Bahr, wenn werter Medikamente die Zuzahlung erlassen können.
Sie es immer noch nicht verstanden haben, dann mache Den Krankenkassen wird also zum ersten Mal die Mög-
ich es Ihnen auch hier im Plenum noch einmal an einem lichkeit eröffnet, Patientinnen und Patienten einen eige- (D)
(B) Beispiel deutlich.
nen ökonomischen Vorteil einzuräumen. Damit wird der
Preiswettbewerb bei den Herstellern unterstützt. Das ei-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Den Versuch
gentlich Entscheidende ist aber: Der Patient hat zum ers-
sollte man schon unternehmen!)
ten Mal ein eigenes ökonomisches Interesse, ein preis-
Ein Wirkstoff wie der Betablocker Metoprolol wird je wertes Medikament vom Arzt verordnet zu bekommen.
nach Indikation in unterschiedlicher Dosierstärke ange- Das bedeutet auch, dass der Arzt erstmals nicht mehr al-
wendet: bei Bluthochdruck 50 Milligramm, bei korona- lein die Verantwortung für eine wirtschaftliche Verord-
rer Herzkrankheit 100 Milligramm, bei Herzmuskel- nungspraxis trägt und damit in der Kritik steht. All das
schwäche 200 Milligramm. Einen Dosiermittelwert über sind wichtige Ergebnisse dieses Gesetzes.
die einzelnen Indikationen zu legen, ist nicht sachge- Sie haben die Festbetragsregelungen angesprochen.
recht – da sind wir uns einig –; es könnte – da haben Sie In den Festbetragsgruppen der Stufen 2 und 3 kann ge-
Recht – zu einer Unterversorgung je nach Patienten- spart werden. Wir wollen hier die Festbeträge ins untere
klientel in der Arztpraxis führen. Preisdrittel absenken. Wir haben aber wiederum auch Si-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es! Des- cherungslinien eingezogen; denn es müssen jeweils ein
halb haben wir das geändert! Ganz genau!) Fünftel aller Verordnungen und aller Packungen zum
Festbetrag verfügbar sein. Damit bleibt die Versorgungs-
Deshalb haben wir gesagt: Die durchschnittlichen Do- sicherheit gewährleistet. Das sind wichtige Kriterien.
siereinheiten können nur für die jeweilige Indikation und
nicht über die Indikationen hinweg zur Geltung kom- Wir wissen natürlich, dass diese Regelungen bei der
men. Unterschiedliche Behandlungsbereiche müssen be- forschenden und bei der generischen Industrie auf Kritik
rücksichtigt werden. gestoßen sind. Die Daten der Kassen zeigen jedoch auf,
dass insbesondere in der Stufe 2, in der Pharmamittel mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Elke pharmakologisch vergleichbaren Wirkstoffen zusam-
Ferner [SPD]: Lesen, denken, dann sprechen, mengefasst sind, noch gespart werden kann. Angesichts
Herr Bahr! – Gegenruf des Abg. Daniel Bahr knapper Mittel in der gesetzlichen Krankenversicherung
[Münster] [FDP]: Herzlichen Dank! Das hat können wir doch Innovationen nur dann angemessen be-
noch gefehlt!) zahlen, wenn so genannte Scheininnovationen nicht zu
überhöhten Preisen abgegeben werden. Von daher ist
Der Malus wirkt auch nicht schon ab einem Über-
diese Absenkung vertretbar.
schreitungsbetrag von 5 Prozent. Wir haben jetzt eine
Grenze von 10 Prozent festgelegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1533
Annette Widmann-Mauz
(A) Wir nehmen aber auch die Sorgen der Unternehmen heute nicht abschließend beurteilen. Deshalb finden sich (C)
ernst, insbesondere hinsichtlich ihres Engagements bei ja im Gesetzentwurf und in den Entschließungsanträgen
Forschung und Innovation. Deshalb haben wir in einem Aufforderungen an das Parlament, diesen Prozess zu be-
weiteren Schritt die Innovationsschutzklausel verbes- obachten.
sert. Wir werden so, wie es im Koalitionsvertrag verein-
bart wurde, den Pharmastandort Deutschland stärken. An dieser Stelle muss man aber der FDP auch noch
etwas anderes zurufen: Wenn wir nie etwas Neues aus-
(Beifall bei der CDU/CSU) probieren
Zwei Regelungen sind hier insbesondere in den Blick zu (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
nehmen:
und keine Möglichkeiten eröffnen, um neue Instrumente
Zunächst ermöglichen wir den Kassen, Rabattver- auszuprobieren, dann treten wir auf der Stelle.
träge mit Unternehmen abzuschließen, die ihre Präparate
nicht bis auf den Festbetragspreis absenken wollen. Dies (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ihr habt schon
trifft genau auf das Beispiel zu, das Sie vorhin angeführt so viel ausprobiert!)
haben, nämlich dass ein Unternehmen nicht bereit ist, Deshalb wollen wir neuem Denken eine Chance geben.
den Preis zu senken. Es kann nun, um den hohen Refe- Während wir das angehen, werden wir es sorgsam über-
renzpreis im europäischen Ausland aufrechterhalten zu prüfen und begleiten. Stillstand ist nicht das, was die
können, Rabattverträge im Interesse der Versicherten Union auszeichnet. Deshalb wollen wir auch hier neue
bzw. Patientinnen und Patienten mit den Kassen ab- Wettbewerbsinstrumente zur Anwendung kommen las-
schließen, sodass hier überhaupt keine höheren Zahlun- sen.
gen anfallen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD)
neten der SPD)
Ich will noch einmal auf das Stichwort Innovation zu-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
rückkommen. Wir haben diesbezüglich im Gesetzent-
wurf weitere Verbesserungen, insbesondere was den the-
Frau Kollegin Widmann-Mauz, gestatten Sie eine
rapeutischen Nutzen anbelangt, festgelegt. Dieser
Zwischenfrage des Kollegen Bahr?
Nutzen kann sich in der Praxis für die Patienten durch
eine Verbesserung der Lebensqualität darstellen. Er kann
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): sich auch auf einzelne Patientengruppen mit bestimmten
Ich gestatte sie. Indikationen erstrecken. Wenn die Verbesserungen nicht
(B) mit klinischen Endpunktstudien, bezogen auf Mortalität (D)
Daniel Bahr (Münster) (FDP): und Morbidität, nachgewiesen werden können, sind
Frau Kollegin Widmann-Mauz, sind Sie mit mir der künftig auch andere Studien, die zur Verfügung stehen,
Meinung, dass Einsparungen über den Weg der Rabatt- zulässig. Das sind wichtige Erfordernisse, um den Inno-
verträge nur bei dem jeweiligen Medikament möglich vations- und Forschungsstandort Deutschland zu stär-
sind? Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass die ken.
Pharmaunternehmen eine so massive Absenkung der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Festbeträge nicht mitmachen werden und es damit zu
neten der SPD)
massiven Aufzahlungen für Patienten in diesem Sommer
kommen kann? Darüber hinaus haben wir neue Regelungen für die
Naturalrabatte vorgesehen. Ich will nur noch kurz da-
(Elke Ferner [SPD]: So ein Quatsch!)
rauf eingehen. Die Gewährung von Naturalrabatten an
Offizinapotheken, Krankenhausapotheken und Tierärzte
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): durch Pharmaunternehmen wird ausgeschlossen. Das
Nein, ich bin nicht dieser Auffassung. Ich bin der fes- heißt, die Gewährung von unentgeltlichen Packungen ei-
ten Überzeugung – die Vergangenheit hat es auch ge- nes apothekenpflichtigen Arzneimittels ist künftig nicht
zeigt –, dass der deutsche Arzneimittelmarkt in Europa mehr möglich. Möglich bleiben aber Verhandlungen mit
von so großer Bedeutung ist, dass die Arzneimittelher- dem Hersteller oder Händler über Mengen und Preise so-
steller in der Regel das Absenken des Preises auf den wie Skonti. Egal ob im Krankenhaus, beim Tierarzt oder
Festbetrag für sich selbst als wirtschaftlicher und be- im nicht verschreibungspflichtigen Bereich der Apo-
triebswirtschaftlich sinnvoller erachten als das Aufrecht- theke, es besteht keine Regelung für einen einheitlichen
erhalten eines hohen Preises, was ja zur Folge hätte, dass Verkaufspreis in diesem Sektor.
sie kaum Umsätze machen würden. Es kann natürlich
Unternehmen geben, für die es interessant ist, bei be-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
stimmten Präparaten den Preis hochzuhalten. Auch diese
Unternehmen wollen das Auslandsgeschäft nicht gefähr- Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Zeit.
den. Um nun aber die Möglichkeit zu haben, die Versi-
cherten in der Bundesrepublik Deutschland trotzdem mit Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
den eigenen Präparaten zu versorgen, ermöglichen wir Ja. – Das Naturalrabattverbot und die Zertifizierung
das Abschließen von Rabattverträgen. Ob sich das ins- von manipulationsfreier Praxissoftware sind ein Anreiz
gesamt auf das Preisgefüge auswirken wird, können wir zu höherer Transparenz bei der Verordnung und der
1534 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Annette Widmann-Mauz
(A) Preisgestaltung. Damit kommen niedrigere Preise zum Die Probleme bei der Preisgestaltung werden nach (C)
ersten Mal der Solidargemeinschaft zugute. Das war unserer Überzeugung eben nicht grundsätzlich ange-
vorher nicht der Fall. Deshalb ist auch dies ein wichtiger packt, geschweige denn gelöst. Die Kostenentwicklung
Beitrag, den dieses Gesetz leistet. wird lediglich kurzfristig und sehr gering gebremst. Die
Einsparungen werden am Ende durch die Mehrwertsteu-
Nicht alles ist neu; viele Instrumente kennen wir. Die ererhöhung im Wesentlichen wieder aufgefressen. Dies
Handhabung erfordert von allen Beteiligten Augenmaß hat die Anhörung ganz deutlich erbracht. Ich bin über-
und Verantwortungsbewusstsein. Das fordere ich von al- zeugt, dass hier die Pharmalobby in doppelter Weise her-
len ein. vorragende Arbeit geleistet hat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es ist zwar nachvollziehbar, das Konzept für die Ta-
gestherapiekosten zu modifizieren. Dennoch muss un-
sere Bewertung an dieser Stelle negativ ausfallen. Die
Präsident Dr. Norbert Lammert: Bonus-Malus-Regelung ist weiterhin vorhanden. Sie
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Frank Spieth belohnt im Zweifelsfall die Unterversorgung
für die Fraktion Die Linke.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist wis-
(Beifall bei der LINKEN) sentlich falsch!)
und belastet aufgrund des entstehenden Misstrauens – das
Frank Spieth (DIE LINKE): sagen eben nicht nur Ärzte, sondern auch die chronisch
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Kranken, die Selbsthilfeorganisationen und die Sozial-
ren! Frau Widmann-Mauz benutzte einen Vergleich mit verbände – das Arzt-Patienten-Verhältnis.
Hähnen. Sie sprach davon, dass einige Hähne meinten, (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Zöller
um sie würde die Sonne kreisen. Ich will einen anderen [CDU/CSU]: Sie haben den Gesetzentwurf
Bezug herstellen. Es gibt einen alten Spruch, der da lau- nicht genau gelesen! Das ist enttäuschend!)
tet: Kräht der Hahn morgens auf dem Mist, ändert sich
das Wetter oder es bleibt, wie es ist. – Ein wenig kommt – Wir haben den Gesetzentwurf sehr genau gelesen und
mir das auch bei diesem Gesetzentwurf so vor, um das ausführlich darüber diskutiert.
einmal klar und deutlich zu sagen. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dann
haben Sie ihn nicht verstanden!)
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Wir meinen, dass es zu dem, was auf den Weg ge- (D)
Das Gesetzgebungsverfahren zum AVWG lässt aus bracht wird, eigentlich nur eine wirksame Alternative
meiner Sicht schlimme Ahnungen in Bezug auf die wei- gibt, nämlich die seit Jahren zunächst immer wieder ge-
teren gesundheitspolitischen Projekte der großen Koali- schredderte und danach von allen Beteiligten geforderte
tion aufkommen. Das Ministerium macht einen Entwurf, Positivliste.
der, weil er nicht passt, von der CDU/CSU einkassiert
und anschließend verschlimmbessert als neuer Entwurf (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das
präsentiert wird. Alle Akteure kritisieren die Unzuläng- soll ein Beitrag zur Therapiefreiheit sein?)
lichkeit dieses dann gemeinsamen Entwurfes und weisen Denn die Positivliste, Frau Widmann-Mauz, führt zu
auf die handwerklichen Fehler hin. Es gibt massenhaft mehr Durchblick bei den Ärzten und auch bei den Pa-
Proteste. Daraufhin – immerhin – erfolgen vor der ab- tienten hinsichtlich ihrer Behandlung. Die Kassen wer-
schließenden Beratung noch schnell Korrekturen. Im den die Preisgestaltungsmöglichkeiten und die Kosten-
Ausschuss werden diese Änderungsanträge – allerdings entwicklung nachvollziehen können. Auch die Hersteller
ohne dass man wirklich Zeit hätte, die Argumente aus- wissen genauer, auf was sie sich einlassen werden. Die
reichend zu bewerten – Einführung der Positivliste wird am Ende also zu einer
deutlich besseren Versorgung führen.
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Zwei Monate
lang!) Wir werden mit einer Positivliste eine gute Arznei-
mitteltherapie sicherstellen. Die Auswahl zwischen zig-
durchgepeitscht, sodass dem Bundestag heute der Ge- tausenden Präparaten ist nicht mehr erforderlich. Ich
setzentwurf zur Beschlussfassung vorgelegt werden sage auch: Durch eine Positivliste werden die Naturheil-
kann. mittel ebenfalls erfasst. Diese Liste könnte durch das
IQWiG erstellt und ständig aktualisiert werden.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird
nach meiner Überzeugung bei den Arzneimittelausgaben (Beifall bei der LINKEN)
nur ein begrenzter Effekt erreicht und im Kern schon Ich wundere mich nicht darüber, dass Sie von der
wieder die nächste Reform mit verankert. Das ist die CDU/CSU an dieser Stelle heftig intervenieren. Denn
Realität. Hoffentlich wird dieses Verfahren nicht zur meine letzten Aussagen sind auch in Veröffentlichungen
Blaupause für die Gesundheitspolitik in der laufenden des Bundesgesundheitsministeriums zum Thema Posi-
Legislaturperiode. tivliste von vor wenigen Jahren zu finden. Wir schließen
uns dieser Position grundsätzlich an.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1535
Frank Spieth
(A) Wir weisen darauf hin, dass wir neben der Einführung Was haben Sie jetzt gemacht? Sie haben in die Be- (C)
der Positivliste auch endlich die Halbierung des Mehr- gründung geschrieben, so sei es nicht gemeint. Soll ich
wertsteuersatzes für Pharmaprodukte brauchen. Es ist das als Verbesserung ansehen? Sie haben – bei wohlwol-
doch überhaupt nicht nachvollziehbar – ich bin kein lender Interpretation – Rechtsunklarheit geschaffen.
Tierfeind –, dass in unserem Land für Hundefutter nur
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Nein,
der halbe Mehrwertsteuersatz erhoben wird, während da müssen Sie mal in das Gesetz gucken! –
man für verschreibungspflichtige Arzneimittel nach wie Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Soll ich Ihnen
vor den vollen Mehrwertsteuersatz verlangt. die Passage vorlesen?)
(Beifall bei der LINKEN) Auch dies kann man nicht als Verbesserung bezeichnen.
Wir brauchen eine Politik, die zum sozialen Aus- Es bleibt dabei, dass Sie den Mittelstand mit einem
gleich zurückkehrt. Wir wollen eine Krankenversiche- 10-prozentigen Rabatt für die Generikahersteller in die
rung, in der alle Bürgerinnen und Bürger – unabhängig Bredouille bringen und damit am Ende den Wettbewerb,
von ihrem Einkommen – einen Anspruch auf eine quali- den Sie angeblich wollen, beeinträchtigen.
fizierte medizinische Versorgung haben. Wir meinen, (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
dass eine Krankheit nicht zum humanitären und finan-
ziellen Risiko werden darf. Auch die Bonus-Malus-Regelung wurde nicht wirk-
lich verbessert. Jetzt soll man – so sagen Sie in der Be-
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. gründung – Durchschnittskosten je definierter Dosier-
einheit – sozusagen die drei D – festlegen. Sie schaffen
(Beifall bei der LINKEN) damit hohen Verwaltungsaufwand im Vorfeld und hohen
Verwaltungsaufwand bei der Kontrolle und bewirken
Präsident Dr. Norbert Lammert: viel Ärger bei denjenigen, die diese Regelung umsetzen
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, sollen. So wird es nicht funktionieren.
Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch die Alternative, dass die Selbstverwaltung dies
regeln kann, verlagert die Konflikte nur in Richtung
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ver- Selbstverwaltung. Strukturell haben Sie nichts verändert.
treterinnen und Vertreter der Koalition haben ausführlich
dargelegt, wie lange man über den Gesetzentwurf bera-
ten und um Formulierungen gerungen habe. Das kann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Widmann-Mauz würde gern eine Zwischenfrage
(B) ich aus Sicht eines Ausschussmitglieds der Opposition stellen.
(D)
bestätigen.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Göring-Eckardt)
Bitte schön, Frau Kollegin.
Es gab eine ständige Begleitmusik, nämlich allgemei-
nes Zähneknirschen. Man hat richtig gehört, wie zwi- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
schen der SPD und der Union und manchmal auch inner- Frau Kollegin Bender, Sie haben gerade dargestellt,
halb der einzelnen Fraktionen um Positionen gerungen dass wir bei der Festlegung von durchschnittlichen Kos-
wurde. Es ging nicht wirklich darum, bessere Lösungen ten je Dosiereinheit nur in der Begründung eine Verän-
zu finden. Im Grunde genommen hatte die Gesichtswah- derung vorgenommen hätten. Wollen Sie zur Kenntnis
rung Vorrang vor der Suche nach überzeugenden Rege- nehmen, dass in Abs. 7 a des § 84 SGB V eindeutig und
lungen. klar geregelt wird, dass – ich zitiere – „bei der Festle-
gung der Durchschnittskosten je definierter Dosierein-
(Beifall der Abg. Margareta Wolf [Frankfurt]
heit Besonderheiten unterschiedlicher Anwendungsge-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
biete zu berücksichtigen sind“? Wollen Sie mir
Wenn dies das Muster ist, nach dem die Koalition die bestätigen, dass es eine gesetzliche Vorgabe ist, diese
immer wieder angekündigte Gesundheitsreform stricken Besonderheiten zu berücksichtigen, und Ihre Interpreta-
will, dann kann ich nur sagen, dass das kein Vertrauen in tion sehr tendenziös war?
die Reformfähigkeit dieser Koalition geschaffen hat. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Kann man mit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ja beantworten!)
und bei der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/
CSU]: Sie werden sich wundern! – Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zwei links, zwei Ich bestätige Ihnen gerne, dass Sie den Gesetzestext
rechts, eine fallen lassen!) geändert haben. Aber das Gesetz ist dadurch nicht besser
geworden. Das ist meine Kritik.
An diesem Gesetz ist nichts wirklich besser gewor-
den. Ich habe Ihnen in der ersten Lesung vorgehalten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
dass Sie durch eine Änderung der Festbetragsregelung Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber Sie haben
der Strategie der Pharmaindustrie, Scheininnovationen etwas anderes behauptet! Als wäre es nicht im
auf den Markt zu bringen, Tür und Tor öffnen. Gesetzestext!)
1536 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Birgitt Bender
(A) Wahr ist – das ist immer Ihr Ausgangspunkt, Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
Kollege Zöller –, dass natürlich von den Ärzten abhängt,
Wir beenden nämlich ab einem bestimmten Stichtag die
was verschrieben wird. Nur, man kann die Ärzte nicht
schlimme Praxis – sie wurde durch den „Stern“ aufge-
allein lassen und sie nur den Informationen der Pharma-
deckt –, dass Generikafirmen Praxissoftware sponsern
referenten aussetzen. Man braucht eben andere Rahmen-
und dadurch verzerrt verschrieben wird. Damit machen
bedingungen. Das ist zum einen Aufgabe der kassen-
wir Schluss. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
ärztlichen Vereinigungen. Sie müssen eine ordentliche
Beratung anbieten. Man kann und muss aber auch die Wer gegen dieses Gesetz ist, ist dagegen, dass Patien-
Kassen stärker einbinden. Es bräuchte zudem gewisser ten und Patientinnen zukünftig keine Zuzahlungen mehr
Rahmenbedingungen, damit eine Kosten-Nutzen-Be- leisten müssen, wenn sie sich Arzneimittel verschreiben
wertung durchgeführt werden kann, damit die Ärzte wis- lassen, deren Preis um mindestens 30 Prozent niedriger
sen, was sie tun. Das wäre unserer Ansicht nach der bes- als der Festbetrag ist. Es ist das erste Mal, dass wir Pa-
sere Weg. tienten von der Zuzahlung freistellen und es den Kassen
ermöglichen, hierzu einen einheitlichen Vorschlag zu
Ein besserer Weg wäre es auch, wenn man das Ver- machen.
tragsgeschehen insgesamt stärkt und mehr Verhandlun-
gen zwischen Arzneimittelherstellern und Kassen auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
unter Einschluss der Apotheken einführt. Wettbewerb ist
Sind Sie also dagegen, dass die Patienten entlastet wer-
letztlich das Instrument, das auch in der Krankenversi-
den?
cherung gelten muss.
Wer gegen dieses Gesetz ist, der will nicht, dass die
Solange dies nicht umfassend gewährleistet ist, sind unsägliche Praxis der Gewährung von Naturalrabat-
Preisregulierungsmechanismen wie Festbeträge notwen- ten an Apotheken aufgehoben wird, die sich momentan
dig. Wir bedauern, dass Sie diese Regelung verschlech- in einer Größenordnung von circa 500 Millionen Euro
tert haben. Unserer Ansicht nach müsste es darum ge- bewegen. Wer dagegen ist, will nach wie vor, dass dieses
hen, die Patienten stärker einzubeziehen und damit zu Geld bei den Apotheken verbleibt und nicht den Kran-
einer guten Bewertung des Zusatznutzens zu kommen. kenkassen zukommt, wo es eigentlich hingehört.
Meine Damen und Herren, ohne stärkeren Wettbe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
werb in diesem Bereich werden wir kein gutes Gesund-
heitssystem bekommen. Man kann nicht allen Ineffizien- Diese drei Elemente haben Sie nicht ausreichend
zen, die es gibt, hinterheradministrieren. Ich hoffe, gewürdigt. Aber darum geht es bei diesem Gesetzge-
meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: bungsvorhaben auch. Wir sollten einmal gemeinsam
(B) Wenn Sie diesen Gedanken schon nicht in dem vorlie- feststellen, dass diese Elemente Bestandteil früherer Dis- (D)
genden Gesetz berücksichtigt haben, dann sollten Sie ihn kussionen im Fachausschuss waren. Deswegen war klar,
zumindest als Leitlinie für die Gesundheitsreform beach- dass sich diese Bereiche im Gesetz wiederfinden müs-
ten. Denn es gibt einiges zu tun in diesem Sektor. sen. Wir sollten auch gemeinsam darüber reden.
Danke schön. Es stimmt, dass es unterschiedliche Auffassungen zu
den Festbeträgen und zur Bonus-Malus-Regelung gibt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Man sollte aber bitte schön bei der Wahrheit bleiben.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr habt es ja lie- Tatsache ist: Das Verordnungsverhalten der Ärztinnen
gen lassen!) und Ärzte ist in der Bundesrepublik Deutschland sehr
unterschiedlich; die Kollegin Volkmer hat darauf hinge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wiesen. Am sparsamsten verordnen die Ärztinnen und
Das Wort hat für die Bundesregierung die Parlamen- Ärzte in Bayern und Schleswig-Holstein, auf Platz drei
tarische Staatssekretärin Frau Caspers-Merk. liegt Baden-Württemberg. In anderen Bundesländern
wird deutlich teurer verordnet.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Herr Kollege Bahr, es stimmt nicht, dass das nur ein
Thema zwischen Ost und West ist.
Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der
Bundesministerin für Gesundheit: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das habe ich
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! doch gar nicht gesagt!)
Über den Beitrag der Kollegin Bender bin ich etwas ver- Schauen Sie sich die Statistik, die ich Ihnen zugestellt
wundert. Denn, Kollegin Bender, Sie haben zunächst habe, einmal genau an. Brandenburg ist hier unterdurch-
ausgeführt, wofür Sie nicht sind und wogegen Sie Be- schnittlich. Es lohnt sich also, wenn eine gute Beratung
denken haben. Man muss der deutschen Öffentlichkeit erfolgt und wenn die Selbstverwaltung den Ärzten gute
natürlich aber auch sagen, was wäre, wenn man dieses Informationen an die Hand gibt. Wenn alle Ärzte so ver-
Gesetz ablehnt. Wenn man dieses Gesetz ablehnt, ordnen würden wie die Ärzte in Schleswig-Holstein und
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bayern, hätten wir im Arzneimittelbereich 2 Milliarden
NEN]: Dann braucht man ein besseres!) Euro gespart, und zwar ohne dass den Patientinnen und
Patienten Medikamente fehlen. Denn weder ist die Le-
dann ist man dagegen, dass künftig manipulationsfreie benserwartung in Schleswig-Holstein und Bayern gerin-
Praxissoftware benutzt wird. ger noch werden die Patienten dort nicht versorgt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1537
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
(A) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das sieht Herr fentlich dagegen verwahren, dass mit unsachlichen und (C)
Lauterbach anders! Da müssen Sie mal Herrn unqualifizierten Äußerungen eine Kampagne gefahren
Lauterbach fragen!) wird, die jeglicher Grundlage entbehrt.
Auch das muss man der Öffentlichkeit einmal sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir wollen hier ein Steuerungsinstrument, durch das
die ärztliche Verantwortung gestärkt wird. Wir haben Es wäre wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen,
zwei Optionen. Die erste Option ist, dass es die Selbst- dass Sie sich an der Sachaufklärung beteiligen und nicht
verwaltung künftig in der Hand hat, die Medikamenten- weiterhin bewusst die Unwahrheit sagen. Ich wiederhole
kosten selbst zu steuern. Wir stellen ihr dies frei. noch einmal: Wir wollen eine Steuerung der Arznei-
mittelkosten. Hierbei wollen wir die Ärzte an unserer
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Seite wissen. Wir möchten sie besser informieren und
CDU/CSU) wir möchten mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit
Sie waren es doch, die immer gesagt haben, die Selbst- im Versorgungswesen.
verwaltung müsse gestärkt werden. Warum würdigen Sie (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben wir
dann nicht, dass wir ihr jetzt die Möglichkeit geben, ge- alles schon einmal gehört!)
nau das zu tun? Nur wenn dies nicht greift, kommt es zur
gesetzlichen Bonus-Malus-Regelung. Nicht gewürdigt wurde, dass zum ersten Mal – hier
bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar – die
Hier wird immer so getan, als komme der Bonus dem Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Ver-
Arzt individuell zugute. Das stimmt nicht. Ein Blick ins sorgung in einem Gesetzentwurf angegangen wird. Die
Gesetz erleichtert die Wahrheitsfindung. Die Boni kom- niedergelassenen Ärzte warten seit Jahren darauf. Diese
men den kassenärztlichen Vereinigungen zu und werden sagen, dass die aus den Krankenhäusern entlassenen Pa-
von dort wieder verteilt, gerade um den Arzt gegenüber tientinnen und Patienten oft mit der Verordnung eines
dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, er verhalte sich so, sehr teuren Medikaments zu ihnen kommen. Wir wollen,
um den Bonus einzustecken. dass hier zukünftig stärker zusammengearbeitet wird
und bei der Entlassmedikation die Wirtschaftlichkeit in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der den Vordergrund gestellt wird.
CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]:
Die sind beratungsresistent! Das ist das Pro- Herr Kollege Bahr, dazu gibt es eine sehr interessante
blem!) Studie

Wir haben doch reagiert. Man sollte draußen nichts an- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ist die auch
(B) deres erzählen. von Herrn Lauterbach?) (D)
Nun stellt sich die Frage, wie man eine Medikamen- von Ärzten in Lübeck. Ich stelle sie Ihnen gerne zur Ver-
tentherapie wirtschaftlich misst. Mit dem von uns ge- fügung.
wählten Konzept haben wir auf ein WHO-Konzept zu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immer her da-
rückgegriffen. Dieses Konzept, Frau Kollegin Bender, mit!)
ist schon im GMG verankert; das haben Sie gemeinsam
Es wurden 400 Hausärzte bezüglich der Entlassmedika-
mit uns verabschiedet. Es ist nichts Neues, keine neue
tion befragt. 70 Prozent antworteten, dass der Arztkurz-
bürokratische Herausforderung.
brief bzw. der Arztbrief keine Informationen zu ver-
(Zurufe von der FDP: Aha!) gleichbaren Wirkstoffen enthalte. Vielmehr würden
teilweise außer dem Namen des Originalpräparats über-
Im GMG steht bereits, dass man die Wirtschaftlichkeit haupt keine Informationen gegeben. Wenn wir hier für
aufgrund dieses Instruments ermitteln kann. mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit bei der Verän-
Weil auch auf den Bildschirmen in den Berliner U-Bah- derung dieser Schnittstelle sorgen,
nen Unsinn verbreitet wird, will ich noch einmal auf das (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da sind wir
Konzept eingehen: Es gängelt den Arzt weder bezüglich uns im Ziel einig!)
der Anzahl der verordneten Pillen noch bezüglich der
Zahl seiner Patienten. Hier ist der Arzt nach wie vor frei. tun wir das zum Wohle der Patientinnen und Patienten
Das Konzept regelt aber, dass der Arzt, wenn er sich für und weil wir glauben, dass wir damit im System enthal-
einen Wirkstoff entschieden hat, in die Wirkstoffgruppe tene Effizienzreserven erschließen können.
schauen und dann das wirtschaftlichere Medikament Wer wie Sie diese unverantwortliche Kampagne un-
verordnen muss. Verantwortungsvolles wirtschaftliches terstützt, versündigt sich auch ein Stück weit an den
Handeln und Therapiefreiheit gehören unteilbar zusam- Patientinnen und Patienten
men.
(Lachen des Abg. Daniel Bahr [Münster]
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [FDP])
der CDU/CSU)
und sorgt dafür, dass nicht fair und sachlich über das
Verantwortliche Ärzte – das ist die Mehrheit – tun das Thema Arzneimitteltherapie diskutiert wird.
bereits. Deshalb müssen wir die Mehrheit der Ärzte bei
Schönen Dank.
dem unterstützen, was sie bereits tun, müssen ihnen
mehr Informationen zur Verfügung stellen und uns öf- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
1538 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weil die Koalition entschlossen ist, den Steuerzuschuss (C)
Das Wort hat der Kollege Jens Spahn, CDU/CSU- in Höhe von 4 Milliarden Euro aus der GKV herauszu-
Fraktion. ziehen,
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP)
und im Übrigen durch die Mehrwertsteuererhöhung ein
Jens Spahn (CDU/CSU): Kostenrisiko von etwa 800 Millionen Euro zusätzlich
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! schafft?
Ich möchte kurz fünf Anmerkungen zum vorliegenden
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Gesetzentwurf machen.
der LINKEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Du hast nur fünf Erst im nächsten Jahr!)
Minuten!)
Zum Ersten geht es um die Ausgangslage. Angesichts Jens Spahn (CDU/CSU):
drohender Beitragssatzsteigerungen und Kostensteige- Ich bin bereit, zuzugeben, dass in der Zukunft weitere
rungen möchten wir jetzt, um Beitragssatzsteigerungen Beitragssatzerhöhungen drohen können.
zu vermeiden (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: 1. Januar!)
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Schon seit dem Aber es geht erst einmal um die Situation, wie sie sich
1. Januar!) heute darstellt.
– das ist das, was Sie in Ihrer Kritik ausblenden –, erst (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einmal sparen, um im Sinne niedriger Lohnnebenkosten neten der SPD)
und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt-
schaft die Beiträge gering zu halten. Es geht darum, dass wir bis zum Jahreswechsel die Kos-
ten und die Beitragssätze im Griff behalten müssen, ver-
(Beifall bei der CDU/CSU – Birgitt Bender ehrte Frau Kollegin Bender.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die
Mehrwertsteuer erhöhen!) Insbesondere in den Entschließungsanträgen der Grü-
nen und der FDP werden an der einen oder anderen
Damit bin ich bei meiner zweiten Anmerkung. Ich Stelle grundlegende Veränderungen gefordert. Selbst
kann insbesondere der FDP – der Oppositionsführung, wenn Sie grundlegende Veränderungen bekämen, kämen
wie Sie sich immer nennen – nur bedingt folgen. Sie sa- die nicht von heute auf morgen. Sie müssten mit der Si-
(B) gen immer nur: Nein, das wollen wir nicht und das wol- tuation, wie wir sie heute haben, umgehen und auf jeden (D)
len wir auch nicht. Gleichzeitig haben Sie Vorschläge, Fall darlegen, wie Sie die Beitragssätze stabil halten
die Ausgabenerhöhungen bedeuten würden, so etwa be- wollen,
züglich der Finanzierung der Ärzte und der Krankenhäu-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sollten auch
ser. Das kann man alles wollen; aber zur Wahrheit gehört
an morgen denken!)
dazu, den Versicherten und Patienten zu sagen, dass das
mehr kostet. Diesen Teil jedoch lassen Sie in der Diskus- oder aber, wie ich es gerade schon erwähnte, den Versi-
sion immer weg. cherten ehrlich sagen – das sollten auch all die, die zu
Demonstrationen aufrufen –, dass es am Ende mehr kos-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten wird.
neten der SPD – Widerspruch bei der FDP)
Meine dritte Anmerkung ist die, dass viele der Maß-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nahmen im Sinne der Beitragssatzstabilität natürlich
nicht schön, aber notwendig sind, etwa wenn es um ein
Herr Kollege Spahn, möchten Sie eine Zwischenfrage
Preismoratorium oder Zwangsrabatte geht. Wir haben in
der Kollegin Bender zulassen?
der Frage der Festbetragsregelung eine Berichtspflicht
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eigentlich hat eingebaut. Ich bin gern dazu bereit – und ich glaube, die
er mich angesprochen!) Koalition ist es auch –, im Zuge des Berichtes über all
die Instrumente, die uns im Arzneimittelbereich zur Ver-
Jens Spahn (CDU/CSU): fügung stehen, zu sprechen und zu schauen, welches da-
von unser Ziel effektiv erreicht und am Ende in klare
Bitte schön.
und deutliche Regelungen umgesetzt werden kann.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu der Bonus-Malus-Regelung und den Veränderun-
Herr Kollege Spahn, Sie sprachen davon, dass Bei- gen, die insbesondere in den letzten Tagen vorgenom-
tragssatzsteigerungen in der gesetzlichen Krankenver- men wurden und die in den öffentlichen Darstellungen
sicherung drohen könnten. Sind Sie bereit, zuzugeben, sowohl im Parlament wie außerhalb des Parlamentes
dass solche Beitragssatzsteigerungen durch Ihre Politik vielfach nicht gewürdigt worden sind, hat die Kollegin
drohen könnten, Widmann-Mauz schon einiges gesagt. Ich finde den Hin-
weis sehr wichtig, dass es die Möglichkeit gibt, vor Ort
(Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] von den Regelungen abzuweichen und eigene Regelun-
[FDP]) gen zu treffen, die unserem Ziel, die Kosten in vertretba-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1539
Jens Spahn
(A) rem Maße – es geht ja nicht darum, dass es überhaupt halten und die Ausgaben in den Griff zu bekommen, und (C)
keine Kostensteigerung geben darf – zu halten, gerecht wenn Sie morgen dabei helfen, dieses Thema grundsätz-
werden. lich anzugehen, dann tun Sie ein gutes Werk.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Die Regelung berücksichtigt Besonderheiten bei be- Das war wirklich gut, Herr Kollege Spahn!)
stimmten medizinischen Notwendigkeiten. Wenn es um
Wirkstoffe geht, tragen wir in jedem Fall dem Bedürfnis
nach Therapiefreiheit Rechnung; das wollen wir auch. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Viertens möchte ich die guten Ansätze, die dieses Ge-
setz beinhaltet und die auch Sie unterstützen müssten, Wir kommen zur Abstimmung über den von den
unterstreichen. Es geht um den Preiswettbewerb im Be- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
reich der nicht verschreibungspflichtigen Medika- Gesetzentwurf zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit
mente, im OTC-Bereich, in dem wir die Naturalrabatte in der Arzneimittelversorgung auf Drucksache 16/194.
verbieten. Es gehört auch zur Wahrheit, dass Preis- und Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Ziffer 1
Mengenrabatte in diesem Bereich in Zukunft vollum- seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/691,
fänglich möglich sind. Das müssten Sie doch mit kom- den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
munizieren. Wir erhoffen uns, dass die möglichen Di- men. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen,
mensionen innerhalb der Preisbildung nicht nur bei um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
denen, die in der Leistungserbringung oder in den Ver- gen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
triebsstrukturen sind, ankommen, sondern auch bei den mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Versicherten. Denn eine Preissenkung hat es in diesem Opposition angenommen.
Bereich bis jetzt nicht gegeben.
Dritte Beratung
(Beifall bei der CDU/CSU)
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Beim Punkt Innovation stellt sich die Frage: Was ist Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
therapeutische Verbesserung und welche Studien sind Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
vorzulegen? Es geht nicht nur um Endpunktstudien, wie entwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-
sie etwa im Bereich HIV nur bedingt sinnvoll sind, wenn men der Opposition angenommen.
es um neue Medikamente geht, sondern eben auch da-
Unter Ziffer 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
rum, dass es möglich sein muss, international anerkannte
(B) Studien vorzulegen. Damit wird im Übrigen den Anlie- der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer (D)
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
gen chronisch Kranker Rechnung getragen. Sie, die
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
Linke, sind dafür bekannt, dass Sie immer gern und viel
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP
auf die Pharmaindustrie schimpfen; so haben Sie es auch
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung des Bündnis-
gerade getan. Aber gerade chronisch kranke Menschen
ses 90/Die Grünen angenommen.
profitieren doch davon, dass es Innovationen und neue
Medikamente gibt. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Daniel Bahr [Münster] [FDP]) Entschließungsantrag der FDP auf Drucksache 16/697.
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Deswegen müssen wir zwischen den Innovationen, die
Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Prostim-
uns tatsächlich nach vorne bringen und eine bessere Be-
men der FDP bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die
handlung von chronisch kranken Menschen ermögli-
Grünen und bei Gegenstimmen im Rest des Hauses ab-
chen, und denen, die das eher nicht tun, sauber trennen.
gelehnt.
Fünftens und abschließend möchte ich sagen, dass
dies natürlich ein Gesetz ist, das noch ein Stück weit in Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
der alten Tradition von Spargesetzen steht, die vor allem Drucksache 16/698. Wer stimmt für diesen Entschlie-
unter dem Druck des Beitragssatzes entstehen. ßungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit
ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt. Dafür haben
Deswegen lade ich Sie alle herzlich ein, gemeinsam die Abgeordneten der Fraktion Die Linke gestimmt. Da-
mit uns an einer großen Reform zu arbeiten, die dem gegen haben die Abgeordneten von FDP, CDU/CSU und
Ziel näher kommt, aus dieser Beitragssatzdynamik und SPD gestimmt. Enthalten hat sich die Fraktion des
dieser Kostensenkungsdynamik herauszukommen, lohn- Bündnisses 90/Die Grünen.
unabhängiger zu finanzieren, mehr Wettbewerb, vor al-
lem mehr Wettbewerb um Qualität, zuzulassen und Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnis-
damit das Potenzial, das schon heute angesichts von ses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/699. Wer stimmt
4,2 Millionen Beschäftigten in dieser Branche liegt, zu für diesen Entschließungsantrag? – Gegenprobe! – Ent-
steigern. haltungen? – Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt
bei Prostimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Grünen, Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegen-
wenn Sie heute dabei helfen, den Beitragssatz stabil zu stimmen im Rest des Hauses.
1540 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Damit rufe ich Tagesordnungspunkt 19 auf: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei uns ist die (C)
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Ar-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte beitsplätze um 3 Millionen gestiegen!)
Pothmer, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des heute offensichtlich schlecht. Sie hängen doch Ihre
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fahne nach dem Wind!
Progressiv-Modell statt Kombilohn Die Hauptursache für den Mangel an solchen Arbeits-
plätzen muss in den hohen Sozialversicherungsbeiträgen
– Drucksache 16/446 – gesehen werden. Diese sind übrigens auch unter
Überweisungsvorschlag: Schwarz-Gelb ständig angestiegen, Herr Kolb!
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Ausschuss für Gesundheit Dirk Niebel [FDP]: Sie waren es, die die 5-Mil-
Haushaltsausschuss lionen-Marke gerissen haben!)
Interfraktionell ist für die Aussprache zu diesem Ta- Die hohen Lohnnebenkosten machen diese Arbeits-
gesordnungspunkt eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu plätze für die Arbeitgeber unwirtschaftlich und für die
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Arbeitnehmer unattraktiv. Das Ergebnis ist ein ständiges
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze Anwachsen der Schwarzarbeit.
einzunehmen bzw. ihre Wochenendverabredungen drau- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
ßen zu treffen. DIE GRÜNEN)
(Dirk Niebel [FDP]: Oder sie sollen öffentlich Wir schlagen mit unserem Progressivmodell vor, die
machen, wer sich mit wem trifft! Auch das Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich ge-
wäre doch interessant!) zielt zu senken, und zwar nicht um 1 oder 2 Prozent-
punkte – das würde gar keine Wirkung entfalten –, son-
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der dern nach der Formel „Je geringer das Einkommen,
Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. desto geringer auch die Sozialabgaben“. Wir glauben,
dass wir damit insbesondere im unteren Lohnbereich
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): deutlich bessere Ergebnisse erzielen werden, als es mit
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus dem von der CDU favorisierten Kombilohnmodell je
dem Problem der Massenarbeitslosigkeit ist in Deutsch- möglich wäre.
land leider längst eine Dauerkatastrophe geworden.
(B) Wir lehnen dieses Kombilohnmodell übrigens nicht (D)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch in aus ideologischen Gründen ab. Sie können sich viel-
sieben Jahren Rot-Grün nicht besser gewor- leicht noch daran erinnern, dass wir Grünen seinerzeit
den!) dafür waren, Kombilohnmodelle auszuprobieren. Aber
wir müssen nach der Probephase zur Kenntnis nehmen,
Diese Dramatik wird noch dadurch gesteigert, dass die wie die Ergebnisse sind:
Zahl der Langzeitarbeitslosen ständig zunimmt. Dabei
handelt es sich um eine Gruppe, die überwiegend sehr (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und?)
schlecht ausgebildet ist oder gar keine Ausbildung hat. Die Ergebnisse sind grottenschlecht.
Aufgrund der wirklich mangelhaften Ausbildungs- und
Bildungssituation in Deutschland steigt die Zahl der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Langzeitarbeitslosen leider von Jahr zu Jahr. Parallel Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie die Finger davon!
dazu schwinden die Arbeitsplätze, insbesondere solche Wir wissen doch inzwischen, dass Kombilohnmodelle
mit einfachen Anforderungen. Deshalb muss es vor allen geradezu absurd teuer sind: Je nach Ausgestaltung kos-
Dingen um eines gehen: zu klären, wie wir die Voraus- ten sie 35 000 bis 70 000 Euro pro Jahr.
setzungen dafür schaffen können, dass insbesondere für
die Gruppe der gering Qualifizierten Beschäftigungs- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja wie ein Stein-
angebote entstehen. kohlearbeitsplatz!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Das ist ein Vielfaches von dem, was die Leute in diesem
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und das habt ihr, unteren Lohnbereich verdienen.
nachdem ihr sieben Jahre regiert habt, so Kombilohnmodelle setzen außerdem falsche Anreize:
plötzlich gemerkt?) Wir haben die berechtigte Sorge, dass durch diese Mo-
– Herr Kolb, die FDP-Fraktion hat in Deutschland sehr delle Arbeit generell zu subventionierter Arbeit würde.
lange mitregiert. Das können wir nicht wollen. Kombilohnmodelle, zu-
mindest in großem Umfang, sind in Deutschland ge-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das waren gute scheitert; das ist das Ergebnis.
Zeiten!)
Mit dieser Skepsis stehen wir Grünen wahrlich nicht
– „Das waren gute Zeiten“? Herr Kolb, über Ihre Defini- alleine da. Dass wir uns allerdings in Gemeinschaft mit
tion davon, was gute Zeiten sind, müssen wir hier noch der FDP wieder finden, lässt mich noch einmal darüber
einmal reden. Jedenfalls ist das, was damals gut war, nachdenken, ob wir uns richtig positioniert haben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1541
Brigitte Pothmer
(A) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Bekämpfung (C)
Lachen bei Abgeordneten der FDP) der Arbeitslosigkeit ein ganz zentrales Thema für uns
alle ist. Es ist für die Gesellschaft, für die sozialen Siche-
Wenn aber die Bundesagentur für Arbeit dagegen ist, rungssysteme in unserem Land, für unsere Finanzen und
wenn die Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften, die in erster Linie für die Menschen in unserem Land ein
Mitglieder des Sachverständigenrates und große Teile zentrales Thema.
der SPD-Fraktion dagegen sind, dann muss doch klar
sein: Die Einführung von Kombilohnmodellen wäre ein Vor einer Woche haben wir den Evaluierungsbericht
großer Fehler. zu Hartz I bis III diskutiert. Dieses Projekt wurde von
Rot-Grün auf den Weg gebracht.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war nicht so
Wie war das mit der Million Fliegen, die sich doll!)
nicht irren können?) – Wir müssen jetzt ja Rücksicht auf unseren Koalitions-
partner nehmen. Deswegen sagen auch wir nur: Es war
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht ganz so doll.
Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Frau (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Pothmer. Sie haben das doch mit beschlossen!)

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Ja, die zentralen Teile. Bei dem, was gescheitert ist, ha-
ben wir eben nicht mitgemacht. Denken Sie nur an die
Ich komme zum Schluss.
Personalserviceagenturen: ein Verriss sondergleichen.
Ich will nur noch darauf hinweisen, dass bei der Ein- Das haben wir vom ersten Tag an angemahnt.
führung unseres Progressivmodells auch die Mini- und (Beifall bei der CDU/CSU)
die Midijobs, deren Fehler sich im Rahmen der Evaluie-
rung von Hartz IV gezeigt haben, integriert wären. Da- Jetzt laufen wir wieder in genau die gleiche Richtung.
mit hätten wir den Vorteil, dass alle, die in diesem Be-
Der Evaluierungsbericht zu Hartz I bis III sollte uns
reich arbeiten, sozialversichert wären – ab dem ersten
deutlich gemacht haben, dass wir jetzt Reformen brau-
Euro. Das ist sicher nicht umsonst zu haben; nach unse-
chen, die greifen.
ren Schätzungen kostet es etwa 13 Milliarden Euro.
Doch das wäre nur ein Bruchteil von dem, was Kombi- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lohnmodelle an Kosten verursachen würden. NEN]: Richtig!)
(B) Ich danke Ihnen. Da wir Reformen brauchen, die greifen, müssen wir sie (D)
auch sachlich durchdiskutieren und erörtern. Wir müssen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das Pro und Contra abwägen

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt wird es


aber interessant!)
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich, CDU/
CSU-Fraktion. und es nicht so machen, wie Sie, nämlich einen Schnell-
schuss in die Welt setzen und sich dann wieder von der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diskussion verabschieden.

Michael Hennrich (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt doch
bitte noch was Inhaltliches! – Dr. Heinrich L.
Herren! Liebe Frau Pothmer, ich fühle mich an alte Zei-
Kolb [FDP]: Bei Ihnen dauert das jetzt wieder
ten zurückerinnert, als es unter Rot-Grün Schnellschüsse
vier Jahre!)
en masse gab, bei denen dann permanent nachgebessert
werden musste. – Ja, ja, aber wir sind ja noch am Anfang dieser Legis-
laturperiode, lieber Herr Kolb.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie wollen es
jetzt doch besser machen!) (Dirk Niebel [FDP]: Ich finde, Sie sind schon
ganz schön fertig!)
Die SPD hat dazugelernt, sie ist auf den Pfad der Tugend
zurückgekehrt und lässt sich Zeit. Bei Ihnen aber muss Ihre Analyse zum Niedriglohnsektor und zur Be-
es immer noch schnell gehen. schäftigungsquote ist richtig. Sie sagen, die Beschäfti-
gungsquote im Hinblick auf die Langzeitarbeitslosen
Sie legen uns heute ein Modell vor, bei dem allenfalls und die Geringqualifizierten ist immer noch zu gering.
noch der Name ein gewisses Interesse weckt. Was sich Hier sind wir vollkommen d’accord. In einem entschei-
dahinter versteckt, ist aber eine Luftblase. denden Punkt liegen Sie meines Erachtens aber falsch.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn Sie sagen, die Lohnzusatzkosten seien der Grund
NEN]: Das haben Sie doch gar nicht verstan- für die schwache Beschäftigung der Geringqualifizierten
den!) und der Langzeitarbeitslosen, dann haben Sie das Thema
verfehlt. Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen deut-
– Doch, dazu kommen wir jetzt gleich noch. lich machen.
1542 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Michael Hennrich
(A) Zunächst aus Sicht der Arbeitgeber: Schauen Sie sich – Sie müssen das aber in Bezug zur Erwerbstätigkeit set- (C)
das Grenzgebiet zu Tschechien an. Wenn ein Arbeitneh- zen. Wie lösen Sie dieses Problem? Da kommt nur Kopf-
mer in Bayern 8 Euro verdient, während man hinter der schütteln und „Weiß ich nicht“.
Grenze in der Slowakei oder in Tschechien vielleicht
zwischen 3 und 5 Euro Lohn erhält, dann spielen Sozial- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
abgaben in Höhe von 10, 15 oder 20 Prozent nur eine ab- NEN]: Kein Kopfschütteln!)
solut untergeordnete Rolle. Dieses Beschäftigungsver- Diese Problembereiche zeigen uns deutlich, dass die-
hältnis wird nicht attraktiv. ser Antrag wenig durchdacht ist. Wie gesagt, damit ha-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben Sie einen Schnellschuss in die Welt abgegeben. Von
NEN]: Ich dachte immer, Sie seien für die seriöser Politik haben Sie leider Gottes Abstand genom-
Senkung der Lohnnebenkosten!) men.

– Stopp, stopp! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das zweite Beispiel ist aus Sicht der Arbeitnehmer: Ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir ein Modell brau-
Schauen Sie sich das heutige System mit Hartz IV an. chen, das Lohndumping eindämmt. Deswegen sollten
Ein vierköpfiger Familienvater – – die Transferleistungen meiner Meinung nach beim Ar-
beitnehmer und nicht beim Arbeitgeber ankommen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hat nur einen!
– Weiterer Zuruf von der FDP: Monster! – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Heiterkeit im ganzen Hause) Dirk Niebel [FDP]: Das ist das einzig Vernünf-
tige!)
– Sie wissen, wie ich das gemeint habe. – Schauen Sie
Diese Diskussion müssen und werden wir in der nächs-
sich einen Familienvater an, dessen Familie vier Perso-
ten Zeit seriös führen. Wir haben gesagt, dass wir im
nen umfasst – es sind also zwei Kinder, lieber Herr
Herbst ein Konzept vorlegen.
Kolb – und dessen Stundenlohn, so nehmen Sie an,
9 Euro beträgt. Er arbeitet 160 bis 170 Stunden im Mo- Aber ich möchte noch auf einen Punkt ganz deutlich
nat. Dadurch kommt er auf einen durchschnittlichen hinweisen: Wir dürfen nicht dem Irrglauben unterliegen,
Bruttolohn von circa 1 500 Euro. Das ist genau der Be- zu denken, mit einem Kombilohn- oder Progressiv-
trag, den er heute schon durch Hartz IV erhalten würde. modell könnten alle Probleme in unserem Land gelöst
Auch er hat also keinen Anreiz, eine Tätigkeit aufzuneh- werden. Wir brauchen flankierende Maßnahmen, um
men, weil er dieses Geld ja bekommen kann, ohne dass Baustellen wie die Deregulierung am Arbeitsmarkt, den
(B) er arbeitet. Auch für ihn spielen die Sozialversicherungs- Arbeitsschutz oder den Kündigungsschutz in den Griff (D)
abgaben im Grunde genommen überhaupt keine Rolle. – zu bekommen.
Das sind nur zwei Beispiele, die ich erwähnen wollte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Jetzt möchte ich aber auch noch ein paar Fragen zu der FDP)
Ihrem Antrag aufwerfen. Sie haben hier formuliert, dass
zusätzliche Steuergelder in Höhe von 13 Milliarden Euro – Ich freue mich, dass Sie applaudieren.
erforderlich sind. Wir müssen Bürokratie konsequent abbauen. Die
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genehmigungsverfahren sind zu lang. Wer sich heute in
NEN]: Ja!) unserem Land selbstständig machen will, braucht für das
Einholen der Genehmigung 46 Tage. In anderen europäi-
Meine erste Frage lautet: Woher nehmen Sie die? schen Ländern – um das einmal zu vergleichen – dauert
das zwischen zwei und zehn Tagen. Das ist ein entschei-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dender Unterschied. Wir müssen darüber hinaus mehr
NEN]: Dafür werden wir Ihnen einen Haus- Wert auf Qualifizierung und Weiterbildung legen.
haltsvorschlag machen! Da können Sie sich
ganz sicher sein!) Ich habe nur einige Punkte angerissen, um deutlich zu
machen, wo die Baustellen der Zukunft liegen. Sie haben
– Seien Sie doch bitte mal konkret. Wir wollen hier eine einen kleinen Teilaspekt herausgegriffen, ohne dies in ei-
ernsthafte und seriöse Politik betreiben. Deshalb bitte nem Gesamtzusammenhang zu sehen. Deswegen lehnen
ich Sie einmal, diese Frage ganz konkret zu beantworten. wir Ihren Antrag ab.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Meine zweite Frage, Frau Pothmer: Völlig ungeklärt NEN]: Wir sind doch gerade in der ersten Be-
ist auch, wie sich die Situation im Alter darstellt, wenn ratung!)
die betroffenen Personen keine Rentenversicherungsbei- Ich hoffe, Sie kehren auf den Pfad der Tugend zurück.
träge mehr zahlen. Wer keine Rentenversicherungsbei- Konzentrieren Sie sich wieder auf das Wesentliche und
träge zahlt, erwirbt auch keine Rentenansprüche. bringen Sie inhaltlich ausgereifte Vorschläge ein!
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herzlichen Dank.
NEN]: Das wird durch Steuermittel kompen-
siert!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1543

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So geht das! So (C)
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion. einfach ist das!)
(Andreas Steppuhn [SPD]: Mehrwertsteuer!) und das System ist gerecht, weil 35 Prozent von
50 000 Euro mehr sind als 35 Prozent von 15 000 Euro.
Dirk Niebel (FDP): (Beifall bei der FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wir wollen das alles kombinieren, um die Menschen
Herren! Ich höre gerade den Zwischenruf „Mehrwert- zu unterstützen, die derzeit vom Arbeitsmarkt ausge-
steuer“ vonseiten der Sozialdemokratie. Sie werden da- grenzt werden. Statt Kombilöhne zu planen oder ein Pro-
mit leben müssen, dass Sie vor der Wahl etwas anderes gressivmodell zu entwickeln, das nur an den Symptomen
gesagt haben als das, was Sie hinterher machen. herumdoktert, stellen wir zunächst einmal fest: Es gibt
(Beifall bei der FDP) auf dem deutschen Arbeitsmarkt einen Bereich, der in
der legalen Wirtschaft nicht nachgefragt wird, weil die
Natürlich wird auch die Frage der Mehrwertsteuererhö- Gesamtkosten der Arbeit zu hoch sind. Bestimmte Tätig-
hung in dieser Debatte einen wesentlichen Bestandteil keiten werden hier in der legalen Wirtschaft nicht mehr
meiner Ausführungen einnehmen; da können Sie gewiss angeboten.
sein.
Weil wir aber wissen, dass dauerhafte Arbeitslosig-
(Petra Ernstberger [SPD]: Das wissen wir!) keit Freiheitsberaubung ist, wollen wir den Menschen
die Möglichkeit geben, wenigstens einen Teil ihres Un-
Nichtsdestotrotz ist der Ansatz, den die Fraktion des terhalts wieder durch eigene Arbeit zu erwirtschaften.
Bündnisses 90/Die Grünen mit ihrem Antrag verfolgt,
falsch. Sie will die Sozialversicherungsbeiträge im unte- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
ren Einkommenssegment absenken und erst ab einem Deswegen haben wir das so genannte Bürgergeld-
Bruttoeinkommen von mehr als 2 000 Euro bei Sozial- modell vorgeschlagen.
versicherungsabgaben von insgesamt 42 Prozent ankom-
men. Das ist grundsätzlich falsch, weil die Belastung (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
von Arbeit mit Steuern und Abgaben in diesem Land
Wir haben von unserem Herrn Bundespräsidenten eine
insgesamt zu hoch ist.
bemerkenswerte und für uns sehr erfreuliche Unterstüt-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!) zung bekommen, als er Ende des vergangenen Jahres in
einem Interview im „Stern“ angeregt hat, in Deutschland
Sie bleiben in dem Korsett, unter dem wir schon jetzt lei- über ein System der negativen Einkommensteuer nach- (D)
(B) den und das unter Ihrer Regierungszeit noch enger ge-
zudenken.
schnürt worden ist – dabei haben Sie die Energiekosten
von Arbeit sogar herausgerechnet –, anstatt zu sagen: In dem von uns vorgeschlagenem Bürgergeldmodell
Wir brauchen einfache, niedrige und gerechte Steuern werden Einkommensteuer und Transfersystem zusam-
und wir müssen die Beiträge zu den sozialen Sicherungs- mengefasst. In Deutschland gibt es 138 steuerfinanzierte
systemen in den Griff bekommen. Transferleistungen – sehr große wie das Arbeitslosen-
geld II, aber auch sehr kleine wie die Heizkostenbeihilfe.
(Beifall bei der FDP) Diese 138 steuerfinanzierten Transferleistungen werden
Wir Liberale haben in zwei Bereichen Vorschläge ge- von 45 verschiedenen Behörden verwaltet. Wer da noch
durchblickt, ist so clever, dass er die Hilfe nicht braucht.
macht. Wir sind der festen Überzeugung: Kombilöhne
Wer aber Hilfe braucht, der blickt in dem System nicht
als flächendeckendes Modell werden das Problem der
Massenarbeitslosigkeit gerade für Geringqualifizierte mehr durch. Das müssen wir ändern.
nicht dauerhaft lösen, auch wenn zum Beispiel ältere Ar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)
beitnehmer durch einzelne solcher Elemente – das ent-
nehmen wir dem Evaluierungsbericht – in einem be- Deswegen müssen wir die steuerfinanzierten Trans-
grenzten Umfang durchaus wieder integriert werden ferleistungen mit dem Steuersystem verbinden. Wer ein
können. geringes Einkommen hat, weil seine Arbeit eine geringe
Wertschöpfung aufweist – notwendig sind produktivi-
Wir müssen den Menschen und den Betrieben mehr tätsorientierte Löhne –, dem wird eine negative Ein-
von ihrem selbst verdienten Geld übrig lassen, um so kommensteuer angerechnet. Wer leistungsfähig ist und
Möglichkeiten für Investitionen und Konsum zu schaf- Wert schöpfende Löhne erzielen kann, der unterliegt der
fen. Deswegen haben wir vorgeschlagen und werden es Steuerpflicht. Das ist vernünftig, weil wir damit den
auch in dieser Legislaturperiode in den Bundestag ein- Menschen unterstützen statt einen Arbeitsplatz oder Be-
bringen: ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuer- trieb. Das würde nur zu einem Downgrading der Ar-
system mit einem Grundfreibetrag von 7 700 Euro für beitsplätze in Bezug auf die Bezahlung und zu Mitnah-
jeden Menschen, egal ob klein oder groß, und mit einem meeffekten führen.
Stufentarif mit drei Stufen von 15, 25 und 35 Prozent.
(Beifall bei der FDP)
Das ist einfach: Jeder, der weiß, was er verdient, weiß,
was er an Steuern zu zahlen hat. Die Steuersätze sind Die Grünen schlagen ein Modell vor, in dem die
niedrig, sodass jedem Steuerzahler mehr bleibt als bei Mini- und Midijobs absorbiert werden. Das ist in arbeits-
der heutigen Regelung, marktpolitischer Hinsicht Unsinn, weil erstens die
1544 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dirk Niebel
(A) Minijobs nach sieben Jahren rot-grüner Regierung die Unternehmer viele neue Arbeitsplätze. Der Vorschlag er- (C)
einzigen noch verbliebenen flexiblen Möglichkeiten am scheint Ihnen bestechend einfach. Ich sehe ihn in der
Arbeitsmarkt sind. Sie haben nämlich den gesamten Ar- Tradition des merzschen Bierdeckelkonzepts. Ich würde
beitsmarkt zubetoniert. Es ist auch deshalb Unsinn, weil sagen, Ihr Vorschlag passt auf ein Taschentuch oder eine
zweitens durch die Minijobs zumindest die Schwarz- Serviette. Mein Kollege von der Union hat schon deut-
arbeit eingedämmt worden ist. Dadurch haben Men- lich gemacht, wo überall offene Posten sind. Mit diesen
schen wieder Zugang zur legalen Wirtschaft gefunden. muss man sich ganz sicher näher beschäftigen.
Das Prinzip erklären Sie in Ihrem Antrag auch für rich-
Ihrem Progressivmodell liegt zugrunde, die Beiträge
tig, nämlich die Entlastung der Einkommen im Bereich
zur Sozialversicherung analog zum Steuerrecht zu ge-
gering bezahlter Tätigkeiten.
stalten, also mit gleitender, stufenloser Steigerung bis zu
Wir schlagen in unserem Bürgergeldkonzept vor, die einem Beitragssatz von 42 Prozent, wohlgemerkt: 42 Pro-
Grenze für Minijobs von 400 Euro auf 600 Euro zu erhö- zent für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in toto. Das be-
hen und das Ganze in das geplante Steuer- und Transfer- kannte Prinzip aus dem Steuerrecht soll übertragen wer-
system aus einem Guss zu integrieren, um die Chancen den. Das klingt sehr einfach. Es bleiben aber ein paar
zur Erwerbsaufnahme im Bereich gering qualifizierter Kleinigkeiten, beispielsweise die von Ihnen geschätzten
Beschäftigung in der legalen Wirtschaft im Inland zu er- – selbstverständlich dann steuerfinanziert – Kosten in
höhen. Höhe von circa 13 Milliarden Euro. Mein Gott! Wer re-
det schon über eine so läppische Summe? Man ist direkt
Deswegen können wir dem Modell in seiner jetzigen
versucht, von Peanuts zu sprechen, wenn man die Ge-
Fassung nicht zustimmen.
waltigkeit Ihres Entwurfes sieht.
Vielen herzlichen Dank.
In Ihrem Antrag gibt es aber einen Punkt, in dem Sie
(Beifall bei der FDP) in Ihrer Argumentation absolut unlogisch sind. Sie mei-
nen, mit Ihrem Antrag ausschließlich denjenigen zu hel-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fen, die mit geringer Qualifikation Beschäftigung auf
Das Wort hat Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Frak- dem Arbeitsmarkt suchen. Fakt ist aber, dass Ihr Modell
tion. lediglich jene Arbeitsuchenden begünstigt, die ein nicht
so hohes Einkommen haben. Wenn man genauer hin-
(Beifall bei der SPD) schaut, dann stellt man fest, dass das möglicherweise
zwei verschiedene Personengruppen sind. Ich kenne
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): viele Kolleginnen und Kollegen – nicht aus dem Bun-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe destag, sondern von meiner alten Arbeitsstätte –, die
(B) (D)
Kolleginnen und Kollegen! Seit neun Uhr heute Morgen durchaus für einen geringen Lohn oder Teilzeit arbeiten,
verfolgen viele diese Plenardebatte. Was denken sie die aber sehr wohl einer hochwertigen Tätigkeit nachge-
wohl über uns? Wenn sie den Wortbeiträgen der Opposi- hen. All diese Arbeitnehmer wären ebenfalls betroffen.
tionsparteien zuhören, dann meinen sie sicherlich, dass Aber darüber gehen Sie großzügig hinweg. Das heißt,
heute ein Tag der Vereinfachung ist. Denn Ihre Beiträge der Verzicht auf Zielgenauigkeit ist ein wesentliches
waren von Vereinfachung und Schlichtheit geprägt und Element Ihres Antrages.
es war auch hin und wieder Nachhilfe nötig. Aber auch
(Beifall bei der SPD)
das gehört sicherlich zu einer Plenardebatte.
Das Progressivmodell ist keine Alternative zum
Es mag aber auch als ein Tag des Verschwendens er-
Kombilohn. – Auch wenn Sie den Kopf schütteln, Frau
scheinen, wenn wir uns in Erinnerung rufen, worüber
Pothmer, möchte ich Ihnen sagen, worum es eigentlich
wir seit neun Uhr heute Morgen diskutieren: Wir disku-
geht, wenn wir über Kombilöhne reden. In der Tat haben
tieren aus gutem Grund über arbeitsmarktpolitische
wir drei bundesweite, unbefristete Modelle – davon war
Aspekte und Argumente – es ist bitter nötig, darüber zu
schon die Rede –: Minijobs, Midijobs und den anrech-
reden –, aber nun steht der Antrag der Grünen zur Dis-
nungsfreien Hinzuverdienst zum ALG II. Ich erwähne
kussion. Sein Titel klingt sehr fortschrittlich; wer kann
das nur, weil diese Details, die für viele den Alltag be-
schon gegen ein Modell sein, das sich „progressiv“
stimmen, gelegentlich völlig aus dem Blickfeld geraten.
nennt. Das muss doch wohl Fortschritt pur enthalten.
Darüber hinaus gibt es bundesweite, aber befristete
Aber schon die ersten fünf Punkte machen deutlich, dass
Kombilöhne: das Einstiegsgeld nach § 29 SGB II, den
sich das Progressive auf die Überschrift beschränkt.
Kinderzuschlag, die Entgeltsicherung für Arbeitslose ab
Frau Pothmer, Sie haben unterstrichen, dass Sie be- 50 sowie Lohnkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose.
reits eine klare und abschließende Einschätzung haben. Das sei der Vollständigkeit halber einmal erwähnt. Zu-
Wie Sie dazu gekommen sind, weiß ich nicht. Jedenfalls sätzlich gibt es noch sehr viele regional begrenzte Mo-
gehen Sie wohl davon aus, dass es sich nicht lohnt, die delle, die sich in der Erprobung befinden.
Idee von Kombilöhnen zu verfolgen. Das erscheint Ih-
Das alles ist sicherlich ein bisschen viel. Wir müssen
nen als kleinliche Lösung. Sie aber sind für den großen
das konzentrieren und bündeln; darin werden mir sicher-
Wurf. Das finde ich gut.
lich alle im Haus zustimmen. Es ist aber notwendig, dass
Ich denke, Sie haben sich mit Ihrem Antrag Skandi- wir das sorgfältig und gut entwickeln. Genau das sieht
navien zum Vorbild genommen. Sie glauben sicherlich, der Koalitionsvertrag vor. In einem Punkt unterscheidet
wenn das Modell umgesetzt wird, dann schaffen unsere er sich allerdings völlig von dem, was Sie vorgeschlagen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1545
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) haben. Wir wollen nicht, dass ein Kombilohn, wie er in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
der politischen Debatte ist, zu dauerhaften Subventionen Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus von der
von Unternehmen führt. Die Koalition steht im Wort und Fraktion Die Linke.
hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die nach sorgfältiger
Prüfung bis zum Herbst dieses Jahres einen konkreten (Beifall bei der LINKEN)
Vorschlag erarbeiten wird. Dieser wird – im Gegensatz
zu Ihrem Modell – keine Antworten schuldig bleiben. Werner Dreibus (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Was Sie vorschlagen, ist nichts anderes als eine grund- Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Grünen hat
legende Neuausrichtung der anteiligen Beitragsfinan- für ihr Vorhaben den Titel „Progressivmodell“ gewählt.
zierung der Sozialversicherungssysteme. Wenn Sie
schon davon sprechen, dann hätte ich es gut gefunden, (Dirk Niebel [FDP]: Das ist sehr hochtra-
wenn Sie dargelegt hätten – wie eine Entzauberung –, bend!)
wie Sie das Ganze finanziell gestalten wollen. Im Aus-
schuss wie im Plenum reden wir oft über die Probleme, Das ist ohne Zweifel eine innovative Leistung.
die wir mit der Finanzierung unserer Sozialversiche- (Dirk Niebel [FDP]: Das war es auch schon!)
rungssysteme, insbesondere der Kranken- und der Ren-
tenversicherung, haben. Aber Sie machen keinen Vor- Das Wort „progressiv“ bezieht sich zwar in erster Linie
schlag zur Finanzierung, sondern sorgen für neue Löcher. auf den Anstieg der Sozialabgabensätze, es soll aber ir-
Das ist einer der großen Nachteile Ihres Antrags. Nun ha- gendwie nach Fortschritt klingen.
ben Sie vorgetragen, dass Sie alles, was fehlt, nachliefern (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
werden. Das mag ja sein. Aber mit dem Nachliefern ist NEN]: Es ist die Anlehnung an das Steuer-
das so eine Sache. Besser wäre es gewesen, wenn Sie ein recht!)
komplettes Angebot gemacht hätten, über das man ab-
schließend urteilen könnte. – Frau Pothmer, entschuldigen Sie bitte, aber ich kann
Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie uns unter der
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) neuen Überschrift Ihres so genannten Progressivmodells
Dann ist mir eingefallen, woran das Ganze grundsätz- tatsächlich alten Wein in neuen Schläuchen servieren.
lich krankt. Mir kam Ihr Vorschlag von Anfang an so be- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Thea Dückert
kannt vor. Das stimmt auch. Sie haben etwas aus der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen
Schublade gezogen, was Sie im letzten Sommer entwi- nach der Wahl, was wir vor der Wahl verspro-
ckelt haben, als Sie in den Wahlkampf zogen und mein- chen haben!)
(B) ten, Sie müssten eine Alternative entwickeln. (D)
Sie behaupten, Ihr Modell sei eine Alternative zu tradi-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionellen, auch hier in der Debatte bereits angesproche-
NEN]: Daran sehen Sie, dass das kein Schnell- nen Kombilohnkonzepten. Kombilohnmodelle in der
schuss ist! Daran arbeiten wir seit Sommer!) Art, wie wir sie auch hier gehört haben, sind zunächst
Das ist das gewesen, was heute auf den Tisch flattert und einmal nichts anderes als eine staatliche Subvention.
hier zu beraten ist. Es ist keinen Deut anders als der Vor- Auch Ihr Modell sieht staatliche Subventionen vor.
schlag des letzten Jahres. Der Vorschlag ist so ungenü- Kombilohnmodelle beinhalten eine Subventionierung
gend und undetailliert wie vor einem Jahr. von Löhnen und Sozialabgaben. Ihr Modell will einen
Teil der Sozialabgaben subventionieren. Kombilohnmo-
(Dirk Niebel [FDP]: Haben Sie Ihre Unterla- delle sehen ab einer Einkommensgrenze die Reduktion
gen vorher nie ausgearbeitet?) oder den vollständigen Wegfall der Subvention vor. Ihr
Modell will das auch. Mir erschließt sich nicht, was da-
Deshalb sage ich: Gut, dass wir heute darüber geredet ran wirklich progressiv oder neu ist. Allein ein Blick auf
haben. Etwas schade um die Zeit. Ich bin sehr gespannt,
die Bilanz von Kombilöhnen hätte Ihnen zeigen können,
ob es Ihnen gelingen wird, einen Gesamtzusammenhang
dass es vollkommen unzureichend ist, untauglichen In-
herzustellen. Das Ganze muss sich nicht nur für die ge-
strumenten zumindest dieser Art einfach nur einen neuen
samte Gesellschaft rechnen, sondern auch für den Staat;
Anstrich zu verpassen. Wenn Sie den CO2-Austoß Ihres
denn mit den 13 Milliarden Euro sind Sie an der unteren
Autos reduzieren wollen, fangen Sie doch auch nicht da-
Grenze dessen, was man überhaupt kalkulieren kann. Ich
fürchte, es würde wesentlich mehr kosten. Abgesehen mit an, Ihren Wagen grün zu streichen.
davon geht es um die Etablierung eines Systems, über Was lehren uns die Erfahrungen mit den diversen
dessen Sinnhaftigkeit man genau nachdenken sollte. An- Kombilohnmodellen, soweit wir sie bisher überhaupt bi-
dere europäische Staaten haben anders finanzierte So- lanzieren können? Die Arbeitsmarktstatistik zeigt, dass
zialversicherungssysteme. Sie haben zwar abgeschrie- Kombilöhne traditioneller Art nicht zu einem nennens-
ben, aber wenn man abschreibt, dann sollte man richtig werten Aufbau von Beschäftigung geführt haben. Die
abschreiben und nicht so wie Sie. Beispiele sind genannt worden. So ist etwa das so ge-
Vielen Dank. nannte Mainzer Modell, auch mit Ihrer Unterstützung
eingeführt, kaum nachgefragt worden. Es wurden nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einmal 20 000 Beschäftigungsverhältnisse gefördert.
der CDU/CSU) Dieser Misserfolg – das sollten sich die Kolleginnen und
1546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Werner Dreibus
(A) Kollegen der Grünen bei ihren Kombilohnfantasien mit Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: (C)
der Marke „progressiv“ ins Gedächtnis rufen – hat be-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
reits im Jahr 2003 zur Einstellung des Mainzer Modells
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
geführt.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mein Fazit lautet zunächst jedenfalls: Diese Art von Offene Fragen zur Entsorgung radioaktiver
Kombilöhnen schafft keine Arbeitsplätze. Kein Unter- Abfälle klären – Verantwortung für nachfol-
nehmen beschäftigt Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- gende Generationen übernehmen
mer, weil sie billiger oder teurer sind, sondern nur dann,
wenn tatsächlich zusätzliche Arbeit – also Nachfrage – – Drucksache 16/267 –
vorhanden ist. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Finanzausschuss
NEN]: Von Schwarzarbeit haben Sie noch Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
nichts gehört?) Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
An der Stelle ein Hinweis auf Ihre Begründung: Sie
schreiben, Hauptursache für den Mangel an solchen Ar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
beitsplätzen seien vor allem die höheren Sozialversiche- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
rungsabgaben. Nun einmal in allem Ernst: Es ist doch keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
wirklich unter Niveau, auch unter Ihrem Niveau, Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
(Dirk Niebel [FDP]: Nicht wirklich!) Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.

davon auszugehen, dass es an den Sozialversicherungs- Angelika Brunkhorst (FDP):


abgaben liegt, dass wir zu wenig Arbeitsplätze haben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der LINKEN) Herr Umweltminister Gabriel, nach sieben Jahren Sta-
gnation unter Ihrem Vorgänger Trittin ist es nun endlich
Kombilöhne sind eine Subvention für die Unterneh- an der Zeit, in der Frage der Endlagerung radioaktiver
men, nicht für die Arbeitnehmer. Die Unternehmen wer- Abfälle zu einer Lösung zu kommen. Das sind wir den
den solche Subventionen kassieren, eventuell Arbeitslose nachfolgenden Generationen schuldig. Herr Gabriel, ich
einstellen, aber – wenn es keine zusätzliche Nachfrage fordere Sie wirklich auf, Mut zu zeigen und einen Kon-
(B) gibt – zu teure Beschäftigte entlassen. Kombilöhne setzen trapunkt der Vernunft zu setzen. (D)
damit zwangsläufig eine Lohnspirale nach unten in Gang. (Beifall bei der FDP)
Das schwächt die Nachfrage und führt eher zu weiteren
Arbeitsplatzverlusten – ganz abgesehen von den horren- Die FDP bekennt sich in Übereinstimmung mit ande-
den Kosten dieser Subventionen. Herr Steinbrück wird ren Staaten in der Europäischen Union zu einer Zwei-
sich freuen. Endlager-Konzeption. Die sicherheitstechnischen An-
forderungen an die Endlagerung hoch radioaktiver
Unsere Position ist: Wir brauchen eine andere Be- Abfälle einerseits und schwach radioaktiver und mittel-
schäftigungspolitik, eine andere Wirtschaftspolitik, Re- radioaktiver Abfälle andererseits sind sehr unterschied-
allohnsteigerungen und eine deutliche Stärkung der lich: Es bedarf einer getrennten Behandlung und Lage-
Massenkaufkraft, eine Erhöhung der öffentlichen In- rung. Das wurde uns von allen Experten bestätigt. Nicht
vestitionen und den Ausbau eines modernen Dienstleis- eine einzige wissenschaftliche Expertise hat in der Ein-
tungssektors. Außerdem brauchen wir – das sage ich an Endlager-Lösung einen Vorteil konstatiert, nicht einmal
diesem Freitag ganz bewusst, auch aus aktuellen Grün- der AK End, der nur diese Lösung bewerten sollte.
den – keine Arbeitszeitverlängerung, sondern eine Ar-
(Beifall bei der FDP)
beitszeitverkürzung, um den geringeren Arbeitsumfang
besser und gerechter zu verteilen und mehr Beschäfti- Ich fordere die Bundesregierung deshalb auf, sich von
gung zu schaffen. der Ein-Endlager-Konzeption deutlich zu distanzieren.
Vielen Dank. (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])

(Beifall bei der LINKEN) Die Verschiebetaktik des ideologisch motivierten ehe-
maligen Ministers Trittin wird höchstwahrscheinlich
dazu führen, dass unser Ziel, 2030 ein Endlager für hoch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: radioaktive Abfälle bereitzustellen, in weite Ferne ge-
Ich schließe die Aussprache. rückt ist. Fachleute sprechen davon, dass wir wahr-
scheinlich von einer Zeitachse 2050 bis 2062 ausgehen
Zwischen den Fraktionen ist die Überweisung der müssen. Ich finde das fatal, auch unter dem Gesichts-
Vorlage auf Drucksache 16/446 an die in der Tagesord- punkt, dass wir damit ein neues Problem heraufbe-
nung ausgeführten Ausschüsse verabredet. Sind Sie da- schwören: Die Nutzungsdauer der Zwischenlager an
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über- den Kernkraftwerken beträgt nur 40 Jahre. Wir wissen
weisung so beschlossen. nicht, ob wir nach diesen 40 Jahren schon ein Endlager
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1547
Angelika Brunkhorst
(A) haben. Falls nicht, werden die Zwischenlager zu Endla- schaftlich begründeten anderen Stellungnahmen zu Gor- (C)
gern. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben. leben, die es vorher schon gegeben hat, nach denen dort
eine langzeitsichere Endlagerung höchstwahrscheinlich
(Beifall bei der FDP) möglich ist und Eignungshöffigkeit gegeben ist, auf je-
Die Situation stellt sich heute so dar: 85 Prozent aller den Fall – das will ich hier betonen – gestärkt.
radioaktiven Abfälle sind schwach radioaktiv oder mit-
Herr Minister, die Begründung des Moratoriums ist
telradioaktiv. Sie kommen aus Forschungseinrichtungen
weggefallen. Ich bitte Sie: Heben Sie das Moratorium
und aus medizinischen Einrichtungen. Für zwei Drittel
auf!
der Gesamtmenge ist der Bund verantwortlich. Herr
Minister, deshalb appelliere ich hier an Sie. Wir haben (Beifall bei der FDP)
ein planfestgestelltes Endlager für diese Art von Abfall,
nämlich den Schacht Konrad. Herr Minister, ich möchte In der Presse der vergangenen Wochen erfuhren wir,
Sie daran erinnern, dass diese Planfeststellung erfolgt ist, Herr Minister Gabriel, dass Sie erwägen, den Vorschlag
als Sie Ministerpräsident und Wolfgang Jüttner Umwelt- des AK End aufzugreifen und alternative Standorte er-
minister in Niedersachsen waren. forschen zu lassen – unter der Prämisse, den bestmögli-
chen Standort zu finden. Auch diese Argumentation er-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- klärt sachlich in gar keinem Fall die fortgesetzte
NEN]: Sigmar, das hätte ich nicht von dir ge- Unterbrechung der wissenschaftlich-technischen Erkun-
dacht!) dungsarbeiten.
Sie erinnern sich sicherlich daran.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die noch anhängigen Klageverfahren sollen Anfang
März entschieden werden. Ich möchte Sie wirklich bit- Sie müssen bitte zum Ende kommen, Frau
ten, nach Rechtskraft dieser Urteile das Ihnen direkt un- Brunkhorst.
terstellte Bundesamt für Strahlenschutz anzuweisen, so-
fort den Antrag auf eine Nutzung zu stellen und die Angelika Brunkhorst (FDP):
Inbetriebnahme des Schachts Konrad auf den Weg zu Sofort. – Es müssen jetzt endlich Entscheidungen ge-
bringen. troffen werden.
(Beifall bei der FDP) Zum Schluss möchte ich einen Appell an die Union
Das ist, finde ich, erforderlich, weil sonst die Notwen- richten. Angesichts der inhaltlichen Ähnlichkeit der Ar-
digkeit von Umkonditionierungen droht, was noch ein- gumente – die Pressemitteilung Ihrer Kollegin Reiche
(B) mal wieder Kosten verursacht. vom heutigen Tag lässt mich zuversichtlich sein – kann (D)
ich Sie eigentlich nur ermuntern: Stimmen Sie unserem
Als möglicher Endlagerstandort für hoch radioak- Antrag zu! Unterstützen Sie uns! Dann sind wir auf ei-
tive Abfälle – das sind die abgebrannten Brennstäbe aus nem guten Weg.
den Kernkraftwerken – wurde seit 1979 das Forschungs-
lager Gorleben erkundet. Die wissenschaftlichen Erkun- (Beifall bei der FDP)
dungen sind weit fortgeschritten. Investitionen in Höhe
von 1,4 Milliarden Euro wurden getätigt. Herr Minister, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ich fordere Sie auf, das Moratorium, welches von Ih- Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth,
rem Vorgänger im Jahre 2000 verhängt wurde, sofort CDU/CSU-Fraktion.
aufzuheben und die Erkundung unverzüglich weiterzu-
führen, natürlich ganz ausdrücklich ergebnisoffen.
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):
(Beifall bei der FDP – Lachen des Abg. Jürgen Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und Kollegen!
– Herr Trittin, hören Sie doch bitte zu! Zwischen CDU, CSU und SPD bestehen hinsicht-
Als Begründung für das Moratorium wurden vom da- lich der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeu-
maligen BMU unter Beteiligung des Bundesamts für gung unterschiedliche Auffassungen.
Strahlenschutz und der RSK insgesamt zwölf konzeptio- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das
nelle und sicherheitstechnische Fragestellungen, so ge- überrascht!)
nannte Zweifelsfragen, formuliert. Die Ergebnisse der
Klärung dieser Zweifelsfragen wurden im September Dies ist, wie Sie, meine Damen und Herren, sicherlich
2005 von den Fachleuten zugestellt. Es wurde des Weite- bemerkt haben, ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag. Auf
ren ein nicht öffentlicher Workshop veranstaltet, auf dem die Verdeutlichung dieses Sachverhalts haben Mitglieder
nochmals diskutiert und bewertet wurde. Der Synthese- der Bundesregierung zu Anfang dieses Jahres einige
bericht wurde am 4. November 2005 vorgelegt. Energie verwendet. Diese Frage ist zwischen den Koali-
tionspartnern – das ist klar – unstrittig strittig.
In dem Bericht wird ganz eindeutig festgestellt, dass
alle zwölf Fragen abgearbeitet und beantwortet sind. In (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So weit
dem Bericht wurde kein Negativvotum für Gorleben waren wir schon! – Weiterer Zuruf von der
ausgesprochen. Damit wurden eigentlich die wissen- FDP: Super! Bloß nichts entscheiden!)
1548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Maria Flachsbarth


(A) Ich zitiere weiter aus dem Koalitionsvertrag: Wärme entwickelnde Stoffe brauchen aus physikali- (C)
schen Gründen andere Lagerbedingungen als nicht oder
Deshalb kann die am 14. Juni 2000 zwischen Bun- vernachlässigbar Wärme entwickelnde Stoffe. Dabei
desregierung und Energieversorgungsunternehmen sind 85 Prozent des Volumens – Frau Kollegin
geschlossene Vereinbarung … nicht geändert wer- Brunkhorst, da stimmen wir völlig überein – aller radio-
den. aktiven Abfälle schwach oder mittel radioaktiv und viele
Das heißt, die Koalition hat noch einmal unterstri- der Zwischenlager für diese Stoffe haben ernsthafte Ka-
chen, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie in pazitätsprobleme. Der Bund ist hier ganz besonders in
Deutschland für die nächsten beiden Jahrzehnte festge- der Pflicht, aber auch in der Bredouille; denn zwei Drit-
schrieben ist und eine Strommenge von über tel der derzeitigen schwach bis mittel radioaktiven Stoffe
1 600 Terawattstunden aus Kernenergie erzeugt werden stammen aus seinem Verantwortungsbereich.
soll. Wie sieht nun die weitere Agenda aus? Derzeit ist ein
Klageverfahren gegen den Planfeststellungsbeschluss
Zur Erinnerung: Derzeit werden circa 28 Prozent des
für das Endlager Konrad für schwach radioaktive Ab-
Stroms durch Kernenergie erzeugt. Auch wenn dieses
fälle vor dem OVG Lüneburg anhängig; die Entschei-
Land den Anschein erweckt, es habe sich längst aus der
dung steht Anfang März an. Liebe Kolleginnen und Kol-
Kernenergie verabschiedet, profitiert es derzeit und zu-
legen von der FDP, Sie sollten die Urteile mit Respekt
mindest auch noch in den kommenden beiden Jahrzehn-
vor dem Gericht abwarten
ten von relativ preiswertem Strom aus Kernenergie.
(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Das ist echt
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE wahr! Die haben eine Rechtsauffassung!)
GRÜNEN]: Relativ! Nur relativ!)
und bei Rechtssicherheit die anstehenden politischen
Daher ist es eine Frage von ethischer Dimension, eine Entscheidungen treffen.
Frage von Generationengerechtigkeit, dass die heutige
Generation, die von Kernkraft unmittelbar profitiert, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kehrseite der friedlichen Nutzung der Kernenergie, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nämlich die Beseitigung der langlebigen und hochgifti- Es gibt aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, die
gen Abfälle, nicht den kommenden Generationen über- Bundesregierung zum Handeln zu mahnen, zumal es die
lässt. Deshalb hat sich die große Koalition – ich zitiere damalige niedersächsische Regierung Gabriel war, die
erneut aus dem Vertrag, den wir geschlossen haben – den Planfeststellungsbeschluss im Juni 2002 für das
zur nationalen Verantwortung für die sichere Endla- Endlager Konrad genehmigt hat.
(B) gerung radioaktiver Abfälle (D)
Bezüglich eines Endlagers für hoch radioaktive Ab-
bekannt und vereinbart, fälle sind im so genannten Ausstiegsvertrag Zweifels-
fragen benannt, die vor einer weiteren Erkundung des
die Lösung dieser Frage zügig und ergebnisorien- Salzstocks Gorleben ausgeräumt werden müssten. Zu
tiert diesem Ziel wurde das drei- bis maximal zehnjährige
Moratorium vereinbart. Nun ist man dabei, letzte Zwei-
anzugehen und noch fel, die noch bestehen, auszuräumen. Da an der Ernsthaf-
in dieser Legislaturperiode zu einer Lösung zu tigkeit und Vertragstreue der Bundesregierung keine
kommen. Zweifel bestehen, wird man dann auch Gorleben, wo seit
1979 erkundet wird, in die Suche nach einem geeigneten
Neben den radioaktiven Abfällen, die bei der Strom- Standort einbeziehen.
erzeugung anfallen und stark Wärme entwickelnd sind,
Ein letztes Wort – auch als Niedersächsin – zur Forde-
fallen bei der Anwendung von Radioisotopen in Indus-
rung eines Lastenausgleichs für die Standortkommunen:
trie, Gewerbe und Medizin zum Beispiel im Rahmen der
Wie auch immer und wo auch immer eine Standortent-
Krebstherapie, aber auch im Rahmen von Computerto-
scheidung getroffen wird, es steht fest, einige Kommu-
mographien schwach oder mittel Wärme entwickelnde
nen werden die nationale Aufgabe atomarer Endlage-
Abfälle an, übrigens auch und gerade bei der Forschung.
rung in besonderer Weise tragen müssen. Daher muss es
Die will die neue Regierung ja insbesondere im Rahmen
selbstverständlich sein, dass sie dafür einen angemesse-
der Sicherheitsforschung – dazu verweise ich ein letztes
nen Ausgleich erhalten.
Mal auf den Koalitionsvertrag – intensivieren. Deshalb
wird sich auch hier das Abfallaufkommen bzw. -volu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
men möglicherweise noch erhöhen.
Ich bin froh –
Derzeit werden alle radioaktiven Abfälle in – natür-
lich – oberirdischen Zwischenlagern gesammelt, unter Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Inkaufnahme entsprechender Kosten sowie einer Ge- Kommen Sie bitte zum Ende.
fährdung durch Unfälle oder gar Attentate. Die Lösung
der Endlagerfrage steht also gerade auch aus diesen
Gründen an. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Zeiten des Taktierens und Verschiebens von notwen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1549
Dr. Maria Flachsbarth
(A) digen Untersuchungen und Entscheidungen auf den Aktuelle Gutachten zeigen, dass Salzstöcke keinerlei (C)
Sankt-Nimmerleins-Tag vorbei sind. Ich bin sicher, diese Vorteile gegenüber anderen Gesteinen aufweisen. Gorle-
Regierung, allen voran ihr Umweltminister Gabriel, wird ben erfüllt nicht einmal die fachlichen Mindestvoraus-
sich ihrer Verantwortung für diese Zukunftsfrage mit na- setzungen. Mindestens 1,3 Milliarden Euro wurden in
tionaler Bedeutung nicht entziehen. Gorleben bereits verbuddelt. Wie viel Geld wollen Sie
denn noch dafür ausgeben, um immer wieder festzustel-
Vielen Dank.
len, dass Gorleben nicht geeignet ist? Das ist und bleibt
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) verantwortungslos.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es spricht für die Linke Hans-Kurt Hill. NEN])
(Beifall bei der LINKEN)
Muss jetzt, nur weil wir da angefangen haben, alles nach
Gorleben? Das darf nicht die Prämisse sein.
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Ein seriöses Suchverfahren muss folgende Punkte
nen und Kollegen! Eigentlich müssten wir der FDP erfüllen: Festhalten am Erkundungsstopp in Gorleben,
dankbar sein. Suche nicht nach dem besten, sondern dem geeignetsten
(Markus Löning [FDP]: Jawohl! Gute Idee!) Standort, umfassende öffentliche Beteiligung – darauf
haben die Menschen nämlich einen Anspruch –, volle
Mit Ihrem Antrag stellen Sie völlig zu Recht fest, dass Kostenübernahme für Suche, Bau und Betrieb durch die
ein gefährliches Problem auf Halde liegt. Nach sieben Atomkraftbetreiber.
Jahren grüner Ankündigungspolitik gibt es noch immer
keine Lösung für die Unmengen giftigen Strahlenmülls. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP) Jetzt noch ein Wort zum Schacht Konrad. Frau
Dr. Flachsbarth ist eben darauf eingegangen. Obwohl
Das muss man sich einmal bewusst machen: Dieses
das zuständige OLG den Planfeststellungsbeschluss erst
Land betreibt atomare Anlagen ohne funktionierendes
am 28. Februar prüft, verlangen Sie, dass bereits heute,
Entsorgungskonzept. Das Problem lagert in den Schub-
nach Abweisung in der ersten Instanz, Schacht Konrad
laden. Dabei reden wir hier wirklich nicht über Altpa-
in Betrieb geht. Wenn das Ihre Rechtsauffassung ist,
pier.
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dann sage
(B) Der Antrag der FDP zerfällt aber dennoch in seine wi- ich Ihnen: Ihnen sind die Männer, Frauen und Kinder, (D)
dersprüchlichen Einzelteile. Um es noch einmal deutlich die dort leben müssen, egal. Wenn Sie, wie in Ihrem An-
zu machen: Voraussetzung für die Endlagersuche ist der trag beschrieben, Transparenz schaffen wollen, wenn Sie
Atomausstieg. Die Linke verlangt einen schnellstmögli- für Vertrauensbildung in der Öffentlichkeit sind, dann
chen Betriebsstopp der Atommeiler. müssen Sie auch gerechte und umfassende Beteiligungs-
rechte für die betroffenen Bürger und Bürgerinnen unter-
(Beifall bei der LINKEN)
stützen. Aber das wollen Sie wohl nicht.
Es ist unverantwortlich, auch nur 1 Gramm Strahlenmüll
zu erzeugen, ohne eine sichere Entsorgung vorzuweisen. (Beifall bei der LINKEN)
Verantwortungslos, werte Liberale, ist der Betrieb der Ihre Vorlage, meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kernkraftwerke: Sie sind nach wie vor technisch nicht Kollegen von der FDP, ist nichts anderes als der plumpe
beherrschbar, der Beitrag zum internationalen Klima- Versuch, Gorleben und Schacht Konrad durchzudrücken.
schutz ist gleich null und die Importabhängigkeit beim Das geht auf Kosten der Frauen, Männer und Kinder, die
Uran beträgt 100 Prozent. dort leben. Das ist ebenfalls verantwortungslos.
Im Übrigen: Wer Gorleben als Endlageroption an- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
sieht, lässt jede Verantwortung gegenüber den Menschen NIS 90/DIE GRÜNEN – Angelika Brunkhorst
im Wendland vermissen. [FDP]: Wo wollen Sie das machen?)
(Beifall bei der LINKEN)
Es grenzt schon an politische Selbstüberschätzung,
Wir wissen alle, dass die Entscheidung für den Salzstock wenn Sie nach dem Sachstand in Gorleben glauben, der
vor fast 30 Jahren aus rein willkürlichen politischen Fachwelt ein funktionierendes System vorstellen zu kön-
Gründen getroffen worden ist. Die damalige Zonenrand- nen. Ich sage Ihnen: Sowohl in Gorleben als auch am
lage zur DDR war Ihnen von der CDU/CSU Argument Schacht Konrad ist nur das Versagen des Atomzeitalters
genug. Man rechnete mit wenig Widerstand der betroffe- zu besichtigen.
nen Menschen. Doch diese Rechnung ist nicht aufgegan-
gen. Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Maria (Beifall bei der LINKEN – Markus Löning
Flachsbarth [CDU/CSU]: Das zeugt doch von [FDP]: Sie machen das bei sich im Wohnzim-
profunder Unkenntnis!) mer oder wo wollen Sie das endlagern?)
1550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich glaube, es geht nicht so sehr um die Frage, wem (C)
Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister man Versagen in der Vergangenheit vorwerfen muss,
Sigmar Gabriel. sondern darum, dass wir jetzt den Mut aufbringen müs-
sen, diese Probleme zu lösen. Ich persönlich bin der
Überzeugung, dass wir dazu eine historisch große
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Chance haben.
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Kollege, Sie haben in Ihrem Wortbeitrag kritisiert, dass Denn die beiden großen Volksparteien stellen die Regie-
sich die letzte Bundesregierung noch nicht für ein Endla- rung und akzeptieren ihre Verantwortung in dieser
ger entschieden habe. Es ist besser, man untersucht ein Frage. Wir können nun einen Zug aufs Gleis setzen, was
bisschen länger, als dass man gleich alles nach Morsle- unter späteren Regierungskonstellationen, wie immer sie
ben kippt. Da gibt es ja eine Verantwortung in Teilen Ih- auch aussehen werden, verhindert, dass man sich durch
rer Partei. Von daher wäre ich bei der Frage, wie man mit taktisches Verhalten vor der Lösung dieser Probleme
so etwas umgeht, nicht ganz so forsch. drücken kann.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU– Zu-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ruf der Abg. Birgit Homburger [FDP])
Sie repräsentieren ja Gott sei Dank nicht das Saarland, – Auch Sie in Niedersachsen.
sondern eine Partei, und die trägt zum Teil die Verant-
wortung für ein nukleares Endlagerproblem, das andere (Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP])
Leute lösen mussten. Ich unterstelle, dass man daraus et- – Wenn Sie schon einen Zuruf machen, dann müssen Sie
was lernen kann. Aber dann sollten Sie ein bisschen we- auch eine Antwort riskieren.
niger forsch auftreten.
Sie können nicht fordern, dass wir Gorleben weiter
Man kann zu Recht sagen – darüber gibt es keinen erkunden und dieses Endlager eventuell fertig stellen,
Streit unter den meisten Mitgliedern dieses Hauses –, wenn Sie mir gleichzeitig Briefe schreiben, ich möge
dass wir das Endlagerproblem lösen müssen. Es kann doch bitte im Interesse von Baden-Württemberg dafür
dabei nicht um die Frage gehen, ob man für oder gegen sorgen, dass sich die Schweizer nicht auf ein Endlager
Kernenergie ist; denn sowohl Gegner als auch Befürwor- festlegen, sondern dass man die möglichen Standorte
ter der Kernenergie müssen dafür sorgen, dass mit den erst einmal vergleiche. Sie müssen sich schon entschei-
Abfällen nach bestem Wissen und Gewissen im Inte- den, was Sie wollen.
(B) resse der zukünftigen Generationen adäquat umgegan- (D)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
gen wird.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hans-Kurt Hill [DIE LINKE])
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angelika Was für die Schweiz gilt, gilt auch für Deutschland.
Brunkhorst [FDP])
Sie können sich im Pressespiegel einmal die Position
Ich will offen sagen: Weil die Lösung dieses Problems der FDP in Baden-Württemberg zu dieser Frage an-
so umstritten ist, hat die große Koalition in dieser Frage schauen. Es gab auch entsprechende Anfragen. Ich finde
eine große Verantwortung. es richtig, dass Sie wollen, dass in der Schweiz Standorte
Zur Redlichkeit in der Debatte gehört aber auch, nicht verglichen werden und der geeignetste Standort heraus-
so zu tun, als habe eine Partei oder eine Parteienkonstel- gesucht wird. Aber die Bürgerinnen und Bürger in Nie-
lation in Deutschland bei der Lösung dieser Probleme dersachsen dürfen nicht schlechter gestellt sein, indem
versagt. Ich erinnere gerade die Kollegin aus der FDP dort nur ein „geeigneter“ Standort gesucht wird. Zwi-
daran, dass es CDU und FDP in Niedersachsen waren, schen einem „geeigneten“ und einem „geeignetsten“
die damals die Lösung dieses Problems mithilfe der Standort besteht nämlich ein großer Unterschied. Wir
Wiederaufbereitung aufgegeben haben. Der damalige wollen, dass in Deutschland auf Basis gesicherter Krite-
Ministerpräsident Albrecht kommentierte dies mit den rien untersucht wird, welcher von den geeigneten Stand-
Worten, dass diese politisch nicht durchsetzbar sei. Auch orten der „geeignetste“ ist.
die FDP hat die Wiederaufbereitung nicht durchsetzen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
können. DIE GRÜNEN)
Der CSU ist es mit Wackersdorf nicht anders gegan- Wenn Sie das nicht wollen, dann haben Sie nur ein
gen. Auch die rot-grüne Koalition hat es während ihrer einziges Ziel – das werden wir Ihnen in jeder Debatte
Regierungszeit nicht geschafft, das Endlagerproblem zu vorhalten –, nämlich dass Sie in Ihren eigenen Wahlkrei-
lösen, das in den Vorgergrund rückte, weil man von der sen nicht von der Debatte um die Endlagersuche belastet
Wiederaufbereitung weggekommen ist. Wir alle mitei- werden wollen. Diesen Versuch unternehmen Sie hier.
nander haben bislang nicht die Kraft aufbringen können, Ich finde, das hat mit Redlichkeit in der Debatte nichts
dieses schwierige Problem zu lösen. Daran sieht man zu tun. Wir brauchen Kriterien für die Auswahl eines
auch, welche dramatischen Auswirkungen der Einstieg geeigneten Endlagers. Diese werden wir vorlegen. Sie
in die Kernenergie auf die Zukunft hat. müssen bereit sein, die geeigneten Standorte zu verglei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1551
Bundesminister Sigmar Gabriel
(A) chen. Wenn der geeignetste Standort Gorleben wäre, dard –, und dass der gesamte Ablauf, den Sie hier so ve- (C)
dann könnte niemand etwas dagegen sagen, dass Gorle- hement einfordern, in der Vergangenheit als Vorlauf
ben Endlager wird. Aber bis das festgestellt ist, müssen vollzogen worden ist?
auch andere Standorte untersucht werden. Das bedeutet,
dass Sie in Ihren eigenen Wahlkreisen und in Ihren eige- Die zweite Frage, Herr Minister: Wollen Sie zur
nen Landesverbänden den Mut aufbringen müssen, zu Kenntnis nehmen, dass die FDP stets betont hat: „Wir
sagen, dass sie dafür einstehen, dass bei Ihnen zu Hause warten das Gerichtsurteil ab“? Sollte allerdings das Ge-
im Interesse unserer Kinder, Enkel und Urenkel und aller richtsurteil die Zulassung des Schachtes Konrad ermög-
nachfolgenden Generationen entsprechende Untersu- lichen, dann fordern wir Sie auf, einen Sofortvollzug
chungen stattfinden. vorzunehmen. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir
als Rechtsstaatspartei selbstverständlich Gerichtsurteile
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem abwarten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Hans-Kurt Hill [DIE LINKE])
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
Ich sagen Ihnen: Den Mut werden wir haben. Wenn schutz und Reaktorsicherheit:
Sie ihn nicht haben, dann ist das Ihr Problem. Damit ka- Ich nehme zum Ersten zur Kenntnis, dass zum Zeit-
tapultieren Sie sich aus der Debatte heraus. punkt der Erkundung von Gorleben keine Kriterien vor-
gelegen haben – diese haben wir bis heute nicht ange-
Beim Thema Schacht Konrad hatte ich mir erhofft,
wandt –, anhand deren wir untersuchen können, welcher
dass die Bürgerrechtspartei FDP, die ansonsten von sich
Standort geeignet ist. Damit geht es einmal los. Das
sagt, dass sie etwas von Recht und Gesetz versteht, we-
heißt, dass ein Vergleich auf der Grundlage einer ge-
nigstens erklärt, dass man die Entscheidung des Ober-
meinsamen Basis bis heute gar nicht möglich ist. Sie
verwaltungsgerichts abwarten muss und dass sich je
wollen, dass wir die Erkundung von Gorleben vorantrei-
nach Ausgang des Verfahrens der nächste Instanzenweg
ben, und fordern gleichzeitig, dafür zu sorgen, dass sich
ergibt. Ich habe mir bislang eingebildet, dass man sich
die Schweiz nicht auf einen Endlagerstandort konzen-
bei Ihnen wenigstens darauf verlassen kann, ein Urteil
triert, weil Ihnen dieser unangenehm nahe ist. – Das
abzuwarten, bevor Sie erklären, was man danach unter-
nehme ich einmal zur Kenntnis.
nehmen soll. Dass wir uns im Falle des Schachts Konrad
an die Gerichtsurteile zu halten haben, gilt für uns alle. Ich nehme zum Zweiten zur Kenntnis, dass Sie in Ih-
Das gilt übrigens auch für mich. Denn Schacht Konrad rem Antrag und in Ihren Reden bereits sagen, was man
liegt in meinem Wahlkreis. Ich werde mich in dieser nach einem Gerichtsurteil machen soll, obwohl es noch
Frage nicht, je nachdem wie das Urteil ausgeht, weg- gar nicht vorliegt. Ich nehme zur Kenntnis, dass im
(B) ducken. Aber ich erwarte von Ihnen, dass Sie bei der De- Rechtsstaat Deutschland nach dem Urteil des Oberver- (D)
batte um die Frage, ob ein oder zwei Endlager errichtet waltungsgerichts möglicherweise ein weiterer Rechts-
werden sollen, und bei der Suche nach alternativen weg offen ist, nämlich der vor den Bundesgerichtshof.
Standorten den gleichen Mut aufbringen. Auch diese Möglichkeit sollten wir bitte schön einmal
Wenn Sie im Übrigen schon so mutig für Gorleben abwarten.
eintreten, dann sollten Sie aber den Teil Ihres Antrages (Birgit Homburger [FDP]: Die sollten Sie
einstampfen, in dem Sie sagen, das Ein-Endlager-Kon- nicht abwarten! Sie sollten handeln! Das ist
zept sei vom Tisch. Gorleben ist nämlich als ein Ein- der Punkt!)
Endlager-Projekt beantragt worden.
Ich nehme zum Dritten zur Kenntnis, dass wir gegen-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: über dem Deutschen Bundestag nach Durchsicht aller
Akten zu erklären haben, wie wir die Frage eines Ein-
Herr Bundesminister, die Frau Homburger würde Ih-
Endlager-Konzeptes bewerten. Das werden wir tun.
nen gern eine Zwischenfrage stellen. Ist das möglich?
Übrigens, Frau Kollegin, hat die Frage, ob ein oder zwei
Endlager errichtet werden, mit Gorleben nichts zu tun.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Auch bei der Konzentration auf ein Zwei-Endlager-Kon-
schutz und Reaktorsicherheit: zept sollten Sie mit Blick auf die Endlagerung hoch ra-
Aber liebend gern. dioaktiver Abfälle den Mut aufbringen, zu sagen: Ich als
FDP-Politikerin in Baden-Württemberg bin bereit, dafür
Birgit Homburger (FDP): einzutreten, dass zur Not auch bei uns Standorte unter-
Herr Minister, wollen Sie zur Kenntnis nehmen und sucht werden. Dann sind Sie in dieser Frage glaubwür-
hier bestätigen, dass es, bevor es zu einer weiteren Er- dig.
kundung von Gorleben kam, sehr wohl ein sehr langes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Prozedere gab und Abwägungsprozesse stattgefunden der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-
haben, man seit langer Zeit eine Zwei-Endlager-Strate- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
gie verfolgt, der AK End, der nicht von der FDP, sondern
von Rot-Grün eingesetzt wurde, eindeutig bestätigt hat, Ich nehme zum Vierten zur Kenntnis, dass für die
dass es aus fachlichen Gesichtspunkten und vor allem Frage des Sofortvollzuges beim Schacht Konrad Ihr Par-
aus Sicherheitsgründen Sinn macht, zwei Endlager zur teikollege Sander zuständig ist. Der ist nämlich Umwelt-
Verfügung zu haben – dies ist der internationale Stan- minister in Niedersachsen. Ich gebe zu: Ich bedauere es
1552 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Bundesminister Sigmar Gabriel


(A) ein bisschen, dass es dazu gekommen ist. Aber Sie woll- problemen spricht, bisher aber lediglich bezogen auf (C)
ten die Verantwortung. Jetzt haben Sie sie. eine befürchtete „Diskrepanz zwischen der ... Nutzungs-
dauer der Zwischenlager und der ... Inbetriebnahme ei-
(Angelika Brunkhorst [FDP]: Herr Sander
nes Endlagers“, so zu lesen in der Begründung Ihres An-
wird mutig handeln! Tun Sie es auch!)
trags. Aber immerhin wird damit der real existierende
Wenden Sie sich in der Frage des Sofortvollzugs an ihn! und der noch zu produzierende Atommüll auch von die-
sen Kolleginnen und Kollegen endlich als Sicherheits-
Meine Damen und Herren, ich habe deshalb ein biss-
risiko benannt. Ich sage dazu nur: Welcome.
chen engagierter zu dieser Frage gesprochen, weil es am
Ende nicht darum gehen wird, ob wir uns auf Konzepte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Kriterien einigen. Ich glaube, das werden wir schaf-
fen. Am Ende geht es um die Frage, ob wir den Mut ha- Erkenntnis ist der erste Schritt zur Einsicht. In einem
ben, Konsequenzen zu ziehen. Ich sage Ihnen: Diese nächsten oder übernächsten Schritt wird dann die Frage
Regierung hat den Mut. Da sind sich CDU/CSU und der Verlängerung von AKW-Laufzeiten vielleicht
SPD einig. Wir wollen das Projekt „Endlager“ endlich auch mit der weiteren Zunahme von Atommüll in Ver-
zu einem Ende bringen, damit wir sicher sein können, bindung gebracht. Lebenslanges Lernen ist die schöne
wo wir die Endlagerung der Abfälle vornehmen. erste Pflicht auch des Parlamentariers.
Aber ich sage Ihnen auch: Wir brauchen dafür den Jetzt zum Inhalt des Antrags. Der Antrag bleibt bei
Mut aller. Wir sollten nicht ständig in der Öffentlichkeit richtiger Nennung des Problems im falschen Ansatz ste-
schwarzer Peter spielen und sollten zumindest für einen cken. Richtig ist, dass die Endlagersuche aufgenommen
gewissen Zeitraum den Mut aufzubringen, auch einmal werden muss. Richtig ist, dass wir hier eine Menge Ver-
zu Hause mögliche Standorte zu untersuchen. antwortung zu übernehmen haben. Falsch ist dagegen
Dass man das tun muss – das ist meine letzte Bemer- die Ansicht, wir könnten hier Verantwortung für nach-
kung –, zeigt sich gut an dem Versuchsendlager folgende Generationen übernehmen. Verantwortung für
Asse II. Auch dieses befindet sich in meinem Wahlkreis. die nachfolgenden Generationen der nächsten
Als wir das erste Mal – damals war ich 17 oder 18 Jahre 140 000 Jahre übernehmen zu wollen – das ist die Kurz-
alt – dort hinfuhren, gab es drei Salzstöcke. Die fassung; viele Experten reden von einer 1 Million oder
Salzstöcke I und II waren wegen Wassereinbrüchen ab- sogar mehreren Millionen Jahren –, ist nichts weniger
gesoffen. Zu Asse II haben wir die Ingenieure gefragt: als Hybris. Deshalb ist es auch absurd, von einem
Wenn zwei von drei Salzstöcken unmittelbar abgesoffen „sicheren“ Endlager zu sprechen. Wir können nur ein
sind, wieso sind Sie dann eigentlich so sicher, dass man nach heutigem Kenntnisstand „möglichst sicheres“ End-
(B) in dem dritten Salzstock ein Endlager errichten kann? lager suchen. Die Schlussfolgerung des FDP-Antrags, (D)
Die Ingenieure haben uns damals gesagt, das sei alles man müsse nun die Erkundung des Salzstocks Gorleben
kein Problem. Wir haben als Schüler staunend vor ihnen zügig zu Ende bringen, ist daher aus mehreren Gründen
gestanden und natürlich war keine Frage mehr offen. – verfehlt.
Seit Ende der 80er-Jahre gibt es in Asse II Salzlaugen-
einbrüche und wir wissen nicht, warum dies geschieht. Die Vorfestlegung auf Gorleben – genauso übrigens
Wir wissen auch nicht, wie wir das in den Griff bekom- wie auf Schacht Konrad – wurde von der damaligen Re-
men können. gierung, also von Ihnen gemeinsam mit der Union, unter
Verzicht auf ein transparentes, offenes, vergleichendes
Vorsicht ist hier ein guter Ratgeber. Man sollte nicht Auswahlverfahren vorgenommen. Ihre Wahl fiel wahr-
mutig sagen, man wisse schon, wo der radioaktive Ab- scheinlich nicht zuletzt deshalb auf Gorleben, weil es so
fall endgelagert werden könne. Es geht hier um den „ge- schön am Ende Republik liegt; Gleiches gilt für Benken
eignetsten“ Endlagerstandort und nicht darum, aus der in der Schweiz. Die Folge für Gorleben sind nicht zur
Tiefe des Gemüts und aus Angst davor, selber einmal Ruhe kommende grundsätzliche Kritik an der Geeignet-
mit diesem Problem konfrontiert zu werden, munter For- heit des Salzstocks und noch viel weniger zu Ruhe kom-
derungen zu stellen. Das reicht nicht aus. Sie werden se- mender Widerstand der dortigen Bevölkerung. Will man
hen, wir werden es besser machen. nicht ignorant an der Bevölkerung vorbeiregieren, muss
Vielen Dank. man beides ernst nehmen. Deshalb kam es zum Morato-
rium der rot-grünen Regierung.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Aufnahme eines Endlagers kann der Standort-
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin region nur zugemutet werden, wenn der ausgewählte
Sylvia Kotting-Uhl. Ort bei Anwendung von rechtlich verbindlichen Aus-
wahlkriterien im Vergleich nachweislich die beste Vo-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): raussetzung für eine sicherheitstechnisch optimierte
Liebe Frau Präsidentin! Verehrter Herr Minister! Kol- Endlagerung besitzt. Besonders wichtig ist dabei, dass
leginnen und Kollegen! Verehrte Frau Brunkhorst! dieser Nachweis auch in den Augen und Ohren der be-
Schön war nicht nur die Rede des Umweltministers. troffenen Bevölkerung gelingt. Deshalb bedarf es eines
Schön ist, dass nun auch die FDP in Verbindung mit fairen und transparenten Auswahlprozesses unter umfas-
Atomkraft endlich von ernst zu nehmenden Sicherheits- sender Beteiligung der Öffentlichkeit. All dies war, wie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1553
Sylvia Kotting-Uhl
(A) wir wissen, bei der Festlegung auf Gorleben und Schacht Energien gehören und damit der gestern hier so genann- (C)
Konrad nicht der Fall. ten grünen Energie.
(Angelika Brunkhorst [FDP]: Warum haben Vielen Dank.
Sie das denn nicht gemacht all die Zeit, als Sie
an der Regierung waren?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Kommt noch. Ich möchte zunächst zu Ihrem Antrag Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
reden. Das ist im Moment viel spannender.
Für die CDU/CSU spricht der Kollege Dr. Georg
Wenn Sie in Ihrer Begründung von „bis 1998 entwi- Nüßlein.
ckelten und im internationalen Vergleich vorbildlichen
Entsorgungsstrukturen in Deutschland“ reden, kann man Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
das vielleicht gerade noch unter dem Aphorismus „Unter
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Blinden ist der Einäugige König“ abhandeln. Es gibt
Frau Kotting-Uhl, Sie haben mit Verantwortung und
weltweit immer noch kein einziges genehmigtes Endla-
Verantwortbarkeit argumentiert, was mich zu einer sehr
ger für radioaktiven Abfall. Wohl aber gibt es seit jüngs-
grundsätzlichen Bemerkung veranlasst: Die Grünen ha-
ter Zeit Standortauswahlprozesse in einigen Ländern
ben das Thema Kernenergie sieben Jahre lang federfüh-
– ich nenne hier Finnland, Schweden und Japan –, die
rend – der Bundesminister a. D. sitzt da – verantwortet.
sich mit unserem Ansatz auf den Weg gemacht haben
Verantworten kann man aber nur etwas, was man für
und damit weit bessere Erfahrungen machen als
verantwortbar hält.
Deutschland mit Gorleben oder die Schweiz mit Benken.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
Ich stimme Ihrer ersten Forderung, Frau Brunkhorst,
GRÜNEN]: Sehr unlogisch!)
zu, dass sich die Regierung ihrer Verantwortung in der
Endlagerfrage stellen muss. Ich möchte aber an dieser – Das ist völlig logisch; ich verantworte nichts, was ich
Stelle noch einmal betonen, dass wir als heutige Genera- für unverantwortbar halte, wie Sie das tun. Wenn Sie
tion uns zwar der Verantwortung stellen können, die jetzt sagen, das sei unlogisch, dann haben Sie Recht: Das
bleibende Verantwortung vielen nachfolgenden Genera- wäre unlogisch.
tionen aber nicht abnehmen können. Genau das war für
uns Grüne schon immer eng mit der Frage grundsätzli- Verantworten kann man nur Dinge, die man für ver-
cher Verantwortbarkeit von Atomkraftnutzung verbun- antwortbar hält. Damit ist die Sicherheitsdiskussion, die
den. von Ihnen immer so gern geführt wird, aus meiner Sicht
(B) etwas, was die Leute auf sehr unredliche Art und Weise (D)
Die weiteren Forderungen Ihres Antrags sind in unse- verunsichert.
ren Augen keineswegs das, was auf der Basis der Be-
griffe „Sicherheit“ und „Verantwortung“ jetzt ansteht. Dasselbe gilt für das Thema Zwischenlager. Die
Deshalb lehnen wir ihn ab. grüne Basis hat die Zwischenlager in Gorleben und
Ahaus immer als Blechhütten oder Zeitbomben bezeich-
net. Demgegenüber hat die grüne Spitze beschlossen,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass diese Zwischenlager so sicher sind, dass man die
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Nutzungsdauer immerhin zwölffach multiplizieren kann.
In meinem Wahlkreis, zu dem Gundremmingen ge-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hört, gibt es nun auch ein Zwischenlager. Auch dort
Eine verantwortungsvolle Endlagerfestlegung muss – das gebe ich gern zu – gab es ein gewisses Unbehagen,
Kriterien folgen, wie sie heute hier schon ansatzweise als beschlossen wurde, dort eine Zwischenlagerung vor-
beschrieben wurden und wie sie vom vorigen Umwelt- zunehmen. Mit dem Hinweis, dass es die Grünen sind,
minister bereits in ein Gesetz gegossen wurden, das wie die das Thema letztendlich zu verantworten haben,
manch anderes dann Opfer der Neuwahlen wurde. Hast konnte man das Unbehagen etwas ausräumen, wenn
allerdings kann bei Fragen, die eine Reichweite von auch nicht ganz. Nun hat dieses Zwischenlager 30 Mil-
140 000 bis Millionen Jahren haben, nicht das erste Kri- lionen Euro gekostet. Nimmt man diese Summe mal
terium sein. zwölf, kommt man auf 360 Millionen Euro. So hoch ist
der volkswirtschaftliche Schaden. Ich sage das deshalb,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weil die Transporte, die man offenkundig hat verhindern
Frau Kotting-Uhl, Sie müssen zum Schluss kommen. wollen, irgendwann stattfinden müssen. Mir ist klar, dass
der damalige grüne Umweltminister nicht Dinge geneh-
migen wollte, gegen die er früher demonstriert hat.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es macht Sinn, ein Ziel zu haben!)
Die Zukunft wird für unüberschaubar lange Zeit von
den Hinterlassenschaften der Atomstromproduktion be- Das ist mir völlig klar, aber Sie werden sehen, dass hier
lastet sein. Der immer weiteren Produktion von Atom- nur nach dem Motto verfahren worden ist: Lasst uns die-
strom kann die Zukunft schon allein aus diesem Grund ses Thema bis nach der Amtszeit der Grünen verschie-
nicht gehören. Sie muss und wird den erneuerbaren ben. Das ist nun offenkundig gelungen.
1554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Georg Nüßlein


(A) Jetzt sind wir bei der Endlagerung. Hier darf man Oskar Lafontaine (DIE LINKE): (C)
nicht genauso verfahren und sagen: Wir verschieben die Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Entscheidung immer und immer wieder. Herr Minister Herren! Bei der Behandlung dieses Tagesordnungspunk-
Gabriel hat eines richtig formuliert: Unabhängig von der tes befinden wir uns heute in einer ungewöhnlichen Si-
Frage, ob man für oder gegen den Ausstieg ist, ein End- tuation, und zwar deshalb, weil innerhalb der großen Ko-
lager muss man am Ende haben. alition gegenseitige Vorwürfe erhoben werden, die
Deshalb ist die Koalitionsvereinbarung an dieser – wenn man die Erfahrungen der Republik der letzten
Stelle vollständig, logisch und konsequent. Wir sagen: Jahrzehnte betrachtet – nicht alltäglich sind.
Wir sind uns über den Ausstieg uneinig, aber wir sind (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das
uns darüber einig, dass wir Endlagerung brauchen. Ent- stimmt!)
scheidend ist, dass wir sagen: Wir brauchen die Endlage-
rung und eine Lösung dieses Themas noch in dieser Le- Der kleine Koalitionspartner unterstellt dem größeren
gislaturperiode. Dazu hat sich der Herr Minister bekannt. Koalitionspartner, dass die Vorsitzende militärische
Das finde ich ganz besonders bemerkenswert. Ihnen, Optionen gegenüber dem Iran erwäge. Anders sind die
Herr Minister, an dieser Stelle dafür herzlichen Dank. Ausführungen und Auseinandersetzungen der letzten
Tage nicht zu verstehen.
Vielen Dank.
(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Dass Sie versuchen, dies unter der Decke zu halten und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gleich vielleicht wortreich bekunden, dass das alles gar
Damit schließe ich die Aussprache. nicht so sei, ist verständlich. Aber es ändert nichts an
dem Sachverhalt, der öffentlich bekannt ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/267 an die in der Tagesordnung aufge- Ich will das für unsere Fraktion so kommentieren:
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass Sie Entweder meint die SPD das ernst; dann würde ich mir
damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so als Sozialdemokrat die Frage stellen, ob ich mit so einer
beschlossen. Kanzlerin in einer gemeinsamen Regierung sein möchte.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatz- (Beifall bei der LINKEN)
punkt 6 auf: Oder sie meint es nicht ernst; dann ist es zumindest ein
21 Beratung des Antrags der Abgeordneten verantwortungsloser Umgang mit diesem Thema. Denn
Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, Monika das Thema ist zu ernst, als dass man es auf diese Art und
(B) Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Weise behandeln könnte. (D)
der LINKEN
Ich will nun zum Thema selbst etwas sagen: Ich un-
Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz gegen terstelle der Kanzlerin nicht, dass sie auf militärische
den Iran Optionen zielt.
– Drucksache 16/452 – (Dr. Karl Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]:
Überweisungsvorschlag: Das ist ein Fortschritt!)
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss Ich will das hier im Deutschen Bundestag ausdrücklich
Verteidigungsausschuss festhalten. Die Frage ist allerdings, ob die Iranpolitik der
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Bundesregierung, wie sie derzeit angelegt ist, richtig ist,
Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weite- um solche militärischen Optionen nicht weiter zu beför-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- dern. Dazu von unserer Seite folgende Bemerkung: Wir
NISSES 90/DIE GRÜNEN glauben, dass die Politik des Westens gegenüber dem
Iran im Grundsatz nicht aufrechtzuerhalten ist. Warum?
Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über
das iranische Atomprogramm – Demokrati- Erstens gibt es eine ganze Reihe von Staaten, die im-
sche Entwicklung unterstützen mer noch sagen: Wir selbst wollen Atomwaffen haben,
wir verbieten es aber anderen, Atomwaffen herzustellen.
– Drucksache 16/651 – Auf dieser Grundlage wird es keine atomare Abrüstung
Überweisungsvorschlag: in der Welt geben. Es wird immer so sein, dass es Staa-
Auswärtiger Ausschuss (f) ten gibt, die ebenfalls Atomwaffen haben wollen. Auf
Verteidigungsausschuss der Grundlage eines solchen Widerspruchs kann man
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
keine friedliche Politik machen.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, für die Bera-
(Beifall bei der LINKEN)
tung eine halbe Stunde vorzusehen. – Dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Im Übrigen ist es selbstverständlich, dass der Iran
Atomwaffen anstrebt. Alles andere wäre völlig unrealis-
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich das
tisch. Sie können in jeder Tageszeitung des Vorderen
Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Linksfrak-
Orients und darüber hinaus nachlesen, dass die Staaten
tion.
dort aus den kriegerischen Auseinandersetzungen der
(Beifall bei der LINKEN) letzten Jahre den Schluss gezogen haben: Nur derjenige,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1555
Oskar Lafontaine
(A) der Atomwaffen besitzt, läuft keine Gefahr, von den Ver- Die einen dürfen Atomwaffen besitzen, die anderen (C)
einigten Staaten angegriffen zu werden. Ob es uns passt nicht. So werden wir niemals Frieden erreichen.
oder nicht, das ist die Haltung dort. Diese muss man zur
Kenntnis nehmen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass (Beifall bei der LINKEN)
sie Atomwaffen anstreben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Nun zum zweiten Widerspruch. Es ist nicht nur so,
dass man eine Politik macht auf der Grundlage: Wir wol- Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
len Atomwaffen haben, ihr dürft sie nicht haben. Man Joachim Hörster.
sagt auch: Wir halten uns nicht an den Atomwaffen-
sperrvertrag und euch verbieten wir, die Möglichkeiten Joachim Hörster (CDU/CSU):
des Atomwaffensperrvertrages zu nutzen. Wie kann man Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß
mit einer solch widersprüchlichen Politik überhaupt gar nicht genau, wozu die Diskussion, die wir aufgrund
Frieden erreichen wollen? der Anträge des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke in diesem Hohen Hause führen, die-
(Beifall bei der LINKEN)
nen und wem sie nutzen soll.
Die Anreicherung von Uran ist im Atomwaffensperr-
vertrag ausdrücklich erlaubt. Die gegenwärtigen Atom- Wenn ich mir den Gegenstand dieser Debatte und den
mächte, die ihn unterschrieben haben – das liegt schon Weg vor Augen führe, der bisher zurückgelegt worden
Jahrzehnte zurück –, haben sich bereit erklärt, interna- ist, um dem iranischen Atomprogramm zu begegnen und
tional kontrolliert zu werden und vollständig abzurüsten. dem Land zu helfen, auf den richtigen Weg zurückzu-
Wenn man sich vor Augen hält, dass sie den Atomwaf- kehren, dann sieht die gegenwärtige Situation, die sehr
fensperrvertrag gebrochen haben, dann erkennt man, ernst ist, so aus: Die Europäische Union – vertreten
dass auf dieser Grundlage der Frieden nicht erhalten und durch die E 3 – und die USA, aber auch Russland und
dieser Konflikt nicht geschlichtet werden kann. die Vereinten Nationen vertreten gemeinsam die Posi-
tion, dass der Iran sein Nuklearprogramm, das darauf
Daher glaubt die Fraktion Die Linke, dass man vom ausgerichtet ist, waffenfähiges Material herzustellen, be-
Grundsatz her anders vorgehen muss: Wir müssen ge- enden und sich vollständig der Kontrolle durch die Inter-
genüber dem Iran ein faireres Verhalten an den Tag nationale Atomenergiebehörde unterstellen muss. Ange-
legen, auch wenn sich das dortige Regime zurzeit tat- sichts dessen, was der Kollege Lafontaine gesagt hat,
sächlich auf eine Art und Weise verhält, die die Weltöf- muss ich mich ein bisschen wundern. Denn der größte
fentlichkeit nicht akzeptieren kann. Deshalb fordern wir Teil Ihrer Ausführungen findet sich in dem Antrag, den
(B) nach wie vor eine Friedenskonferenz für den Nahen Os- Sie von der Fraktion Die Linke vorgelegt haben, nicht (D)
ten. Wir fordern allerdings auch, Gewaltverzicht gegen- wieder.
über jedermann anzustreben und Nichtangriffsgarantien
auszusprechen; das ist ganz entscheidend. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

(Beifall bei der LINKEN) Vor allem haben Sie sich in einem Widerspruch zu Ih-
rem Antrag verfangen. Denn dort heißt es:
Selbstverständlich streben wir ebenso die Garantie
des Existenzrechts Israels an. Mit demselben Nachdruck Der Deutsche Bundestag appelliert an den Iran, die
setzen wir uns allerdings auch für die Gründung eines Drohungen gegenüber Israel unverzüglich einzu-
unabhängigen Palästinenserstaates ein. Hier im Deut- stellen,
schen Bundestag möchte ich betonen, dass dies für uns (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das hat er
eine genauso große Verpflichtung ist wie der Einsatz für doch gesagt!)
die Anerkennung des Existenzrechts Israels.
sich an seine Verpflichtungen aus dem Vertrag über
(Beifall bei der LINKEN) die Nichtverbreitung der Kernwaffen zu halten
Denn aufgrund unserer Geschichte haben wir auch ge-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das hat er
genüber dem palästinensischen Volk eine Verantwor-
auch gesagt!)
tung.
und alles zu unterlassen, was zu einer Eskalation
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: des Konflikts um sein Atomprogramm beitragen
Herr Lafontaine, kommen Sie bitte zum Schluss. könnte.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja, genau!
Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Das alles hat er angesprochen! – Oskar
Ja. Lafontaine [DIE LINKE]: Sie haben das nicht
verstanden!)
Mein letzter Punkt. Wie Sie dem von uns vorgelegten
Antrag entnehmen können, sind wir der Meinung, dass – Nein, Sie haben vorhin gesagt, es sei unsinnig, an die-
wir die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Vor- sen Verpflichtungen des Atomwaffensperrvertrages fest-
deren Orient anstreben sollten; dabei sollten wir das ein- zuhalten, weil es in dieser Region und auch darüber hin-
beziehen, was ich gerade gesagt habe. Auch wenn es um aus viele Staaten gebe, die ebenfalls Atomwaffen
den Vorderen Orient geht, kann man nicht einfach sagen: besitzen wollten.
1556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Joachim Hörster
(A) (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Er hat politische und bürgerliche Freiheitsrechte wurden (C)
sogar gemeint, es sei selbstverständlich, weitgehend missachtet.
Atomwaffen zu haben! – Dr. Gesine Lötzsch
Dann schreiben Sie:
[DIE LINKE]: Lesen Sie doch das Protokoll
nach!) Innenpolitisch ist die Entwicklung im Iran seit der
Wahl des Präsidenten Ahmadinedschad durch die
Meine Damen und Herren, wir sollten uns vergegen- Verschärfung der Verfolgung der Minderheiten, die
wärtigen, wie dieser Konflikt überhaupt entstanden ist Einschränkung gesellschaftlicher Freiräume und
– ich will jetzt allerdings nicht alle Stationen die wieder zunehmende Unterdrückung der Opposi-
aufzählen –: Im Jahre 2003 hat die IAEO Teheran vorge- tion gekennzeichnet.
worfen, verschwiegen zu haben, bestimmte nukleare
Materialien hergestellt und entsprechende Aktivitäten Dann verweisen Sie auf den Fall Gandji und einige
durchgeführt zu haben. Dann ist es zu Verhandlungen andere Fälle:
gekommen. Später hat die IAEO die Feststellung getrof- Auch andere grundlegende politische Rechte wer-
fen, dass waffenfähiges nukleares Material hergestellt den im Iran regelmäßig missachtet. Jüngstes Bei-
worden ist, von dem auch Spuren nachgewiesen werden spiel ist die gewaltsame Verhinderung eines Streiks
konnten. Letztlich mündete das Ganze in einer Erklä- bei den Teheraner Verkehrsbetrieben.
rung Teherans, die dazu führte, dass die Urananreiche-
rung im Iran ausgesetzt wurde. Sie beschreiben also in Ihrem Antrag permanente,
grobe Menschenrechtsverletzungen, die die iranische
Der Iran hat daraufhin ein Zusatzprotokoll zum Regierung begeht. Hinzu kommen die Äußerungen des
Atomwaffensperrvertrag unterschrieben, dass er die iranischen Präsidenten, der im Zusammenhang mit Israel
Urananreicherung unterlassen werde. Allerdings hat er vom „Mythos eines Massakers an den Juden“ redet und
in der Folgezeit nur unzureichend mit der IAEO koope- darüber schwadroniert, der Westen habe eine Legende
riert, sodass es erneut zu Beanstandungen gekommen ist. geschaffen, die er höher als Gott, die Religion an sich
Im Anschluss daran gab es das Pariser Abkommen. Aber und die Propheten stellen würde. Wiederholt erhebt
im April 2005 – da liefen die Verhandlungen schon gut Ahmadinedschad seine Forderung, dass der Staat Israel
zwei Jahre – hat der Iran angekündigt, sein Programm in eine andere Weltgegend verlagert wird. Da frage ich
zur Anreicherung von Uran wieder aufzunehmen. Der mich, wie Sie angesichts Ihrer eigenen Bewertungen des
neue iranische Präsident Ahmadinedschad hat angekün- politischen Systems und der inneren Verhältnisse im Iran
digt, dass das Land an seinen Atomplänen festhalten sowie angesichts dieser Äußerungen über den Staat Is-
werde; das war im Juni 2005. Im August 2005 hat der rael – die übrigens genauso verwerflich wären, wenn sie
(B) Iran die umstrittene Atomanlage Isfahan wieder voll in im Hinblick auf irgendeinen anderen Staat geäußert wor- (D)
Betrieb genommen sowie Europa und die USA davor ge- den wären – zu einer Formulierung kommen können, die
warnt, das Land im Atomstreit vor den Weltsicherheits- vom Iran nur als Appeasement verstanden werden kann.
rat zu zitieren. Dabei ist der Weltsicherheitsrat nach den
Regeln des Atomwaffensperrvertrages das Organ, das (Beifall bei der CDU/CSU – Winfried
sich damit befassen muss, wenn sich ein Staat, der dem Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, nicht an die Re- Das stimmt nicht!)
geln hält. Es war ein ständiges Hin und Her. Im Diese Reaktion ist der Situation nicht angemessen.
September 2005 hat der iranische Präsident bekräftigt, Angemessen ist, dass die Europäische Union, vertreten
dass er am Atomprogramm festhalten werde. Er hat das durch die E 3 – Deutschland, Frankreich und Großbri-
umfangreiche Programm, das die EU ihm für den Ver- tannien –, ihre außerordentlich erfolgreiche Arbeit fort-
zicht auf sein Atomprogramm angeboten hat – umfäng- setzt, die dazu geführt hat, dass der Iran am Verhand-
liche Wirtschaftshilfen und Kooperationen –, abgelehnt. lungstisch geblieben ist.
Mit anderen Worten: Der Konfliktkurs gegenüber der in-
ternationalen Gemeinschaft ist eindeutig vom Iran ge- Es ist in den Jahren der Verhandlungen gelungen, eine
fahren worden. gemeinsame Position mit den Vereinigten Staaten und
der UNO zu finden. Bemerkenswert ist auch die Äuße-
Es ist schade, dass ich die Begründung des Antrages rung des russischen Außenministers Lawrow, der gesagt
der Grünen erst am Ende der Debatte mitbekommen hat: Unter rationalen Gesichtspunkten ist nicht nachvoll-
werde. Ich will aber auf diesen Antrag verweisen; denn ziehbar, warum der Iran ein Atomprogramm will. Unter
er ist ausgesprochen lesenswert, was die Darstellung der Energiegesichtspunkten braucht er es nicht. Das legt den
Verhältnisse im Iran anbetrifft. Die Grünen schreiben: dringenden Verdacht nahe, dass es hier darum geht, die
Voraussetzungen zum Bau einer Atomwaffe zu schaf-
Die Entwicklung des Iran während der Amtszeit
fen.
des Präsidenten Khatami von 1997 bis 2005 war
widersprüchlich: Einerseits gelang es den reform- Wenn wir diese Perspektive vor Augen haben, die von
orientierten Kräften in der iranischen Zivilgesell- allen Mächten der Welt, von der internationalen Gemein-
schaft, sich sukzessive größere politische, gesell- schaft, geteilt wird, dann müssen wir uns doch fragen, ob
schaftliche und kulturelle Freiräume zu erobern. wir sehenden Auges auf eine Situation zutreiben wollen,
Andererseits blieb die fundamentale Machtstruktur in der am Schluss ein Staat, dessen Präsident eine sol-
des Staates unangetastet. Massive Menschenrechts- chen Geisteshaltung hat, über Atomwaffen verfügt. Dem
verletzungen waren weiterhin an der Tagesordnung, müssen wir von Anfang an mit Festigkeit begegnen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1557
Joachim Hörster
(A) Die Grünen schreiben in ihrem Antrag ja selbst, dass betroffenen Landes. – Wäre es für den Iran, wenn er eine (C)
notfalls Sanktionen gebraucht werden müssen. Das will rationalere politische Führung hätte, eine angenehme
ich auch noch in Erinnerung rufen. Gleichzeitig will ich Situation, wenn man sich einmal das nukleare Umfeld
dabei festhalten, dass im Augenblick niemand an Sank- ansehen würde? Ich habe durchaus Verständnis dafür,
tionen denkt. dass man diese Frage mit Nein beantworten kann. Es
geht hier aber nicht um einen demokratischen, aufge-
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE
klärten Iran, der sich diese Frage stellt, sondern um eine
GRÜNEN]: „Niemand“ stimmt nicht!)
iranische Führung, die das Ausradieren des Staates Israel
Im Augenblick denkt jedermann nur daran, den Iran auf an die Wand malt, eine Regierung, die uns zumindest mit
den Pfad der Tugend zurückzuführen. Worten direkt bedroht, eine Regierung, die keinen Bei-
trag zur Befriedung der überaus schwierigen Situation
In diesem Zusammenhang darf ich auch die Erklä- im Nahen Osten leistet. Deswegen ist das nicht
rung der E3/EU-Minister vom Januar zitieren, in der es irgendeine, sondern eine sehr problematische Regierung.
heißt:
Ich finde es beachtlich, dass in dem Beschluss des
Wir bekennen uns auch weiterhin dazu, diese Frage
Gouverneursrats der IAEO, der durch eine große diplo-
diplomatisch zu lösen. Wir werden uns in den kom-
matische Leistung herbeigeführt wurde, der Begriff
menden Tagen und Wochen mit unseren internatio-
„massenvernichtungswaffenfreie Zone“ steht. Das ist ein
nalen Partnern eng abstimmen. Wir sind der Auf-
großer Schritt, zu dem zum Beispiel unsere amerikani-
fassung, dass die Zeit jetzt gekommen ist, den
schen Freunde erst einmal bewegt werden mussten.
Sicherheitsrat einzuschalten, um die Autorität der
Kompliment, dass das gelungen ist.
IAEO-Resolutionen zu stärken. Wir werden daher
eine außerordentliche Tagung des IAEO-Gouver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
neursrats beantragen, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des
– sie hat inzwischen stattgefunden – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

damit dieser die hierzu erforderlichen Schritte er- Dieser Beschluss enthält Elemente, die Hoffnung verhei-
greift. ßen. Es sind Angebote darin, und zwar gerade auch an
die aufgeschlossene und nach Westen – übrigens mehr
nach Amerika als nach Europa – orientierte junge Gene-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ration im Iran. Sie müssen wir gewinnen. Wir dürfen sie
Herr Hörster, kommen Sie bitte zum Schluss.
nicht vor den Kopf stoßen. Wir dürfen diese junge Gene-
ration dem iranischen Staatspräsidenten nicht geradezu
(B) Joachim Hörster (CDU/CSU): in die Arme treiben. (D)
Das ist die Position der Bundesregierung und auch die
Position der großen Koalition. Jeder, der bezüglich die- Hier ist noch sehr viel zu tun. Das, was bisher geleis-
ser Position vordergründig versucht, Streit zu stiften, der tet worden ist, war nur möglich, weil geschlossen und
dient dem Nuklearprogramm des Iran, aber nicht der entschlossen gehandelt worden ist. Deswegen ist es für
Festigkeit und Sicherheit der Region. mich von herausragender Bedeutung, dass diese Ge-
schlossenheit und Entschlossenheit erhalten bleiben. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halte nichts davon, Fragen zu beantworten, die sich uns
gegenwärtig noch gar nicht stellen – uns sowieso nicht.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt erhält der Kollege Dr. Werner Hoyer von der Natürlich denkt in Deutschland keiner über militä-
FDP-Fraktion das Wort. rische Optionen nach. Wir haben auch gar keine und
halten sie auch nicht für wünschenswert. Diejenigen, die
sehr viel stärker betroffen sind, mögen Überlegungen
Dr. Werner Hoyer (FDP): anstellen, in der gegenwärtigen Situation kein taktisches
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mittel aus der Hand zu geben, um bei ihrem Gegenüber
Krise aufgrund des iranischen Nuklearprogramms ist einen Zustand der Unsicherheit und Verunsicherung zu
weiß Gott eine der ernsthaftesten Sicherheitsbedrohun- bewahren. Das muss man respektieren. Dafür die Ge-
gen unserer Zeit. Dies verlangt ein besonnenes, verant- meinsamkeit und Geschlossenheit des Westens und da-
wortliches Handeln. Handeln heißt hier natürlich auch rüber hinaus der Völkergemeinschaft aufs Spiel zu set-
wirklich handeln und nicht nichts tun; denn eines ist zen, halte ich für nicht sonderlich klug.
auch klar: Die Zeit arbeitet bei diesem Thema gegen uns.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben der SPD)
gemeinsam mit dem Partner jenseits des Atlantiks eini-
ges erreicht. Daran ist weiter zu arbeiten. Diese diploma- Was uns aber in Wahrheit darob droht, ist eine innen-
tischen Bemühungen müssen natürlich auch weiterhin politische Dimension. Ich hoffe, es wird gelingen, sie
im Vordergrund stehen. außen vor zu lassen; denn der Versuch ist erkennbar
gewesen, hier gewissermaßen – da war doch einmal et-
(Beifall bei der FDP)
was – einen virtuellen Marktplatz von Goslar aufzuma-
Ich stimme all denen zu, die bei einem solchen Thema chen. Diesen Versuch an dieser Stelle erneut durchzufüh-
immer sagen: Versetzt euch doch einmal in die Lage des ren, halte ich für unverantwortlich. Deswegen sollten wir
1558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Werner Hoyer


(A) es lassen. Ich hoffe, dass dies in diesem Hause insgesamt Herr Lafontaine, Sie haben die Sicherheitskonferenz (C)
so gesehen wird. angesprochen. Ich glaube, Sie waren dort nicht dabei,
aber man kann sich die Mühe machen, das Protokoll
(Beifall bei der FDP) nachzulesen. In der Diskussion mit dem Vizeaußen-
Ich füge allerdings hinzu: Um der Glaubwürdigkeit minister des Irans hat die Bundeskanzlerin unter ande-
der Bundesrepublik Deutschland willen wünsche ich rem gesagt, es gehe hier gar nicht um eine militärische
mir, dass wir seitens des Westens, der Europäischen Option, sondern es gehe um diplomatische Mittel. Damit
Union, der NATO und auch der Bundesrepublik hat sie klar gemacht, was geht und was nicht geht. Deut-
Deutschland etwas sichtbarer aktiv werden, wenn es da- licher, Herr Lafontaine, kann man nicht werden. Sie füh-
rum geht, bei der Nichtverbreitung und der Abrüstung ren eine Scheindebatte zulasten der Diplomatie und
weiterzukommen. eines einheitlichen Auftretens der internationalen Ge-
meinschaft gegenüber dem Iran.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Dort hat es in den letzten Jahren eine große Lücke gege- Zugleich – das muss ich Ihnen ehrlich sagen – ist der
ben. Hieran muss deutlicher gearbeitet werden; denn nur Antrag der Linken eine grobe Verzerrung. Sie erwähnen
dann werden wir denjenigen unter den gutwilligen Ira- – das haben Sie eben auch in der Debatte gesagt – Dro-
nern, die sich Gedanken darüber machen, was um sie he- hungen Irans gegen Israel. Das ist zu wenig. Mehr noch:
rum los ist, eine befriedigende Antwort geben können. Ich nenne das eine Verharmlosung des Gesagten. Warum
verschweigen Sie in Ihrem Antrag, dass der iranische
Wenn aber in der Frage der iranischen Nuklearbe-
waffnung die rote Linie überschritten wird, dann stehen Präsident den Holocaust leugnet? Warum schreiben Sie
wir vor einem Dammbruch und einem totalen Kollaps nicht, dass er das Existenzrecht Israels infrage stellt?
jeglicher Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik. Das sind nicht nur Drohungen. Das derzeitige Verhal-
Deswegen wünsche ich mir, dass die Bundesregierung ten des iranischen Präsidenten ist eine zutiefst inhumane
gemeinsam mit ihren Partnern in Europa, in Amerika, in Manipulation der Geschichte.
Russland und in China mit ihren Bemühungen Erfolg
hat. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Petra Pau [DIE LINKE] meldet sich zu einer
der CDU/CSU)
Zwischenfrage)
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dieses Schüren von Hass und Unfrieden hätten Sie be-
Jetzt hat der Kollege Mützenich, SPD-Fraktion, das nennen sollen und müssen. Warum sagen Sie nicht, dass
Wort. der Iran in den vergangenen 18 Jahren gegen die Regeln
des Atomwaffensperrvertrages verstoßen hat? Warum
erwähnen Sie nicht, dass der Direktor der Internationa-
Dr. Rolf Mützenich (SPD): len Atomenergiebehörde, al-Baradei – aus meiner Sicht
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ein besonnener und unparteilicher Diplomat –, immer
Kollegen! Der Ausgang der iranischen Atomkrise wird noch nicht ausschließen kann, dass der Iran ein militä-
sowohl die Entwicklung im Mittleren und Nahen Osten risches Atomprogramm betreibt?
als auch die Hoffnung im internationalen nuklearen Be-
reich insgesamt beeinflussen. Deswegen ist es gut, wenn
der Deutsche Bundestag erneut über den Iran debattiert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die Öffentlichkeit hat meines Erachtens ein Interesse Herr Mützenich.
und ein Bedürfnis, dieses Thema zu erörtern.
Es ist aber unangemessen, die Menschen wissentlich Dr. Rolf Mützenich (SPD):
zu verunsichern. Sofort. – Warum verschweigen Sie, dass der Iran in
(Beifall bei der SPD) der Regel den Inspekteuren nur das zeigt oder berichtet,
was bereits bekannt ist? Warum übergehen Sie die Tat-
Nichts anderes aber tun Sie. Sie unterstellen, dass die sache, dass Trägersysteme entwickelt werden, die bis
Atomkrise militärisch beantwortet werden soll. Kein Europa reichen? Warum berichten Sie nicht, dass der
Mitglied der Bundesregierung aber hat eine militärische Iran das europäische Angebot ohne genaue Prüfung zu-
Option ins Spiel gebracht. Im Gegenteil: Der Außen- rückgewiesen hat?
minister hat vor einer Militarisierung des Konflikts ge-
warnt. Die Bundeskanzlerin hat gestern in Interviews er- Wenn Sie schon über die iranische Atomkrise debat-
neut die diplomatische Lösung unterstrichen. Ich sage tieren wollen, dann müssen Sie auch etwas über den
Ihnen ganz ehrlich: Sie unterstellen etwas und führen auf Kern des Konflikts sagen.
dieser Grundlage eine falsche Debatte.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE]) SES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1559

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Richtige getan. Sie hat mit zivilen diplomatischen Mit- (C)
Herr Mützenich, möchten Sie jetzt die Zwischenfrage teln versucht, die Atomkrise zu entschärfen und zu lö-
von Frau Pau zulassen? sen.

Dr. Rolf Mützenich (SPD): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Wenn es nicht zulasten meiner Redezeit geht. Herr Mützenich, es gibt noch eine zweite Zwischen-
frage, und zwar von der Kollegin Monika Knoche.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Zuruf von der SPD: Rolf, lass es jetzt nicht
Natürlich nicht. – Bitte schön. mehr zu!)
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Vor allen
Dingen muss man mal zuhören!) Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Bitte schön.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Ich habe die ganze Zeit zugehört! Monika Knoche (DIE LINKE):
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das muss wohl Herr Kollege, Sie kaprizieren sich im Moment sehr
in einem anderen Saal gewesen sein!) darauf, der linken Fraktion zu unterstellen, ihr mangele
es an Sensibilität hinsichtlich der Bedrohung Israels
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: durch die Äußerungen des iranischen Präsidenten.
Haben Sie sich jetzt darauf geeinigt, dass Frau Pau die (Zustimmung bei der CDU/CSU)
Zwischenfrage stellt, Herr Lafontaine, oder wollen Sie
das gerne übernehmen? – Bitte schön, Frau Pau. Dabei beziehen Sie sich auf unseren Antrag.
(Zurufe von der CDU/CSU: Ihre Frage!)
Petra Pau (DIE LINKE):
Darf ich Sie bitten, zu kommentieren, wie Sie zu Ih-
Wir könnten den eindrucksvollen Katalog sowohl der
rem Urteil kommen? Wir haben in den dritten Absatz
Bewertungen als auch der Vorwürfe gegenüber dem Prä-
unseres Antrags Folgendes aufgenommen:
sidenten des Irans sicherlich noch fortsetzen.
(Zurufe von der CDU/CSU: Fragen! – Zuruf Der Deutsche Bundestag appelliert an den Iran, die
des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Drohungen gegenüber Israel unverzüglich einzu-
stellen, sich an seine Verpflichtungen aus dem Ver-
(B) – Sie sind völlig richtig. Deswegen stellt sich für mich trag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu (D)
die Frage, warum sie in dem vorliegenden Antrag noch halten und alles zu unterlassen, was zu einer Eska-
einmal aufgezählt werden sollen. Denn wir haben vor lation des Konflikts um sein Atomprogramm beitra-
Weihnachten der gemeinsamen Resolution des Deut- gen könnte.
schen Bundestages zur Verurteilung der Äußerungen
des iranischen Präsidenten, der abscheulichen Leug- Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen und Ihre
nung des Holocaust und der falschen Politik zugestimmt. vorhergehenden Äußerungen über die Haltung der Lin-
Waren Sie an dieser Resolution beteiligt und haben Sie ken zum Existenzrecht Israels zurückzunehmen?
ihr – so wie die gesamte Fraktion der Linken – zuge- (Beifall bei der LINKEN)
stimmt? Etwas wird doch nicht dadurch besser, dass man
es immer wiederholt.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Nein. Wenn Sie zugehört hätten, liebe Kollegin, dann
Dr. Rolf Mützenich (SPD): wüssten Sie, dass ich aus Ihrem Antrag zitiert habe. Ich
Der Punkt ist doch: Sie äußern sich zu der iranischen habe aber auch das aufgezählt, was Sie unterlassen.
Atomkrise und den militärischen Mitteln, die dort mögli-
cherweise eingesetzt werden. Seit dem Einbringen des Ich darf Sie an unsere Diskussion im Auswärtigen
Antrags sind aber täglich neue Vorwürfe gegenüber Is- Ausschuss über das Thema erinnern – Sie waren dabei –,
rael erhoben worden. Warum nehmen Sie das nicht in als der Kollege Paech sich dazu in keiner Weise geäußert
den Antrag mit auf, wenn er ohnehin auf Wiedervorlage hat.
liegt? Das gehört doch alles mit in diese Debatte hinein. (Zuruf von der SPD: Richtig!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Tun Sie also nicht so, als hätten Sie eine Position vertre-
FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei ten! Beschreiben Sie Ihre Position und diskutieren Sie
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sie mit uns! Das wäre viel besser.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
Herr Kollege Mützenich. CSU und der FDP)
Der Ansatz, den die damalige rot-grüne Bundesregie-
Dr. Rolf Mützenich (SPD): rung gewählt hat, hat weiterhin eine Chance. Die Unter-
Die rot-grüne Bundesregierung hat zusammen mit stützung der Bundesregierung besteht auch fort. Am
den europäischen Partnern vor mehr als zwei Jahren das Montag beispielsweise wird in Moskau mit Vertretern
1560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Dr. Rolf Mützenich


(A) Russlands und des Irans zu klären sein, ob auf russi- chen Streitbeilegung nach der UN-Charta. Das alles ist (C)
schem Boden eine Urananreicherung möglich ist. in die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des
Konflikts mit dem Iran einbezogen. Es wäre gut, wenn
Der russische Vorschlag bedeutet zweierlei: Ange- der Deutsche Bundestag diesen Weg gegenüber der Bun-
sichts der zahlreichen, langjährigen und bisher nicht auf- desregierung unterstützte.
geklärten Verstöße des Irans gegen die Regeln des
Atomwaffensperrvertrags soll das Land den Brenn- (Beifall bei der SPD)
stoffkreislauf nicht schließen. Die Anreicherung und Ab-
Es ist wichtig, dass die iranische Atomkrise mit fried-
zweigung von Uran für militärische Zwecke wäre dem-
lichen Mitteln gelöst wird. Das wäre nicht nur ein un-
nach ausgeschlossen. Damit wäre die Atomkrise zwar
schätzbarer Vorteil für die Region und ein Beispiel für
noch nicht gelöst, aber mithilfe dieser vertrauensbilden-
eine gemeinsame europäische Außenpolitik, sondern
den Maßnahme könnten weitere Fragen in Ruhe ange-
auch stilbildend für die Lösung anderer internationaler
gangen werden. Deswegen verstehe ich nicht, Kollege
Krisen. Wir wollen daran mitwirken.
Lafontaine, warum Sie beispielsweise diesen Vorschlag,
den die Russen eingebracht haben und den die Chinesen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche
und die Brasilianer unterstützen, nicht in Ihrem Antrag Ihnen ein schönes Wochenende.
und in Ihrer Rede aufgegriffen haben. Dieser Vorschlag
zeigt doch, dass diplomatische Lösungen möglich sind. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Darauf müssen wir bauen und daran müssen wir arbei-
ten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
So weit sind wir noch gar nicht, Herr Mützenich.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Der Iran sollte im eigenen Interesse diesen Vorschlag Jürgen Trittin.
aufgreifen. Das würde neues Vertrauen bilden. Danach
könnten weitere sicherheitsfördernde Schritte folgen.
Unverzichtbar ist dabei die politische Mitwirkung der Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
USA. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ox-
ford-Friedensforscher Paul Rogers hat dieser Tage einen
Des Weiteren brauchen wir – darüber haben wir schon Aufsatz bzw. eine Studie veröffentlicht, in der er sich mit
vor zwei Wochen im Rahmen einer Aktuellen Stunde der Frage nach den Folgen eines solchen von einigen an-
diskutiert; es herrschte damals großes Einvernehmen im gedachten Militärschlags beschäftigt hat. Er kommt zu
Haus; wahrscheinlich haben Sie, Herr Lafontaine, nicht einem ganz einfachen Ergebnis: Eine Militäroperation
(B) teilgenommen – regionale und weltweite Initiativen für gegen den Iran wäre keine kurzfristige Angelegenheit, (D)
Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wir müssen über die sondern würde ein Zusammenspiel komplexer und lang
atomare Rüstung, die Rolle und die Verbreitung von anhaltender Konfrontationen auslösen. Daraus folgt,
Kernwaffen, sprechen. Solange Atomwaffen ein Be- dass militärische Aktionen strikt ausgeschlossen und al-
standteil der militärischen Ausrüstung und Planung in ternative Strategien entwickelt werden sollten. Genau
wenigen, in der Regel mächtigen Ländern sind, werden das ist der springende Punkt. Auch wir sind der Mei-
sich Fälle wie die des Irans oder Nordkoreas wiederho- nung, dass militärische Lösungen ein unkalkulierbares
len. Deshalb müssen Rüstungskontrolle und Abrüs- Eskalationsrisiko haben. Ich sage Ihnen: Diejenigen,
tung die Bemühungen um die Lösung der iranischen die als erstes die Zeche dafür zahlen müssten, wären Is-
Atomkrise flankieren. rael und die Menschen im gesamten Nahen Osten. Des-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des wegen sind wir gegen eine militärische Lösung.
Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN])
Wenn man aber Alternativen entwickeln will, dann
Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei darf man zwei Fehler nicht machen. Auf der einen Seite
Deutschlands, Matthias Platzeck, hat dies erst vor weni- darf man sich die Situation nicht schöner reden, als sie
gen Tagen wiederholt; darin unterstützen wir ihn. ist. Auf der anderen Seite darf man die eigenen Überle-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gungen nicht schlechter reden, als sie sind. Das Erste ha-
ben Sie gemacht, Herr Lafontaine. Dem Iran ist doch die
Wir brauchen eine weitere internationale Debatte. Einrichtung einer massenvernichtungsfreien Zone ange-
Einzelne Staaten, vor allem die Atomwaffenstaaten, re- boten worden. Das war Bestandteil des Vorschlags der
klamieren für sich das Recht, allein zu entscheiden, ob EU 3. Ich bin völlig dagegen, dass dieser Vorschlag ge-
militärische Gewalt ein legitimes und angemessenes ändert wird. Es ist falsch, zu behaupten, der Iran habe
Mittel sein kann, wenn nationale Interessen gefährdet zu sich völkerrechtskonform verhalten. Tatsächlich befindet
sein scheinen. Damit wird ein Prinzip ausgehöhlt, wel- er sich im Zustand von Non-Compliance gegenüber dem
ches nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eigentlich Atomwaffensperrvertrag. Das hat eine übergroße
hätte wieder belebt werden müssen: das Gewaltverbot. Mehrheit der Mitglieder der Staatengemeinschaft festge-
Dieses Verbot zum Gegenstand der internationalen Poli- stellt. Wenn man Multilateralismus und Völkerrecht
tik zu machen, ist auch Aufgabe dieser Bundesregierung. hochhält, dann muss man die Ergebnisse von Multilate-
Darin unterstützen wir, die sozialdemokratische Frak- ralismus und Völkerrecht an bestimmten Stellen auch
tion, sie. Es geht nämlich auch um die Pflicht zur friedli- einmal akzeptieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1561
Jürgen Trittin
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind die (C)
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Überweisungen so beschlossen.
der SPD)
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Außerdem – es fällt mir als Atomkraftgegner schwer,
das zu sagen – haben wir den Iran nicht einmal aufgefor- Aktuelle Stunde
dert, er solle nicht anreichern. Wir beziehen uns aus- auf Verlangen der Fraktion der FDP:
drücklich darauf, dass die Anreicherung ausgesetzt
wird, aber unter internationaler Aufsicht in Russland Haltung der Bundesregierung zum Urteil des
stattfinden soll. Wir unterstützen das, gerade weil wir Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicher-
nicht der Logik folgen wollen, einem Land willkürlich heitsgesetz
die Rechte abzusprechen, die andere Länder selbstver- Ich gebe als erstem Redner dem Kollegen Ernst
ständlich für sich in Anspruch nehmen, auch wenn das Burgbacher, FDP-Fraktion, das Wort.
Ökologen und Atomkraftgegnern an dieser Stelle schwer
fällt. (Beifall bei der FDP)
Ich bin ein Befürworter der Klarheit. Klarheit heißt
Ernst Burgbacher (FDP):
auch, den Charakter des iranischen Regimes klar zu be-
nennen und klar zu machen, dass der Iran mehr als ein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
verbrecherisches Regime ist, dass er vielmehr ein Land Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch ein Ur-
mit einer vielfältigen Zivilgesellschaft ist. Wenn man teil gesprochen, mit dem wahrlich Rechtsgeschichte ge-
über alternative Strategien spricht, dann ist es unsere schrieben wurde. Dieses Urteil hat allerdings niemanden
Aufgabe, diese Vielfalt der Zivilgesellschaft zu stützen wirklich überrascht; denn spätestens nach der mündli-
und zu stärken. Das ist der Kern unseres Antrags, den chen Verhandlung war klar, dass § 14 Abs. 3 des Luft-
wir hier vorgelegt haben. sicherheitsgesetzes mit dem Grundgesetz unvereinbar
und nichtig ist. So hat es das Bundesverfassungsgericht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) am Mittwoch festgestellt.
Es geht um mehr Meinungsfreiheit und Unterstützung (Beifall bei der FDP)
dieser Kräfte.
Dieses Urteil erfüllt uns Liberale mit aufrichtiger
Lieber Herr Kollege Hörster, Sie haben zu Recht ei- Freude; denn damit ist ein Sieg für den Rechtsstaat er-
nige Stellen unseres Antrages zitiert. Wie Sie nach der rungen worden.
Lektüre dieses Antrags dazu kommen können, unsere
(B) Forderung nach einer zivilen Lösung des Konfliktes (Beifall bei der FDP) (D)
mit dem Wort „Appeasement“ zu belegen, ist unver- Gerne danke ich unserem ehemaligen Kollegen und Vi-
ständlich. Es ist genau der andere Fehler, die eigenen In- zepräsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Burkhard
strumentarien schlecht zu reden. Wir waren uns bis zum Hirsch, der in brillanter Weise rechtsstaatliche Grund-
Gebrauch des Wortes „Appeasement“ darin einig, dass sätze vertreten und durchgesetzt hat.
wir versuchen müssen, den Griff des iranischen Regimes
nach der Bombe mit zivilen, mit diplomatischen Mitteln (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zu unterbinden. Das ist kein Appeasement. Wenn Sie der LINKEN und des BÜNDNIS 90/DIE
den Antrag zu Ende gelesen hätten, wäre Ihnen vielleicht GRÜNEN)
auch die Ziffer II. 4 aufgefallen. Darin steht – ich lese Überraschend war das Urteil für die FDP schon gar
Ihnen das gerne vor –: nicht. Die FDP hat in den Beratungen in den Ausschüs-
4. Gemeinsam mit den Partnern der EU und den in- sen deutlich gemacht, dass eine Abwägung von Leben
ternationalen Partnern einen abgestuften Katalog gegen Leben – dies ist beim Abschuss eines Flugzeuges
realistischer nichtmilitärischer Sanktionsmaßnah- der Fall – mit Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht ver-
men zu entwickeln. einbar ist.
Wer das zu Appeasement erklärt, lieber Herr Hörster, der (Beifall bei der FDP)
steht in der Tat im Verdacht, dass er eine offene Flanke Die Sachverständigen hatten dies bestätigt. Trotzdem
hat und zu der Lösung tendiert, die ich am Anfang ge- sind die damaligen Regierungsfraktionen stur geblieben.
nannt habe. Deswegen glaube ich, dass unser Antrag
mehr als nötig gewesen ist. Wenn ich jetzt Kommentare der Grünen höre und
lese, dann muss ich die Kollegen von den Grünen schon
Vielen Dank. daran erinnern: Sie haben diesem Gesetz damals zuge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmt.
(Beifall bei der FDP und der LINKEN – Hans-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Damit ist die Aussprache geschlossen. NEN]: Wir haben es sogar mitformuliert!)
Es ist verabredet worden, die Vorlagen auf den Auch die Ausrede, Kollege Ströbele, dieses Gesetz be-
Drucksachen 16/452 und 16/651 an die in der Tagesord- treffe den genannten Fall gar nicht, wurde vom Bundes-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Damit verfassungsgericht ausdrücklich abgelehnt. Hören Sie
1562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Ernst Burgbacher
(A) also bitte damit auf, den Menschen Sand in die Augen zu Es liegt jetzt an uns, dem Parlament, dass wir im Reden (C)
streuen! Haben Sie wenigstens den Mut, sich zu dem, und im Tun uns an diesem Urteil orientieren und damit
was Sie entschieden haben, zu bekennen! für den Rechtsstaat und gegen den Terror kämpfen. Die-
ser Aufgabe haben wir jetzt alle miteinander nachzuge-
(Beifall bei der FDP und der LINKEN) hen.
Auch die Bundesregierung muss jetzt klarstellen, wel- Die Bürgerinnen und Bürger sollen es wissen: Es gibt
che Konsequenzen sie aus diesem Urteil ziehen will. In- eine politische Kraft, deren Politik mit dem Urteil des
nenminister Schäuble und andere wollen nach wie vor Bundesverfassungsgerichts nahtlos übereinstimmt: Das
einen Einsatz der Bundeswehr im Innern, wohl auch zur ist die FDP. All denen, die uns heute zuschauen, sage
Fußball-WM, durchsetzen. ich: Sie können sich auf die FDP als Rechtsstaatspartei
(Zuruf von den LINKEN: Pfui!) verlassen.
Innenstaatssekretär Altmaier hält dies für schwierig. Der Herzlichen Dank.
Verteidigungsminister Jung lehnt es ab. Die SPD weist (Beifall bei der FDP)
entsprechende Forderungen aus der Union zurück.
(Zuruf von der SPD: Kategorisch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Für die CDU/CSU spricht der Kollege Wolfgang
dieses Urteil war doch absehbar. Sie hätten sich doch Bosbach.
darauf vorbereiten können. Die Regierung der großen (Beifall bei der CDU/CSU)
Koalition ist völlig uneins und ordnungslos.
(Beifall bei der FDP) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
Wir erwarten, dass die Bundesregierung jetzt Stellung mag die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
nimmt. Hier ist insbesondere die Kanzlerin gefordert, begrüßen, wie es der Kollege Burgbacher getan hat. Man
auch wenn bei dieser Frage kein roter Teppich vor ihr mag diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
ausgerollt wird. wegen möglicherweise schwerwiegender Folgen für die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bevölkerung bei einem terroristischen Anschlag bedau-
der LINKEN) ern. Ganz gleich, wie man es sieht: Wir müssen die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts respektieren
Ich fordere Sie, Herr Minister Schäuble, auf: Beenden und daraus die notwendigen gesetzgeberischen Konse-
(B) Sie endlich die Phantomdiskussion eines Bundeswehr- quenzen ziehen. (D)
einsatzes bei der WM.
Herr Kollege Burgbacher, gestatten Sie mir zwei Hin-
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem weise zu dem, was Sie gesagt haben, weil ich das sehr
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- ernst nehme.
geordneten der SPD)
Erstens – ich sage das, weil auch ich damals das Luft-
Wir, die FDP, wollen diesen Einsatz nicht. Das war und sicherheitsgesetz im Grundsatz für richig gehalten habe –:
das ist die Überzeugung der FDP. Da sind wir übrigens Denjenigen, die damals zugestimmt haben, liegen die
im Einklang mit vielen Betroffenen, zum Beispiel mit Menschenwürde und der Respekt vor dem menschlichen
dem Bundeswehr-Verband oder mit der Gewerkschaft Leben ebenso am Herzen wie denen, die das Gesetz ab-
der Polizei. gelehnt haben.
Das Luftsicherheitsgesetz enthält weitere problemati- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
sche Regelungen. So wird in § 7 dieses Gesetzes eine des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])
Zuverlässigkeitsüberprüfung für alle Piloten von motor-
getriebenen Luftfahrzeugen vorgeschrieben, die alle drei Das Zweite. Wir sollten uns gegenseitig zumindest
Jahre wiederholt werden muss. Diese Vorschrift ist völ- zugestehen, dass es Fälle gibt, in denen der Staat in ei-
lig überzogen und realitätsfern. Ich kündige deshalb für nem echten Dilemma steckt. Es kann fatal falsch sein,
die FDP-Fraktion an, dass wir Änderungen von § 7 be- eine Maschine mit Waffengewalt zu stoppen, also abzu-
antragen werden, um die vielen Hobbypiloten von dieser schießen. Es kann aber auch fatal falsch sein, eine Ma-
unsinnigen und kostspieligen Bürokratie zu befreien. schine nicht zu stoppen – mit der Folge, dass möglicher-
weise Tausende unschuldiger Menschen ihr Leben
(Beifall bei der FDP) verlieren.
Der Rechtsstaat ist mit dem Urteil von Mittwoch ge- Vielleicht sind wir auch an den Grenzen dessen ange-
festigt worden. Heribert Prantl schreibt in der „Süddeut- langt, was ein Gesetzgeber regeln kann.
schen Zeitung“ – ich zitiere –:
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist der
Bei der Verteidigung des Rechts gegen den Terror Punkt!)
darf das Recht dem Terror nicht geopfert werden –
das ist das große Fazit dieses Urteils. Vielleicht sind wir tatsächlich nicht in der Lage, alle
Fälle des Lebens zu regeln. Vielleicht – das hat das Bun-
(Beifall bei der FDP und der LINKEN) desverfassungsgericht offen gelassen – muss man die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1563
Wolfgang Bosbach
(A) Entscheidung darüber, wie in einem konkreten Einzelfall (Zuruf von der LINKEN: Genau das!) (C)
hätte gehandelt werden müssen, auch einmal einer politi-
Niemand hat das vor. Wir wollen der Bundeswehr nicht
schen und möglicherweise sogar strafrechtlichen Würdi- peu à peu Polizeiaufgaben übertragen. Wir wollen die
gung überlassen. Bundeswehr nicht zu einer zweiten Bereitschaftspolizei
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das hätte ich machen.
damals auch gern vorgetragen!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/
Vielleicht können wir gar nicht alle Fälle vorhersehen, DIE GRÜNEN]: Doch!)
die das Leben für uns bereithalten kann. – Nein.
Über den § 7 des Luftsicherheitsgesetzes – auch wenn (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90
das nur ein Randproblem ist – sollten wir uns – das DIE GRÜNEN]: Zu den Weltmeisterschaften
möchte ich Ihnen ausdrücklich zugestehen – noch ein- will Herr Schäuble das!)
mal in Ruhe unterhalten. Wir erachten nicht die Intention
– Nein, auch Herr Schäuble möchte nicht,
des Gesetzgebers als falsch, aber wir müssen auch die
praktischen Auswirkungen sehen, die eine gesetzliche (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/
Neuregelung zur Folge haben kann. DIE GRÜNEN]: Sondern?)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass die Bundeswehr den Schutz der Fußballweltmeis-
neten der SPD – Beifall bei der FDP) terschaft übernimmt. Herr Schäuble sagt vielmehr: Wenn
eine Kombination von einer besonderen Bedrohungslage
Das Bundesverfassungsgericht hat auch entschieden, durch den internationalen Terrorismus und von Großver-
dass bei einem unbemannten Flugobjekt das Gesagte anstaltungen vorliegt, bei der wir Polizeikräfte in einem
nicht gilt. Wenn in einer entführten Maschine nur An- Maß binden, dass die Polizei ihre eigentlichen Aufgaben
greifer sind, nur Entführer, aber kein entführter Passa- nicht mehr wahrnehmen kann, dann muss es möglich
gier ist, dann gilt das nicht. sein, dass die Bundeswehr Teile der Objektschutzaufga-
ben übernimmt, damit wir die Bevölkerung so schützen
(Zurufe von der SPD)
können, wie wir sie schützen müssen.
Der Staat muss doch dann die Möglichkeit haben, eine (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
solche Maschine zu stoppen, wenn die Gefahr droht, dass der SPD)
Tausende ihr Leben verlieren. In einem solchen Fall hat
nach unserer Kompetenzordnung die Polizei die Kompe- Im Übrigen – auch das sollte an dieser Stelle einmal
tenz zur Gefahrenabwehr, aber sie hat gar nicht die tech- gesagt werden, weil ich glaube, dass das zwar nicht bei
(B) nischen Möglichkeiten; die technischen Möglichkeiten, allen, aber doch bei manchen im Hinterkopf eine Rolle (D)
den Angriff abzuwehren, hat die Bundeswehr, aber sie spielt –: Die Bundeswehr verdient exakt das gleiche Ver-
hat nicht die Kompetenz. Deswegen müssen wir für ge- trauen, das unsere Polizei verdient.
nau diese Fallkonstellation das Grundgesetz ändern. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Nichts anderes kann für Angriffe von See her gelten. NEN]: Das gleiche Vertrauen, aber nicht für
Wenn nur die Bundeswehr die Fähigkeit hat, einen terro- die gleiche Tätigkeit! Das sagt der Bundes-
ristischen Angriff abzuwehren, dann wäre es nicht nur wehr-Verband selbst!)
fahrlässig, sondern sogar unverantwortlich, wenn wir die
Bundeswehr nicht einsetzen dürften, um unsere Bevölke- Das ist der Grund dafür, dass wir die Kolleginnen und
rung zu schützen. Kollegen nicht nur des Koalitionspartners, sondern des
ganzen Hohen Hauses zu einem Gespräch darüber einla-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den, wie wir Deutschland sicherer machen können.
neten der SPD) Danke fürs Zuhören.
Wir wissen spätestens seit dem 11. September: Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
haben eine völlig andere Bedrohungslage als zur Zeit des neten der SPD)
Kalten Krieges, aber es ist keine minder gefährliche. Wir
wissen, dass nichtstaatliche Akteure mit militärischen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
oder paramilitärischen Mitteln aus dem Inland heraus
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Petra Pau.
Angriffe, Attentate verüben können – mit Folgen in mili-
tärischer Größenordnung, mit Tausenden von Toten. Ich (Beifall bei der LINKEN)
darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass bei den
Anschlägen am 11. September doppelt so viele Men- Petra Pau (DIE LINKE):
schen gestorben sind wie beim Angriff auf die amerika- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nische Pazifikflotte in Pearl Harbor. Wir müssen das Das Bundesverfassungsgericht hat vorgestern das so ge-
Grundgesetz dieser neuen Bedrohungslage anpassen. nannte Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig und
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes sind bei der damit für null und nichtig erklärt. Ich persönlich möchte
Wehrverfassung von einer völlig anderen Gefahrenlage anmerken: Ich bin darüber sehr froh. Das Luftsicher-
ausgegangen, als wir sie heute haben. heitsgesetz war eine Lizenz zum Töten.
Das bedeutet nicht, dass CDU und CSU die innere Si- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
cherheit militarisieren wollen. CSU)
1564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Petra Pau
(A) Noch vor ein paar Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass Dieser Tage fand übrigens hier in Berlin ein europäi- (C)
ausgerechnet Rot-Grün so etwas beschließen würde. Sie scher Polizeikongress statt. Auf ihm sprach auch Bran-
taten es dennoch. denburgs Innenminister Schönbohm. Er sprach verblüf-
fend offen und für mich auch erhellend. Es könne sein
Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Nie- – so sein Szenario –, dass sich 1.-Mai-Krawalle in Berlin
mand hat das Recht, Menschenwürde zu gewichten und hinziehen, bis die Polizei erschöpft ist. Dann müsse doch
das Leben der einen zu schützen, indem man das Leben die Bundeswehr eingreifen; das müsse sie dann auch
der anderen dem Tode weiht. Niemand heißt, auch der dürfen. Ich danke Herrn Schönbohm für diese Offenheit.
Staat darf es nicht, nicht die Regierung, nicht das Parla- Ich gehöre nicht zu denen, die alles schwarzweiß oder
ment. Karlsruhe hat mit diesem Urteil zugleich die Kern- schwarzrot sehen.
argumente der FDP und der damaligen PDS im Bundes-
tag bestätigt. (Zurufe von der CDU/CSU: Ach nein!)
(Beifall bei der LINKEN) Aber zur selben Zeit, da der Ex-General über Bundes-
wehreinsätze in Berlin-Kreuzberg nachdenkt, erhalten
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen es: wir Botschaften aus Osnabrück. Dort soll die Polizei
Es ging beim Luftsicherheitsgesetz nicht nur um die 1-Euro-Jobbern den Weg gebahnt haben, damit diese
Frage, ob ein von Terroristen entführtes Flugzeug mit- den aktuellen Verdi-Streik brechen. Das wäre ein Ein-
samt der als Geiseln genommenen Passagiere abge- griff in die Tarifautonomie. Das alles lässt natürlich
schossen werden darf. Es ging immer auch um die Frage, nichts Gutes ahnen. Im Gegenteil, es nährt den Verdacht,
ob die Bundeswehr umfassender, als es im Grundgesetz die Koalition bereite sich sehr wohl auf verstärkte so-
ohnehin erlaubt ist, im Innern der Bundesrepublik einge- ziale Auseinandersetzungen und Unruhen vor und benö-
setzt werden darf. Die Linksfraktion sagt dazu Nein. tige dafür die Bundeswehr im Innern.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Auch deshalb vermute ich, Ihr Kollege Schönbohm
hat Ihnen, Herr Bundesinnenminister Schäuble, mit sei-
Es gibt gute Gründe für das Gebot der Trennung von
nen offenen Worten hier in Berlin einen Bärendienst er-
Polizei und Bundeswehr: historische, politische und wiesen. Allerdings ist das Ihr Problem. Schönbohm hat
sachliche. Es gibt auch gute Gründe dafür, dass die Bun- bestätigt, was ohnehin in der Luft liegt: Es geht gar nicht
deswehr Bundessache ist und die Polizei Ländersache. um die Fußballweltmeisterschaft, sondern um die Milita-
Die Erfinder des Luftsicherheitsgesetzes wollten beides risierung der Innenpolitik. Ich denke, genau das dürfen
umgehen: das Trennungsgebot und die jeweiligen Zu- Demokraten und Liberale nicht zulassen.
ständigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat das in
seiner Begründung als Kompetenzüberschreitung des (Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido
(B) Parlaments kritisiert. Seitdem – so liest und hört man je- Westerwelle [FDP]: Interessante Formulie- (D)
denfalls – grübeln insbesondere Unionspolitiker darüber, rung: „Demokraten und Liberale“!)
wie sie trotz des Karlsruher Urteils die Bundeswehr im
Innern einsetzen könnten. Ich finde, das ist arrogant und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
auch tollkühn. Der Kollege Fritz Rudolf Körper spricht jetzt für die
(Beifall bei der LINKEN) SPD-Fraktion.

Es gibt hierzulande eine Gruppe, die in letzter Zeit auf- Fritz Rudolf Körper (SPD):
fällig oft mit der Verfassung bricht, nämlich ausgerech- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
net die Minister, die für den Schutz der Verfassung zu- Karlsruher Urteil, so darf man wohl sagen und formulie-
ständig sind. Die regelmäßige Folge des Ganzen ist, dass ren, beschäftigte sich mit einem Spezialfall eines terro-
wir uns immer wieder vor dem Bundesverfassungsge- ristischen Angriffes aus der Luft. Der Beratung zum
richt treffen. Luftsicherheitsgesetz, an der ich – dazu bekenne ich
Die Frage nach dem Einsatz der Bundeswehr im In- mich auch – teilgenommen und bei der ich mich einge-
nern ist inzwischen uralt und wird immer wieder einmal bracht habe, lag die Erfahrung des terroristischen Ereig-
von der Union aufgeworfen, so auch schon vor 15 Jah- nisses vom 11. September 2001 zugrunde. Es gab dann,
Herr Ströbele, noch einen besonderen Anlass, als ein
ren, als Wolfgang Schäuble ebenfalls Innenminister war.
geistig Verwirrter mit einem Kleinflugzeug um den
Seitdem sucht sich die Union für die Umsetzung dieses
Frankfurter Henninger-Turm flog.
Vorhabens ständig neue Anlässe. Nunmehr ist es die
Fußballweltmeisterschaft. Der Anlass ist gut gewählt, (Markus Löning [FDP]: Hier in Berlin hatten
denn angesichts der zunehmenden Euphorie werden wir doch auch mal einen!)
Grundrechte ganz schnell an den Rand gedrängt. Gerade
deshalb mahne ich: Die Weltmeisterschaft soll kommen, Das Karlsruher Urteil – ich glaube, da gibt es über-
haupt kein Problem, es zu respektieren – ist meiner Auf-
aber die Grundrechte müssen bleiben. Ich appelliere
fassung nach klar und eindeutig: Der Staat darf nicht
auch an Sie: Die Fußballweltmeisterschaft darf nicht län-
zum Täter und der Mensch nicht zum Objekt gemacht
ger mit Ängsten beladen und politisch missbraucht wer- werden.
den. Jeder weiß, Großveranstaltungen sind immer beson-
dere Herausforderungen für die innere Sicherheit. Eine Das Luftsicherheitsgesetz hatte das Ziel, den Ab-
seriöse Debatte darüber wäre durchaus sinnvoll, eine schuss eines von Terroristen entführten und als Waffe
Geisterdebatte zum Einsatz der Bundeswehr ist es nicht. eingesetzten Passagierflugzeuges als so genanntes letz-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1565
Fritz Rudolf Körper
(A) tes Mittel zu erlauben, um eine noch schlimmere Kata- Trotz der neuen und schwierigen Bedrohungslage (C)
strophe zu verhindern. Das war die Fragestellung, mit sollte es bei der Trennung zwischen der inneren und der
der wir uns auseinander gesetzt haben. Ich muss es auf äußeren Sicherheit bleiben.
einen einfachen Nenner bringen, lieber Herr Burgbacher:
Eine solch schwierige Frage, der wir uns zugewendet (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP
und für die wir Lösungen gesucht haben, ist für eine und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
platte parteipolitische Auseinandersetzung völlig unge- Soldaten sind weder Ersatz- noch Hilfspolizisten. Wir
eignet. werden sie auch nicht zu solchen machen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Ich wäre im Übrigen dankbar, wenn die öffentliche
des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ Debatte und die Erörterung dieses Urteils ein bisschen
DIE GRÜNEN] – Widerspruch des Abg. Ernst weniger heftig und dafür sachlicher geführt würden. Ich
Burgbacher [FDP] – Dr. Guido Westerwelle bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie sich in
[FDP]: Damit kriegt man bei der Regierung ähnlicher Weise geäußert hat. Ich denke, das ist sehr
immer Beifall!) wichtig.
– Lesen Sie einmal Ihre Rede nach, Herr Burgbacher. Ich Wir werden uns das Urteil genau anschauen und wer-
bin ein bisschen enttäuscht darüber. Denjenigen, die da- den es prüfen. Dann werden wir sehen, was getan wer-
mals mit darüber entschieden haben, den Vorwurf zu den kann, aber auch, was vielleicht nicht getan werden
machen, sie wollten die Menschenwürde mit Absicht kann.
verletzen, halte ich für abstrus und absonderlich. Einen
solchen Vorwurf finde ich ungeheuerlich. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wer hat das der CDU/CSU)
denn gesagt? Quelle! – Dr. Wolfgang Gerhardt
[FDP]: Keine Pappkameraden aufbauen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Urteil kommt zu dem klaren Ergebnis, dass die Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele,
Abwägung Leben gegen Leben nicht erlaubt und somit Bündnis 90/Die Grünen.
nicht verfassungsgemäß ist. Mit ihrer Verfassungsbe-
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Er hat es auch
schwerde machten die Beschwerdeführer geltend, sie
nicht leicht!)
würden durch das Luftsicherheitsgesetz unmittelbar in
(B) ihren Grundrechten beeinträchtigt. Das Gericht kommt (D)
zu dem Ergebnis, dass eine Abwägung Leben gegen Le- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
ben nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicher- GRÜNEN):
weise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
betroffen seien, unzulässig sei. Die angegriffenen Rege- gen! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat im
lungen, so das Gericht, verletzten auch den verfassungs- Jahr 2004 diesem Gesetz zugestimmt.
rechtlichen Vorbehalt in Art. 87 a Abs. 2 Grundgesetz,
nach dem die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur ein- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aha!)
gesetzt werden dürfen, soweit das Grundgesetz dies aus- Ich selber war an der Ausarbeitung und Formulierung
drücklich zulässt. gerade dieses in Rede stehenden Absatzes des § 14 des
Das Gericht bestätigt uns damit in der Auffassung, Luftsicherheitsgesetzes beteiligt.
dass ein bewaffneter Einsatz der Bundeswehr im Inland (Zuruf von der FDP: Hört! Hört! – Wolfgang
verboten ist. Bosbach [CDU/CSU]: Ein Punkt für Ehrlich-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) keit!)

Dem Bund ist ein Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spe- Trotzdem muss ich feststellen:
zifisch militärischen Waffen weder bei der Bekämpfung (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Ich ziehe
besonders schwerer Unglücksfälle noch bei einem über- den Punkt gleich wieder ab!)
regionalen Katastrophennotstand erlaubt.
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, und ich selber respektieren
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann nicht nur, sondern wir begrüßen diese Entscheidung des
die Bundeswehr auch in Zukunft nur zur Landesverteidi- Bundesverfassungsgerichts aus voller Überzeugung und
gung oder im Rahmen der Amtshilfe eingesetzt werden. mit ganzem Herzen, weil sie historisch zu nennen ist,
Darüber hinausgehende Forderungen, die Bundeswehr weil sie richtig ist und weil in ihr die Würde des Men-
auch zu polizeilichen Aufgaben einzusetzen, sind meiner schen als unantastbar bezeichnet wird, wie es in Art. 1
Meinung nach unzulässig, weil sie nicht verfassungsge- des Grundgesetzes verankert ist.
mäß sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Es fehlt Jetzt komme ich zu der Frage, wie man diesen Wider-
der Beifall, Genossen!) spruch auflösen kann.
1566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Hans-Christian Ströbele
(A) (Lachen bei der CDU/CSU – Hermann Gröhe mals, dass wir befürchteten, dass, wenn wir diesem (C)
[CDU/CSU]: Gute Frage! – Wolfgang Bosbach Kompromiss nicht zugestimmt hätten, in den Verhand-
[CDU/CSU]: Darauf warten wir jetzt!) lungen mit der Opposition bzw. der Union, also sozusa-
gen in einer großen Koalition – auch damals wäre für
Wir haben mit diesem Gesetz das Richtige gewollt und eine Grundgesetzänderung die Zustimmung der CDU/
bei der Einbringung in den Deutschen Bundestag ent- CSU notwendig gewesen –, ein Kompromiss herausge-
sprechend zum Ausdruck gebracht. kommen wäre, der einen zusätzlichen Einsatz der Bun-
(Zuruf von der FDP: Aber nicht gemacht!) deswehr im Inneren möglich gemacht hätte.

Allerdings haben wir dann eine falsche Formulierung ins (Zurufe von der CDU/CSU: Ach so!)
Gesetz geschrieben. Das war für uns ein unerträglicher Gedanke.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wollen Sie damit
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das war damals
sagen, dass Sie uns nur benutzt haben, um die-
unbegründet und ist heute unbegründet!)
ses Urteil zu kriegen?)
Deshalb war schon damals der Hintergrund unserer
Ich will ohne Wenn und Aber die Kritik an unserem Ver-
Überlegungen, das auf gar keinen Fall zuzulassen.
halten akzeptieren.
Ich persönlich habe die Formulierung „den Einsatz (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Erzähle
unmittelbarer Waffengewalt zulassen“ so verstanden, ruhig weiter!)
dass damit nicht gemeint ist, ein Passagierflugzeug mit Denn wir wussten, dass dies die Union und Teile der
in der Tat unbeteiligten Passagieren abschießen zu dür- SPD seit dem Erlass der Notstandsgesetze immer wieder
fen. gefordert haben, auch vor zehn bzw. 15 Jahren. Wir
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wussten, dass dies nach wie vor auf der Agenda der
SES 90/DIE GRÜNEN) Union und von Teilen der SPD stand.

So habe ich das hier im Bundestag formuliert und so Heute stehen wir vor dem Problem: Wollen wir in der
habe ich auch auf eine Frage eines Kollegen von der Auseinandersetzung über die Schlussfolgerungen aus
FDP seinerzeit geantwortet, der auf das Dilemma hinge- diesem Urteil einen zusätzlichen Einsatz der Bundes-
wiesen hat. Ich habe klar gesagt, dass das mit unseren wehr im Inneren schleichend möglich machen? Dazu sa-
moralischen Grundsätzen und auch mit Art. 1 des gen wir genauso eindeutig: Nein. Wir wollten damals
Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist. nicht, dass das Grundrecht in Art. 1 des Grundgesetzes
(B) tangiert wird, (D)
Wir akzeptieren diese Kritik. Wir haben das Problem
nicht mit der genügenden Klarheit gesehen und das Ge- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das wollen wir
setz nicht mit der genügenden Klarheit formuliert. Wir auch heute nicht!)
begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen und wir wollen jetzt nicht, dass die Bundeswehr im Inne-
Fehler glücklicherweise richtig gestellt hat. ren zusätzliche Aufgaben übernimmt, für die die Polizei
Wir haben vorher diese Kritik in den Diskussionen in zuständig ist. Das ist weder richtig noch notwendig. In
der Öffentlichkeit wahrgenommen. Zu dieser Formulie- einer Zeit, in der Polizeistellen abgebaut und der Objekt-
rung ist es gekommen – daraus mache ich keinen Hehl –, schutz nicht nur an Kasernierungsstandorten der Bun-
weil der Koalitionspartner ein Recht auf Abschuss in deswehr, sondern auch beim Polizeipräsidium in Berlin
einer Notsituation auch für Passagierflugzeuge, in dem von Privatfirmen übernommen wird, ist es völlig unzu-
unbeteiligte Passagiere sitzen, schaffen wollte. Die da- lässig und neben der Sache, zu fordern, dass die Bundes-
malige Bundesregierung, insbesondere der damalige wehr im Inneren Polizeiaufgaben zusätzlicher Art über-
Bundesinnenminister, wollte das von uns. Wir wollten nimmt.
das aber zu keinem Zeitpunkt der Verhandlungen. Wir
haben gesagt, dass das nicht in Betracht komme. Wir ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ben versucht, eine Formulierung zu finden, mit der beide Herr Ströbele, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Koalitionspartner – wie das leider in Koalitionen so ist;
davon wissen auch Sie von der FDP und andere ein Lied
zu singen – leben können. Wir dachten, wir hätten eine Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
geeignete Formulierung gefunden. Aber wir haben die GRÜNEN):
falsche gewählt. Das ist der falsche Weg. Das wäre genau die falsche
Schlussfolgerung aus diesem Urteil des Bundesverfas-
Jetzt ist die Frage, welche Schlussfolgerung man aus sungsgerichtes.
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zieht. Die
Schlussfolgerung darf keinesfalls lauten, dass wir erneut (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Versuche unternehmen, der Bundeswehr zusätzliche
Rechte im Inneren unseres Staates zuzubilligen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ein Grund, uns für einen Kompromiss auszusprechen Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister
und zu einem Kompromiss zu kommen, war für uns da- Dr. Wolfgang Schäuble.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1567

(A) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In- sagt, dass wir nicht glauben, dass es eine hinreichende (C)
nern: verfassungsrechtliche Grundlage dafür gibt. Das ist die
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der An- historische Wahrheit.
lass dieser Debatte ist so ernst, dass ich der Versuchung
widerstehen will, Herr Kollege Ströbele, Ihre Art von (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Rabulistik zu sehr aufzuspießen. Es ist ehrenwert, dass GRÜNEN]: Aber Art. 1 haben Sie damals
Sie sich dazu bekannt haben, dass Sie dem Luftsicher- nicht im Sinn gehabt! Das müssen Sie mal
heitsgesetz zugestimmt haben. Der Versuch der Irrtums- nachlesen!)
begründung war ein bisschen mühsam. – Langsam, Herr Kollege Ströbele. Wir sollten dem
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Thema angemessen darüber diskutieren.
CDU/CSU – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ Die Sicherheit während der Fußballweltmeisterschaft
CSU]: Peinlich!) ist ein ganz anderes Thema. Mit der Entscheidung zum
Frau Kollegin Pau, Sie sollten in Zukunft ein biss- Luftsicherheitsgesetz haben wir das Problem, dass wir
chen sorgfältiger formulieren. In meiner Verantwortung für den Fall eines 11. September eine Regelungslücke
als Bundesinnenminister können Sie mir keine Verfas- haben. Ich will übrigens darauf aufmerksam machen,
sungsbrüche vorwerfen. Was immer Sie ansonsten sagen dass der Weltsicherheitsrat nach den Terroranschlägen
wollen, dies sollten Sie bitte nicht tun. Meine jetzige vom 11. September 2001 gemäß Art. 51 der UN-Charta
Amtszeit ist noch ein bisschen kurz. Schauen Sie einmal festgestellt hat, dass es sich um einen Angriff gegen die
genau nach, ob Sie in meiner früheren Amtszeit irgend- Vereinigten Staaten von Amerika und einen Anschlag
etwas dazu finden. auf den Weltfrieden handelt. Am Tag danach hat die
NATO – übrigens mit Zustimmung der damaligen Bun-
(Petra Pau [DIE LINKE]: Einen solchen Vor- desregierung – beschlossen, dass hier nach Art. 5 des
wurf habe ich nicht gemacht!) NATO-Vertrages – wenn Sie mögen, lese ich Ihnen die
– Gut, dann sind wir uns schon einig. Passage vor – ein bewaffneter Angriff gegen ein Land
vorliegt. Das war die Situation nach dem 11. September
Ich möchte diese Gelegenheit gern zum Anlass neh- 2001.
men – denn es ist ein ernstes Thema –, dafür zu werben,
das wir beim Umgang miteinander unterscheiden zwi- Der gestrige Empfang der Sozialdemokratischen Par-
schen der Frage, was nach dem geltenden Grundgesetz tei für Hans-Jochen Vogel hat mich veranlasst, an Mün-
erlaubt ist und was nicht – da gilt natürlich das Urteil des chen 1972 zu denken. Den wenigsten von Ihnen wird be-
Verfassungsgerichts; es legt das geltende Grundgesetz wusst sein, dass wir schon einmal einen 11. September
(B) verbindlich aus –, und dem legitimen politischen Anlie- hatten – der 11. September scheint ein schwieriges Da- (D)
gen, zu sagen: Ich schlage eine Ergänzung bzw. Ände- tum zu sein –, nämlich im Jahr 1972. Wenn Sie mögen,
rung des Grundgesetzes vor. Darüber kann man unter- können Sie das in den Memoiren des damaligen Bundes-
schiedlicher Meinung sein. verteidigungsministers Georg Leber mit dem Titel „Vom
Frieden“ nachlesen, die 1979 erschienen sind. Darin
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So ist es!) schildert er die Abschlussfeier am 11. September 1972
Aber es wäre falsch – das ist völlig klar –, daraus den und die Situation, als – das war nach dem Anschlag – die
Vorwurf abzuleiten, derjenige, der dies sagt, wolle die Meldungen kamen, dass ein Flugzeug im Anflug auf das
Verfassung brechen. Für alle Mitglieder des Bundesta- Olympiastadion sei und Bomben auf das Stadion abge-
ges, alle Mitglieder der Bundesregierung und alle Lan- worfen werden sollten. Zum Glück ist es dazu nicht ge-
desminister gilt: Sie alle wollen und werden nur im Rah- kommen.
men der Verfassung handeln. Wir alle haben übrigens Machen Sie es sich und uns nicht zu einfach! Ich habe
unseren Amtseid darauf geschworen, das Grundgesetz gerade davon gesprochen, dass der Amtseid des Minis-
und die Gesetze des Bundes zu achten und zu respektie- ters beinhaltet, das Grundgesetz zu achten. Darin heißt
ren. es aber auch, Schaden vom deutschen Volk zu nehmen.
Niemand will in irgendeiner Weise außerhalb des Auch das ist vom Amtseid umfasst. Deswegen müssen
Grundgesetzes handeln. Trotzdem kann man unter- wir über diese Fragen sorgfältig nachdenken. Das wird
schiedlicher Meinung sein. Das muss in einer Demokra- nach diesem Urteil nicht einfacher. Aber es enthebt uns
tie erlaubt sein. Man kann darüber streitig diskutieren, nicht unserer Verantwortung.
ob es richtig ist, zu sagen: Wir müssen das Grundgesetz
an dem einen oder anderen Punkt ergänzen. Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Es ist
doch völlig klar – das hat in der gemeinsamen Sitzung
Ich füge ganz leise hinzu: von Innen- und Sportausschuss der hessische Kollege
Bouffier diese Woche sehr eindrucksvoll gesagt –, dass
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ganz leise!)
die Innenminister von Bund und Ländern bei den Sicher-
Die damalige Opposition hat nicht zuletzt unter Feder- heitsvorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft
führung des Kollegen Bosbach und mir gesagt – wie es – die auf einem guten Wege sind, obwohl die Herausfor-
im Übrigen die Bundesregierung nach dem Urteil des derungen insbesondere wegen des Phänomens des Pu-
Bundesverfassungsgerichts getan hat –, dass sie das blic Viewing eine Dimension haben, wie wir sie bisher
Schutzanliegen des Gesetzes für richtig hält. Deswegen nicht gekannt haben – nur im Rahmen dessen planen,
haben wir zugestimmt. Wir haben aber gleichzeitig ge- was das Grundgesetz erlaubt. In diesem Rahmen leistet
1568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) die Bundeswehr übrigens wie bei vergangenen Großver- unterstellen, was er nicht gesagt hat, um sich rhetorisch (C)
anstaltungen jede Menge. Sie hat daher Anspruch auf dagegen aufbringen zu können. Das gehört sich meines
Respekt und Anerkennung, auch auf Dank. Erachtens nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Zweitens möchte ich denjenigen etwas sagen, die die-
FDP) ses Gesetz schließlich beschlossen haben; mittlerweile
Ich sage dies auch, weil ich zunehmend die Sorge will ja niemand mehr Vater des Gesetzes gewesen sein.
habe, dass von irgendjemandem – das könnte auch ich (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
sein; ich will es aber nicht – der Vorwurf der Militarisie- GRÜNEN]: Wieso denn?)
rung der Innenpolitik erhoben wird. Das klingt so, als
seien die Soldaten der Bundeswehr schießwütige Cow- – Sie sagen, Sie seien es gewesen, aber so gemeint hät-
boys. Das sind sie nicht. Der Kollege Bosbach hat zu ten Sie es nicht.
Recht gesagt, dass sie dasselbe Vertrauen verdienen wie
die Polizeibeamten von Bund und Ländern. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das habe ich auch damals schon
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gesagt! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/
neten der SPD) DIE GRÜNEN]: Das haben wir damals schon
gesagt!)
Die Frage, was wir tun können, wenn wir an die
Grenzen dessen gestoßen sind, was die Polizei zu leisten Das ist eine drollige Verdrehung von Tatsachen.
im Stande ist, kann man unterschiedlich beurteilen. So-
lange wir hier nicht zu einer Grundgesetzänderung kom- (Beifall bei der FDP)
men – der Zeitraum ist eng; das ist mir klar –, bereiten
Ich will Ihnen an dieser Stelle einmal sagen: Sie
wir uns so gut wir können im Rahmen dessen vor, was
müssten sich heute nicht dieser Kritik stellen, wenn Sie
das Grundgesetz erlaubt. Über alles andere können wir
es nicht gewesen wären, und zwar SPD und Grüne, die
streitig diskutieren. Dies enthebt uns aber nicht unserer
die verfassungsrechtlichen Bedenken der Freien Demo-
Verantwortung. Um nicht mehr, aber auch um nicht we-
kraten in Bausch und Bogen abgetan haben.
niger möchte ich anlässlich dieser Debatte werben.
Wir freuen uns alle auf die Fußballweltmeisterschaft. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Wer wird denn so blöd sein, im Zuge dessen immer von GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Lesen
Sicherheit zu reden? Am liebsten würden wir nicht da- Sie nach, was wir damals gesagt haben!)
rüber reden. Das enthebt uns aber nicht unserer Verant- Es ist sogar der Verfassungsminister Ihrer Regierung
(B) wortung. Wir sind in Vorfreude auf eine hoffentlich tolle gewesen, Otto Schily, der der Freien Demokratischen (D)
Weltmeisterschaft, zu der viele Zehntausend Menschen, Partei wörtlich unterstellt hat, sie sei ein Sicherheits-
vielleicht 1 Million, zu uns kommen und bei der Milliar- risiko für Deutschland. Weil wir die Menschenwürde
den Menschen auf unser Land schauen. Das ist eine schützen wollten, ist uns unterstellt worden, wir seien
großartige Chance, uns als Gastgeber zu erweisen und ein Sicherheitsrisiko.
eine fröhliche Fußballweltmeisterschaft zu veranstalten.
Wir dürfen aber die Sicherheitsbelange nicht vernachläs- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
sigen; sonst würden wir unserer Verantwortung nicht ge- GRÜNEN]: So etwas haben wir uns von Ihnen
recht werden. auch schon oft anhören müssen!)
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes können Ich finde, es wäre an der Zeit, dass Sie sich heute in der
sich darauf verlassen, dass diese Bundesregierung und Debatte für solche Entgleisungen entschuldigen, um das
diese Koalition ihrer Verantwortung im Rahmen des einmal klar auf den Punkt zu bringen.
Grundgesetzes gerecht werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herzlichen Dank. der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jetzt kommen wir aber zu dem eigentlichen Gehalt.
neten der SPD) Interessant ist, dass ein Teil hier erklärt, er will das
Karlsruher Urteil achten, sich ein anderer Teil aber
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: längst Gedanken darüber macht, wie man von dem Ur-
Der Kollege Dr. Westerwelle spricht für die FDP- teil wegkommt. Die Reaktion der Politik auf das Urteil
Fraktion. des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht gewesen, in
weiten Teilen anzuerkennen, was das Verfassungsgericht
(Beifall bei der FDP) aus Sorge um das Recht auf Leben und die Menschen-
würde entschieden hat. Das Erste, was die Ministerpräsi-
Dr. Guido Westerwelle (FDP): denten von Hessen und Bayern, der Kollege Koch und
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und der Kollege Stoiber, getan haben, ist, zu sagen, jetzt gebe
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst es eine große Lücke im Gesetz, ein Sicherheitsrisiko sei
zwei Vorbemerkungen machen. Erstens. Herr Kollege wieder entstanden. Jetzt müsse man neue Initiativen er-
Körper, ich halte es für nicht richtig und für nicht ange- greifen, um die Verfassung zu ändern. Das ist die völlig
messen, dass Sie Herrn Burgbacher in Heftigkeit etwas falsche Konsequenz.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1569
Dr. Guido Westerwelle
(A) So, wie Sie bei der Frage der Menschenwürde, der Soldaten sind eben keine Hilfspolizisten. Sie sind viel- (C)
Verfassung, der Rechtsstaatlichkeit falsch lagen, als Sie mehr für die äußere Sicherheit zuständig. Für die innere
dieses Gesetz beschlossen haben, so liegen Sie falsch, Sicherheit sind die Polizei bzw. die Polizeibehörden zu-
wenn Sie meinen, Sie könnten die Menschenwürde oder ständig. Diese klare Trennung muss so bestehen bleiben.
das Recht auf Leben, also das Urteil des Bundesverfas- Besser wäre es, die Polizei ordentlich auszustatten und
sungsgerichts, durch einen neuerlichen Anlauf relativie- sie entsprechend in die Lage zu versetzen, unsere Sicher-
ren. Die Menschenwürde, das Recht auf Leben kann heit besser zu gewährleisten, statt eine Hilfspolizei grün-
durch keine Mehrheit im Deutschen Bundestag und den zu wollen, indem man die Bundeswehr regelmäßig
durch keine Mehrheit im Bundesrat beseitigt werden. im Inneren einsetzt. Das ist gegen die Verfassung und
Gott sei Dank gibt es noch eine Partei und Gott sei Dank übrigens auch gegen die Sicherheit unseres Landes.
gibt es noch ein Verfassungsgericht, das dies so klar und Vielen Dank.
deutlich formuliert.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Götzer der LINKEN)
[CDU/CSU]: Wer will das denn? – Rüdiger
Veit [SPD]: Pappkameraden!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie fragen: Wer will das denn? Darf ich Sie darauf Für die Fraktion der SPD spricht der Kollege Frank
aufmerksam machen, dass es genau diese Abwägung ge- Hofmann.
wesen ist. Man kann das Leben von Unschuldigen nicht
gesetzlich gegeneinander abwägen. Das ist im Kern die Frank Hofmann (Volkach) (SPD):
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
die Garantie der Menschenwürde. Wenigstens jetzt soll- Ich möchte am Anfang meiner Rede die zwei Beiträge
ten Sie dieses Prinzip anerkennen und sich nicht Gedan- der FDP ansprechen. Sie haben für heute eine Aktuelle
ken darüber machen, wie man möglicherweise durch Stunde zur Haltung der Bundesregierung zum Urteil des
eine Verfassungsänderung diesem klaren Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz
Bundesverfassungsgerichts entgehen kann. beantragt. Doch es ging Ihnen – ich spreche über die
Herr Kollege Schäuble, ich hatte eigentlich gehofft Beiträge von Ihnen, Herr Burgbacher und Herr
und auch darauf gewartet, dass Sie neben den richtigen Westerwelle – nicht darum, die Haltung der Bundesre-
allgemeinen Betrachtungen – dass Ihnen keiner unedle gierung zu erfahren.
Motive unterstellt, wenn Sie beispielsweise Ihre Pläne (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Doch! Danach
vertreten, ist doch selbstverständlich – auch die Konse- habe ich gerade gefragt!)
(B) quenzen, die für Ihre bisherige Politik aus diesem Urteil (D)
zu ziehen sind, erläutern. Dazu haben Sie keinen Ton ge- Denn auch Sie wissen: Wenn die Bundesregierung zwei
sagt. Tage nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
eine abschließende Bewertung zum Urteil abgeben
Ich mache darauf aufmerksam, was am heutigen Tag würde, wäre das fahrlässig.
in der Zeitung steht. Die eine Zeitung schreibt: Schäuble
beharrt auf Grundgesetzänderung und zitiert Sie. Die (Petra Pau [DIE LINKE]: Aber eine Meinung
nächste Zeitung, die einen etwas späteren Andruck hatte, dazu!)
schreibt: Merkel gibt Schäubles Plan für die WM auf. Erwarten Sie hier etwa tatsächlich von den Rednern,
Das ist die derzeitige Lage. Ich finde, der Deutsche dass sie in ihren Redebeiträgen von fünf Minuten dieses
Bundestag muss schon erwarten können, dass wir bei so wichtige Urteil richtig einschätzen,
einer empfindlichen Frage, nämlich des Einsatzes der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Bundes-
Bundeswehr im Inland, von Ihnen jetzt eine Antwort be- kanzlerin konnte es in 30 Sekunden!)
kommen, und zwar hier im Plenum. Ich bitte Sie, das
Wort zu ergreifen und das für die Bundesregierung klar- analysieren und künftige Gesetzesvorhaben daraus skiz-
zustellen. zieren? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie wollten eine
Selbstbeweihräucherung der FDP. Das war alles.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Wir Freie Demokraten begrüßen ausdrücklich, dass CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND-
die Bundeskanzlerin diese Pläne des Bundesinnenminis- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mittwoch in der Fra-
ters fallen lassen will. Wir erwarten vom Innenminister, gestunde hat die Bundesregierung auch nichts
dass er dies akzeptiert und beidreht. Das ist das Aller- sagen können!)
mindeste, was man von Ihnen als Konsequenz aus dem
Karlsruher Urteil erwarten kann. Sie haben eben gesagt, dass die Bundeskanzlerin dies
konnte. Wenn Sie die Meldung genau gelesen hätten,
(Beifall bei der FDP) wüssten Sie, dass sie so einen Einsatz nur für die Fuß-
ballweltmeisterschaft ausgeschlossen hat. Ansonsten
Damit komme ich zum letzten Punkt, den ich anspre- kenne ich keine Aussage der Bundesregierung dazu, wie
chen möchte. Das hört sich gut an: Die Soldaten haben es insgesamt weitergehen soll.
dasselbe Vertrauen verdient. Als ob irgendjemand in die-
sem Raume nicht den Damen und Herren Soldatinnen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
und Soldaten vertrauen würde. Selbstverständlich! Aber CSU und der LINKEN)
1570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Frank Hofmann (Volkach)


(A) Ich will für mich sagen: Ich war Berichterstatter der Jahren kam es bei der Polizei in den Ländern zu tausend- (C)
SPD zum Luftsicherheitsgesetz. Wir hatten Vertreter des fachem Stellenabbau, allein in den letzten fünf Jahren
Innenministeriums und des Justizministeriums in vielen um 7 100 Stellen. Jetzt wird so getan, als stünde die WM
Sitzungen dabei, die es verfassungsrechtlich beurteilt ha- überraschend vor der Tür. Die einzige Lösung des Pro-
ben. Wir haben eine Sachverständigenanhörung durch- blems sieht man nun in der Einbeziehung der Bundes-
geführt, in der die Meinungen unterschiedlich waren. wehr. Das ist, finde ich, eine Bankrotterklärung der In-
Eine Eindeutigkeit, wie sie jetzt dargestellt worden ist, nenminister, die jetzt laut nach der Bundeswehr rufen.
hat es nicht gegeben. Es war für mich mehr als überra-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schend, dass sich das Bundesverfassungsgericht so ein-
der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
deutig geäußert hat. Das war aus meiner Sicht vorher
GRÜNEN)
nicht erkennbar.
Wir sind nun in einem moralischen Dilemma, das sich CDU und CSU haben möglicherweise ein Konzept
rechtsstaatlich nicht lösen lässt. Das wurde schon von für den Einsatz der Bundeswehr im Innern im Kopf, sie
Herrn Bosbach angesprochen. Das Urteil lässt nur die verschweigen es aber. Lange bevor der neue internatio-
Möglichkeiten zu, ein unbemanntes oder nur mit Terro- nale Terrorismus aufkam, hatte Innenminister Schäuble
risten besetztes Flugzeug mit militärischen Mitteln zu sich bereits für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern
bekämpfen, und zwar nur dann, wenn zuvor das Grund- ausgesprochen. Dabei geht es nicht lediglich um Objekt-
gesetz geändert und die Bundeswehr damit in diesem schutz. Nein, vielmehr hatten schon immer einige füh-
speziellen Fall zum Einsatz ermächtigt wird. So verstehe rende Köpfe in der CDU/CSU die Sehnsucht, eine Na-
ich im Moment das Urteil. tionalgarde aufzubauen. Das wollen wir aber nicht. Für
so etwas wollen wir nicht unsere Hand reichen.
Nicht einfach ist es für mich, damit umzugehen, dass
man nicht tätig werden darf, wenn Unbeteiligte invol- Ich erinnere daran, dass es noch nicht einmal ein Jahr
viert sind. Denn das Bundesverfassungsgericht untersagt her ist, dass Bayerns Innenminister Beckstein nach Luft-
den Einsatz von Waffen bei entführten Passagiermaschi- abwehrraketen und Kampfhubschraubern der Bundes-
nen, die nach dem Muster des 11. September 2001 geka- wehr, die gegen Modell- und Kleinstflugzeuge einge-
pert werden. setzt werden sollten, rief. Herr Schönbohm hat in den
letzten Tagen allerdings den Vogel abgeschossen, als er
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass das Luft- sagte, die neue Bedrohungslage durch den Terrorismus
sicherheitsgesetz wesentlich weiter geht. Der Grundsatz stelle so etwas Ähnliches wie einen Spannungsfall dar.
des Luftsicherheitsgesetzes lautet: Entführungen werden
am Boden ermöglicht und sollten dort verhindert wer- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(B) den. Wir tun das meiste vorher am Boden durch die Herr Hofmann, Sie müssen bitte zum Schluss kom- (D)
Überprüfungen im Flughafen. Ich denke, man muss das men.
Luftsicherheitsgesetz insgesamt sehen.
Gestört hat mich auch, dass nach dem Bekanntwerden Frank Hofmann (Volkach) (SPD):
des Urteils Teile der CDU und der CSU sehr hektisch re- Ja, nur noch eine Sekunde. – Damit hat er auch die
agiert haben; ich meine, auch ein bisschen hysterisch. Frage der Wehrpflicht verknüpft. Das geht aber zu weit.
Der „Spiegel“ hat nur zwei Stunden später berichtet: Ich erwarte von unserem Koalitionspartner, dass er sich
„Union drängt auf Grundgesetzänderung“. Auf diese an den Koalitionsvertrag hält und alle Kämpfe unter-
Weise wird schon wieder Zeitdruck erzeugt, damit man lässt, die die Stabilität einer auf vier Jahre angelegten
quasi mit heißer Nadel die eigene Position innerhalb der Koalition untergraben.
Koalition verbessern kann. Ich finde, so geht das nicht.
Wir halten uns an die Koalitionsvereinbarung. Dort heißt Herzlichen Dank.
es: (Beifall bei der SPD)
Angesichts der Bedrohung durch den internationa-
len Terrorismus greifen äußere und innere Sicher- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
heit immer stärker ineinander. Gleichwohl gilt die Der Kollege Hermann Gröhe spricht für die CDU/
grundsätzliche Trennung zwischen polizeilichen CSU-Fraktion.
und militärischen Aufgaben. Wir werden nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Luftsicherheitsgesetz prüfen, ob und inwieweit ver-
fassungsrechtlicher Regelungsbedarf besteht. Hermann Gröhe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Koalitionsvertrag steht nicht – auch daran will ich er-
In der Tat: Die heutige Aktuelle Stunde kann nur der Be-
innern –, das dieses Gesetz vor Beginn der
ginn der Debatte über die Entscheidung des Bundesver-
Fußballweltmeisterschaft 2006 im Gesetzbuch zu ste-
fassungsgerichts vom vorgestrigen Tage sein. Denn die
hen hat.
Begründung der Entscheidung, die Vorschrift des § 14
Der Druck, der im Zusammenhang mit der Fußball- Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz für nichtig zu erklären, ver-
weltmeisterschaft aufgebaut wurde – ich hoffe, damit ist langt nach einer eingehenden Prüfung, um den Umfang
es nun vorbei –, verdeutlicht das Dilemma, in dem sich des nunmehr gebotenen gesetzgeberischen Handelns
die Innenminister der Länder befinden: In den letzten auszuloten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1571
Hermann Gröhe
(A) Verehrter Kollege Hofmann, insbesondere dann, langt. Zu prüfen wird ferner sein, welche Möglichkeiten (C)
wenn man möglicherweise noch keine Zeit hatte, diese die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur
eingehende Prüfung vorzunehmen, sollte man diese De- Abwehr der Gefahr durch ein entführtes Flugzeug voller
batte nicht nutzen, um über Themen zu sprechen, die mit unschuldiger Fluggäste bietet, wenn dieses Flugzeug
dieser Entscheidung nichts zu tun haben. gleichsam als Waffe gegen Wohngebiete oder indus-
trielle Anlagen gerichtet wird.
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Das Bundesverfassungsgericht gibt in seiner Ent-
Obwohl es in den letzten beiden Tagen zu manch
scheidung lediglich den Hinweis, nicht über eine nach-
schneller, ja sogar vorschneller Kommentierung der Ent-
trägliche strafrechtliche Bewertung einer Entscheidung
scheidung gekommen ist, sei festgehalten: Die vom
in einer konkreten Situation entschieden zu haben. Aber
Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärte Bestim-
ist die Möglichkeit strafausschließender Entschuldi-
mung wurde in der letzten Legislaturperiode von der da-
gungsgründe – Stichwort: übergesetzlicher Notstand –
maligen rot-grünen Mehrheit auch gegen die Stimmen
wirklich der einzige und ist sie ein geeigneter Ausweg
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschlossen. Soweit
aus einem derart dramatischen Dilemma? Ein durch ei-
das Bundesverfassungsgericht erklärt hat, für die für
nen übergesetzlichen Notstand entschuldigtes Verhalten
nichtig erklärte Vorschrift gebe es keine Gesetzgebungs-
kann seinem Wesen nach nicht Bestandteil einer Be-
kompetenz des Bundes, entspricht diese Auffassung ge-
fehlskette sein; denn rechtswidriges Handeln kann nicht
nau jener rechtlichen Bewertung, die seinerzeit die
befohlen werden. Was bedeutet dies aber, wenn Ent-
Union veranlasste, gegen den damals vorgelegten Ge-
scheidungen innerhalb von Minuten und damit zugege-
setzentwurf zu stimmen,
benermaßen mit dem Risiko einer Fehlentscheidung ge-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE troffen werden müssen? Es gibt eben nicht nur die
GRÜNEN]: Aber auch Ihr Vorschlag wäre für dramatische Ausweglosigkeit der unschuldigen Opfer
verfassungswidrig erklärt worden! Auch Ihr terroristischer Entführer, die das Bundesverfassungsge-
Kompetenzvorschlag hätte nicht gereicht!) richt so eindringlich beschrieben hat; es gibt auch die
dramatische Ausweglosigkeit jener, die entscheiden und
und die die Landesregierungen Bayerns und Hessens handeln müssen und die wissen, dass nicht nur jedes
veranlasste, ebenfalls das Bundesverfassungsgericht an- Handeln, sondern auch jedes Nichthandeln sie gegebe-
zurufen. nenfalls – zumindest moralisch – schuldig werden lässt.
Das Bundesverfassungsgericht hat die angegriffene Auch diese Menschen haben einen Anspruch auf eine
Bestimmung auch in materieller Hinsicht für mit dem verlässliche Rechtsgrundlage für ihr Entscheiden und
Grundgesetz unvereinbar erklärt. Auch angesichts Handeln.
(B) manch anderer Debatte über den Schutz der menschli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D)
chen Würde am Beginn und am Ende menschlichen Le- Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
bens halte ich das kraftvolle Bekenntnis des Gerichts zur GRÜNEN]: Diese Tür hat das Bundesverfas-
Unbedingtheit der menschlichen Würde für begrüßens- sungsgericht geschlossen!)
wert. Ich bin gespannt, ob wir im Rahmen anderer De-
batten ähnlich konsequent über die Schlussfolgerungen, Bei allen Schwierigkeiten, dafür eine generalisierende
die gezogen werden sollen, nachdenken. Allerdings be- Regelung zu finden, dürfen wir doch nicht darauf hoffen,
kenne ich: Auch ich habe, was die konkreten Schlussfol- dass in solchen Situationen erst der Gehorsam gegenüber
gerungen des Gerichts betrifft, noch einige Fragen. offen rechtswidrigen Befehlen den Schutz großer Men-
schenmengen, die bedroht sind, möglich macht.
Die Union hat sich stets zum Schutzzweck des Luft-
sicherheitsgesetzes bekannt; darin waren wir uns mit der Lassen Sie uns also gemeinsam prüfen, wie wir im
damaligen rot-grünen Mehrheit einig. Wir sollten ge- Respekt vor unserem Grundgesetz und vor der Entschei-
meinsam die verfassungsrechtlichen Grundlagen dafür dung des Bundesverfassungsgerichts den bestmöglichen
schaffen, diesen Schutzzweck innerhalb der vom Bun- Schutz unserer Bevölkerung vor dramatischen Bedro-
desverfassungsgericht gezogenen Grenzen zu erreichen. hungen erreichen – in der Hoffnung, dass uns, vor allem
Insofern kann von einem Ende der Debatte über notwen- aber den Entscheidern und den Handelnden sowie den
dige Grundgesetzänderungen nicht die Rede sein, zumal von diesen Entscheidungen Betroffenen solche Konflikt-
– auch dies wurde erwähnt – die Koalitionsvereinbarung lagen erspart bleiben.
ausdrücklich auch das Ziel eines „Seesicherheitsgeset- Vielen Dank.
zes“ benennt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wo auch das Bundesverfassungsgericht materiell neten der SPD)
Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren ausdrücklich für
zulässig hält, beispielsweise bei einem unbemannten
Flugzeug oder bei einem Flugzeug, in dem sich aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
schließlich die Entführer befinden, bleibt gleichwohl Es spricht Jörn Thießen für die SPD-Fraktion.
eine Verfassungsänderung geboten, um eine notwendige
Gesetzgebungskompetenz zu schaffen. Wir sollten daher Jörn Thießen (SPD):
mit allem Ernst prüfen, worin wir schon heute überein- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
stimmen, was sachlich zusammengehört und was noch Das Bundesverfassungsgericht hat vorgestern klarge-
die Erarbeitung einer mehrheitsfähigen Position ver- stellt: Eine Abschussbefugnis, wie sie im Luftsicher-
1572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Jörn Thießen
(A) heitsgesetz vorgesehen war, gibt es unter keinen Um- prüfen, was die Bundespolizei tun kann, mehr aber nicht. (C)
ständen. Der Einsatz der Bundeswehr zur akuten Personelle und materielle Nöte sind keine ausreichenden
Bekämpfung terroristischer Gefahren – ob aus der Luft Gründe, die Bundeswehr zu einer Reservetruppe zu er-
oder von der See – im Inneren ist mit diesem Urteil er- klären. Mit diesem Vorschlag nimmt man weder die Po-
schwert, wenn nicht verboten worden. Das Bundesver- lizisten noch die Soldaten mit ihren jeweiligen Ausbil-
fassungsgericht hat jede Möglichkeit ausgeschlossen, dungen, Kernkompetenzen und Berufsbildern ernst.
beispielsweise gegen Passagierflugzeuge vorzugehen,
die von Verbrechern als Waffen genutzt werden. Der (Beifall bei der SPD sowie des Abg.
Staat darf sich demzufolge nicht der gleichen Handlun- Dr. Werner Hoyer [FDP])
gen schuldig machen, die von Terroristen begangen wer- Auf diese Ausbildungen, Kernkompetenzen und Berufs-
den. Das ist richtig und das ist gut. Aber es bietet keine bilder ist unser Land nach innen und nach außen ange-
Veranlassung, die grundlegende Absicht des Luftsicher- wiesen.
heitsgesetzes zu diffamieren.
2 000 Soldatinnen und Soldaten werden ihre Kräfte
Im Koalitionsvertrag hat sich die Regierung bereits und Mittel während der Weltmeisterschaft in den Berei-
auferlegt, nach diesem Urteil zu prüfen, „ob und inwie- chen Sanität, ABC-Schutz und Verpflegung zur Verfü-
weit … Regelungsbedarf besteht“. Es ist sinnvoll und im gung stellen. Das ist gut, das können sie, das ist vom Ge-
Sinne aller Betroffenen, sich einer klarstellenden Ände- setz gedeckt und das reicht.
rung der Gesetzeslage, die sich auf spezifische Fälle ei-
ner Bedrohung aus der Luft oder von der See bezieht, Klug handelt, wer gerade diejenigen Dinge sorgfältig
nicht von vornherein zu verschließen. Wenn eine solche ein zweites Mal anschaut, bei denen er sich auf den ers-
Bedrohung ausschließlich mit militärischen Mitteln und ten Blick nicht ganz sicher war. – Dieser weise Satz gilt
nur von der Bundeswehr tatsächlich bekämpft werden auch für erfahrene Bundesminister, insbesondere dann,
kann, dann muss dazu eine Grundlage geschaffen wer- wenn sie den Bereich des Inneren verantworten. Einer
den. Verschmelzung von polizeilichen und militärischen Auf-
gaben – und sei sie zeitlich noch so begrenzt – wird die
Der Einsatz gegen unbemannte oder nur mit Terroris- Sozialdemokratie keinen Vorschub leisten.
ten besetzte Flugzeuge wird nicht ausgeschlossen. Er ist
heute allein deshalb nicht möglich, weil nach geltendem Danke schön.
Recht keine militärischen Mittel dafür eingesetzt werden
(Beifall bei der SPD und der FDP)
dürfen. Bei einer möglichen Änderung des Art. 35 des
Grundgesetzes wird man sich aber höchstens darauf be-
schränken, den Einsatz der Bundeswehr gegen solche Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(B) (D)
Bedrohungen rechtlich überall dort abzusichern, wo es Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer,
notwendig ist, zu Waffen zu greifen, die der Polizei nicht CDU/CSU-Fraktion.
zur Verfügung stehen.
Wir wissen, dass moralische Dilemmata nicht durch Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
Gesetzestexte zu lösen sind. Wir als Gesetzgeber sind Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch
dennoch in der Pflicht, auch in unwahrscheinlichen Fäl- die Entscheidung über das Luftsicherheitsgesetz hat das
len für die straf- und zivilrechtliche Sicherheit der Han- Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Be-
delnden zu sorgen. Wir müssen diejenigen absichern, die kämpfung von terroristischen Bedrohungen im Luftraum
unsere staatlichen Instrumente unmittelbarer Gewalt am enge Grenzen gesetzt.
Ende in den Händen halten. Diesen Schutz haben alle
Das hat zumindest viele Juristen nicht wirklich über-
verdient und diesen Schutz müssen wir ihnen gewähren.
rascht, es hinterlässt aber doch zwiespältige Gefühle.
Aus dem Urteil folgt: Auch in Zukunft kann die Bun- Denn zum einen ist der Staat verpflichtet, seinen Bür-
deswehr selbstverständlich zur Landesverteidigung und gern den größtmöglichen Schutz zu gewähren, zum an-
im Rahmen der Amtshilfe eingesetzt werden. Weiterge- deren steht fest, dass die Abwägung von Leben gegen
hende Forderungen, Soldaten auch für polizeiliche Auf- Leben den Kernbereich aller Ethik und allen Rechts be-
gaben einzusetzen, sind ausgeschlossen. Nicht ausge- trifft. Konkret geht es um die Opferung der Leben einer
schlossen sind akute und präventive Maßnahmen zur verhältnismäßig kleinen Zahl Unschuldiger, um die Le-
Abwehr möglicher nationaler Unglücksfälle. Dazu ge- ben einer größeren, möglicherweise sehr viel größeren
hört eben auch der Schutz vor einer denkbaren terroristi- Zahl Unschuldiger zu retten. Hier stoßen wir an die
schen Bedrohung. Hier können und dürfen Einrichtun- Grenzen unserer gesetzgeberischen Möglichkeiten.
gen der Streitkräfte angefordert und verwendet werden. Diese hat Karlsruhe klar gezogen.
Diese Amtshilfe wird schnell und erfolgreich geleistet.
Wir müssen aber auch erkennen, dass Terrorangriffe
Das ist heute der Fall und das wird auch morgen der Fall
wie die vom 11. September in New York eine völlig
sein. Damit können wir dieses Kapitel schließen.
neue Dimension von internationaler politischer Gewalt
Ein zeitliches Zusammentreffen von Ereignissen ist bedeuten, die uns zwingt, diese Kampfansage des inter-
aber mitnichten auch ein inhaltliches Zusammentreffen nationalen Terrors als Kriegserklärung an die westliche
in der Sache. Wenn die Fußballweltmeisterschaft die Welt und ihre Werte zu begreifen. Das bedeutet: Wir
Länder in Schwierigkeiten bringt, weil sie bei ihren Poli- müssen das herkömmliche Verständnis der Abgrenzung
zeien zu viel gespart haben, dann können wir allenfalls von Krieg und Kriminalität, von Kriegsführung und Ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1573
Dr. Wolfgang Götzer
(A) brechensbekämpfung überwinden und diese neu definie- drohung aus der Luft, für den nur die Bundeswehr gerüs- (C)
ren. tet ist. Dass dies mit einer Grundgesetzänderung mög-
lich ist, darin sehen wir uns durch Karlsruhe bestätigt.
Völlig neue Bedrohungen verlangen neue Schutzkon- Diesen Weg sollten wir jetzt gehen.
zepte. Mit dem Urteil vom vergangenen Mittwoch ist es
jedenfalls nicht mehr möglich, diesen Bedrohungen so Ich bedanke mich.
zu begegnen, wie es mit dem Luftsicherheitsgesetz ge-
(Beifall bei der CDU/CSU)
plant war. Das hat die Politik zu respektieren. Allerdings
hat das Bundesverfassungsgericht immerhin die Mög-
lichkeit eröffnet, ein Flugzeug abzuschießen, das allein Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mit Terroristen besetzt ist, ohne dabei gegen das Recht Für die SPD spricht Gerold Reichenbach.
auf Leben oder die Menschenwürde zu verstoßen. Doch
brauchen wir hierzu eine Grundgesetzänderung, da der Gerold Reichenbach (SPD):
militärische Einsatz der Bundeswehr im Innern in diesen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fällen vom Grundgesetz nicht zugelassen ist. Das hat die Ich will nicht verhehlen, dass das Bundesverfassungsge-
Union schon im Jahre 2004 – das ist bereits angespro- richt mit seiner Entscheidung die Abwehr terroristischer
chen worden – bei den Beratungen zum Luftsicherheits- Gefahren aus der Luft oder von See deutlich erschwert
gesetz erkannt und damals einen entsprechenden Antrag hat. Wenn ein von Terroristen gekapertes Flugzeug mit
zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt. Unschuldigen an Bord dazu benutzt wird, eine Katastro-
phe mit dem Ziel herbeizuführen, weitere unschuldige
Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dies unverzüglich
Menschen zu töten, so sind dem Gesetzgeber nach dem
nachzuholen und den gesetzgeberischen Spielraum, den
Urteil unverändert die Hände gebunden. Für eine undif-
uns Karlsruhe gelassen hat, auszuschöpfen, also die vor-
ferenzierte Einwirkung mit Waffengewalt bleibt ledig-
handene Ermächtigung im Grundgesetz auf eine breitere
lich das Konstrukt des übergesetzlichen Notstandes.
Basis zu stellen. Ich hoffe, wir sind uns alle darüber ei-
nig, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen schaffen Das Verfassungsgericht hat uns aber mit seiner Ent-
muss, um derartige terroristische Attacken wirksam be- scheidung etwas anderes deutlich gemacht. Bei der Lö-
kämpfen zu können. Dies ist von Staats wegen zum sung des moralischen Dilemmas, das durch die Formen
Schutz der bedrohten Menschen dringend geboten. des Terrorismus entstehen kann, springt derjenige zu
kurz, der zur Ultima Ratio nur auf undifferenzierte mili-
(Beifall bei der CDU/CSU) tärische Waffen zurückgreifen kann. Wir sind nach dem
Im Übrigen müssen wir unverzüglich gewissenhaft Urteil vielmehr gefordert, noch mehr in die Entwicklung
(B) prüfen, welche weiteren Gestaltungsspielräume uns und den Ausbau polizeilicher Fähigkeiten zu investieren, (D)
überhaupt noch bleiben, um die Sicherheit der Bevölke- weil diese im Gegensatz zu militärischen Mitteln schon
rung in den Fällen bestmöglich zu gewährleisten, in de- aufgrund ihrer Natur zielgenauer auf die Täter einzu-
nen uns nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts schränken sind. Nur so – mit polizeilichen Mitteln –
die Hände gebunden sind. Hier ist meines Erachtens wird das Dilemma aufzulösen sein, das uns das Verfas-
Handlungsbedarf gegeben. Die „Frankfurter Allgemeine sungsgericht mit seiner klaren Aussage zum Schutz des
Zeitung“ hat zu Recht am 16. Februar dieses Jahres ge- Lebens Unbeteiligter in solchen Terrorszenarien aufge-
schrieben – ich zitiere –: geben hat. Deswegen springen auch alle zu kurz, die
nach dem Urteil nur in Richtung militärischer Mittel dis-
Durch das Gerichtsurteil ist die Sicherheitslücke kutieren.
objektiv vergrößert worden … Also muß man sich
um so intensiver bemühen, die Lücke wieder zu Es bleibt nur ein schmaler Bereich, wenn es darum
verkleinern. geht, ein unbemanntes oder nur mit Tätern besetztes
Flugobjekt unschädlich zu machen, und der Polizei die
Dabei gilt es, für die Sicherheitskräfte im Ernstfall dafür notwendigen technischen Möglichkeiten fehlen.
eine präzise und verfassungsrechtlich unzweifelhafte Ausschließlich über diesen schmalen Bereich werden
Rechtslage zu schaffen. Das sind wir nicht nur der Be- wir reden können. Das gilt analog auch für den Seebe-
völkerung, sondern auch den Soldaten schuldig. Mögli- reich. Das haben wir in der Koalition hinsichtlich der
cherweise bleibt für diese wahrlich furchtbare Situation Prüfung der gesetzlichen Möglichkeiten nach dem Urteil
nur das Rechtsinstitut des übergesetzlichen Notstands. des Bundesverfassungsgerichts vereinbart.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ Die Forderungen, die Bundeswehr voll bewaffnet
DIE GRÜNEN]: So ist es!) auch für polizeiliche Aufgaben einzusetzen, sind von
Ein Satz in der Urteilsbegründung, der auf das Strafrecht den Richtern in ihrer Urteilsbegründung zurückgewiesen
Bezug nimmt, könnte dahin gehend zu verstehen sein. worden. Die Richter haben in ihrer Begründung klar
zwischen militärischem und polizeilichem Handeln un-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ terschieden. Genau diese Trennung entspricht dem Geist
DIE GRÜNEN]: Genau!) unserer Verfassung und wird von uns bekräftigt.
Unabhängig von dieser speziellen Problematik brau- Natürlich gehen wir nicht davon aus, dass Soldaten
chen wir eine stärkere Verzahnung aller Sicherheits- schießwütig sind, wie kolportiert wurde. Der in diesem
kräfte, um den Schutz der Bevölkerung im Inland besser Zusammenhang immer wieder geäußerte Hinweis – etwa
gewährleisten zu können, insbesondere im Falle der Be- von dem Verfassungsrechtler Scholz –, die Bundeswehr
1574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

Gerold Reichenbach
(A) übernehme schließlich auch im Ausland Polizeiaufga- Bernd Siebert (CDU/CSU): (C)
ben, trifft nicht den Kern der Sache. Das ist zwar richtig, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
aber die Bundeswehr nimmt diese Aufgaben nur hilfs- Wer in dieser Situation Schadenfreude zeigt oder eine
weise und unter großen Schwierigkeiten wahr. Sie ideologische Grundsatzdiskussion führt, setzt sich mei-
nimmt diese hilfsweise wahr, weil in den Ländern ent- ner Ansicht nach mit dem Urteil des Bundesverfassungs-
weder kriegs- oder bürgerkriegsähnliche Zustände herr- gerichts nicht solide auseinander.
schen oder weil es keine funktionierende Polizei gibt.
Man muss sich länger Zeit nehmen, als das bis zur heu-
Wir haben aber in Deutschland keine bürgerkriegs- tigen Diskussion möglich war, um das Urteil im Detail zu
ähnlichen Zustände und wir haben eine funktionierende analysieren, die schriftliche Begründung entsprechend zu
Polizei. Wir haben sogar eine sehr gut funktionierende bewerten und daraus die notwendigen Schlüsse zu zie-
Polizei. hen. Für mich gibt es gar keinen Zweifel, dass sich die So-
zialdemokraten, die Christdemokraten, die Christsozia-
Herr Götzer, wir sollten unser Land nicht in eine Art len und – ich gehe noch weiter – auch die FDP darüber
permanenten unerklärten Kriegszustand hineinreden, um verständigen – das muss sein –, welche Rechtsgrundlagen
einen Waffeneinsatz der Bundeswehr im Inneren zu legi- wir angesichts der terroristischen und anderer Gefahren
timieren. brauchen, um die Sicherheit Deutschlands und insbeson-
(Widerspruch bei der CDU/CSU – Jörg van dere unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.
Essen [FDP]: Das sind ja Töne in der Koali- (Beifall bei der CDU/CSU)
tion! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So geht
ihr miteinander um! – Heiterkeit beim BÜND- Wir müssen aber auch Rechtssicherheit für denjeni-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] gen herbeiführen, der die Entscheidung umsetzen muss.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Götzer, Dabei spielen natürlich die Bundeswehr und insbeson-
lassen Sie das mal sein!) dere der in der Handlungskette stehende Soldat eine
wichtige Rolle. Wer sonst sollte einer Bedrohung aus der
Das sollten wir auch und gerade vor dem Hintergrund Luft oder über See mit Aussicht auf Erfolg entgegentre-
des internationalen Terrorismus nicht tun. Denn in einem ten? Wer sonst außer der Bundeswehr hat im Bereich der
solchen Denken verschwimmt das zivile Bild unserer ABC-Abwehr eine schnelle Reaktionskompetenz im ge-
Gesellschaft und erleidet auf Dauer Schaden. Damit ar- samten Spektrum möglicher Gefahren?
beiten wir indirekt denen in die Hände, die diese offene
und freie Gesellschaft diskreditieren wollen. (Zuruf von der SPD: Die Berufsfeuerwehr!)
(Jörg van Essen [FDP]: Recht hat er!) Es geht nicht darum – darin sind wir uns alle sicherlich
(B) einig –, dass unsere Soldaten als Hilfspolizisten beim (D)
Nun wollen Ministerpräsidenten der Union die Bun- Wacheschieben vor Bahnhöfen oder Fußballstadien zum
deswehr für den Objektschutz einsetzen. Lassen Sie Einsatz kommen sollen. Wenn es aber darum geht, Ein-
mich ein Beispiel nennen. In meinem Heimatbundesland flugschneisen von Flughäfen gegen Raketenbeschuss zu
Hessen sind nach Aussagen des Innenministers 900 bis sichern, Kernkraftwerke oder große Industrieanlagen,
1 000 Polizisten im Objektschutz gebunden. Demgegen- chemische Anlagen zum Beispiel, zu schützen oder
über sollen bis 2007 bei der hessischen Polizei 2 300 Stel- Bahnlinien abzusichern, muss man sagen: Hier verfügt
len abgebaut werden. Das übertrifft die theoretisch mög- die Bundeswehr über eine sehr hohe Kompetenz. Das
liche Entlastung um das Mehrfache. Gleiche gilt für das Herstellen einer schnellen Führungs-
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gut, dass wir fähigkeit bei großen Katastrophen oder terroristischen
diese Debatte beantragt haben!) Anschlägen.
Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, dass wir im
Das ist ein Offenbarungseid.
Ausland die Bundeswehr dort quasi im Innern zur Si-
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) cherheit der dortigen Bevölkerung einsetzen, aber in
Deutschland in dieser Frage einen rechtsfreien Raum
Denn es heißt letztlich: Grundgesetz nach Kassenlage. entstehen lassen. Mit dem Bundesverfassungsgerichtsur-
Das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen. teil ist eben nicht alles erledigt. Ganz im Gegenteil: Wir
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem sind nun zu besonders besonnenem Handeln und zu ver-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) antwortungsbewussten Entscheidungen aufgefordert.
Wir müssen ausloten, wo und was wir im Grundgesetz
Für uns gilt, was im Koalitionsvertrag festgeschrieben ändern müssen, damit wir optimal gegen asymmetrische
ist: die grundsätzliche Trennung zwischen militärischen Bedrohungen aufgestellt sind. Ich habe den Eindruck
und polizeilichen Aufgaben. Diese Aufgaben werden – auch nach dieser Aktuellen Stunde –: Die Tür zu einer
wir auch nicht vermischen. vernünftigen Lösung ist noch nicht zugestoßen. Eine sol-
che Lösung erwarten die Menschen in unserem Land
(Beifall bei der SPD und der FDP) und insbesondere die Soldaten von uns zu Recht.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herzlichen Dank.


Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSU- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Fraktion. neten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1575

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nehmen Sie die gewonnenen Erkenntnisse mit und (C)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Ak- genießen Sie sie am Wochenende.
tuelle Stunde.
Wir sind am Ende unserer Tagesordnung. Ich schließe die Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf Mittwoch, den
8. März 2006, 13 Uhr, ein. (Schluss: 16.28 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1577

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Albach, Peter CDU/CSU 17.02.2006 Kramme, Anette SPD 17.02.2006


Bätzing, Sabine SPD 17.02.2006 Künast, Renate BÜNDNIS 90/ 17.02.2006
DIE GRÜNEN
Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 17.02.2006
Marieluise DIE GRÜNEN Dr. Küster, Uwe SPD 17.02.2006
von Bismarck, Carl CDU/CSU 17.02.2006 Lips, Patricia CDU/CSU 17.02.2006
Eduard
Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 17.02.2006
Brase, Willi SPD 17.02.2006
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 17.02.2006
Brunnhuber, Georg CDU/CSU 17.02.2006 DIE GRÜNEN
Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 17.02.2006 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 17.02.2006
Ernst, Klaus DIE LINKE 17.02.2006 Müntefering, Franz SPD 17.02.2006
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 17.02.2006 Multhaupt, Gesine SPD 17.02.2006
Joseph DIE GRÜNEN
Nitzsche, Henry CDU/CSU 17.02.2006
Freitag, Dagmar SPD 17.02.2006
Pflug, Johannes SPD 17.02.2006
Granold, Ute CDU/CSU 17.02.2006
Pieper, Cornelia FDP 17.02.2006
(B) Griefahn, Monika SPD 17.02.2006
Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 17.02.2006 (D)
Griese, Kerstin SPD 17.02.2006 Claudia DIE GRÜNEN
Grund, Manfred CDU/CSU 17.02.2006 Schieder, Marianne SPD 17.02.2006
Haßelmann, Britta BÜNDNIS 90/ 17.02.2006 Schmidt (Nürnberg), SPD 17.02.2006
DIE GRÜNEN Renate
Haustein, Heinz-Peter FDP 17.02.2006 Schneider (Erfurt), SPD 17.02.2006
Carsten
Dr. Hendricks, SPD 17.02.2006
Barbara Scholz, Olaf SPD 17.02.2006
Hilsberg, Stephan SPD 17.02.2006 Schultz (Everswinkel), SPD 17.02.2006
Reinhard
Hintze, Peter CDU/CSU 17.02.2006
Schwanitz, Rolf SPD 17.02.2006
Hinz (Essen), Petra SPD 17.02.2006
Dr. Stinner, Rainer FDP 17.02.2006
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 17.02.2006
DIE GRÜNEN Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 17.02.2006
DIE GRÜNEN
Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 17.02.2006
DIE GRÜNEN Tillmann, Antje CDU/CSU 17.02.2006
Hofbauer, Klaus CDU/CSU 17.02.2006 Ulrich, Alexander DIE LINKE 17.02.2006
Hovermann, Eike SPD 17.02.2006 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 17.02.2006
Ibrügger, Lothar SPD 17.02.2006 Wissmann, Matthias CDU/CSU 17.02.2006
Jung (Konstanz), CDU/CSU 17.02.2006 Wolff (Rems-Murr), FDP 17.02.2006
Andreas Hartfrid
Klug, Astrid SPD 17.02.2006 Zeil, Martin FDP 17.02.2006
1578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006

(A) Anlage 2 – Erstes Gesetz zur Änderung des Seeaufgaben- (C)


gesetzes
Erklärung nach § 31 GO
– Gesetz zu dem Protokoll vom 27. November
des Abgeordneten Lutz Heilmann (DIE
2003 zur Änderung des Europol-Übereinkom-
LINKE) zur Abstimmung über den Entwurf
mens und zur Änderung des Europol-Gesetzes
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zwei-
ten Buches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungs- – Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwi-
punkt 15 a) schen der Bundesrepublik Deutschland und
Der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit dem Königreich der Niederlande über die
und Soziales zum Ersten Gesetz zur Änderung des Zwei- grenzüberschreitende polizeiliche Zusammen-
ten Buches Sozialgesetzbuch stimme ich aus folgenden arbeit und die Zusammenarbeit in strafrechtli-
Gründen nicht zu: chen Angelegenheiten

Erstens. Die Kürzungen im Rentenbereich führen zur – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 14. April
Altersarmut Betroffener. 2005 über den Beitritt der Tschechischen Re-
publik, der Republik Estland, der Republik
Zweitens. Junge Erwachsene unter 25 Jahren werden Zypern, der Republik Lettland, der Republik
durch die Neuregelung entmündigt. Litauen, der Republik Ungarn, der Republik
Drittens. Die Angleichung der Regelsätze Ost-West Malta, der Republik Polen, der Republik Slo-
ist zwar richtig, wird aber mit den oben beschriebenen wenien und der Slowakischen Republik zu dem
erheblichen Einschnitten verbunden. Übereinkommen von 1980 über das auf ver-
tragliche Schuldverhältnisse anzuwendende
Recht sowie zu dem Ersten und dem Zweiten
Anlage 3 Protokoll über die Auslegung des Übereinkom-
mens durch den Gerichtshof der Europäischen
Erklärung nach § 31 GO Gemeinschaften (Viertes Beitrittsübereinkom-
men zum Schuldvertragsübereinkommen)
der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann
(DIE LINKE) zur Abstimmung über den Ent- – Gesetz zu dem Protokoll Nr. 14 vom 13. Mai
wurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des 2004 zur Konvention zum Schutz der Men-
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Tagesord- schenrechte und Grundfreiheiten über die Än-
nungspunkt 15 a) derung des Kontrollsystems der Konvention
(B) Ich kann der Beschlussempfehlung des Ausschusses (D)
– Zwölftes Gesetz zur Änderung des Außenwirt-
für Arbeit und Soziales nicht zustimmen. schaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsver-
Zwar ist die Angleichung der Regelleistung Ost an ordnung
West ein richtiger, längst überfälliger Schritt. – Gesetz zu dem Abkommen vom 8. April 2005
Warum aber wurde diese erneute Diskriminierung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Ostdeutschlands über ein Jahr lang von der übergroßen Rumänien über Soziale Sicherheit
Mehrheit dieses Hauses zugelassen? – Gesetz zu der Zweiten Änderung des Überein-
Warum wird darüber hinaus nicht endlich zur Kennt- kommens vom 25. Februar 1991 über die
nis genommen, dass auch nach Untersuchungen der So- Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüber-
zialverbände selbst 345 Euro keine existenzsichernde schreitenden Rahmen (Zweites Espoo-Ver-
Grundsicherung darstellen? tragsgesetz)
Ausschlaggebend für mein Abstimmungsverhalten – Gesetz zur Änderung des Abkommens vom
aber ist, dass Sie dieses grundsätzlich zu begrüßende 31. März 1992 zur Erhaltung der Kleinwale in
Vorhaben mit weiteren Leistungskürzungen verbinden – der Nord- und Ostsee (Gesetz zur Ausweitung
Leistungskürzungen zulasten junger Arbeitsloser und des ASCOBANS-Abkommensgebiets)
zulasten künftiger Renten an heute Arbeitslose.
– Erstes Gesetz über die Bereinigung von Bun-
Es ist unverschämt, mit welchen Mitteln Sie versu- desrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundes-
chen, den Bundeshaushalt zu sanieren. Ich kann und will ministeriums des Innern
dem nicht zustimmen.
– Gesetz über konjunkturstatistische Erhebun-
gen in bestimmten Dienstleistungsbereichen
(Dienstleistungskonjunkturstatistikgesetz –
Anlage 4
DIKonjStatG)
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 819. Sitzung am Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit-
10. Februar 2006 beschlossen, den nachstehenden Ge- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der
setzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Arti- Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
kel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: nachstehenden Vorlagen absieht:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006 1579

(A) Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung (C)


Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 Titel 632 11
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005 – Beteiligung des Bundes an den Leistungen für Unter-
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 02 Titel 632 01 kunft und Heizung –
– Finanzierung der auf Grund der Entscheidung des – Drucksachen 16/350, 16/480 Nr. 1.34 –
Bundespräsidenten auf den 18. September 2005 vorge-
zogenen Wahlen zum 16. Deutschen Bundestag – – Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksachen 15/5949, 16/480 Nr. 1.19 – Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 09 Titel 632 51
– Unterrichtung durch die Bundesregierung – Kriegsopferfürsorge und gleichartige Leistungen –
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005 – Drucksachen 16/351, 16/480 Nr. 1.35 –
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 13 Titel 636 23
– Erstattung von einigungsbedingten Leistungen an die
allgemeine Rentenversicherung –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-
– Drucksachen 15/5966, 16/480 Nr. 1.21 –
Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005
tung abgesehen hat.
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 08 02 Titel 632 11
– Verwaltungskostenerstattung an Länder –
Auswärtiger Ausschuss
– Drucksachen 15/5990, 16/480 Nr. 1.26 –
Drucksache 16/150 Nr. 1.18
Drucksache 16/150 Nr. 1.23
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/150 Nr. 1.38
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005 Drucksache 16/150 Nr. 1.39
Überplanmäßige Ausgabe beim Einzelplan 06 bei Kapi- Drucksache 16/150 Nr. 1.50
tel 06 40 Titel 681 12 Drucksache 16/150 Nr. 1.51
– Eingliederungshilfen und Unterstützungsleistungen – Drucksache 16/150 Nr. 1.54
Drucksache 16/150 Nr. 1.55
– Drucksachen 15/5995, 16/480 Nr. 1.27 – Drucksache 16/150 Nr. 1.56
Drucksache 16/150 Nr. 1.67
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/150 Nr. 2.7
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005 Drucksache 16/150 Nr. 2.135
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 25 Titel 671 01 Drucksache 16/150 Nr. 2.198
– Erstattungen an Dritte für die Durchführung der Drucksache 16/288 Nr. 2.6
Fluggast- und Reisegepäckkontrolle – Drucksache 16/288 Nr. 2.7
(B) Drucksache 16/288 Nr. 2.30 (D)
– Drucksachen 15/6006, 16/480 Nr. 1.29 – Drucksache 16/288 Nr. 2.31
Drucksache 16/288 Nr. 2.32
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/288 Nr. 2.33
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 09 Titel 681 05
– Bestattungsgeld auf Grund des Bundesversorgungsge- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
setzes und des Gesetzes zur Wiedergutmachung natio- Verbraucherschutz
nalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversor- Drucksache 16/150 Nr. 2.69
gung für Berechtigte im Ausland – Drucksache 16/150 Nr. 2.72
Drucksache 16/150 Nr. 2.151
– Drucksachen 15/6013 (neu) , 16/480 Nr. 1.31 – Drucksache 16/150 Nr. 2.234
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2005 Ausschuss für Gesundheit
Einwilligung in eine überplanmäßige Verpflichtungs- Drucksache 16/150 Nr. 2.252
ermächtigung bei Kapitel 60 02 Titel 540 01 Drucksache 16/150 Nr. 2.270
– Prägekosten, Metallbeschaffungskosten, Kosten für
den Vertrieb von Sammlermünzen, die Unterhaltung
des Münzumlaufs und die Bekämpfung der Falschmün- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
zerei – Union
– Drucksachen 16/56, 16/135 Nr. 1.7 – Drucksache 16/150 Nr. 2.272
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
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ISSN 0722-7980

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