Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
24. Sitzung
Inhalt:
Erhaltung der Arbeitsplätze bei der Priva- Stromimporte aus osteuropäischen Atom-
tisierung des Aluminiumwerks Aluhett kraftwerken (ohne Containment) nach
GmbH (Hettstedt) Deutschland
MdlAnfr 31 MdlAnfr 39
Frederik Schulze CDU/CSU Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Antw PStS Dr. Kurt Faltlhauser BMF .. 1707 B NEN
1707 C Antw PStS Dr. Heinrich L. Kolb BMWi . 1715 B
ZusFr Frederik Schulze CDU/CSU . . .
ZusFr Dr. Uwe-Jens Rössel PDS . . . . 1707 C ZusFr Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN 1715 C
Finanzielle Beteiligung der Bundesrepu- ZusFr Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE
blik Deutschland am Weiterbau des Atom- GRÜNEN 1715 C
kraftwerks Mochovce (Slowakei) ange- ZusFr Horst Kubatschka SPD 1715 D
sichts des fragwürdigen Sicherheitsstan- ZusFr Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/
dards DIE GRÜNEN 1716 A
MdlAnfr 32, 33
Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE Gaspreisschätzungen in der Least-Cost-
GRÜNEN Studie der Europäischen Bank für Wieder-
aufbau und Entwicklung zum slowaki-
Antw PStS Dr. Kurt Faltlhauser BMF 1708 A, 1710 B
schen Atomkraftwerk Mochovce
ZusFr Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE
1708 B, 1711 A MdlAnfr 40
GRÜNEN
Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/DIE
ZusFr Monika Ganseforth SPD . 1708 D, 1711 C
GRÜNEN
ZusFr Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE
Antw PStS Dr. Heinrich L. Kolb BMWi . 1716 B
GRÜNEN 1709 A, 1711 D
ZusFr Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/
ZusFr Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN 1716 D
DIE GRÜNEN 1709 B, 1711 B
ZusFr Wolfgang Behrendt SPD 1717 B
ZusFr Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN 1710 A ZusFr Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . 1717 C
ZusFr Horst Kubatschka SPD . . . . 1711 C
ZusFr Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE
ZusFr Wolfgang Behrendt SPD 1712 B
GRÜNEN 1717 D
Politische Einflußnahme auf die Europäi- ZusFr Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/
sche Bank für Wiederaufbau und Entwick- DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . 1717 D
lung (EBRD) bei der Beurteilung der Wirt-
schaftlichkeit des slowakischen Atom-
kraftwerks Mochovce Zusatztagesordnungspunkt 2:
MdlAnfr 35 Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun-
Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/DIE desregierung zur künftigen Ausgestal-
GRÜNEN tung des Familienlastenausgleichs
Antw PStS Dr. Kurt Faltlhauser BMF . . 1712 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 1718 B
ZusFr Ursula Schönberger BÜNDNIS 90/ Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 1719 A
DIE GRÜNEN 1712 D Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
ZusFr Wolfgang Behrendt SPD 1713 B GRÜNEN 1720 A
ZusFr Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 1721 A
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . 1713 C Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . 1722 A
ZusFr Monika Ganseforth SPD . . . 1713 D Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 1723 A
ZusFr Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/ Lydia Westrich SPD . . . . . . . . . 1724 B
DIE GRÜNEN 1714 A Friedrich Merz CDU/CSU 1725 B
ZusFr Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE Hildegard Wester SPD 1726 B
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . 1714 B
Renate Diemers CDU/CSU 1727 B
Lieferung von Rüstungsgütern durch Fir- Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär
men des Bereichs „Kommerzielle Koordinie- BMF 1728 B
rung" der früheren DDR während des ira- Nicolette Kressl SPD 1729 D
nisch-irakischen Krieges in diese Länder Johannes Singhammer CDU/CSU .. 1730 D
MdlAnfr 38 Lisa Seuster SPD 1731 C
Volker Neumann (Bramsche) SPD Hans Michelbach CDU/CSU 1732 C
Antw PStS Dr. Heinrich L. Kolb BMWi . . 1714 C Dr. Karl I I. Fell CDU/CSU (Erklärung nach
ZusFr Volker Neumann (Bramsche) SPD . 1714 D § 30 GO) . . . . . . . 1733 C
VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Anlage 4 Anlage 10
Bemühungen Bayerns um Privatisierung Probleme der Maßnahmeträger von Ar-
der Maxhütte beitsbeschaffungsmaßnahmen bei der
Aufbringung der Eigenbeteiligung für das
MdlAnfr 36, 37 - Drs 13/676 -
Jahr 1994; Rückgang der Arbeitsbeschaf-
Ludwig Stiegler SPD
fungsmaßnahmen
SchrAntw PStS Dr. Heinrich L. Kolb BMWi 1768* A MdlAnfr 51 - Drs 13/676
SPD -KlausHageman
Anlage 5 SchrAntw PStS I forst Günther BMA . . . 1771* C
Einschränkung der Kontrollpflicht bei der
Ausfuhr von Dual-Use-Gütern auf nur Anlage 11
noch 13 Staaten gemäß der neuen „Liste K" Ausbau der Bahnhöfe Allersberg und Kin-
der Außenwirtschaftsverordnung ding zu Regionalbahnhöfen und Anbin-
MdlAnfr 41, 42 - Drs 13/676 dung des öffentlichen Personennahver-
SPD -GernotErle kehrs an die ICE-Strecke Ingolstadt-Nürn-
berg
SchrAntw PStS Dr. Heinrich L. Kolb BMWi 1768* C
MdlAnfr 52, 53 - Drs 13/676 -
Verena Wohlleben SPD
Anlage 6 SchrAntw PStS Johannes Nitsch BMV . . 1771* D
Verhinderung des Einsatzes von Glyko-
peptid-Antibiotika als Futtermittelersatz in
Anlage 12
der Tiermast, insbesondere in Schweine -
und Hiihnermastbetrieben Stand der Planungen für die niederländi-
sche Güterverkehrsstrecke Betuwe-Lijn
MdlAnfr 43, 44 - Drs 13/676 -
und die deutsche Anschlußstrecke Emme-
Dr. Angelica Schwall-Düren SPD rich-Oberhausen-Duisburg
SchrAntw PStS Wolfgang Gröbl BML . . 1769* B MdlAnfr 54, 55 - Drs 13/676
Dr. Barbara Hendricks SPD
Anlage 7 SchrAntw PStS Johannes Nitsch BMV . . 1772* B
Produktionsmenge und gegenwärtige
bzw. zukünftige Produktionsstandorte von Anlage 13
Öko-Diesel (Rapsöl-Methylester, RME); Landeverbot für laute Flugzeuge auf deut-
Art der derzeit mit Öko-Diesel betriebe- schen Flughäfen
nen Fahrzeuge; Eignung zur Verwendung
bei Bundeswehr, Deutscher Bahn und MdlAnfr 56 - Drs 13/676 -
Bundesgrenzschutz Wolfgang Behrendt SPD
SchrAntw PStS Johannes Nitsch BMV . . 1772* D
MdlAnfr 45, 46 - Drs 13/676 -
Heinz Schmitt (Berg) SPD
SchrAntw PStS Wolfgang Gröbl BML . . 1770* A Anlage 14
Fertigstellung und Finanzierung der ICE-
Trasse Leipzig-Nürnberg; strukturpoliti-
Anlage 8 sche Folgen der verzögerten Inbetriebnah-
Nutzung des ehemaligen NATO-Pipeline- me dieser ICE-Verbindung
Netzes in der Pfalz für den Transport und MdlAnfr 57, 58 - Drs 13/676 -
die Lagerung von Öko-Diesel (RME); Kon- Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
kurrenzfähigkeit von Öko-Diesel im Ver- GRÜNEN
gleich zu anderen Treibstoffen
SchrAntw PStS Johannes Nitsch BMV . . 1773* C
MdlAnfr 47, 48 - Drs 13/676 -
Lydia Westrich SPD
Anlage 15
SchrAntw PStS Wolfgang Gröbl BML . . 1770* D
Unregelmäßigkeiten bei den Gehaltszah-
lungen der Deutschen Bahn AG
Anlage 9 MdlAnfr 59, 60 - Drs 13/676 -
Zahlung von Pflegeversicherungs-Vor- Joachim Hörster CDU/CSU
schüssen für den Übergangsmonat April SchrAntw PStS Johannes Nitsch BMV . . 1774* A
1995
MdlAnfr 49, 50 - Drs 13/676 - Anlage 16
Günter Graf (Friesoythe) SPD
Verzicht der amerikanischen Regierung
SchrAntw PStS Horst Günther BMA 1771* B auf den Bau einer mit hochangereichertem
VIII Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
24. Sitzung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Die Sitzung ist hof für das ehemalige Jugoslawien (Jugoslawien-Straf-
eröffnet. gerichtshof-Gesetz) - Drucksachen 13/57, 13/207, 13/
716 -
Zunächst möchte ich dem Kollegen Gottfried Trö- 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Annelie Bun-
ger, der am 20. Februar 1995 seinen 60. Geburtstag tenbach, Kerstin Müller (Köln), Elisabeth Altmann und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
feierte, nachträglich die herzlichsten Glückwünsche Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsför-
des Hauses aussprechen. derungsgesetzes (§ 116) - Drucksache 13/691 -
(Beifall) - 8. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstel-
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- lung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei
Arbeitskämpfen - Drucksache 13/715 -
dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in
der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießha-
ber und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ Zeit und Geld für Kinder - Drucksache 13/711 -
DIE GRÜNEN: Beginn der Verhandlungen der Bundes-
regierung mit der Regierung in Belgrad am 6. März Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, so-
1995 über die Rückführung von Asylbewerbern und/
oder Bürgerkriegsflüchtlingen (In der 23. Sitzung am
weit erforderlich, abgewichen werden.
8.März195beitsldg)
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesord-
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: nungspunkt 8, Programm für Klimaschutz, abzuset-
Haltung der Bundesregierung zur künftigen Ausgestal-
tung des Familienlastenausgleichs
zen. Außerdem soll am Freitag die Beratung des Ent-
wurfs zum Arbeitsförderungsgesetz vor Tagesord-
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann
(Aurich), Albert Schmidt (Hitzhofen), Rainder Steen-
nungspunkt 13 aufgerufen werden. Die Beratungen
block und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ohne Aussprache werden heute vor der Fragestunde,
Senkung der Promille Grenze im Straßenverkehr auf die gegen 14.15 Uhr beginnen wird, aufgerufen.
0,0 Promille - Drucksache 13/694 -
4. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Sind Sie mit diesen interfraktionellen Vereinbarun-
(Ergänzung zu TOP 16) gen einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Wi-
a) Erste Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/ derspruch. Dann ist es so beschlossen.
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung von Vorschriften über die Beset-
zung von Gremien - Drucksache 13/693 - Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
b) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-
GRÜNEN:
desregierung
Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer
Schuldenverwaltung des Vereinigten Wirtschaftsge- Agrarbericht 1995
bietes - Drucksache 13/692 -
5. weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
(Ergänzung zu TOP 17) der Bundesregierung
a) Zweite und Dritte Beratung des vom Bundesrat ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung - Drucksachen 13/400 und 13/401 (Mate-
des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen rialband) -
Bund und Ländern - Drucksachen 13/203, 13/686 -
Überweisungsvorschlag:
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Er-
(federführend)
neute Überweisung von Vorlagen aus früheren
Haushaltsausschuß
Wahlperioden - Drucksache 13/725 -
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
6. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregie- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
Zusammenarbeit mit dem internationalen Strafgerichts heit
1624 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Horst Sielaff
richt eines Unternehmens an. Ich gestehe, ich kann Jahren dabei sind, ein Markenfleischprogramm auf
angesichts der dramatischen Situation in unserer den Weg zu bringen. Die Unterstützung der Bundes-
Landwirtschaft nicht so ruhig bleiben. Wenn, Herr regierung hierfür war bisher gleich null. Ohne die
Bundesminister, nach vielen Jahren Ihrer Agrarpoli- Unterstützung von Niedersachsen und Nordrhein-
tik nahezu 50 % der Vollerwerbsbetriebe in den Westfalen in der Anlaufphase wäre dieses Marken-
neuen Ländern Vermögensverluste erleiden und Sie fleischprogramm, das einen gewissen Pilotcharakter
das zugeben müssen, also die Betriebe von der Sub- hat, nicht auf den Weg gebracht worden.
stanz leben, wie der Bericht ausweist, dann ist das
kein Grund, auf diese Politik stolz zu sein. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist doch Auf
gabe der Länder!)
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, wir sollten in schwieri-
Sie müssen, glaube ich, deutlicher werden, in sich gen Situationen den Schwarzen Peter nicht immer
gehen und den Bäuerinnen und Bauern endlich sa- hin- und herschieben. Darum sagen wir: Wir wollen
gen, wie sie im nächsten Jahrhundert bestehen sol- eine Gesamtkonzeption, die aufeinander abgestimmt
len. Sie müssen den Bäuerinnen und Bauern sagen, ist. Wir wollen nicht, daß sich der Agrarminister in
was sie ihren Kindern raten sollen, welchen Berufs- Wahlkämpfen in Nordrhein-Westfalen und anderswo
weg sie angesichts dieser Entwicklung einschlagen einmischt und so tut, als sei er nicht verantwortlich,
sollen. Sie müssen endlich auch eine Gesamtkonzep- und hinterher den Ländern die Schuld gibt.
tion für die Entwicklung des ländlichen Raumes vor-
legen. Davon ist in diesem Bericht und auch in Ihren Meine Damen und Herren, ich sagte, die Situation
Ausführungen nichts zu finden. - das hat Herr Borchert bestätigt - für die bundes-
Statt klarer Worte, statt Transparenz - ich wieder- deutsche Landwirtschaft bleibt dramatisch. Eine
hole das, was mein Kollege Thalheim richtig benannt Strategie zur Entwicklung der ländlichen Räume
hat - werden Mogelpackungen als großer Erfolg ver- oder zum Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit ist nicht er-
kauft. Gerade die Diskussion um die angebliche Auf- kennbar. Auch in der EU ist die Handschrift des bun-
stockung der einzelbetrieblichen Investitionsförde- desdeutschen Ministers nicht ,auszumachen, obwohl
- Korrekturen an der EU Agrarreform dringend not-
rung, die Sie heute erneut angesprochen haben, ist -
ein Beispiel dafür. Abgesehen davon, daß diese Mit- wendig sind.
tel an anderer Stelle in der Gemeinschaftsaufgabe
„Agrarstruktur" nicht zur Verfügung stehen, wird Ich nenne einige Beispiele: Die lange Bindung
der Ausgleichszahlungen an die Produktion führt
sich das Mehr allenfalls in der Bewilligung von Ver-
-
Egon Susset
dann sähe es schlechter aus, wo doch feststellbar ist Der Minister hat gerade auf die Einkommensent-
- ich habe dazu gerade ein paar Pressemeldungen wicklung in Bayern hingewiesen. Ich möchte auf die
gesehen -, daß sie sich um die Einkommen der eige- in Baden-Württemberg hinweisen; wir sind an zwei-
nen Familie weit besser kümmert als sie sich um die ter Stelle.
Einkommen der Landwirte gekümmert hätte.
(Zurufe von der CDU/CSU: Bravo!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Zuruf von der SPD: Wir diskutieren über Das hat wie in Bayern auch mit Landesagrarpolitik
den Agrarbericht, Herr Kollege!) zu tun.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, ich habe gedacht, daß
Herr Kollege Sielaff auf seinen Entschließungsantrag Unser Ziel ist es, den Agrarstandort Deutschland
eingeht. in Europa zu sichern und der Landwirtschaft mit ei-
nem beachtlichen Produktionswert von mehr als
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Davon hat er sich
60 Milliarden DM den Weg in die Zukunft zu ebnen,
schon distanziert! - Horst Sielaff [SPD]: Sie
damit sie die von der Gesellschaft gewünschten viel-
können doch lesen, oder nicht?)
fältigen Funktionen erfüllen kann, nämlich auch die
Er ist auf unseren Entschließungsantrag eingegan- Landschaft zu erhalten und gleichzeitig Arbeits-
gen. Ich möchte, bezugnehmend auf den Entschlie- plätze in der Landwirtschaft und im vor- und im
ßungsantrag der SPD, den Kollegen Dr. Thalheim, nachgelagerten Wirtschaftsbereich zu sichern.
der, wie ich gehört habe, als nächster sprechen wird, Die umfangreichen Direktzahlungen sind auch
fragen, wie er den Landwirten in den neuen Ländern
Ausgleich für Leistungen der Landwirtschaft bis hin
klarmachen will, wie es aussähe, wenn die einseitige
zur Landschaftspflege und haben damit ihren stabili-
Begünstigung der Marktfruchtbetriebe im Interesse
sierenden Effekt auf den ländlichen Raum. Kürzlich
einer nachhaltigen Landbewirtschaftung abgebaut
hat ein Gespräch mit dem Deutschen Bauernverband
würde.
und den Verbänden der Agrarwirtschaft beim Bun-
(Günther Bredehorn [F.D.P.]: Ja!) deskanzler stattgefunden. Wir konnten allenthalben
der Presse entnehmen, daß die Vertreter zufrieden
Wie stünde es dann wohl um die Einkommen der Be- gegangen sind, weil der Bundeskanzler auf Bun-
-
Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Habe ich eben an Zahlungen an die Landwirte geleistet, und was
richtig verstanden, Herr Kollege, daß Sie von der hat der Bund geleistet?
Verweigerungshaltung Niedersachsens gesprochen
haben? Wenn ich richtig informiert bin - und ich (Zuruf von der CDU/CSU: Der Bund ist
glaube, das ist das ganze Hohe Haus -, hat das Land nicht zuständig gewesen!)
Niedersachsen gerade vor dem Hintergrund der Wenn Sie jetzt sagen, das Land verweigert sich, dann
Schweinepest erhebliche finanzielle Aufwendungen wissen Sie genausogut wie ich, daß Bund und Land
getätigt, um die Landwirte in den betreffenden Re- praktisch vereinbart haben, daß das Land Nieder-
gionen davor zu bewahren, daß sie praktisch vor dem sachsen klagt, und daß der Bund sich, solange die
Aus stehen. Ich bitte Sie ganz konkret: Stellen Sie in Klage anhängig ist, verpflichtet hat, für den Fall, daß
diesem Hause einmal klar, welche Finanzleistungen Ankaufsaktionen stattfinden, den entsprechenden
das Land Niedersachsen vor dem Hintergrund der Anteil zu übernehmen.
Schweinepest erbracht hat und welche Finanzlei-
stungen der Bundeslandwirtschaftsminister, diese
Bundesregierung, erbracht hat! Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Graf, Sie müssen schon eine Frage stellen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Auf
gabe der Länder!)
Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Ich habe die erste
noch einmal - -
Egon Susset (CDU/CSU): Das Land Niedersach-
sen hat - wie alle anderen Bundesländer - die Lei- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: „Stimmen Sie
stungen erbracht, die auf dieses Bundesland auf mir zu ...", oder so ähnlich.
Grund der Schweinepestfälle dort entfielen. Es hat
aber für die Zukunft erklärt, daß es nicht bereit sei,
diese Hilfe weiterhin zu leisten, Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Jawohl.
-
(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)
Egon Susset (CDU/CSU): Die EU und die jeweili-
sondern die Mittel vom Bund haben möchte. Das gen Bundesländer - eines davon ist Niedersachsen -
Land ist in der Zwischenzeit vor Gericht gegangen, haben die Kosten, die durch Keulung entstanden
und vor Gericht soll geklärt werden, wer zahlungs- sind, ersetzt. Vielleicht können Sie die Zahlen über
pflichtig ist. Meiner Meinung nach, Herr Kollege die Höhe der Kosten nachliefern. Dann werde ich sie
Graf, ist es vor dem Hintergrund der schwierigen Si- dem Hohen Hause mitteilen.
tuation der betroffenen Betriebe überhaupt nicht ein-
sehbar, daß man erklärt: Wir sind nicht mehr bereit (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Es ist
zu zahlen. Der Bund ist bereit zu zahlen. Der Bundes- schon beeindruckend, daß Sie die Zahlen
landwirtschaftsminister hat seinerzeit auch vor dem nicht haben!)
Hintergrund der Haushaltsberatungen entspre- Meine Damen und Herren, deutliche Fortschritte
chende Mittel zur Verfügung gestellt. konnten bei der Milchquotenregelung erreicht wer-
den. Die Bedingungen für die Milcherzeugung sind
durch erleichterte Handelbarkeit, Saldierung der
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
Milchquoten und mehr Pächterschutz wesentlich
lassen Sie eine zweite Zwischenfrage zu?
verbessert worden. Das Verbot der Anwendung des
(Zuruf von der CDU/CSU: Die wird nicht Leistungssteigerers BST gilt für weitere fünf Jahre.
besser!) Das ist ein Erfolg der deutschen Präsidentschaft in
Brüssel und ein Erfolg von Bundeslandwirtschaftsmi-
nister Jochen Borchert.
Egon Susset (CDU/CSU): Dann dauert meine
Rede etwas länger. Von der Bundesregierung erwarten wir für die Zu-
sammenführung der unterschiedlichen Milchquo-
tensysteme in Deutschland ein Konzept, das betrieb-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das ist das liche Entwicklungsmöglichkeiten bietet.
Schicksal, das wir gemeinsam teilen.
Die Agrarreform hat eine positive Entwicklung in
Gang gesetzt. Die Marktentlastung bei Getreide und
Egon Susset (CDU/CSU): Ich habe nichts dage- Rindfleisch hat die Erwartungen zum Teil übertrof-
gen. Ich bin zur Stunde verfügbar. fen. Es gibt heute schon Nachfragen nicht nur nach
Rindfleisch, sondern auch nach Butter, die nicht be-
dient werden können. Das ist ein Faktum. Auch ge-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege stern abend - Herr Kollege Sielaff, Sie haben dieses
Graf. Gespräch gerade erwähnt - war davon die Rede.
Aus gutem Grund setzen wir wie EU-Agrarkom-
Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Kollege, Sie missar Fischler auf Kontinuität in der reformierten
haben meine Frage leider nicht beantwortet. Ich Agrarpolitik einschließlich des Preisausgleichs und
hatte nach konkreten Zahlen gefragt: Was hat das damit auf Verläßlichkeit für die Landwirte. Das stän-
Land Niedersachsen im Rahmen der Schweinepest dige Reformgerede verunsichert in unverantwortli-
1630 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Egon Susset
cher Weise die Landwirte, die einen tiefgreifenden Gesetzesinitiative richtet sich in Wirklichkeit gegen
Anpassungsprozeß durchmachen. Die Kommissions- die bäuerliche Veredelung.
vorschläge für Preissenkungen noch vor der dritten
Reformstufe, wie sie jetzt vorliegen, lehnen wir strikt (Horst Sielaff [SPD]: So ein Unsinn! Das ist
ab. ein Diskussionspapier, über das man nach-
denken sollte! - Ulrich Hein ri ch [F.D.P.]:
Das ist zweimal im Bundesrat eingebracht!
(Horst Sielaff [SPD]: Richtig!) - Horst Sielaff [SPD]: Sie lehnen doch alles
ab! 1988 hat Bayern das gleiche gewollt!)
Wohl aber brauchen wir einen weiteren Abbau an
Bürokratie sowie größere Praxisnähe. - Eben das ist im Bundesrat eingebracht worden. Wir
werden darüber diskutieren.
(Horst Sielaff [SPD]: Ebenfalls richtig!) Im übrigen müssen Landwirtschaft und Handel
über Herkunft und Erzeugungsweise klar und ein-
Um unsere Landwirtschaft für die Zukunft zu deutig informieren und beim Verbraucher den Heim-
rüsten, müssen Wettbewerbsverzerrungen in der EU vorteil nutzen.
und strukturelle Defizite abgebaut werden.
Jetzt, Herr Kollege Sielaff, zum Markenfleischpro-
Die deutsche Landwirtschaft muß entsprechend gramm. Markenfleischprogramme machen die Bun-
dem Ratsbeschluß vom Dezember 1994 vor Wäh- desländer, ob es Schleswig-Holstein, Bayern oder Ba-
rungsnachteilen angemessen geschützt werden. Die den-Württemberg ist. Herkunfts- und Qualitätszei-
Währungsturbulenzen der letzten Tage und die Ent- chen sind in erster Linie eine Sache der Bundeslän-
wicklung des belgischen Franc und der D-Mark der,
mahnen uns zu Wachsamkeit. Wir wissen, daß es (Horst Sielaff [SPD]: Nicht nur!)
schon heute Probleme beim Export in Weichwäh-
rungsländer wie beispielsweise Italien gibt. Hier ent- und so soll es auch bleiben.
stehen schon Einnahmeverluste. Deshalb- kommt es
(Günther Bredehorn [F.D.P.]: Eine regionale
uns darauf an, daß die Währungsunion so früh wie
Aufgabe!)
möglich zustande kommt, damit diese Ungerechtig-
keiten beseitigt werden können. Meine Damen und Herren, es gilt, das Aufgaben-
feld der Landwirtschaft Schritt für Schritt zu erwei-
Eine Harmonisierung beim Pflanzen und Tier- - tern, auch durch die sinnvolle Nutzung von Brachflä-
schutz ist überfällig. Unsere Landwirte brauchen chen für Energie und Industrierohstoffe.
-
Egon Susset (CDU/CSU): Gut, wenn das so ist. Ich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
habe nämlich dem Herrn Bundeswirtschaftsminister nun die Kollegin Ulrike Höfken-Deipenbrock.
einen Brief geschrieben und habe eigentlich erwar-
tet, daß ich bis heute Antwort habe. Weil die Dinge
nun so angesprochen worden sind, habe ich gedacht: Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE
Da wir jetzt so nahe beisammen sind, könnten wir ja GRÜNEN): Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen!
einmal nachfragen. - Also, es ist gut, wenn dann Sehr verehrter Herr Minister! Herr Susset, ich bin
Ende März beim Agrarministerrat entschieden wer- sehr überrascht. Sicher haben sich der Wähler und
den kann. die Wählerin für Sie entschieden. Aber damit haben
sie sich mit Sicherheit nicht für die Landwirtschaft
Nun, meine Damen und Herren, die Reform der entschieden,
Weinmarktordnung muß darauf abzielen, Über-
schüsse bei Tafelwein abzubauen. Gleichzeitig müs- (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Aber sicher
sen nationale Zuständigkeiten für Qualitätswein und doch!)
die bewährten Weinbereitungsverfahren der nördli- wie wir ja auch an Hand dieses Agrarberichts sehen
chen Anbaugebiete der EU davon unberührt bleiben. können.
Einschnitte in die Qualitätsweinproduktion würden
nicht helfen, den Tafelweinmarkt zu ordnen. Ich bin auch sehr überrascht über die Äußerungen
von Minister Borchert zum Agrarbericht. Drei dürre
Deshalb ist es gut, daß die Bundesregierung, die Sätze zur Situation der Landwirtschaft und zur künf-
Bundesländer und die Weinwirtschaft einvernehm- tigen Entwicklung! Da ich weiß, daß der Herr Mi-
lich diese Position einnehmen. Wir sind auch mit den nister sehr detailgenau und kenntnisreich ist, hätte
Kollegen aus dem Europäischen Parlament in ständi- ich doch eine glänzendere Bestattungsrede erwartet.
ger Diskussion und hoffen, daß wir hier eine vernünf-
tige, annehmbare Regelung zustande bringen. (Horst Sielaff [SPD]: Sehr gut!)
1632 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Ulrike Höfken-Deipenbrock
Was als Erfolg gekennzeichnet wird, ist wie immer Überlegungen kann sich die Bundesregierung eine
unterschiedlich - von uns auf jeden Fall - zu sehen. solche Entwicklung nicht weiter leisten.
Der Rückgang der Betriebsgewinne und des verfüg-
baren Einkommens in der Landwirtschaft - beson- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ders in den alten Ländern - zeigt auf, daß der Auf- sowie bei Abgeordneten der SPD)
trag, die Einkommen der Landwirte in Europa zu si-
Je nach Betriebsstruktur werden 30 bis 50 % des
chern, nicht erfüllt worden ist. Die Gewinne in den
Einkommens der Landwirte und Landwirtinnen auf
neuen Bundesländern sehen zwar auf dem Papier
Grund von Subventionen und öffentlichen Geldern
schön aus, sind aber durchaus in Frage gestellt,
erzielt. Ich finde es absurd, Herr Susset, daß Sie im-
wenn man berücksichtigt, daß die Verpflichtung zur
mer auf Bayern mit einem besseren Betriebsergebnis
Rückzahlung von Schulden und zur Zahlung von
durch staatliche Zahlungen verweisen. Wo sind wir
Zinsen jetzt einsetzt.
denn, daß wir eine solche Situation als Erfolg feiern
können! Wir wollen das landwirtschaftliche Einkom-
Es ist sehr gewagt von der Bundesregierung, vor- men durch die Preise der Produkte sichern und nicht
auszusagen, daß sich die Betriebsergebnisse verbes- durch staatliche Subventionszahlungen, die ja letzt-
sern werden - insbesondere im Hinblick auf die jetzi- endlich das Einkommen der Betriebe nicht langfristig
gen Währungsdisparitäten. Es ist zwar richtig, eine sichern und vor allem die Ansprüche der Verbrau-
Währungsunion zu fordern - das tun wir auch -, aber cher und Verbraucherinnen auf gesunde Lebensmit-
es sind Einkommensverluste und vor allem eine ganz tel sowie der Umwelt nicht erfüllen.
entscheidende Verschlechterung der Wettbewerbsfä-
higkeit der deutschen Landwirte gegenüber den eu- (Egon Susset [CDU/CSU]: Machen Sie ei
ropäischen Ländern zu erwarten. nen Vorschlag!)
Hier sind die britischen Großrinderzüchter und Die Seuchen in der Tierhaltung sind erwähnt wor-
Milchviehhalter in einer sehr viel besseren Situation den.
als wir.
Wir müssen verzeichnen, daß wir immer stärkere
-
Probleme in der Qualität der Nahrungsmittel erhal-
Die Wettbewerbsverzerrung greift aber natürlich ten. Sie lassen sich nicht wegreden. Da hilft es auch
nicht nur innereuropäisch, sondern sehr wohl auch nicht, Sündenböcke zu suchen oder die Landwirt-
außereuropäisch. In einer solchen Situation erwarte schaft reinwaschen zu wollen. Diese Entwicklung
ich ein paar Worte über das Ziel der Bundesregie- insbesondere im tierischen Bereich ist eine Folge ei-
rung, die Landwirtschaft der Bundesrepublik auf den ner verfehlten Agrarpolitik. Hier ist eine Wende in
internationalen Wettbewerb auszurichten. Die Ge- der Tierhaltung angesagt. Eine artgerechte Tierhal-
fahr ist groß, daß man dann vor der Situation steht, tung muß eingeleitet werden, selbstverständlich ver-
daß sich genau diese Orientierung als Bumerang er- bunden mit einer Verbesserung des Betriebseinkom-
weist und die Landwirte in eine ganz schlechte Situa- mens und besseren Produkten.
tion bringt. Eine regionale Ausrichtung der Produk-
tion, der Landwirtschaft, der Verarbeitung und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vermarktung wäre sehr viel hilfreicher, um das Ein- und bei der SPD)
kommen der Betriebe zu sichern und die Arbeits-
plätze zu halten. Wir haben über 100 Milliarden DM Kosten für er-
nährungsbedingte Krankheiten. Herr Sielaff hat die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gentechnik erwähnt. Die Gentechnik in der Land-
wirtschaft wird die Verbreitung von Allergien noch
verstärken. Darin sind sich die Wissenschaftler einig.
Wir haben einen ganz drastischen Verlust von Ar-
beitsplätzen in der Landwirtschaft und im ländlichen (Zuruf von der CDU/CSU: Fragen Sie ein
Raum zu verzeichnen; allein 50 000 Arbeitsplätze in mal, wo die Nahrungsmittel herkommen!)
der direkten landwirtschaftlichen Produktion im Be-
richtszeitraum. Das ist eine Zahl, an der die Bundes- Herr Ernährungsminister, wir brauchen eine
regierung ganz offensichtlich völlig vorbeigeht. Bei Wende in der Ernährungspolitik, die uns von diesen
jedem Bet rieb - wie bei Zeiss Jena, ähnlichen Betrie- Kosten befreit und die Gesundheit der Menschen
ben oder dem Kohlebergbau - würde man auf- wiederherstellt. Das beinhaltet, daß Nahrungsmittel
schreien; aber in der Landwirtschaft wird diese Ar- rückstandsfrei und frei von Krankheitserregern sein
beitsplatzvernichtung still übergangen. Eine solche müssen.
Entwicklung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Ulri ch Heinrich [F.D.P.]: Die steht doch im und bei der SPD - Ulrich Heinrich [F.D.P.]:
Bericht! Dann wird sie auch nicht übergan Das liegt nicht an der Landwirtschaft!)
gen!) - Aber selbstverständlich liegt das an der Landwirt-
schaft. Die Nahrungsmittel werden von der Land-
- natürlich steht sie im Bericht, aber Sie haben sie nie wirtschaft bereitgestellt.
erwähnt; sie wird letztendlich immer unterschlagen -
erfordert ein ganz massives arbeitsmarktpolitisches Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es ist die Nah
Beschäftigungsprogramm für den ländlichen Raum rungsmittelindustrie, die die Nahrungsmit
und die Landwirtschaft. Aus arbeitsmarktpolitischen tel verändert!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1633
Ulrike Höfken-Deipenbrock
- O nein, nicht nur die Nahrungsmittelindustrie. Welche Folgerungen können wir daraus ziehen?
Aber sie gehört zu unserem Tätigkeitsbereich. Welche Erkenntnisse haben wir? Für mich sind es
alarmierende Warnzeichen, daß die deutsche Land-
Zum Thema Klimaschädigungen. Natürlich sind wirtschaft im eigenen Land ständig Marktanteile ver-
nicht nur nachwachsende Rohstoffe ein Beitrag zur liert und die deutschen Landwirte bei den Betriebs-
möglichen Verbesserung des Klimas, sondern ein gewinnen im unteren Drittel der EU-Mitgliedstaaten
Beitrag muß auch darin bestehen, alle klimaschädi- liegen.
genden Emissionen aus der Landwirtschaft zu redu-
zieren und zu beseitigen. Es ist nun einmal Tatsache, Die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und
daß die ökologische Landwirtschaft um fast 40 % we- Wirtschaftlichkeit unter Beachtung umweltverträgli-
niger CO2-Emissionen aufweist als die konventio- cher Wirtschaftsweise, die Stärkung der Unterneh-
nelle. merlandwirtschaft sowie Marktorientierung haben
daher höchste Priorität für die F.D.P.-Agrarpolitik.
Zur einzelbetrieblichen Förderung mein letzter
Satz. Nach dem Gießkannenprinzip ausgeteilt, wird (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
sie keine Verbesserung der landwirtschaftlichen Si- ten der CDU/CSU)
tuation erreichen können. Wir fordern, die Mittel der
einzelbetrieblichen Förderung an die Kriterien der Die einzelbetriebliche Förderung muß zukünftig
umweltgerechten Landwirtschaft zu binden und die stärker an der Wirtschaftlichkeit ausgerichtet, verein-
Hälfte der Gelder im Bereich der Förderung von Ver- facht und finanziell deutlich besser ausgestattet wer-
marktung und der Schaffung moderner Dienstlei- den. Daher begrüße ich für die F.D.P.-Fraktion, daß
stungsstrukturen für den Agrarbereich zu verwen- die Bundesmittel für die einzelbetriebliche Investiti-
den. Dann können wir uns sicher darauf einigen, daß onsförderung im Jahre 1995 um 100 Millionen DM
damit mehr Betriebe erhalten werden können als mit erhöht werden. Diese Politik wollen wir weiterent-
den staatlichen Subventionen insgesamt. wickeln, um die Finanzmittel noch gezielter für die
Zukunftsentwicklung unserer Landwirtschaft einzu-
Danke schön. setzen.
-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Nach Auslaufen der EU-Sonderregelung für die
bei der SPD und der PDS)
neuen Bundesländer brauchen wir gleiche Förderbe-
dingungen in ganz Deutschland. Wir können unsere
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat im EU-Vergleich deutlich sichtbaren Strukturdefizite
nun der Kollege Günther Bredehorn. nicht länger durch eine Politik der Strukturerhaltung
ausgleichen. Diese Politik haben wir schon zu lange
betrieben.
Günther Bredehorn (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Agrarbericht 1995 ist (Horst Sielaff [SPD]: Aha!)
trotz einiger kritischer Stimmen von Professoren und
Journalisten, wie ich meine, eine hervorragende Do- Ein besonders eklatantes Beispiel falscher Wei-
kumentation der Situation in der Landwirtschaft. chenstellung ist der von der niedersächsischen SPD-
Landesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Be-
Die Gewinne - das haben wir gehört - sind noch grenzung der Konzentration in der Tierhaltung. Mit
einmal zurückgegangen. Der Strukturwandel hält diesem Gesetz trifft man gerade die flächenarmen,
weiter an, ja, er hat sich in den letzten fünf Jahren viehstarken, bäuerlich strukturierten Veredelungs-
sogar eindeutig verstärkt. Für das laufende Wirt- betriebe bis ca. 40 ha. Für diese Betriebe, die bisher
schaftsjahr werden zwar wieder Gewinne prognosti- nicht gewerblich waren, will man sämtliche staatli-
ziert. Aber man muß hier ganz deutlich feststellen: chen Förderleistungen, steuerlichen Erleichterungen
Wir erreichen noch nicht einmal das Gewinniveau zu sowie Begünstigungen im Baurecht, Grundstücks-
Anfang der 90er Jahre. und Landpachtverkehrsrecht sowie die Gasölverbilli-
gung streichen.
Trotzdem - auch das muß man sagen - zeigt der
Agrarbericht: Gut geführte Betriebe mit ausreichen- Mit einem solchen Gesetz behindert man die Ein-
den Produktionskapazitäten sind auch unter den ge- kommens- und Entwicklungsmöglichkeiten bisher
genwärtigen Rahmenbedingungen in der Lage, eine gesunder bäuerlich strukturierter Betriebe, nimmt ih-
Entlohnung wie in der gewerblichen Wirtschaft zu nen die Wettbewerbsfähigkeit und zwingt sie zur
erzielen. 17,5 % der Vollerwerbsbetriebe erreichen Aufgabe. Mit diesem Gesetz wird aber keineswegs
immerhin einen Gewinn von über 70 000 DM. Die die Entwicklung zu den sogenannten Massentierhal-
Einkommen je Arbeitskraft in den durchweg besser tungen und Agrarfabriken verhindert, die auch bis-
strukturierten landwirtschaftlichen Unternehmen in her gewerblich waren. Dieses Machwerk ist schon im
den neuen Bundesländern lagen deutlich höher als Jahre 1993 eingebracht worden.
in Westdeutschland.
(Horst Sielaff [SPD]: 1988 schon von Bay-
Diese wenigen Angaben aus dem Agrarbericht zei- ern!)
gen die Tendenz: Der Strukturwandel wird sich wei-
terhin fortsetzen, und es wird zu einem weiteren - 1993 von Niedersachsen. - Der Bundesrat hat es
Rückgang der Erwerbstätigkeit in der Landwirtschaft Gott sei Dank mit großer Mehrheit abgelehnt. Da
kommen. mals hieß das Ding ja noch „Gesetz zum Schutz der
1634 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Günther Bredehorn
bäuerlichen Betriebe". Jetzt ist man wohl ein wenig desminister, daß er bei den Gesprächen mit den Län-
ehrlicher geworden; denn diese Namensgebung ist dern darauf achtet, daß die knappen Mittel für den
ja fast schon zynisch, denn genau das Gegenteil wird Küstenschutz möglichst sachgerecht und effektiv
erreicht. eingesetzt werden.
(Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Das reden (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.])
Sie gegen Ihre eigene Überzeugung!)
Für die Zukunftsentwicklung auf dem Milchmarkt
In den neuen Bundesländern gibt es - darüber müssen wir eigentlich jetzt die Weichen stellen. Die
freuen wir uns - eine positive Entwicklung der Ein- vor zehn Jahren eingeführte Milchquotenregelung -
kommen. Das zeigt doch auch, daß wir dort mit der wir feiern ja in diesem Jahr Jubiläum; ob es ein
Umstrukturierung der Landwirtschaft auf dem richti- Grund zum Feiern ist, habe ich meine Zweifel - hat
gen Weg sind. Die Politik hat trotz der Fehler, die ihr Ziel nach meiner Ansicht nicht erreicht. Es gibt
auch gemacht worden sind - das ist unbestreitbar -, nach wie vor den Mengenüberschuß: 120 % Selbst-
die richtigen politischen Rahmenbedingungen ge- versorgung. Der Finanzbedarf aus öffentlichen Haus-
schaffen. Aber entscheidend waren die Menschen, halten ist nach wie vor hoch, und die Erzeugerpreise
die mit sehr viel Mut und Unternehmerwillen unter sind niedriger als vor zehn Jahren. Vor zehn Jahren
schwierigsten Begleitumständen einen Neuanfang haben wir einen Erzeugerpreis von 61,7 Pfennig ge-
gewagt haben. habt; er ist dann bis zum Jahre 1989 auf 68,6 Pfennig
angestiegen. Im Jahr 1994 waren es 56,6 Pfennig.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die in den neuen
Bundesländern entstehenden wettbewerbs- und lei- Ich zeige Ihnen das einmal an einem praktischen
stungsfähigen Bet ri ebe gute Markt- und Zukunfts- Beispiel auf. Ein ganz normaler mittelständischer
chancen haben und der Konkurrenz in Europa ge- bäuerlicher Betrieb mit 50 Kühen und 300 000 Kilo
wachsen sind. Milchanlieferung erzielt in diesem Jahr 36 000 DM
Nicht nur für Landwirte, sondern für Hunderttau- weniger als vor fünf Jahren, und das angesichts der
sende von Menschen, die im Schutz der Deiche an Kostensteigerung, die er ja auch auffangen muß.
-
der Nordseeküste leben, ist der Küstenschutz, der ja Daran erkennt man die Dramatik in diesem Bereich.
im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zu 70 % aus Was noch gravierender ist: Ein großer Teil der Quote,
Bundesmitteln bezahlt wird, lebensnotwendig, ja rund 50 %, ist bei Landwirten, die selber nicht mehr
überlebensnotwendig. Seit der großen Sturmflut melken. Hier wurden handelbare Besitzstände ge-
1962 nehmen die Höhe und die Häufigkeit der schaffen zu Lasten der noch aktiv melkenden Land-
Sturmfluten ständig zu. Allein in Niedersachsen müs- wirte.
sen von den rund 600 km Seedeichen über 100 km (Zuruf von der SPD: Richtig!)
dringend erhöht werden.
Wir diskutieren ja zur Zeit alle möglichen Lösungs-
Als Abgeordneter aus dem Küstenbereich bin ich vorschläge. Da spricht man über eine Bewirtschafter-
in großer Sorge, weil mit den zur Verfügung stehen- regelung ähnlich wie in den neuen Bundesländern,
den Küstenschutzmitteln immer weniger Deichbau über einen Quotenpool, über A- und B-Quote. Meine
maßnahmen möglich sind. Ausgleichs- und Ersatz- Damen und Herren, ich frage: Sollten wir nicht den
maßnahmen sowie immer höhere Ansprüche des Na- Mut haben, eine mehr marktwirtschaftliche Lösung
tur- und Umweltschutzes - daraus resultierend Mehr- anzustreben und darüber nachzudenken und zu dis-
kosten durch Deichverstärkung nur noch Binnen- kutieren, ob wir die Quote nach dem Jahr 2000 in
lands; keine Bodenentnahmen im Deichvorland, dieser Form noch brauchen?
keine Sandentnahme im Watt, dadurch erhöhte
Transportwege für Kleiboden und Sandanfuhr - er- Ich möchte zum Schluß kommen. Die deutsche
fordern erheblich höhere Aufwendungen. Dadurch Landwirtschaft befindet sich auch durch die Auswir-
stehen für den eigentlichen Deichbau leider immer kungen der EU-Agrarreform und der GATT-Verein-
weniger Mittel zur Verfügung. Teilweise sind diese barungen sicher in einem schwierigen strukturellen
Anforderungen total überzogen und ökologisch auch Anpassungsprozeß. Um so wichtiger sind klare und
nicht begründbar. Man rechnet damit, daß so minde- verläßliche Rahmenbedingungen durch eine zu-
stens rund 10 % und in Einzelfällen durchaus bis zu kunftsorientierte Agrarpolitik. Für die F.D.P. heißt
30 % der Mittel abfließen. Wenn also in Niedersach- das: Förderung der Wettbewerbsfähigkeit unserer
sen 1995 rund 94 Millionen DM für den Küstenschutz leistungsbereiten, marktorientierten und umweltver-
ausgegeben werden, stehen von diesen Mitteln über träglich wirtschaftenden landwirtschaftlichen Be-
10 Millionen DM für den Deichbau überhaupt nicht triebe, Förderung des Übergangs in den Zu- oder Ne-
zur Verfügung. Das heißt, mindestens zwei Kilometer benerwerb oder alternativer Erwerbsmöglichkeiten
Deiche können nicht verstärkt und gesichert werden. im ländlichen Raum, Bezahlung für ökologische und
Ich meine, hier ist die Politik gefragt und keine Ideo- landschaftspflegerische Leistungen der Landwirt-
logen wie unsere niedersächsische Greenpeace- Akti- schaft, die über die Vorgaben einer ordnungsgemä-
vistin. ßen Bewirtschaftung hinausgehen, und soziale Abfe-
derung durch Produktionsaufgaberente oder Alters-
(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) hilfe für ausscheidende Landwirte. Daran wird die
Es geht um die Frage, ob nicht ein vernünftigerer F.D.P.-Fraktion in dieser Legislaturperiode arbeiten.
Ausgleich zwischen dem notwendigen Land- und Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Menschenschutz und dem berechtigten Anliegen
des Naturschutzes möglich ist. Ich erwarte vom Bun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1635
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Berücksichtigt man eine durchschnittliche Verzin-
nun der Kollege Günther Maleuda. sung des Eigenkapitals, dann bleibt den Vollerwerbs-
betrieben ein Arbeitsertrag von durchschnittlich
16 280 DM je Arbeitskraft und Jahr. Ich stimme hier
Dr. Günther Maleuda (PDS): Herr Präsident! Meine der Argumentation und Bewertung bezüglich der
Damen und Herren! Allgemein bekannt ist, daß der Einkommen in der Landwirtschaft, wie sie gerade von
Agrarbericht in der Öffentlichkeit eine recht kritische Frau Höfken dargestellt wurde, zu. Eine Konsequenz
Bewertung erfahren hat, sowohl in den Betrieben aus all diesen Problemen ist, daß bei Betriebsinhabern
und Verbänden als auch in den Fraktionen. Das be- mit einem Alter von über 45 Jahren nur rund ein Drit-
trifft vor allem das Schönreden von Ergebnissen. Ich tel einen Hofnachfolger benennen kann.
meine, der bisherige Verlauf der heutigen Debatte
bestätigt eigentlich diese Tendenz des Schönredens Drittens. Die sich verschlechternden Rahmenbe-
von Ergebnissen. dingungen, die steigenden Kosten und sinkenden
Erlöse und das Fehlen von Arbeitsplätzen im nicht-
Meine Damen und Herren, die Dr. Seibold Marke- landwirtschaftlichen Bereich zwingen die Bauern,
tingforschung GmbH hat Ende 1994 im Auftrag der ihre Betriebe weiter zu spezialisieren und die Pro-
Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft und der duktion zu intensivieren.
Deutschen Messe AG Hannover eine Umfrage zu
Problemen und Informationsbedürfnissen von Land- Die sich daraus ergebenden Umweltbelastungen
wirten in West- und Ostdeutschland durchgeführt. können auch nicht mit dem Argument vom Tisch ge-
Diese Untersuchungen erfolgten gleichzeitig in wei- wischt werden, daß in den letzten sechs Jahren der
teren sieben Ländern der Europäischen Union und in Absatz von Stickstoffdüngemitteln um 34 % zurück-
der Schweiz. Dabei zeigten sich eine ganze Reihe in- gegangen ist. Verglichen mit dem Einsatz im Jahr
teressanter Ergebnisse. 1980/81 sank der Stickstoffeinsatz nur um 17 % bei
einer Flächenstillegung von fast 10 % Dünger- und
Von den fünf am meisten genannten Themen Pflanzenschutzaufwand erfolgt also vor allem auf
stand nur in Deutschland das Problem der Einkom- den ertragreichen Flächen. Wie sonst soll man sich
-
menssituation und der Einkommensalternativen an ständig steigende Erträge je Hektar erklären? Es
erster Stelle. In allen anderen Ländern kommt dieses stellt sich die Frage: Warum fehlt im Agrarbericht die
Thema unter den ersten fünf Schwerpunkten gar früher vorhandene Zeile „Nährstoffaufwand je Hek-
nicht vor. Die zweite Stelle nimmt in Deutschland das tar genutzter Fläche"?
Thema „Zukunft der EU-Agrarpolitik " ein.
Viertens. Trotz einer Stabilisierung der wirtschaftli-
Ich meine: Das Dilemma der deutschen Bauern ist chen Verhältnisse in den ostdeutschen Agrarunter-
- wie auch durch den vorliegenden Agrarbericht nehmen hat die Agrarpolitik der Regierung auch dort
1995 bestätigt wird -, daß ihre Interessen auf dem Al- tiefe Spuren hinterlassen. 78 % der 1989 in der Land-
tar der Exportinteressen der Industrie und einer wirtschaft Beschäftigten haben inzwischen ihren Ar-
überholten Landwirtschaftsstrategie geopfert wer- beitsplatz verloren; im letzten Jahr mußten wieder
den. Es fehlt eine differenzierte, zukunftsorientierte 15 % entlassen werden.
Agrarpolitik.
Fünftens. Durch die Vernichtung von Arbeitsplät-
Bei jeder Kritik durch die Bauern wird der zen und von Produktivvermögen ist es für ostdeut-
Schwarze Peter nach Brüssel geschoben. Die deut- sche Bauern besonders schmerzlich, daß z. B. in
schen Bauern fordern deshalb zu Recht eine klare Sachsen-Anhalt an Stelle der Selbstversorgung des
Antwort auf die Frage: Wie geht es mit der Landwirt- Landes mit Fleisch, Milch und Eiern nur noch ein
schaft in Deutschland in den nächsten Jahren weiter? Selbstversorgungsgrad von 50 % erreicht wird; in
Die dazu im Agrarbericht gegebenen Antworten rei- Mecklenburg-Vorpommern liegt er bei Schweine-
chen nicht aus. Das zeigt sich vor allem an folgenden fleisch weit unter 50 %. Von drei modernen
Problemen. Schlachthöfen in Mecklenburg-Vorpommern ist
einer zuviel. Nicht einmal mit der Produktion aus
Erstens. Das Höfesterben hat sich in Westdeutsch Westdeutschland ist die Versorgung im Osten zu
landwierbschugtfoez.193/4sig sichern. Wir haben keine Überproduktion auf diesem
die Anzahl der Betriebsaufgaben um 2,9 % gegen- Gebiet; wir haben einen großen Importbedarf.
über dem Vorjahr. Allein 1993 haben in den alten
Bundesländern ca. 20 000 Landwirte die Rinder- und
ca. 22 000 die Schweineproduktion aufgegeben. Ein- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
>chätzungen besagen, daß in den nächsten Jahren Sie müssen zum Schluß kommen.
noch 50 % der Betriebe die Milchproduktion einstel-
lenköt.
Dr. Günther Maleuda (PDS): Herr Präsident, ich
Zweitens. Seit 1989/90 sind die Einkommen in der nahm an, daß in dieser Runde zehn Minuten zur Ver-
westdeutschen Landwirtschaft mit einer geringfügi- fügung stehen.
gen Verbesserung 1991/92 auch ohne Einbeziehung
der Inflationsrate kontinuierlich zurückgegangen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Dann ist es hier
(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Schamlosig falsch angezeigt worden. Ich bitte um Entschuldi-
keit ist das!) gung.
1636 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Dr. Günther Maleuda (PDS): Ich bedanke mich. nal- und Umweltpolitik zu verbinden. Ausgangs-
punkt für die Agrarstrukturpolitik muß es sein, Über-
In Brüssel versucht Herr Bundesminister Borchert einstimmung zwischen Nachfrage nach Nahrungs-
zu Recht, lange Tiertransportzeiten zu verhindern. gütern mit gesichertem Verbraucherschutz, landwirt-
Im eigenen Land erfolgt jedoch zu wenig, um den schaftlichen Rohstoffen und Umweltleistungen einer-
Rückgang der Tierbestände aufzuhalten, um so seits und der Produktion dieser Güter andererseits
lange Massentiertransporte überflüssig zu machen. herzustellen.
Während die dänischen Landwirte in den zurücklie-
genden fünf Jahren die Schlachtschweinproduktion Vertragslandwirtschaft steht auf der Tagesord-
um 5 Millionen Stück und die Holländer um nung der Bundesrepublik Deutschland. Es muß eine
1,5 Millionen Stück erhöht haben, sind bei uns die stabile Kette von der Rohstoffproduktion über die
Schlachtschweinbestände um 10 Millionen zurück- Verarbeitung bis zum Handel geschmiedet werden.
gegangen. Eine eigentümliche Arbeitsteilung! All Die Tätigkeit von Erzeugergemeinschaften und CMA
das sind doch letztlich Zeichen verfehlter Agrarpoli- weisen bereits in die richtige Richtung. Der Erfolg
tik. wird wesentlich davon abhängen, wie es gelingt, das
Sechstens. Mit dem Gesetz über die Bodenpriva- Mitspracherecht der Bauern als Unternehmenseigner
tisierung in Ostdeutschland, den ständig steigenden bei jedem Schritt zu sichern und sie nicht zum Emp-
Zinsen für die Altschulden, der Verschleuderung fänger von Befehlen aus Brüssel zu machen.
des nicht betriebsnotwendigen Vermögens, der not-
wendigen Auszahlung der Genossenschaftsanteile Die Abgeordnetengruppe der PDS ist der Mei-
an ausgeschiedene LPG-Mitglieder und dem feh- nung, daß der Agrarstandort Deutschland nicht nur
lenden Eigenkapital ist ein weiterer Prozeß der marktorientiert definiert werden kann; im Mittel-
Differenzierung und Beseitigung von Agrarpoten- punkt aller Überlegungen müssen vielmehr die so-
tial in Ostdeutschland vorprogrammiert. Das Wach- zialen Interessen der Bauern, der in der Landwirt-
sen und Weichen wird bei Fortsetzung der gegen- schaft Beschäftigten, der Menschen, die auf den Dör-
wärtigen Agrarpolitik dort leider auch weitergehen. fern leben, und aller Bürger unseres Landes stehen,
Die Einwände des CDU-Landwirtschaftsministers
- die sich gesund ernähren wollen und die die Erhal-
aus Sachsen über eine zu positiv eingeschätzte tung des natürlichen Lebensraumes brauchen wie
Situation der Landwirtschaft in Ostdeutschland die Luft zum Atmen.
gründen sich gerade auf die Instabilität vieler land-
wirtschaftlicher Unternehmen, über die auch die Meine Damen und Herren, meine begrenzte Rede-
gestiegenen Einkommen nicht hinwegtäuschen zeit gestattet mir nur noch einige Bemerkungen zum
können. Waldzustandsbericht 1994. Es wäre wohl richtiger,
„Waldschadensbericht" zu sagen, da ja zu belegen
Die Antwort der Bundesregierung auf all diese ist, daß 1994 jeder vierte Baum erhebliche Schäden
Tatsachen und auf die Forderung der Bauern nach aufwies.
einer zukunftsorientierten Agrarpolitik lautet, daß
der Agrarstandort Deutschland am ehesten durch Unsere Abgeordnetengruppe unterstützt die von
eine leistungs- und wettbewerbsfähige, marktorien- der SPD in ihrem Entschließungsantrag formulierte
tierte und umweltverträgliche Land-, Forst- und Er- Position. Andererseits verweisen wir auf den Um-
nährungswirtschaft gesichert werden kann. Was für stand, daß seitens der Regierung geeignete Maßnah-
eine Zukunft aber haben Unternehmen, die nicht men ergriffen werden sollten, die den Wald als Allge-
über ein einkommenssicherndes Ertragspotential meingut schützen.
verfügen? Wie soll ökologisches Wirtschaften bei
sinkendem Einkommen der Verbraucher realisiert Dieser Schutz erfordert schon gar nicht die Privati-
werden? Auf welchem Wege sollen wettbewerbsfä- sierung von Staats-, Kommunal- und Treuhandwald.
hige Strukturen entstehen bzw. weiter ausgebaut Vielmehr müssen die Ziele, Aufgaben und Funktio-
werden? nen des Waldes zunehmend unter Kontrolle gestellt
Die Problemlösung wird im Agrarbericht auf der werden.
Seite 14 sehr ernüchternd formuliert. Wörtlich heißt
es: (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Geld muß auch
verdient werden! Sonst kann man die Steu
Der Strukturwandel wird in den kommenden ern nicht bezahlen!)
Jahren maßgeblich durch Betriebsaufgaben im
Zuge des Generationswechsel bestimmt wer- Die Bundesregierung sollte berücksichtigen, welche
den. Gefühle bei den Bürgern in den neuen Bundeslän-
Statt auf zukunftsorientierte Agrarpolitik setzt die dern aufkommen, wenn sie als neue Waldeigentümer
Bundesregierung offensichtlich auf diesem Gebiet solche Namen hören wie Fürst Alexander von Isen-
auf eine biologische Lösung. burg, Prinz von Sachsen-Coburg,
Aus alledem kann es nur eine Konsequenz geben: (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die halten ihre
Eine erstrebenswerte Zukunft gibt es für die Land- Wälder in Ordnung!)
wirtschaft nur durch eine neue Agrarpolitik. Die
Landwirtschaft ist und bleibt eine tragende Säule für Prinz Reuß, Prinz Hohental usw.
die Entwicklung der ländlichen Räume. Das erfor-
dert, zukünftig Agrarpolitik untrennbar mit Regio- (Zurufe von der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1637
Dr. Günther Maleuda
Wir sind gegen eine großflächige Beschilderung Wer sich so verhält, verliert jede Glaubwürdigkeit.
„Privatwald - Betreten verboten". Da ist uns die Brüssel soll statt dessen dafür sorgen, daß Wettbe-
„Umwelteule" lieber. werbsverzerrungen in Europa zum Nachteil der deut-
schen Landwirtschaft schnellstens beseitigt werden.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Die deutlich verbesserte Gewinn- und Einkom-
ten der SPD - Weitere Zurufe von der CDU/ menssituation in den neuen Bundesländern ist für die
CSU) CSU-Landesgruppe Anlaß, die Förderbedingungen
in den alten und den neuen Bundesländern mög-
lichst schnell anzupassen, um Wettbewerbsverzer-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat rungen zum Nachteil der bäuerlich strukturierten
der Kollege Albert Deß. Landwirtschaft in den alten Bundesländern abzu-
bauen. Der bayerische BBV-Präsident Gerd Sonnleit-
ner hat recht, wenn er sagt: „Die Entwicklung einer
Albe rt Deß (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kol- blühenden ostdeutschen Landwirtschaft darf nicht
leginnen und Kollegen! Es ist schon ein starkes
mit dem Verwelken der bäuerlichen Landwirtschaft
Stück, wenn ein Vertreter der SED-Nachfolgepartei
in den alten Bundesländern einhergehen." Ab
das Höfesterben beklagt. Waren es nicht die Kommu- 1. Januar 1997 müssen in Ost und West gleiche För-
nisten und ihre Helfershelfer, die in einem unvorstell- derbedingungen gelten.
baren Ausmaß bäuerliche Strukturen zerschlagen
haben? Die CSU bekennt sich auch weiterhin zum bäuerli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen Familienbetrieb als dem Leitbild ihrer Land-
wirtschaftspolitik sowie zu den notwendigen und un-
Der Agrarbericht für 1995 zeigt, daß trotz einer zu verzichtbaren Leistungen, die der Flankierung des
erwartenden Einkommensverbesserung im laufen- schwierigen strukturellen Anpassungsprozesses in
den Wirtschaftsjahr alle Anstrengungen notwendig der Landwirtschaft dienen.
sind, um unseren Bäuerinnen und Bauern und - vor al-
lem unserer Jugend wieder eine Perspektive zu ge- Es darf nicht sein, daß wir eine EU-Verordnung
ben. nach der anderen in nationales Recht umsetzen,
während in Italien bis heute das Milchgarantiemen-
Die positive Vorausschätzung im laufenden Wirt- gensystem nur auf dem Papier existiert. Unsere Bau-
schaftsjahr ist mit größter Vorsicht zu bewerten, da ern haben einfach kein Verständnis mehr für immer
gerade die Währungsturbulenzen in einigen europäi- neue Auflagen und Vorschriften.
schen Ländern dem deutschen Agrarexport größte
Probleme bereiten. Der Verfall der Lira z. B. führt zu (Horst Sielaff [SPD]: Wo sitzt denn der Mini
dramatischen Erlösverlusten im Export nach Italien. ster?)
Seit der Wiedervereinigung unseres Landes betra-
gen die Einkommensverluste unserer Vollerwerbs- - Ja, Sie müssen mit Ihren Agrarministern reden,
landwirte in den alten Bundesländern - summiert ge- dort, wo die Sozialdemokraten in Europa regieren,
sehen - 24,2 %. Um diese Verluste rechnerisch aus- damit der Minister Mehrheiten zusammenbringt.
zugleichen, wären allein 32 % Gewinn notwendig.
Mit 7 bis 12 % Gewinn in der Vorausschätzung sind (Lachen bei der SPD)
wir also noch weit von einem Ausgleich für die Ein-
kommensverluste der vergangenen Jahre entfernt. Gern unterstützt die CSU Herrn Minister Borchert
Es sind deshalb alle Anstrengungen notwendig, um in seinem Bemühen, in Brüssel einen Abbau des bü-
die Einkommenstrendwende abzusichern. rokratischen Aufwandes bei der Umsetzung der
Agrarreform zu erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es darf
in Brüssel keine weiteren Preisbeschlüsse geben, die Die EU-Regelungen bezüglich des Anbaus nach-
sich negativ auf die landwirtschaftlichen Einkommen wachsender Rohstoffe auf Stillegungsflächen sind
auswirken. unerträglich. Um gerade die Bauern nicht zu entmu-
tigen, die als Pioniere die Sache der nachwachsen-
(Horst Sielaff [SPD]: Was war das?) den Rohstoffe voranbringen, müssen hier praxisge-
- Herr Sielaff, Sie können das Protokoll nachlesen. rechte Lösungen gefunden werden. Ich möchte mich
bei Bundesminister Theo Waigel für seine positiven
Der von Brüssel verfolgten Preisdruckpolitik muß Entscheidungen zugunsten von nachwachsenden
massiver Widerstand entgegengebracht werden. Ziel Rohstoffen bedanken. Ohne seine Mithilfe gäbe es
der Agrarreform war es, die Agrarmärkte zu entla- heute nicht bereits über 300 Biodieseltankstellen in
sten, um über den Markt wieder bessere Agrarpreise Deutschland.
zu erreichen. Deshalb war es für mich unverständ-
lich, daß man in Brüssel kurz vor dem Ziel einge- (Beifall bei der CDU/CSU)
knickt ist und die Flächenstillegungsrate von 15 auf
12 % - wohlgemerkt: gegen den Widerstand von Mi- Erfreulich ist auch, daß immer mehr Autohersteller
nister Borchert - gesenkt hat. 7 Millionen Tonnen Ge- ihre Fahrzeuge biodieseltauglich anbieten.
treide können dadurch mehr produziert werden und
belasten damit wieder die Märkte. (Horst Sielaff [SPD]: Das ist zu wenig!)
1638 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Albert Dell
Hier kann bereits von einem Erfolg gesprochen wer- weiter Preisdruckpolitik betreibt, muß wissen: Man
den. In Bayern entstehen immer mehr Anlagen, die kann die Agrarpreise so weit absenken, bis keine
aus Biomasse Energie erzeugen. Ministerpräsident Bauern mehr da sind. Die Zeche würden dann mit Si-
Edmund Stoiber hat vorgegeben, daß bis zum Jahr cherheit die Verbraucher bezahlen.
2000 5 % des bayerischen Energiebedarfs mit Bio-
masse gedeckt werden sollen. Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ulrich Heinrich
Die in der Koalitionsvereinbarung beschlossene wo Sie, Herr Fischer, Ihr Klientel in der Zukunft of-
Markteinführung nachwachsender Rohstoffe ist ein fensichtlich vermuten. Aber der durchschnittliche Ar-
erfolgversprechender Weg, um die Belastung mit kli- beitnehmer, der Arbeiter, kann dieses Programm
marelevanten Emissionen zu senken und damit den nicht finanzieren.
Wald zu entlasten. Berechnungen zeigen, daß alleine
die Verwertung des deutschen Biomassepotentials (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
zur Wärme- und Stromproduktion den jährlichen Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
CO2-Ausstoß um bis zu 120 Millionen t senken DIE GRÜNEN]: Partei der kleinen Leute!
könnte. Um das einmal in die richtige Relation zu Anwälte der kleinen Leute!)
bringen: Dies wären nach den vorliegenden Berech-
nungen beachtliche 13 % weniger CO2-Emissionen - Mir als gestandenem Hohenloher Bauer - Herr Fi-
scher, hören Sie zu! - brauchen Sie nicht vorzuma-
als im Vergleichsjahr 1993. Dieses Potential, meine
chen, wer hier der Anwalt kleiner Leute ist und wer
sehr verehrten Damen und Herren, muß genutzt wer-
den; denn in relativ kurzer Zeit haben wir hier eine es nicht ist.
hohe Wirtschaftlichkeit zu erwarten. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne DIE GRÜNEN]: Wir kommen doch aus der
ten der CDU/CSU) selben Gegend! Es sitzt ein Hohenloher vor
Ihnen!)
Als weitere Maßnahme zur CO2-Minderung sollte
generell eine aufkommensneutrale CO2-/Energie- - Das weiß ich, deshalb sage ich das ja direkt zu Ih-
steuer eingeführt werden, die als Lenkungssteuer ei- nen. Ich bin erst vor wenigen Tagen durch Ihren ehe-
nen sparsamen Energieverbrauch praktisch er- maligen Wohnort gefahren.
zwingt. Darüber hinaus brauchen wir eine aufkom-
mensneutrale Umlage der Kfz-Steuer auf die Mine- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ralölsteuer und die Einführung einer ökologisch sinn- DIE GRÜNEN]: Ich bin nicht im Schloß ge
vollen und verkehrsunabhängigen Entfernungspau- boren!)
-
schale. Auch die Einführung treibstoffsparender
Fahrzeuge würde natürlich dem Klima und dem - Ich weiß, unten im Tal.
Wald guttun. Als Beispiel sei hier nur der Treibstoff-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wo es
verbrauch von durchschnittlich drei Litern bei dem
darum geht, die Verursacher von klimarelevanten
Swatchauto genannt.
Emissionen zu suchen, können wir selbstverständ-
Diese Maßnahmen müssen wir massiv fordern und lich auch nicht die Landwirtschaft außen vor lassen.
unterstützen. Ich fasse zusammen: Diese Maßnah- Es wäre unredlich, hier so zu tun, als würde nicht
men sind ökologisch sinnvoll und - ich bitte Sie, hier auch die Landwirtschaft einen negativen Beitrag
genau zuzuhören - finanzierbar für den Verbraucher dazu leisten. Wir sind aufgefordert, mitzuhelfen, daß
und führen zudem zu einer Reduzierung unnötiger die Methan-, Ammoniak- und die Distickstoffoxid-
Bürokratie, wie wir sie heute leider Gottes haben. emissionen, das sogenannte Lachgas, in Zukunft re-
duziert werden. Dabei machen wir selbstverständlich
(Beifall bei der F.D.P.) mit, und ich fordere die Bundesregierung auf, durch
Das sind entscheidende Vorteile, die insbesondere entsprechende Rahmenbedingungen und Unterstüt-
im direkten Vergleich, meine Damen und Herren von zungen auch Investitionen mitzufördern.
den GRÜNEN, auffallen. Die Erhebung zusätzlicher
Abgaben und Steuern, wie Sie das immer wieder f or
dern, ist keine sinnvolle Alternative. Was grüne Um- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
weltpolitik heißt, wird deutlich, wenn man sich die Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß
vorgeschlagenen Maßnahmen noch einmal vor Au- kommen.
gen führt. Das hört sich dann so an: Einführung einer
Schwerverkehrsabgabe, Einführung einer Stickstoff-
abgabe, Erhöhung der Mineralölsteuer auf runde Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ich sage aber eines: Nicht
fünf Mark, richtig ist die Behauptung der Schutzgemeinschaft
Deutscher Wald, daß die Landwirtschaft der Haupt-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS verursacher für das Waldsterben sei. Das ist total da-
SES 90/DIE GRÜNEN) neben.
sofortiger Ausstieg aus der Kernenergie und natür- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
lich die Einführung einer Energiesteuer als Ersatz für
den Kohlepfennig. Die deutsche Landwirtschaft macht selbst nach dem
Ein solches Sammelsurium von Vorschlägen, die Bericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdat-
nicht zu Ende gedacht sind, bringt unserer Umwelt mosphäre" nur einen ganz geringen Teil der Waldbe-
überhaupt nichts. Meine Damen und Herren, Ihre lastung aus. Aber ich stehe dazu, und ich bin bereit,
Vorschläge sind vom Bürger schlichtweg nicht finan- daran mitzuarbeiten, auch diesen geringen Teil ab-
zierbar. Das kann sich nur eine ganz geringe Upper- zubauen.
class leisten,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was sind denn die Haupt
DIE GRÜNEN]: Besserverdienende!) verursacher?)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1643
Ulrich Heinrich
- Ich habe es gerade gesagt. Hätten Sie zugehört, Schadenserfassung 1984, und noch nie war ein so ho-
wüßten Sie es. her Prozentsatz der Bäume geschädigt. Eine ähnliche
Tendenz ist für die südlichen Bundesländer zu beob-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ achten. Hier ist noch ein knappes Drittel der Bäume
DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Herrn optisch gesund; noch nie gab es wie 1994 29 % stark
Rexrodt!) geschädigte Bäume.
Herr Präsident, ich habe noch einen schönen Inzwischen ist die lebenswichtige Filterfunktion
Schlußsatz. des Waldes so stark beeinträchtigt, daß teilweise
(Heiterkeit) Schadstoffausträge - das muß Mann und Frau sich
auf der Zunge zergehen lassen - in umweltbelasten-
Leider ist der Wald längst nicht mehr die Sparkasse dem Ausmaß aus dem Wald zu verzeichnen sind. Ich
der Bauern. Die Gesellschaft hat diese Reserve der kann dies bei bestem Willen nicht als ein Verharren
Landwirte angezapft und den Wald ohne Entschädi- auf hohem Niveau interpretieren, sondern nur als
gung als Deponie für die von ihr verursachten Luft- eine weitere deutliche Verschlechterung des Wald-
schadstoffe benutzt. In der Sparkasse sind deshalb zustandes.
allenfalls noch Hosenknöpfe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herzlichen Dank.
Gemessen an Ihren eigenen Ansprüchen und An-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kündigungen sind 10 Jahre Waldschadensbericht 10
vergeudete Jahre.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun Besser wirkt auf den ersten Blick die Entwicklung
das Wort der Kollegin Steffi Lemke. in den neuen Bundesländern, die im Gesamtdurch-
schnitt positive Akzente setzt. Aber an welchem
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Werter Maßstab orientiert sich diese Einschätzung? Daß der
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor großflächigen Deindustrialisierung im Osten dieses
uns liegt der Waldschadensbericht der Bundesregie- Landes, also dem Sterben zugegebenermaßen schad-
rung 1994. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Werk, Herr stoffschleudernder Bet ri ebe auch geringere Schad-
Borchert. Ihnen ist es gelungen, wenn auch auf ho- stoffniedergänge folgen, ist logisch. Diese gerade im
hem Niveau, den Schaden zu begrenzen. Alles wird sozialen Bereich mit verheerenden Folgen belastete
wieder gut werden. - So jedenfalls will der vorlie- Entwicklung aber in der Hochglanzverpackung
gende Bericht gelesen werden, und so suggerieren „Waldzustandsbericht" zu verkaufen grenzt an Zy-
es uns auch die Koalitionsredner. nismus.
Unsere Aufgabe als Oppositionsfraktion in diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bundestag ist es aber nicht, etwas schönzureden. Das
können andere ohnehin viel besser als ich. Wir ha- Ich komme aus einem Bundesland, in dem die Ent-
ben die vorgelegten Leistungsnachweise der Bun- wicklung als besonders positiv dargestellt wird. Ent-
desregierung kritisch zu überprüfen. In dieser Hin- warnung in Sachsen Anhalt? Um diese Frage zu be-
-
sicht ist der Waldschadensbericht leider ein sehr antworten, bringt ein kleiner Spaziergang in den Elb-
dankbares Aufgabengebiet. auen mehr als Ihr Waldschadensbericht. Der Zustand
unserer Eichen dort ist erschreckend und verschlech-
Herr Borchert, es ist nicht nur kein Anlaß zur Ent- tert sich nach wie vor. Die Überlebenschancen der
warnung gegeben, sondern auch Zeit, die Warnung Bäume sind in der Summe gering. Dabei sind die
des Waldökosystems endlich ernst zu nehmen. meisten dieser Riesen, die unter normalen Bedingun-
gen 1 000 Jahre und mehr alt werden können, nicht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einmal 200 Jahre alt. Hier stirbt nicht allmählich eine
Ich möchte nicht nur die Kirche im Dorf lassen, son- Baumart, hier stirbt eine Landschaft.
dern auch die Bäume. Ich hätte mir deshalb auch ge-
Von einer solchen Entwicklung ist im Waldscha-
wünscht, Herr Maleuda, daß Sie etwas intensiver auf
densbericht nichts zu lesen, was auch auf seine syste-
den Waldschadensbericht eingegangen wären und
matischen Schwächen zurückzuführen ist. Stark ge-
diese Debatte nicht als Eigentumsdebatte miß-
schädigt geschlagene, sozusagen notgeschlachtete
braucht hätten.
Bäume tauchen im Waldzustandsbericht erst gar
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht auf. Im Gegenteil, sie wirken sich durch ihr
Nichtauftauchen positiv auf die Gesamtstatistik aus.
Der Bericht sagt aus, daß die Waldschäden das Durch die Darstellung von reinen Länderdurch-
hohe Niveau der Vorjahre beibehalten haben. Diese schnittswerten wird die regional teilweise drastische
Tatsache an sich ist schon bedrohlich genug. Sie Entwicklung außerdem verdeckt. Selbst an zusam-
spiegelt aber nur die halbe Wahrheit wider, nämlich menhängenden Waldstücken ändert sich an Länder-
den bundesweiten Durchschnitt. Wenn wir aus der grenzen auf wunderbare Weise die Entwicklungsten-
heutigen Bundesrepublik die Länder gesondert be- denz.
trachten, für die Sie seit 10 und mehr Jahren zustän-
dig sind, hilft auch der tiefste Griff in die Wundertüte Betrachtet wird des weiteren nur der Zustand der
der Statistik nicht mehr viel. Im Klartext: In den mord- Baumkronen. Aussagen z. B. zum Zustand des Wald-
westdeutschen Bundesländern ist der Anteil der op- bodens - überlebenswichtig vor allem für die Wälder
tisch gesunden Bäume der niedrigste seit Beginn der kommender Generationen - werden nicht ge tr offen.
1644 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Steffi Lemke
Wurzelschäden sind kein Kriterium. Die ausschließli- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
che Fixierung auf Kronenschäden macht nur Spät- das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Ich möchte
wirkungen deutlich und verschleiert die jetzige Ten- Ihnen nach der Übung dazu herzlich gratulieren.
denz.
(Beifall)
Ich will gar nicht leugnen, daß einige technische Ich erteile nun dem Kollegen Ulrich Junghanns das
Entwicklungen der letzten Jahre den Schadstoffein- Wort.
trag, insbesondere von Schwefel, gesenkt haben.
Diese zu begrüßende Entwicklung reicht aber bei
weitem nicht aus, um die notwendigen Verbesserun- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr
gen des Waldzustands zu erreichen. Die positiven Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolle-
Wirkungen der Katalysatoreinführung werden z. B. ginnen und Kollegen! Ich möchte mich noch einmal
durch das ungebrochene Wachstum des Verkehrs- den Fragen der Landwirtschaftsbetriebe in unseren
aufkommens und die weitere Verlagerung von Gü- jungen Bundesländern zuwenden. Dafür ist eine Vor-
terverkehren auf die Straße mehr als neutralisiert. bemerkung notwendig, um Tatsachen sprechen zu
lassen.
Ich stehe hier heute als eine der jüngsten Bundes- Betreffs der jungen Bundesländer wird heuer aus
tagsabgeordneten vor Ihnen und fordere Sie deshalb dem Agrarbericht 1995 immer so vordergründig her-
auf, Herr Borchert und die Regierungskoalition, die ausgelesen, den Bauern im Osten gehe es besser als
Zukunftssicherung für folgende Generationen zu be- den westdeutschen. Als Abgeordneter aus Branden-
treiben, und zwar eine Zukunftssicherung, die die- burg könnte ich ja an solchen Erfolgsszenarien
sen Namen auch verdient. Freude hegen, wenn, ja, wenn solche oberflächli-
chen, undifferenzierten Be trachtungen nicht so trü-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gerisch wären.
der SPD und der PDS)
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll
Die Instrumentarien dazu liegen bereit. Einige von mer)
-
ihnen hat Herr Hein rich genannt. Ich bleibe dabei,
daß wir eine ökologische Steuerreform brauchen, die Der Agrarbericht ist zwar durch ein weiter ausgereif-
nicht aufkommensneutral ist. Was Sie versprechen - tes Netz ausgewerteter Landwirtschaftsbetriebe be-
nachwachsende Rohstoffe als Allheilmittel -, ist ge- legt; die Ergebnisse reichen jedoch noch nicht für
rade im Bereich des Waldschadensberichtes auch nur eine Hochrechnung. Sie werden wie in den Vorjah-
eine Illusion. Sie wissen, daß der Stickoxidausstoß ren als arithmetische Durchschnitte ausgewiesen.
bei Biodiesel nicht niedriger ist als bei normalem Gesicherte Aussagen über die nachhaltige wirt-
Kraftstoff und daß gerade dieser Schadstoff im Au- schaftliche Lage der Landwirtschaftsbetriebe in den
genblick der Hauptschädling für die Wälder ist. verschiedenen Rechtsformen sind noch nicht mög-
lich.
Die Rettung unserer Waldbestände ist keine Auf- Davon ausgehend, wird die agrarpolitische Be-
gabe, die zum Aussitzen taugt. Das sollten Sie in den trachtung erst solide, wenn neben der Gewinnbe-
letzten zehn Jahren gelernt haben. Die Bevölkerung trachtung gleichermaßen gesehen und gewertet
dieses Landes weiß dies auch. Nach einer Burda-Um- wird, daß ostdeutsche Vollerwerbsbetriebe eine sehr
frage aus dem Jahre 1993 wären 77 % unserer Bürge- dünne Kapitaldecke und die Landwirtschaftsbe-
rinnen und Bürger bereit, im Jahr 100 DM für die triebe aller Rechtsformen einen höheren Investitions-
Aufforstung geschädigter Wälder zu spenden. Sie se- bedarf bei geringer Deckung haben, die bei großer
hen, werte Ministerinnen und Minister, wie groß der Fremdfinanzierungsbelastung die Unternehmenssta-
Glaube der Bevölkerung in Ihre Umweltpolitik im- bilität beeinträchtigen.
mer noch ist.
Im Agrarbericht wird deshalb richtig resümiert,
In meiner Heimat sind zur Zeit Luther-Zitate sehr daß die Ergebnisse nach wie vor von der anhalten-
in Mode. Eines kennt fast jeder, und mit diesem den Umstrukturierung geprägt sind - eine beispiel-
möchte ich schließen: lose Umstrukturierung, wie ich meine, bei der im
Rückblick der wohl schwierigste Streckenabschnitt
Und wenn ich wüßt', daß morgen die Welt unter- zurückgelegt wurde. Nach zwei Anwendungsjahren
geht, würd' ich heute noch ein Apfelbäumchen der Agrarreform haben sich die 22 477 Vollerwerbs-
pflanzen. betriebe, Einzelunternehmen und Personengesell-
schaften sowie rund 2 800 juristische Personen priva-
(Egon Susset [CDU/CSU]: Wieviel haben ten Rechts weitestgehend auf die Rahmenbedingun-
Sie schon gepflanzt?) gen eingestellt. Ich möchte entgegen anderen Dar-
stellungen in dieser heutigen Debatte hervorheben,
Lassen Sie sich hinsichtlich des Waldschutzes von daß diese sehr wohl unternehmerische Visionen ha-
diesem durch Aktivität geprägten Optimismus zu un- ben, die sie auch mit Kraft und Energie umzusetzen
ser aller Nutzen leiten. gewillt sind.
Danke. Das bestätigt, meine ich, die agrarpolitische Kurs-
bestimmung von Koalition und Bundesregierung. Zu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dem sprechen diese Fortschritte für die unternehme-
der SPD und der PDS) rischen Leistungen der Bauern unserer Länder, was
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1645
Ulrich Junghanns
auch einmal von dieser Stelle Anerkennung finden Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Herr Sielaff? Natür-
soll. lich, bitte schön.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) Horst Sielaff (SPD): Herr Kollege, Sie sprachen so-
eben die Vielfalt der Betriebsformen an. Können Sie
Dabei bin ich überhaupt nicht geneigt, Mißstände mir vielleicht sagen, wie Sie folgende Äußerung un-
unter den Teppich zu kehren. Schwarze Schafe sind seres Kollegen Norbert Schindler hier im Deutschen
kein spezifisches ostdeutsches Problem, aber nach Bundestag, des pfälzischen Bauernpräsidenten - der
der Erfahrung, daß schon eine schlechte Bohne den an der Debatte hier leider seit längerer Zeit nicht teil-
Kaffee verderben kann, muß in unseren Ländern nimmt -, bewerten? Er hat nach einem Zeitungsbe-
auch heute noch Hinweisen nachgegangen werden, richt am 4. März erklärt:
die beispielsweise auf Geschäftsführungen hindeu-
ten, denen persönlich das Hemd näher ist als der Er sehe die Zukunft der Landwirtschaft insbeson-
Rock und die die Unternehmen samt Existenzen ge- dere in einer gesunden mittelbäuerlichen Struk-
fährden oder Vermögensauseinandersetzungen hin- tur und erteilte Großbetrieben, wie sie in Frank-
tertreiben. reich vorzufinden sind, eine Absage.
Unsere bisherigen Erfahrungen, meine Damen und - Jetzt kommt der entscheidende Satz -:
Herren, lassen uns mit einer sehr klaren Problem-
sicht zuversichtlich auf den weiteren Umstrukturie- Auch die Großbetriebe in den neuen Bundeslän-
rungsprozeß der ostdeutschen Land- und Ernäh- dern müßten verkleinert werden, sagte der Bau-
rungswirtschaft blicken. Maßgeblich ist dafür, daß ernpräsident.
die EU-gestützten Fördersonderkonditionen für un-
Herr Schindler ist Ihr Kollege. Meine Frage: Wie
sere jungen Länder bis 1996 Gültigkeit haben.
bewerten Sie diese Aussage, wenn Sie von der Viel-
Gleichzeitig sind mit dem Gesetz zur Bereinigung
falt der Betriebe sprechen?
des Umwandlungsrechts, dem Sachenrechtsbereini-
gungsgesetz und dem Entschädigungs-- und Aus-
gleichsleistungsgesetz wichtige Rahmenbedingun- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Ich sage Ihnen und
gen für die weitere Unternehmensoptimierung ge- meinem Kollegen Schindler, daß ich bei der Struktur-
setzt. Diese werden und wollen aber niemandem - entwicklung sowie bei Optionen und Visionen dieser
das möchte ich betonen - das unternehmerische Ri- Entwicklung in der zweiten Instanz von Größenord-
siko abnehmen. Hier teile ich die Erwartung, daß das nungen spreche und in erster Instanz für mich wich-
im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz tig ist, welches tragfähige Unternehmenskonzept in
begründete Bodenerwerbsprogramm nun schnell Gang kommt.
umgesetzt wird.
Für mich ist das - weil die Diskussion zu oberfläch-
Dringender ist aber noch, weil keine Pachtphase lich geführt wird - keine Frage nach Größenordnun-
vorgeschaltet ist, die Privatisierung des Waldes un- gen. Sie ist an einer Stelle, was die Umweltverträg-
ter Ausschöpfung aller Möglichkeiten des Gesetzes lichkeit angeht, natürlich eine sehr relevante Frage.
ohne Verzug in Gang zu setzen. Zu Recht erwarten Aber wir sollten uns auf diesem Weg, auf dem wir,
die Beteiligten da einfache Verfahrensregeln. glaube ich, gemeinsam noch zu lernen haben, doch
nicht durch solche kontroversen Fragen letztlich in
Lieber Kollege Maleuda, an dieser Stelle möchte Grabenkämpfe zurückziehen, sondern uns die Offen-
ich sagen: Die ideologische Mär von der Verteufe-
heit bewahren, über neue Wege nachzudenken.
lung des Privatwaldes lassen wir lieber im Stall ste-
hen. Ich empfehle, im Waldgesetz zur Sozialver- Herr Sielaff, Sie möchten noch eine Frage stellen?
pflichtung des Waldbesitzes nachzulesen. Ich - Bitte.
glaube, da können wir auch erleben, daß wir auf die-
sem Gebiet der Waldpflege sehr gut vorankommen.
Horst Sielaff (SPD): Herr Kollege, habe ich Sie rich-
Die brennendste Frage ist aber jetzt, meine Damen tig verstanden, daß Sie sagen, daß diese Diskussion
und Herren: Wie wird die Förderkulisse für die Be- überflüssig ist, Gräben aufreißt und allein die Um-
triebe in unseren neuen Ländern ab 1. 1. 1997 ausse- weltverträglichkeit nach Ihrem Verständnis Krite-
hen? - Meine Auffassung ist: rium für die Größe der Bet ri ebe sein kann?
Erstens. Die zukünftige einheitliche deutsche
Agrarpolitik muß offensiv die tatsächlichen struktu- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Sie haben mich
rellen Unterschiede berücksichtigen sowie die fort- falsch verstanden. Das ist nichts Neues. Diese Ver-
schreitende Entwicklung zu effizienten Betriebs- kürzung gibt nicht meine Antwort im ersten Teil wie-
strukturen wirksam unterstützen. Die vom Bundes- der.
kanzler gegenüber dem Berufsstand für die Land-
wirtschaft in Deutschland formulierte Zukunftsma- Zweitens. Ich halte unter Berücksichtigung der
xime „Einheit in Vielfalt" trifft den Kern der Sache. Ziel-1-Gebietsfestlegung bis 1999 Forderungen nach
unveränderter Verlängerung aller Sonderkonditio-
nen für ebenso unvertretbar, wie es töricht wäre,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie glauben zu wollen, daß überhaupt keine Spezifizie-
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sielaff? rungen neuer Bundesländer mehr notwendig seien.
1646 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Ulrich Junghanns
Vor allem die Tierproduktion bedarf gegenüber legungen nicht auch noch mit dem Abzug von Aus-
den entwickelten Marktfruchtbetrieben weiterge- gleichszahlungen zu belegen und im Jahre 1995 Sal-
hender Flankierungen. Das ist ein akutes Problem, dierungsmöglichkeiten einzuräumen. Auch sollte un-
wie das schon verschiedene Vorredner hier anführ- tersucht werden, welche Ursachen zur Überschrei-
ten. tung geführt haben.
Mangelnde Kapitalausstattung für erforderliche In- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
vestitionen, aber ebenso die verbreitete Unterneh- DIE GRÜNEN]: Die Zeit ist abgelaufen!)
mensauffassung, sich zunächst einmal auf der siche-
Wir stellen fest, Herr Fischer, daß sie in unseren Län-
ren Seite des Marktfruchtanbaus bewegen zu wol-
dern vor allen Dingen auf die zusätzliche Inan-
len, werden heute als Gründe angeführt, die im Zu-
spruchnahme freiwilliger Flächenstillegung zurück-
sammenhang mit der Diskussion um den drastischen
zuführen ist.
Tierbestandsabbau geführt werden.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Das kann es aber nicht gewesen sein. Das sage ich
DIE GRÜNEN]: Jetzt hat es sich ausgefest
ganz bewußt auch an die Bauern in den neuen Bun-
stellt!)
desländern. Unternehmenserträge aus Arbeit sind
vor allem über eine moderne Veredlung machbar. Da
füllen die ostdeutschen Unternehmen ihre eigentli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie müssen jetzt
che Marktposition noch nicht aus. wirklich aufhören, Herr Kollege.
Man hat ja bis zu einem bestimmten Punkt Ver-
ständnis, wenn Landesminister den Druck abwälzen Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Ich möchte damit
wollen, indem sie wieder einmal zu dieser Frage sagen -
mehr investive Hilfen vom Bund einfordern. Aber bei
diesem Problem ist der Handlungs- und Gestaltungs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Sie möch-
spielraum in den Ländern tatsächlich größer. Die ten jetzt nichts mehr sagen. Es ist jetzt eine Minute
Ziel- 1 -Gebietsfördermittel sowie das Investitionsför- überzogen.
-
dergesetz Aufbau-Ost bieten den Rahmen für landes-
spezifische, problembezogene Investitions und Ka-
Ulrich Junghanns (CDU/CSU): - daß diese diffe-
-
auch in dem Wissen und der Bürde, daß selbst radi- (Beifall bei der SPD)
kale Minderung der Schadstoffeinträge noch lange
zu einer Verschlechterung der Böden, des Trinkwas- Ein weiterer Punkt: Es hat die Industriemanager
sers, des Klimas und des Waldes führt; denn die Gift- der Auto-, Energie- und Schwerindustrie in der Ver-
einträge sind nachhaltig. Es hat aber gar keinen gangenheit nicht in den Schmollwinkel getrieben,
Zweck, die Kummerfurche entlangzuharken und als ihre tödliche, schädliche Luftfracht als Verursa-
Verantwortlichkeiten umzuschichten, Statistiken cher des Waldsterbens benannt wurde. Warum also,
durch Weglassen der Schadensstufe 5 - die haben Herr Minister Borchert, jetzt, nach den drastischen
wir ja gar nicht - zu verschönen. Nein, wir müssen Worten der Schutzgemeinschaft „Deutscher Wald",
endlich handeln. die jetzt die Landwirtschaft als Hauptverursacher der
Waldschäden darstellt, der Schmollwinkel?
Es ist dies eine Querschnittsaufgabe des Wirt-
schaftsministeriums - dazu hat Herr Heinrich Worte Es ist entbehrlich, die Rangfolge der Emittenten
gefunden -, des Umweltministeriums, des Landwirt- streitig zu diskutieren. Vielmehr muß nach dem
schaftsministeriums, Herr Borchert, ja der gesamten Motto „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt" gehandelt
Bundesregierung. Denn es geht selbstverständlich werden.
nicht nur um den deutschen Staats-, Körperschafts-
und Privatwald. Es geht nicht nur um die Schwarz- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
waldtanne und die Spessarteiche. Es geht um die
Rettung eines lebenswichtigen Ökosystems. Aber, Herr Minister, Sie müssen die Gefahr erken-
nen, auch die Gefahr, die von der Landwirtschaft
Kolleginnen und Kollegen, trotz aller richtigen Er- ausgeht. Ihre Aufgabe, Herr Minister Borchert - wir
kenntnisse in den Waldzustandsberichten der ver- werden Ihnen im Ausschuß sehr gerne dabei helfen -,
gangenen Jahre und aller Beteuerungen in den ist es doch, Land- und Forstwirtschaft, aber auch Um-
Sonntags- und Bundestagsreden ist festzustellen: Ja, welt- und Landwirtschaftspolitik aufeinander abzu-
Herr Heinrich, wir wissen zwar immer mehr, verän- stimmen.
dern aber viel zuwenig.
Nur eine ökologisch wirtschaftende Landwirt-
schaft mit der Verantwortung für ihre Produkte
(Beifall bei der SPD) ebenso wie für die Böden, das Trinkwasser und den
Wald findet die Akzeptanz der Bevölkerung. Das Ziel
Ich will mich auf die Waldwirtschafts-, Forst- und der SPD-Politik und das Ziel jeder verantwortlichen
Landwirtschaftspolitik beschränken, Herr Minister Politik muß es sein, konsequent reformerisch die Be-
Borchert. Es ist festzuhalten: Der deutsche Wald ist dürfnisse der Menschen in der Gegenwart so zu er-
Holzacker, der so langfristig keine wirtschaftliche füllen, daß die Lebensbedingungen auch zukünftiger
Perspektive bieten kann. Denn er ist ein unnatürli- Generationen berücksichtigt sind, also einen sozia-
cher, labiler Altersklassenwald. Das heißt, er ist zum len und ökologischen Generationenvertrag zu schaf-
Kahlschlag sortiert, aufgelistet nach Baumart und fen und zu erfüllen.
Baumalter. Er ist Monokultur, und es ist ihm eine mo-
nofunktionale Rolle zugedacht. Kriterien waren und Am Beispiel Wald ließe sich das exemplarisch sta-
sind kurzfristige Funktionalität und Rentabilität. tuieren. Allen Wohl und keinem Wehe - das wird
nicht gehen. Deshalb wird die SPD Forderungen er-
Weil ich ein optimistischer Mensch bin, suche, er- heben, die dann in der Umsetzung mittel- und lang-
kenne und benenne ich gern auch positive Entwick- fristig den Weg zu einer auch von der Forstwirtschaft
lungen. So ist festzustellen, daß sich bei privaten akzeptierten Landwirtschaft bereiten.
Waldbesitzern schon über Generationen die Erkennt-
nis durchgesetzt hat, daß naturnahes Wirtschaften Wir brauchen die Bindung der Tierhaltung an die
und biologische Vielfalt des Waldes, also nachhal- Fläche, die Einführung einer Düngemittelverord-
tige Waldwirtschaft, Segen bringt. nung, eine nationale bzw. eine europaeinheitliche
Abgabe auf mineralische und organische Stickstoffe,
Schäden sind hier weit geringer als in den staatlich eine Regelung der Verwendung von Pflanzenschutz-
geführten Wäldern. Der privat geführte Wald ist we- mitteln durch eine Änderung des Pflanzenschutzge-
niger anfällig gegen Windbruch und Insektenplage, setzes. Wir brauchen die Revision des Bundesnatur-
ist widerstandsfähiger, weil naturnah. Dennoch schutzgesetzes mit der Verankerung einer naturver-
möchte ich nicht einem Ausverkauf des Staatswaldes träglichen Land- und Forstwirtschaft.
hin zu einer Wald-AG das Wort reden, sondern einer
Politik die nachhaltige Forstwirtschaft, ökologische (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
Landwirtschaft und wirksamen Umweltschutz zum des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt]
Schutz unserer Wälder festschreibt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
1648 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Heidi Wright
Wir brauchen aber auch eine Perspektive für den die Schweinepest. Er wollte wissen, was diese Bun-
deutschen Holzmarkt, der sich zur Zeit gegen das desregierung hier konkret getan hat. Diese Bundes-
unter Sozial- und Ökodumping geschlagene Holz regierung hat ein Notprogramm in Höhe von
aus dem Osten behaupten muß. 15 Millionen DM aufgelegt und weitere 20 Millionen
DM für die betroffenen Landwirte zur Verfügung ge-
(Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.] meldet sich zu stellt.
einer Zwischenfrage)
Egon Susset wurde auch noch gefragt: Was macht
- Nein, Herr Heinrich, ich bin gleich fertig. Meine denn Niedersachsen? Das will ich Ihnen sagen. Nie-
Redezeit ist schon abgelaufen. dersachsen verweigert sich. Das ist für mich vollkom-
Wir brauchen in unserer Forstwirtschaft gut ausge- men unverständlich.
bildete Fachleute. Deren Bestand darf nicht bis zur (Horst Sielaff [SPD]: Das stimmt doch gar
Schmerzgrenze reduziert werden. Es gibt viel zu tun, nicht! Das ist ein Streitfall der Zuständig
Herr Minister Borchert. Ich hoffe, Sie haben die poli-
keit!)
tische Entschlossenheit und den politischen Mut.
Sie wissen ganz genau, daß sich der Landwirtschafts-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne minister in Niedersachsen für die Landwirte verwen-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
den müßte. Ich fordere die niedersächsischen Kolle-
und der PDS) gen ausdrücklich auf, dies ebenfalls zu tun und dar-
auf hinzuwirken, daß Niedersachsen seinen 30%igen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich gratuliere Anteil zahlt. 70 % zahlt die EU; jetzt sollen auch die
Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede. Niedersachsen ihren Beitrag leisten. Sie wissen, daß
sie dazu verpflichtet sind.
(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen
und der PDS) (Detlev von Larcher [SPD]: Wieviel Millio
nen hat denn Niedersachsen gezahlt?)
Dann bekommt man doppelten Beifall.
- Ich möchte auch ganz kurz zur Kollegin Höfken
Jetzt hat die Abgeordnete Hannelore Rönsch das
Deipenbrock Stellung nehmen. Frau Kollegin, es be-
Wort.
drückt schon ein wenig, wenn Sie die Landwirte da-
für verantwortlich machen, daß es in unserer Gesell-
Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau schaft ernährungsbedingte Krankheiten gibt. Leider
Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ei- liegt dies vielfach am Verhalten der Verbraucher. Wir
gentlich wollte ich mich heute bei der Diskussion des dürfen die Landwirte mit ihren Produkten dafür nicht
Agrarberichts 1995 auf die sozial- und ernährungs- in die Haftung nehmen.
politischen Teile konzentrieren. Aber das, was die
Kollegen, die vor mir gesprochen haben, dazu gesagt (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie
haben, hat mich veranlaßt, hiervon abzuweichen. sind dafür verantwortlich!)
Herr Kollege Sielaff, als Neuling in der Landwirt- Hier, meine ich, müssen wir sehr deutlich unterschei-
schaftspolitik war ich natürlich ausgesprochen ge- den und müssen auch in der Sprache ausgesprochen
spannt, welche Perspektiven der Landwirtschaftspo- vorsichtig sein.
litik Sie entwickeln würden. Sie haben in Ihrer Rede (Zuruf von der SPD: Das schreiben Sie sich
einen Ist-Zustand beschrieben. Sie haben, wie das einmal selbst in das Stammbuch!)
Ihrer Rolle als Opposition entspricht, nur auf den
Landwirtschaftsminister eingedroschen, aber keine Abenteuerlich wird es, wenn die PDS über Wald-
eigenen Vorstellungen entwickelt, bis die Redezeit schäden spricht.
zu Ende war. (Zuruf von der F.D.P.: So ist es! Das kann
Dann habe ich gedacht: Dr. Thalheim wird vortra- man wohl sagen!)
gen, wie die Opposition in der Zukunft die Landwirt- Sie ist die Nachfolgerin der SED, die den Wald in den
schaftspolitik gestaltet sehen will. fünf neuen Bundesländern - -
(Horst Sielaff [SPD]: Sie haben die Forde
rungen nicht gehört!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin
Auch da war die Redezeit sehr schnell zu Ende, und Rönsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
wir haben immer noch nichts von den Perspektiven gen von Larcher?
gehört, auf die sich unsere Bäuerinnen und Bauern
verlassen können. Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Aber
selbstverständlich. Ich hätte nur den Gedanken über
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
die PDS noch gern zu Ende gesagt, Herr Kollege von
Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)
Larcher. Dann sehr gerne.
Das ging dann munter so weiter.
Die PDS, Nachfolgepartei der SED, die in der ehe-
Der Kollege Graf ist vielleicht jetzt in seinem Büro maligen DDR den Wald ausgedünnt hat, kaum nach-
und schaut auf der Seite 143 des Agrarberichts nach. geforstet hat und durch die Umweltbelastung natür-
Dort werden nämlich die Fragen, die er meinem Kol- lich auch diese Schäden verursacht hat, will uns
legen Susset gestellt hat, beantwortet; da geht es um heute erklären, wie Waldschäden zu verhindern
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1649
Hannelore Rönsch (Wiesbaden)
sind. Abenteuerlich wird es aber dann, wenn auch Wir setzen auf die Entwicklung leistungs- und
noch den Zeiten nachgetrauert wird, als Erich Ho- marktgerechter Betriebe. Wettbewerb und Leistung
necker in der Schafheide das Wild vor der Flinte müssen sich für alle Betriebe wieder lohnen.
hatte.
(Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Was heißt
(Zuruf von der PDS: Schorfheide!) das? Reden Sie einmal Klartext, was Sie
denn meinen!)
- Sie wissen es selbstverständlich besser als ich. Ich
habe dort nie gejagt, glauben Sie es mir. Ich wünsche mir dies ganz besonders für die Fami-
lienbetriebe, deren Erhalt auch für die Zukunft si-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chergestellt sein muß. Sie sind das Kernstück unserer
Landwirtschaft.
Ich habe mir sagen lassen: Die Schorfheide war ein-
gezäunt. Da stand ein Schild: „Staatsgebiet". Dann Ich bin deshalb ausgesprochen glücklich darüber,
ist das Wild dorthin getrieben worden, so daß er es daß wir jetzt 110 000 Bäuerinnen mit in die Altersver-
abschießen konnte. sorgung der Landwirte aufnehmen können.
Und von Ihnen sollen wir uns jetzt sagen lassen, (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Sie sehen
wie der Wald neu zu gestalten ist. Meine sehr geehr- aber gar nicht so aus!)
ten Damen und Herren, da muß ich sagen: Ich bin Das hat sehr lange gedauert. Ich bin ebenfalls froh
nicht bereit, das mitzumachen. darüber, daß dies im Konsens geschehen konnte.
(Horst Sielaff [SPD]: Eine Schande, was Sie (Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
da machen!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt
Ich wollte mich auf die Sozialpolitik konzentrieren jetzt einige Punkte, die zum Nachdenken Anlaß ge-
und will jetzt ganz kurz darauf eingehen. ben. Uns alle erreichen Briefe, daß es an der einen
oder anderen Stelle nach der Einführung am 1. Ja-
- nuar 1995 zu Schwierigkeiten kommt. Aber wenn Sie
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie wollten jetzt mit den betroffenen Frauen oder ihren Männern dar-
aber die Zwischenfrage zulassen, ja? über diskutieren, sehen Sie, daß es oft Fragen sind,
die durch Beratung noch gelöst werden können. Ich
Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ent- wende mich ein wenig dagegen, das ganze Gesetz,
schuldigung. Ja, selbstverständlich. das wir gerade verabschiedet haben, jetzt in Frage
zu stellen.
(Horst Sielaff [SPD]: Der Borchert wollte das
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Also, Herr Lar-
doch!)
cher. - Ich halte die Uhr an.
Ich glaube, daß wir den Frauen durch Beratung ein
wesentliches Stück entgegenkommen können und
Detlev von Larcher (SPD): Frau Kollegin Rönsch, daß wir noch in diesem Jahr einen großen Teil der
könnten Sie uns bitte die Zahlen sagen, nämlich wie- Kritikpunkte ausräumen können.
viel Millionen DM Niedersachsen während der letz-
ten Schweinepest ausgegeben hat? (Horst Sielaff [SPD]: Also doch!)
Georg Pfannenstein (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Um dies zu erreichen, muß mit mehr Ehrlichkeit
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute das Ver- und mehr Offenheit als bisher operiert werden. Das
gnügen, meine Erstlingsrede hier im Parlament zu tatsächliche Ausmaß der Waldkatastrophe muß je-
halten. Der Zustand unserer Wälder, mit dem sich dem vor Augen geführt werden. Die Transparenz
meine Rede befaßt, ist für mich allerdings weit weni- und die daraus resultierende Akzeptanz sind aber
ger Grund zur Freude als die Gelegenheit, heute die mit den bisher praktizierten Schadenserhebungen
rhetorische Feuertaufe in diesem Hohen Hause zu nicht machbar. Wer sich - wie die Bundesregierung -
bestehen. bei der Schadensfeststellung lediglich auf die stich-
probenartige Erfassung des Zustands der Baumkro-
(Zustimmung bei der SPD) nen beschränkt und die Flächen mit abgestorbenen
und gefällten Bäumen sowie die abgeräumten Wald-
Die Vorlage des Waldzustandsberichts durch die flächen aus der Schadensbilanz heraushält, muß sich
Bundesregierung ist längst zu einem Ritual gewor- den allzu berechtigten Vorwurf der Verschleierung
den, das möglichst pflichtschuldig abgespult wird. gefallen lassen. Erst wer die Begutachtung der Wald-
Die gezielte Verharmlosung, die damit betrieben böden, die Wasserversorgung, den Wurzelzuwachs
wird, beginnt bereits mit der Formulierung der Über- und den Holzzuwachs in die Begutachtung einflie-
schrift. Sie heißt beschönigend „ Waldzustandsbe- ßen läßt, wird einen Schadensbericht ermöglichen,
richt", wohingegen sie doch zumindest Waldscha- der ungeschönt den tatsächlichen Zustand des Öko-
densbericht oder noch zutreffender Waldsterbensbe- systems Wald wiedergibt.
richt lauten müßte.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wie groß mögen die tatsächlichen Schäden sein,
und der PDS) wenn schon die Begutachtung der Baumkronen eine
so desaströse Bilanz ergibt? Keinem seriösen Arzt
Gleichsam in Watte verpackt, versucht die Bundes- würde es einfallen, einen Schwerkranken lediglich
regierung in diesem Bericht, den katastrophalen Zu- vom Hals aufwärts zu untersuchen, ohne den übri-
stand unserer Wälder zu verharmlosen und - das Pro- gen Körper einzubeziehen.
blem zu verniedlichen, um von ihrem Versagen abzu-
lenken. 1983 wurde ein Aktionsprogramm „Rettet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
den Wald" beschlossen. Das Ziel dieses Aktionspro- ten der PDS)
gramms, die Schadstoffemissionen aus Verkehr, In-
dustrie, Energieerzeugung und Landwirtschaft in so Trotz dieser kopflastigen Beobachtungsmethoden
ausreichendem Maße zu verringern, daß zumindest veranschaulichen die Ergebnisse des jährlichen
eine Stagnation der Waldschäden auf dem damals Waldschadensberichts aber immerhin Trends und lie-
bereits hohen Niveau erreicht werden könnte, wurde fern Anhaltspunkte für einen höchst alarmierenden
schlichtweg verfehlt, was letztendlich auch nieman- Zustand. Jeder vierte Baum weist deutliche Schäden
den verwundern kann; denn die Aktivität der Bun- auf. Nur noch 1 % der über 60 Jahre alten Bäume
desregierung reduziert sich zumeist auf Ankündi- kann als gesund eingestuft werden.
gungen von Aktivitäten zur Rettung des Waldes.
Angesichts dieser vernichtenden Bilanz erscheint
(Beifall bei der SPD) es geradezu absurd, wenn wir Drittweltstaaten die
Ausbeutung und Vernichtung der tropischen Wälder
Mit unzureichenden und unbefriedigenden Aktio- vorwerfen, während wir in unserem ureigensten Le-
nen ist aber niemandem gedient, am allerwenigsten bensraum nahezu tatenlos dem Siechen des Waldes
dem Ökosystem Wald und dem Patienten Wald. zusehen, obgleich wir ungleich größere Möglichkei-
Nach nunmehr zwölfjähriger Tatenlosigkeit, einher- ten zum Gegensteuern hätten als die Staaten des Sü-
gehend mit einem ausgeprägten Hang zur Verdrän- dens.
gung dieses die ganze Bevölkerung betreffenden
Problems, muß endlich gehandelt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
(Zuruf von der CDU/CSU: Was hat die SPD und der PDS)
in ihrer Regierungszeit getan?)
Meine Damen und Herren, solange wir im Glashaus
Jeder versäumte Tag beschleunigt den Schädigungs- sitzen, sollten wir tunlichst nicht mit Steinen werfen.
prozeß und führt zu irreversiblen Schäden am Ökosy-
stem Wald und an der Gesundheit der Bevölkerung Die das Waldsterben verursachenden Faktoren
und damit zu enormen Verlusten für die Volkswirt- sind längst ausgemacht und wissenschaftlich hinrei-
schaft. chend belegt. Die zerstörerische Wirkung von Luft-
schadstoffen wie Schwefeldioxid, Stickoxiden, Am-
Wer die ökonomische und ökologische Leistungs- moniak und flüchtigen Verbindungen wie Benzol ist
fähigkeit der Wälder nachhaltig schützen will, muß ebenso bekannt wie deren Herkunft und deren Fol-
zwingend die gesamte Bevölkerung in einen Denk- gen. Es fehlt lediglich das Handeln. Nur in einer inte-
und Lernprozeß einbinden, um die Akzeptanz für grierten Verkehrs , Agrar und Umweltpolitik kön-
- -
einschneidende waldrettende Maßnahmen zu erzie- nen die umfassenden und notwendigen Maßnahmen
len. zur Rettung des Ökosystems Wald und zur drasti-
schen Verminderung der Luftschadstoffe und damit
(Beifall bei der SPD) ein durchgreifender Klimaschutz durchgesetzt wer-
1652 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Georg Pfannenstein
den. Eine verantwortungsbewußte Bundesregierung auf die Lebensqualität der Menschen aus. Es ist
muß weitaus konsequenter und intensiver, als dies keine leere Formel, wenn man sagt: Zuerst stirbt der
derzeit der Fall ist, durch ressortübergreifende Maß- Wald und dann der Mensch. Wenn sich die Kronen
nahmen zur Tat schreiten. der Bäume lichten, wird sich der Mensch, die angeb-
liche Krone der Schöpfung, irgendwann um Kopf
Ich möchte mich hier auf zwei Bereiche konzentrie- und Kragen bringen. Er atmet die gleiche Luft wie
ren: die Verkehrs- und die Energiepolitik, weil hier der Wald, nur noch etwas intensiver.
schnelle und tiefgreifende Erfolge für unsere Umwelt
zu erzielen sind. Verkehr vermeiden, verlagern und Vielen Dank.
schadstoffärmer als bisher abwickeln - so muß die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Devise lauten. „Freie Fahrt für freie Bürger", dieser
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
beliebte wie unvernünftige Slogan, dem unter den
PDS)
EU-Staaten zumindest in Sachen Tempolimit nur
noch die Deutschen verfallen sind, ist angesichts der
unübersehbaren Folgen einer ungezügelten Ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lieber Herr Kol-
kehrsentwicklung längst nicht mehr zeitgemäß. lege, wir gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten Rede. Sie
war auch von vorbildlicher Kürze.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall im ganzen Hause)
und der PDS)
Das Wort hat jetzt der Bundesminister für Ernäh-
Die waldschädigende Luftverunreinigung durch rung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert.
den Autoverkehr ist längst bewiesene Tatsache. Die
Begrenzung dieser Auswirkung hat höchste Priorität Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung,
und ist überfällig. Die Verlagerung des Personen- Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine
und Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene sehr verehrten Damen und Herren! Ich wäre jetzt
muß über neue Leistungsanteile geregelt werden. gern auf einige Perspektiven der Opposition in be-
Hier ist die neue Bahn AG wirklich gefordert,
- auch zug auf die Agrarpolitik eingegangen. Da diese aber
über Preise etwas zu tun. fehlen, will ich mich wenigstens mit einigen Kritik-
Bestehende Wasserwege können intensiver für punkten auseinandersetzen, die von der Opposition
den Gütertransport und damit wirtschaftlicher ge- in der Debatte geäußert wurden.
nutzt werden. Herr Kollege Sielaff, es ist schon interessant, daß
Das Verhalten der Verkehrsteilnehmer muß und auch heute wieder das Doppelspiel deutlich gewor-
kann in Richtung Verkehrsvermeidung und umwelt- den ist: Die SPD hat heute kritisiert, daß wir eine Ge-
verträglicher Verkehr positiv beeinflußt werden. Die meinschaftsaufgabe um 76 Millionen DM gekürzt ha-
Abgasgrenzwerte für Pkws und Lkws müssen weiter ben. Herr Kollege Waigel, ich bin sicher, in der letz-
herabgesetzt werden. Der Schadstoffausstoß des Au- ten Märzwoche wird dann wieder heftig kritisiert
toverkehrs muß über einen durchschnittlichen werden, daß Sie nicht konsequent genug konsolidie-
Höchstverbrauch von fünf Litern pro gefahrene ren.
100 km begrenzt werden. Sie haben darüber hinaus kritisiert, daß die
Europaeinheitliche Geschwindigkeitsbeschrän 100 Millionen DM Umschichtung 1995 nicht zu Inve-
kungen und die aufkommensneutrale Umwandlung stitionen, sondern zu Verpflichtungsermächtigungen
der bisherigen Kilometerpauschale in eine Entfer- führen. Aber sie werden sicher zu einem Teil zu Inve-
nungspauschale sind unabdingbare Rahmenbedin- stitionen führen. Insgesamt wird diese Umschichtung
gungen für ein geändertes, positives Verkehrsverhal- von 100 Millionen DM dazu führen, daß 1995 Investi-
ten. Auch umweltschädigende Subventionen wie die tionen in den Betrieben in der Größenordnung von
Steuerfreistellung des gewerblich verbrauchten 1 Milliarde DM zusätzlich bewilligt werden können.
Flugbenzins müssen aufgehoben werden. In welchem Umfang dies bereits 1995 zu Barausga-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ben führt, hängt natürlich vom Tempo der Bewilli-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gungen und von der Durchführung der Maßnahmen
ab. Unstrittig aber ist, daß mit dieser Umschichtung
Im Energiebereich muß die effektivere Energie- das Investitionsniveau insgesamt um 1 Milliarde DM
nutzung und die Erschließung alternativer Energie- aufgestockt wird.
quellen Priorität erhalten. Die Solarenergie muß so
gefördert werden, daß sie nicht länger ein Schatten- Ich würde es ja gern sehen, daß nicht nur in die-
dasein fristet, sondern ihren verdienten Platz an der sem Jahr, 1995, mehr bewilligt wird. Deswegen habe
Sonne bekommt und damit zu einem bedeutenden ich bereits im letzten Jahr die Länder aufgefordert,
Energieträger der Zukunft werden kann. mehr Mittel für die einzelbetriebliche Förderung zur
Verfügung zu stellen. Leider ist dies nicht passiert.
(Beifall bei der SPD) Deshalb haben wir uns zu der Regelung durchgerun-
gen, diese Mittel im Vorwegabzug zu sperren, damit
Meine Damen und Herren, wenn nur ein Teil der hier mehr umgesetzt wird.
von mir angesprochenen Maßnahmen bei konse-
quenter Umsetzung und bei Durchbrechung liebge- Aber Ihre Kritik an der einzelbetrieblichen Förde-
wordener, aber unsinniger Tabus die Situation unse- rung geht ja weiter, wie aus einer Pressemeldung
res Waldes deutlich verbessert, wirkt sich das auch deutlich wird. Die Umstellung in der einzelbetriebli-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1653
Bundesminister Jochen Borchert
chen Förderung wird von Ihnen als Abwendung von Jochen Borche rt , Bundesminister für Ernährung,
einer gezielten Förderung kritisiert; denn die Einfüh- Landwirtschaft und Forsten: Erstens. Soweit es um
rung und stärkere Betonung eines Agrarkreditinstru- die staatlichen Preise im Rahmen der EG-Agrarpoli-
ments wird von Ihnen als Gießkannenförderung be- tik geht, gibt es Ausgleichszahlungen.
zeichnet. Zum Glück wird dieser Agrarkredit ja nicht
Zweitens. Die Betriebe haben im Bereich der Ver-
nur von uns durchgesetzt, sondern vom Berufsstand
in seiner gesamten Breite gefordert und begrüßt. edlungswirtschaft und in vielen anderen Bereichen
ausreichende Möglichkeiten, durch zusätzliche Inve-
Wer den Agrarkredit als Gießkannenförderung be- stitionen ihre Leistungsfähigkeit zu verbessern. Sie
zeichnet, der bringt doch damit zum Ausdruck, daß haben im Rahmen der Investitionen natürlich auch
er den Bauern offensichtlich unternehmerische Ent- die Möglichkeit, mit Investitionen weiter zu rationali-
scheidungen nicht zutraut. Man muß beim Agrarkre- sieren, damit Kosten zu sparen und ihre Betriebe un-
ditprogramm doch davon ausgehen, daß hier Kredite ternehmerisch besser auf die zukünftige Situation
aufgenommen werden, um für die Entwicklung der auszurichten.
Bet ri ebe sinnvolle Investitionen vorzunehmen. Wer Ich will gern noch einen Punkt von Herrn Sielaff
dies kritisiert, hat offensichtlich ein merkwürdiges aufgreifen. Wenn Sie kritisieren, daß die Markt-
Verständnis von der unternehmerischen Tätigkeit der fruchtbetriebe überdurchschnittlich begünstigt wür-
Bauern. den, dann hätte ich dazu gern ein Wort von Herrn
Ein weiterer Punkt: Sie haben bemängelt, daß in Thalheim gehört, wie er dies den Marktfruchtbetrie-
der europäischen Agrarpolitik die Handschrift ben in den neuen Ländern verdeutlichen will. Sie
Deutschlands nicht ausreichend auszumachen sei. wissen, daß die Ausgleichszahlungen im Zuge der
Sie hätten korrekter sagen sollen, daß hier zum Agrarreform die Preissenkungen ausgleichen und
Glück die Handsch ri ft der SPD nicht auszumachen nicht zu einer überdurchschnittlichen Bevorzugung
sei. der Marktfruchtbetriebe führen. Aber ich bin gern
bereit, diese Kritik von Ihnen in den neuen Ländern
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - zu vertreten.
Horst Sielaff [SPD]: Was soll denn das? Die
Herr Graf, zum Thema Schweinepest in Nieder-
Opposition sitzt nicht in den Gremien!)
sachsen. Niedersachsen hat sich geweigert, die not-
- Nein, aber Sie vermissen natürlich, was Sie gern wendigen Mittel des Landes für die Seuchenbe-
durchgesetzt hätten. kämpfung zur Verfügung zu stellen. Niedersachsen
hat erklärt, daß es keine Aufkaufmaßnahmen mehr
Die SPD hat noch 1992 gefordert: Die Bundesregie- finanziere. Erst dann haben wir erklärt: Der Bund ist
rung muß von dem von ihr im wesentlichen immer bereit, eine Vereinbarung abzuschließen. Wir dürfen
noch verfolgten falschen agrarpolitischen Konzept diesen Streit nicht auf dem Rücken der Bauern aus-
der Mengensteuerung wegkommen, sie muß dage- tragen. Deshalb haben wir gesagt: Wir treten in Vor-
gen stärker zu dem in einer Marktwirtschaft wichti- lage, wir finanzieren, bis das Urteil vorliegt. Aber der
gen Ins trument der Steuerung über die Preise über- richtige Weg wäre doch gewesen, daß Niedersach-
gehen. In Verbindung damit haben Sie gleichzeitig sen in Vorlage tritt, weil das eine Landesaufgabe ist.
die Forderung erhoben: Von der allgemeinen Zielset- Wenn es Zweifel gibt - diese Zweifel hat nur Nieder-
zung, einen freien Welthandel mit offenen Grenzen sachsen und kein anderes Land -, ob diese Finanzie-
zu schaffen, darf der EG-Agrarbereich nicht ausge- rung eine Landesaufgabe ist, können wir sie so lange
nommen werden. übernehmen, bis es gerichtlich geklärt ist.
Diese Handschrift in der Agrarpolitik der Europäi- Hinter der Weigerung steht, daß das Land Nieder-
schen Union haben wir zum Glück verhindert. sachsen seit Jahren die nach der Verfassung zuläs-
sige Grenze der Kreditaufnahme überschritten hat
(Albert Deß [CDU/CSU]: Das wäre das und alles tut, um eine weitere Kreditaufnahme zu
Ende der Landwirtschaft gewesen!) verhindern. Deswegen war es nicht bereit, die Ko-
sten der Seuchenbekämpfung in Niedersachsen wei-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie ter zu übernehmen. Hier wird deutlich, wie groß das
eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höfken? Engagement und die Bereitschaft der SPD sind,
Landwirten in einer schwierigen Situation zu helfen.
Vielen Dank.
Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Aber gern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu ei-
GRÜNEN): Ich wüßte doch gerne einmal, wo Sie ner Kurzintervention von zwei Minuten gebe ich dem
denn die unternehmerische Freiheit der Landwirtin- Abgeordneten Gerald Thalheim.
nen in der Bundesrepublik sehen erstens angesichts
der Nachfragemacht der Konzerne auf der Handels- Dr. Gerald Thalheim (SPD): Frau Präsidentin!
seite, zweitens angesichts von Milchquoten und Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich sehe
Weinmengenregulierungen und drittens angesichts mich durch den Redebeitrag des Kollegen Maleuda
einer staatlich verordneten Preispolitik bei unzurei- von der PDS zu einer Kurzintervention veranlaßt.
chendem Ausgleich. Herr Maleuda hat in seinem Beitrag die Betriebsauf-
1654 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Frau Präsiden-
mit die Aussprache. tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- Nach mehr als einem Jahr intensivster Diskussion
lagen auf den Drucksachen 13/400, 13/401 und 13/ in der Baukommission über die Sitzanordnung des
146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- neuen Plenarsaales in Berlin sind wir heute zusam-
schüsse vor. mengekommen, um in diesem Hause darüber zu
befinden.
Der Agrarbericht 1995 soll zusätzlich dem Aus-
schuß für Arbeit und Sozialordnung, dem Ausschuß Zur Diskussion stehen zwei Varianten der Sitzan-
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem ordnung: zunächst einmal die kreisrunde, wie wir sie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- in diesem neuen Plenarsaal haben, und zum anderen
cherheit überwiesen werden. eine elliptische Form. Baukommission und Ältesten-
rat - das ist Ihnen bekannt - haben sich für die ellipti-
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/ sche Form entschieden, und dies aus gutem Grund.
CSU und der F.D.P. auf Drucksache 13/697 und der Man mag sich vielleicht fragen, ob es überhaupt
Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE noch sinnvoll ist, darüber in diesem Hohen Hause
GRÜNEN auf Drucksache 13/708 soll an dieselben
- noch einmal zu diskutieren. Aber, Herr Conradi, wir
Ausschüsse überwiesen werden wie der Agrarbe- sind gerne dem Wunsch der Opposition nachgekom-
richt. men, darüber zu dieser Stunde zu diskutieren und zu
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD entscheiden.
auf Drucksache 13/713 soll zur federführenden Bera- Kreisförmig oder elliptisch - das ist die Frage, das
tung dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft sind die Möglichkeiten. Wir alle wissen, es gibt in
und Forsten sowie zur Mitberatung dem Ausschuß den verschiedenen Parlamenten der Welt verschie-
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, dem denste Sitzanordnungen. Ich glaube, eine Sitzanord-
Haushaltsausschuß und dem Ausschuß für Wirtschaft nung, die von uns Europäern als traditionsreich emp-
überwiesen werden. funden wird, ist die englische.
Der Entschließungsantrag der Fraktion BÜND- (Unruhe)
NIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/707 soll an
dieselben Ausschüsse wie der Waldzustandsbericht
überwiesen werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
entschuldigen Sie bitte.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 13/714 soll zur federführenden Bera- Ich bitte um etwas mehr Ruhe. Es ist für die Kolle-
tung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft gin sonst sehr schwer zu sprechen. Ich bitte auch,
und Forsten sowie zur Mitberatung an den Ausschuß den Mittelgang frei zu machen.
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den
Ausschuß für Verkehr, den Ausschuß für Wirtschaft Sie haben das Wort.
und an den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, For-
schung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Die traditionsrei-
überwiesen werden.
che englische Sitzanordnung ist uns allen geläufig.
Sind Sie damit einverstanden? - Damit sind die Das englische Parlament mußte zweimal darüber ent-
Überweisungen so beschlossen. scheiden, nämlich nach einem Brand 1834 und 1943,
als Bomben das Parlamentsgebäude in England zer-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: stört haben. Sie haben sich aus gutem Grunde immer
für die gleiche Sitzanordnung entschieden.
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ältestenrates zur Wir Deutsche haben schon mehrfach über die Sitz-
anordnung befunden. In jüngster Geschichte stehen
Gestaltung der Sitzanordnung im neuen Ple sich gegenüber: der alte Plenarsaal, den manche
narsaal im Reichstagsgebäude in Berlin noch kennen, das für viele, die hier sitzen, noch alt-
- Drucksache 13/685 - vertraute Wasserwerk und dieser neue Plenarsaal, in
dem wir auch schon einige Erfahrungen haben sam-
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten meln können. Meine Fraktion ist der Auffassung, daß
Peter Conradi, Franziska Eichstädt-Bohlig, Klaus wir der Empfehlung des Ältestenrates nachkommen
Jürgen Warnick und weiterer Abgeordneter vor. sollten. Wir sollten aus den Erfahrungen, die wir ge-
1656 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Brigitte Baumeister
macht haben, lernen und uns deshalb für die ellipti- Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Gern.
sche Anordnung entscheiden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Kollegin Baumei-
ster, ich habe nur eine Frage. Sie sagten, der Ab-
Unser gemeinsames Ziel war - und damit möchte ich stand ist bei Ihrer Ellipse geringer. Aber wie ist es
das begründen -, daß wir ein dichteres, ein von der bei den Leuten, die an den Außenpunkten der El-
Atmosphäre günstigeres Parlament schaffen, daß wir lipse sitzen? Können Sie vielleicht dem Hause mittei-
eine Anordnung schaffen, in der eine interessantere len, wie weit die dann vom Zentrum der Ellipse ent-
und lebhaftere Debattenführung möglich ist, als sie fernt sind?
hier in diesem Plenarsaal zur jetzigen Stunde vollzo-
gen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Na, Frau Kollegin?)
Brigi tte Baumeister (CDU/CSU): Herr Kollege
Ich bin mir zwar darüber klar, daß eine optimale Büttner, ich habe eben gesagt, ideal wäre es für
Sitzanordnung die wäre, bei der alle in der ersten mich, wenn alle mit gleichem Abstand in der ersten
Reihe sitzen, wo Sie sitzen, Herr Fischer. Reihe säßen. Da uns dies nicht gelungen ist, haben
wir versucht, dieses Problem zu optimieren, und bei
(Peter Conradi [SPD]: Jawohl, 672 Ab
einer Optimierung ist diese Ellipse herausgekom-
geordnete in der ersten Reihe!)
men.
Aber uns ist nach intensiven Beratungen nicht ver-
gönnt gewesen, eine solche Lösung zu finden. Die (Zuruf von der SPD: Wir können ja überein
ander sitzen!)
gibt es meines Wissens nur bei der ARD, und die ha-
ben wir kürzlich schon einmal diskutiert.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Büttner
Eine Voraussetzung dafür, diese dichtere Atmo- möchte eine Nachfrage stellen. Gestatten Sie das?
sphäre zu schaffen, näher an Redner und Zuhörer
-
heranzurücken, ist, daß man den Abstand verringert.
Der Abstand hier in diesem sogenannten Behnisch- Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Ja.
Saal beträgt 7 m.
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Ich habe die
(Zuruf von der SPD: 6,40 m!)
Nachfrage: Wie weit ist denn der Abstand, wenn ich
Bei der kreisförmigen Anordnung in dem Vorschlag draußen an der Ellipse sitze? Sie sprechen von Opti-
von Foster, den die SPD favorisiert, beträgt dieser mierung. Dann muß das doch weiter sein.
Abstand nahezu 8 m. Bei der elliptischen Form, die
wir favorisieren, beträgt der Abstand zwischen erster (Josepf Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Sitzreihe und Redner 5,6 m. Meine sehr verehrten DIE GRÜNEN]: Das ist eine Diskriminie
Damen und Herren, diese 2 m Differenz machen rung der PDS! Die sitzt dann noch weiter
deutlich, worum es uns geht, nämlich um eine bes- weg!)
sere Funktionalität, um eine bessere Debattenfüh-
rung und um eine lebhafte Diskussion, die wir ganz Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Ich habe Ihnen
gern haben möchten. gesagt, die optimale Lösung gibt es nicht. Im übrigen
sind wir an die räumlichen Gegebenheiten des
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Reichstages gebunden. Da bestimmen die Außen-
Für einige Kolleginnen und Kollegen von der SPD wände die Größenordnung. Dadurch gibt es Un-
scheint diese Funktionalität nicht im Vordergrund zu gleichgewichte, übrigens auch beim Kreis. Es ist ge-
stehen, sondern sie orientieren sich an etwas ande- nau dasselbe, wenn Sie die Kreisfunktion haben und
rem, nämlich an ihrer Ideologie. hier diese Linie ziehen; das ist ja klar.
(Lachen bei der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu die-
ser ideologischen Betrachtung möchte ich Ihnen sa-
Nach dieser Ideologie darf es nicht sein und soll es gen, daß Bundesrat, Bundesregierung und Parlament
nicht sein, daß sich Regierung und Parlament gegen- nach meinem Verständnis nun einmal verschiedene
übersitzen. Es soll auch nicht sein, daß es bei Bun- Verfassungsorgane sind und sich eben nicht in einem
desrat und Bundesregierung eine Erhöhung gibt, die herrschaftsfreien Diskurs am runden Tisch befinden.
in diesem Plan allein damit zu begründen ist, daß Dies wird in unserer Anordnung der elliptischen
eine bessere Sichtbeziehung ermöglicht wird. Aber Form auch zum Ausdruck gebracht und bedeutet
dies - hier spreche ich die GRÜNEN an - ist für uns keinerlei Bevorzugung von Bundesregierung und
keine Frage der Ideologie. Darauf können wir gern Bundesrat.
verzichten.
Die Debatte vom 5. Juni 1987 und auch die vom
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU 13. Oktober 1988 - wenn man sie nachliest - haben
und der F.D.P.) im übrigen auch zum Ausdruck gebracht, daß die el-
liptische Form damals durchaus eine große Chance
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gehabt hätte, wenn sie schon vorgelegen hätte. Denn
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten die Alternative lautete damals: entweder kreisförmig
Büttner? oder eine frontale Anordnung wie im alten Bonner
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1657
Brigitte Baumeister
Plenarsaal. Deren Nachteile aber, auf die in der De- Schließlich war immer von „Belebung der Parla-
batte immer wieder verwiesen wurde, sind in der mentsarbeit" die Rede. Ich denke, wir sollten uns,
nunmehr vorliegenen elliptischen Form nicht enthal- wie ich schon sagte, nichts vormachen: Dies hängt
ten. nicht in erster Linie von der Sitzordnung ab, sondern
von den Menschen und von der Spannkraft des Gei-
Der Kollege Conradi hat hier damals Winston
stes, von der Überzeugungskraft der Sprache, von
Churchill zitiert, der gesagt hat:
der Klarheit der Argumente, von der Souveränität
Die Essenz einer guten Unterhausdebatte ist ihr der Redenden und Handelnden. Qualität, so meine
Gesprächscharakter, ist die Möglichkeit für ra- ich, und so hat es damals die SPD-Abgeordnete
sche, informelle Unterbrechungen und Wort- Dr. Hartenstein zu Protokoll gegeben, speist sich aus
wechsel. anderen Quellen. Sie ist weder durch eine kreisför-
mige noch durch eine elliptische Sitzanordnung zu
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer das erzeugen.
House of Commons kennt, weiß, daß dies dort mit
am besten möglich ist. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie sollten ein Dreieck
Unser damaliger Plenarsaal wurde als überdimen- wählen!)
sionierte Turnhalle bezeichnet; in dieser sei eine At-
mosphäre für eine Plenardebatte kaum oder nicht Ich denke, daß die Ellipse die besten Vorausset-
gut möglich. Ich meine, daß die Nachteile bei dieser zungen für eine gute Debatte, für eine lebhafte Dis-
elliptischen Form, wie wir sie favorisieren, ausge- kussion in diesem Hohen Hause schafft. Sie wissen,
merzt sind und daß eine Schulatmosphäre dort nicht daß die CDU/CSU immer für die beste aller Lösun-
aufkommt. Im übrigen teile ich diese meine Ansicht, gen zu gewinnen ist. Deshalb stimmen wir diesem
die auch die der Fraktion ist, auch mit Professor Eller, Vorschlag zu. Ich bitte Sie, dem Votum der Baukom-
der für den nordrhein-westfälischen Landtag verant- mission und des Ältestenrates zuzustimmen, die für
wortlich zeichnete. eine elliptische Sitzanordnung im neuen Reichstags-
gebäude votiert haben.
Fritz Bohl hat den Befürwortern der runden - Sitz-
ordnung damals entgegengehalten, daß eine leben- Vielen Dank.
dige Parlamentsdebatte in erster Linie eine Frage der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Geschäftsordnung und der Abgeordneten selbst sei.
Dies kann ich nachdrücklich unterstützen. Deshalb
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt
liegt es in erster Linie an uns, wie wir diese gestalten,
Peter Conradi.
und hat nur in zweiter Linie etwas mit der Sitzanord-
nung zu tun. Das Hauptargument für eine kreisrunde
Anordnung war im übrigen, daß wir uns ins Gesicht Peter Conradi (SPD): „Hat der Bundestag nichts
sehen können. Dies ist auch bei der elliptischen An- Wichtigeres zu tun, als über seine zukünftige Sitzord-
ordnung gewährleistet. nung zu diskutieren?',
Herr Ehmke hat damals gesagt, eine kreisförmige (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/
Sitzanordnung würde die Besucher und die Fernseh- CSU)
zuschauer optisch erfahren lassen, daß die Regierung
so mag sich mancher Zuhörer fragen. - Ihre Reak-
weder dem Parlament vorsitzt noch ihm übergeord-
tion, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
net ist. Sie würde die Bank des Bundesrates als
CDU/CSU, erstaunt mich. Es ist kaum ein Jahr her,
Strukturelement unserer föderativen Ordnung in die
da haben wir hier auf Wunsch von Dr. Wolfgang
Gesamtdebatte einbauen. Das, meine Damen und
Schäuble und Ihrer Fraktion eine zweistündige De-
Herren, ist aber ein weiteres Argument dafür, daß
batte über die 14tägige Umhüllung des Reichstags-
wir die elliptische Anordnung wollen. Denn wenn
gebäudes durch Christo geführt und in namentlicher
Sie heute einen Blick auf die Bundesratsbank wer-
Abstimmung darüber entschieden. Alle anderen
fen,
Fraktionen waren der Meinung, das könne man im
(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Im Ältestenrat beraten.
mer!) (Freimut Duve [SPD]: Ja, genau!)
sehr geehrter Herr Radunski, dann stellen Sie fest - Aber wir sind Ihrem Wunsch nachgekommen. Ge-
auch im Fernsehen -, daß diese Bänke leerer als die rüchteweise habe ich gehört, die CSU wolle, daß wir
der Parlamentarier sind. nächstens hier im Plenum auch über Joseph Beuys
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und die Kuppel reden.
Wenn die Zuschauer draußen dies sehen, sind sie im- (Freimut Duve [SPD]: Ja!)
mer der Meinung, daß sich die Abgeordneten nicht Wenn wir hier zwei Stunden über eine 14tägige
hier, sondern außerhalb dieses Hohen Hauses befin- Kunstaktion gesprochen haben, dann wird das Haus
den. doch wohl Zeit finden, über seine eigene Sitzord-
nung zu diskutieren und zu befinden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P. - Joseph Fischer [Frankfurt] (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Ra ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
dunski wird hier eisern nicht beachtet!) und der PDS)
1658 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Peter Conradi
Die Sitzordnung trägt dazu bei, ob unsere Debatte Tisch von Regierung, Bundesrat und Parlament bei-
eine langweilige Vorlesung oder ein lebhafter Aus- behalten würden. Frau Kollegin Baumeister, es geht
tausch von Argumenten ist. Darüber hinaus macht nicht um die Frage „Kreis oder Ellipse?" - wobei ich
sie unser Verständnis von Parlament und auch unser vermute, daß die Quadratur der Ellipse mindestens
Verhältnis zur Regierung deutlich. Im Plenarsaal so schwierig wäre wie die Quadratur des Kreises -,
wird die Regierung des Volkes durch das Volk und
für das Volk sichtbar, und die bauliche Form, in der (Beifall bei der SPD)
das geschieht, ist keineswegs belanglos. Architektur- sondern es geht um unser Selbstverständnis als Par-
formen sind nun einmal nicht beliebig, sie sind nicht lament. Das war in der heiß umstrittenen Debatte da-
autonom. Sie zeigen den Zustand einer Gesellschaft, mals vor acht Jahren schon so: Wir wollen nicht, daß
und sie zeigen, was uns wichtig ist. die Regierung über uns sitzt, daß sie uns vorsitzt.
Dieser Plenarsaal beispielsweise hat uns weithin in
(Beifall bei der SPD)
der Welt, weit über Deutschland hinaus, Ansehen
und Anerkennung eingetragen. Die Mitglieder der Regierung sind nicht unsere Vor-
gesetzten, der Bundesrat schon gar nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
und der PDS) GRÜNEN und der PDS)
Von einer gelassenen, heiteren Selbstdarstellung des Es ist eine Regierung des Parlaments. W i r sind vom
Parlaments haben die Kritiker gesprochen. Und im Volk gewählt, nicht die Regierung, und w i r wählen
Blick auf den Reichstagsumbau: Dies hier ist kein pa- die Regierung; wir wählen sie auch wieder ab. Auch
thetischer, sondern ein bescheidener Bau, der die wenn sich ab und zu einmal ein paar Beamte ein-
Menschen nicht klein macht, der sie nicht ausrichtet, schleichen, es ist eine parlamentarische Regierung,
sondern ihnen etwas über uns ausrichten will. Er hat und das soll sichtbar werden. Sie ist uns nicht vorge
auch etwas Spielerisches, etwas Heiteres; Politik ist setzt.
ja nicht immer nur todernst. Ich wünschte mir,
- es ge-
länge uns - vielleicht finde ich da Ihre Zustimmung -,
ein wenig von der rheinisch-katholischen „Leichtig- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
keit des Seins" , die für die alte Bundesrepublik gar eine Zwischenfrage des Kollegen Schwalbe?
nicht so schlecht war, in das preußisch-durchsäuerte
und gelegentlich pathetisch-steinerne Berlin mitzu-
bringen. Peter Conradi (SPD): Bitte, Herr Kollege!
Wolfgang Schäuble hat in der Debatte über die - Nein, nicht mit meiner Zustimmung! Das wissen
Reichstagsumhüllung von der Kraft des Symbols ge- Sie sehr wohl, Herr Rüttgers. Zwischenrufe von der
sprochen. Nicht ohne Grund haben sich in der ehe- Regierungsbank sind so eine Sache. Wenn Sie als
maligen DDR nach dem Zusammenbruch des SED- Abgeordneter eine Zwischenfrage stellen wollen,
Regimes die Menschen am Runden Tisch zusammen- Herr Rüttgers, bin ich einverstanden.
gesetzt. Vorher war das anders. In der Volkskammer (Beifall bei der SPD)
saß die Regierung oben, und die Abgeordneten sa-
ßen wie im Hörsaal vor der Regierung. Das heißt, in Die Theorie der Gewaltenteilung - da die Regie-
der DDR war der Runde Tisch ein Symbol, und ich rung, dort das Parlament - stimmt nicht mehr. In
fände es ein gutes Symbol, wenn wir den Runden Wirklichkeit haben wir eine Gewaltenverschrän-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1659
Peter Conradi
kung: Die Mehrheit des Hauses bildet aus ihrer Mitte des Parlaments unter den Parlamentariern sitzt und
die Regierung, trägt sie durch dick und dünn, nicht wie früher in der DDR gegenüber auf der
Empore. Es ist doch gerade das Kennzeichen totalitä-
(Freimut Duve [SPD]: Mehr durch dünn als
rer Parteien und Regierungsformen, daß die Abge-
durch dick!)
ordneten wie im Kino den Hinterkopf des Vorder-
verteidigt sie tapfer gegen die völlig unberechtigten manns sehen und oben dann die Regierung thront.
und bösen Anwürfe der Opposition. Die Opposition Genau das wollen wir nicht.
dagegen versucht, der Regierung und der Mehrheit
das Leben schwerzumachen und so rasch wie mög- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
lich selbst parlamentarische Regierung zu werden. DIE GRÜNEN)
Peter Conradi
Ich danke Ihnen. eine symbolische, aber es ist eben auch eine ganz
praktische Frage; es ist eine Frage, wie wir uns selbst
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne als Volksvertretung verstehen und in einem solchen
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Raum verhalten.
und der PDS)
Wir bauen ja in Berlin, in einer Stadt, in der die
Menschen jahrzehntelang um Demokratie und Frei-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat heit kämpfen mußten, in einer Stadt, in der im Osten
jetzt der Abgeordnete Gerald Häfner. die Parteibonzen selbstverständlich immer über und
gegenüber den macht- und kompetenzlosen Volks-
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau vertretern thronten und in der im Westen lange nur
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- eingeschränkte Souveränität bestand.
ren! Mir kommt das, was wir hier be treiben, ein biß-
chen wie die Echternacher Springprozession vor. Wir bauen in einer Stadt, in der die Bürgerinnen
Schon 1988 habe ich in der Debatte zum selben und Bürger selbst mit dem Ruf „Wir sind das Volk"
Punkt gesagt, jeder blamiert sich, so gut er kann, und den Regierenden entgegenschrien, was das Grund-
da gab es noch Applaus von allen Seiten. Jetzt soll es axiom der Demokratie ist, nämlich: alle Staatsgewalt
also noch schlimmer werden: Das ist heute mittler- geht vom Volke aus, so Art. 20 des Grundgesetzes,
weile die sechste Debatte des Bundestages über also nicht mehr Herrschaft über das Volk, sondern
seine Sitzordnung. 1948 hat Professor Schwippert Regierung durch das Volk und für das Volk. Wir
schon sehr deutlich - und es lohnt sich, das nachzule- bauen in einer lange Zeit und in vielen Bereichen im-
sen - die Meinung vertreten, daß eine kreisrunde mer noch geteilten Stadt, und wir wollen, daß diese
Stadt und ihre Menschen und daß die Menschen in
Sitzordnung die einer Demokratie baulich angemes-
beiden Teilen dieser Republik zusammenwachsen.
senste wäre.
Worin könnte sich all dies besser ausdrücken als in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) einer runden Sitzordnung?
Darauf hat Herr Dr. Adenauer erwidert, das - sei zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
richtig und der Vorschlag ausgezeichnet, aber - ich und bei der SPD)
zitiere - für den Anfang der parlamentarischen Ar-
beit sollte man nicht gleich zu solch radikalen Neue- Wir bauen auch in der Stadt der runden Tische,
rungen greifen. - Das war 1948, meine Damen und und ich möchte, daß wir diese bedeutende Tradition
Herren. nicht so schnell vergessen. Ein Stück weit kann und
sollte auch das Parlament ein Runder Tisch sein!
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Schließlich bauen wir in einem Gebäude, das in
seiner ganzen Gestalt vom Geist des Wilhelminis-
Ich frage mich allerdings ernsthaft, welche Überzeu- mus, vom Geist des Kaiserreiches geprägt ist. Wir
gungskraft dieses Argument jetzt, da wir seit Jahren können diesen Plenarsaal gestalten und sollten dabei
in einem kreisrunden Plenarsaal tagen, noch haben der Schwere und Last dieses Gebäudes hier etwas
soll und ob dies wirklich noch solch eine radikale von Leichtigkeit, von Offenheit, von Transparenz,
Vorstellung ist. von Dialog und vom Geist lebendiger Demokratie
entgegensetzen.
Ich erinnere mich auch an das Verhalten der F.D.P.
1987 und 1988. Wir hatten hier im Hause nach langer
Debatte endlich eine kreisrunde, höhengleiche Sitz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es ist der
ordnung beschlossen, und dann kam die Partei der Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Mahlo
schlechten Verlierer und sagte: April, April, das neh- geäußert worden.
men wir nicht hin; und die F.D.P. verlangte eine er-
neute Abstimmung, weil es ja immer schon offenbar
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
für einige im Hause weitaus wichtiger war, erhöht zu
Selbstverständlich, gerne.
sitzen, als Fragen der Demokratie, des Grundgeset-
zes, der Gewaltenteilung ernst zu nehmen und zum
Ausgangspunkt unserer Politik zu machen. Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Kollege,
könnten Sie sich vorstellen, daß Sie als Opposition
Dann haben wir wieder darüber debattiert, uns einmal einen Minister kritisieren und ihn ansprechen
wieder für die höhengleiche kreisrunde Sitzordnung wollten, und finden Sie es dann sehr praktisch, daß
entschieden, und jetzt kommt sie wieder, die De- Sie sich dabei den Hals verrenken und nach hinter
batte, ob wir einen kreisrunden oder lieber doch wie- sich sprechen müßten?
der einen frontalen elliptischen Plenarsaal haben
wollen, wie das früher war.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lie-
Das ist beileibe kein unbedeutendes Thema, son- ber Herr Kollege Mahlo, ich finde es ausgesprochen
dern die Baugestalt ist Ausdruck einer Denkhaltung praktisch und angenehm, daß wir hier nicht mehr
und auch Ausdruck einer politischen Haltung. Sie wie im Kino, wie im Omnibus oder wie im Hörsaal
spiegelt unser Verständnis von Demokratie und das sitzen und Vorträgen erlauchter Herren lauschen,
von unserer eigenen Arbeit wider. Deshalb, lieber
Kollege Conradi, bei aller inhaltlichen Zustimmung: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Es ist nicht nur eine symbolische Frage; es ist zwar ten der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1661
Gerald Häfner
sondern daß wir miteinander reden können und ich Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ich habe Sie gefragt, ob (C)
Sie, lieber Herr Kollege, wenn ich hier spreche oder Sie denn nicht die Pläne gelesen hätten, in denen
da drüben sitze, sehen kann - nicht nur den Minister ganz klar zum Ausdruck kommt, daß man auch in
und den Redner. Ich finde es gut, daß wir alle einan- der elliptischen Form einander gegenüber sitzt.
der im Blick haben und dadurch Auge in Auge und
(Lachen bei der SPD)
auf gleicher Höhe miteinander debattieren können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt
bei der SPD und der PDS) hatte ich gehofft, Ihnen würde eine bessere Frage
Aber es geht ja nicht nur um die kreisrunde Form. einfallen als die nach dem Lesen der Pläne.
Es geht ja noch um etwas viel Erstaunlicheres. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
steht übrigens gar nicht in dem Antrag. Das hat man und bei der SPD)
ein wenig versteckt, aber es steht in den Unterlagen
zum Antrag: Die Regierung legt Wert darauf, erhöht Ich habe die Pläne gelesen und eben aus diesem
zu sitzen, sagt die Koalition; sie möchte über dem Grund so Stellung genommen, wie Sie das soeben von
Parlament thronen. Ich kann eine Legitimation dafür mir gehört haben. Das, was Sie heute so schönfärbe-
im Grundgesetz nicht finden. Im Grundgesetz ist von risch elliptische Form nennen, bedeutet, daß das Ple-
Gewaltenteilung und von Gewaltenverschränkung num, das hier im Moment zum Kreis gebogen ist, zu-
die Rede. Von einer Über- oder Unterordnung steht rückgedrängt wird auf gut die Hälfte des Plenarsaals
dort jedoch nichts geschrieben. und daß dafür die Regierung und auch der Bundesrat -
den wir nicht vergessen wollen, auch wenn er selbst
heute und übrigens auch sonst nicht sehr zahlreich ver-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es liegt noch
treten ist - uns auf der andern Seite gegenüber sitzen.
eine Bitte des Abgeordneten Heinrich um eine Zwi-
schenfrage vor. Ich möchte aber zum Schluß noch einmal auf den
Wunsch der Koalition nach Erhöhung der Regie-
Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Kollege Häfner, nach rungssitze zurückkommen. Wir sollten das nicht auf
- die leichte Schulter nehmen. Ich halte das wirklich
Ihrer Aussage gerade eben habe ich den Eindruck,
daß Sie die Pläne noch nicht gesehen haben; denn für einen architektonischen Anschlag auf das Grund-
auch bei der elliptischen Form sitzen selbstverständ- gesetz und auf die Demokratie.
lich Opposition und Regierung oder gegebenenfalls (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
die großen Parteien einander gegenüber. So gesehen bei der SPD und der PDS - Widerspruch bei
besteht überhaupt kein Unterschied. der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr.-Ing.
(Zurufe von der SPD und der PDS: Frage! - Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Absoluter
(D)
Frage!) Quatsch, was Sie da sagen!)
Ich möchte außerdem darauf hinweisen: Sie haben Das hat mit unserer Verfassungsordnung nichts zu
gerade eben fälschlich noch einmal gesagt, daß es tun. Das konnte man zu Zeiten des Kaiserreiches im
uns auf eine Erhöhung ankomme. Es kommt uns Preußischen Landtag machen, aber doch nicht in ei-
aber nicht auf eine Erhöhung an, sondern es kommt nem demokratischen Parlament.
uns darauf an, wie die Anordnung insgesamt vorge-
nommen wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestattest Du
eine Zwischenfrage der Abgeordneten Baumeister?
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
Sie hätten eine Frage stellen müssen. Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
möchte gerade den Gedanken noch vollenden. Dann
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr gestatte ich selbstverständlich die Zwischenfrage.
Kollege, die Vielzahl spontaner Debattenbeiträge in Diese Sache ist ja nicht die einzige beabsichtigte
dieser Debatte ist ja im Grunde erfreulich und ist das, Änderung. Der Kanzler möchte und hat durchge-
was ich mir unter einem lebendigen Parlament vor- setzt, daß - anders als von den Architekten vorgese-
stelle. hen - das Kanzleramt höher ist als die auf der Achse
(Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ im Parlamentsviertel daneben liegenden Parlaments-
NEN) bauten. Ich finde das peinlich und lächerlich. Ich
finde, das haben weder der Kanzler noch diese Bun-
Deswegen bin ich auch nicht böse, daß Sie keine desregierung nötig.
Frage gestellt haben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
(Zuruf von der CDU/CSU: Hat er!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
- Doch, haben Sie? - Dann bitte ich Sie, die Frage zu Wer Größe durch bauliche Höhe ausdrücken muß
wiederholen. und will, der hat schon verloren.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
DIE GRÜNEN und bei der SPD) bei der SPD und der PDS - Zuruf von der
CDU/CSU: Ein Quatsch, was Sie erzählen!)
Ich habe eine längere Ausführung gehört und dabei
Ihren Standpunkt kennengelernt und verstanden. Jetzt bitte ich um Ihre Frage.
1662 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Kollege, ha- Strophen. Es ist eine Abwandlung des berühmten
ben Sie in meiner Rede mitbekommen, daß es mir in Goethe/Schiller-Distichons. Es heißt:
keinster Weise um eine Erhöhung der Bundesregie-
Das ist nicht des Kanzlers Größe:
rung ging, sondern daß ich gesagt habe, daß dies
zu sitzen auf erhabnem Thron.
überhaupt keine Frage für uns ist? Vielmehr wurde
Klimatod sofort bekriegen,
aus anderen Gesichtspunkten heraus diskutiert.
Arbeitslosigkeit besiegen,
Aber wir sind gerne bereit, darauf zu verzichten.
Argumente klug zu wiegen
(Zuruf von der F.D.P.: Da hat er nicht aufge gäb' echte Größe, höher'n Lohn.
paßt!)
(Zurufe von der CDU/CSU: Aufhören!)
Im übrigen: Wenn Sie das nicht gehört haben soll-
Die zweite Strophe, der Rat an den Kanzler, lautet:
ten, dann darf ich noch bemerken, daß dies an der
schlechten Akustik dieses Plenarsaals liegt, wo Sie Äußerlich erhöht zu sitzen,
eben wesentlich weiter auseinander sitzen das ist läppisch, führt zu Witzen!
Höher steh'n an Geist und Taten,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU würden wir dem Kanzler raten!
und der F.D.P. - Widerspruch bei der SPD)
(Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
und, lieber Herr Kollege, aus diesem Grunde Ihnen GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)
wahrscheinlich diese meine Passage nicht gegenwär-
tig ist.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU jetzt der Abgeordnete Hein ri ch.
und der F.D.P.)
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sag auch ein
Gedicht auf!)
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe
Frau Kollegin, ich will den weniger sachlichen Teil
Ihrer Frage nicht beantworten, aber den,- über den Ulrich Heinrich (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
ich mich freue; denn er zeigt, daß solche Debatten sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche
Sinn haben. Wenn Sie nach dieser Debatte tatsäch- Bundestag beschäftigt sich heute wieder einmal mit
lich die 17,5 cm, über die inzwischen wirklich schon sich selbst, und das aus gutem Grund. Aber es ist na-
alle lachen, aus dem Antrag streichen, dann sind wir türlich deutlich zu sagen, daß das zuständige Gre-
schon ein ganzes Stück näher beieinander. mium für den Umbau des Reichstags, der Ältestenrat,
ein klares Votum abgegeben hat, bei dem die Oppo-
Ich habe mir erlaubt und möchte dies zum Ab- sition in der Minderheit geblieben ist. Aus diesem
schluß - - Grund müssen wir uns heute erneut mit dem Sach-
verhalt beschäftigen, und zwar im Plenum des Deut-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Ihre Rede- schen Bundestages.
zeit war leider schon abgelaufen. Ich habe anschlie- Es ist ein Novum, daß man innerhalb von acht Jah-
ßend die Frage und Ihre Antwort zugelassen. Aber ren zweimal einen Plenarsaal, ein nationales Parla-
Ihre Redezeit war tatsächlich leider vorbei, auch für ment, an verschiedenen Orten planen, bauen und
weitere Zwischenfragen. Das tut mir leid, Herr Kol- umbauen soll. Hier spiegelt sich ganz sicherlich die
lege. bewegte Geschichte unseres deutschen Vaterlandes
wider. Wir haben somit die Chance, über die Erfah-
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich rungen, die wir hier im neuen Plenarsaal gemacht
bedaure das sehr, denn ich habe ein Gedicht zu die- haben, zu befinden und notwendige Korrekturen
sem Anlaß geschrieben. Ich hätte das gerne zum be- vorzunehmen.
sten gegeben, kann es aber leider nicht mehr tun.
(Beifall bei der F.D.P.)
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, ei-
GRÜNEN, bei der SPD sowie bei Abgeord nen kleinen Moment. Ich muß für Ruhe sorgen. Es ist
neten der PDS) jetzt dermaßen unruhig, daß ich bitte, den Raum in
der Mitte sofort freizumachen, damit der Kollege in
Ruhe sprechen kann.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Moment! Ich
habe so selten ein selbstgemachtes Gedicht in die- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
sem Hause gehört, daß ich ausnahmsweise dazu das ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Wort gebe. GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ulrich Heinrich (F.D.P.): Am meisten stört mich, daß
PDS) der Blickkontakt zwischen Redner und Plenum in
diesem Plenarsaal nicht so gut ist, wie er im Wasser-
werk war.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vie-
len Dank! Jetzt hoffe ich, liebe Präsidentin, daß das (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
nicht zu lang wird. Das Gedicht hat nämlich zwei ten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1663
Ulrich Heinrich
Das, glaube ich, ist doch schon ein deutlicher Hin- hen sitzen, noch erkennbar machen, wer Bundesrat,
weis. Man redet ein bißchen ins Leere, auch wenn Bundesregierung und Bundestag ist.
der Saal gut gefüllt ist, wie wir das zur Zeit haben.
Ich denke zu Recht mit Wehmut an das Wasserwerk, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
wo wir in diesem Punkt wesentlich bessere Verhält- ten der CDU/CSU)
nisse hatten.
Wir wollen keine Nivellierung, und wir wollen keine
Die Voraussetzungen für eine lebhafte und interes- Vermischung, sondern wir wollen, daß auch der Be-
sante Debatte, in einem Raum, wo Rede, Gegenrede, trachter von außen das erkennen soll. Sie legen of-
Zwischenrufe und Mißfallensäußerungen eine dichte fenbar keinen Wert darauf; denn es hat sich deutlich
Debattenatmosphäre entstehen lassen, sind bei der gezeigt, daß Sie mit Ihrer Zwischenfrage in eine ganz
von der Opposition vertretenen Variante nicht opti- andere Richtung gezielt haben.
mal. Dies kommt von der runden Sitzanordnung, die
zwangsläufig eine größere Distanz zwischen Redner Ich möchte sagen: Wir haben im Deutschen Bun-
und Plenum zur Folge hat. destag und hier im Plenum klare und exakte
Regeln. Wir versagen z. B. einem Mitglied des
(Dr. Karl-Heinz Homhues [CDU/CSU]: Ge Bundesrates, sich zwischen den Gängen und den
nau richtig! - Gegenruf des Abg. Freimut Sitzreihen der Abgeordneten zu bewegen. Das
Duve [SPD]: Tüttelkram!) gleiche gilt für Minister der Bundesregierung, die
nicht gleichzeitig ein Bundestagsmandat haben.
Wären Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-
Diese Regelung ist gut so. An dieser Regelung
sition, bereit, diese Argumente für eine optimale De-
wollen wir festhalten.
battengestaltung aufzunehmen und zur Grundlage
Ihrer Entscheidungen zu machen, müßten Sie eigent- Dann möchten wir aber auch, daß, wenn wir
lich für die elliptische Form stimmen. schon solche Regelungen haben, diese auch für
(Beifall bei der F.D.P.) den Betrachter von außen erkennbar sind; denn
unsere Demokratie leidet auch darunter, daß vieles
-
Aber es ist schon bezeichnend, daß Sie, wenn ich Sie mißverstanden wird und daß der Bürger draußen
richtig verstanden habe, mehr oder weniger eine nicht mehr versteht, was hier tatsächlich vollzogen
ideologische Betrachtungsweise in dieser Richtung wird.
als Ihre Grundhaltung darstellen.
Dazu gehört für mich nicht nur ein Stück Symbo-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - lik, sondern auch ein Stück spiegelbildlicher Darstel-
Widerspruch bei der SPD) lung unserer repräsentativen demokratischen Struk-
tur in der Bundesrepublik Deutschland.
Was soll es denn, wenn wir alles nivellieren und nicht
mehr erkennbar machen wollen, wie sich die einzel-
nen Verfassungsorgane im Parlament des Deutschen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie,
Bundestages widerspiegeln. Herr Kollege, eine Zwischenfrage der Kollegin Kö-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ster-Loßack?
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja, bitte sehr.
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Dr. Angelika Köster Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
-
Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja. GRÜNEN): Herr Kollege, um der Nivellierung, die
Sie als Problem beschworen haben, eventuell entge-
Freimut Duve (SPD): Herr Kollege, da Sie das Lieb- genzuwirken: Vielleicht könnten wir uns das Modell
lingswort der Regierungsfraktion „Ideologie" jetzt des Orchestergrabens für die Regierungsbänke vor-
stellen?
eingeführt haben und eine Ideologie in der Regel ei-
nen philosophischen Urvater hat, könnten Sie mir (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten
bitte sagen, welchen philosophischen Vater Sie beim der SPD)
Kreis, der ältesten Form, die wir in der Menschheits-
geschichte kennen, ausmachen?
Ulrich Heinrich (F.D.P.): Darüber können wir dann
Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Kollege Duve, es geht in der Baukommission noch einmal befinden. Wenn
hier nicht um die Frage der ideologischen Beschrei- wir uns für die elliptische Form entschieden haben,
bung des Kreises, sondern es geht darum, dann sind wir offen. Wie das die Kollegin Baumeister
bereits signalisiert hat, kommt es uns nicht darauf an,
(Horst Sielaff [SPDJ: Lassen Sie die Kampf die Regierung und den Bundesrat erhöht zu plazie-
begriffe weg!) ren, sondern wir sind durchaus auch der Meinung,
daß wir die Sitzbänke auf einer Ebene mit dem Bun-
ob wir die verfassungsmäßigen Verhältnisse unserer destag anordnen lassen sollten.
Bundesrepublik Deutschland, nämlich die eines fö-
derativen Staatsaufbaus, auch für diejenigen, die Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt:
oben in den Zuschauerrängen und vor dem Fernse Wenn Sie Ihre ideologische Betrachtungsweise - ich
1664 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Ulrich Heinrich
sage das betont noch einmal, Herr Kollege Duve - ordneten haben muß, geschämt bei dem Gedanken,
einmal beiseite schieben und sich den Argumenten ein paar „Otto Normalverbraucher" von draußen hät-
öffnen, die ich gerade vorgetragen habe, dann wer- ten das Trauerspiel miterleben können. Ich bin ge-
den Sie Ihrem eigenen Antrag nicht zustimmen, son- gangen.
dern die Ergebnisse der Baukommission und des Al-
testenrates akzeptieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie immer!)
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe
DIE GRÜNEN) damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-
Wer von der herrschenden Meinung abweichende empfehlung des Ältestenrates und über verschie-
Auffassungen und Haltungen nicht ertragen kann, dene Anträge der PDS. Wir haben es verstanden, die
sollte zumindest akzeptieren, daß die Abgeordneten relativ einfache Problemlage in eine ziemlich kompli-
der PDS von mehr als zwei Millionen Wählerinnen zierte Geschäftsordnungslage zu verwandeln.
und Wählern gewählt wurden, die sich ebenfalls aus-
gegrenzt fühlen müssen. (Joachim Hörster [CDU/CSU[: So ist es! Das
sehe ich auch so!)
Juristisch ist das alles nur haltbar, wenn mit der
Deshalb bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit.
Funktionstüchtigkeit des Deutschen Bundestages
zusammenhängende Gründe geltend gemacht wer- Wir stimmen zunächst über Nr. 3 der Beschlußemp-
den können. Wie aber wollen Sie das erreichen? In fehlung des Ältestenrates auf der Drucksache 13/684
der Beschlußempfehlung des Ältestensrates sind je- ab. Der Ältestensrat empfiehlt, den Antrag der PDS
denfalls keine Gründe genannt. Das zirkelschlüssige auf Drucksache 13/4 - Änderung von § 10 der Ge-
Argument, unser Gruppenstatus - mit den damit ein- schäftsordnung in der Weise, daß die PDS Fraktion
hergehenden eingeschränkten Rechten - habe sich wird - abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfeh-
bewährt, können Sie wohl nicht ernsthaft ins Feld lung ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen-
führen. Für 30 Ihrer Kolleginnen und Kollegen hat er probe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Be-
sich nicht bewährt. Wie wollen Sie begründen, daß schlußempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion
30 Abgeordnete der PDS von einer vollen Mitwir- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS an-
kung im Ältestensrat ausgeschlossen werden, von ei- genommen.
nem Organ, das wesentlich zur Verständigung bei-
tragen soll, wenn nicht damit, daß Sie mit den Nun kommen wir zu den Nrn. 1 und 2 der Be-
30 Abgeordneten der PDS tatsächlich keine politi- schlußempfehlung des Ältestenrates auf Drucksache
sche Auseinandersetzung, erst recht keine Verstän- 13/684. Dazu liegen Änderungswünsche der PDS auf
digung wollen? Wie wollen Sie sachlich begründen, Drucksache 13/724 vor.
daß Sie der PDS verweigern, nach § 35 unserer Ge- Mit Buchstabe A dieser Änderungswünsche wird
schäftsordnung in größeren Debatten Redezeiten bis Anerkennung der PDS als Fraktion durch besonde-
zu 15 Minuten zusammenzufassen? ren Beschluß des Bundestages beantragt. Wer für
den Buchstaben A des Änderungsantrages der PDS
Die Willkürlichkeit - und deren politischer Hinter- stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen-
grund - wird erst recht offenbar an der Tatsache, daß probe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Än-
Sie der PDS lediglich den hälftigen Grundbetrag zu- derungsantrag der PDS mit der gleichen Mehrheit
billigen und uns damit in unserer Arbeitsfähigkeit wie vorhin abgelehnt.
entscheidend schwächen. Die PDS würde ca. 3 Mil-
lionen DM jährlich an Grundbeträgen mehr erhalten, Unter Buchstabe B des Änderungsantrages auf
wenn sie nur vier Sitze mehr errungen hätte. Wo ist Drucksache 13/724 werden sieben Änderungen des
da der Sinn, wenn es nicht der ist, unsere Arbeit ge- in der Beschlußempfehlung des Ältestenrates vorge-
genüber den anderen Fraktionen zu behindern? Wie sehenen Gruppenstatus gewünscht. Darüber stim-
wollen Sie an Hand dieser Vergleichszahlen rechtfer- men wir jetzt ab. Wer für diese Änderungen stimmt,
tigen, daß Sie den kleineren Fraktionen, die keines- den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! -
wegs doppelt so groß sind und auch nicht doppelt so- Stimmenthaltungen? - Der Änderungsantrag unter
viel Arbeit leisten, einen doppelt so hohen Grundbe- Buchstabe B ist mit der gleichen Mehrheit wie vorhin
trag zubilligen, übrigens einen ebenso hohen Grund- abgelehnt.
betrag wie den großen Fraktionen? Damit ist der Änderungsantrag auf Drucksache 13/
724 insgesamt abgelehnt.
Mit unseren Hilfsanträgen verfolgen wir das Ziel,
gerecht behandelt und den Fraktionen mindestens Nun kommen wir zu den Nrn. 1 und 2 der
gleichgestellt zu werden. Auch wenn Sie unserem Beschlußempfehlung des Ältestenrates auf Druck-
Hauptantrag nicht zustimmen wollen: Hören wir ge- sache 13/684. Wer diesen Nrn. 1 und 2 der Beschluß-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1673
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
empfehlung des Ältestenrates zustimmt, den bitte ich ren 1991 und 1992 steht die gesetzliche Krankenver-
um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthal- sicherung damit wieder auf einem soliden Funda-
tungen? - Dann sind die Nrn. 1 und 2 der Beschluß- ment. Man kann mit Fug und Recht sagen, daß diese
empfehlung mit der gleichen Mehrheit wie vorhin Reform ein Erfolgsmodell war und ist.
angenommen. Damit ist die Beschlußempfehlung des
Ältestenrates auf Drucksache 13/684 zur Rechtsstel- (Beifall bei der CDU/CSU)
lung der Abgeordneten der PDS im 13. Deutschen Der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz
Bundestag insgesamt angenommen. wurde zum 1. Januar 1995 in den alten Ländern aul
13,2 % und in den neuen Ländern auf 12,8 % redu-
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b ziert.
auf: Die erste Botschaft: Wir haben nach wie vor Über-
schüsse und eine Tendenz zu sinkenden Beiträgen in
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
der gesetzlichen Krankenversicherung.
rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Die zweite wesentliche Botschaft - auch das war
Sozialgesetzbuch - 3. SGB V-Änderungs- ein Kernziel des Gesundheitsstrukturgesetzes -: Die
gesetz - (3. SGB V-ÄndG) Beitragssatzunterschiede zwischen den verschiede-
nen Krankenkassen sind spürbar verringert worden.
- Drucksache 13/340 - Das ist ein Erfolg des Risikostrukturausgleichs. 36
aller gesetzlich Krankenversicherten hatten zu Be-
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- ginn der Gesundheitsreform einen Beitragssatz, der
desregierung Zweiter Bericht des Bundes- mehr als einen Prozentpunkt vom durchschnittlichen
ministeriums für Gesundheit zur Entwick- allgemeinen Beitragssatz abwich. Jetzt ist diese Ab-
lung der Beitragssätze in der gesetzlichen weichung nur noch bei 16 % der Krankenversicher-
Krankenversicherung und zur Umsetzung ten gegeben. Wenn man einmal die Versicherten be-
der Empfehlungen und Vorschläge der trachtet, die sogar um mehr als zwei Punkte vom all-
Konzertierten Aktion zur Erhöhung - der gemeinen durchschnittlichen Beitragssatz abwei-
Leistungsfähigkeit, Wirksamkeit und Wirt- chen, dann stellt man fest, daß sich dieser Anteil von
schaftlichkeit im Gesundheitswesen 16 % Anfang 1993 auf jetzt unter 3 % verringert hat.
(Zweiter Bericht nach § 141 Abs. 4 SGB V) Der Risikostrukturausgleich hat also seine gewollten
Wirkungen entfaltet. Damit sind entscheidende Vor-
- Drucksache 12/8570 -
aussetzungen für einen fairen Kassenwettbewerb
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für und auch für die erweiterte Wahlfreiheit der Versi-
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - cherten ab 1996 geschaffen worden.
Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so Das dritte - auch das war und bleibt ein Ziel dieser
beschlossen. Reform : Die Qualität der medizinischen Versor-
-
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Unterstellung. Das nehmen Sie jetzt bitte aber zu-
Nein, lieber Herr Dreßler, ich bin von Ihnen persön- rück, damit hier kein falscher Eindruck entsteht.
lich aufgeklärt worden. Wir beide haben darüber ge-
sprochen. Der Kollege Dreßler hat mir einige Bedin- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
gungen als Geschäftsgrundlage für eine Positivliste Das nehme ich zurück.
genannt. Einen Teil dieser Bedingungen habe ich
jetzt hier für die Öffentlichkeit wiedergegeben.
Rudolf Dreßler (SPD): Gut.
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sehr interessant!)
Eines ist der wesentliche Unterschied zum Jahre Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
1992. Diejenigen, die uns die Positivliste vorgeschla- Aber dann darf ich aus den Gesprächen, die wir dazu
gen haben, können jetzt nicht nachschieben: Dieses geführt haben, zitieren.
und jenes und ein Drittes kommt mit uns aber nicht (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ist ja in
in Frage. Ich sage, Herr Dreßler; Sie und einige Ihrer teressant! - Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Gibt
Kolleginnen und Kollegen haben sich durch öffentli- es keine Protokollanten? - Horst Friedrich
che Festlegungen, durch Podiumsdiskussionen ge-
[F.D.P.]: Es ist immer schlecht, wenn es kein
meinsam mit Koalitionsabgeordneten in einer Weise Wortprotokoll gibt!)
eingelassen, daß ich nicht mehr davon ausgehen
kann, daß diejenigen, die uns die Positivliste vorge- Ich sage ja: Ich habe die Fragestellungen, die ich
schlagen haben, die wir 1992 mitbeschlossen haben, hier eingebracht habe, für mich beantwortet. Herr
in der Öffentlichkeit dazu stehen, wenn es konkret Dreßler hat gesagt: Naturheilmittel, homöopathische
wird. Mittel, die positiv monographiert sind, können nicht
ausgegrenzt werden. Da habe ich gesagt, das wäre
Ein Spiel mache ich nicht mit: daß wir etwas umset- rechtswidrig, das könnte nicht gemacht werden.
zen, was Sie uns vorgeschlagen und was wir mit be- Ganz eindeutig.
schlossen und mit zu verantworten haben, und an-
schließend werden wir von Ihnen dafür geprügelt,
- (Rudolf Dreßler [SPD]: Gut!)
daß wir das umsetzen, was Sie uns vorgeschlagen ha-
Ich habe jetzt die Frage gestellt: Gibt es im Deut-
ben. Das machen wir nicht mit.
schen Bundestag jemanden, der ein Naturheilmittel,
(Beifall bei der CDU/CSU) ein sanftes Arzneimittel, aus dem Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenversicherung ausgrenzen
will? Das habe ich für mich beantwortet: Ich will das
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Sind Sie ein- nicht. - Darin stimmen wir überein.
verstanden, daß Herr Dreßler eine zweite Frage
stellt? Nur, Herr Kollege Dreßler, das Problem beginnt
dann, wenn eine ganze Indikation ausgegrenzt wird.
Wenn eine ganze Indikation ausgegrenzt wird, kön-
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: nen Sie nicht sagen: Das chemische Arzneimittel
Ja. wird aus dem Leistungskatalog der GKV herausge-
(Zuruf von der CDU/CSU: Obwohl die erste worfen, und das Naturheilmittel bleibt drin. - Das
ungehörig war!) würde beim Verfassungsgericht keinen Tag gelten.
(Rudolf Dreßler [SPD]: Ja, natürlich nicht!
Rudolf Dreßler (SPD): Unabhängig davon, Herr Das steht auch im Gesetz!)
Minister, daß das letzte, was Sie hier geäußert haben, Da haben Sie mir gesagt, Sie hätten vor Ihrer Frak-
eine Unterstellung war, frage ich Sie, ob Sie sich er- tion - nicht jetzt, sondern damals bei der Verabschie-
stens erinnern, daß ich in dem Gespräch, das wir er- dung des GSG - die Zusicherung gegeben. Das ha-
wähnterweise geführt haben, die Frage gestellt ben mir verschiedene Fraktionskollegen erzählt,
habe, ob Sie bereit wären, falls Gerüchte stimmten, auch der damalige Fraktionsvorsitzende, der mich
daß der Elferrat den Gesetzestext bei seiner Be- um Auskunft gebeten hat. Ich habe gesagt: Das steht
schlußfassung verletze, der da sagt, daß positiv mo- zwar nicht im Gesetz, aber offensichtlich sind diejeni-
nographierte homöopathische Mittel bis zum gen, die das Gesetz verabschiedet haben, von der
31. Dezember 1992 automatisch in die Positivliste Geschäftsgrundlage ausgegangen, daß Naturheilmit-
kommen, sich dem zu widersetzen, und ob Sie sich tel nicht ausgegrenzt werden können und sollten, je-
zweitens erinnern, daß Sie mir darauf geantwortet denfalls diejenigen nicht, die positiv monographiert
haben: „Falls Sie das nicht einhalten, werde ich das jetzt auf dem Markt sind, auch dann nicht, wenn ein
nicht unterschreiben", und daß ich dann gesagt ganzes Indikationsgebiet ausgegrenzt wird.
habe: Dann sind wir uns einig; dann gibt es keine
Probleme. (Rudolf Dreßler [SPD]: Das ist falsch!)
Das ist mein Problem.
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
Herr Kollege Dreßler, wenn Sie hier heute öffent-
Dann gibt es keine Positivliste, haben Sie gesagt.
lich sagen: „Ganze Indikationsgebiete auszugrenzen
trage ich mit, auch dann, wenn Naturheilmittel be-
Rudolf Dreßler (SPD): Dann gibt es keine Pro- troffen sind; ich bin bereit, Mittel gegen geringfügige
bleme, habe ich gesagt. Das ist ja nun wirklich eine Gesundheitsstörungen in die Verantwortung des Pa-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1677
Bundesminister Horst Seehofer
tienten zu übertragen" - das hat nämlich nichts mit - Ich habe damit überhaupt kein Problem.
Qualität zu tun, sondern mit sozialen Aspekten -,
dann lade ich Sie ein, zum Institut zu fahren und das (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Unser Mi
fachlich zu erörtern. nister hat kein Problem!)
Nur eines kann man nicht machen: Man kann Wir haben ein Gesetz und zwei Möglichkeiten.
nicht für die Positivliste eintreten und gleichzeitig Wahrscheinlich müssen wir beide Möglichkeiten be-
Bedingungen dafür definieren, was mit der Positivli- schreiten. Die eine Möglichkeit ist, daß Sie den Sach-
ste nicht geschehen darf, und zwar sozial, pharmako- verständigen sagen, das wollen Sie oder wollen Sie
logisch und medizinisch. Herr Dreßler, aus dieser nicht.
Diskussion werde ich Sie nicht entlassen.
Die zweite Möglichkeit ist, daß Sie vom Gesund-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU heitsminister, der nach dem Gesetz dafür verantwort-
und der F.D.P. - Rudolf Dreßler [SPD]: Wir lich ist, eine Liste bekommen, die Sie im Bundesrat
sind mittendrin!) billigen oder ablehnen können. Ich sage Ihnen nur:
Nach § 92a Abs. 5 Nr. 3 Sozialgesetzbuch V kön- Die Liste wird drei Dinge nicht enthalten. Sie wird
nen Arzneimittel gegen geringfügige Gesundheits- keine Indikationsgebiete ausschließen, weil ich das
störungen in der Positivliste nicht mehr enthalten aus verschiedenen Gründen - es würde die Zeit
sein. Nennen Sie der deutschen Öffentlichkeit ein heute überschreiten, darauf einzugehen - für außer-
oder zwei Arzneimittel, die nach Ihrer Auffassung ordentlich verhängnisvoll halte. Sie wird keine Aus-
jetzt zu Lasten des Versicherten ausgegrenzt werden grenzung von Bagatellarzneimitteln zu Lasten der
sollen! Versicherten enthalten.
Ich bitte um Vorschläge. Wenn Sie die Vorschläge (Zuruf des Abg. Horst Schmidbauer [Nürn
nicht selbst machen wollen, könnte ich Ihnen über berg] [SPD])
einen Pharmakologen eine Liste zukommen lassen,
und Sie kreuzen mir das an, was nach § 92a Abs. 5 - Ich habe kein Problem, Herr Schmidbauer. Sie ha-
Nr. 3 ausgegrenzt werden soll. Wir müssen- in ben in der „AZ" gesagt, wenn ich diese Meinung
Deutschland damit aufhören, daß man als Politiker verträte, würde ich wortbrüchig. Jetzt werden wir
ständig nur mit allgemeinen Aussagen Politik betrei- einmal sehen, welchen Dingen Sie zustimmen und
ben kann und nicht die moralische Pflicht hat, kon- welchen nicht. Sie veranstalten nach außen ein Thea-
kret zu werden. ter, und nach innen sind wir offensichtlich einer Mei-
nung, daß die Positivliste nicht der große Renner sein
(Beifall bei der CDU/CSU) kann.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, (Beifall bei der CDU/CSU - Rudolf Dreßler
der Kollege Dreßler möchte noch eine Frage stellen. [SPD]: Sie haben das Theater doch veran
staltet!)
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: - Nein, Wolfgang Lohmann, Herr Möllemann, Herr
Bitte. Thomae und Wolfgang Zöller haben in aller Gelas-
senheit auf dieses Problem hingewiesen. Sie haben
Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Seehofer, nach- gesagt: Gehen wir ehrlich mit der Bevölkerung um.
Der große Wurf wird das nicht werden. Deshalb: Fin-
dem wir den ersten Teil des Gesetzes abgearbeitet
ger weg! - Dann haben Sie von Wortbruch gespro-
und augenscheinlich einvernehmlich festgestellt ha-
chen. Wir halten mit allen Mitteln daran fest. Jetzt
ben, was bis zum 31. Dezember positiv monogra-
stehen Sie im Deutschen Bundestag auf und sagen:
phierte Präparate betrifft, darf ich Sie jetzt fragen: Ist
Wo ist eigentlich das Problem? In den Punkten, die
Ihnen bekannt, daß wir beide gemeinsam mit den
Sie genannt haben, sind wir einer Meinung.
Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundes-
tags in dieses Gesetz im folgenden Absatz den Fall (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)
geregelt haben, daß andere Präparate, Indikations-
gruppen nicht durch mich oder durch Sie - das ist Wir halten das fest, Herr Dreßler.
nämlich nicht unsere Aufgabe -, sondern durch das
Arzneimittelinstitut zur Streichung vorgeschlag en (Zurufe von der SPD)
werden, und daß das logischerweise in der Konse-
quenz auch homöopathische Indikationsgruppen - Wir halten fest, Frau Schaich-Walch und Frau
treffen kann? Steen: Wir sind einer Meinung. Dann darf aber auch
Herr Schmidbauer nicht mehr in München rumlau-
Wenn das so ist - und das steht im Gesetz -, frage fen und sagen: Wortbruch. Es kümmert mich zwar
ich Sie: Wo liegt eigentlich Ihr Problem, Herr Mi- nicht so sehr, wenn der das sagt. Das bereitet mir
nister? keine schlaflose Nacht. Ich stelle jetzt fest: Wir sind
in unserer Meinung ziemlich deckungsgleich. Ich
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: halte das für das Protokoll fest.
Ihr Problem liegt in Ihrer Aussage mir gegenüber -
Das zweite ist die Illusion, man könnte die Budge-
(Rudolf Dreßler [SPD]: Ihr Problem! Wo liegt tierung fortführen. Erstens müssen Sie auch hier in-
Ihr Problem?) nerhalb der SPD Klarheit schaffen. Herr Müntefe-
1678 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Martin hingewiesen habe: Wer durch höhere Selbstbeteili-
Pfaff, Sie haben das Wort. gung einen zusätzlichen Ertrag zugunsten der ge-
setzlichen Krankenversicherung erzielen will, wird
Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Präsident! Herr Bun- dies nur erreichen können, wenn er den Kranken-
desminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die hausaufenthalt und die ärztliche Behandlung in
heutige Plenardebatte sollte eigentlich zum 3. SGB- diese Selbstbeteiligung einbezieht.
V-Änderungsgesetz sein, Herr Minister, und die heu-
Wer dies nicht tut, hat keine Mark zusätzliche Ein-
tige Plenardebatte sollte eigentlich zum Zweiten Be-
nahmen, weil in allen anderen Bereichen die Selbst-
richt des Bundesministeriums der Gesundheit zur
beteiligung zum Teil schon über 10 % liegt - übri-
Entwicklung der Beitragssätze und zur Umsetzung
gens auch auf Grund des Vorschlages der SPD-Bun-
der Empfehlungen der Konzertierten Aktion sein. Sie
destagsfraktion, die Selbstbeteiligung bei Arzneimit-
sollte auch - das war sie teilweise sogar - zur Umset-
teln von der Packungsgröße abhängig zu machen.
zung des Gesundheitsstrukturgesetzes sein.
Sie haben zwar nicht die Selbstbeteiligung vorge-
Die heutige Debatte hat aber für mich, für uns, schlagen, aber die Art und Weise der Bemessungs-
meine ich, das gesundheitspolitische Dilemma auf- grundlage vorgeschlagen und zur Bedingung ge-
gezeigt, in dem Sie sich, Herr Seehofer, in dem sich macht. Diese Bedingung hat die Versicherten
die Koalition befindet. Sie hat die Widersprüche auf- 600 Millionen DM mehr gekostet.
gezeigt, in denen sich Ihre eigenen Berichte und Ihre
persönlichen Aussagen verstricken. Dennoch hat sie Weil wir diese nicht mehr weiter belasten können,
ein klein wenig, so hoffe ich jedenfalls, eine Chance habe ich den Ärzten und anderen gesagt: Sie müssen
für diese Legislaturperiode aufgezeigt. wissen, wenn Sie solche Forderungen stellen, daß
dies die Beteiligung an der ärztlichen Dienstleistung
Ich beginne mit dem strategischen Dilemma. Unser und am Krankenhausaufenthalt bedeutet. Aber bei-
früherer Kollege Paul Hoffacker hat es auf den Punkt des ist aus meiner Sicht nicht vorstellbar.
gebracht, als er sagte: Sie können hier einerseits un-
streitige Gesetze einbringen, wie das, was von dem (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Und
GKV-Anpassungsgesetz jetzt noch im 3. SGB-V-Än- die Frage?)
derungsgesetz enthalten ist. Das heißt, Sie können
hier faktisch den Eindruck, den viele haben, verstär- - Ob er das zur Kenntnis nehmen will, Herr Schmid-
ken, daß nämlich die Regierungskoalition in der Ge- bauer. Sie müssen lernen zuzuhören.
sundheitspolitik dieser Epoche ein zahnloser Tiger
ist. Und dies ist ein Beispiel.
Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Bundesminister Seeho-
Sie können andererseits natürlich nichtzustim- fer, ich nehme natürlich gerne alles zur Kenntnis -
mungsbedürftige Gesetze einbringen. Sie können auch wenn es mich manches Mal erstaunt -, was Sie
aus der Mottenkiste - Sie haben es kurz angespro- zur Gesundheitspolitik sagen. Sie denken aber über
chen - die Selbstbeteiligung wieder auferstehen las- eine unsinnige Regelung - so ähnlich haben Sie und
sen. andere Kollegen die Regelung an anderer Stelle ge-
Ich war doch sehr erstaunt, Herr Bundesminister: nannt - im Krankenhaus nach, wo der einzelne Pa-
Ist es nicht so, daß Sie am 10./11. Januar in den Ge- tient bzw. die einzelne Patientin eine äußerst be-
sprächen mit den Ärzten die Selbstbeteiligung the- schränkte Einwirkung auf die Verweildauer, auf die
matisiert haben, daß Sie die Ärzte gefragt haben, daß Behandlungsdauer hat. Wir wissen doch, daß die jet-
Sie einen Prüfauftrag an Ihr eigenes Haus gegeben zigen Formen eigentlich unsinnig sind, weil sie größ-
haben, über die Steuerungswirkung der Selbstbetei- tenteils zu hohe Verwaltungskosten nach sich zie-
ligung zu recherchieren? Dabei wissen wir doch alle, hen. Die Wirkung der zehnprozentigen Selbstbeteili-
daß sie nicht steuerungswirksam ist - deshalb kann gung, die Sie auf dem Petersberg am 10./11. themati-
man sie vergessen - und daß sie die sozialpolitischen siert haben, kennen wir.
Ziele der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt
Auch Ihre Fachbeamten waren bei der Vier-Län-
- deshalb muß man sie vergessen. Sie haben ja fä-
der-Konferenz vor wenigen Tagen, bei der es um die
hige Fachbeamte. Warum hören Sie nicht auf sie?
Reformerfahrungen in den USA, in Kanada, Holland
Warum bringen Sie dieses Gespenst, das wir in Lahn-
stein, hoffte ich, endgültig begraben hatten, heute und Deutschland ging. Dort war das einhellige Vo-
wieder in den Bundestag? tum der führenden Gesundheitsökonomen der Welt:
Laßt doch die Hände von der Selbstbeteiligung. Ent-
weder steuert sie nicht - dann kann man sie verges-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pfaff, ge- sen -, oder sie schränkt die Inanspruchnahme durch
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten die unteren sozialen Schichten ein; dann muß man
Seehofer? sie vergessen. Ich bin eigentlich enttäuscht, daß Sie
das hier immer wieder vorbringen müssen.
Dr. Martin Pfaff (SPD): Selbstverständlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Horst Seehofer (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege
Pfaff, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich bei
all den Gesprächen der letzten drei Monate auf dem Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Zöller
Petersberg immer wieder auf folgenden Umstand würde ebenfalls gerne eine Zwischenfrage stellen.
1680 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Dr. Ma rtin Pfaff (SPD): Ja, gerne, wenn es meine Seite sagen Sie, die Demographie und der technische
Redezeit nicht verändert, Herr Präsident, mit Genuß. Fortschritt seien keine kurzfristigen Faktoren für die
Ausgabendynamik; aber langfristig müsse man sehr
wohl das gesamte System in Frage stellen. Mit
Vizepräsident Hans Klein: Natürlich nicht. Bitte,
Freude glaubte ich feststellen zu können, daß Sie vor
-
Herr Bundesminister, wenn Sie so weitermachen, (Rudolf Dreßler [SPD]: Das ist aber eine mu
wenn Sie GKV-Anpassungsgesetze bringen, - von de- tige Aussage!)
nen Sie selber wissen, daß sie Lahnstein in Frage Denn wo kämen wir hin, wenn Politik darin bestehen
stellen, wenn Sie die Positivlisten in Frage stellen, müßte, daß einmal mit größerer oder kleinerer Mehr-
wenn Sie die Umsetzung nicht mit Nachdruck betrei-
heit Beschlossenes nie wieder in Frage gestellt wer-
ben, dann provozieren Sie geradezu ein Schlußwort den dürfte?
von mir: Herr Bundesminister, nicht in Lahnstein, in
Philippi sehen wir uns wieder! (Klaus Kirschner [SPD]: Das tut doch nie-
mand!)
(Beifall bei der SPD - Heiterkeit des Bun
desministers Horst Seehofer - Wolfgang Zum Stichwort Positivliste stellen wir fest, daß es
Zöller [CDU/CSU]: Schon wieder ein neuer seit jener Zeit eine Reihe von Änderungen, Regelun-
Urlaubsort!) gen und Ergebnissen gegeben hat - siehe Verord-
nungsverhalten der Ärzte beispielsweise -,
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wolfgang (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Zulassungsver
Lohmann, Sie haben das Wort. fahren!)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Daß er etwas Nun haben Sie klagend festgestellt, daß die Bud-
von der Sache versteht!) getierung fortgesetzt werden müßte, weil weitere
große Defizite drohten. Niemand von uns kann tat-
daß Sie in der Sache diskutieren und vor allen Din- sächlich sagen, daß die Gefahr von Defiziten nicht
gen nicht mit Unterstellungen oder sogar Verleum- wieder auf uns zukäme. Das ist gar keine Frage. Der
dungen arbeiten. Deswegen bin ich ein bißchen ent- Minister hat das eindeutig erklärt. Deshalb muß wei-
täuscht. tergedacht werden: Was kommt danach? Das haben
wir von Anfang an gesagt.
Sie haben mit dem Hinweis begonnen - das war zu
Recht -, wir seien zusammengekommen, um den Be- Wir sind der Auffassung, daß wir zu unserem Wort
richt des Bundesministers zu diskutieren und die stehen müssen: Die Budgets müssen ersatzlos weg-
Zahlen zu hören. Die Zahlen hat er Ihnen genannt, fallen.
das Positive und das teilweise Bedenkliche an den
Zahlen. Unsere Fraktion und unsere Koalition sagen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so
Die Zahlen sind das eine. wie bei der F.D.P.)
1684 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsident Hans Klein: Ich bin leider verpflich- Ziel verantwortungsbewußter Gesundheitspolitik
tet, Sie jedesmal zu fragen. Wenn die Kollegen es muß es doch sein, das in Lahnstein im Konsens Ent-
nicht einsehen, kann ich es nicht ändern. Ich muß Sie schiedene da zu ergänzen und zu ändern, wo eine
immer wieder von neuem fragen. Realisierung nicht sinnvoll oder sogar kontraproduk-
tiv sein würde.
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): (Klaus Kirschner [SPD]: Wer bestimmt das?)
Ich würde mir nie erlauben, Sie zu kritisieren. Ich
wollte nur sagen, ich verstehe nicht, daß einige Kolle- Meine Damen und Herren von der SPD, wer nicht
gen es nicht hören können, was ich gesagt habe. Ich mehr in der Lage ist, dazuzulernen und Entscheidun-
möchte jetzt im Zusammenhang vortragen. gen der Vergangenheit in Frage zu stellen, der ver-
liert jede Politikfähigkeit.
Frau Schaich-Walch, ich habe auch den erwähnten
Text dabei. Ich will es nur zeigen, damit nicht jemand (Zuruf von der SPD: Das ist unglaublich!)
sagt, daß ich das so nicht gesagt habe. Die Veröffent-
lichung liegt sogar schriftlich als Aufsatz vor. Sie ha- Die CDU/CSU-Fraktion möchte sich das jedenfalls
ben sinngemäß folgendes gesagt: nicht nachsagen lassen.
Erstens. Die Positivliste darf kein Korrekturinstru- Da ich jetzt sogar noch zwei Minuten Zeit habe,
ment für erteilte Zulassungen werden. wäre ich in der Lage, Fragen zu beantworten.
Zweitens. Es dürfen durch die Positivliste keine In- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
novationsbehinderungen eintreten. Es müssen so- DIE GRÜNEN]: Herr Präsident, meine Trop
ziale Belange berücksichtigt werden. fen!)
Drittens. Substitutionseffekte und damit Verteue- Wenn die aber nicht kommen, dann bedanke ich
rungen der Arzneimittelversorgung müssen vermie- mich für Ihre Aufmerksamkeit.
den werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Viertens. Die bewährten hausärztlichen- Medika-
mente - dazu zählen auch die Arzneimittel der be-
sonderen Therapieeinrichtungen - müssen in die Po- Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven-
sitivliste aufgenommen werden. Es darf, so Frau tion erteile ich das Wort dem Kollegen Pfaff; bitte
Schaich-Walch, weder ein Substitutionseffekt noch vom Platz aus.
eine Therapielücke entstehen.
Dazu sage ich, ähnlich wie vorhin bei Herrn Farth- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Kollege Lohmann,
mann: Recht hat die Frau! Und wo sie recht hat, muß das Protokoll wird es zeigen, Sie haben mir nicht
sie auch recht behalten. Ich frage dann nur: Wozu nur Fehlaussagen bzw. Unterstellungen, sondern
dann eigentlich eine Positivliste, eine Liste, in der al- auch Verleumdungen hier in den Mund gelegt,
les das steht, was wir zur Zeit auch haben? Wollen und das trifft mich schon angesichts der Rolle, die
Sie, weil die Farbe Ihnen besser gefällt, die „Rote Li- ich versucht habe im letzten Deutschen Bundestag
ste" des Bundesverbandes der Pharmazeutischen In- und auch in Lahnstein bei diesem Gesetzgebungs-
dustrie, des BPI, verfahren zu spielen. Wenn Sie mir rhetorische
Überspitzungen - na gut, das gehört auch mal
(Klaus Kirschner [SPD]: Rot ist immer gut!) dazu - vorwerfen, dann sage ich dazu gar nichts.
die gültig ist, zur Positivliste erheben? Vielleicht ist Aber ich möchte Sie jetzt doch ganz herzlich bitten
Ihnen diese Farbe lieber, aber jedenfalls steht das al- - das sage ich ohne jede Polemik -, entweder die-
les da drin. sen Vorwurf zurückzunehmen oder ihn jetzt zu
belegen.
Wir möchten uns an diesen Spiegelfechtereien
nicht beteiligen und wollen deswegen auch die Ge- Danke.
spräche, die jetzt geführt werden, woran einige ha-
ben teilnehmen können, andere nicht. Es ist das Na- (Beifall bei der SPD)
türlichste von der Welt, daß man versucht, alle auf
dem Gesundheitsmarkt in allen Schichten der Bevöl- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lohmann.
kerung und unter allen Beteiligten diskutierten un-
terschiedlichen Lösungsansätze, wenn man ehrlich
und fair ist, zunächst einmal seriös zu diskutieren, Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
abzufragen, was der einzelne will, ob er dafür seriöse Herr Kollege Pfaff, was den Beleg anbelangt, was Sie
Gründe anbringen kann oder ob er möglicherweise ganz konkret gesagt haben, so muß ich genau wie
Hintergedanken für solche Wünsche hat, um sich auf Sie warten, bis das Protokoll da ist. Meine Erinne-
dieser Basis ein Urteil zu bilden. Und wenn Sie dann rung ist - deshalb stehe ich auch dazu -, daß Sie u. a.
so freundlich sind und diese und jene Äußerung gesagt haben: Wer schon solche Fragen stellt - bei-
auch einmal nachlesen und auch wirklich ernst neh- spielsweise zum Stichwort Selbstbeteiligung -, der
men - dafür wäre ich dankbar; gleiches möchte ich hat auch die entsprechenden Vorstellungen und die
auch bei Ihnen gern tun -, dann werden Sie feststel- entsprechenden Wünsche. Dann haben Sie entspre-
len, daß die vorhin gemachten Unterstellungen alle chende Behauptungen vorgetragen. Ich sage: Das ist
falsch sind. eben eine Verleumdung. Wenn Sie das so gesagt ha-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1687
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)
I ben und auch so gemeint haben, dann kann es nicht Begründet wird diese Forderung vordergründig mit
anders sein. dem demographischen Wandel, dem medizinisch
echnisFortudensigKot.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Morgen früh, halb sechs, Herr Minister, Sie als Minister dürfen selbstver-
Rheinwiesen! - Heiterkeit - Rudolf Dreßler ständlich immer, wenn Sie es wünschen, eine Presse-
[SPD]: Säbel! - Joseph Fischer [Frankfurt] konferenz abhalten. Aber mich hat es doch sehr be-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säbel oder fremdet, daß Sie heute morgen, bevor Sie das dem
Pistolen! Anders geht es nicht!) Parlament zugeleitet haben, neue Daten zur Gesund-
Herr Professor Pfaff, wenn ich sage: Sie sehen jünger heitsstrukturreform, zur Krankenkassenabrechnung
aus, als Sie sind!, und Sie mir dann unterstellen woll- vorgelegt haben. Das wollte ich hier einmal gesagt
ten, ich wollte Sie verleumden, dann ist das doch si- haben. Ich fand schon, daß das eine Mißachtung des
cher falsch, oder nicht? Parlaments war.
(Rudolf Dreßler [SPD]: Jetzt küßt euch! - Es hat sich gezeigt, daß die SPD in der Tat unabläs-
Zuruf von der CDU/CSU: Geht einen trin sig Bekenntnisse zum GSG ablegt. Aber viel interes-
ken, ihr beiden! Ich gehe mit! - Weitere Zu santer sind die Pressemitteilungen der CDU der letz-
rufe) ten Zeit, im Vorfeld dieser gesundheitspolitischen
Debatte, die wir hier heute haben. Herr Lohmann,
Vizepräsident Hans Klein: Also nach normalen Re- von Ihnen hätte ich hier eine ganz andere Rede er-
geln, Herr Professor Pfaff, war dies eine ganz tolle wartet.
Feststellung.
(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Ja, und jetzt? -
Ich erteile das Wort der Kollegin Marina Steindor. Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Welche
denn? Sagen Sie es einmal!)
Marina Steindor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen --t und Sie haben in der letzten Zeit ein Papier veröffentlicht,
Herren! Gesundheitspolitisch kommt es in Deutsch- in dem Sie ein neues Konzept für die Gesundheits-
land derzeit zu allerlei Merkwürdigkeiten. Durch die politik entwickelt haben und in dem Sie sich ganz im
Vorgaben des Grundgesetzes ist in weiten Bereichen Sinne des Neokonservatismus der 90er Jahre geäu-
der Gesundheitspolitik ein politisches Patt entstan- ßert
den, da Bundesregierung und SPD-Bundestagsfrak-
tion in dieser Frage regelrecht aneinandergekettet (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was ist denn
sind. Es kommt in dieser Frage, wie wir es eben sehr das? Ist das was zum Essen?)
schön erlebt haben, zu geradezu theaterreifen Auf-
führungen. und hin zu Facetten der F.D.P.-Politik bewegt haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Uwe Lühr [F.D.P.]: Das kann man nur lo
Thema heute sollte eigentlich die relativ unumstrit- ben!)
tene Änderung des Fünften Buches Sozialgesetz-
buch sein. Wir sollten einen veralteten Bericht des Dort haben Sie sich von Prinzipien, die man eigent-
Bundesministers für Gesundheit lich bei Wählern Ihrer Partei gut aufgehoben vermu-
tet, verabschiedet.
(Bundesminister Horst Seehofer: Keine Be
leidigungen!) (Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Na, na! -
über die Entwicklung der Beitragssätze der Kranken- Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
versicherung diskutieren, der noch den Geist von CSU]: Beispiele!)
Lahnstein, der hier immer wieder einmal beschworen
wird, atmet. Um das Ganze zu vernebeln - ich werde noch aus-
führen, was Sie vorgeschlagen haben -, kommt es Ih-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ein Geist at rerseits unablässig zu Bekenntnissen zum Solidarsy-
met nicht!) stem. Man beachte aber die feinsinnigen Unterschei-
In dem Text dieses Berichtes ist keine Kritik an dem dungen: Heute hat der Minister nur noch von „so-
Gesundheits Strukturgesetz zu entdecken. Derselbe
-
zialer Ausrichtung" des Gesundheitssystems gespro-
CDU/CSU-Minister hat sich aber, wie sein Abrücken chen.
von der Positivliste zeigt, wie seine Presseverlautba-
rungen zeigen, innerlich schon lange vom GSG ver- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ausgewogen
abschiedet. heit!)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weiterent Ich konnte Ihrer Pressemeldung entnehmen, daß
wickelt!) Sie einen Teilausstieg aus dem Solidarsystem der
Er forderte - das hat er heute ausdrücklich gesagt - Krankenversicherung planen,
schon vor der Verabschiedung des GSG eine dritte
Stufe. (Bundesminister Horst Seehofer: Falsch! -
Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Auch das ha
(Bundesminister Horst Seehofer: Ja!) ben Sie falsch entnommen!)
1688 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Marina Steindor
indem Sie die Arbeitgeber ein Stück weit aus der Ge- Wir haben die Situation, daß ein marktliberal aus-
samtverantwortung für die Krankenkasse entlassen, gerichtetes System von sogenannten freien Berufen -
die Arbeitgeberbeiträge durch Schaffung einer Ober- dazu gehören Masseurinnen und Masseure, Ärztin-
grenze prozentual festlegen und den Rest der Kran- nen und Ärzte, Krankengymnastinnen und Kranken-
kenkassenbeiträge auf dem Rücken der Versicherten gymnasten und auch marktliberaler ausgerichtete
frei floaten lassen. Krankenhäuser - auf ein nach innen solidarisch aus-
gerichtetes Krankenkassensystem folgt. In Lahnstein
(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Für einen hat ein christlich-sozialer Minister mit dem Risiko-
Teilausstieg ist nur der Schröder!) strukturausgleich und der Kassenwahlfreiheit einen
- Das ist ein anderes Politikfeld, Herr Möllemann. Schritt - das wurde von der SPD eingebracht - in
Das wissen Sie ganz genau. Aber wir sind ja beide Richtung wohlfahrtsstaatliche Einheitskasse akzep-
neu in der Gesundheitspolitik. tiert. Eigentlich hätte man erwarten können, daß Sie,
Herr Minister, in der Tradition der bismarckschen
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ konservativen Sozialstaatspolitik das Kastensystem
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der nach gesellschaftlichen Schichten und Berufs-
F.D.P.) gruppen aufgeteilten Krankenkassen mit Zähnen
und Klauen verteidigt hätten. Jetzt erkenne ich Ten-
Ich werte diese Presseerklärung als einen Abbau denzen, daß die Christlich-Soziale Union auf dieses
des Solidarsystems, als die Entwicklung eines Schmalspursolidarsystem einschwenkt. Das geht in
Schmalspursolidarsystems, das Sie im Hinterkopf ha- Richtung der Linie der F.D.P.
ben.
Die F.D.P. würde sich bei diesem Kurs, wenn Sie
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Woher wissen ihn weiterfahren, politisch durchsetzen. Das wird sie
Sie, was er im Hinterkopf hat?) sehr freuen; denn die F.D.P. betreibt eine Politik, mit
der sie bei dem Durcheinander der Facetten unseres
Ich hätte von Ihnen eigentlich erwartet, daß Sie das
Gesundheitssystems die Systemgegensätze marktli-
hier offen ausführen und nicht nur in Pressemittei-
- beral ausgleichen will. Sie will, daß alles marktliberal
lungen an die Öffentlichkeit geben.
wird. Die Krankenkassen sollen privatisiert werden;
Sie haben vor, die Diskussion um die Krankenkas- auch die Arbeitgeberentlastung ist ihre Idee.
senbeiträge an die Standortsicherungsdebatte zu
Wir hingegen sagen bei Kenntnisnahme dieser wi-
koppeln. Die SPD, die solchen Änderungen ja im
dersprüchlichen Facetten des Gesundheitssystems,
Bundesrat zustimmen muß, wird in den nächsten
daß die Erhaltung und der Ausbau des Solidarsy-
Jahren - davon bin ich fest überzeugt - in dieser De-
batte unter Druck gesetzt, in der Hoffnung, daß sie, stems der Krankenversicherung der Ausgangspunkt
für jegliche Reform des Gesundheitswesens sein
ähnlich wie bei der Pflegeversicherung, irgendwann
muß. Wir wollen solidarisch ausgerichtete Ärztinnen
einmal, nach jahrelanger Auseinandersetzung, wenn
und Ärzte sowie Versorgungsstrukturen. Wir wollen
man das genügend hochgeschaukelt hat, umfällt.
die ambulante Versorgung aus dem Konzept des
(Bundesminister Horst Seehofer: So weit ha EBM genauso befreien wie die SPD. Wir wollen aber
ben wir noch gar nicht gedacht!) auch Krankenhäuser, die die Versorgung der Patien-
ten im Vordergrund sehen und nicht Gewinninteres-
Ich hoffe nicht, daß es soweit kommt. sen.
Aber ich möchte Ihnen noch etwas anderes sagen. Für uns - das möchte ich noch einmal ausdrücklich
Sie haben heute ausgeführt, Herr Minister Seehofer, betonen - ist Gesundheit kein Bereich für die Markt-
daß unser Gesundheitssystem in der letzten Zeit wirtschaft. Es geht dabei um existentielle Bedürf-
durch 6 800 Einzelbestimmungen geändert worden nisse der Menschen.
ist. Meine Damen und Herren, auch wir finden, daß
dieses Gesundheitssystem wirklich Konstruktions- (Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
fehler hat, weil es aus Versatzstücken unterschiedli- bei der PDS)
cher, nicht miteinander vereinbarer Sozialstaatsmo-
delle besteht. Es geht um ein gewachsenes System der kollektiven
Absicherung von Lebensrisiken. Für uns ist die soli-
(Abg. Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] darische Krankenversicherung eine kulturelle Errun-
[CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen genschaft von höchstem Wert.
frage)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten
Sie eine Zwischenfrage? Die gesetzliche Krankenversicherung ist ein tragen-
des solidarisches Band in dieser fragmentierten, indi-
vidualisierten Gesellschaft, und sie ist einer der
Marina Steindor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Grundpfeiler unserer Demokratie. Deshalb kann es
Nein. Ich möchte meine Äußerungen zu diesem Teil nicht angehen, daß man die Arbeitgeber ein Stück
gern ohne Unterbrechung zu Ende bringen. Wenn weit daraus entläßt. Bei Gesundheitspolitik geht es
ich schnell genug bin, am Ende der Rede, selbstver- um Schmerzen, um Krankheiten, um Angst vor dem
ständlich. Wir können uns aber auch im Ausschuß Tode, und das darf keine Sache des Geldbeutels wer-
noch unterhalten. den.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1689
Marina Steindor
Wenn Sie, Herr Minister Seehofer, immer behaup- gen, daß der Hinweis mit der Jungfernrede kommen
ten, wir müßten das Solidarsystem der Krankenkas- würde. Es ist schon etwas Ungewöhnliches, in mei-
sen vom Staub des letzten Jahrhunderts befreien, nem Alter und bei meinen Dienstjahren hier eine
dann sage ich, daß das, was Herr Lohmann derzeit Jungfernrede halten zu dürfen.
an die Presse gibt, die Menschen ein Stück weit in
die existentielle Angst des letzten Jahrhunderts zu- (Heiterkeit)
rückversetzt,
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
(Zuruf von der CDU/CSU: Eben nicht! Das Kollegen, unser Gesundheitswesen ist krank. Es
Gegenteil ist der Fall!) krankt an Überregulierung. Es krankt an den Wir-
kungen eines seit 20 Jahren währenden Kosten-
als Gesundheit noch viel stärker als heute eine Frage dämpfungsbürokratismus in Gestalt von 6 800 Ein-
der sozialen Schicht war. zelregelungen. Dirigismus und Interventionismus
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ sind der Rheumatismus unseres freiheitlichen Ge-
CSU]: Eben nicht, gnädige Frau!) sundheitssystems.
(Beifall bei der F.D.P. - Joseph Fischer
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lohmann, [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
jetzt werden Sie zu einer Zwischenfrage geradezu Harte Kritik an der Bundesregierung!)
aufgefordert.
Gesundheitspolitischen Rheumatismus behandelt
man aber nicht mit Ideen, die selbst rheumatisch
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
sind, weil sie zu lange in den Feuchtkellern der Büro-
Ich möchte die knappe Zeit nicht lange in Anspruch
kratie gelagert haben. Die gesellschaftlichen Heraus-
nehmen. Ich frage deshalb mit einem einzigen Satz:
forderungen der nächsten Jahrzehnte, die das Ge-
Sind Sie in der Tat der Meinung, daß unsere Sozialsy-
sundheitswesen an die Politik stellt, sind enorm. Sie
steme schlechthin und das Gesundheitssystem im
sind mit einem System, das sich hart an der Grenze
besonderen in keinerlei Beziehung zu den ökonomi-
schen Verhältnissen und zu der Frage- Standort zum staatlichen Gesundheitswesen bewegt, nicht zu
meistern. Die F.D.P. wird sich daher dem Konzept ei-
Deutschland stehen? Dieser Meinung sind Sie in vol-
nes bloß graduellen Wandels, der den gegenwärti-
lem Umfang und mit allen Konsequenzen tatsäch-
gen Regulierungsdschungel weiter düngt, entgegen-
lich? - Die Frage ist zu Ende!
stellen.
Jürgen W. Möllemann
versteht weder etwas von elementarer Physik noch ten strukturierten Gesundheitswesens zu erarbei-
von Gesundheit. ten.
(Beifall bei der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Ihr habt das auch nö
tig!)
Denn wer wollte ernsthaft glauben, eine chirurgische
Ausgabenkappung sei ohne krasse Qualitätsverluste Das Gesundheitssystem der Zukunft darf den Na-
möglich? Die Budgetierung ist und war kein Steue- men der Freiheit nicht nur tragen, um dem alten Diri-
rungsinstrument der Gesundheitspolitik, sondern gismus neuen Schmuck anzulegen.
eine etatistische Notbremse, die wir Liberalen nur
(Zuruf von der SPD: Wo bleibt der Beifall?)
unter der Bedingung ihrer zeitlichen Begrenzung ak-
zeptiert haben. Die negativen Auswirkungen der Nein, das Gesundheitssystem der Zukunft muß frei-
Budgetierung beispielsweise auf die ärztliche Versor- heitlich im Sinne eines wettbewerblich organisierten
gungssituation sind bekannt. Der Punktwert für das und gesteuerten Systems sein, und in einem solchen
ambulante Operieren ist so weit gefallen, daß viele Wettbewerbsmodell wird die Budgetierung ebenso-
Anbieter nicht mehr in der Lage sind, kostendeckend wenig einen Platz haben wie eine Positivliste.
zu arbeiten, es sei denn, unter Verzicht auf die Be-
handlung von Kassenpatienten. Das kann doch von (Beifall bei der F.D.P.)
niemandem gewünscht sein. Alle diejenigen, die sich
Da mögen Sie darüber lamentieren, daß wir uns
auch über das Jahr 1995 hinaus auf dem Budgetie-
aus dem Konsens von Lahnstein hinausschleichen
rungssofa ausruhen wollen, lade ich daher zu einem
wollten, aber hier liegt ein Irrtum vor. Wir schleichen
gesundheitspolitischen und gedanklichen Trimm-
uns nicht hinaus, wir gehen hinaus, aufrecht und
sport ein.
klar, weil wir an diesem Punkt lieber sachdienliche
Wir brauchen, verehrte Kolleginnen und Kollegen Politik machen, als uns an einen kleinsten gemeinsa-
von der SPD, nach dem, was Sie bisher gesagt ha- men Nenner zu klammern, und ich füge hinzu: Ein
ben, Lösungen und keine Ausreden. Selbst Herr Lahnstein II sollte es nicht geben.
Müntefering - er ist nun einmal Gesundheitsminister
- (Beifall bei der F.D.P.)
im Land Nordrhein-Westfalen -,
Meine Damen und Herren, ein Wettbewerbsmo-
(Klaus Kirschner [SPD]: Zu Recht!) dell, wie immer dies im einzelnen auch aussehen
beklagt sich mittlerweile - ich zitiere ihn - über die mag, wird die Wettbewerbskräfte auf breiter Front
klassisch planwirtschaftliche Situation, Stichwort zur Entfaltung bringen müssen. Es muß dem Versi-
Budgetierung, unseres Gesundheitswesens. cherten ein Höchstmaß an Wahlmöglichkeiten an die
Hand geben.
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Hört! Hört!)
(Zuruf von der SPD: So war es vor drei Jah
Ist es eigentlich vernünftig, etwas, was im Konsens ren auch!)
beschlossen wurde, von dem dann einer Ihrer füh-
So muß sich der Versicherte für Kostenerstattung, für
renden Kollegen selbst sagt, das sei eine klassische
Beitragsrückvergütungssysteme oder innovative Ver-
planwirtschaftliche Situation, um des Konsenses wil-
sorgungsformen entscheiden können. Das Motto lau-
len zu erhalten? - Ich meine das nicht. Ich würde
tet natürlich Selbstverantwortung, Selbststeuerung
gerne von Johannes Rau wissen, was denn nun gilt:
und Selbstbeteiligung.
die Meinung seines ortsansässigen Kollegen Dreßler
oder die seines Ressortministers Müntefering. Ich kann hier nur staunen, wie man einen Begriff
zu diskreditieren versucht, der in weiten Teilen des
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll Gesundheitswesens doch von allen gemeinsam ge-
mer) wollt wird. Deswegen wird man so nicht weiter vor-
Auf der anderen Seite verwahren wir uns, meine gehen können.
Damen und Herren, auch gegen eine Art intellek- Auch im Vertragsrecht müssen wettbewerbliche
tuellen Schweinsgalopp, mit dem mancher noch in Freiräume geschaffen werden.
allernächster Zeit eine vermeintlich neue Struktur
des Gesundheitswesens politisch präjudizieren und
festzurren möchte. Das Gebot der Stunde kann unse- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
res Erachtens nur lauten - übrigens ein typisches Ge- eine Zwischenfrage?
bot der Fastenzeit, lieber Herr Fischer; ich dachte,
Sie seien mit der beschäftigt -,
Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Ich würde den Ge-
(Zuruf von der SPD: Er telefoniert!) danken gern erst zu Ende führen.
innezuhalten, Raum zu schaffen für einen gesund- Warum müssen sich die Aufsichtsbehörden perma-
heitspolitischen Paradigmenwechsel. nent in Verträge einmischen, die auf freiwilliger Ba-
sis zwischen Leistungsanbietern und Kankenkassen
Wir veranstalten deswegen hier im alten Plenar- geschlossen worden sind? Warum müssen Verträge
saal Wasserwerk einen gesundheitspolitischen Kon- eigentlich einheitlich und gemeinsam von den Kran-
greß, um im Dialog mit allen Beteiligten die Eck- kenkassen geschlossen werden, wenn sie doch im
punkte eines nach wettbewerblichen Gesichtspunk- Wettbewerb zueinander stehen sollen? Warum will
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1691
Jürgen W. Möllemann
man verhindern, daß Krankenkassen die positiven Nur ein liberales, nach wettbewerblichen Kriterien
Effekte ihres Verhandlungsgeschicks gegenüber den strukturiertes Gesundheitswesen wird aus unserer
Leistungsanbietern über niedrigere Beitragssätze an Sicht der Größe der Aufgaben gewachsen sein kön-
ihre Versicherten weitergeben können? nen, die in der Gesundheitspolitik auf uns zukom-
men.
(Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!)
An die Adresse meiner Vorrednerin habe ich dann
Freiberuflichkeit, Therapiefreiheit und freie Arzt- doch die Bitte: Frau Kollegin, Sie haben, wie auch
wahl sind und bleiben Grundpfeiler unseres Gesund- ich, das zu bürokratischen Perfektionismen neigende
heitswesens. Die heutigen Zulassungsbeschränkun- System der Vergangenheit kritisiert. Aber Sie haben
gen müssen in einem System, das flexibel sein soll, dann darauf verzichtet, darzulegen, welche Alterna-
auf den Prüfstand. Wer eine Gesundheitsversorgung tive die GRÜNEN demnächst denn entwickeln wol-
auf hohem Niveau will, muß auf das Wissen der Lei- len.
stungsanbieter setzen, der darf z. B. nicht den aner-
kannten Heilberuf des Apothekers durch angebliche (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Rationalisierungsmaßnahmen à la Versandhausapo- Das kommt!)
theke kaputtmachen. Sie haben sich darauf beschränkt, darzulegen, daß
sich Gesundheitspolitik und das Gesundheitssystem
Dem Versicherten muß die Möglichkeit gegeben nicht an Marktmechanismen orientieren sollen.
werden, über den Umfang seiner Aufwendungen für
Gesundheit selbst zu entscheiden. Es ist zwar klar, (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das war eine tolle
daß es einen solidarisch zu finanzierenden Kernbe- Botschaft!)
reich des medizinisch Notwendigen geben muß.
Diese Forderung darf aber nicht dazu mißbraucht - Diese Botschaft - ich weiß nicht, ob Sie die tatsäch-
werden, einer Volksversicherung das Wort zu reden. lich ernstgemeint haben. Dies meine ich etwa im
Blick auf den Umgang von Krankenhäusern mit öf-
Es ist mit unseren liberalen Überzeugungen jeden- fentlichen Mitteln. Diese Botschaft, glaube ich, wäre
falls nicht zu vereinbaren, daß der Staat darüber ent- nun wirklich nicht zu vertreten.
scheidet, wieviel seinen Bürgern ihre Gesundheit Ich freue mich jedenfalls darauf, meine lieben Kol-
wert zu sein hat. Hier müssen die Entscheidungs- leginnen und Kollegen, an der vom Bundesminister
kompetenzen aus den Händen des Staates in diejeni- und den Sprechern der Koalition des öfteren ange-
gen seiner Bürger zurückgegeben werden. kündigten tatsächlichen Reform unseres Gesund-
(Beifall bei der F.D.P.) heitswesens unter dem Titel „Weg von staatlicher Be-
vormundung und Inte rv ention hin zu einem wirkli-
Deshalb gehen die Vorstellungen - etwa der Zahn- chen Freiheits- und Wettbewerbsmodell" mitarbeiten
ärzte - in die richtige Richtung: Grundversorgung zu können.
über die gesetzliche Krankenversicherung, alles dar-
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
über hinaus in die freie Entscheidung der Versicher-
ten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Zurufe von der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
Im übrigen soll sich jeder sein eigenes Gesundheits- jetzt die Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs.
paket auch selbst und eigenständig gestalten kön-
nen. Dr. Ruth Fuchs (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da-
Wir werden ein solches Wettbewerbsmodell gegen men und Herren! Der heute zur Debatte stehende
die gedankliche „große Koalition" derjenigen vertre- zweite Bericht des Bundesministeriums für Gesund-
ten, die den heute bestehenden Interventionismus, heit zur Entwicklung der Beitragssätze in der gesetz-
Bürokratismus und Etatismus unter lediglich ande- lichen Krankenversicherung und zur Wirksamkeit
rem Namen fortschreiben wollen. Etatismus nenne der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen be-
ich jede Bevormundung des Bürgers in Fragen der stärkt leider erneut, jedenfalls für mich, die Erkennt-
Gesundheitspolitik, die in den ureigensten Entschei- nis, daß die Regierung vor der großen Aufgabe, die
dungsbereich des einzelnen fallen. gesetzliche Krankenversicherung langfristig - ich
betone: langfristig - zu stabilisieren, versagt hat.
Meine Damen und Herren, auch im Gesundheits- Fest steht: Alle bisherigen Interventionsbemühun-
wesen muß der erwähnte Etatismus endlich abdan- gen haben nur kurzfristige Wirkung erzielt und letzt-
ken. Es reicht nicht aus, wenn Herr Müntefering auf lich mehr neue Probleme geschaffen, als bestehende
der einen Seite und die gesundheitspolitischen Spre- gelöst. Mit dem Gesundheits-Reformgesetz, das 1989
cher der Koalition und der Bundesminister auf der in Kraft trat, wurden zwar erhebliche finanzielle Auf-
anderen Seite vollkommen zu Recht das Dilemma be- wendungen auf die Versicherten abgewälzt, die da-
klagen, daß nun schon über fast zwei Jahrzehnte ein mit angestrebte Kostendämpfung wurde jedoch be-
Interventionismus nach dem anderen, eine Kette von stenfalls für nur zwei Jahre erreicht.
Interventionismen, erfolgt ist, die zu der erwähnten
großen Zahl von mehreren tausend Regelungen ge- Bereits 1992 war erneut eine dramatische Situation
führt hat, und daß letztendlich schon wieder über die in der gesetzlichen Krankenversicherung entstan-
nächste Kette nachgedacht wird. den. Bei einem Rekorddefizit von fast 10 Milliarden
1692 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie gnügungspflichtige Angelegenheit ist. Das befreit
eine Zwischenfrage, Frau Kollegin? Sie aber nicht von der Pflicht, Herr Bundesgesund-
heitsminister, das GSG umzusetzen. Das gilt auch für
die Positivliste, wie es im Gesetz steht.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Ich habe diesbezüglich
schon einmal negative Erfahrungen gemacht. Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
bitte, jetzt noch nicht. Ein halbes oder dreiviertel ten der PDS)
Jahr später bin ich gerne bereit, auf solche Fachfra-
gen zu antworten. Ich sage Ihnen: Es ist unverständlich, wenn Sie ei-
nerseits fordern, die Instrumente des GSG konse-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Dann haben wir die Reform von der quent umzusetzen, und dann die Positivliste in
Frage stellen. Nicht das Parlament und nicht die Mit-
Bühne!)
glieder des Gesundheitsausschusses sind hier in der
Verantwortung. Sie sind in der Verantwortung, einen
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Ich möchte nur noch einen entsprechenden Verordnungsentwurf vorzulegen.
Satz sagen. Ich wünsche dem heute ebenfalls auf der
Tagesordnung stehenden Entwurf eines Dritten Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wolf
setzes zur Änderung des Fünften Buchs Sozialgesetz- gang Zöller [CDU/CSU]: Das macht er!)
buch, und zwar in der vorliegenden Form, eine ra-
sche Verabschiedung und eine schnelle Inkraftset- Sie wissen ganz genau, was das Gesetz vor-
zung, denn in der Praxis wird diese Umsetzung ge- schreibt. Dieser Verantwortung - dazu fordern wir
braucht. Sie auf - haben Sie zunächst einmal nachzukommen.
Wenn Sie hier fragen, welches Medikament hinein
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. soll oder herausgenommen werden soll, dann kann
(Beifall bei der PDS) ich Ihnen nur eines sagen: Ich kenne Ihren Verord-
nungsentwurf bis heute noch nicht. Wir warten alle
gespannt auf Ihren Vorschlag, den Sie zu unterbrei-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das- Wort hat ten haben.
jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner.
Die drei Fragen, die Sie hier stellen, müssen Sie
sich selbst beantworten. So ist der Weg, und der Bun-
Klaus Kirschner (SPD): Frau Präsidentin! Meine desrat wird dem zustimmen oder nicht. Das ist Ihre
Damen und Herren! Der von der Bundesregierung Aufgabe, dafür sind Sie letzten Endes Minister. Ganz
vorgelegte Gesetzentwurf des Änderungsgesetzes einfach.
zum SGB V ist mit dem Satz umschreibbar: Er kommt
spät, aber er kommt wenigstens. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Denn mehr als ein Drittel der Bestimmungen des ten der PDS - Bundesminister Horst Seeho
vorgelegten Gesetzentwurfes soll rückwirkend in fer: Beantworten Sie Fragen?)
Kraft treten. Ich kann nur feststellen, Herr Bundes-
- Herr Kollege Seehofer, ich habe noch nie eine
gesundheitsminister: Auch ein Bundesminister hat
zuerst seine Hausaufgaben zu machen. Dem Profil Frage abgelehnt.
eines Bundesankündigungsministers für Gesundheit
(Widerspruch bei der CDU/CSU - Wolfgang Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Kirsch-
Zöller [CDU/CSU]: Da müssen Sie selber la ner, würden Sie politisch, nicht in Ihrer Kompetenz
chen!) als Mitglied des Deutschen Bundestags, sondern als
Angehöriger der Mehrheitspartei, die im Bundesrat
- ja, das wird Ihnen nicht gefallen - entsprechen Sie die Mehrheit stellt, einer Liste zustimmen, die der
spätestens seit Ihren Versprechungen vom April Gesundheitsminister in seiner Verantwortung vorlegt
1994, und die zugunsten der Patienten die Arzneimittel
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der umfaßt, die heute in Deutschland zugelassen sind
PDS) und für die Verordnung zur Verfügung stehen? Ich
würde momentan eine solche Liste als die einzige
wo Sie angekündigt haben, zum BSE eine klare Linie mögliche Alternative unter gesundheitspolitischen
einzuschlagen und sozialen Gesichtspunkten betrachten. Würden
Sie einer solchen Liste zustimmen?
(Bundesminister Horst Seehofer: Wo?)
- beim BSE -, als das jetzt mit der Verordnung der (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Reichen Sie
Fall ist. Ich sage nur: Das können wir uns nicht lei- doch die Rote Liste ein, Herr Minister!)
sten.
Er hat gesagt, ich habe eine Verantwortung. Die
Sie kündigen die nächste Reformstufe für die ge- möchte ich gerne wahrnehmen. Aus meiner Verant-
setzliche Krankenversicherung an, und andererseits wortung heraus halte ich es gegenüber den Patien-
werden die Hausaufgaben von Ihnen sträflichst ver- ten, den Kranken und den Versicherten nur für ver
nachlässigt. Nun weiß jeder, daß die gesetzliche antwortbar, alle Medikamente, die heute für die The-
Krankenversicherung ein vermintes Gelände - das rapie zur Verfügung stehen und zugelassen sind,
bestreitet niemand - und alles andere als eine ver- dem Bundesrat als Positivliste zuzuleiten.
1694 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Horst Seehofer
Ich wollte Herrn Kirschner, der diese Verantwor- Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Seehofer, Sie
tung eingefordert hat, fragen, ob er einer solchen Li- werden mich doch nicht dazu bringen,
ste politisch seine Unterstützung in Aussicht stellen
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
kann.
daß ich Ihnen die Arbeit abnehme.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kirschner, (Beifall bei der SPD)
bitte.
Ich sage Ihnen doch nur ganz einfach eines - ich
freue mich ja, daß das zu Heiterkeitsstürmen ge-
Klaus Kirschner (SPD): Herr Bundesgesundheits- radezu herausfordert -: Noch gibt es - ich denke, da
minister, sind wir uns einig - eine klare Verantwortungstei-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ich würde ja lung zwischen Exekutive und Legislative. Ich denke,
sagen!) zuerst einmal ist der Bundesgesundheitsminister am
Zug, seinen Vorschlag vorzulegen. Dann wird man ja
§ 34a SGB V lautet: sehen, was in seinem Vorschlag enthalten ist. Dann
Der Bundesminister für Gesundheit erläßt durch wird darüber zu diskutieren sein. Wir warten zuerst
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundes- einmal auf das, was die Fachleute vorlegen.
rates die Vorschlagsliste nach § 92a Abs. 5 als Li- (Zuruf von der CDU/CSU: Er sagt es Ihnen
ste verordnungsfähiger Fertigarzneimittel in der doch gerade! - Horst Seehofer [CDU/CSU]:
vertragsärztlichen Versorgung nach Prüfung ih- Ich sage es doch gerade!)
rer Vereinbarkeit mit den in § 92 a aufgestellten
Voraussetzungen und anderen Rechtsvorschrif- - Entschuldigen Sie bitte; ich kenne doch überhaupt
ten. gar nicht, was der Bundesgesundheitsminister vorle-
gen will. Das soll er zuerst einmal machen.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Macht er!)
Die Listen, die der Kollege Lohmann herumreicht,
Die Rechtsverordnung ist erstmals bis zum habe ich nicht.
31. Dezember 1995 zu erlassen. -
(Wolfgang Friedrich Lohmann [Lüden
Das heißt ganz einfach: Wir warten einmal darauf, scheid] [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen das ja
was Sie denn eigentlich vorlegen werden. gegeben! Sie wollen es nicht lesen!)
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich sage Ihnen nur eines - ich weiß nicht, ob ich das
So einfach ist das. Ich wüßte nicht, daß die Mehr- Gesetz falsch lese -: Das Gesetz sieht doch zunächst
heitsverhältnisse plötzlich anders geworden sind, so einmal vor, daß ein Vorschlag der Sachverständigen
daß Sie jetzt einen Rollentausch machen wollen. des Arzneimittelinstituts kommt. Dieser Vorschlag
wird dann dem Bundesgesundheitsminister zugelei-
tet. Danach ist es seine und nicht meine Aufgabe,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Vorschlagsliste zu unterbreiten.
eine zweite Frage des Abgeordneten Seehofer?
(Wolfgang Friedrich Lohmann [Lüden
scheid] [CDU/CSU]: Das tut er ja auch!)
Klaus Kirschner (SPD): Gern.
Dann werden wir unsere Meinung dazu sagen; vor-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir wären ja her werden wir nichts unternehmen. Wir wollen ein-
zufrieden, wenn er die erste beantwortet!) mal abwarten, was der Bundesgesundheitsminister
vorschlägt.
Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Kirsch-
ner, der Bundesminister für Gesundheit würde es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
nach dem heutigen Informationsstand unter Beach- jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs?
tung des § 34 a SGB V, den Sie gerade vorgelesen ha-
ben, unter juristischen, pharmakologischen, medizi-
nischen und sozialen Gesichtspunkten - Klaus Kirschner (SPD): Ja, selbstverständlich.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: In Anbetracht (Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich eben
der Tatsache, daß Herr Seehofer jederzeit in seiner falls zu einer Zwischenfrage)
Eigenschaft als Bundesminister reden darf, stellt sich
-
die Frage, ob wir ihm mehr als zwei Zwischenfragen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aber ich bitte
einräumen sollten. doch alle Kollegen, im Interesse auch derjenigen, die
später noch reden müssen - ich halte ja jedesmal die
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er kann doch
als Abgeordneter fragen! - Wolfgang Loh Uhr an -, mit den Zwischenfragen etwas zurückhal-
mann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Wenn tend zu sein. Aber bitte, wenn Sie sie gestatten.
hier schon Gedichte vorgetragen werden,
dann kann man auch eine weitere Frage zu Marina Steindor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
lassen!) Herr Kirschner, teilen Sie meine Auffassung, daß
eine Positivliste per definitionem nicht die gesamte
Wenn Sie das gestatten? - Bitte. Liste der verordnungsfähigen Medikamente sein
kann und daß in den europäischen Nachbarstaaten,
Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Kirsch- die eine Positivliste haben, die Menschen nicht ge-
ner, ich frage Sie jetzt noch einmal - das ist meine sünder und nicht kränker sind als in der Bundesrepu-
Verantwortung nach der Prüfung -: Wenn ich eine blik Deutschland?
Verordnung mit zwei Paragraphen vorlege, die besa-
gen, daß erstens in die Liste der verordnungsfähigen Klaus Kirschner (SPD): Zum letzteren: Es ist si-
Medikamente alle derzeit zugelassenen Arzneimittel cherlich sehr schwierig, das zu vergleichen. Aber ich
aufgenommen werden - das wäre der § 1 - und daß will grundsätzlich dazu sagen - ich denke, darauf
diese Verordnung - das wäre § 2 - am 1. Januar 1996 zielt Ihre Frage ab -: Das Instrument der Positivliste
in Kraft tritt, könnten Sie dann einer solchen Sache ist nicht in der Bundesrepublik Deutschland erfun-
politisch zustimmen? den worden, sondern auch andere Länder arbeiten
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das dritte damit mit sehr guten Erfolgen. Ich denke, darum
Mal keine Antwort! - Weiterer Zuruf von geht es letzten Endes bei dem Instrument der Positiv-
der CDU/CSU: Scharping fragen!) liste.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege, ich unter- CSU]: Die positivste Positivliste hat die ehe
breite Ihnen den Vorschlag: Reden Sie doch nicht malige DDR gehabt!)
ständig, was in die Liste aufgenommen werden soll
oder nicht, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine weitere
(Lachen bei der CDU/CSU) Zwischenfrage, bitte.
Jörg Tauss
der Bundesregierung Argumente dafür zu liefern, die mensteigerung von knapp 2,5 % und Ausgabenstei-
dazu führen können, daß die Positivliste, die ja im gerungen zwischen 6,5 und 7,5 %. Ich meine, diese
Gesetz steht, nicht umgesetzt werden muß? Warnsignale kann doch niemand ignorieren. Im übri-
gen können wir die Aussagen zu den Ausgabenent-
wicklungen der letzten Jahre in dem heute unter die-
Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Tauss, es ist
doch völlig klar - wer will denn das bestreiten? -, daß sem Tagesordnungspunkt vorgelegten Bericht nach-
lesen. Ich denke, notwendig ist - deshalb läßt sich
es bei der gesetzlichen Krankenversicherung - der
diese Diskussion auch nicht von der Positivliste tren-
Kollege Möllemann hat das vorher deutlich gemacht -
nen -, die Instrumente des GSG wirklich konsequent
sehr unterschiedliche Interessen gibt. Dabei ist unbe-
umzusetzen.
stritten, daß bei einer Positivliste auch wirtschaftli-
che Interessen berührt werden. Genau darum geht
es. Meine Damen und Herren, noch einige Bemerkun-
gen zum vorliegenden Gesetzentwurf. Ein Beispiel
Deshalb sage ich noch einmal: Wir halten die Posi- für wichtige Regelungen, die längst hätten in Kraft
tivliste für notwendig. Es muß entschieden werden, getreten sein müssen, sind die Verteilungsregelun-
was zur vertragsärztlichen Verordnung gehört, und gen für die Krankenversicherungsbeiträge, die von
zwar unter dem Gesichtspunkt der Qualität. Um den Rentenversicherungen für die pflichtversicher-
nichts anderes geht es. ten Rentner an die Bundesversicherungsanstalt für
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Angestellte gezahlt werden, die diese dann an die
Krankenkassen zu leiten hat.
Daß dabei wirtschaftliche Interessen berührt sind,
sagte ich schon. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Das ist wahr!)
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wie ist das mit
der Therapiefreiheit?)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, um das
- Kollege Dr. Thomae, was heißt denn das - das Unwort des Jahres 1994 nicht noch einmal in Mißkre-
würde ich schon gerne wissen wollen -: „Wie ist es dit zu bringen: Es handelt sich bei der seit dem
mit der Therapiefreiheit?" Heißt das - darf ich Sie so 1. Januar 1995 bestehenden Regelungslücke nicht
interpretieren? -, daß alles - - um „peanuts"; es geht vielmehr um fehlende Rege-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Zugelassen ist! lungen für annähernd 30 Milliarden DM.
- Zuruf von der SPD: Um die Zulassung
geht es ja gerade!) Das erst jetzt vorgelegte 3. SGB-V-Änderungsge-
setz enthält immer noch nicht sämtliche für die Kran-
- Aber, jetzt bitte ich Sie! Wir führen doch eine sehr kenversicherung notwendigen Regelungen. Ein Bei-
ernsthafte Diskussion - die führen Sie in Einzelge- spiel für einen Mangel des 3. SGB-V-Änderungsge-
sprächen, die führen wir im Ausschuß - darüber: Was setzes ist das weitere Hinausschieben von im Ge-
ist notwendig, was ist nicht notwendig? sundheitsstrukturgesetz verbindlich vorgegebenen
Ich sage dazu nur eines: Wir werden hier doch in Transparenzregelungen. Bekanntlich ist ja zur Ver-
Kürze den Entwurf eines Psychotherapeutengesetzes besserung der Kosten- und Leistungstransparenz in
beraten. Auch da wird darüber diskutiert werden der gesetzlichen Krankenversicherung neben ande-
müssen: Was ist notwendig und was nicht? Sonst ren Transparenzdaten die Einführung der Diagnose-
wäre das schon lange im Leistungskatalog drin. verschlüsselung im ambulanten und im stationären
Bereich zum 1. Januar 1995 vorgesehen. Die jetzt an-
Nur das Schlagwort „Therapiefreiheit" in den gestrebte Verschiebung der Verschlüsselung um ein
Raum zu stellen - ich bitte Sie! Sie können doch nicht Jahr ist ein Rückschritt und eine Verbeugung vor der
sagen: Alles, was heute an Therapien überhaupt an- bisherigen Untätigkeit der Ärzteschaft, den Diagno-
geboten wird, gehört in den Leistungskatalog. Viel- seschlüssel fristgerecht einzusetzen. Sie ist aber auch
mehr geht es darum - und das ist Aufgabe aller Be- eine Ohrfeige für die Krankenhäuser, die den Dia-
teiligten, nicht zuletzt auch Aufgabe der Selbstver- gnoseschlüssel fristgerecht einsetzen. Damit wird die
waltung von Ärzten und Krankenkassen, d. h. des Umsetzung des GSG-Konzeptes zur Verbesserung
Bundesausschusses -, festzulegen, welche Therapien der Leistungs- und Kostentransparenz und der dar-
gesichert sind. auf basierenden Regelungen zur Wirtschaftlichkeits-
prüfung und Qualitätssicherung vorerst nicht mög-
Allerdings sage ich Ihnen auch ganz offen: Uns lich.
geht es darum, daß alles das, was zur Behandlung
von Krankheiten medizinisch notwendig ist, ohne
Abstriche in den Leistungskatalog hineinkommt. Letztlich werden damit auch weiterhin Entschei-
dungen aus dem hohlen Bauch provoziert. Denn,
Meine Damen und Herren, nun möchte ich noch meine sehr verehrten Damen und Herren, so klein-
ein paar Bemerkungen zur Umsetzung der struktu- klein sich diese Regelung auch anhört: Transparenz-
rellen Maßnahmen des Gesundheitsstrukturgeset- daten bilden die Grundlagen für weitreichende Ent-
zes machen. Der Bundesgesundheitsminister hat vor- scheidungen zur Steuerung des Gesundheitswesens.
hin gesagt: Die Instrumente des GSG sind konse- Kein Unternehmen, das immer wieder Entscheidun-
quent umzusetzen. Die Finanzdaten, die er vor weni- gen ohne betriebswirtschaftlich fundierte Kennzah-
gen Stunden der Öffentlichkeit vorgestellt hat, zei- len treffen muß - genau darum geht es -, hat auf
gen beispielsweise: Wir haben eine Grundlohnsum- Dauer eine Überlebenschance, wenn dadurch mögli-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1697
Klaus Kirschner
cherweise kostenintensive Fehlentscheidungen her- nichts kurz vor der Bundestagswahl 600 Millionen
ausgefordert werden. Das ist eines der größten struk- DM als Wahlgeschenke über den Tisch geschoben
turellen Defizite im System der gesetzlichen Kran- werden sollen, die letzten Endes die Versicherten
kenversicherung. hätten zahlen müssen?
Nachdem es nun aber so ist, wie es ist, das GSG (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
damit auch in diesem Punkt nicht konsequent umge- Wir haben Ihnen den richtigen Weg gewiesen, in-
setzt wird und nachdem jetzt eine neue Fassung des dem wir gesagt haben: Gefragt ist die Solidarität in-
Diagnoseschlüssels zum 1. Januar 1996 angekündigt nerhalb der Ärzteschaft. Diese Umverteilung hat in-
worden ist, werden wir unter Rückstellung aller Be- nerhalb der Ärzteschaft stattzufinden. Dieses ist der
denken und unter der Voraussetzung, daß ab 1. Ja- richtige Weg.
nuar 1996 die neue Fassung zeitgleich Anwendung
sowohl im ambulanten als auch im stationären Be- Im übrigen: Lassen Sie sich doch etwas einfallen,
reich findet, den Gesetzentwurf insgesamt mittragen. und denken Sie über das nach, was innerhalb der
Ich sage Ihnen aber jetzt schon: Wir werden einen Ärzteschaft diskutiert wird, nämlich ob es nicht sinn-
entsprechenden Entschließungsantrag der SPD-Bun- voll ist, zwei getrennte Honorartöpfe zu schaffen.
destagsfraktion zur Einführung des ICD-Schlüssels Dann haben Sie das Problem gelöst. Wir sind für ent-
einbringen. Ich kündige Ihnen dies hiermit an. An sprechende Vorschläge offen.
der Zustimmung Ihrerseits, daß dies verbindlich zum
1. Januar 1996 in Kraft tritt, werden wir ja sehen, wie Meine Damen und Herren, ich erinnere auch an
glaubwürdig Ihr Verschiebungsargument ist. den von Ihnen ebenfalls im Entwurf eines GKV-An-
passungsgesetzes unternommenen und von uns ver-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Na, na!) eitelten Versuch der Abkehr vom Sachleistungsprin-
zip in der gesetzlichen Krankenversicherung.
- Das werden wir dann sehen.
Ich erinnere ferner an den Versuch - der Kollege
Meine Damen und Herren, ein weiteres Beispiel Möllemann hat ja darauf hingewiesen -, in der zahn-
-
dafür, daß der vorgelegte Gesetzentwurf noch immer medizinischen Versorgung bei den Zahnfüllungen
nicht alles Notwendige enthält und damit immer ein Konzept der Grund- und Wahlleistungen durch
noch nicht einem entsprechenden Auftrag des Ge- die Hintertür einzuführen. Das ist Leistungsausgren-
sundheitsauschusses des Deutschen Bundestages zung durch die kalte Küche. Das wird die SPD nicht
zum GSG gerecht wird, sind die fehlenden Folgere- mitmachen.
gelungen zu der festgelegten Schließung des DO-Sy- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die SPD hat bei
stems bei den sogenannten RVO-Krankenkassen. der letzten Reform ganze Blöcke ausge
grenzt!)
Meine Damen und Herren, wir werden diesen Ge-
setzentwurf - das habe ich Ihnen gesagt - zügig be-
raten. Ich warne Sie jedoch vor der Versuchung, wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
beim GKV-Anpassungsgesetz Wahlgeschenke zu eine Zwischenfrage?
verteilen oder sich von gemeinsam ausgehandelten
Grundlagen für die Weiterentwicklung des Gesund-
Klaus Kirschner (SPD): Bei Herrn Kollegen Zöller
heitswesens zu verabschieden, wie Sie es im vergan-
immer.
genen Jahr bereits erfolglos getan haben.
Ich sage Ihnen auch eines: Versuchen Sie nicht, Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Danke schön. - Auf
das Artikelgesetz für Aussiedler mit dranzuhängen. Grund dessen, was Sie eben sagten, frage ich Sie:
Solche Spielchen werden wir nicht mitmachen, bzw. Stimmen Sie meiner Meinung zu, daß das bisherige
dann sage ich Ihnen nicht mehr die zügige Beratung System eigentlich ungerecht ist? Wenn nämlich je-
zu. Ich denke, es ist in unser aller Interesse, daß Sie mand eine Zahnversorgung für 4 000 DM wählt, be-
das nicht tun. kommt er einen Zuschuß von 40 %. Hat er aber mehr
Geld und wählt sich einen Zahnersatz für 12 000
Meine Damen und Herren, ich sagte vorhin: Wir DM, bekommt er einen absolut gesehen wesentlich
könnten schon weiter sein. Im vergangenen Jahr ha- höheren Zuschuß. Wir befinden uns also momentan
ben Sie den Entwurf eines GKV-Anpassungsgeset- in der fatalen Situation, daß wir die Reichen auf Ko-
zes vorgelegt. Dieser Entwurf ist an uns gescheitert, sten derer bezuschussen, die weniger verdienen.
weil wir die damals vorgesehenen Mehrausgaben in
Höhe von 600 Millionen DM nicht akzeptieren konn-
ten. Klaus Kirschner (SPD): Der höchste Zuschuß be-
trägt 60 %. Ich gebe Ihnen gern zu, daß das ein Pro-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Schade, blem ist. Herr Kollege Zöller, ich nehme aber diese
schade!) Unzulänglichkeit lieber in Kauf, als zu einem Festbe-
tragssystem zu kommen, was ein großer Teil der
- Kollege Dr. Thomae, ich frage mich: Wie glaubwür- deutschen Zahnärzte will. Sie alle kennen doch die
dig sind Sie eigentlich, wenn Sie einerseits sagen, Gefahren, die dahinterstecken: Ein Festbetragskon-
die Lohnnebenkosten dürften sich nicht erhöhen, da zept läuft letzten Endes auf eine Versorgung nur
es um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Indu- noch mit Grundleistungen hinaus, und darüber hin-
strie gehe, während andererseits mir nichts, dir aus gibt es eben Wahlleistungen. Damit haben Sie
1698 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Klaus Kirschner
dann durch die Hintertür die Zweiklassenmedizin Klaus Kirschner (SPD): Lassen Sie mich einen
eingeführt. Schlußsatz sagen, Frau Präsidentin. Die SPD setzt auf
Kontinuität und Berechenbarkeit. Wir werden unter
Ich sage Ihnen ein Zweites: Alles, was über die dem geschilderten Vorbehalt den vorgelegten Ent-
Festbeträge hinausgeht, fällt aus der Wirtschaftlich- wurf eines 3. SGB-V-Änderungsgesetzes zügigst be-
keitsprüfung • und aus den Qualitätssicherungsmaß- raten.
nahmen heraus. Wenn Sie dies tun, Herr Kollege Zöl-
ler, werden Sie ein anderes Krankenversicherungssy- Vielen Dank.
stem schaffen. Dann bekennen Sie sich bitte auch
(Beifall bei der SPD und der PDS)
dazu! Mit uns werden Sie das nicht hinbekommen.
(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
Ich sage noch einmal: Das jetzige System weist Un- jetzt Herr Minister Seehofer.
zulänglichkeiten auf, aber das Konzept von Grund-
und Wahlleistungen wird unsere gesetzliche Kran- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
kenversicherung völlig verändern in Richtung einer Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Damit
Zweiklassenmedizin. Ich kann nur hoffen, daß Sie sich in den nächsten Wochen bis zur Wahl in Nord-
dies nicht wollen. rhein-Westfalen nicht einige Dinge immer wieder
festmachen, die niemand will, möchte ich ganz klar
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen ma- feststellen:
chen zu der derzeit geführten und, wie ich Ihnen sa-
gen möchte, völlig überhasteten und unproduktiven, Erstens. Niemand beabsichtigt Rationierung oder
ja sogar kontraproduktiv angezettelten Diskussion Leistungsausgrenzung.
über eine weitere Reform im Gesundheitswesen. Sie
(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt!)
können sich noch so sehr davon distanzieren, aber
Ihr Fragenkatalog fragt letzten Endes nach Lei- Zweitens. Ich habe hier noch einmal gesagt: Ich
stungskürzungen und nach einer grundlegenden halte höhere Selbstbeteiligungen im deutschen Ge-
Neubestimmung des Leistungskatalogs, -nach einer sundheitswesen nicht mehr für verantwortbar und
Klassifizierung des gesundheitsgefährdenden Ver- möglich.
haltens und letzten Endes nach einem Ausschluß von
mehr oder weniger selbstverschuldeten Krankheiten. Drittens. Herr Kirschner, damit Sie auch zu den
Vertrags- und Wahlleistungen keinen Popanz auf-
Herr Minister Seehofer, wenn Sie dem Kollegen bauen: Es könnte durchaus sein, daß man zu der Auf-
Möllemann vorhin aufmerksam zugehört haben, fassung kommt, die Vertragsleistungen seien der Lei-
können Sie doch nicht bestreiten, daß die F.D.P. - ich stungskatalog, den wir heute in der deutschen Zahn-
denke, daß der Herr Möllemann für die F.D.P. und heilkunde haben.
damit für einen Teil der Regierungskoalition redet -
wohl eine ganz andere Intention dieser Weiterent- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
wicklung der gesetzlichen Krankenversicherung in Ich möchte Sie fragen, ob Sie dagegen sein können.
den Raum stellt, als Sie es vorhin mit Ihren Fragen
und Antworten getan haben. Viertens. Noch einmal zur Positivliste: Ich lasse es
einfach nicht im Raum stehen, wenn gesagt wird, un-
Sie können hier nicht sagen, die SPD male ein sere Haltung zur Positivliste sei ein Kniefall vor der
Schreckensbild an die Wand. Wenn ich mir die Rede Pharmalobby.
von Herrn Kollegen Möllemann noch einmal vor Au-
gen halte, dann war es genau das, was Sie in Abrede (Zuruf von der SPD: Was sonst?)
gestellt haben, was aber ein Teil der Koalition will, Wir beurteilen das allein im Hinblick auf die Auswir-
nichts anderes. kungen auf den Patienten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Widerspruch bei der SPD)
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS) Und wenn für den Patienten 10 000 oder 20 000 Me-
dikamente weniger zur Verfügung stehen als heute,
Ich sage Ihnen noch eines, meine Damen und Her- ist dies zunächst einmal ein Schlag gegen die Versi-
ren von der Koalition. Bevor Sie sich zu weiteren Re- cherten und Kranken.
formankündigungen motiviert fühlen, die Sie dann,
wenn Sie die Mehrheitsverhältnisse endlich begrif- (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)
fen haben, wieder zurücknehmen müssen, sage ich Wir haben einen Schlag mitgemacht, den Sie zu
Ihnen zum x-tenmal: Für die SPD ist die Rationie- verantworten haben, Herr Kirschner, Herr Pfaff und
rung von Leistungen indiskutabel. Herr Schmidbauer, nämlich die Umstellung der
(Zurufe von der CDU/CSU: Für uns auch! - Selbstbeteiligung auf die Packungsgröße, die die
Da sind wir uns einig!) Versicherten mit 600 Millionen DM mehr belastet.
Sie verschweigen in der Öffentlichkeit, daß diese
- Wenn wir uns einig sind, ist das ja prima. Umstellung, die Sie zur Bedingung für die Zustim-
mung zur Gesundheitsreform gemacht haben, die
Versicherten mit 600 Millionen DM belastet.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aber Ihre Rede-
zeit ist jetzt zu Ende. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1699
Bundesminister Horst Seehofer
Ein zweiter Schlag gegen die Versicherten und Pa- Klaus Kirschner (SPD): Herr Bundesgesundheits-
tienten, den Sie uns aufdrücken wollen und den wir minister, ich weiß gar nicht, warum Sie sich so erre-
dann politisch zu verantworten haben, findet mit der gen.
Koalition nicht statt: eine Leistungsausgrenzung auf
Grund einer Positivliste, aus der wir nach Ihrer Vor-
stellung das eine oder andere Naturheilmittel heraus- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
nehmen müßten, weil wir ganze Indikationen her- Nein, ich bin sehr gelassen. Warten Sie mal ab, wenn
ausnehmen, aus der wir Billigarzneimittel heraus- ich mich aufrege!
nehmen müßten, weil das nach Ihrer Vorstellung
weiter verfolgt werden soll. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
F.D.P.)
(Widerspruch bei der SPD)
- Dann sagen Sie bitte, daß Sie das nicht wollen; Klaus Kirschner (SPD): Ich wollte Ihnen nur die
dann ist die Positivliste heute um 15.43 Uhr mit Zu- Frage stellen, ob Ihnen nicht gegenwärtig ist, wel-
stimmung der Opposition beerdigt. Aber sagen Sie chen Text wir gemeinsam in den § 92a hineinge-
es! schrieben haben. Dann frage ich Sie des weiteren,
(Beifall bei der CDU/CSU) Herr Bundesgesundheitsminister: Warum lassen Sie
nicht zu, daß die elf Sachverständigen des Arzneimit-
telinstituts ihren Vorschlag auf den Tisch legen, um
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Bundesmi- dann Ihre Entscheidung zu treffen? Warum nehmen
nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sie nicht Ihre Verantwortung wahr? Gehen Sie mit
Kirschner? mir einig, daß Sie diese Verantwortung wahrzuneh-
men haben? Oder wollen Sie sie nicht wahrnehmen?
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
Ich lasse die Zwischenfrage zu, aber vielleicht kann (Zuruf von der SPD: Drücken will er sich!)
der Fragesteller noch auf folgendes eingehen.
- Zum zweiten. Herr Bundesgesundheitsminister,
Herr Kirschner, wenn ich mich recht erinnere, ha- wenn Sie so tun, als ob eine Positivliste des Teufels
ben wir am Ende der letzten Legislaturperiode hier wäre, warum haben Sie bzw. Ihr Vorgänger eine Ne-
im Bundestag und mit Zustimmung der Bundeslän- gativliste in Kraft gesetzt?
der eine Reform des Arzneimittelrechts im Konsens
verabschiedet,
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) Ich fange bei dem letzten und Einfachsten an. Ein
Arzneimittel, das negativ monographiert ist, kommt
und zwar eine Reform des Arzneimittelrechts mit der in der Vergangenheit und in der Zukunft auf die Ne-
Qualitätssicherung bei den Nachzulassungen der gativliste und wird nicht verordnet. Darum geht es
fiktiv zugelassenen Arzneimittel. Mit Ihrer Zustim- nicht.
mung ist beschlossen worden, daß fiktiv zugelassene
Arzneimittel, also Alt-Arzneirhittel, entweder ein nor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
males Zulassungsverfahren durchlaufen oder, wenn Zuruf von der F.D.P.: Kann nicht zugelassen
das nicht gewollt ist, bis zum Jahre 2004 verkauft werden! - Klaus Kirschner [SPD]: Sie haben
werden können. doch gerade von Bagatellarzneimitteln ge
Herr Kirschner, wie wollen Sie der Öffentlichkeit redet!)
erklären, daß Sie vor wenigen Monaten hier im Deut- - Herr Kirschner, wir müssen hier doch wirklich kei-
schen Bundestag mit beschlossen haben, daß diese nen Unterricht erteilen. Das negativ monographierte
Arzneimittel, die Sie heute als bedenklich einstufen, hat mit Bagatellarzneimitteln überhaupt nichts zu
nach dem Arzneimittelrecht bis zum Jahre 2004 ver- tun. Es ist ein zweifelhaftes Arzneimittel. Ein Baga-
kauft werden dürfen? Jetzt wollen Sie die gleichen tellarzneimittel ist ein Arzneimittel, das aus sozialen
Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzli- Gründen ausgegrenzt werden kann, weil es so billig
chen Krankenversicherung zu Lasten der Patienten ist oder nur bei geringfügigen Gesundheitsstörungen
hinauswerfen. So liederlich und so schlampig dürfen eingesetzt wird.
Politiker bei der Gesetzgebung nicht arbeiten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Noch einmal, damit wirklich klar ist, was wir mei-
nen - jetzt wird mir erst deutlich, daß wir offensicht-
daß wir nun das Gegenteil dessen machen, was wir lich völlig unterschiedliche Informationsstände ha-
vor einigen Monaten gemacht haben. ben -: Das, was negativ monographiert ist, ist in der
Vergangenheit auf die Negativliste gekommen und
Vielleicht beerdigen wir sie jetzt, wenn Sie, Herr wird in der Zukunft auf die Negativliste kommen.
Kirschner, mir hier erklären: Keine Naturheilmittel
raus, keine ganzen Indikationsgebiete raus und Zweitens. Im Jahre 1992 hatten wir im Grundsatz
keine Bagatellarzneimittel raus. Das will niemand in noch einen totalen Konsens über die Positivliste.
der Koalition, weil es den kranken Menschen treffen Jetzt stelle ich nach x Podiumsdiskussionen fest, daß
würde. Wenn Sie das hier erklären - mittlerweile ist die SPD-Abgeordneten, weiblich und männlich, er-
es 15.45 Uhr -, dann wäre die Positivliste heute im klären: Das und jenes kommt mit mir persönlich
großen Konsens beerdigt. nicht mehr in Frage.
1700 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Berichterstattung: Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Abgeordnete Karl Diller
Hans-Joachim Fuchtel Dietrich Austermann
Antje Hermenau Antje Hermenau
Ina Albowitz Ina Albowitz
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Nein. desminister der Finanzen: Ich stelle anheim, welche
Fördermittel die Landesregierung zur Verfügung
stellt und aus welchem Haushalt. Ich könnte mir vor-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Haben Sie eine stellen, daß man über eine Bürgschaft für Kredite
weitere Zusatzfrage? - Das ist nicht der Fall. weitere Maßnahmen vornimmt. Das würde allerdings
Dann hat der Kollege Rössel das Wort. voraussetzen, daß ein Unternehmenskonzept vor-
liegt, das nach strenger Einzelfallprüfung für erfolg-
versprechend gehalten wird. Das Bürgschaftspro-
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Die Region Hettstedt/ gramm des Bundes ist von dem Unternehmen bisher
Mansfeld gehört zu den in Deutschland am meisten nicht in Anspruch genommen worden, und ein An-
von Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen. Ende Au- trag wurde auch noch nicht gestellt. Nehmen Sie das
gust enden Fördermaßnahmen für 800 frühere Be-
als Hinweis.
schäftigte des Betriebes, weil die Maßnahmen nach
§ 249h des Arbeitsförderungsgesetzes auslaufen.
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, den Be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
stand von 800 Arbeitsplätzen durch eine gezielte För- frage des Abgeordneten Dr. Rössel.
derung mit Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit zu
gewährleisten, und, wenn ja, wie könnte die Hilfe Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Zum Problemkreis
aussehen? Aluhett: Der Betrieb befindet sich in Gesamtvollstrek-
kung, eingeleitet vom Amtsgericht Halle. Im Zusam-
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- menhang damit werden etwa 120 Arbeitskräfte ent-
desminister der Finanzen: Wie sie meiner Antwort lassen. Dazu die Frage: Gibt es seitens der Bundesre-
auf die Frage von Herrn Kollegen Schulze schon ent- gierung Möglichkeiten, den Abbau der Arbeitsplätze
nehmen konnten, setzt die Bundesregierung darauf, im Rahmen der Gesamtvollstreckung sozialverträg-
möglichst viele Arbeitsplätze durch die Privatisie- lich dadurch zu gestalten, daß 118 Arbeitskräfte, die
rung sicherzustellen. Wir sind daran interessiert, daß jetzt entlassen werden sollen, durch Fördermaßnah-
die Privatisierung möglichst schnell vorangetrieben men unterstützt werden? Dies vor allem deshalb,
wird. Sie wissen, daß die Maßnahmen nach dem von weil es sich um Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
Ihnen genannten § 249h gewissermaßen Hilfsmaß- mer handelt, die 54 Jahre und älter sind. Für solche
nahmen, Defensivmaßnahmen sind. Wir setzen auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer existieren bei
die offensive Strategie. Treuhandbetrieben und bei Betrieben der Treuhand-
nachfolge Sonderbedingungen dergestalt, daß sie bis
(Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Darf ich nach- zum Erreichen des Rentenalters 80 % ihres Nettoloh-
fragen?) nes bekommen. Meine Frage lautet: Kann die Bun-
desregierung darauf hinwirken, daß diese Möglich-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Sie haben keit auf einen Betrieb, der nicht mehr in Treuhand-
leider nur eine Zusatzfrage. Nur der Fragesteller nachfolge steht, ausgedehnt wird, und, wenn ja, wie
selbst hat zwei. Aber es gibt noch eine weitere Frage, könnte das aussehen?
die mit diesem Thema zu tun hat, nämlich die Frage 31,
die ich jetzt aufrufe: Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär bei Bun-
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bisher ergrif- desminister der Finanzen: Herr Kollege, soweit mir
fen, um eine möglichst hohe Zahl von Arbeitsplätzen in der Hett- Informationen vorliegen - ich sage das mit einem ge-
stedter Firma Aluhett zu erhalten? wissen Vorbehalt, wie man es bei Einzelfällen immer
Herr Staatssekretär. tun sollte -, ist dieses Aluminiumwerk im Rahmen ei-
nes Management-Buy-out von der Treuhandanstalt
bereits im Jahre 1992 privatisiert worden. Die we-
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- sentlichen Bedingungen und Verpflichtungen des
desminister der Finanzen: Von der Kreditanstalt für Privatisierungsvertrages sind erfüllt worden.
Wiederaufbau, Herr Kollege Schulze, wurden der
Aluhett bereits im Rahmen ihres Umweltprogramms Für die Nachfolgeorganisation der Treuhandan-
Mittel in Höhe von 5,19 Millionen DM und im Rah- stalt, die Bundesanstalt für Vereinigungsbedingte
men des Mittelstandsprogramms weitere 18,3 Millio- Sonderaufgaben, gibt es - das haben wir geprüft -
1708 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine weitere Zu- Nachrüstung auf einen westlichen Sicherheitsstan-
satzfrage der Kollegin Buntenbach. dard in Greifswald nicht möglich gewesen wäre. So
hat die Bundesregierung bereits in ihrer Antwort auf
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus-Die-
NEN): Sie haben ja eben von dem Überprüfungsver- ter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
fahren gesprochen, das da läuft. Meines Wissens ist NEN auf Drucksache 12/8529 vom 17. Oktober 1994
ein Kriterium dieser Überprüfung, daß die Entsor- mitgeteilt, daß auch das Kernkraftwerk Greifswald
gungsfrage geklärt ist und daß die vom Westen ge- nachrüstbar gewesen wäre.
forderte Abschaltung der Risikoreaktoren von Bohu- Dies hat Bundesumweltministerin Frau Dr. Merkel
nice im Jahr 2000 sichergestellt ist. Diese Abschal- noch einmal in der Aussprache zum Antrag der Frak-
tung ist ja nach wie vor unsicher und aus Gründen tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Nichtbewilli-
der nationalen Souveränität der Slowakei eventuell gung des EBRD-Kredits für den Weiterbau des Atom-
nicht durchsetzbar. kraftwerks in der Slowakei betont. Ich verweise hier
Wenn dies eins der Kriterien ist - das war ja ein auf die Bundestagsdrucksachen 12/8529 vom
Teil der Frage 32 der Kollegin Hustedt, den Sie noch 17. Oktober 1994 und 13/309 vom 25. Januar 1995.
nicht beantwortet haben -, hätte ich schon gern noch
eine Antwort auf die Frage, wann diese Überprüfun- Das Kernkraftwerk Greifswald wurde damals
gen endgültig abgeschlossen sind. nicht nachgerüstet, Frau Kollegin, weil sich kein Be-
treiber fand, der bereit gewesen wäre, die mit einer
solchen Nachrüstung in Deutschland verbundenen
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- verfahrensmäßigen Risiken - und das sind auch poli-
desminister der Finanzen: Sie haben zwei Fragen ge- tische Risiken; das will ich aber jetzt hier nicht aus-
stellt, Frau Kollegin. Das erste ist die Frage des Zeit- weiten, obwohl das sehr interessant wäre - und dar-
punkts. Ich stelle anheim: Ich kann Ihnen nicht sa- aus resultierenden Kosten zu übernehmen.
gen, wann diese Prüfungen abgeschlossen sind. Das
sind unabhängige Institutionen, die die Überprüfun- Das sind ja nicht nur Kosten hinsichtlich der Tech-
gen durchführen. Ich weise nur darauf hin, daß die nik, sondern das sind vor allem Kosten hinsichtlich
Prüfung schon relativ lange läuft. der Zeit, Kosten bezüglich der Finanzierung, der Un-
sicherheit und der hohen Risiken, die mit solchen In-
Die zweite Frage ist die nach der Entsorgung.
Nach meiner Kenntnis - ich könnte Ihnen das auch vestitionen verbunden sind. Es sind im übrigen nicht
noch schriftlich übermitteln auf Grund der vielen Un- die Risiken der Auswirkungen gemeint, sondern die
terlagen, die es hierzu gibt - haben sie eine Zwi- Risiken, die die Frage betreffen, ob man das Projekt
schenlagerungskapazität von mindestens 90 Jahren. überhaupt realisieren darf.
Für die Endlagerung gibt es internationale Gesprä- Vor allem standen damals genügend alternative
che, wie das gegenwärtig üblich ist. Kapazitäten in Ostdeutschland zur Verfügung. So-
wohl die Reaktorblöcke in Greifswald wie in Mo-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen zur chovce sind nach Einschätzung westlicher Experten
Frage 33 der Abgeordneten Hustedt: grundsätzlich nachrüstbar.
Teilt die Bundesregierung die Ansicht, daß die Gewährung
von Krediten und Beihilfen (KfW, Hermes, EBRD, EURATOM)
Die EBWE hat von renommierten westlichen Insti-
für ein ökonomisch fragwürdiges Projekt die Gefahr in sich tutionen, nämlich der Gesellschaft für Anlagen und
birgt, Steuergelder in gewaltiger Höhe zu verschwenden, zumal Reaktorsicherheit GmbH und dem französischen In-
die Umrüstung der Reaktoren von Greifswald - wie in Mochovce stitut de Protection de Sûreté Nucléaire, die Frage
der sowje ti sche Reaktortyp WWER 440/213 - zur Erreichung ei-
nes westlichen Sicherheitsstandards aus sicherheitstechnischen
der sicherheitstechnischen Nachrüstung prüfen las-
und finanziellen Erwägungen heraus von der Bundesregierung sen. Diese Institutionen sind zu dem Ergebnis ge-
abgelehnt wurde und keinesfalls sicher ist, daß die beantragten kommen, daß diese Anlage einen westlichen Sicher-
1,3 Mrd. DM ausreichen werden, um in Mochovce einen westli- heitsstandard gewährleistet.
chen Sicherheitsstandard zu gewährleisten, wie auch das Euro-
päische Parlament in seiner Entschließung vom 15. Februar 1995
betont?
Die Empfehlungen dieser Institutionen wurden
selbstverständlich bei der Prüfung des Vorhabens
Bitte, Herr Staatssekretär. durch die Bank berücksichtigt und gehen auch voll-
ständig in die Kostenanalyse ein. Insofern, Frau Kol-
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- legin, kann nicht behauptet werden, daß die bean-
desminister der Finanzen: Frau Kollegin, die Bundes- tragten 1,4 Milliarden DM - in Ihrer Anfrage sagen
regierung teilt die in Ihrer Frage zum Ausdruck kom- Sie 1,3 Milliarden DM - nicht ausreichen werden, um
mende Ansicht nicht. Das Vorhaben Mochovce ist in Mochovce einen westlichen Sicherheitsstandard
kein ökonomisch fragwürdiges Projekt, sondern es zu gewährleisten.
zeichnet sich nach der Durchführung umfangreicher
Studien unter Abwägung verschiedener Alternativen Bei der Frage der Sicherheit sollten aber nicht nur
als die wirtschaftlichste Alternative aus. die Aspekte der Nachrüstbarkeit berücksichtigt wer-
den, sondern auch die Frage, was wäre, wenn west-
Es ist richtig, daß die Reaktoren von Greifswald liche Finanzinstitutionen ein solches Vorhaben wie
und die in Mochovce einem gleichen sowjetischen Mochovce nicht unterstützen würden. In diesem Fall
Reaktortyp, nämlich dem WWRR 440/213, entspre- kann man wohl davon ausgehen, daß das Kernkraft-
chen. Es ist aber nicht richtig, Frau Kollegin, daß die werk dort mit einem Sicherheitsstandard fertigge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1711
Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser
stellt wird, der auf westlichem Niveau liegt. Dies Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Nachfrage
wäre eine deutliche Verbesserung nicht nur der Um- des Kollegen Kubatschka.
weltauswirkungen, sondern auch des Sicherheits-
standards vor Ort und für uns.
Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, Sie
haben gerade von seriösen Stellen gesprochen, die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Nachfrage das überprüfen. Welchen Sicherheitsstandard aus
der Kollegin Hustedt. welcher Zeit nehmen sie an, aus dem Jahre 1965
oder aus dem Jahre 1995? Auch bei uns hat sich ja
der Sicherheitsstandard verändert.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Können Sie mir sagen, wann die Entscheidung über
die Kreditvergabe fällt? Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Herr Kollege, Sie wissen
sicherlich, daß das Atomrecht vorschreibt, daß je-
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- weils das aktuellste Sicherheitsniveau zugrunde zu
desminister der Finanzen: Ich habe Ihnen gesagt, legen ist. Das ist Gesetzestext, den Sie, wie ich mich
daß ich über Zeitvorgänge keine Auskünfte geben erinnere, mit verabschiedet haben.
kann.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
verständlich!)
desminister der Finanzen: Zunächst einmal kann ich
mir nicht vorstellen, daß der Bundestag in seiner
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dann eine Mehrheit eine ähnliche Empfehlung ausspricht. Aber
Nachfrage der Kollegin Schönberger. das müßte man einer entsprechenden Vorprüfung,
die ja, wie ich schon wiederholt gesagt habe, noch
nicht abgeschlossen ist, anheimstellen.
Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Staatssekretär, Sie haben gerade sehr Es ist mir, wenn ich Ihnen das sagen darf, bekannt,
weit ausgeführt, daß Mochovce nach Fertigstellung daß es auch einen Schriftverkehr zwischen der öster-
westlichen Sicherheitsstandard erfüllen würde. Es ist reichischen Regierung und der Bundesregierung in
klar, daß Mochovce nach Fertigstellung kein Con- dieser Frage gibt. Es bleibt den Österreichern über-
tainment haben wird, lassen, in ihrer Atompolitik so zu verfahren, wie sie
es tun. Ich will das nur in einem Satz kommentieren:
(Günther Fried ri ch Nolting [F.D.P.]: Frage!) Ich halte es doch für bedenklich, daß man seinerseits
daß es keine Sicherung gegen Flugzeugabstürze ha- im eigenen Land keine Atomkraftwerke duldet, aber
ben wird, daß es nicht erdbebensicher sein wird, daß den Strom von Kraftwerken nimmt, die einen sehr
es z. B. in der Bundesrepublik Deutschland und übri- dubiosen Sicherheitsgrad haben. Ob das eine inter-
gens auch in Frankreich schlicht und einfach nicht national wirklich vertretbare Position ist, wage ich zu
genehmigungsfähig wäre. Wie können Sie ange- bezweifeln.
sichts dessen sagen, daß dieses Atomkraftwerk nach
Ausrüstung mit Steuerungssystemen von Siemens Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
westlichen Sicherheitsstandards genügen würde? frage der Kollegin Saibold.
Das würde es natürlich nicht.
Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- Staatssekretär, teilt die Bundesregierung die feste
desminister der Finanzen: Der Finanzminister, den Überzeugung des Europaparlaments, daß die Sicher-
ich hier, Frau Kollegin, vertrete, behauptet seiner- heit kein verhandlungsfähiges Thema sein kann und
seits nicht, daß die entsprechenden westlichen Si- daß eine Senkung europäischer Sicherheitsstandards
cherheitsstandards sichergestellt sind. Der Finanzmi- keinesfalls in Betracht gezogen werden dürfe, noch
nister weist darauf hin, daß seriöse Institutionen, die dazu, wenn es darum geht, daß auch mit deutschen
das ausführlich und lange geprüft haben, ihrerseits Mitteln ein Atomkraftwerk wie in Mochovce unter-
gesagt haben: Dieses Konzept entspricht den westli- stützt wird? Sie wissen auch, daß sich Ihre CSU-Kol-
chen Sicherheitsstandards. Das berichte ich Ihnen legen vor Ort ganz ausdrücklich gegen dieses Vorha-
hier. Nur so kann ich seriöserweise vorgehen. ben in Mochovce aussprechen. Teilen Sie nicht die
1712 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Halo Saibold
Meinung, daß deren Sorgen wirklich begründet sind, zinsungsfaktor, den ich persönlich für abenteuerlich
genau wie die des Europaparlaments? hoch ansehe. Üblicherweise werden 10 % zugrunde
gelegt. Wenn man den üblicherweise zugrunde ge-
legten Abzinsungsfaktor von 10 % zugrunde legt,
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
dann rechnet sich das ganz ausgezeichnet.
desminister der Finanzen: Ich würde die Auffassun-
gen des Europaparlaments ausdrücklich zu meinen Sonstige Bemerkungen zu einem Institut habe ich
eigenen Überzeugungen machen. Senkung des Si- als Vertreter des Finanzministers hier nicht zu ma-
cherheitsstandards, bitte schön, nicht. Deshalb wird chen. Wenn ich hier in der Aussprache stehen würde,
die Prüfung ergeben müssen, wenn man Geld gibt, würde ich allerdings meine Bemerkungen dazu ma-
daß die Sicherheitsstandards westlicher Niveaus tat- chen. Darauf können Sie sich verlassen.
sächlich eingehalten werden. Deshalb wird ja auch
geprüft. Ich würde aber hinzufügen, daß die realen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das dürfen Sie
Sicherheitsstandards in Europa dadurch verbessert
nicht. - Es gibt keine weitere Zusatzfrage.
werden, daß ein derartiges Kernkraftwerk an die
Stelle kommt, an der vorher ein wesentlich marode- Die Frage 34 können wir nicht beantworten, weil
res stand. die Kollegin nicht im Raum ist. Damit verfällt die
Frage.
(Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN]: Das nicht abgeschaltet wird!) Wir kommen zur Frage 35 der Abgeordneten Ur-
sula Schönberger:
- Bitte?
Kann die Bundesregierung Pressemeldungen bestätigen, de-
(Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ nen zufolge die Least-Cost-Studie der Europäischen Bank für
NEN]: Das nicht abgeschaltet wird!) Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in einer ursprünglichen
Fassung zuungunsten des Atomkraftwerks Mochovce ausgefal-
- Wenn Sie das als Zusatzfrage - len ist und erst nach politischer Einflußnahme eine Parameter-
konstellation gewählt wurde, welche das Atomkraftwerk als
wirtschaftlichste Alternative erscheinen läßt, und welche Maß-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das geht
- nicht. nahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um eine unbeein-
flußte Einschätzung der Wirtschaftlichkeit der verschiedenen
Alternativen zu erhalten?
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Dann mache ich einen Zu-
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
satz ohne Frage. Es gibt ausdrücklich die Zusage des
desminister der Finanzen: Frau Schönberger, um
Präsidenten, daß für den Fall der Finanzierung dieses
eine unbeeinflußte Einschätzung der Wirtschaftlich-
Kraftwerks das alte abgeschaltet wird. Mehr als diese
keit der verschiedenen Alternativen zu erhalten, läßt
Zusage kann man wirklich nicht erwarten. Also stel-
die Bundesregierung die vorgelegte Least-Cost-Stu-
len Sie hier nicht Behauptungen auf, die in keiner
Weise belegt sind! die unter Zuhilfenahme von Experten auf die Berech-
tigung ihrer Annahmen und Plausibilität sorgfältig
prüfen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
frage des Kollegen Behrendt. Sie merken, es wiederholt sich. Ihre Fragen haben
ja auch einen Wiederholungscharakter.
Wolfgang Behrendt (SPD): Herr Staatssekretär, Bei ihren Wirtschaftlichkeitsberechnungen ist die
Sie haben soeben gesagt, daß auch Sie die Nach- Europäische Bank in London ursprünglich von meh-
rüstung des Kernkraftwerks für eine ökonomisch reren Diskontierungsfaktoren ausgegangen. In Be-
sinnvolle Lösung halten. Ist Ihnen bekannt, daß das antwortung Ihrer Frage betone ich noch einmal, daß
Öko-Institut Freiburg an der Least-Cost-Planning- der Diskontierungsfaktor von 10 % ein sinnvoller
Studie, die eine wesentliche Grundlage der Ent- wäre.
scheidung der EBRD sein wird, ganz erhebliche Kri-
Im übrigen: Selbst bei einem Diskontierungsfaktor
tik geäußert und u. a. gesagt hat, man gehe in der
von 12 % wäre die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens
Studie von überhöhten Energiebedarfsprognosen
immer noch gegeben, auch wenn der Unterschied
aus, es sei mit fehlerhaftem Zahlenmaterial gearbei-
zur nächstbesten Alternative auf Grund der erhöhten
tet worden, insbesondere habe man einen überhöh-
Kapitalkosten nicht so deutlich ausfallen würde. Sie
ten Stromverbrauch und überhöhte Verbrauchszu-
können selbst für den von mir persönlich als aberwit-
wächse zugrunde gelegt und neben der Unterschät-
zig hoch angesehenen Diskontierungsfaktor von
zung der Entsorgungskosten insbesondere auch
12 % immer noch eine Wirtschaftlichkeit errechnen.
einen zu niedrigen Abzinsungsfaktor zugrunde ge-
legt?
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
frage der Kollegin Schönberger.
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Wenn ich den einzigen
Punkt, der den Finanzminister betreffen kann, her- Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ausgreife, nämlich den Abzinsungsfaktor, so weise NEN): Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang
ich Sie darauf hin, daß zunächst einmal nach meiner - das war auch Teil meiner Frage, auf den Sie nicht
Kenntnis in einem ersten Versuch der Abzinsungs- eingegangen sind - einen Artikel des „Handels-
faktor auf 12 % festgelegt worden ist. Das ist ein Ab- blatts" vom 31. Januar, in dem genau aufgeführt wor-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1713
Ursula Schönberger
den ist, daß in einem ersten Vorergebnis dieser Stu- Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
die andere Alternativen, u. a. ein Gaskraftwerk, als desminister der Finanzen: Herr Kollege, ich will nicht
wesentlich wirtschaftlicher bezeichnet waren? Das von „erheblichen Zweifeln" sprechen. Auf Grund
„Handelsblatt" schreibt: der Berichte und der Diskussion hat die Bundesregie-
rung ihrerseits die Prüfung mit besonderer Sorgfalt
Interventionen seitens des französischen EBRD- noch einmal aufgenommen - das ist klar -, und zwar
Projektmanagers haben dem Vernehmen nach zu in jeder Beziehung. Die Begutachtung dieses Pro-
einer Veränderung der Untersuchungen geführt. jekts wird von der Bundesregierung mit hoher Auf-
Man spricht in diesem Falle von Manipulationen. merksamkeit und großer Sorgfalt verfolgt. Darauf
Wie beurteilen Sie als Bundesregierung ein solches können Sie sich verlassen.
Vorgehen, bei dem es um ein für die Zukunft und
Gesundheit von vielen Menschen so wichtiges Pro- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
jekt geht? frage der Kollegin Saibold.
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
desminister der Finanzen: Frau Kollegin, halten Sie Staatssekretär, ist der Bundesregierung bei der Über-
es nicht für eine Zumutung, zu verlangen, daß die prüfung dieser Least-Cost-Studie aufgefallen, daß
Bundesregierung auf Dinge, die in einer Zeitung bei der Berechnung der Preise für die Brennstoffko-
dem Vernehmen nach unterstellt werden, und auf sten ein anderer Wechselkurs angenommen wurde
Einflußnahmen, die niemand überprüfen kann und als bei den anderen Kosten, was dazu geführt hat,
die irgend jemand behauptet, eingehen soll? Ich ver- daß die Gaskraftwerke schlechter abschneiden, da
weigere jede Aussage auf Grund derartiger sehr ne- sich ihre Kosten zu einem großen Teil aus Brennstoff-
bulöser Berichte. kosten zusammensetzen?
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim
frage des Abgeordneten Behrendt. - Bundesminister der Finanzen: Frau Kollegin, ich
werde hier Ihren Einzelprüfungen von Gutachten
(Ursula Schönberger [BÜNDNIS 90/DIE oder von entsprechenden Berechnungen nicht wei-
GRÜNEN): Ich habe noch eine zweite Zu ter folgen. Ich halte das nicht für seriös. Mir liegt
satzfrage!] dieses Gutachten nicht vor. Ihnen liegen offenbar
auch nur, Ausschnitte vor. Wir können uns hier nur
- Richtig, Entschuldigung. auf ein korrektes Verfahren einlassen, nämlich daß
Zweite Zusatzfrage der Abgeordneten Schönber- die Bundesregierung mit ihren qualifizierten Kräften
ger. die entsprechenden Untersuchungen, die von der
Europäischen Bank in Auftrag gegeben worden
sind, sorgfältig nachprüft. Dann erst kann man eine
Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Entscheidung treffen.
NEN): Wie erklärt sich denn die Bundesregierung,
daß in dieser Least-Cost-Studie eine Verzinsung der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
Rückstellungen für Entsorgung von 8 bis 15 %, d. h.
frage der Kollegin Ganseforth.
ein Nominalzins von 11 bis 19 %, angenommen
wurde? Es ist üblich, eine Verzinsung von 2 bis 4 %
anzunehmen. Geben Sie mir recht, daß eine solche Monika Ganseforth (SPD): Herr Staatssekretär, ich
Annahme über die Verzinsung für die Rückstellung habe jetzt zur Kenntnis genommen, daß Sie die öko-
von Entsorgung höchstens bei Spekulationsgeschäf- nomische Kritik auf seriöse Weise nachprüfen wol-
ten zutrifft, aber nicht bei einer realen Anlage von len. Ist Ihnen bekannt, daß es hierbei nicht darum
Kapital? geht, ein gut oder schlecht nachgerüstetes Atom-
kraftwerk zu betreiben, sondern daß es um die Alter-
native Atomkraftwerk oder Gaskraftwerk geht?
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Ich gebe Ihnen nicht recht.
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Frau Kollegin, die Einlei-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- tung Ihrer Frage hat sofort meinen Widerspruch her-
frage des Abgeordneten Behrendt. ausgefordert. Die Bundesregierung prüft nicht in be-
sonderer Weise nur die ökonomischen Aspekte, son-
dern selbstverständlich alle Aspekte der gesamten
Wolfgang Behrendt (SPD): Herr Staatssekretär,
vier Bereiche, die ich Ihnen am Anfang schon ge-
würden Sie mir zustimmen, daß die Tatsache, daß die
nannt habe. Sonst wäre es keine seriöse vollständige
Europäische Kommission die Europäische Investiti-
Prüfung durch die Bundesregierung.
onsbank beauftragt hat, ein eigenes Gutachten zu fi-
nanz- und volkswirtschaftlichen Aspekten der Finan- Ich verkneife es mir aber nicht, doch eine Berner
zierung auszuarbeiten, zu der Überlegung Anlaß kung zu dem Aspekt der ökonomischen Prüfung zu
gibt, daß man auch dort der Least-Cost-Studie, die machen, insbesondere wenn die Fragen von Abgeord-
von der EBRD in Auftrag gegeben worden ist, erheb- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN kommen.
liche Zweifel entgegenbringt? Es geht Ihnen nach unserer Überzeugung darum, ein
1714 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie können Wir kommen zu Frage 38 des Abgeordneten Vol-
keine Zusatzfrage mehr stellen. - Eine Zusatzfrage ker Neumann (Bramsche):
der Kollegin Buntenbach. War der Bundesregierung bekannt, daß während des irakisch
iranischen Krieges, als sie Ausfuhrgenehmigungen für Rü-
stungsgüter an die Kriegsgegner durch die Münchner Firma Te-
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lemit zuließ, die DDR in ähnlicher Weise unbedenklich über Fir-
NEN): Herr Staatssekretär, daß die ökonomischen men des Bereichs „Kommerzielle Koordinierung" den Irak und
den Iran mit Rüstungsgütern belieferte?
Nachfragen lediglich als Hilfsbrücke dienen, möchte
ich zurückweisen. Es geht um die Vergabe dieses Bitte, Herr Staatssekretär.
Kredites.
Ich habe auch noch eine ökonomische Nachfrage. Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, haben desminister für Wirtschaft: Herr Kollege Neumann,
Sie auf die Frage der Kollegin Schönberger gesagt, die Bundesregierung war darüber unterrichtet, daß
daß eine Verzinsung der Rückstellungen mit nomi- die DDR während des ersten Golfkrieges zwischen
nal 11 % bis 19 % auch anders als über Spekulations- dem Irak und dem Iran, d. h. von 1980 bis 1988,
geschäfte zu erreichen wäre. Meine Frage: beide Parteien mit Rüstungsgütern beliefert hat. Die
- In wel-
chen Bereichen läßt sich das außerdem erreichen? Bundesregierung hat ihre Erkenntnisse über Lief e-
rungen der damaligen DDR an den Irak und den
Iran dem 1. Untersuchungsausschuß mitgeteilt.
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Ich habe schon zu Ihrer Ich verweise zudem auf die Ausführungen des Ab-
Kollegin gesagt, daß ich die Verzinsungsannahmen, schlußberichtes, in dem auf den Seiten 189 bis 194,
die Sie vergleichend anstellen, nicht für adäquat 492 bis 494, 516 bis 517 und 521 bis 522 die entspre-
halte. Ich glaube aber nicht, daß wir jetzt über Ver- chenden Aktivitäten der DDR umfassend dargestellt
zinsungsgrößenordnungen in den verschiedensten werden.
Bereichen einen Dialog führen sollten.
Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Ich habe eine
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Zusatzfrage.
frage der Kollegin Hustedt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): frage. Bitte, Herr Neumann.
Habe ich Sie bei der Beantwortung der Frage von
Frau Ganseforth richtig verstanden, daß Sie die Al- Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Wie bewertet
ternative, dort ein Gaskraftwerk zu bauen, nicht die Bundesregierung die Tatsache, daß die DDR an
überprüfen? Ist das überhaupt nicht in Ihrem Über- zwei kriegsführende Parteien gleichzeitig Waffen ge-
prüfungsauftrag enthalten? liefert hat, und wie bewertet sie ihr eigenes Verhal-
ten, daß sie im gleichen Zeitraum westdeutschen Fir-
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- men Genehmigungen für Rüstungsexporte an diese
desminister der Finanzen: Erstens darf ich darauf kriegsführenden Parteien erteilt hat?
hinweisen, daß die Bundesregierung nicht baut und
kein Projektträger ist. Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft: Herr Kollege Neumann,
Zweitens darf ich Sie darauf hinweisen, daß wir soweit hier Bewertungen abzugeben waren, hat die
nur das prüfen können, was tatsächlich vorliegt. Es Bundesregierung dies im 1. Untersuchungsausschuß
geht hier darum - das ist unsere Aufgabe -, die Serio- getan. Ich glaube, Sie waren Mitglied dieses Unter-
sität der Vergabe eines Kredites einer internationalen suchungsausschusses,
Bank, an der wir beteiligt sind, zu prüfen. Diese Prü-
fung erfolgt nach verschiedenen Kriterien, nach Si- (Volker Neumann [Bramsche] [SPD]: Si
cherheits-, Wirtschaftlichkeits- und sonstigen Krite- cher!)
rien; diese habe ich Ihnen schon vorgetragen. Wei- der sehr umfangreiches Material geliefert hat: den
tere Prüfungen haben wir nicht vorzunehmen.
Abschlußbericht, den Anhang, drei Anlagebände,
zusammen fast 5 000 Seiten beschriebenes Material.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn ich es Ich habe dem insbesondere aus Sicht des Bundesmi-
richtig sehe, werden keine weiteren Zusatzfragen nisteriums für Wirtschaft hier nichts hinzuzufügen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1715
Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Ich habe eine 12 Millionen Gigawattstunden. Für Tschechien ist
zweite Zusatzfrage. demgegenüber saldiert ein leichter Exportüberschuß
nach Deutschland, also ein Stromimport nach
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine zweite Zu- Deutschland, von 990 Gigawattstunden in 1994 fest-
satzfrage, bitte. zustellen.
Generell gilt für den Stromaustausch im internatio-
Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Zu dem Zeit- nalen Verbund, daß die Austauschmengen nicht be-
punkt war uns noch nicht bekannt, daß die Bundes- stimmten Kraftwerkskapazitäten zugeordnet werden
regierung in der gleichen Weise westdeutschen Fir- können, da bei der Stromerzeugung in der Regel ver-
men Genehmigungen erteilt hat, Rüstungsgüter zu schiedene Energieträger eingesetzt werden.
exportieren, wie es die DDR gemacht hat. Unsere Be-
wertung der Tatsache wäre sicher anders ausgefal- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
len, wenn wir das gewußt hätten. Deshalb frage ich frage der Kollegin Probst, bitte.
aus heutiger Sicht: Wie bewerten Sie das Verhalten
der Bundesregierung, der Firma Telemit Genehmi- Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei
gungen zu erteilen, während des ersten Golfkrieges einer solchen politischen Nicht-Verantwortlichkeit
sowohl an den Irak als auch an den Iran Rüstungsgü- fällt mir leider nichts mehr ein.
ter zu liefern?
Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stet und verbessert werden. Damit wird eine mög-
NEN): Ich habe eine Zusatzfrage, weil mir eines an lichst frühe Außerbetriebnahme der alten Blöcke Bo-
Ihren Ausführungen nicht ganz klar ist: hunice 1 und 2 ermöglicht.
(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das Die Bundesregierung betrachtet es nicht als ihre
muß ja nicht am Staatssekretär liegen!) Aufgabe, Gaspreisprognosen durchzuführen und zu
veröffentlichen.
Es ist doch so, daß die Refinanzierung des Kredits
teilweise über Stromlieferungen aus Mochovce un- In der Least Cost Analyse der Europäischen Bank
- -
ter anderem auch nach Deutschland stattfinden soll. für Wiederaufbau und Entwicklung zum Atomkraft-
Wir wissen alle, daß das natürlich nicht unbedingt werk Mochovce werden auch die Investitionen und
heißt, man kann jetzt genau sehen, wieviel Strom da Kosten eines kombinierten Gas- und Dampfkraft-
herauskommt. Es findet vielmehr eine Verrechnung werks als Alternative zur Fertigstellung der zwei
statt. Kernkraftwerksblöcke untersucht.
Bei der Prognose der Gaspreise haben die Auto-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte die Frage. ren wegen der Unsicherheit der Voraussage von zu-
künftigen Gaspreisen und wegen der unterschiedli-
Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen Aussage der verschiedenen Prognosen drei
NEN): Es steht sozusagen klar da: Soundsoviel Pro- Szenarien unterstellt: Im unteren Szenario wird die
zent aus der Stromproduktion von Mochovce - das auch von Ihnen angesprochene Prognose der EIB
wird noch genau ausgehandelt - soll in die Bundesre- verwendet. Dabei wird unterstellt, daß sich die Preise
publik kommen und mit 6 Pfennig pro Kilowatt- für Erdgas weiterhin an den Preisen des Heizöls
stunde vergütet werden. Also beziehen wir damit orientieren. Neue Technologien bei der Erschließung
Strom aus Mochovce. Daher können Sie doch nicht neuer Felder würden den Anstieg der Gaspreise ver-
sagen: Nein, das tun wir nicht. Das ist doch Teil der ringern und relativ niedrige Gaspreise bringen.
Refinanzierung des Kredits. Beim Basisfall - das ist die Erhöhung um ca. 5 % -
wurden die Prognosen der IEA verwendet. Der Preis-
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- anstieg bei dieser Prognose ist höher, da neben der
desminister für Wirtschaft: Frau Kollegin Schönber- Orientierung am Ölpreis auch die Rentabilität der
ger, ich will darauf hinweisen, daß es sich zwar um Förder- und Transportanlagen stärker in Betracht ge-
Wirtschaftlichkeitsrechnungen handelt, aber gleich- zogen wird.
wohl mehr eine finanzwirtschaftliche Betrachtung ist.
Das dritte Szenario ist das Hoch-Szenario, also die
Insofern kann und will ich Ihnen hier auch keine
Erhöhung um ca. 9 %. Da wird die Prognose der
Antwort geben, die Ihnen der Kollege Faltlhauser als
UNIPEDE, also des Verbandes der Internationalen
der Vertreter des zuständigen Bundesministeriums
Stromproduzenten und -verteiler, herangezogen.
der Finanzen hätte geben müssen, geben wollen
oder geben können. Zur Wahrscheinlichkeit des Eintreffens dieser drei
Szenarien kommt das Gutachten zu dem Ergebnis,
(Horst Kubatschka [SPD]: Geben sollen!)
daß das untere Szenario mit Schätzungen der EIB
Ich bin auf jeden Fall nicht der richtige Adressat für wahrscheinlicher ist als das Hoch-Szenario und des-
Ihre Frage. halb auch ein höheres Gewicht haben sollte. Beim
unteren Szenario wird von einem Preisanstieg in
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen da- 1999 von 1,7 % und für 2000 von 1,8 % ausgegangen.
mit zur Frage 40 der Abgeordneten Schönberger: Im übrigen: Der von der Weltbank verwendete
Wie schätzt die Bundesregierung angesichts von Liberalisie- Gaspreis bezieht sich ausschließlich auf die Ukraine
rungstendenzen auf dem internationalen Markt für Erdgas die und sieht keine Steigerung vor. Nach der Studie ist
Tatsache ein, daß in der Least-cost-Studie der Europäischen dieser Preis allerdings nicht auf die Slowakei über-
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) zum Atom-
kraftwerk Mochovce Gaspreissteigerungen bis zum Jahr 2000 in
tragbar, und zwar erstens wegen der höheren Trans-
einer Höhe von 5-9 Prozent (Szenario HIGH und BASE der Stu- portkosten und zweitens wegen der unterschiedli-
die) pro Jahr angenommen werden und damit deutlich höhere chen Beziehungen zu Rußland.
Annahmen getroffen werden als entsprechende Einschätzun-
gen der Weltbank und der Europäischen Investitionsbank (EIB)
und damit die Wirtschaftlichkeit eines Gaswerkes, welche be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
kanntlich erheblich von den angenommenen Brennstoffkosten frage der Kollegin Schönberger, bitte.
abhängig ist, verworfen wird?
stellung des Kernkraftwerks Mochovce Stellung ge- scheinend nicht so großes Vertrauen darin hat, eben
nommen. Sie befürwortet das Projekt, bei dem zwei auf Grund der ganzen Entwicklungen, die diese Stu-
Anlagen mit westlicher Sicherheitstechnik nachgerü- die durchgemacht hat, wie ich vorhin ausgeführt
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1717
Ursula Schönberger
habe? Wie bewerten Sie die Tatsache, daß die US- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
amerikanische Regierung eine neuerliche Berech- frage der Kollegin Saibold.
nung des Alternativszenarios Gaskraftwerk fordert?
Könnte es nicht sein, daß die Bundesregierung, da Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
sie ja in einer Entscheidungsverantwortung steht, Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß die Bundes-
gut daran täte, sich dem Anliegen der US-amerikani- regierung auf Grund der ganzen Debatte, die ja
schen Regierung anzuschließen und eine neuerliche schon längere Zeit läuft, doch mitbekommen hat, daß
Berechnung dieser Alternative Gaskraftwerk vorzu- es hier um eine sehr umstrittene Angelegenheit geht.
nehmen? Deswegen frage ich Sie: Sind denn bereits einmal
Verhandlungen mit der Slowakischen Republik da-
hin gehend geführt worden, daß die Bundesregie-
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- rung Unterstützung bei der Erschließung des vorhan-
desminister für Wirtschaft: Frau Kollegin Schönber- denen Energieeinsparpotentials, bei besserer Ener-
ger, Sie haben mich richtig verstanden. Ich zitiere gienutzung oder dem Aufbau von alternativen Ener-
gern noch einmal den einschlägigen Satz meiner giequellen leistet? Oder wird sie es in Zukunft noch
Antwort: „Die Bundesregierung betrachtet es nicht tun, bevor diese Anweisung an die Bank geht?
als ihre Aufgabe, Gaspreisprognosen durchzuführen
und zu veröffentlichen."
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Was das Verhalten oder Aktionen der US-amerika- desminister für Wirtschaft: Frau Kollegin Saibold, die
nischen Regierung anlangt, so steht es mir nicht an, Bundesregierung ist im ständigen Austausch mit der
dieses zu kommentieren. slowakischen Regierung. Ich kann Ihnen allerdings
auf Grund der Vielzahl der jeweils diskutierten The-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine zweite Zu- men nicht aus eigener Kenntnis beantworten, ob die-
satzfrage der Kollegin Schönberger, bitte. ses Thema bisher eine Rolle gespielt hat. Ich nehme
aber gern mit, daß hier eine besondere Sensibilität
besteht.
Ursula Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Kann ich - für mich abschließend - hinsicht- (Rudolf Bindig [SPD]: Heißen Sie Hase? -
lich dessen, was Sie und Ihr Kollege ausgeführt ha- Weil Sie von nichts etwas wissen!)
ben, annehmen, daß Sie sich allein auf dieses sehr - Nein, mein Name ist Kolb.
umstrittene Gutachten der EBRD stützen werden,
daß Sie also nicht eigenverantwortlich mit eigenen
Überprüfungen und vielleicht auch etwas kritischer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
an dieses Projekt herangehen werden? frage der Kollegin Hustedt.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
desminister für Wirtschaft: Für sich persönlich, Frau Unter Aufnahme Ihres Freudschen Versprechers
Kollegin Schönberger, können Sie dies gern tun. Ich frage ich Sie: Wollen auch Sie uns nicht sagen, wann
kann Ihnen allerdings dazu nicht die Zustimmung, die Entscheidung über die Kreditvergabe fallen
die Billigung der Bundesregierung aussprechen. Kol- wird?
lege Faltlhauser hat deutlich gemacht, daß es zu-
nächst die Aufgabe der kreditvergebenden Bank ist,
die entsprechenden Prüfungen durchzuführen. Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft: Dann müßte ich die Ge-
genfrage stellen, welchen Freudschen Versprecher
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Sie meinen; denn es ist ja das Wesen von Verspre-
frage des Kollegen Behrendt. chern, daß sie einem selbst nicht auffallen. Aber ich
kann es nicht kommentieren, weil ich die Grundlage
nicht habe.
Wolfgang Behrendt (SPD): Herr Staatssekretär,
können Sie mir erläutern, warum die Weltbank auf (Rudolf Bindig [SPD]: Er hat von nichts eine
Grund des von ihr erstellten Gutachtens zu der Über- Ahnung!)
zeugung gelangt, keine Darlehen für Nuklearpro-
jekte in Mittel- und Osteuropa zu vergeben, Sie aber
zu einer völlig gegensätzlichen Schlußfolgerung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegen,
kommen? wir sind eigentlich am Ende der für die Fragestunde
ausgemachten Zeit. Es gibt eine Zusatzfrage der Kol-
legin Buntenbach, die ich noch zulasse. Herr Staats-
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- sekretär wird antworten. Dann müssen wir die Frage-
desminister für Wirtschaft: Herr Kollege Behrendt, stunde abschließen.
das kann ich leider nicht, da ich dieses Gutachten
nicht kenne.
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Wolfgang Behrendt [SPD]: Das ist aber NEN): Ich möchte von Ihnen gern wissen, wann
traurig!) denn über diese Kreditvergabe entschieden wird.
1718 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- Zweiter Mangel: Der Vorschlag ist nach wie vor so-
desminister für Wirtschaft: Die Frage, Kollegin Bun- zial nicht gerecht. Da Sie bei der Steuer am Kinder-
tenbach, haben Sie ja dem Kollegen Faltlhauser freibetrag festhalten, werden doch Spitzenverdiener
schon gestellt. monatlich sehr viel mehr entlastet als Durchschnitts-
und Geringverdiener. Können Sie uns einmal erklä-
(Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE ren, warum Sie, wenn Sie, wie Sie sagen, kein Geld
GRÜNEN]: Es könnte ja sein, daß irgend je haben, um das Erstkindergeld stärker als auf 200 DM
mand in der Bundesregierung das weiß!) zu erhöhen, das Geld haben, bei der Steuer über den
Er ist Vertreter des zuständigen Ministeriums. Das Kinderfreibetrag Spitzenverdienern - das sind die,
Bundesministerium für Wirtschaft kann Ihnen - da die mehr als 240 000 DM zu versteuerndes Einkom-
nicht betroffen - diese Antwort nicht geben. Tut mir men im Jahr haben - Monat für Monat über den Kin-
leid. derfreibetrag 277 DM Entlastung zu geben? Das sind
77 DM jeden Monat und 924 DM im Jahr mehr für
Spitzenverdiener als für den Durchschnittsverdiener.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Damit sind wir Das Verfassungsgericht forde rt dies nicht. Deswegen
am Ende der für die Fragestunde ausgemachten Zeit, fordern wir Sie auf, das Geld, das Sie da hineinstek-
ja, schon darüber hinaus. Ich danke Ihnen, Herr ken, zu benutzen, um das Kindergeld für das erste
Staatssekretär, für die Beantwortung. Die restlichen und das zweite Kind weiter anzuheben.
Fragen werden schriftlich beantwortet werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Ich schließe die Fragestunde. ten der PDS)
Wir kommen nunmehr zum Zusatzpunkt 2:
Dritter Mangel: Der Familienlastenausgleich bleibt
Aktuelle Stunde weiterhin sehr kompliziert. Sie schaffen zwar die Ein-
kommensgrenzen beim Kindergeld und den Kinder-
auf Verlangen der Fraktion der SPD geldzuschlag ab; das ist positiv. Aber es ist halbher-
Haltung der Bundesregierung zur -künftigen zig; denn wir bleiben bei dem dualen System - Kin-
Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs dergeld und Kinderfreibetrag - mit einer sehr kom-
plizierten Regelung für die Steuerbürger. Diese müs-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- sen sich nach Ihren bisherigen Vorstellungen am
gin Ingrid Matthäus-Maier. Jahresanfang entscheiden, ob sie das eine oder das
andere wählen. Wie kann das ein Arbeitsloser wis-
(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard sen, wenn er gar nicht weiß, ob er im Laufe des Jah-
Hirsch) res eine Anstellung findet? Unser SPD-Modell eines
einheitlichen Kindergeldes als Abzug von der Steu-
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Präsident! Frau erschuld bleibt, auch was die Verwaltungsvereinfa-
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- chung angeht, die bessere Alternative, und deswe-
ren! Die Vorschläge der Koalition sind ein deutlicher gen treten wir dafür ein.
Schritt in Richtung auf unser SPD Modell eines ein-
Der gravierendste Mangel ist aber der zuerst ge-
-
Trotzdem kann man mit Ihrem Vorschlag nicht zu- (Beifall bei der SPD)
frieden sein. Drei Mängel fallen besonders auf; da
muß die Regierung nachbessern. Nein, wir stellen fest: Die Entlastung von 65 DM
beim Erstkindergeld ist ein richtiger Schritt; aber er
Erster Mangel: Der Vorschlag ist unzureichend. reicht nicht. Beim zweiten Kind beträgt die Entla-
Viele Familien bekommen keine oder nur eine ge- stung nur noch 5 DM; auch das ist unzureichend.
ringe Entlastung; Familien mit mehreren Kindern Beim dritten Kind kann eine Entlastung von 15 DM
verschlechtern sich unter Umständen sogar gegen- nicht das letzte Wort sein. Beim vierten Kind und bei
über dem geltenden Recht. Das darf nicht sein. Des- weiteren Kindern gibt es sogar eine Verschlechte-
wegen bleibt das Ziel der SPD: 250 DM Kindergeld rung von mindestens 5 DM; das ist doch abenteuer-
vom ersten Kind an und 350 DM ab dem vierten lich! Kann denn bei Ihnen eigentlich niemand rech-
Kind. nen?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1719
Ingrid Matthäus-Maier
Die Menschen rufen in unseren Büros an. Ich sage nen, die keine Kinder und infolge dessen eine gerin-
ihnen: Rufen Sie nicht bei der SPD an, gere Belastung, ein doppeltes Einkommen und im
Alter eine doppelte Rente haben. Das wollen die
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Stimmt!) Leute!
rufen Sie beim Bundeskanzler an! Der ist für diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
unzureichenden Vorschlag verantwortlich, und der
soll das gefälligst ändern. Wir Sozialdemokraten blei- Deswegen sage ich ganz einfach, was wir wollen:
ben bei 250 DM, und das ist besser, meine Damen Wir wollen statt 70 DM für das erste Kind 200 DM für
und Herren. das erste Kind, statt 130 DM für das zweite Kind
200 DM für das zweite Kind, statt 220 DM für das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dritte Kind 300 DM und statt 240 DM für das vierte
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Kind ebenfalls 300 DM.
PDS)
(Zuruf von der SPD: Das ist doch Volksver
dummung, was Sie machen!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
der Kollege Dr. Heiner Geißler. Der Freibetrag wird von etwas über 4 000 DM auf
6 264 DM erhöht.
Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Herr Präsident! Schließlich machen wir noch etwas: Nicht Beamte
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau und Bürokraten verrechnen und gleichen aus, son-
Matthäus-Maier, wenn wir jetzt schon beim Rechnen dern die Bürgerinnen und Bürger haben das freie
sind und Sie ein Existenzminimum von 7 200 DM für Recht, zu entscheiden, ob sie den Freibetrag oder
richtig halten - - das Kindergeld wollen. Das entscheiden sie danach,
was für sie günstiger ist.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Habe ich ja
gar nicht gesagt! Entschuldigung, Sie ver Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese
wechseln im Moment Herrn Fell mit -mir!) Lösung ist im übrigen auch geeignet, verfassungs-
rechtlich das Problem zu lösen - da haben Sie recht -,
- Nein, nein. daß ich mit 200 DM nicht die Freibetragswirkung er-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Doch!) reiche, die ich auch für einen Einkommensbezieher
zwischen 160 000 DM und 280 000 DM erreichen
Herr Präsident, darf ich die Kollegin kurz fragen, muß. Das ist verfassungsrechtlich einwandfrei und
welches Existenzminimum sie für richtig hält? beläuft sich auf 272 DM. Das erreichen Sie mit Ihren
250 DM auch nicht. Deswegen ist es gut, daß diese
Einkommensbezieher für den Freibetrag votieren
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
können.
Geißler, wir können an sich von den Regeln der Ak-
tuellen Stunde nicht abweichen. Ich würde Ihnen Frau Matthäus-Maier, niemand - mit ganz weni-
einfach raten, daß Sie Ihre eigene Meinung vortra- gen Ausnahmen; ich zeige Ihnen diese Tabelle -
gen. Das wäre das Einfachste. Sie verbrauchen Ihre steht sich schlechter. Das ist einfach nicht wahr! Vor
Zeit, Herr Kollege. Sie sollten Ihre Meinung vortra- allem verbessern wir für die unteren Einkommensbe-
gen. zieher die Situation ganz entscheidend: Jemand mit
A 3 und einem Kind: 704 DM mehr, A 9: 620 DM
mehr, A 12: 458 DM mehr, A 15: 400 DM mehr. Bei
Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Also gut, ich mache
einem Verheirateten mit zwei Kindern: A 3: 704 DM
weiter.
mehr, Facharbeiter mit 65 000 DM: 1 156 DM mehr,
Frau Kollegin Matthäus-Maier, damit wir uns dar- A 12: 1 000 DM mehr, verglichen mit dem Tarif 1990.
über im klaren sind: Selbst wenn Sie sich auf das Exi- Wir haben bei Einkommensbeziehern mit vier Kin
stenzminimum von 6 264 DM einließen, kämen Sie dern in ganz wenigen Gruppierungen Schlechterstel-
mit den 250 DM, die Sie vorschlagen, auch nicht hin. lungen gegenüber dem jetzigen Zustand - und das
Da fehlt dann zwar nicht viel; aber bei einem Steuer- auch nur in einstelligen Beträgen. Und wenn der
satz von 53 % fehlen mindestens - rechnen Sie es neue Grundfreibetrag einberechnet ist, dann ist
nach - 22 DM, und wenn Sie den Solidaritätszu- höchstwahrscheinlich auch diese Schlechterstellung
schlag noch dazurechnen, dann fehlen Ihnen 30 oder beseitigt.
40 DM. Diese verfassungsrechtliche Problematik
Mir - uns allen - wären, Frau Matthäus-Maier,
müssen Sie lösen. Aber darüber wollte ich eigentlich
250 DM auch lieber als 200 DM. Das ist richtig.
hier gar nichts sagen.
(Beifall bei der SPD)
Die Debatte ist hier von Frau Matthäus-Maier so
begonnen worden, wie wir mit der letzten aufgehört Wir unterscheiden uns von Ihnen nur dadurch, daß
haben. Gerichtsurteile sind damals verlesen worden, wir klar sagen: Mehr als 6 Milliarden DM können wir
Professorengutachten, SPD-System, CDU-Modell, nicht finanzieren. Sie können diese 250 DM auch nur
F.D.P.-Vorschlag und alles mögliche. Die Leute wol- deswegen finanzieren, weil Sie das Ehegatten-Split-
len von uns nicht hören, mit welchem System wir sie ting in einer Größenordnung von 10 Milliarden DM
beglücken, sondern die Väter und Mütter mit ihren kappen wollen. Genau dies halten wir nicht für rich-
Kindern wollen von uns hören, wie wir ihre konkrete tig. Dies ist möglicherweise verfassungswidrig. Es ist
Lage verbessern, und zwar auch im Vergleich zu de- politisch falsch. Wenn Sie diese Kappung des Ehe-
1720 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Carl-Ludwig Thiele
breite Zustimmung finden könnte. Ich möchte an die- Wir demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten
ser Stelle ausdrücklich betonen, daß die Kommunen waren und sind der Auffassung, daß einzig eine nur
und die Länder nicht schlechtergestellt werden sol- nach dem Alter gestaffelte einheitliche Kindergeld-
len, sondern von dem Bund einen entsprechenden zahlung an jedes Kind in Höhe des tatsächlichen
Ausgleich aus dem Steueraufkommen des Bundes er- Existenzminimums eine sozial gerechte und auch
halten sollen. unbürokratische Lösung darstellt. Das Ehegatten
Splitting wäre zumindest durch ein Familien-Split-
Lassen Sie uns zugunsten der Kinder, zugunsten ting zu ergänzen. Herr Waigel, Ihre Vorschläge sind
der Frauen und zugunsten unserer Familien nun- eine einzige Mogelpackung!
mehr kleinliches Töpfchen- und Rollendenken zu-
rückstellen und diesen Schritt mutig in die neuge- (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
staltete Zukunft gehen. Nennen Sie mich doch ruhig Faltlhauser!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Behauptung in der Beschlußvorlage der Koali-
tionsfraktionen, das Existenzminimum der Kinder
werde durch den erhöhten Freibetrag voll berück-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat sichtigt, entbehrt jeglicher Grundlage. Die seit dem
die Abgeordnete Frau Dr. Barbara Höll. 1. Juli 1994 geltenden Regelsätze des Bundessozial-
hilfegesetzes weisen für die Kinder Regelsätze zwi-
Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da- schen 248 und 269 DM aus. Das Statistische Bundes-
men und Herren! Alle Jahre wieder legt der Bundes- amt schätzt die Aufwendungen für ein Kind auf
kanzler ein herzergreifendes Bekenntnis zur Familie durchschnittlich 800 DM pro Monat.
ab. Unübertroffen ist die scharfsinnige Einsicht, die Bei der Wahl zwischen Kindergeld und Kinderfrei-
Herr Kohl dem Bundestag in seiner Regierungserklä- betrag wird nur ein kleiner Personenkreis bei der
rung am 5. November 1994 mitteilte: Entscheidung für den Freibetrag besser abschneiden
Wir wissen, daß die Familie der Ort ist, wo über als mit der Wahl der Zahlung von pauschal 200 bzw.
unsere Zukunft entschieden wird. - 300 DM Kindergeld. Erst wenn die Grenzsteuerbela-
stung bei Ein- und Zweikindfamilien 38,3 % über-
Zweieinhalb Jahre benötigte die Bundesregierung, steigt, rentiert sich der Kinderfreibetrag. Diese
um tatsächlich Vorschläge für familienpolitische Be- Grenzsteuersätze werden z. B. bei einem zu versteu-
schlüsse vorzulegen, nachdem das Bundesverfas- ernden Einkommen von 77 112 DM bzw. 154 224 DM
sungsgericht festgestellt hatte, daß das Existenzmini- erreicht. Für die Masse der Steuerpflichtigen wäre
mum für Kinder steuerfrei zu stellen ist - getreu dem damit der Kinderfreibetrag abgeschafft und durch
Motto der Regierungspolitik: Aussitzen und „Es muß ein einheitliches Kindergeld ersetzt - was die Oppo-
etwas geschehen, aber es darf nichts passieren! " sitionsparteien immer forderten und die Koalitions-
fraktionen stets ablehnten. Jetzt versuchen sie, ihren
Wenn Frau Ministe rin Nolte jetzt erkennt, daß Fa- Schwenk auch noch zu vertuschen, indem sie dema-
milienförderung endlich Vorfahrt haben muß, so gogisch von einer Wahlfreiheit reden, die für die mei-
frage ich Sie, liebe Frau Ministerin: Wer hat denn - sten keine ist.
um bei Ihrem Bild zu bleiben - bis heute den Kreis-
verkehr bevorzugt? Bei der faktischen Abschaffung Der Vorschlag, den Sie vorgelegt haben, muß
des Asylrechtes oder beim Einsatz der Bundeswehr sich schließlich auch am bisher geltenden System
in Somalia haben Sie doch ein ganz anderes Tempo messen lassen und daran, was im Referentenent-
vorgelegt und auch durchgezogen. wurf zum Jahressteuergesetz 1996 zum höheren
Kindergeld und zu höheren Kinderfreibeträgen
Mehr als 2,2 Millionen Kinder, d. h. jedes siebte steht. Der Kinderfreibetrag von 4 104 DM bedeutete
Kind in den alten und jedes fünfte Kind in den neuen bei einem Grenzsteuersatz von 19 % eine Begünsti-
Bundesländern, leben in Familien, deren Nettoein- gung von rund 65 DM im Monat, so daß mit dem
kommen unterhalb der Armutsgrenze, unterhalb des
bisherigen Kindergeld 135 DM für das erste Kind
Sozialhilfesatzes, liegt. Mindestens eine weitere Mil- herauskamen, für das zweite Kind 195 DM, für das
lion Kinder wachsen in Familien auf, die alleine auf dritte mindestens 285 DM und für das vierte min-
Sozialhilfe angewiesen sind. Auch ein zunehmender destens 305 DM.
Teil der Jugendlichen lebt von der „Stütze", in Ost-
deutschland bereits jeder dritte. Der Referentenentwurf sieht jedoch eine Grenzbe-
lastung von 29 % vor. Damit macht der Kinderfreibe-
Pünktlich zum Internationalen Frauentag hat die trag bereits 99,18 DM im Monat, also rund 100 DM,
Koalition nun mitgeteilt, wohin es familienpolitisch aus. Das erste Kind brächte damit 170 DM, das
gehen soll. Doch selbst die regierungsfreundliche zweite jedoch bereits nur 230 DM, das dritte 320 DM
Presse war nicht zu Jubelarien aufgelegt. Ich muß sa- und das vierte 340 DM. Das heißt, nur Einkindfami-
gen: Das wundert mich nicht. Denn wer selber unter lien würden entsprechend dieses neuen Vorschlags
der Förderung der Familien nur die Förderung der eine leichte Verbesserung erhalten. Zweikindfami-
Ehe versteht, der wird bei einer Lösung, deren wich- lien bleiben bei Null, und bei Dreikindfamilien ist es
tigster Aspekt für Herrn Waigel darin besteht, daß er schon wesentlich schlechter.
nur 6 Milliarden DM anstatt 16 Milliarden DM bei
Zahlung eines erhöhten einheitlichen Kindergeldes
bereitstellen muß, keine Vorfahrt für Familienförde- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Dr. Höll,
rung erkennen können. Sie müssen zum Abschluß kommen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1723
Dr. Barbara Höll (PDS): Ein letzter Satz. - Aus Ihren - Frau Matthäus, wer mehr als zwei Kinder hat, wird
Meldungen geht überhaupt nicht hervor, wie das bei es wissen: In der Praxis fängt die größte Mehrbela-
Empfängerinnen von Unterhalt gerechnet werden stung ab dem dritten Kind an.
soll. Wird das Kindergeld weiter wegen die Sozial-
hilfe aufgerechnet? Dann ist es eine glatte Lüge, daß (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was ist mit
mit diesen Vorschlägen alle Kinder bessergestellt zwei Kindern?)
werden.
- Für das zweite Kind werden wir eine weitere Entla-
Ich muß sagen, meine Damen und Herren von der stung vielleicht beim nächsten Schritt realisieren
Regierungskoalition: Wir von der PDS sind nicht ent- können. Aber ich denke, ab dem dritten Kind und
täuscht. Wir haben von Ihnen leider schon nichts an- den weiteren Kindern wird es für die Familien immer
deres mehr erwartet. schwieriger, den Unterhalt sicherzustellen.
Ich danke. Zugegeben, der derzeitige Familienlastenaus-
(Beifall bei der PDS) gleich mit Kindergeldzuschlag, Kinderfreibetrag,
Kindergeldsockelbeträgen, Minderungsstufen beim
Einkommen ist kompliziert. Um so besser ist der jet-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das zige Vorschlag, weil er Vereinfachung schafft. Er ist
Wort der Bundesministerin für Familie, Senioren, schlüssig, und im Ergebnis wird er auch die Verwal-
Frauen und Jugend, Claudia Nolte. tung entlasten.
Der Vorschlag der Koalition dagegen ist finanzier- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Mehrbela
bar. Ich danke ausdrücklich meinen Kollegen und stung!)
Kolleginnen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion, Das ist Tatsache, und das benutzt auch Herr Dr. Fell
die an diesem neuen Vorschlag sehr konstruktiv ge- in seiner Veröffentlichung.
arbeitet und von Familienförderung nicht einfach nur
gesprochen haben. Denn auch das ist ein Fakt: Nur Heute wird von Ihnen - auch von Herrn Thiele -
durch solide Finanzpolitik ist es überhaupt nur mög- viel von vertikaler und horizontaler Gerechtigkeit
lich, daß wir 1996 Familien um insgesamt 6 Milliar- geredet und wiederholt das Verfassungsgericht be-
den DM entlasten. müht. Kein Mensch versteht das: horizontale und
vertikale Gerechtigkeit, aber es klingt herrlich wis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) senschaftlich; also muß es natürlich auch richtig sein.
Wenn die Finanzminister der Länder konstruktiv (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
mit uns zusammenarbeiten, dann werden wir es Das sagt das Verfassungsgericht, Frau Kol
schaffen, daß diese erheblichen familienpolitischen legin! - Zuruf von der SPD: Keine Zwi
Leistungen 1996 wirklich erreicht werden. Natürlich schenrufe von der Regierungsbank!)
haben wir vor, diese weiter auszubauen. Denn auch
Dabei umschreibt diese Formel die schreiende Unge-
ich glaube, diesem wichtigen und guten Schritt müs-
rechtigkeit, daß das Existenzminimum von Kindern
sen weitere Schritte folgen. Die Mütter und Väter er-
nicht gleichmäßig beurteilt wird; denn um nichts an-
warten von uns nicht, daß wir darüber streiten, wie
- könnte, deres geht es als um das nackte Existenzminimum
die beste Lösung rein theoretisch aussehen
für Kinder, wenn wir uns den bisherigen Familienla-
sondern sie wollen von diesen Verbesserungen end-
stenausgleich von Kindergeld, Kindergeldzuschlag
lich etwas spüren, die wir alle im Wahlkampf ange-
und Kinderfreibetrag anschauen. Das gilt auch für
kündigt haben.
die neuen Vorschläge.
Die Koalition hat ein Modell eingebracht, das die Wenn wir aber schon auf der minimalen Stufe Fa-
finanziellen Spielräume der Familien spürbar verbes- milienleistungsausgleich betreiben, dann kann mir
sert, verfassungskonform und solide finanziert ist. niemand klarmachen, warum diese Förderung nicht
Wenn es Ihnen wirklich um die Familien geht, dann für alle Kinder gleich sein soll, ja gleich sein muß.
schließen Sie sich unseren Vorstellungen an.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg.
Danke. Dr. Barbara Höll [PDS])
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das Bundesverfassungsgericht hätte 1990 mit sei-
nem Urteil nicht im Traum an Nachhilfestunden, Kla-
vierstunden oder ähnliches, was wir für die Kinder
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der sonst noch machen müssen, zu denken gewagt. Wir
Kollegin Lydia Westrich das Wort. reden hier über die allernotwendigsten Ausgaben für
Essen, für Kleidung, für Wohnung, und die sind für
alle Kinder gleich.
Lydia Westrich (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Daß auch der neue Ansatz von 200 DM Kindergeld
verehrten Damen und Herren! Herr Geißler und auch zu niedrig ist, wird nicht nur von den Familienver-
Frau Ministeri n Nolte, wir wissen schon lange, daß bänden kritisiert, sondern auch von Teilen Ihrer
Frau Matthäus-Maier viel besser rechnen kann als Fraktion. Deshalb ist unser SPD-Modell, das gleich-
die meisten aus der Koalition. mäßiges Kindergeld von 250 DM für das erste, zweite
und dritte Kind und 350 DM ab dem vierten Kind vor-
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sieht, das einzige, das sowohl die Vorgaben des Bun-
Sie vergessen bei Ihrer Rechnung nämlich immer die desverfassungsgerichts als auch die Grundbedingun-
gen sozialer Gerechtigkeit erfüllt. Die Finanzierung
Mindestentlastung aus dem Kinderfreibetrag oder
den Zuschlag. Sie beträgt für jedes Kind einfach haben wir wiederholt dargestellt.
65 DM. Das bedeutet: Für das erste Kind gibt es (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
135 DM - bis jetzt 70 DM Kindergeld und 65 DM Ent-
lastung -, für das zweite Kind 195 DM - 130 DM Kin- Das Ehegatten Splitting ist für mich keine heilige
-
dergeld und 65 DM Entlastung -, für das dritte Kind Kuh. Es ist einfach nicht einzusehen, daß z. B. Leute
285 DM - 220 DM Kindergeld und 65 DM Entla- wie ich ohne Kinder durch Kappung - ausdrücklich:
stung -, für das vierte Kind 305 DM - 240 DM Kinder- Kappung! - des Ehegatten-Splittings nicht zur Finan-
geld und 65 DM Entlastung. zierung des Familienleistungsausgleichs herangezo-
gen werden können. Es ist also durchaus noch Luft
(Zuruf von der SPD: Nun sagt etwas dazu!) da, um Familien besser fördern zu können.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1725
Lydia Westrich
Erstens könnte durch den Wegfall des Kinderfrei- Meine Damen und Herren von der Opposition:
betrages ohne weiteres das Kindergeld jetzt schon et- Jede Familie, egal mit welcher Kinderzahl, stellt sich
was angehoben werden, so daß alle Familien ein ein- so besser als vorher und als gegenwärtig mit der
heitliches Kindergeld für ihr Kind erhalten könnten. komplizierten Regelung von Kindergeld, Kindergeld-
Freibeträge haben es ja an sich, oft diejenigen zu för- zuschlag und Kinderfreibetrag.
dern, deren Förderung es weniger bedarf. Zweitens
könnten zudem zusätzliche Mittel durch die Kap- Ich will Ihnen, Frau Westrich und Frau Kollegin
pung des Ehegatten-Splittings aufgebracht werden. Matthäus-Maier, die Zahlen dazu vortragen. 4 800
DM Kindergeld im Jahr für eine Familie mit zwei
In Ihrem Vorschlag fehlt es an wirklichem, tatsäch- Kindern ist unser Vorschlag. Heute: Eine Familie mit
lichem Mut, neue Wege zu gehen, Unangenehmes einem Jahresbruttoeinkommen von 15 000 DM, also
anzupacken, um Familien besser fördern zu können. einem sehr niedrigen Einkommen, hat eine Entla-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne stung von knapp 4 000 DM - bestehend aus Kinder-
freibeträgen, Kindergeld und Kindergeldzuschlag.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS) (Zuruf von der SPD: Das liegt doch unter
Ihre Vorlage schweigt sich auch darüber aus, wann dem Sozialhilfesatz!)
sich die Familien für welche Lösung - Kindergeld
- Ich komme auch zu allen anderen Zahlen, Herr Kol-
oder Freibetrag - zu entscheiden haben oder ob sie lege.
gar die Entscheidung zu ihrem Vorteil revidieren
können. Mit der Wahlmöglichkeit zwischen Kinder- Alle Familien stellen sich besser. Ein Facharbeiter,
geld und Kinderfreibetrag setzt die Bundesregierung 65 000 DM Jahreseinkommen brutto, bekommt
voraus, daß jede Familie selbst zu wissen hat, was für durch Kinderfreibetrag, Kindergeld und Kindergeld-
sie besser ist, das Kindergeld oder der Kinderfreibe- zuschlag heute 3 654 DM, in Zukunft 4 800 DM. Das
trag. Die Transparenz fehlt in Ihrem Vorschlag ganz. ist für den Großteil unserer Familien in Deutschland
eine exemplarische Zahl: 1 146 DM mehr durch den
Gleichwohl ist Ihr neuer Vorschlag ein Schritt in
Vorschlag der Koalition, meine Damen und Herren.
die richtige Richtung und spricht für Ihre -Lernfähig-
keit - warum auch nicht? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der SPD) So könnten wir die Beispiele beliebig fortsetzen.
Unser Trommelfeuer konnte Ihren Ohren ja auch Die Botschaft lautet: Alle Familien in Deutschland
kaum länger verborgen bleiben. Seien Sie mutiger, werden durch diesen Vorschlag der Koalition begün-
meine Damen und Herren von der Koalition, und stigt.
bleiben Sie nicht auf halbem Wege stehen! Der rich-
Lassen Sie mich ein Wort zu der Aufteilung zwi-
tige Weg ist ein einheitliches höheres Kindergeld für
schen Kindergeld für das erste und zweite und Kin-
jedes Kind, das vom Finanzamt ausgezahlt werden
dergeld ab dem dritten Kind sagen. Es ist ehrenhaft,
kann. Das ist dann eine wirkliche eklatante Steuer-
daß wir lange um die Frage gerungen haben, ob wir
vereinfachung - für die Beamten, für die Arbeitgeber
bereits dem ersten Kind ein höheres Kindergeld zu-
und für die Familien.
kommen lassen sollen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Dies ist keine Frage der politischen Zockerei, son-
Sie müssen aber wirklich zum Schluß kommen. dern dies ist ehrenhaft, weil wir uns lange um die
Frage kümmern mußten, Frau Matthäus-Maier: Wo
können wir mit begrenzten Mitteln am meisten für
Lydia Westrich (SPD): Das wäre echt schlanker die Familie tun?
Staat. Die Familien werden Ihnen für jede Mark
mehr danken. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das haben
wir auch sehr gelobt!)
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Unsere Erkenntnis lautet: Für viele Familien ist es
GRÜNEN und der PDS) nicht die Entscheidung, ob sie ein Kind, zwei Kinder,
drei Kinder oder vier Kinder haben wollen, sondern
für viele Familien in Deutschland lautet die Frage:
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Wollen wir ein Kind oder kein Kind?
Wort dem Abgeordneten Friedrich Merz.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Völlig rich
tig!)
Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! 6 Milliarden DM Deswegen ist es richtig, daß wir einen erheblichen
mehr für die Familien, das ist die Botschaft dieser Beitrag für das erste Kind in den Familien leisten.
Entscheidung der Koalition, insgesamt für 14 Mil-
lionen Kinder in Deutschland 42 Milliarden DM Kin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dergeld. Kein Land auf dieser Welt kann mehr bie-
ten, kein Land stellt die Kinder besser als wir in Es ist aber auch richtig, daß wir für das dritte Kind
Deutschland. einen erheblich höheren Beitrag leisten. Die Fami-
lienministerin hat darauf hingewiesen, daß dies rich-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tig ist.
1726 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Friedrich Merz
Lassen Sie mich zum Schluß zwei Bedingungen sa- ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird" und
gen, die, Frau Matthäus-Maier, sozusagen die Ge- „daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenz-
schäftsgrundlage für diesen Vorschlag sind: Es muß minimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei
dabei bleiben, daß ein Wahlsystem beibehalten wird, bleiben muß".
daß diejenigen, die für den Steuerfreibetrag optieren
Ich stelle also fest: Weder ist es eine familienpoliti-
wollen, dies auch können.
sche Großtat der Koalition, den Kompromißvorschlag
Zweitens - und dies ist die Aufforderung an die jetzt vorzulegen, denn die Vorgabe des Verfassungs-
SPD - : Es muß dabei bleiben, daß diese Leistung für gerichts ist sehr eindeutig und zudem auch noch sehr
die kinderreichen Familien von Bund, Ländern und betagt, noch ist er das, als was er verkauft werden
Gemeinden gleichermaßen finanziert wird. soll, nämlich ein Familienleistungsausgleich. Er ist
nicht mehr als der zaghafte Versuch - in Anlehnung
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich an das SPD-Modell, nur leider nicht so konsequent
tig!) und folgerichtig -, steuerliche Gerechtigkeit für Fa-
Die Ernsthaftigkeit Ihrer Forderungen, ein noch milien herzustellen.
höheres Kindergeld auszuzahlen, können Sie da- Wenn man sich die Zahlen etwas genauer ansieht,
durch unter Beweis stellen, daß die SPD-geführten stellt man fest, daß es tatsächlich nur ein Versuch ist.
Bundesländer bei diesem Modell ihre Zustimmung 6 312 DM galten schon für das Jahr 1991 als Exi-
erteilen stenzminimum für Kinder. Für heute, also für 1994/
(Zuruf von der SPD: Da kommt der 95, hat der wissenschaftliche Beirat für Familienfra-
Schwarze Peter!) gen schon eine Summe von 7 200 DM ermittelt. Sie
wurde eben von Herrn Geißler bestätigt. In der Ver-
und es nicht allein dem Bund überlassen, einen er- einbarung sind 6 264 DM ausgewiesen, also ein Fehl-
heblichen Teil des Kindergeldes für die Familien zu betrag von ca. 1 000 DM jährlich.
zahlen, die die Option Kindergeld wählen.
Entsprechend ist die Zahl von 200 DM für das Kin-
Meine Damen und Herren, hier steht der Bund ge- dergeld zu gering. 250 DM, wie unser Vorschlag lau-
-
meinsam mit den Ländern in der Verantwortung, und tet, müßten es schon sein, wenn sie, wie das Verfas-
an dieser Frage wird sich im weiteren Gesetzge- sungsgericht es vorgibt, das Ergebnis der Steuerfrei-
bungsverfahren herausstellen, wie ernsthaft die For- stellung des Existenzminimums sein sollen. Warum
derung der SPD ist, den Familien in Deutschland ein sind Sie so halbherzig? Ist es denn tatsächlich so, daß
höheres Einkommen zukommen zu lassen. die Vorgabe von Herrn Waigel, daß der ganze Spaß
nicht mehr als 6 Milliarden DM kosten darf, für Sie
Herzlichen Dank. wichtiger ist als die Herstellung steuerlicher Gerech-
(Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P.) tigkeit für Familien?
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Immerhin ist es tröstlich, daß angekündigt wird,
Wort der Abgeordneten Hildegard Wester. den von den Koalitionsfraktionen so bezeichneten
Familienleistungsausgleich in den Folgejahren unter
Hildegard Wester (SPD): Herr Präsident! Meine Berücksichtigung der Veränderung des Kinderexi-
Damen und Herren! Ich möchte mich weniger mit stenzminimums weiterzuentwickeln. Das ist auch
den Zahlenspielereien beschäftigen, als vielmehr eine zwingende Notwendigkeit und hat, wie ich
eine Wortspielerei machen. schon eingangs erwähnte, noch nichts mit einem tat-
sächlichen Familienleistungsausgleich zu tun. Die
Was uns derzeit nämlich von den Regierungspar- ge tr offene Regelung berücksichtigt und honoriert
teien vorgelegt wird, ist angeblich der Versuch, den noch nicht einmal im Ansatz das, was sie vorgibt,
Familienlastenausgleich zu einem Familienlei- nämlich die Leistungen der Familien für die Gesell-
stungsausgleich weiterzuentwickeln. Dieses Vorha- schaft, indem sie Kinder erzieht.
ben setzt aber voraus, daß wir es zum jetzigen Zeit-
punkt schon mit einem tatsächlichen Familienlasten- „Zukunft des Humanvermögens" hat die Bundes-
ausgleich zu tun haben. regierung ihren Fünften Familienbericht genannt.
Damit hat sie sich schon im Titel dazu bekannt, daß
Familienlastenausgleich heißt hier nicht mehr und Kinder zu haben und zu erziehen keine reine Privat-
nicht weniger, als daß die Familien das Existenzmini- angelegenheit ist, sondern daß dies eine gesellschaft-
mum ihres Kindes steuerfrei behalten. Dies ist kei- liche Leistung ist, auf die wir und spätere Generatio-
neswegs eine Förderung der Familie, sondern ist al- nen existentiell angewiesen sind. Die ökonomischen
lenfalls die Herstellung steuerlicher Gerechtigkeit. Lasten, die durch die Versorgung und Erziehung von
(Beifall bei der SPD) Kindern entstehen, von den reinen Unterhaltskosten
bis hin zu Einnahmeeinbußen durch teilweise oder
Das Bundesverfassungsgericht stellte nämlich be- völlige Berufsaufgabe und Verzicht auf eine eigen-
reits 1990 fest - ich muß leider noch einmal zitieren; ständige, tatsächliche Altersabsicherung, werden
es wurde eben beklagt, daß das Gericht so oft zitiert derzeit noch nicht einmal im Ansatz ersetzt. Nein, im
werden muß -, „daß der Staat dem Steuerpflichtigen Gegenteil, sie sind noch immer nicht im Bewußtsein
sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muß, der Bevölkerung und erst recht nicht der Regierung
als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für verankert; denn noch immer spricht Frau Nolte z. B.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1727
Hildegard Wester
davon, daß es bei dem, was uns heute vorgelegt menbedingungen, die zu Zeiten der SPD-Regierung
wird, um eine Förderung der Familie handelt. Ich utopisch schienen.
habe gerade dargestellt, daß es bestenfalls um eine
steuerliche Gerechtigkeit geht. (Widerspruch bei der SPD)
Kindergeld und Steuerfreibetrag werden von den Wir werden diese Rahmenbedingungen konti-
meisten Menschen als Förderung der Familie be- nuierlich ausbauen. Dazu gehört der Familienlasten-
trachtet. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, deut- ausgleich, den wir weiter verbessern und durch
lich zu machen, daß dieser Zustand bei weitem noch einen Familienleistungsausgleich neu gestalten.
nicht erreicht ist. Selbst wenn man alle staatlichen
Leistungen an den durchschnittlichen Versorgungs- (Beifall bei der CDU/CSU)
und Betreuungsaufwendungen für Kinder betrach- Dieser Familienleistungsausgleich ist so angelegt,
tet, stellt man fest, daß diese nicht mehr als 10 % aus- daß er, wie es Bundeskanzler Helmut Kohl bereits
machen; denn hier muß der Tatsache Rechnung ge- 1991 in seiner Regierungserklärung formuliert hat,
tragen werden, daß Familien selbst am Aufkommen „Familien um so stärker fördert, je niedriger ihr Ein-
der Einkommen-, Lohn- und Umsatzsteuer beteiligt kommen und je höher die Kinderzahl ist".
sind.
Unter Berücksichtigung der Beschlüsse des Bun-
Noch ein Wort zu der angeblichen Wahlfreiheit, desverfassungsgerichts vom 29. Mai und 12. Juni
die im Modell der Koalition enthalten ist und über 1990 werden wir mit unserem Familienleistungsaus-
die schon mehrfach gesprochen wurde. Es liegt doch gleich bewirken: erstens die steuerliche Freistellung
völlig klar auf der Hand, daß diese Maßnahme nur des Existenzminimums von Kindern, zweitens die
deswegen eingeführt wurde, um den 10 %, die die Förderung der Familie um so mehr, je geringer das
Steuerkomponente wählen werden, ihre Vorteile zu Einkommen und je größer die Kinderzahl ist, und
erhalten, die sie bei jeder Form der Steuerlösung ha- drittens den Abbau wirtschaftlicher Benachteiligung
ben werden. von Eltern mit Kindern im Vergleich zu Kinderlosen.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!)
- Diese Zielsetzung wird mit unseren Vorstellungen
Außerdem darf nicht darüber hinweggesehen wer- im Rahmen des Familienleistungsausgleichs erreicht.
den, daß die Entlastung durch das Kindergeld als Wir wollen, daß jede Familie frei entscheiden kann,
Auszahlungsbetrag bei zunehmender Kinderzahl ab- ob sie das deutlich erhöhte Kindergeld oder den
nimmt. Auch das wurde eben von meiner Kollegin steuerlichen Freibetrag, der das volle Existenzmi-
Westrich noch einmal sehr eindeutig dargestellt. nimum abdeckt, in Anspruch nehmen will. Deshalb,
meine Damen, meine Herren, halten wir auch beim
Familien müssen also in Zukunft sehr genau prü- Familienleistungsausgleich am dualen System fest.
fen, welche Lösung für sie die bessere ist. Dazu wer-
den viele einen Steuerberater aufsuchen müssen. Wo (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
also auf der einen Seite durch die Finanzamtslösung
bürokratischer Aufwand weggenommen wird, wird Mit der neuen Familienförderung wollen wir mehr
auf der anderen Seite neuer produziert. Transparenz und gleichzeitig steuerliche Vereinfa-
chungen durch einen einheitlichen Einkommensbe-
(Beifall bei der SPD - Ingrid Matthäus griff schaffen.
Maier [SPD]: Leider!)
Beide Wege der Familienförderung - Freistellung
Warum gibt es keine klaren Lösungen, die dazu des Existenzminimums für Kinder und Kindergeld -
führen, daß tatsächlich jedes Kind dem Staat gleich sollen über die Finanzämter erfolgen. Dabei werden
viel wert ist? Ein Existenzminimum ist ein Existenz- wir eine unveränderte Lastenverteilung zwischen
minimum, egal für welches Kind. Wir werden unsere den Gebietskörperschaften beim Familienleistungs-
Bemühungen, dieses Ziel und darüber hinaus die ausgleich sicherstellen.
Anerkennung der Leistung von Familien zu errei-
chen, fortsetzen. Unsere Weiterentwicklung des Familienlastenaus-
gleichs durch einen Familienleistungsausgleich be-
Ich danke Ihnen. deutet - ich sage das noch einmal im Klartext - Frei-
stellung des Existenzminimums von jetzt 4 104 DM
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
auf 6 264 DM pro Jahr. Das Kindergeld für das erste
ten der PDS)
und zweite Kind wird auf 200 DM monatlich angeho-
ben, für die weiteren Kinder erfolgt eine Erhöhung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der auf 300 DM pro Monat.
Kollegin Renate Diemers das Wort.
Ich stelle fest: Mit der Freistellung des Kinderexi-
stenzminimums in einem Schritt erfüllen wir nicht
Renate Diemers (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe nur präzise die Anforderungen des Bundesverfas-
Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn Sie, meine sungsgerichts. Vielmehr verbessern wir damit deut-
Damen und Herren von der Opposition, es immer lich die finanziellen Leistungen für rund zehn Millio-
wieder verdrängen oder vergessen machen wollen: nen Familien. Damit ist sichergestellt, daß künftig
Unverwechselbares Merkmal unserer Familienpolitik keine Mutter und kein Vater mehr Sozialhilfe bean-
ist, daß wir Rahmenbedingungen geschaffen haben, tragen muß, um den Lebensunterhalt für die Kinder
die die Familien fördern und stärken. Das sind Rah- zu decken.
1728 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Renate Diemers
Mit den genannten Eckdaten des Familienlei- Trotz dieser Stabilitätspolitik und der soliden Haus-
stungsausgleichs lösen wir unsere Zusage ein, deutli- haltspolitik haben wir gesagt: Ein Bereich muß aus-
che Verbesserungen für die Familienförderung bei genommen bleiben, die Familie. Angesichts der
einer stärkeren Orientierung des Kindergeldes am haushaltspolitischen Vorgaben stellen die 6 Milliar-
Einkommen und gemessen an der Kinderzahl zu den DM ohne Gegenfinanzierung ein außergewöhn-
schaffen. lich positives Signal dar.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Frau Matthäus-Maier fragt: Können Sie mir erklä-
und der F.D.P.) ren, wie Sie in Ihren Berechnungen auf die 6 Milliar-
den DM kommen?
Mit dieser Umgestaltung, die nach unserer festen
Überzeugung am 1. Januar 1996 wirksam werden (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das habe ich
muß, werden die Familien mit einem Finanzvolumen doch gar nicht gesagt! Ich habe doch kein
von 6 Milliarden DM entlastet. Dabei steht für uns Wort davon gesagt!)
außer Frage, daß der Familienleistungsausgleich in Frau Matthäus-Maier, wir rechnen so: Nach unserem
den Folgejahren unter Berücksichtigung der Dyna- bisherigen System geben wir 36,5 Milliarden DM
misierung des Kinderexistenzminimums einer ständi- aus. Das neue System kostet 42,5 Milliarden DM. Die
gen Weiterentwicklung unterliegt. Differenz beträgt 6 Milliarden DM. Ich nenne Ihnen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon auch gleich die Rechnungsgrundlagen, so daß Sie
nicht falsch nachrechnen, sondern ausnahmsweise
überzeugt: Unser Familienleistungsausgleich, der die
Förderung von Familien mit geringem Einkommen einmal richtig. Wir sind davon ausgegangen, daß von
und entsprechend der Kinderzahl gewährleistet, 16 Millionen sogenannten steuerlichen Kindern - es
klingt schlecht; aber es heißt so - 2,2 Millionen ohne
wird nicht nur von uns, er wird von den Familien und
der Bevölkerung als richtig und gerecht empfunden. Kindergeldanspruch sind und 1 Million für den Kin-
derfreibetrag optieren. Dadurch kommen wir ziem-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - lich genau auf diese 6 Milliarden DM.
Joachim Poß [SPD]: Da hat der Herr- Fell Jetzt sagt Frau Wester: Sie betreiben hier Zahlen-
aber heute etwas anderes erzählt! - Carl spielereien. Ich glaube, die Leute interessieren die
Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das hat mich auch Zahlen, und weiter die Frage, was sie am Ende des
erstaunt!) Monats bekommen und was sie am Ende des Jahres
haben. Auf der Basis unseres Modells sehen diese
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Zahlen außergewöhnlich gut aus. Ich glaube, wir
Wort dem Staatssekretär Faltlhauser. sollten die Zahlenspielereien weitertreiben.
(Zurufe von der SPD)
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- 2 700 DM - Frau Kollegin; konzentrieren Sie sich
desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine Da- einmal auf das Zuhören und nicht auf das Dazwi-
men und Herren! Die Reaktionen der Opposition ge- schenschreien - im Monat bei drei Kindern ergibt un-
stern, die Ausführungen heute und die Gesamtstim- ter Berücksichtigung der weiteren Möglichkeiten
mung bestätigen eigentlich eines: Die Opposition ist dieses Vorschlags 225 DM und über den Tarif, der im
über den Vorschlag der Koalition erschrocken, etwas Jahressteuergesetz steht, zusätzlich noch 51 DM. Das
geschockt. Wir haben sie - wie man etwas salopp sa- sind dann für diese Familie pro Monat 276 DM mehr.
gen kann - kalt erwischt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)
und der F.D.P.)
Oder nehmen wir den Fall des klassischen Durch-
Wir haben eine gute Einigung zustande gebracht, schnittsverdieners, der ein Einkommen von 4 500
die erstens verfassungskonform ist, zweitens steuer- DM und zwei Kinder hat und in der Steuerklasse II
systematisch und logisch sauber ist und die oben- ist. Er kriegt insgesamt 164 DM im Monat mehr; das
drein noch den Rahmen von 6 Milliarden DM einhält. sind im Jahr rund 2 000 DM mehr. Ich glaube, das ist
Das hätten Sie nicht gedacht; das ärgert Sie. wirklich eine wesentliche Verbesserung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P.) und der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, es gibt im Haushalt ein Jetzt sagen Sie, Frau Matthäus-Maier, lässig: Wel-
generelles Moratorium. Trotz hoher Anforderungen chen Mut haben Sie eigentlich? Sie können nicht
gibt es im Jahre 1995 einen Anstieg des Haushalts rechnen. - Ich sage Ihnen: Sie rechnen falsch, und
von nur 0,9 %. Das hat etwas damit zu tun, daß alle zwar wissend.
Währungen dieser Welt gegenwärtig in das stabile (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat man
Land Deutschland fließen, daß die D-Mark Zufluchts- ja in der Vergangenheit gesehen, wer bes
währung wird. Das ist ein Erfolg dieser Regierung ser rechnet!)
und ihrer Stabilitätspolitik.
Sie haben mich schon einmal in der Fragestunde
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - darum gebeten, daß ich Ihnen vorrechnen soll,
Lachen bei der SPD) warum Ihre 250 DM nicht verfassungskonform sind.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1729
Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser
Da habe ich Ihnen gesagt: Ich schicke Ihnen die de- Administration, die sogenannte Finanzamtslösung,
taillierten Berechnungsgrundlagen. Das habe ich mit wie uns Herr Kollege Poß wiederholt vorgetragen
Schreiben vom 24. Februar gemacht. Darin habe ich hat. Auch Ihr Vorschlag, also der nichtverfassungs-
Ihnen dargelegt, daß es einfach verfassungsrechtlich konforme,
notwendig ist, eine typisierende Betrachtung bei den
Steuersätzen und bei der Umrechnung von Kinder- (Lachen bei der SPD)
geld in Kinderfreibetrag vorzunehmen, daß dabei braucht diese Finanzamtslösung. Herr Scharping
aber zwei Bedingungen zu erfüllen sind: Erstens. Es sagt: Ich will das; das muß durchgesetzt werden! Bis
darf nur eine relativ kleine Zahl von Steuerpflichti- jetzt haben wir von den SPD-Finanzministern immer
gen, die auf Grund ihrer Einkommenshöhe mit ei- Signale bekommen, daß sie das nicht wollen, daß es
nem höheren Steuersatz als dem angenommenen be- ihnen zuviel ist.
lastet werden, benachteiligt werden. Zweitens. Diese
Steuerpflichtigen dürfen nach den Vorgaben des (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt
Verfassungsgerichts nicht zu hoch benachteiligt wer- nicht! Das ist die Unwahrheit!)
den.
Wir, diese Bundesregierung, der Bundesfinanzmi-
Ich habe Ihnen vorgerechnet, daß auf Basis dieser nister und die Familienministerin Nolte, schreiben
Vorgaben für die Umrechnung eines einheitlichen morgen die Finanzminister der Länder ausführlich
Kindergeldes, wie Sie es vorschlagen, ein Steuersatz an. Wir schreiben Ihnen, wie es ist, und stellen Ihnen
von mindestens - das ist meine persönliche Einschät- auf der Basis dieses Systems präzise Fragen. Dann
zung - 51 % notwendig ist. Vor dem Hintergrund die- sagt uns bitte, ob ihr es macht oder nicht.
ser unwiderlegten und, wie ich meine, unwiderleg- Ich kann nur sagen: Sie von der SPD haben es in
baren Vorgabe sind Ihre 250 DM zuwenig und des- der Hand, daß dieses System von den Ländern umge-
halb verfassungswidrig. setzt wird, weil Sie die Mehrzahl der Finanzminister
stellen.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
- (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)
Sie stellen sich hierher und sagen, unser Vorschlag
wäre nicht ausreichend. Ihr Vorschlag ist falsch; das Sie sind aufgefordert, mit Ihren Kollegen draußen in
ist der Punkt. den Ländern zu reden und zu sagen: Setzt das Fi-
nanzamtssystem durch! Blockiert nicht, damit es den
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Familien und Kindern zugute kommen kann. Sie sind
dran, meine Damen und Herren!
Diese Koalition hat einen Vorschlag vorgelegt, der
verfassungskonform ist, der haushaltsmäßig und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
steuersystematisch richtig ist. Sie stehen mit einem Detlev von Larcher [SPD]: Sie spielen
eigentlich zerbrochenen Krug eines Vorschlags da, Schwarzer Peter! - Gegenruf des Abg. Carl
der nicht ausreicht. Ich glaube, das ist eine ziemlich Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das ist der Joker
schwache Position. Die Bürger draußen merken das und nicht der Schwarze Peter!)
mittlerweile.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
Gemäß unserem Vorschlag - Frau Kollegin Wester, der Kollegin Nicolette Kressl das Wort.
Sie sind darauf eingegangen - besteht folgende Si-
tuation: Derjenige, der 200 DM Kindergeld für das
erste Kind bekommt, ist damit bis zu einem Steuer- Nicolette Kressl (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol-
satz von 38,3 % gewissermaßen verfassungsgemäß leginnen und Kollegen! Und sie bewegen sich doch -
bedient. Dies ist logisch, weil sein Einkommen mit dieses leicht abgewandelte Zitat von Galileo Galilei
seinem individuellen Steuersatz bemessen wird. Die- fiel mir spontan ein, als die Eckwerte der Koalition
jenigen, deren Einkommen mit einem Steuersatz be- zum Familienlastenausgleich bekannt wurden.
lastet wird, der über diesen 38,3 % liegt, haben die
Möglichkeit, den Freibetrag zu wählen. Dieser Frei- Erleichtert, nicht erschrocken, Herr Faltlhauser,
betrag ist von dieser Regierung in einem Bericht, der kann man feststellen, daß es hier eine politische Be-
Ihnen schriftlich vorliegt, übereinstimmend mit 6 288 wegung der Koalition gegeben hat, eine Bewegung
DM vorgegeben. in die Richtung, die die SPD mit ihrem Antrag auf ei-
nen gerechten, unbürokratischen und verfassungs-
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) gemäßen Familienleistungsausgleich vorgeschlagen
hat.
Manchmal gibt es leichte DM-Änderungen; das hat
(Beifall bei der SPD)
etwas mit dem Teilungsfaktor 12 zu tun.
Man geht davon aus, daß Galileo Galilei diese
Das heißt, wir haben hier einen Vorschlag vorlie- Worte nach der Folter gesagt haben soll. Natürlich
gen, der im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen gehe ich in diesem Fall nicht von Folter aus. Offen-
Anforderungen wesentlich sauberer ist. sichtlich aber waren die politischen Argumente der
SPD ganz wirkungsvoll.
Lassen Sie mich aber noch eines zum Schluß sa-
gen, liebe Kollegen von der SPD: Sie brauchen für (Zuruf von der CDU/CSU: Überschätzen Sie
die Realisierung dieses Vorschlags draußen, in der sich mal nicht!)
1730 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Nicolette Kressl
Zweifellos ist es eine Bewegung in die richtige gen. In das Jahressteuerpaket - so hört man - soll die
Richtung, daß eine gleiche Entlastung von 200 DM Regelung nicht aufgenommen werden.
angeboten wird, was wahrscheinlich für 90 % der El-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wo denn
tern günstiger als der Freibetrag sein wird. Sozialde-
sonst?)
mokratinnen und Sozialdemokraten fordern diese
gleiche Entlastung für alle Familien. Aber die Bewe- Konkrete Gesetzesvorschläge liegen auch noch nicht
gung ist eben nur ein kleiner Halbkreis, wenn Sie bei auf dem Tisch. Da kann sich niemand des Eindrucks
den ungerechten Freibeträgen bleiben, die ja be- erwehren, daß es ja nicht zu schnell gehen soll; eher
kanntermaßen Spitzenverdiener mit mehr Geld för- soll ein wenig verzögert werden. Da soll noch mit
dern. den Ländern geredet werden; da muß noch überprüft
werden. Ich frage Sie: Warum haben Sie bei der Ab-
Es ist eine Bewegung in die richtige Richtung, daß schaffung der Gewerbekapitalsteuer nicht mit den
eine Finanzamtslösung gesucht wird. Als ich hier Ländern und den Kommunen ausführlich geredet?
übrigens am 19. Januar für die SPD-Fraktion die Fi-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nanzamtslösung vorgestellt habe, habe ich aus den
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
vorderen Reihen höhnische Bemerkungen gehört,
PDS)
und nun findet sich genau diese Finanzamtslösung in
Ihren Eckwerten. Es werden hier keine Schwarzen Peter zu Lasten
der Familien hin- und hergeschoben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Joachim Poß [SPD]: So ist es!)
Daß es jetzt aber endlich schnell geht, das erwarten
Aber auch hier ist doch die Bewegung in die rich- die Menschen, und das fordern wir von der Regie-
tige Richtung wieder nur ein kleiner Kreis statt eines rung ein. Setzen Sie Ihre Eckwerte schnell um! Ma-
großen Schrittes. Ein wirklich unbürokratischer Weg chen Sie schnell detaillierte Vorschläge! Wenn Sie
wäre auch hier gefunden worden, wenn Sie nicht bei dann noch ein paar Ungerechtigkeiten ausmerzen,
einem Zweiklassensystem von Freibeträgen - für hohe können wir im Interesse der Familien gemeinsam
Einkommen und Kindergeld für alle anderen stek- den ersten großen Bogen schlagen. Dann ist eines si-
kengeblieben wären und nicht auch noch die Ent- cher: Wenn die Richtung stimmt, wenn auch die
scheidung für eines von beiden den Steuerzahlerin- Wege stimmen, bewegt sich die SPD mit.
nen und -zahlern aufgebürdet hätten.
Vielen Dank.
Es ist eine Bewegung in die richtige Richtung, daß
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Familien mit niedrigem Einkommen stärker entlastet ten der PDS)
werden, ebenfalls eine der sozialdemokratischen
Forderungen seit langem. Aber auch hier wieder nur
Halbherzigkeit. Statt 250 DM Kindergeld für jedes Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
Kind, wie von der SPD vorgeschlagen, gibt es nur dem Kollegen Johannes Singhammer das Wort.
200 DM. Das ist unzureichend. Dazu kann ich auch
Ihren Kollegen Herrn Fell zitieren, der z. B. gesagt Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsi-
hat: Für das zweite Kind erhält man heute ein Kin- dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist erfreu-
dergeld von 130 DM und einen Kindergeldzuschlag lich, wenn sich alle hier im Bundestag versammelten
bzw. eine Mindestentlastung von 65 DM, also Parteien gemeinsam um das Wohl der Familie und
195 DM. Das sind 5 DM weniger als Ihre vorgeschla- ihre finanzielle Situation Sorgen machen. CDU und
genen 200 DM. Das gleiche können Sie übrigens CSU haben sich aber nicht nur Sorgen gemacht, son-
auch in der „Süddeutschen Zeitung" bei Herrn Hen- dern haben Ankündigungen vor der Wahl rasch in
nemann nachlesen. ein Konzept umgesetzt. Dieses Konzept bietet der Fa-
milie als Lebensform mit Zukunft wieder eine finan-
Es ist, wie gesagt, die richtige Richtung, eine glei- ziell feste Basis.
che Entlastung vorzuschlagen. Aber Ihr Existenzmi-
nimum ist zu niedrig. Auch dazu hat sich Herr Fell (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
entsprechend geäußert. Ganz abgesehen davon ar- Auf dem jetzt gefundenen Fundament des Fami-
beiten Sie mit Ihrem Betrag des Existenzminimums lienlastenausgleiches kann planvoll weitergebaut
im besten Fall für den heutigen Tag, aber bestimmt werden, um vor allem Familien mit mehr Kindern
nicht für den 1. Januar 1996, an dem diese Regelung von den Randbereichen unserer Leistungsgesell-
in Kraft treten soll. Sagen Sie bitte nicht, es gäbe schaft wegzubringen. Weitere Bausteine sind: Er-
keine Möglichkeiten, den Familien mehr - im wah- leichterungen für den Erwerb von Wohnungseigen-
ren Sinne des Wortes - gerecht zu werden. Im SPD- turn für Familien mit Kindern, Anerkennung von Fa-
Antrag werden konkrete und realistische Finanzie- milienarbeit in der Rentenversicherung und Verbes-
rungsvorschläge gemacht. serungen beim Erziehungsgeld. Das alles ist auch
notwendig. Wenn die Geburtenentwicklung ein Indi-
Aber bleiben wir doch einmal beim 1. Januar 1996. kator für die Befindlichkeit der Familien in Deutsch-
Dann soll, und zwar nach den Vorgaben des Bundes- land ist, dann kann es uns eben nicht gleichgültig
verfassungsgerichtes, die neue Regelung in Kraft tre- sein, wenn die Geburtenzahlen wie z. B. im vergan-
ten. Da müssen Sie sich dann noch viel mehr bewe- genen Jahr um 3,7 % zurückgehen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1731
Johannes Singhammer
Was die Familien in den nächsten Jahren brau- Was die Familien in Deutschland von der Politik er-
chen, ist eine konzertierte Aktion aller Gutwilligen in warten, sind die richtigen Worte und gute Taten. Das
Bund, Ländern und Kommunen. Nur wenn alle ge- Koalitionskonzept ist eine gute Tat. Wir sollten es um-
meinsam an einem S trang ziehen, kann eine nach- s etz en.
haltige Veränderung erreicht werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
In diesem Zusammenhang muß es auch erlaubt Singhammer, bei einem Vater von sechs Kindern ist
sein, zu fragen, was dort, wo die SPD oder die GRÜ- es etwas gewagt, von einer Jungfernrede zu spre-
NEN die Möglichkeit haben, selbst federführend Fa- chen.
milienpolitik zu gestalten, getan worden ist - Taten (Heiterkeit)
statt Worte.
Aber da es die erste Rede ist, die Sie in diesem Haus
Ich betrachte einmal München, meine Heimat- gehalten haben, möchte ich Ihnen im Namen des
stadt, die ein besonders schwieriges Pflaster für Fa- Hauses herzlich gratulieren.
milien ist - ich rede da nicht von ungefähr, denn als
Vater von sechs Kindern weiß ich, wovon ich spre- (Beifall)
che -: Seit 1990 hat eine rot-grüne Stadtregierung
Ich erteile nun der Kollegin Lisa Seuster das Wort.
das Sagen, und seither geschah folgendes: Gestri-
chen wurde das Sonderförderprogramm für mehr als
7 000 Familien im Wohnungsbau; gestrichen wurde Lisa Seuster (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin-
das kommunale Wohngeld für mehr als 5 100 Fami- nen und Kollegen! Ich bin seit 1987 im Bundestag
lien; abgeschafft wurde die Umzugskostenbeihilfe und seitdem auch im Familienausschuß. Wir haben
für rund 3 100 Familien; gekürzt und gekappt wurde in jedem Jahr den Familienlastenausgleich minde-
selbst der Fahrdienst für Familien mit behinderten stens einmal im Ausschuß und auch mindestens ein-
Kindern. mal im Plenum des Deutschen Bundestages heftig
-
diskutiert.
Es macht keinen Sinn, wenn auf Bundesebene bei
den Familienleistungen zugelegt wird und in der Die SPD-Fraktion hat immer ihr Modell, das ein-
größten deutschen Kommune im wiedervereinigten heitliche Kindergeld, als ihren Favoriten dargestellt
Deutschland mit der Abrißbirne gegen freiwillige Fa- und deutlich gemacht, daß es gerecht und eben auch
milienleistungen vorgegangen wird. verfassungskonform ist. Wir haben im Laufe dieser
Jahre lediglich den Betrag geändert. Wir waren ur-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sprünglich einmal bei 200 DM, und wir sagen jetzt:
Neben allem finanzpolitischem Engagement ist es Es müssen mindestens 250 DM sein, um den Fami-
genauso wichtig, die traditionelle Familie als Leit- lien gerecht zu werden.
bild nicht ständig zu demontieren und ein Zerrbild Wer diese Diskussion in den vielen Jahren verfolgt
zu zeichnen: Als würden unter deutschen Dächern hat, weiß, daß Sie immer behauptet haben, unser
Kinder pausenlos mißhandelt, Ehepartner sich per- Modell sei nicht verfassungskonform. Und das haben
manent gegenseitig mit dem Scheidungsanwalt dro- Sie heute schon wieder getan. Diese Regierung hat
hen, und als würde nur darauf gewartet, daß Großel- jahrelang gegen das Modell gewettert.
tern in Heime abgeschoben werden können - wie
eine Münchener Zeitung vor kurzem sinngemäß zi- Anläßlich des 50. Geburtstages von Frau Rönsch
tiert hat. hat der heutige Bundespräsident - damals noch Ver-
fassungsgerichtsprâsident - eine Rede zum Fami-
Ein Umdenken in der Bewertung der Familie ist lienleistungsausgleich gehalten. Sicherlich war das
auch bei denjenigen im Deutschen Bundestag not- Geburtstagskind der Hoffnung, er würde unser Mo-
wendig, die in dieser Debatte den Begriff „Familie" dell als verfassungswidrig darstellen. Ganz im Ge-
zwar oft verwenden, aber bei der entscheidenden Be-
genteil, er hat dieser Regierung ganz deutlich ge-
ratung diesen Begriff nicht über die Lippen bekom-
sagt, daß die niedrigen Leistungen für die Familien
men. Den GRÜNEN ist es in der zurückliegenden Le- nicht verfassungskonform seien und die Regierung
gislaturperiode bei der Vorlage ihres Verfassungs- aufgefordert sei, endlich etwas zu tun, damit die Fa-
entwurfs zu Art. 6 des Grundgesetzes - trotz ausführ- milien gerecht behandelt werden.
licher sechs Absätze mit 35 Zeilen - konsequent ge-
lungen, den Begriff „Familie" nicht ein einziges Mal (Beifall bei der SPD)
zu erwähnen. Statt dessen ist dort viel von Lebensfor-
men und Lebensgemeinschaften, welcher Art auch Er hat auch sehr deutlich gesagt, daß dieser Aus-
immer, die Rede. gleich durchaus durch Steuerfreibeträge plus Kinder-
geld geleistet werden könne. Er hat aber auch sehr
Aber eines ist auch klar: Wer die herausragende deutlich gesagt, daß man dies nur durch ein Kinder-
Stellung der Familie, wie sie in Art. 6 des Grundge- geld abdecken könne, daß das System egal sei, die
setzes festgeschrieben ist, nivelliert, abträgt, wer sie Höhe müsse stimmen. Das ist der Punkt.
mit anderen Lebensformen gleichstellt, verbessert
nicht die Fördermöglichkeiten für Familien, sondern Selbst diese Worte von Roman Herzog haben bei
verringert sie. der Koalition keinen Wandel ihrer Modellvorstellung
gebracht. Noch vor wenigen Wochen ist in der De-
(Beifall bei der CDU/CSU) batte über den Familienleistungsausgleich wiederum
1732 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Lisa Seuster
gesagt worden - und zwar von Herrn Dr. Fell, der ja Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
gleichzeitig Präsident des Familienbundes der Deut- Wort dem Kollegen Hans Michelbach.
schen Katholiken ist -, daß unser Modell ungerecht,
nicht verfassungskonform und irreführend sei. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Präsident!
Heute sagt er auch wieder, das Modell, das die Ko- Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als stolzer Vater
alition diesmal ist es die Koalition - vorgelegt habe, von drei Töchtern
sei nicht verfassungskonform, weil der Betrag zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
niedrig sei. Diesmal muß ich Herrn Dr. Fell zustim- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/
men. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD) freue ich mich, daß wir heute die Möglichkeit haben,
über die Förderung von Familien mit Kindern zu dis-
Wenn ich sehe, daß beim zweiten Kind lediglich kutieren. Ich freue mich ebenfalls darüber, daß sich
5 DM mehr an Leistung erfolgen und bedenke, daß mittlerweile auch die SPD und selbst die GRÜNEN
Sie unser Modell immer kritisiert haben, ist es klar, des Themas Familienförderung annehmen, wenn
daß Sie jetzt Ihrer Argumentation auch treu bleiben. auch halbherzig, sehr spät und leider oft nur zu
Wenn die von der Koalition geplante Lösung mit Wahlkampfzwecken.
der Wahlmöglichkeit zwischen Kindergeld und Dagegen war und ist die Familienförderung für die
Steuerfreibetrag zwar auch nicht völlig unserem Mo- Union eine politische und gesellschaftliche Kernauf-
dell entspricht, aber ihm in der Umsetzung zumin- gabe. Politik für die Familie hat für uns stets allerer-
dest nahekommt - in Ihren eigenen Reihen war zu ste Priorität.
hören, daß etwa 90 % der Betroffenen sich für das
Kindergeld entscheiden werden, also 10 % für die (Beifall bei der CDU/CSU)
Wahlmöglichkeit des Freibetrags -, so bedeutet das, Als Partei, die sich des Wertes von Ehe und Familie
daß Sie zu 90 % auf unseren Vorschlag eingegangen stets bewußt war und ist und die dem Schutz von Fa-
sind. Jetzt fehlen noch die 10 %, und die könnten Sie milie und Ehe seit jeher Vorrang einräumt, haben wir
-
auch noch bringen. unsere langjährige Regierungsverantwortung ge-
(Beifall bei der SPD) nutzt und wichtige familienpolitische Errungen-
schaften auf den Weg gebracht. So war es die Union
Heute begrüßt Frau Rönsch, daß dieser Kompromiß und niemand anders, die den Familien das Erzie-
geschlossen worden ist, den sie jahrelang durch ihr hungsgeld, den Erziehungsurlaub und die Anerken-
starres Festhalten am dualen System „Kinderfreibe- nung von Erziehungszeiten in der Rentenversiche-
trag - Kindergeld" bekämpft und verhindert hat. rung gebracht hat.
Um es noch einmal zu sagen: Diese Lösung hat (Beifall bei der CDU/CSU)
Macken. Wir sind damit nicht einverstanden. Spit-
Seit Dienstagnachmittag aber freue ich mich vor al-
zenverdiener erhalten wieder deutlich mehr, auch
lem über eins: Unsere intensive Meinungsbildung in
wenn es jetzt nur noch 10 % sind. Sie erhalten 77 DM
der Koalition zum Familienleistungsausgleich hat zu
mehr als die Familien mit dem geringen Einkommen.
einem transparenten, gerechten und vor allem finan-
(Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt „sie er zierbaren Ergebnis geführt.
halten"?) (Lydia Westrich [SPD]: Endlich!)
- Ja, sie erhalten mehr Entlastung für ihre Kinder. Wir haben ein gutes Konzept erreicht; eine Lösung
Genau das ist es, was wir als ungerecht empfinden, für eine klare, steuergerechte und soziale Familien-
und dagegen wehren wir uns. förderung ist gefunden. Unser Modell ist ein wirkli-
Gehen Sie also den letzten Schritt auf uns zu! Ge- cher Gewinn für die Familien.
hen Sie auf die 250 DM zu! Dagegen ist der SPD-Vorschlag verfassungswidrig.
Die GRÜNEN wollen natürlich die Auflösung des
Wenn Herr Geißler mit seinem Zwischenruf: „Wie
Ehegatten-Splittings,
hoch ist das Existenzminimum bei Ihnen?" Nebelker-
zen werfen will, muß ich sagen: Herr Geißler, eines (Margot von Renesse [SPD]: Auflösung?
ist ganz sicher, 250 DM sind mehr als 200 DM. Das Wer sagt denn das?)
können wir mit Sicherheit sagen.
weil sie die Familien eher schwächen wollen. Aber
(Beifall bei der SPD) das Ehegatten-Splitting impliziert gerade die steuer-
liche Anerkennung der Familienarbeit, und das ist
Damit sollten Sie sich nicht über die Macken hinweg- uns wichtig.
retten können. 250 ist vielleicht auch noch wenig,
aber mehr als 200. (Beifall bei der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das Mit dem Familienleistungsausgleich ist es uns
in den Ausschüssen noch beraten. Ich hoffe, daß wir jetzt gelungen, zwei Vorgaben gleichzeitig zu erfül-
uns über die 10 % dann auch noch werden einigen len: Zum einen bleibt der finanzielle Aufwand inner-
können. halb der vorgegebenen 6-Milliarden-DM-Grenze,
und zum anderen entspricht der Freibetrag in etwa
(Beifall bei der SPD) dem Existenzminimum eines Kindes und gewährlei-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1733
Hans Michelbach
stet somit seine vom Bundesverfassungsgericht gebo- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich möchte nur
tene steuerliche Freistellung nach dem Leistungs- vorsorglich den neuen Kolleginnen und Kollegen sa-
prinzip sowie vertikale und horizontale Gerechtig- gen, daß unsere Geschäftsordnung nicht vorschreibt,
keit. Unser Vorschlag ist deshalb der einzige verfas- daß man bei seiner ersten Rede die Zahl seiner Kin-
sungskonforme, der gleichzeitig die Situation der Fa- der angibt.
milien im Bereich der niedrigen Einkommen klar und
deutlich verbessert. (Heiterkeit und Beifall)
Sie müssen immer in allen Einkommensbereichen Herr Kollege, es ist Ihre erste Rede gewesen, und
Ehepaare mit Kindern besserstellen als kinderlose ich möchte Ihnen dazu im Namen des Hauses eben-
Paare. Warum wollen Sie von der SPD das nicht be- falls herzlich gratulieren.
greifen? Mit Steuergerechtigkeit hat der SPD-Vor- (Beifall)
schlag nichts zu tun. Dazu kommen die Neidargu-
mente - sie sind ja bekannt - gegen höhere Einkom- Ich erteile dem Kollegen Dr. Karl Fell das Wort
men. Aber was soll das? Der Staat nimmt den Bezie- nach § 30 der Geschäftsordnung. - Sie haben zwei
hern der höheren Einkommen nur weniger weg; er Minuten.
gibt ihnen nichts. Das sollten Sie einmal klar und
deutlich sehen.
Dr. Karl H. Fell (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
(Beifall bei der CDU/CSU) Damen und Herren! Von Frau Kollegin Westrich, ihr
folgend in einem Zwischenruf von Herrn Kollegen
Unsere Pläne entlasten die Familie, stärken ihre fi- Poß und dann auch noch einmal von den Kolleginnen
nanzielle Leistungsfähigkeit und werden der ober- Kressl und Seuster bin ich gewissermaßen zum Kron-
sten Maxime der Familien- und Steuerpolitik der zeugen ihrer Kritik an dem Modellvorschlag der Ko-
Union gerecht, die da lautet: Ehepaare mit Kindern alition aufgerufen worden. Dagegen verwahre ich
und Alleinerziehende müssen steuerlich besser da- mich, und das möchte ich klarstellen.
stehen als kinderlose Steuerzahler. Im übrigen wurde
die Berücksichtigung der „kindesbedingten Minde- Erstens. Wer genau gelesen hat, weiß, daß mein
rung der Leistungsfähigkeit" im Steuerrecht stets Vorwurf mangelnder Verfassungskonformität ge-
auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich genüber dem Koalitionsvorschlag sich darauf be-
verlangt. schränkte, daß beim Existenzminimum für ein Kind
6 264 DM und nicht 7 200 DM zugrunde gelegt wor-
Unser Förderansatz wird die Familien um 6 Milliar- den sind. Das ist der Vorwurf der nicht ausreichen-
den DM zusätzlich entlasten. Insgesamt werden so den Verfassungskonformität.
über 42 Milliarden DM für deren finanzielle Unter-
stützung zur Verfügung stehen, was eine Steigerung (Zuruf von der SPD: Das reicht doch wohl!)
von immerhin 16 % bedeutet. Wenn das keine Steige-
rung für die Familienförderung ist! Zweitens habe ich immer deutlich gesagt - inso-
weit ist Ihnen meine Position bekannt -, daß ich für
Sie können natürlich viel mehr fordern. Warum for- eine Entlastung, für die Gewährleistung der Steuer-
dern Sie eigentlich nicht gleich 1 000 DM? gerechtigkeit und für eine Förderung nach der Be-
darfsgerechtigkeit im dualen System unverändert
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) bin.
Unsolide, Frau Matthäus-Maier, und populistische Drittens. Wenn mein Vorwurf der Nichtverfas-
Forderungen der SPD sind in diesem Zusammen- sungskonformität aus Ihrer Sicht gegenüber dem
hang - das haben auch unsere Leute draußen begrif- Vorschlag der Koalition berechtigt ist, dann ist er es
fen - zwar publikumswirksame Wahlfangköder, erst recht gegenüber Ihrem Vorschlag;
schweben aber im realitätsfernen Raum. Das sollte
man deutlich sehen. Ihre Vorschläge dienen nicht (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist aber
wirklich dem Wohl der Familien, weil sie nicht durch- nicht so interessant!)
setzbar sind. Sie sind eher ein verzweifelter Versuch,
über plakative Versprechungen unzufriedene Wähler - Frau Matthäus-Maier, Sie müßten es wirklich bes-
hinter sich zu scharen. ser wissen - denn mit Ihrem einheitlichen Kindergeld
wären Sie erst und nur dann verfassungskonform,
(Detlev von Larcher [SPD]: Wer hat denn wenn es die Höhe von mindestens 53 % des Existenz-
300 DM gefordert? War das nicht die CDA?) minimums für Kinder erreichen würde.
Ich meine, daß wir einen guten Weg gehen, wenn (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
wir der Stabilität den absoluten Vorrang vor politi- Das sind 300 DM im Monat!)
schen Wunschvorstellungen geben. Wir halten außer
direkten Familienfördermaßnahmen eben auch die Der Koalitionsvorschlag erreicht mit dem Wahl-
Stabilität der Finanzen und eine niedrige Inflations- recht diese Verfassungskonformität sehr wohl, weil
rate für die besten sozialen Leistungen für unsere er für die Bezieher höherer Einkommen durch die
Bürger. Deshalb sollten wir sowohl bei den Steuer- Wahl des Freibetrages die Steuerentlastung sicher-
vergünstigungen als auch beim Kindergeld diese Lö- stellt, und bei allen Einkommensbeziehern, bei de-
sung schaffen. Lassen Sie es uns gemeinsam tun! nen der Grenzsteuersatz niedriger als 38,2 % ist, ist
diese Freistellungsquote in dem Kindergeld von
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 200 DM enthalten.
1734 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Fell, In einer sachgleichen Eingabe wird die Forderung
Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen sich hier auf aufgestellt, Hermes-Bürgschaften für Rüstungsex-
eine persönliche Erklärung beschränken. porte deutscher Unternehmen gesetzlich zu verbie-
ten.
Dr. Karl U. Fell (CDU/CSU): Viertens. Frau Kollegin Was ist nun von solchen Darstellungen und Vor-
Kressl, der Freibetrag bedeutet keine ungerechte schlägen zu halten? Grundsätzlich herrscht sicherlich
Förderung, sondern lediglich die Beseitigung einer Übereinstimmung in diesem Hohen Haus, daß Rü-
von der Verfassung nicht gerechtfertigten Besteue- stungsexporte ein sensibles Thema darstellen. Da
rung. brauche ich gar nicht erst die gern zitierte deutsche
Vergangenheit zu bemühen. Auch ohne diese kann
es sich eine demokratische, den Prinzipien von Frie-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Damit ist die
den und Freiheit verpflichtete Gesellschaft wie die
Aktuelle Stunde beendet.
unsrige nicht leisten, sich durch hemmungslosen und
Der Tagesordnungspunkt 8 ist abgesetzt. unkontrollierten Waffenexport hervorzutun. Von da-
her ist jedem Hinweis nach Verstößen gegen die gel-
tenden Gesetze und jeder Kritik an der Unzuläng-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9a und 9 b auf:
lichkeit dieser Gesetze nachzugehen.
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuß)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
Sammelübersicht 7 zu Petitionen darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen?
Gernot Erler
politische Interessen der Bundesregierung" dafür über beraten, kann man in der Praxis nichts mehr
sprechen. In mehreren Antworten auf parlamentari- machen. Aber wir haben die große Chance, den
sche Anfragen hat die Bundesregierung immer wie- zweiten großen Schatten, der auch auf die Verwer-
der behauptet, daß diese „vitalen Interessen" vor- tung des enormen Waffenerbes der DDR, nämlich
handen seien. Sie hat es aber nicht einmal für nötig der NVA, gefallen ist, zu korrigieren. Der eine Schat-
gehalten, das auch tatsächlich zu begründen. ten besteht darin, daß die gewaltige Armeeausrü-
stung mitten hinein in den kurdisch-türkischen Bür-
(Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜND gerkrieg geliefert worden ist, der andere Schatten in
NIS 90/DIE GRÜNEN]) diese Lieferung von 39 Kriegsschiffen.
Und doch hat auch die Bundesregierung bei dieser Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß die Antrag-
Angelegenheit kalte Füße bekommen. Im November steller aus Dresden und aus Halle kommen, daß ge-
1991 hat sie die Verhandlungen mit Blick auf die rade sie sich mit dieser Petition an den Deutschen
Menschenrechtssituation in Indonesien vorüberge- Bundestag gewandt haben. Wir haben die Chance,
hend unterbrochen, hat sie aber „nach erneuter Prü- ein Zeichen zu setzen, nämlich heute anders zu ent-
fung" , wie sie gesagt hat, 1992 wieder aufgenom- scheiden: so wie uns das die UN-Menschenrechts-
men. kommission empfiehlt, wie es das Europaparlament
In Wirklichkeit hat sich aber die Menschenrechtssi- empfiehlt, wie es der Europarat empfiehlt und wie es
tuation in dieser Phase keineswegs verbessert. Das die WEU beschlossen hat. Wir müssen die erschüt-
kann man leicht an den internationalen Entschlie- ternden Berichte der Menschenrechtsorganisationen,
ßungen und Resolutionen ablesen, etwa der UN- von Amnesty International und von anderen NGOs
Menschenrechtskommission, die im März 1993 - in- ernst nehmen und uns auf die Seite der bedrängten
teressanterweise sogar auf Mitinitiative der Bundes- und bedrohten Menschen - in der Region West-Pa-
regierung - eine Verurteilung dieser Menschen- pua, in Aceh, in Osttimor - in diesem Lande schla-
rechtsverletzungen in Indonesien ausgesprochen gen, wo sie nach wie vor Terror, Verfolgung und Ver-
hat. Man kann es ablesen an der Empfehlung des nichtung ausgesetzt sind.
Europarates und des Europaparlamentes, - die die Gerade wegen dieses Vertrages haben wir als Bun-
Aufforderung enthält, kein Kriegsmaterial nach Indo- desrepublik eine besondere Verpflichtung zur Beob-
nesien zu verkaufen. Das war im Februar 1993, also achtung und Einwirkung auf das nach wie vor men-
zwei Monate nach der rechtlichen Erfüllung des Ver- schenverachtende Regime in Indonesien. Das alles
trages. Man kann es auch an einem sehr wichtigen können wir zum Ausdruck bringen, indem wir ein
Beschluß der WEU - auch er ist unter Mitwirkung solches Zeichen setzen und praktisch ein Stück weit
der Bundesrepublik zustande gekommen - ablesen, einen Fehler korrigieren, der uns insgesamt belastet.
der am Ende die Aufforderung enthält - ich zitiere -,
„ ein unverzügliches Waffenembargo über Indone- In diesem Kontext, wohl wissend, daß in der Sache
sien zu verhängen und unverzüglich militärische Ab- nichts mehr zu machen ist, empfehle ich, dem Anlie-
kommen mit Indonesien und Hilfe für Indonesien gen der Petenten aus Dresden und Halle zu entspre-
auszusetzen". chen und dem Änderungsantrag, den die SPD-Frak-
tion gestellt hat, zuzustimmen.
Da das alles Forderungen waren - letztere stammt
z. B. vom 17. Juni 1993 -, die zusammen mit unseren Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
westlichen Verbündeten und Freunden, die ja auch (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
in der WEU versammelt sind, formuliert worden sind, GRÜNEN und der PDS)
bedeutet das, daß sich die Bundesregierung in der
Frage dieses Waffengeschäftes ins Abseits gestellt
hat, sich völlig isoliert hat. Sie hat sich nicht einmal Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine verehr-
an die Aufforderung, die sie in diesem Kontext selber ten Kollegen, ich möchte Sie noch einmal bitten, die
initiiert und formuliert hat, gehalten. Gesprächsrunde nach draußen zu verlegen; sonst
werde ich die Sitzung unterbrechen.
Dieselbe Bundesregierung erklärt uns häufig - ge-
rade in diesen Tagen wieder -, daß unter dem Begriff Ich erteile nun das Wort der Abgeordneten Ange-
der Harmonisierung der Regelungen mit denen der lika Beer.
Mitglieder der EU bei uns möglicherweise liberalere
Rüstungsregeln Platz greifen sollen. Offenbar heißt Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
„Harmonisierung" aus der Sicht der Bundesregie- Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei
rung, eine Einbahnstraßenidee zu verwirklichen: dieser Debatte geht es um zwei Petitionen. Die
Harmonisierung dann, wenn es um größere Liberali- zweite enthält die Aufforderung an die Bundesregie-
sierung der Rüstungsexporte geht, nicht aber dann, rung, gesetzgeberische Maßnahmen zur Verbesse-
wenn man mit den eigenen Bündnispartnern ein Si- rung der Rüstungskontrolle im Hinblick auf mögliche
gnal gegen ein solches menschenverachtendes Re- Menschenrechtsverletzungen vorzunehmen. Es er-
gime setzen wollte. gibt sich von selber, daß diese Petition mit der Peti-
tion zu Indonesien zusammengezogen worden ist.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt uns
diese Petition eine Chance. Wir alle wissen, daß die In diesem Zusammenhang halte ich es für notwen-
Schiffe nicht mehr rückholbar sind; sie sind bereits in dig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß Deutsch-
der Hand Indonesiens. Da wir erst eindreiviertel land zu den führenden Rüstungsexporteuren der
Jahre, nachdem die Petition eingebracht wurde, dar- Welt gehört. Nach Angaben des Stockholmer Frie-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1737
Angelika Beer
densforschungsinstituts SIPRI und des UN-Waffenre- Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
gisters belegte Deutschland 1992 den dritten und Kollege Irmer, bei der Zahl der Länder, in denen sich
nach dem Zerfall der früheren Sowjetunion den zwei- deutsche Waffen befinden und in die sie trotz der so-
ten Platz im Bereich der weltweiten Rüstungsex- genannten restriktiven Rüstungsexportkontrolle der
porte. Diese Waffen kamen und kommen auch heute Bundesregierung auch weiterhin geliefert werden,
noch in vielen Konflikten zum Einsatz. Ich nenne nur dürften wir heute an führender Stelle sein, wenn zu-
einige: Nicaragua, Afghanistan, den Nahen Osten, gleich die Frage der Menschenrechtsverletzungen
den indischen Subkontinent. Wie sich während des überprüft wird. Ich erinnere an die Fragestunde
ersten Golfkrieges zeigte - in der heutigen Frage- heute nachmittag, in der es darum ging, ob es NVA-
stunde ist das durch die Bundesregierung noch ein- Waffen waren, die an den Iran und den Irak gleich-
mal bestätigt worden -, wurden deutsche Waffen so- zeitig geliefert worden sind, was durch die Bundesre-
gar an die Kriegsgegner geliefert, nämlich sowohl an gierung bestätigt wurde.
den Iran als auch an den Irak. Das heißt, daß Men-
schenrechtsverletzungen immer noch in Kauf ge- Auf die Frage, ob der Bundesregierung bekannt
nommen und befördert werden, wenn es um wirt- sei, daß gleichzeitig bundesdeutsche Waffen an zwei
schaftlichen Profit und die Vertretung deutscher In- Kriegsgegner, die jeweils im eigenen Land nicht nur
teressen geht. die Opposition zielstrebig hinrichten und ermorden,
sondern sich auch gegenseitig bekämpfen, geliefert
Viele Bürgerinnen des Landes, die den friedens- wurden und die gleiche Praxis erfolgte, sah sich die
politischen Auftrag des Grundgesetzes weitaus Bundesregierung heute leider nicht in der Lage, das
ernster nehmen als die Bundesregierung, sind über zu kommentieren oder gar eine Art des Bedauerns
die Rüstungsexportpolitik Deutschlands zu Recht deutlich zu machen.
empört. Sie fordern im einen Fall konkret die Ein-
stellung der Waffenlieferungen nach Indonesien und Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie
im anderen Fall die Verschärfung der Rüstungs- eine Frage des Kollegen Kolb?
exportkontrolle.
Die Koalition allerdings hält es nicht für notwen- Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja.
dig, sich mit den Bedenken, die die Petentinnen und
Petenten geltend gemacht haben, überhaupt ernst- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön.
haft auseinanderzusetzen. Seit Mitte der 80er Jahre
ist die militärische Zusammenarbeit mit Indonesien
ausgebaut worden. Inzwischen werden dort Hub- Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Frau Kollegin, nach-
schrauber der DASA und Kriegsschiffe der Lürssen- dem Sie wiederholt die heutige Fragestunde ange-
Werft in Lizenz nachgebaut. sprochen haben: Würden Sie bitte zur Kenntnis neh-
men, daß das Bundesministerium für Wirtschaft heute
in keiner Weise NVA Exporte in die betroffenen
-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Regionen bestätigt oder sonstwie eingeräumt hat?
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ir-
mer?
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber,
Herr Kollege, wir haben doch strafrechtliche Verfah-
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren und Urteile gehabt, in denen nachgewiesen
Gern, Herr Kollege Irmer. wurde, daß, durchaus mit Kenntnis der Bundesregie-
rung - ich gebe zu, da sind durch die Opposition
noch einige Lücken zu klären, insbesondere was die
Ulrich Irmer (F.D.P.): Vielen Dank. - Ich komme et- Tätigkeit des damaligen BND-Chefs Kinkel betrifft;
was spät, weil ich Mühe hatte, auf mich aufmerksam aber wir sind dabei, auf dieser guten Spur voranzu-
zu machen. kommen -, westdeutsche Waffen von westdeutschen
Lieferanten in die gleichen Krisenregionen geliefert
(Zuruf von der CDU/CSU: Das liegt am worden sind. Ich verweise auf das Beispiel Türkei, -
Rundbau!) die Türkei ist ein NATO-Partner -, wo ein Völker-
Trotzdem möchte ich Sie gern fragen, Frau Kollegin, krieg gegen die kurdische Bevölkerung stattfindet.
ob Sie nicht den Unterschied zwischen deutschen Auch in diesem Fall herrscht unverständliche Blind-
Rüstungsexporten, d. h. solchen, die offiziell stattfin- heit. Gerade gestern hat der Haushaltsausschuß
den und von der Bundesregierung genehmigt wer- 150 Millionen DM für Kriegsschiffe, für Fregatten, für
den, und solchen, die unter Umgehung sämtlicher eine Armee freigegeben, die im eigenen Land die
gesetzlicher Bestimmungen von kriminellen Elemen- Opposition zielstrebig vernichtet. Ich glaube, daß das
ten illegal vorgenommen werden, kennen und ob Sie als Beispiel reicht, um die Bedeutung der, wie man so
mir nicht bestätigen wollen, daß wir vor etlichen Jah- schön sagt, restriktiven Exportpraxis der Bundesre-
ren, als diese illegalen Exporte bekannt wurden, un- gierung deutlich zu machen.
ser Waffenexportgesetz so verschärft haben, daß es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
jetzt das schärfste in der Welt überhaupt ist, das von und der PDS)
den Gesetzen in keinem anderen Land übertroffen
wird. Verehrte Damen und Herren, wir sagen gar nicht,
daß diese nicht vollständig demilitarisierten Kriegs-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schiffe in Ost-Timor eingesetzt werden. Aber ich bitte
1738 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Angelika Beer
diejenigen, die sich im Menschenrechtsbereich enga- genmerk auf die Petition legen, die sich mit der Lie-
gieren, einmal auf ihr Faxgerät zu sehen. Vor einer ferung von Schiffen aus Beständen der ehemaligen
Stunde kam von Amnesty International eine neue NVA nach Indonesien beschäftigt. Sie alle wissen,
„urgent action" mit der Bitte, sich für 30 verhaftete daß die Bundesregierung in mehreren Stellungnah-
Oppositionelle in Indonesien einzusetzen, weil man men eindeutig geäußert hat, daß die Menschen-
befürchtet, daß sie der schwersten Folter unterliegen. rechtssituation in Indonesien nach wie vor unbefrie-
Das ist der eigentliche Kern der Politik, die wir kritisie- digend ist und daß sie weiterhin auf allen Ebenen
ren und um die es in dieser Petition geht. Der Bundes- darauf hinwirken wird, Verbesserungen herbeizu-
regierung scheint es egal zu sein, ob die Opposition in führen.
Indonesien gefoltert oder ermordet wird, ob die Zei- -
tungen, die über diesen skandalösen Waffendeal be- (Beifall bei der F.D.P.)
richtet haben, hinterher verboten worden sind oder Dennoch, meine Damen und Herren, hat sie im
Protestdemonstrationen wie damals in China auf dem vorliegenden Fall auf der Basis einer gründlichen
„Platz des Himmlischen Friedens" blutig niederge- Einzelfallprüfung der Lieferung von unbewaffneten
schlagen worden sind. Das ist die Blindheit einer - Herr Kollege Erler, ich betone hier ausdrücklich:
Außenwirtschaftspolitik, die hier zur Debatte steht. Es von unbewaffneten - Küstenschutzschiffen aus den
ist eigentlich traurig, daß Sie sie hier noch verteidigen. immensen Beständen der ehemaligen NVA zuge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmt. Ich will dazu folgende Bemerkungen ma-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der chen.
PDS) Erstens. Die Bundesregierung hat in ihrem Asien
Ich möchte bei diesem Punkt auf das Auswärtige Konzept festgeschrieben, daß sie den Dialog mit den
Amt hinweisen, das sich auch mit dieser Petition be- asiatisch-pazifischen Staaten vertiefen will. Das
schäftigt hat. Es hat bestätigt, daß im Falle der Ex- heißt, Gespräche und Gesprächsbereitschaft sind die
porte nach Indonesien „vitale - d. h. außen- und si- Grundlage dafür, auch unsere Vorstellungen von
cherheitspolitische - Interessen der Bundesrepublik" Menschenrechten transportieren zu können.
für die Lieferung der Waffen sprechen würden. Wei-
Zweitens. Als besondere Problembereiche deut-
terhin hat Herr Regierungssprecher Vogel gesagt, in
schen Interesses - Herr Kollege, Sie sind darauf ein-
Rüstungsexportfragen sei man bemüht, Indonesien
gegangen - im Hinblick auf diese Region bezeichnet
einem NATO-Staat gleichzustellen.
das Asien-Konzept die Sicherheit der pazifischen
(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) Seewege, den Schutz vor Terrorismus und Piraterie
und die Eindämmung des Drogenhandels. Beim
Das ist doch eine Blindheit und eine massive Unter- Kampf gegen das internationale Verbrechen muß
stützung von Menschenrechtsverletzungen des Regi- also notwendigerweise und richtigerweise auch mit
mes in Indonesien. Wir sind nicht bereit, das hinzu- den Staaten Asiens kooperiert werden, und ich
nehmen. denke, dem stimmen Sie auch zu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zu Ihrer Information: Die Schwerpunkte internatio-
sowie bei Abgeordneten der SPD) naler Piraterie liegen in indonesischen Gewässern.
Ich möchte - die Zeit ist zu Ende - zum Abschluß Dort hat es zwischen 1991 und 1993 jährlich über 100
appellieren, beiden Anträgen, sowohl dem Ände- registrierte Akte der Piraterie gegeben, wobei wahr-
rungsantrag der SPD als auch dem des BÜNDNIS- scheinlich die Dunkelziffer noch bedeutend höher
SES 90/DIE GRÜNEN, zuzustimmen. Wir dürfen in liegen wird.
dieser wichtigen Frage, die in der aktuellen Debatte
Drittens. Ich komme auf einen Punkt, den Sie an-
nur ein Land, ansonsten aber unzählige mehr betrifft,
gesprochen haben. Die an Indonesien überlassenen
nicht zulassen, daß die Bundesregierung die ernst-
Schiffe sind laut Vertragsvereinbarungen im demili-
haften Bedenken der Menschen aus der Bevölke-
tarisierten Zustand übergeben worden,
rung, die sich an die Regierung wenden, ignoriert.
Diese Frage sollte im Parlament und in der Bundes- (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
regierung beraten werden, damit wir tatsächlich zu NEN]: Das stimmt doch nicht!)
einer effektiven Politik kommen. Das bedeutet für
uns, daß langfristig Rüstungsexporte an diese das heißt, die Waffenleitanlagen sowie die Raketen
Regime generell eingestellt werden. und die Artilleriebewaffnung sind entfernt worden.
Das heißt darüber hinaus, Herr Kollege, daß die
Danke schön. Boote aufgrund ihres von mir genannten Ausrü-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stungsstandes nur zum Küstenschutz, zur Seewegsi-
sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann cherung und zur Bekämpfung der Piraterie und des
[PDS]) Schmuggels, besonders des Drogenhandels, einge-
setzt werden können.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Günther Es geht also nicht um Waffen, wie Sie hier vorge-
Nolting, Sie haben das Wort. tragen haben, und Sie haben ja den WEU-Beschluß
ausdrücklich erwähnt, sondern es geht um Schiffe
für den Küstenschutz - wie von mir aufgezeigt.
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich möchte das Hauptau- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1739
Günther Friedrich Nolting
Viertens. Im konkreten Fall kann auch kein Zu- Gernot Erler (SPD): Herr Kollege Nolting, nachdem
sammenhang zu Menschenrechtsfragen hergestellt Sie mich hier der Falschaussage bezichtigt haben,
werden, denn eine Bedrohung von Menschenrechts- möchte ich Sie fragen: Haben Sie denn Veranlas-
gruppen, Dissidenten oder der Opposition geht nicht sung, an der schriftlich vorgelegten Drucksache 12/
von Schiffen und Booten aus, die in internationalen 6512, an der Beantwortung durch die Bundesregie-
Gewässern zur Verbrechensbekämpfung eingesetzt rung, zu zweifeln? Dort wird nämlich zu der Teilde-
werden. mobilisierung ausgeführt - ich zitiere jetzt nur ein-
-mal von einer der Schiffsklassen, der „PARCHIM"
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Klasse -, daß dort noch vorhanden sind:
Meine Damen und Herren, aus diesen Gründen ist Fliegerabwehrbewaffnung, U-Boot-Abwehrbe-
die getroffene Einzelfallentscheidung der Bundesre- waffnung, hydroakustische und funktechnische
gierung berechtigt. Die F.D.P. ist daher dafür, das Pe- Geräte, Anlagen gegen die elektronische Kampf-
titionsverfahren abzuschließen. Ich verweise hier führung, Anlagen für den magnetischen Eigen-
auch auf die Antwort der Bundesregierung auf eine schutz, ABC-Schutzeinrichtungen;
Kleine Anfrage der SPD -
So geht das weiter bei den anderen Schiffsklassen.
Würden Sie unter dem Eindruck dieser Drucksache,
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Nolting - - deren Richtigkeit zu bezweifeln ich keinen Anlaß
habe, vielleicht Ihre Behauptung, ich hätte hier fal-
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): - einen Mo- sche Aussagen über die Teildemobilisierung ge-
ment, bitte - zu dieser Thematik vom 28. Dezember macht, zurücknehmen?
1993, Drucksache 12/6512. Herr Kollege Erler, Sie
hätten dies noch einmal nachlesen sollen; ich denke, Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Herr Kollege,
dann hätten Sie diese falschen Behauptungen hier Sie haben in diesem Zusammenhang erwähnt, daß
nicht wiederholt. hier gegen die Opposition vorgegangen werden
könnte, daß hier die Menschenrechte verletzt wer-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Nolting, den könnten. Ich stelle die Gegenfrage: Kann mit ei-
die Kollegin Beer möchte gern eine Zwischenfrage ner der Einrichtungen in irgendeiner Weise das be-
stellen. Inzwischen hat sich auch der Kollege Erler zweckt werden, was Sie hier behauptet haben?
erhoben, um eine Zwischenfrage zu stellen.
(Beifall bei der F.D.P. - Widerspruch beim
Sind Sie bereit, beide Zwischenfragen zu beant- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Gernot Erler
worten? [SPD]: Ja, mit den Landungsbooten sehr
wohl!)
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Ja, ich bin be- Herr Präsident, ich möchte bitte fortfahren. - Auf
reit, beide Zwischenfragen zu beantworten. Grund des hier Vorgetragenen lehnen wir auch den
Änderungsantrag der SPD ab.
Ich bitte meine Bemerkung eben zu entschuldigen.
Zu den Eingaben, die hier gekommen sind, die die
Verbesserung der Rüstungsexportkontrollen for-
Vizepräsident Dr. Hans Klein: Die Uhr steht schon. dern, und zum Änderungsantrag vom BÜNDNIS 90/
- Bitte, Frau Beer. DIE GRÜNEN will ich mich kurz fassen. Die Bundes-
republik - und ich wiederhole hier das, was der Kol-
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr lege Irmer in der Frage vorhin schon angedeutet hat -
Kollege Nolting, ist Ihnen bekannt, daß die neuwerti- hat nach wie vor die restriktivsten Rüstungsexport-
gen Minenräum- und -suchschiffe Kondor II nicht, kontrollen der Welt.
wie vom Bundessicherheitsrat verlangt, vollständig Frau Kollegin Beer, es nützt überhaupt nichts,
demilitarisiert waren, sondern daß die funktionstüch- wenn Sie hier heute wieder das SIPRI-Märchen aus
tigen Abschußrampen mitgeliefert worden sind, d. h. dem Jahr 1992 mit Deutschland als dem angeblich
daß die Schiffe nicht, wie Sie hier behaupten, demili- drittgrößten Rüstungsexporteur der Welt wieder auf-
tarisiert, sondern nur teildemilitarisiert waren? wärmen. Diese Fiktion ist durch eine Studie der Stif-
Ist Ihnen weiter bekannt, daß im Bereich gerade tung „Wissenschaft und Politik" bereits im letzten
der fraglichen Region eine Aufrüstung im Marine- Jahr, also 1994, widerlegt worden, die ich Ihnen
und Luftbereich stattfindet, d. h. mit einer Kriegs- gerne gleich noch zur Lektüre weitergebe. Aber ich
schiffausrüstung auch die Militäroption Indonesiens denke, Sie verfahren hier nach dem Motto:
erhöht wird? (Zuruf der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Es ist mir be- Ich lasse mir meine Vorurteile nicht kaputtrecher-
kannt, daß sich an einigen wenigen Schiffen nicht, chieren. - Ich übergebe Ihnen gerne gleich diese Stu-
wie Sie sagen, Abschußrampen befinden, sondern die, und ich hoffe, daß Sie dann zu einem anderen
daß es Möglichkeiten zur eingeschränkten Flugab- Ergebnis kommen.
wehr gibt, daß aber darüber hinaus die weiteren Be-
hauptungen, die Sie hier aufstellen, nicht zutreffen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
1740 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Wolfgang Dehnel
Danke schön. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Elisabeth Altmann das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.)
Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und
Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Herren! Nach dem Abzug der Alliierten wurden und
sprache. werden im gesamten Bundesgebiet viele Wohnun-
gen und die dazugehörigen ehemalig militärisch ge-
(Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: Ihr seid nutzten Flächen frei. Bei unserer allgemeinen Woh-
wenig Leute! Ihr stellt Anträge und habt nungsnot und den überhöhten Mieten könnten wir-
keine Leute! - Gegenrufe von der SPD) uns darüber freuen. Hier sind Wohnungen frei; sie
Wenn Sie, Herr Nolting, die Debatte unterbrechen könnten sofort als Sozialwohnungen bezogen wer-
könnten, dann kommen wir zur Abstimmung über den. Das wäre eine längst überfällige Entlastung für
die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses den Wohnungsmarkt, eine dringend notwendige
auf Drucksache 13/332, Sammelübersicht 7. Dazu Entlastung für die gebeutelten Portemonnaies von
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ Beziehern niedriger und mittlerer Einkommen, von
DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/710 vor, über den kinderreichen Familien, alleinerziehenden Müttern
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände- und Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen.
rungsantrag? - Wer stimmt dagegen? — Wer enthält Zu unserer Erinnerung: Eine Million Menschen in
sich der Stimme? - Der Änderungsantrag ist abge- Deutschland verfügen über keine Wohnung oder
lehnt. sind obdachlos. Die Mietbelastung ist für 1,8 Mil-
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- lionen Menschen untragbar geworden. Immer mehr
tionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Menschen droht die Zwangsräumung. Es ist aller-
Die Beschlußempfehlung ist angenommen. höchste Zeit, schnellstens aktiv zu werden.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Pe- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, ich muß
titionsausschusses auf Drucksache 13/333, Sammel- Sie einen Moment unterbrechen. - Verehrte Kolle-
übersicht 8. Dazu liegt ein Änderungsantrag der gen, die Sie im Mittelgang eine Konferenz abhalten:
Fraktion der SPD auf Drucksache 13/712 vor. Wer Tun Sie das bitte außerhalb!
stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Bitte fahren Sie fort.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti-
tionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) (BÜNDNIS 90/
Die Beschlußempfehlung ist angenommen. DIE GRÜNEN): Was geschieht jedoch bis heute mit
diesen leerstehenden Wohnungen und Freiflächen?
(Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: So ganz Ich will dies exemplarisch an Hand einiger Beispiele
ernst nehmt ihr eure eigenen Anträge doch aus Baye rn aufzeigen.
nicht!)
Erstens Herzogenaurach: Allein in meinem Wahl-
kreis in Herzogenaurach stehen auf der Herzobase
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: 108 große Wohnungen leer. Als ich im vergangenen
Sommer mit dem Fahrrad über die Herzobase fuhr,
Beratung des Antrags der Abgeordneten Fran-
kam sie mir vor wie eine Geisterstadt. Alles vorhan-
ziska Eichstädt-Bohlig, Elisabeth Altmann
den: Kindergarten, Schule, Geschäfte, weite Grünflä-
(Pommelsbrunn), Helmut Wilhelm (Amberg)
chen - nur menschenleer. Anderenorts gibt es Fami-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lien, die auf kleinstem Raum zusammenleben müs-
Verkauf ehemals militärisch genutzter Woh- sen, keine Grünflächen haben - und da liegt es brach.
nungen durch das Bundesministerium der Fi- Zweitens Schwabach: Dort stehen einerseits seit
nanzen fast drei Jahren 102 große Wohnungen leer; anderer-
- Drucksache 13/364 — seits haben 500 Familien dort Antrag auf Sozialwoh-
nung gestellt.
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß (federführend) Des weiteren liegen in Augsburg riesige Flächen
Verteidigungsausschuß an der Prinz-Karl-Kaserne brach; in Kitzingen sind
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ca. 750 ha zu verplanen - das ist ein Sechstel der Flä-
Vielleicht können wir den Auszug derjenigen, die che der gesamten Gemeinde -; in Fürth sind es 1 400
dieser Debatte nicht folgen wollen, etwas beschleu- Wohnungen.
nigen und auch etwas ruhiger gestalten. Dann kön- Im übrigen: Im Großraum Nürnberg haben sich in
nen wir nämlich mit der Tagesordnung fortfahren. den letzten fünf Jahren die Mieten um ca. 50 % er-
höht. Es herrscht ein riesiger Mangel an bezahlba-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die rem Wohnraum. Hier hätten die Wohnungen nicht
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei länger als einen Monat leerstehen dürfen.
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Minu-
ten erhalten soll. - Dagegen erhebt sich kein Wider- In Aschaffenburg werden noch 900 Wohnungen
spruch. Dann ist das so beschlossen. von der US-Army mit Beschlag belegt, aber sie wer-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1743
Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn)
den nicht mehr voll genutzt. Würde man jetzt planen, Motto: Entweder kauft die Stadt zu einem hohen
so könnte man die Übergabe vorbildlich vollziehen. Preis, oder die Wohnungen werden öffentlich ausge-
schrieben. Zu diesem Zeitpunkt entstand unser An-
Diese Beispiele gelten nicht nur für Baye rn , son- trag.
dern für das gesamte Bundesgebiet. Die Familie, die
hier eben auch von den Unionsparteien so hochge- Erst massiver Protest des Stadtrats, des Bürgermei-
halten wurde, steht angeblich im Zentrum der Bun- sters, von Bürgern und Bürgerinnen und Abgeordne-
despolitik. Ich frage: Wie sieht dann diese Familien- ten aller Parteien konnte diesem Treiben ein Ende
politik ganz konkret aus? Da geht es doch nicht um bereiten. Letzte Woche ist es dann endlich zu einer
menschliche Schicksale. Vielmehr werden zuerst ein- Einigung gekommen. Alle be troffenen Kommunen
mal Paragraphen erfüllt; denn laut Bundesgesetz warten nun auf die Bekanntgabe des Ergebnisses -
müssen die Wohnungen verkleinert werden, damit es wird recht spannend gemacht - und erhoffen sich
sie als Sozialwohnungen vermietet werden können. dann eine zügige Übergabe und einen akzeptablen
Wie lange können und wollen Sie sich das leisten? Preis.
Der lange Leerstand der Wohnungen verursacht Wie war es denn in Neu Ulm, Herr Waigel? In Ih-
-
zudem Schäden an der Bausubstanz, verführt zu rem Wahlkreis hat die Übergabe sehr früh zu einem
Vandalismus und belastet wieder die Steuerzahler sehr günstigen Preis stattgefunden. 800 DM pro Qua-
und Steuerzahlerinnen. Das ist doch ein sozialer Miß- dratmeter kosteten da die Wohnungen. Deshalb ver-
stand. stehe ich die Vorgänge in Erlangen nicht. Die Stadt
Erlangen hat ebenso wie Neu-Ulm einen Mietspie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gel; sie hat wie Neu-Ulm eine Entwicklungssatzung
sowie bei Abgeordneten der SPD) und eine städtische Wohnungsbaugesellschaft. Die
Deshalb fordere ich die Regierungsparteien auf, die Verhandlungen aber gestalteten sich wesentlich
Wohnungen unverzüglich an die Kommunen zu ver- schwieriger.
kaufen, und zwar zu einem bezahlbaren Preis.
In Bad Tölz z. B. standen die Blocks über zwei
Was aber tut angesichts dieser Situation der Bun- Jahre lang leer; dort verhandelte man drei Jahre. Ei-
desfinanzminister, der eben noch hier saß? nige Wochen nach einer Aktuellen Stunde im Bayeri-
schen Landtag gab es dann vom Bund einige Millio-
(Parl. Staatssekretärin Irmgard Karwatzki: nen DM Preisnachlaß. Welche politischen Zusam-
Er ist auch noch da! Dahinten!) menhänge es da mit Ihrem Parteifreund Stoiber ge-
- Okay. geben hat, Herr Waigel, kann und will ich hier nicht
mehr untersuchen.
Um das Schuldenloch zu stopfen, tritt er wie ein
Spekulant auf. So läßt er z. B. die Kommune zuerst Um Licht in dieses Dunkel zu bringen, fordern wir,
einen Bebauungsplan erstellen und legt dann bei der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, erstens einen Bericht
Bewertung den stark gestiegenen Grundstückspreis zu erstellen, wem der Wohnungsbestand nach Abzug
zugrunde. Anschließend gibt er 50 % Rabatt. der Alliierten zum Kauf angeboten wurde, zweitens
mitzuteilen, an wen dann tatsächlich verkauft wurde,
(Lisa Peters [F.D.P.]: Das stimmt nicht!) und drittens, darüber hinaus zu einem fairen Preis
Das kann dann so aussehen: Bei militärischer Nut- vorrangig an die Kommunen oder ihre Wohnungs-
zung, so z. B. in München, liegt der Wert bei 20 bis baugesellschaften zu verkaufen.
30 DM pro Quadratmeter. Bei Baugrund schnellt der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wert auf 1 500 DM in die Höhe; das ist eine riesige sowie des Abg. Horst Kubatschka [SPD])
Steigerung. Davon kann der Minister dann 50 % Ra-
batt geben. Erst dann sind die Kommunen in der Lage, Zukunfts-
perspektiven zu entwickeln. Wichtige planerische
Herr Waigel, als Bayer müßten Sie doch die bayeri- Vorhaben der Kommunen wie sozialer Wohnungs-
sche Verfassung kennen. Dort heißt es: Steigerungen bau, sinnvolle Ausweisung von Gewerbe-, Freizeit-
des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- und und Naturschutzflächen dürfen nicht ausgebremst
Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für werden, erst recht nicht vom Bundesfinanzministe-
die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Können Sie rium. Bezahlbare Wohnungen zu bauen und zur Ver-
sich darüber hinwegsetzen? Können Sie mir erklä- fügung zu stellen ist auch eine kommunale Aufgabe.
ren, welchen Arbeits- und Kapitalaufwand Sie hier
getätigt haben? Ganz folgerichtig hat der Deutsche Städtetag die
zögerliche Übergabe der Liegenschaften mit Rück-
Ein Tauziehen ganz spezieller Art entwickelte sich übertragungsansprüchen bemängelt. Diese Liegen-
zwischen den Kommunen und dem Minister Waigel. schaften wurden den Kommunen, z. B. Schwabach
In Erlangen habe ich dieses Hickhack ganz nah er- und Gießen, während der NS-Zeit geraubt bzw. vom
lebt. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft hatte Bürgermeister „verschenkt", was immer auch das zu
seit Monaten alle Voraussetzungen für eine Über- der Zeit geheißen hat.
nahme der Siedlung geschaffen. Nichtsdestotrotz
wollte der Minister daran vorbei. Der Preis wurde Was tut der Bund? Um noch einmal auf Schwabach
von 20 Millionen DM auf 32 Millionen DM heraufge- zurückzukommen, auf das Kasernengelände. Er
schraubt. Dann, bevor wieder ein Nachlaß gegeben treibt den Streitwert mit der Kommune so hoch, daß
wurde, sah es so aus, als sollten die Wohnungen an sie nicht mehr mithalten kann. 20 Millionen Streit-
Spekulanten teuer verkauft werden - nach dem wert, die Gerichtskosten gehen in die Millionen,
1744 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Karl Diller
riesige militärische Liegenschaft einer zivilen Nut- Eine für die SPD unverzichtbare Forderung ist, daß
zung zuzuführen, in seiner Herausforderung extrem. der Bund als Eigentümer dieser Liegenschaften end-
Es kann nur durch zusätzliche Hilfen auch des Bun- lich auch seiner gesamtstaatlichen Verpflichtung ge-
des bewältigt werden. recht wird und sich um das Problem der Beseitigung
ökologischer Altlasten kümmert.
Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
aufmerksam, daß diese Koalition nicht nur die von Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
uns zu begrüßenden Verbesserungen beschlossen NEN])
hat, sondern gleichzeitig Verschlechterungen, die
wir zu kritisieren haben. Die Koalition hat darauf be- Es geht nicht an, daß der Bund einfach sagt: Das hat
standen, daß der bisher mögliche Stundungszinssatz jetzt 40 oder 30 oder 20 Jahre vor sich hingegammelt;
- das waren 5 % im Westen und 4 % in den neuen dann kann das auch noch weitere 40 oder 30 oder
Bundesländern - auf 2 v. H. über den Diskontsatz 20 Jahre vor sich hingammeln. Dies ist unser Land.
verschlechtert wird. Das heißt, der Stundungszins- Dies ist Eigentum des Bundes. Deswegen haben wir
satz geht gegenwärtig von 5 % bzw. 4 % auf 6,5 %. als Eigentümer die Verantwortung, hier für geord-
nete Verhältnisse zu sorgen.
Der Antrag der SPD, generell für soziale Zwecke (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
Liegenschaften verbilligt an Gemeinden, Kirchen Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
usw. zu veräußern, ist leider Gottes ebenfalls am NEN])
Nein der Koalition gescheitert.
Das Problem, das die Kollegin der GRÜNEN, Frau
Die Sozialdemokraten werden sich weiter dafür Altmann, angeschnitten hat, ist - das haben meine
einsetzen, daß erstens ein Konversionsfonds des Bun- Ausführungen, glaube ich, hinreichend deutlich ge-
des geschaffen wird, zweitens die Verbilligungstat- macht - nur ein Teilaspekt einer sehr komplexen Fra-
bestände ausgeweitet werden und, drittens, insbe- gestellung.
sondere die Rücknahme der Verbilligungsprozent- Das auslösende Moment „Erlangen" ist zur Zufrie-
sätze neu beraten und darüber neu entschieden denheit aller, wie ich hoffe, gelöst. Dennoch bleibt
wird. das Anliegen grundsätzlicher Art. Deswegen stim-
men wir der Überweisung zu und würden uns
Ich mache darauf aufmerksam: Nach geltendem freuen, wenn künftig auch die Fraktion des BÜND-
Recht werden ab dem Jahre 1996 z. B. Liegenschaf- NISSES 90/DIE GRÜNEN im Haushaltsausschuß in
ten, die im Jahre 1992 freigegeben worden sind, diesem Bereich engagiert mitdiskutieren würde.
nicht mehr verbilligt abgegeben werden können.
Denn eine Verbilligung von 50 % soll es ab 1996 nur (Beifall bei der SPD - Joseph Fischer
noch im ersten Jahr nach der Freigabe geben, eine [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Verbilligung von 40 % im zweiten Jahr, eine von Wenn die Fraktion der SPD in Zukunft en-
25 % im dritten Jahr und eine von 0 % ab dem vierten gagierte Oppositionspolitik macht, verspre-
Jahr nach der Freigabe. Wir halten das für unzumut- che ich Ihnen das!)
bar.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, bevor ich
Ich weise darauf hin, daß der Präsident der Oberfi- Ihnen das Wort gebe, erlauben Sie mir, ein Wort an
nanzdirektion Koblenz bei einer Anhörung im Land die Adresse eines Besuchers auf der Tribüne zu rich-
Rheinland-Pfalz zu Protokoll gegeben hat, er halte ten, dem ich gerade durch einen entsprechenden
diese degressive Staffelung für zu knapp bemessen. Wink das Zeitunglesen sozusagen untersagt habe. -
Demokratie, so sein Hinweis, braucht Zeit. Deswe- Wissen Sie, es gibt gewisse Formen der demonstrati-
gen müssen wir den Kommunen Zeit lassen, diese ven Unhöflichkeit, die nur hier unten erlaubt sind.
neue Herausforderung der Freigabe einer Liegen- (Heiterkeit - Joseph Fischer [Frankfurt]
schaft zu bewältigen. Man kann nicht sagen: Nur
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dürfen die
wenn ihr im ersten Jahr schon zugreift, kriegt ihr Zuschauer denn in der Nase bohren, Herr
50 %, egal, was ihr hinterher machen könnt. Das ist Präsident? - Gegenruf des Abg. Joachim
unzumutbar.
Hörster [CDU/CSU]: Wenn es ihre eigene
ist, ja! - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND-
(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Wo Herr Laube NIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Nase gehört
recht hat, hat er recht!) mir!)
Frau Kollegin Lisa Peters, Sie haben das Wort.
Im Rahmen der Konversion bleibt die zügige Frei-
gabe der Liegenschaften durch die Militärs eine un-
verzichtbare Forderung für die SPD. Es ist nicht hin- Lisa Peters (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr ge-
zunehmen, daß die Alliierten beispielsweise erst ehrten Herren! Meine Damen! Eigentlich wäre ich
dann einen Wohnblock räumen, wenn auch der nun geneigt, mich hier hinzustellen und von der Kon-
letzte Amerikaner oder die letzte französische Fami- version in unserer Stadt zu erzählen. Ich will mich
lie ausgezogen ist. Das ist unzumutbar. Wir müssen aber doch ein bißchen an meinem Konzept entlang-
mit den Alliierten darüber reden, daß die Freigabe hangeln und hoffe, daß ich das in fünf Minuten
Zug um Zug erfolgt. schaffe.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1747
Lisa Peters
Der von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Alle Kommunen, die sich rechtzeitig damit befaßt
eingebrachte Antrag beschäftigt sich mit der aktuel- haben, die rechtzeitig nachgedacht und geplant ha-
len Situation einer Liegenschaftsveräußerung in Er- ben, haben jetzt die Nase vorn. Sie haben in der Re-
langen. Dieser aktuelle Anlaß läßt sich nach meiner gel die Verträge unter Dach und Fach, bevor die Nut-
Ansicht - das haben meine Vorredner schon gesagt - zung aufgegeben wird. Vertrauensvolle Gespräche
auch auf München, Cottbus, Rostock, Kassel und mit dem zuständigen Vermögensamt oder mit der
Buxtehude übertragen. In vielen Gemeinden der Oberfinanzdirektion sind natürlich Voraussetzung.
Bundesrepublik werden ehemals militärische Lie- Kaufen kann man dann, wenn man die zukünftige
genschaften einer zivilen Nutzung zugeführt. Ausge- Nutzung rechtzeitig geplant hat und so Verbilli-
löst wurde das Ganze durch die Wiedervereinigung. gungstatbestände schon beim Ankauf in Abzug brin-
Das mußte hier nicht noch erwähnt werden. gen kann.
In der 12. Wahlperiode habe ich mich sehr intensiv (Zustimmung des Abg. Joseph Fischer
mit Konversion beschäftigt, weil das wirklich völli- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
ges Neuland war. Damals mußte man sich alles das, Deshalb halte ich all das, was eben hier gesagt wor-
was wir jetzt wissen, erarbeiten. Die Beschlüsse des den ist, überhaupt nicht für richtig. Wir wissen das
Sommers 1991, die die Auflösung oder Dezimierung doch alle seit Sommer 1991. Es sind hinterher nur ei-
von militärischen Standorten zum Inhalt hatten, tra- nige Liegenschaften hinzugekommen. Spätestens im
fen manche Gemeinde, manche Stadt und manche Herbst 1991 hätte jeder wissen müssen, was er mit
Region hart. Auch das ist schon gesagt worden. einer solchen Liegenschaft, sofern er eine in seiner
Kommune hat, machen will. Nein, nein, es geht gar
Alliierte Streitkräfte und Soldaten der Bundeswehr nicht ums Geld. Das ist auch anders zu machen. Da-
stellten einen großen Wirtschaftsfaktor dar. Gemein- für haben wir ja wirklich gute Verbilligungstatbe-
den und Städte, die Länder und der Bund mußten stände.
- Ich weiß, wovon ich rede; wir haben ein 23
viele Gespräche führen. Es wurde hart um Details ge- ha-Arsenal in Buxtehude übernommen. Wir haben
kämpft und letztendlich um Geld gerungen. Dabei auch vor dem 31. Dezember gekauft und werden es
wurden Kompromisse gemacht, der Strukturwandel entsprechend verwerten. Aber fragen Sie nicht, wie-
berücksichtigt, auf die entleerten Räume Rücksicht viel Gespräche geführt werden mußten und wie wir
genommen, Fördergebiete neu angepaßt und Verbil- von allen Seiten versucht haben, dieses Problem zu
ligungstatbestände geschaffen. Es ist wirklich alles lösen.
gemacht worden.
Ich kann also nur dazu auffordern, daß unsere Kol-
Nun möchte ich meinen Vorredner ansprechen, legen und Kolleginnen in den Kommunen ihr Man-
den Herrn aus dem Haushaltsausschuß. Das Steuer- dat wirklich ernst nehmen und, wenn sie es denn
änderungsgesetz 1992 schuf Klarheit. Die Länder er- noch nicht getan haben, sich jetzt sehr beeilen. Nur
hielten 2 % mehr aus dem Mehrwertsteueraufkom- dann kann es für die Kommunen gut ausgehen, und
men. Die Konversion lag damit bei den Ländern. Ein dann brauchen wir dieses Thema hier auch nicht zu
Konversionsfonds des Bundes wurde nicht gebildet. jeder Zeit wieder zu erörtern. Das ist eine direkte
Die Länder haben es ausdrücklich so gewollt. Ich Aufforderung, all das zu tun, damit es zu einem gu-
sage es noch einmal: Die Länder haben es ausdrück- ten Ende geführt wird. Sand im Getriebe gibt es
lich so gewollt, und zwar sehr gegen unsere Mei- überall.
nung. Wir hätten es gern anders gehabt. Wir hätten
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
auch gern einen Fonds beim Bund angesiedelt. Das
ist damals aber einvernehmlich von den Landesre-
gierungen nicht gewollt worden. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
lege Klaus-Jürgen Warnick.
Heute kann man feststellen, daß die Umwandlung
der militärischen Liegenschaften sehr flott vonstat- Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident!
ten geht, aber sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Meine Damen und Herren! Das Geschäftsgebaren
Wir sind jetzt mittendrin. Liegenschaften werden von der Bundesregierung im Umgang mit nicht mehr be-
der Bundesregierung über das Bundesministerium nötigten, ehemals militärisch genutzten Immobilien
der Finanzen veräußert. Das bringt trotz aller Ab- steht nicht zum erstenmal auf der Tagesordnung.
schläge noch gutes Geld. Das weiß man, wenn man Schon in der vergangen Wahlperiode hat die PDS-
im Haushaltsausschuß ist. Da keine Erfahrungen vor- Bundestagsgruppe vorgeschlagen, dieses Bundes-
lagen, war das alles ein langwieriger Prozeß. vermögen den Kommunen zur Erfüllung von woh-
nungs- und sozialpolitischen Aufgaben stark verbil-
Auch von seiten des Finanzministers - das muß ich ligt oder sogar kostenlos zu übergeben. Deswegen
sagen - wurde oft zu hoch gepokert; das ist hier auch begrüßen wir auch den Antrag der Fraktion BÜND-
schon angesprochen worden. Der höchste Preis ist NIS 90/DIE GRÜNEN ausdrücklich.
nicht immer die beste Lösung. Liegenschaften müs-
sen sehr schnell veräußert werden. Der Übergang in Gleichzeitig möchten wir darauf hinweisen, daß
der Bewirtschaftung von militärischer zu ziviler Nut- sich das geschilderte Problem grundsätzlich auch auf
zung muß fließend erfolgen. Leerstand ist Wertver- die inzwischen bundeseigenen Wohnungsbestände
lust, und zwar für den Bund. Inzwischen hat Herr der NVA der DDR bezieht. Hinsichtlich dieser NVA-
Waigel das eingesehen. Jedenfalls sind das meine Er- Wohnungen stimmt es eben nicht, was die Kollegin
fahrungen. von der CDU/CSU gesagt hat, daß nämlich der
1748 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Klaus-Jürgen Warnick
Punkt a schon mehr oder weniger erfüllt sei. Ich be- Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Meine Zeit ist über-
ziehe mich hier auf eine Anfrage vom vorigen schritten.
Herbst. Dazu wurde ausgesagt, daß 65 000 Wohnun-
gen der NVA übernommen wurden. Davon wurden Ich danke für die Aufmerksamkeit.
lediglich 1 894 verkauft, und zwar 1 177 an Kommu-
nen, 54 an Wohnungsbaugesellschaften, ganze 26 an (Beifall bei der PDS - Joseph Fischer
Mieter und 637 an private Investoren. Gerade diese [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Zahl, fast 40 % an private Investoren, macht uns logi- Das war eine staatsmännische Rede!)
scherweise mißtrauisch.
Wir sind sehr dafür, frei gewordene bzw. frei wer- Vizepräsident Hans Klein: Ich brauche das Einver-
dende Wohnungen der Alliierten, der Bundeswehr ständnis des Hauses, daß die Parlamentarische
und der NVA vorrangig den Kommunen bzw. kom- Staatssekretärin beim Bundesminister für Finanzen
munalen Gesellschaften zum Kauf anzubieten. Das ihre Einlassung zu Protokoll gibt.*) - Es erhebt sich
allein genügt aber nicht in jedem Fall. Nötig sind dagegen kein Widerspruch.
Sonderkonditionen bei vielen Verkäufen. Dabei
muß die Tatsache berücksichtigt werden, daß vor al- Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Be-
lem kleinere Kommunen finanziell nicht in der Lage endigung dieses Themas. Der Ältestenrat schlägt die
sind, selbst bei Verringerung des Kaufpreises die be- Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/364 an
nötigten Summen aufzubringen. Deswegen sollte die die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
Bundesregierung sogar so weit gehen, in gerechtfer- vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offen-
tigten Gründen auf einen Kaufpreis völlig zu verzich- sichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
ten, allerdings nur unter der Bedingung, daß die schlossen.
Kommune diese Objekte zweckgebunden einsetzt
und bei der Übernahme von Wohnungen dauerhafte
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b so-
Mietpreisbindungen und Belegungsrechte gewähr-
wie Zusatzpunkt 3 auf:
leistet.
Für die Bundesrepublik, der diese ehemals militäri- 11. a) Erste Beratung des von der Fraktion der
schen Flächen durch die deutsche Einheit zugefallen SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset-
sind, entsteht trotzdem ein großer Vorteil. Wenn sie zes zur Änderung des Straßenverkehrsge-
es will, kann sie mit diesen Wohnungen in vielen Re- setzes
gionen die größte Wohnungsnot mildern, ohne daß - Drucksache 13/422
ihr zusätzliche Kosten für den sozialen Wohnungs-
—Überwisungvorschlag:
bau bzw. für Förderungsmittel entstehen.
Ausschuß für Verkehr (federführend)
Es macht aber keinen Sinn, diese Objekte mög- Innenausschuß
Rechtsausschuß
lichst gewinnträchtig an Investoren zu verkaufen, um Ausschuß für Gesundheit
mit diesem erworbenen Geld zwei Kilometer weiter
über den Umweg des Bundeshaushalts sozialen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wohnungsbau zu betreiben, und zwar zu finanziell Dr. Dagmar Enkelmann und der weiteren
wesentlich schlechteren Bedingungen, was den Ein- Abgeordneten der PDS Senkung der Pro-
satz von Mitteln im Verhältnis zu den geschaffenen mille-Grenze im Straßenverkehr auf
Wohnungen betrifft. 0,0 Promille
Wenn die Bundesregierung allerdings mehr an den - Drucksache 13/612 —
Gewinnen für Banken und privaten Investoren als an Überweisungsvorschlag:
einer Verbesserung der Wohnungssituation in den Ausschuß für Verkehr (federführend)
Kommunen interessiert ist, so sollte sie dies sagen. Innenausschuß
Rechtsausschuß
Negative Erfahrungen mit dem Bundesfinanzmi- Ausschuß für Gesundheit
nisterium gibt es aus meiner brandenburgischen Hei-
mat, z. B. in Strausberg. Obwohl die große Mehrzahl ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila
der Mieter in ca. 5 000 Bundesmietwohnungen der Altmann (Aurich), Albert Schmidt (Hitzhofen),
ehemaligen NVA an einer Genossenschaftsbildung Rainder Steenblock und der Fraktion BÜND-
interessiert ist und dies schriftlich bekundet hat, hin- NIS 90/DIE GRÜNEN
tertreibt das Bundesfinanzministerium diese Absich-
ten, indem mit finanzkräftigen Investoren an den Senkung der Promille-Grenze im Straßenver-
Mietern vorbei verhandelt wird. Auch hier wird der kehr auf 0,0 Promille
eigene Anspruch, den Menschen bei der Schaffung - Drucksache 13/694 —
von Wohneigentum zu helfen, ins Gegenteil ver- Überweisungsvorschlag:
kehrt. Im übrigen kann ich diesen Leerstand auch Ausschuß für Verkehr
nur bestätigen, der hier schon mehrfach berichtet Rechtsausschuß (Federführung strittig)
wurde. Innenausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Siegfried Scheffler
Auch Herrn Jobst als Vorsitzenden des Verkehrs- Es gibt natürlich noch andere wissenschaftliche Er-
ausschusses sehe ich hier nicht. Es ehrt ihn zwar, daß kenntnisse, so z. B. eine 1992 publizierte US-Studie,
er bereit war, sich durch eigene Erfahrungen mit die den positiven Effekt einer geringeren Promille-
Tests und durch Aussagen von Verkehrsexperten grenze für junge Fahrer nachweist.
umstimmen zu lassen. Aber warum erst nach so vie-
len Jahren und nicht schon bei vorangegangenen (Elke Ferner [SPD]: Aha!)
Abstimmungen? An der Fahruntauglichkeit durch
Alkohol hat sich doch in den letzten Jahren nichts Auch in Deutschland sind motorisierte Jugendliche
geändert - fast nichts. besonders gefährdet. Ich verweise auf die hohen Un-
fallzahlen nach alkoholisierten Discobesuchen. Die
(Elke Ferner [SPD]: So ist das!) Unfallstatistiken weisen nach, daß Jugendliche
schon bei niedrigen Blutalkoholwerten, ab 0,3 Pro-
Eine Veränderung bei der Fahruntauglichkeits- mille, eher verunglücken.
grenze hat es allerdings gegeben: Nach geltender
An dieser Stelle möchte ich auf die ehemalige Fa-
Rechtsprechung liegt ab 1,1 Promille auch ohne
milienministerin Frau Rönsch zu sprechen kommen,
Fahrfehler oder Unfall stets absolute Fahruntüchtig-
auch wenn ich sie hier nicht sehe. Unsere Forderung
keit vor. Zu deren Überprüfung sollte der Gesetzge-
nach weniger Verkehrstoten als „Profilierungssucht
ber der Weiterentwicklung der Technik Rechnung
auf Kosten der Autofahrer" zu bezeichnen, wie sie es
tragen, wenn für die Betroffenen die Wahrung ihrer
getan hat, grenzt meines Erachtens schon an Zynis-
körperlichen Unversehrtheit zu gewährleisten ist.
mus.
Dies ist durch die Meßmethode der Atemalkoholana-
lyse, wie wir sie in unserem Antrag gefordert haben, (Beifall bei der SPD und der PDS - Elke Fer-
gegeben. ner [SPD]: Das ist ja unglaublich!)
Politiker von CDU/CSU und F.D.P. bezweifeln im- Frau Rönsch setzt sich ja an anderer Stelle - was
mer noch, daß nach einer Senkung der Promille- durchaus legitim sein mag - vehement für das unge-
grenze die Verkehrsunfälle mit Alkoholeinfluß tat- borene Leben ein.
sächlich zurückgehen. Ihnen möchte ich an dieser
Stelle das Beispiel der Niederlande nahebringen, wo (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
nach der Absenkung von 0,8 auf 0,5 Promille eine CSU]: Nicht „mag", das ist legitim, Herr
deutliche Verringerung der Fahrten unter Alkohol- Scheffler!)
einfluß zu verzeichnen war. Es kam danach zwar zu
einem geringen Wiederanstieg, der jedoch noch bis Aber es steht jedem Politiker auf der Welt gut an,
zum heutigen Tage, nach zehn Jahren, erheblich un- sich für den Schutz des geborenen Lebens - um bei
ter der Rate von 4 % gegenüber ca. 12 % vor der Ab- dieser Sprachweise zu bleiben - in allen Bereichen
senkung blieb. einzusetzen. Auch deshalb diskutieren wir hier über
die Erhöhung der Verkehrssicherheit.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Scheffler, dem vorgelegten Antrag der PDS besteht meines Er-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen achtens Aufklärungsbedarf in bezug auf die vorge-
Hinsken? schlagene 0,5-Promille-Grenze. Es wird behauptet,
bei einer solchen Grenze könne man nicht einmal
mehr ein Glas Bier zum Abendessen trinken. Dem ist
Siegfried Scheffler (SPD): Ich möchte hier weiter- nicht so. Alle neueren Ergebnisse der Alkoholfor-
machen, da die Debatte sowieso nur 30 Minuten schung zeigen vielmehr, daß durchaus geringe Men-
dauern soll und es schon spät ist. gen Alkohol getrunken werden können, ohne den
Grenzwert zu erreichen bzw. zu übersteigen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie müssen das zulassen!) In diesem Zusammenhang möchte ich begründen,
warum dem Antrag der PDS auf 0,0 Promille aus un-
- Herr Fischer, ich mache Ihnen zuliebe ja eine serer Sicht nicht zugestimmt werden kann. Es wäre
Menge, ich spiele mit Ihnen auch gerne Fußball; das rechtspolitisch sehr bedenklich, ein Gesetz zu formu-
wissen Sie. Aber da ich noch ein bißchen Schwierig- lieren, dessen massenhafte Übertretung von vornher-
keiten mit dem Stehen habe, möchte ich hier weiter- ein in Kauf genommen wird. Außerdem wird zum
machen. Teil, wie z. B. in der Vergangenheit in der DDR, oh-
nehin eine Alkoholkonzentration von bis zu
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ 0,2 Promille toleriert. Damit stünde die Glaubwürdig-
DIE GRÜNEN]: Ach, Entschuldigung!) keit des Gesetzgebers auf dem Spiel. Doch Gesetze
sind nicht dazu da, daß sie täglich millionenfach
Bei unserem Nachbarland wurde als weiterer Ein- übertreten werden.
flußfaktor dieser positiven Entwicklung die Einfüh-
rung der einfachen, handhabbaren und zuverlässi- Im übrigen verstieße die Bestrafung geringster
gen Atemalkoholanalyse hervorgehoben. Nicht von Blutalkoholkonzentrationen gegen das Verfassungs-
ungefähr schlossen sich diesen Kontrollmethoden in- gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ich denke,
zwischen England, Frankreich, Österreich und wei- die Einnahme von Medizin mit Alkoholanteilen, z. B.
tere Länder an. von Hustensaft, aber auch geringe Restalkoholmen-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1751
Siegfried Scheffler
gen oder der Genuß eines Eisbechers mit Eierlikör Autofahrer ohne jeden Alkohol fahren und daß
bzw. von flambierten Gerichten können doch nicht von den 4 % der Autofahrer, die mit mehr als
dazu führen, daß die Konsumenten zu Kriminellen 0,3 Promille fahren, nur ein ganz geringer Prozent-
gemacht werden. Es sollte nicht eine denkbare Ideal- satz an Unfällen beteiligt ist, weil Gott sei Dank
regelung verordnet werden, sondern der Gesetzge- nicht alle, die mit Alkohol fahren, auch einen Unfall
ber ahndet schuldhaftes, vorwerfbares Fehlverhal- verursachen.
ten.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Mir persönlich wäre es nach der deutschen Einheit DIE GRÜNEN]: Aber der Anteil der CSU
sehr viel lieber gewesen, wenn wir uns auf eine Sen- Mitglieder ist dabei besonders hoch!) -
kung auf 0,3 Promille verständigt hätten; denn ich
stimme mit denjenigen überein, die bereits ab dieser - Herr Fischer, mit Alkohol sollten Sie nicht so über-
Grenze, die auch noch gut nachweisbar und vertret- mäßig umspringen.
bar ist, eine Verminderung der Fahrtüchtigkeit sehen Von den ca. 521 000 Unfällen mit fahrerischem
und verlangen, daß bei Verkehrsunfällen vom Ge- Fehlverhalten ist bei 93 % - Sie sollten sich die Zah-
setzgeber dieses schuldhafte Verhalten geahndet len ruhig anhören - überhaupt kein Alkohol im Spiel.
wird. Bei den restlichen 7 % sind 0,84 % mit Fahrrädern be-
teiligt, 0,72 mit Motorrädern, und 5,56 % sind Au-
Aber Politik ist auch immer die Suche nach Kom-
tofahrer. Von 521 000 Unfällen werden also insge-
promissen zwischen den verschiedenen Argumenten
samt etwas mehr als 30 000 von Autofahrern unter
der Politiker und Fachexperten sowie den Interessen
Alkoholeinfluß verursacht, von denen wiederum nur
breiter Schichten der Bevölkerung, eben die Kunst
etwa 1 500 - das sind 0,28 % - mit einem Alkoholge-
des Machbaren. Deshalb ist mir dieser Kompromiß
mit 0,5 Promille lieber. halt von 0,5 his 0,8 Promille. Letztere werden fast alle
strafrechtlich behandelt, weil sie als Unfälle mit Al-
Abschließend noch ein Wort zu Europa kohol indiziert werden.
Eine Regelungsbedürftigkeit kann daher nicht als
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- dringend angemahnt werden, insbesondere schon
zeit ist schon ein Stück überschritten. Ich bitte Sie, deswegen nicht, weil allein die Herabsetzung der
nur noch einen Abschlußsatz zu sagen. Ordnungswidrigkeitengrenze von 0,8 auf 0,5 Promille
die Fahrer und Täter, die mit mehr als 0,8 Promille
fahren, überhaupt nicht berührt und kaum erwartet
Siegfried Scheffler (SPD): Meines Erachtens be- werden kann, daß diejenigen, die bisher mit 0,5 bis
steht in dieser Richtung keinerlei weiterer Hand- 0,8 Promille gefahren sind oder einen Unfall verur-
lungsbedarf; so haben wir es auch im vorigen Jahr im sacht haben, auf Grund dieser Vorschrift weniger
Verkehrs- und im Rechtsausschuß diskutiert. trinken werden. Das ist ein Trugschluß und durch
Sollten die Regierungsparteien erneut die Feder- Holland überhaupt nicht bewiesen.
führung des Rechtsausschusses einfordern, so wäre Um es klarzustellen: Wenn heute die 0,5-Pro-
dies meines Erachtens reine Verzögerungstaktik und mille-Grenze bestünde, würde ich keinesfalls für
in keiner Weise gerechtfertigt, noch dazu, wo dies eine Änderung auf 0,8 Promille plädieren; aber ich
gegen die Stimmen der SPD im Ältestenrat eingefor- sehe auch keinen Anlaß, aus Gründen, die wissen-
dert würde. schaftlich nicht untermauert sind, ein Gesetz zu än-
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. dern. Übrigens wissen die Befürworter selber ganz
genau - die Beispiele aus Polen, der ehemaligen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne DDR und anderen Ländern zeigen es klar -, daß
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN die Herabsetzung von Promillesätzen keine Ergeb-
und der PDS) nisse bringt.
Wir wollen das Alkoholkonsumproblem überhaupt
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem nicht verniedlichen. Wir wollen notfalls auch drasti-
Kollegen Wolfgang Freiherr von Stetten. sche Maßnahmen ergreifen, um vor Alkoholfahrten
abzuschrecken. Dazu gehört - darauf sollten wir uns
in den Ausschüssen sehr schnell einigen -, daß wir
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
verdachtsfreie Alkoholkontrollen durchführen kön-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und
nen und zu diesem Zweck beweiskräftige Atemalko-
Kolleginnen! Wir haben das Thema im letzten Jahr
holanalysen zulassen.
behandelt und einschließlich Anhörung und Debat-
ten ausführlich diskutiert. Zunächst einmal kann ich (Zuruf des Abg. Siegfried Scheffler [SPD])
erfreulicherweise feststellen, daß die Zahl der tödli-
chen Verkehrsunfälle auch im Jahre 1994 zurückge- - Hören Sie doch erst einmal zu! - Gegebenenfalls
gangen ist. Die Behauptung von PDS und BÜNDNIS 90/ muß, was der eine oder andere Verfassungsrechtler
DIE GRÜNEN, daß 50 % dieser tödlichen Unfälle auf fordert, dazu auch das Grundgesetz geändert wer-
das Konto von Alkohol zurückzuführen seien, ist den, weil eine verdachtsfreie Alkoholkontrolle ohne
schlichtweg falsch. Zustimmung letztlich ein Eingriff in die persönliche
Freiheit, gegebenenfalls auch die körperliche Unver-
Ich werde noch auf die Zahlen zurückkommen. Zu- sehrtheit ist. Darüber sollten wir sehr schnell einen
nächst möchte ich darauf hinweisen, daß 96 % der breiten Konsens finden, weil damit die Abschrek-
1752 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Horst Kubatschka [SPD]: „Nur 2 000
DIE GRÜNEN]: Machen wir Konsensge Tote"?)
spräche!) Auch im Osten sind die Zahlen nicht anders. Im
Im übrigen möchte ich in diesem Zusammenhang - Osten sind es bei 3 000 Toten 23 % alkoholbedingte
im Gegensatz zu Ihnen, Herr Scheffler - deutlich be- Verkehrstote. Es ist doch schlichtweg eine falsche
tonen, wie verantwortungsbewußt der größte Teil der Behauptung, hier von 50 % zu sprechen.
jungen Autofahrer heutzutage z. B. zu Diskotheken -
Meine Damen und Herren, wenn nach der Statistik
hin- und zurückfährt. In den allermeisten Fällen wird - ich sage das in Anführungszeichen, damit Sie sich
von vornherein einer ausgesucht, der fährt und kei- nicht so aufregen müssen - „nur" 60 bis 100 Tote bei
nen Alkohol trinkt. Verkehrsunfällen ums Leben kommen, die mit einem
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Promillegehalt von 0,5 bis 0,8 Promille verursacht
DIE GRÜNEN]: Haschisch!) wurden, dann kann ich nur sagen: Schlimm genug!
Aber nochmals zur Verdeutlichung: 7 900 Menschen
- „Haschisch" ist kein guter Zwischenruf. Den Besitz sterben ohne jeden Zusammenhang mit Alkohol. Das
von Haschisch wollen Sie für straffrei erklären, aber sind doch die Zahlen, die auf dem Tisch liegen, und
Alkohol wollen Sie kriminalisieren. Was Sie da sa- daran sollten Sie sich halten.
gen, ist doch völlig falsch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege von Stet-
Elke Ferner [SPD]: Nicht beim Autofahren! ten, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Fuhrmann?
DIE GRÜNEN]: Wenn Sie Haschisch rau
chen, müssen Sie nicht Auto fahren!) Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
Bitte schön.
- Sie, Herr Fischer, wollen Haschisch doch freigeben,
und die Alkoholgrenze wollen Sie auf 0,0 Promille (Zuruf von der SPD: Für nur 2 900 Säufer!)
setzen. Da ist in Ihrer Weltanschauung doch irgend
etwas schief. - Sie hören nicht zu. Sonst würden Sie einen solchen
Zwischenruf nicht machen.
(Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Wer immer
Bitte schön.
schräg sitzt, der hat auch schiefe Anschau
ungen!)
Arne Fuhrmann (SPD): Würden Sie mir recht ge-
- So scheint es zu sein. ben, daß es sich lohnt und legitim ist, ein Gesetz zu
Wenn es dennoch immer wieder zu schweren Ver- ändern, wenn es damit möglicherweise dazu kommt,
kehrsunfällen jugendlicher Fahrer auch mit tödli-
daß man eine Zahl von 2 400 Toten reduziert bzw. auf
chem Ausgang kommt, dann liegt das oft an man- eine Zahl von 2 350 herunterdrücken kann?
gelnder Fahrpraxis, jugendlichem Leichtsinn, Ge- (Beifall bei der SPD und der PDS)
schwindigkeitsrausch und gegebenenfalls auch Im-
poniergehabe gegenüber Mitfahrern.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
(Siegfried Scheffler [SPD]: Und am Alko Aber selbstverständlich. Nur ist Ihre Illusion, wenn
hol!) wir die Grenze von 0,8 auf 0,5 Promille senken, daß
diejenigen - das sind über 90 % -, die mit über 0,8
- Ich komme auf den Alkohol, Herr Scheffler, warten und 1,0 Promille fahren, deswegen weniger trinken.
Sie es doch ab! - Der Alkohol ist weit weniger im Das Gegenbeispiel haben wir doch in der ehemali-
Spiel als angenommen. gen DDR, in Polen und in Holland. Das ist alles eine
In diesem Zusammenhang die neuesten Zahlen Illusion.
vom Statistischen Bundesamt - dies gilt vor allem für Aber Ach komme zu einem Vorschlag, den wir viel-
die GRÜNEN und die PDS, weil sie falsche Zahlen leicht gemeinsam annehmen können.
auf den Tisch legen -: 1993 gab es insgesamt 9 949
Verkehrstote, davon leider auch etwa 2 700 zwischen
15 und 25 Jahren. Davon war Alkohol nur bei 2 048 Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, die Kolle-
Verkehrstoten ursächlich. Das sind 21 % und nicht, gin Altmann würde ebenfalls gern eine Zwischen-
wie Sie behaupten, 50 %. frage stellen.
(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch zynisch, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Ich
was Sie treiben! - Horst Kubatschka [SPD]: glaube, es reicht jetzt.
„Nur"?)
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Nun hören Sie doch zu! Sie müssen doch erst ein-
mal zuhören, bevor Sie protestieren! Sie behaupten, - Meine Damen und Herren, Sie sollten, wenn Sie
es sind 50 %, und es sind 21 %. Das sind doch ganz Anträge schreiben, nicht falsche Angaben machen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1753
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Ich möchte meine Rede jetzt zum Schluß bringen. gen! Mir wurde gerade noch nachgerufen, ich solle
bei diesem Problem an die Glaubwürdigkeit denken.
(Beifall des Abg. Rezzo Schlauch [BÜND Ich denke, das möchte ich meinem Vorredner auch
NIS 90/DIE GRÜNEN]) einmal ins Stammbuch schreiben. Das, was hier über
- Es ist nett, Herr Schlauch, daß Sie mir Beifall klat- die Alkoholtoten gesagt worden ist nach dem Motto:
schen. Das habe ich mir immer erträumt. sterben müssen wir alle mal, und da ist es wurscht,
wodurch; ist mehr als zynisch gewesen.
Von sehr viel prominenten Polizeibeamten, Rich-
tern und Staatsanwälten und aus eigener Anschau- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
ung mit drei Kindern zwischen 18 und 24 Jahren CSU]: Sie haben nicht zugehört!) -
weiß ich, daß die Einführung des Führerscheins auf
Probe eine außerordentlich heilsame Wirkung auf Sie wissen doch genau, daß es gerade die Jugendli-
junge Fahrer ausgeübt hat. Hier sollten wir - dieses chen sind, die sich an den Wochenenden immer un-
Problem sollten wir ernsthaft miteinander beraten - ter Alkoholeinfluß im Geschwindigkeitsrausch um
überlegen, ob wir nicht für alle, die einen Führer- den „Baum wickeln".
schein auf Probe haben, auf 0,0 Promille mit Toleranz (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
setzen, weil hier von Wissenschaftlern - diese Er- CSU]: So schlimm sind die Jugendlichen
kenntnisse liegen vor, und sie wurden in der Anhö- gar nicht, wie Sie tun!)
rung vorgetragen - in der Tat vermehrt ein Zusam-
menhang mit Unfällen, verursacht durch Alkohol, ge- Genau Ihre Art der Argumentation bekräftigt diese
sehen wird. Professor Krüger von der Universität Haltung noch: Man kann ja Alkohol trinken, ist ja al-
Würzburg und Professor Schöch von der Universität les gar nicht so schlimm.
Göttingen haben in einer Untersuchung überzeu-
gend dargelegt, daß es einen sehr engen Zusammen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
hang zwischen Alter, Dauer des Führerscheinbesit- bei der SPD sowie der Abgeordneten Dr.
zes und Unfällen mit geringen Alkoholwerten gibt. Dagmar Enkelmann [PDS])
Sie erklären dies sehr einleuchtend damit, daß bei Dann auch noch den Vorschlag zu machen, bis 24
der Jugend zu dem vorhandenen Leichtsinn, dem dürfen sie nicht trinken, aber danach kann es losge-
vorhin schon erwähnten Geschwindigkeitsrausch hen, da kann ich einfach nur sagen: Einem Opfer,
und auch dem Imponiergehabe das Ungewohntsein das totgefahren wird, ist es wurscht, ob da ein Junger
zunächst auch nur geringer Alkoholmengen kommt. oder ein Alter sitzt. Alter schützt nun einmal nicht vor
Nach statistischen Unterlagen verdoppeln junge Torheit.
Menschen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren ihren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
mittleren Alkoholkonsum. Das heißt, hier liegt eine
bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Gewöhnungsphase vor, deren Gefährlichkeit in den
PDS)
ersten Jahren der Fahrerlaubnis durch ein totales Al-
koholverbot entgegengewirkt werden könnte. Ich finde es sehr schade, daß nur noch so wenige
da sind. Die anderen sind wahrscheinlich schon in
Ich habe mit vielen Jugendlichen über dieses Pro-
die Kneipe abgewandert. Aber das sollen sie auch,
blem diskutiert. Sie würden dies nicht als Diskrimi-
solange sie sich hinterher nicht hinter das Steuer set-
nierung oder Sondermaßregelung betrachten, son-
zen.
dern akzeptieren. Wir hätten damit eine Chance,
dort, wo die Gefahr am größten ist, effektiv einzu-
greifen. Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Frau Kolle-
Meine Damen und Herren, wir sollten nun, ohne gin, vielleicht könnten wir den Ton etwas mäßigen -
Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- - Der Widerspruch aus den Reihen der SPD nötigt
NEN): Die besten Entscheidungen lassen sich in mich jetzt dazu zu sagen, daß ich diesen Satz nicht
nüchternem Zustand treffen. erfunden habe, sondern daß ich ihn wiederholt habe
nach Ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Schar-
Ich muß noch kurz etwas sagen. ping, der im Mai 1994 - das war, vielleicht zufällig,
ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl - in der Zei-
Vizepräsident Hans Klein: Nein, jetzt nichts mehr. tung „Auto und Straßenverkehr" damit durchaus zu-
treffend zitiert wurde.
Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
NEN): Ich habe ein Röhrchen mitgebracht. Zum Pu- -
sten ist alles da. Wer das möchte, dem kann ich das Alle Jahre wieder wird die Diskussion neu ent-
geben. facht, werden neue Antragsnummern über alte Texte
gesetzt und, wie wir gehört haben, findet auch ein
Vielen Dank. gewisses Recycling von Argumenten statt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Meine Damen und Herren, wer den Bürgerinnen
bei der SPD und der PDS) und Bürgern Vorschriften für ihr Verhalten machen
will, muß natürlich nicht nur seine vielleicht wirklich
Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- gutgemeinten Motive vortragen. Er muß vor allem
tion gebe ich das Wort dem Kollegen Horst Friedrich. die Frage beantworten, ob das von ihm vorgeschla-
gene Mittel, also die vom Bürger verlangte Ein-
schränkung, denn zur Erreichung des vorgegebenen
Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Präsident! Die Kolle-
Ziels überhaupt geeignet ist. Über das Ziel sind wir
gin Altmann hat in ihrer Rede fälschlicherweise fest-
uns einig: die Zahl der Alkoholfahrten und Unfallop-
gestellt, die Liberalen seien in der Kneipe. Ich bitte,
fer so weit wie möglich zu senken. Jeder Tote im
für das Protokoll festzuhalten, daß deutlich mehr Li-
Straßenverkehr ist einer zuviel, und das natürlich
berale diese Debatte verfolgen, als GRÜNE im Ple-
erst recht, wenn der Unfall auf Alkoholeinfluß zu-
num anwesend sind.
rückzuführen ist.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Die Frage ist aber, ob eine Verschärfung oder Aus-
DIE GRÜNEN): Ihr habt es auch nötig, die dehnung des Strafrechts wirklich ein geeignetes Mit-
Debatte zu verfolgen, im Gegensatz zu uns! tel ist, die Unfallzahlen zu senken. Wenn allein die
- Heiterkeit bei der SPD und der PDS) Verschärfung strafrechtlicher Normen zu einer
wirksamen Bekämpfung von Verstößen ausreichen
würde, dürfte es die Vielzahl der Verstöße gegen die
Vizepräsident Hans Klein: Kurze Replik, Frau Alt- geltende Promillegrenze gar nicht geben. Ich darf in
mann, bitte. Erinnerung rufen, daß es nach seriösen Schätzungen
eine enorme Dunkelziffer gibt und daß daher auch
Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nur etwa eine von 600 Fahrten unter Alkoholeinfluß,
NEN): Ich wollte dazu nur sagen: Erstens. Man kann aufgedeckt wird. Das Verkehrsordnungswidrigkei-
auch darüber streiten, wer es nötig hat und wer nicht. tenrecht und das Verkehrsstrafrecht haben aber lei-
der nicht einen solchen Einfluß auf das Verhalten der
(Widerspruch bei der CDU/CSU) Verkehrsteilnehmer, wie viele - dazu gehören selbst
Zweitens. Ich habe nicht zwischen den einzelnen Juristen und Politiker - glauben.
Fraktionen unterschieden, sondern ich habe grund- Hinzu kommt: Strafvorschriften, die ins Leere lau-
sätzlich darauf hingewiesen. fen, weil sie nicht ausreichend kontrolliert und
Ich muß dazu hervorheben: Auch in meiner Frak- durchgesetzt werden, nutzen niemandem und ma-
tion wird dieses Thema unterschiedlich gesehen. chen den Gesetzgeber letztlich unglaubwürdig.
Aber wir haben eine Grundsatzentscheidung. (Elke Ferner [SPD]: Dann müssen Sie die
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Atemalkoholanalyse einführen!)
Ja, ja.) Wer glaubt, ein Problem gelöst zu haben, hat es in
Wirklichkeit nur auf eine andere Ebene verschoben.
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
lege Heinz Lanfermann.
Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Kol-
(Elke Ferner [SPD]: Warum nicht der Kol lege, ich muß für einen Moment unterbrechen. - Die
lege Kleinert?) kleine Regierungskonferenz ist jetzt beendet, und
am Ausgang neigt sich die Gesprächsrunde hoffent-
lich dem Ende zu.
Heinz Lanfermann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! „Zur Promillegrenze kann ich Bitte, fahren Sie fort.
sagen: Die gegenwärtig bestehenden Regelungen
halte ich für absolut angemessen."
Heinz Lanfermann (F.D.P.): Ich hoffe, daß die Uhr
(Elke Ferner [SPD]: Das glaube ich Ihnen nur für mich weitergelaufen ist, aber nicht für die
gern!) Zählung der Minuten meiner Redezeit.
1756 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Heinz Lanfermann
Meine Damen und Herren, der Kollege von Stetten Es ist also keineswegs so, daß jeder sorglos bis zu
hat hier schon eine Reihe von Zahlen gebracht, so 0,8 Promille trinken dürfte, ohne daß ihm dafür eine
daß ich mich nur noch auf einen Punkt beschränken strafrechtliche Verfolgung drohte.
möchte. Nach der Unfallstatistik liegen die alkohol-
(Elke Ferner [SPD]: Aber die Schwarzfahrer
bedingten Unfälle weitaus überwiegend oberhalb
wollen Sie weiterhin strafrechtlich verfol
der 0,8-Promille-Grenze, 90 % bei mehr als
1,1 Promille und sogar mehr als die Hälfte bei über gen!)
1,5 Promille. Sie müssen, wenn Sie solche Anträge Meine Damen und Herren, jedem Verkehrsteilneh-
stellen, ehrlich dazusagen, daß eine Senkung unter- mer sollte die erhöhte Gefährlichkeit einer jeden
halb dieses Bereichs, nämlich von 0,8 auf 0,5 Promille, auch nur leicht alkoholisierten Autofahrt bereits
die eigentliche Problemzone gar nicht berührt, in die- heute bewußt sein. Dieses Bewußtsein der Bürger zu -
sem Sinne das Gewünschte auch nicht bewirken schärfen ist der entscheidende Beitrag für eine hö-
kann. here Verkehrssicherheit.
Ich hoffe, daß es den vorliegenden Anträgen zur Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Ich bin gleich fertig.
Senkung der Promillegrenze im Straßenverkehr nicht
so ergeht wie in der letzten Legislaturperiode, als de- Es ist allerdings auch tatsächlich ein Kavaliersde-
ren Behandlung mit fadenscheinigen Argumenten likt; denn nachgewiesenermaßen sind Männer am
von seiten der Regierungskoalition über mehrere Lenkrad aggressiver und rücksichtloser als Frauen.
Jahre verschleppt wurde, was aus Ihrer Sicht, meine Ich meine, daß hier im Gegensatz zum Schwarzfah-
Damen und Herren von der Koalition, durchaus zu ren ein wirklicher Handlungsbedarf besteht.
verstehen ist; denn Sie wissen genau, daß Sie sich in
einer Minderheitsposition befinden, in einer gesell- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
schaftlichen Minderheit auf jeden Fall - die Zahlen (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
sind hier angesprochen worden -, und wahrschein- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
lich befürchten Sie wegen der Dissidentinnen und GRÜNEN )
Dissidenten in Ihren eigenen Reihen auch eine Nie-
derlage hier im Parlament. Ich schätze, da hat der
Kollege Schäuble wohl noch ein hartes Stück Arbeit Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus-
zu leisten. sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 13/422, 13/612 (neu)
Im Jahre 1993 ging - Herr von Stetten, wir müssen und 13/694 an die in der Tagesordnung aufgeführten
vielleicht mal unsere Quellen überprüfen; ich habe Ausschüsse vorgeschlagen.
nämlich andere Zahlen als Sie - die Hälfte aller Ver-
kehrstoten, nämlich 4 956 von 9 913 Unfallopfern, auf Die Federführung ist jedoch strittig: Die Fraktion
das Konto von Alkohol am Steuer. Die wenigsten Op- der SPD wünscht die Federführung beim Ausschuß
fer waren tatsächlich die Schuldigen. Das sollte man für Verkehr, die Fraktionen der CDU/CSU und der
dabei immer bedenken. F.D.P. beim Rechtsausschuß. Wer stimmt für den
Überweisungsvorschlag der SPD? - Gegenprobe! -
Bei Unfällen mit Personenschaden verläuft der Un- Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist ab-
fall unter Beteiligung einer alkoholisierten Person gelehnt.
deutlich schwerer als mit einer nüchternen.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der
Ich denke, daß allein diese Zahlen ausreichende Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.? - Wer
Argumente dafür sind, daß in der Frage Alkohol am stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? -
Steuer dringender Handlungsbedarf besteht Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Um nicht mißverstanden zu werden: Die PDS ist Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts-
keine Partei der Askese oder der Blaukreuzler, und ausschusses (6. Ausschuß)
unser Pressesprecher ist nicht gerade ein Beleg für
- Drucksache 13/716 -
unsere Forderung. Dennoch: Nur ein klares Votum
für 0,0 Promille kann zum Bewußtsein beitragen, daß Berichterstattung:
sich Alkoholkonsum und das Führen eines Kraftfahr- Abgeordnete Norbert Röttgen
zeugs grundsätzlich ausschließen müssen. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)
1758 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt ein Ände- Meine Damen und Herren, die kardinale Schwä-
rungsantrag der Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, che des Völkerrechts war doch immer, daß es an ei-
Hans-Dietrich Genscher, Cornelia Schmalz-Jacob- nem wirksamen Sanktionsinstrumentarium gefehlt
sen, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig und Dr. Max Stadler hat. Es hat nicht an gutem Willen oder an materiel-
vor. lem Recht gefehlt. Es hat vielmehr gefehlt und fehlt
-
an Institutionen und Sanktionen. Es hat an der
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Durchsetzung des materiellen Rechts gefehlt. Darum
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Da- ist die Errichtung dieses Jugoslawien-Strafgerichts-
gegen erhebt sich offenkundig kein Widerspruch. hofs ein ganz bedeutender Schritt für eine Verände-
Dann ist das so beschlossen. rung, für eine Verbesserung unserer politischen in-
ternationalen Ordnung.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
dem Kollegen Norbert Röttgen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.)
Norbert Röttgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Diese grundsätzlich positive Feststellung aber be-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ge- deutet natürlich nicht, daß wir diese Resolution des
setzentwurf der Bundesregierung beinhaltet die Um- UNO-Sicherheitsrats und auch das deutsche Umset-
setzung einer Resolution des UNO-Sicherheitsrates zungsgesetz unkritisch betrachten. Das kann es bei
aus dem Jahre 1993. Der Sicherheitsrat hat darin be- aller positiven Feststellung und Bewertung dieser
schlossen, einen internationalen Strafgerichtshof zur Entwicklung ganz sicher nicht heißen. Es geht unter
Verfolgung von Personen zu errichten, denen anderem und in besonderer Weise darum, daß auch
schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht die sich nun in der Entwicklung befindende interna-
im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zur Last ge- tionale Strafjustiz in der gesamten Bandbreite der
legt werden. Verfahren von der Ermittlung bis hin zur Vollstrek-
kung den Grundsätzen entspricht, die wir an ein
Ich glaube, wir sollten diese Debatte über die Er-
rechtsstaatliches Verfahren stellen.
richtung dieses Gerichtshofes dazu nutzen, um uns
zu vergegenwärtigen, daß hiermit seit den Kriegsver
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sind der
brecherprozessen in Nürnberg und Tokio erstmalig
Auffassung, daß die Errichtung des Jugoslawien-
wieder ein internationaler Strafgerichtshof errichtet
Strafgerichtshofes diesen rechtsstaatlichen Anforde-
wird. Damit kommt der Errichtung eines solchen Ge-
rungen gerecht wird, wenngleich sich dies natürlich,
richtes eine besondere Bedeutung zu; denn die Er-
wie ich bereits festgestellt habe, insgesamt noch in
richtung dieses Gerichtes bringt in besonderer Weise
der Entwicklung befindet und die einzelnen Instru-
die Umbruchphase zum Ausdruck, in der wir uns be-
mente noch entwicklungsfähig sind.
finden, die Umbruchphase in der politischen Welt-
ordnung, übrigens mitsamt ihrer Ambivalenz.
Ich möchte feststellen: Die Todesstrafe wird ausge-
Zum einen gab es in der Zeit des Ost-West-Konflik- schlossen. Der Grundsatz „ne bis in idem" ist veran-
tes keinen Krieg in Europa. Jetzt gibt es ihn. Er wird kert. Ausgeschlossen ist auch ein Verfahren gegen
mit barbarischen Methoden und mit einer Grausam- Abwesende. Grundlegende rechtsstaatliche Garan-
keit geführt, die sich Menschen wie ich z. B., die tien sind also festgehalten.
diese Realität nicht erlebt haben, wohl gar nicht vor-
stellen können. Ich möchte auf einen besonderen Gesichtspunkt
eingehen, der mit dem strafrechtlichen Legalitäts-
Auf der anderen Seite war die Weltgemeinschaft in grundsatz zusammenhängt: In dem Statut, das hier-
der Zeit des Ost-West-Konfliktes nicht in der Lage, für maßgeblich ist, sind keine konkreten Strafandro-
sich auf die Errichtung eines solchen internationalen hungen fixiert. Wie bereits gesagt, ist der Ausschluß
Strafgerichtshofs und einer solchen Strafgerichtsbar- der Todesstrafe festgestellt. Im übrigen aber gilt: Die
keit zu verständigen. Insofern ist die Erkenntnis wohl Sanktion ist Freiheitsstrafe.
richtig: Unsere Weltordnung ist instabiler geworden.
Aber diese Instabilität bringt auch die Chance mit Nun könnte man überlegen: Ist das zu unbe-
sich, eine neue und auch eine gerechtere Weltord- stimmt? Ich hin der Auffassung, daß dies letztlich
nung als die alte, stabile des Ost-West-Konflikts zu nicht zu beanstanden ist. Zum einen ist es sowohl im
schaffen. Völkergewohnheitsrecht als auch im Vertragsrecht
üblich, keine konkreten Strafen anzudrohen; es ent-
In Beziehung dazu sehe ich auch die Errichtung spricht also dem, was völkerrechtlicher Standard ist.
des internationalen Strafgerichtshofs für das ehema- Zum anderen möchte ich feststellen: Bei der Verwerf-
lige Jugoslawien. Ich halte die Errichtung dieses Ge- lichkeit und dem Ausmaß der Verwerflichkeit der
richtes für ein Element dieser neuen, gerechteren Straftaten im ehemaligen Jugoslawien, um die es
Weltordnung, einer neuen Weltfriedensordnung. Ich hier geht - gröbste Delikte wie Völkermord und an-
glaube, wir müssen dieses Gesetz in dieser Dimen- deres - kann offenkundig nur eine Freiheitsstrafe in
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstau, den 9. März 1995 1759
Norbert Röttgen
Betracht kommten deren angemessene Höhe dann in und ähnlichen Tatbeständen sehr punktuell greifen-
das Ermessen des Gerichts gestellt wird. Wir sind der des Gesetz. Ich glaube, daß es eine ausreichende
Auffassung, daß hier keine durchgreifenden Beden- Klarstellung ist, wenn wir dies in die Begründung
ken bestehen. aufnehmen. Die Rechtslage ist eindeutig.
Ich möchte auf einen letzten Gesichtspunkt einge- Zur Sachfrage als solcher möchte ich bemerken:
hen, der natürlich ein sehr zentraler und wichtiger Sie ist damit nicht geklärt. Wir haben im Rechtsaus-
ist. Er betrifft die Frage der Überstellung der Perso- schuß mit der gleichen Einmütigkeit festgestellt, daß
nen, gegen die sich der Verdacht richtet, an einer sol- wir die Frage, die davon zu trennen ist, ob wir die
chen Straftat beteiligt gewesen zu sein, oder auch die Möglichkeit eröffnen wollen, deutsche Staatsangehö- -
Überstellung an ein Land zur Vollstreckung. Sowohl rige zu überstellen, ob wir also die Verfassung än-
in der Resolution als auch in dem Umsetzungsgesetz, dern wollen - das ist die Voraussetzung dafür -, bei
dort in § 3, ist fixiert, daß die Überstellung möglich diesem Gesetzentwurf nicht debattieren wollen. Wir
ist. wollen das separat erörtern. Das ist sicherlich eine
Diskussion, die man sehr sorgfältig, sehr abwägend
Ich möchte auch an dieser Stelle, hier im Deut- führen muß. Das wollen wir mit dieser aktuellen De-
schen Bundestag, feststellen, daß nach Art. 16 Abs. 2 batte nicht vermischen. Wir sind zu einer separaten
des Grundgesetzes die Bestimmung der Überstel- sachlichen Diskussion darüber bereit, ob in diesem
lung nicht auf deutsche Staatsangehörige anwend- Punkt eine Verfassungsänderung durchgeführt wer-
bar ist; das ist ganz wichtig. § 3 dieses Gesetzes ist den soll.
also im Zusammenhang mit Art. 16 Abs. 2 des
Grundgesetzes zu sehen. Aus dieser verfassungs- Insgesamt möchte ich abschließend feststellen: Die
rechtlichen Bestimmung folgt unmittelbar, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Auffassung,
Überstellung Deutscher ausgeschlossen ist. Daß die- daß dieser Gesetzentwurf politisch nachdrücklich zu
ses Gesetz, auch das Umsetzungsgesetz, nicht auf begrüßen ist und durchgreifende rechtliche, auch
Deutsche anwendbar ist, bedeutet ein unmittelbares, rechtsstaatliche Bedenken nicht bestehen. Wir ma-
verfassungsrechtliches Verbot der Auslieferung, hier chen mit der Errichtung dieses Gerichts einen großen
konkret der Überstellung. weltpolitischen Fortschritt. Ich glaube, es ist nicht
vermessen, das so zu formulieren.
Wir haben im Rechtsausschuß sehr intensiv disku-
Danke sehr.
tiert, ob diese Verfassungsrechtslage sozusagen de-
klaratorisch Aufnahme in das Umsetzungsgesetz fin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
den soll. Es wurde konkret folgende Formulierung ordneten der F.D.P.)
vorgeschlagen: „Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes
bleibt unberührt." Diese Formulierung haben wir auf
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Professor
Anregung der F.D.P. intensiv erörtert.
Dr. Jürgen Meyer, Sie haben das Wort.
Wir sind nach dieser intensiven Diskussion einhel-
lig zu der Überzeugung gekommen, daß wir von die- Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Präsident!
sem Formulierungsvorschlag Abstand nehmen soll- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin mit
ten, und zwar deshalb, weil es eine völlige Selbstver- meinem Vorredner der Auffassung, daß die heute an-
ständlichkeit ist, daß das einfache Gesetz nicht ge- stehende Verabschiedung des Jugoslawien-Strafge-
eignet ist, die Verfassung zu ändern. Darum wollen richtshof-Gesetzes ein nicht unwichtiger Meilenstein
wir diese Feststellung auch nicht in das einfache Ge- auf dein Weg zur Weiterentwicklung des internatio-
setz aufnehmen. Wir halten es nicht für eine gute Ge- nalen Strafrechts ist. Nach Jahrzehnten erfolglosen
setzgebungstechnik, zu sagen: Ein einfaches Gesetz Bemühens gelingt es nun erstmals, für genau aufge-
verändert die Verfassung nicht. Das ist eine völlige führte schwerste Verbrechen einen internationalen
Selbstverständlichkeit. Aus der Zusammenschau des Strafgerichtshof einzurichten, der für Verbrechen,
einfachen Rechtes und des Verfassungsrechtes ergibt begangen in einem bestimmten Zeitraum in einem
sich die klare und eindeutige Rechtslage: Deutsche bestimmten Territorium, nämlich seit 1991 im ehema-
werden nicht ausgeliefert und auch nicht überstellt. ligen Jugoslawien, zuständig sein soll.
Wir haben, glaube ich, einen guten Kompromiß für Dies ist ein beachtlicher Fortschritt für den Gedan-
dieses Problem gefunden. ken des Völkerstrafrechts. Wir erfüllen damit einen
Teil der völkerrechtlichen Verpflichtung aus Kapitel VII
(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. der Charta der Vereinten Nationen. Aber dieses Ge-
Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]) setz ist nur ein erster Schritt zur Unterstützung des
internationalen Gerichtshofes.
Wir haben nämlich gesagt: Wir nehmen das in die
Begründung des Gesetzes auf, so daß ausdrücklich (Beifall bei der SPD)
festgestellt wird, daß der Deutsche Bundestag dieses
Problem gesehen hat. Nach geltendem deutschen Verfassungsrecht dür-
fen nämlich nur ausländische, nicht aber deutsche
Ich möchte eine letzte Bemerkung dazu machen. Angeklagte an den Gerichtshof überstellt werden.
Dies ist ein Gesetz, das nicht in breiten Bevölke- Ein vom Generalbundesanwalt wegen schwerster
rungskreisen Anwendung findet, so daß man sagen Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien angeklagter
könnte: Hier besteht ein besonderer Informationsbe- Beschuldigter wird demnächst nur deshalb in Den
darf, wie die Rechtslage ist. Es ist ein bei Völkermord Haag zur Rechenschaft gezogen werden können,
1760 Deutscher Bundestag - 13, Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Den ich noch (Beifall bei der SPD)
begründen werde!)
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
- den Sie sicherlich schön begründen könnten, wenn lege Gerald Häfner.
Sie auf der Rednerliste stünden
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Ich tue das!) Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir re-
den in diesem Hause gerade in diesen Tagen beson-
- sehr gut -, daß im Gesetz selbst festgeschrieben ders häufig über Verbrechensbekämpfung, über dra-
werden soll: Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz bleibt unbe- konische Strafen für Ladendiebe und für Schwarz-
rührt. Nun sagen Sie damit einmal - das hat mein fahrer und über viele andere Petitessen mehr. Gleich-
Vorredner schon richtig ausgeführt - etwas Selbst- zeitig - und ich habe der Debatte entnommen, daß
verständliches. Daß in einem einfachen Bundesge- wir alle das mit Abscheu und Ohnmacht registrieren -
setz die Verfassung nicht geändert werden kann, ist laufen Mörder und Schlächter, die ihre Morde und
eine Banalität und muß nicht festgestellt werden. grausamen Taten unter dem Schutz eines verbreche-
Sonst müßten wir in jedem Bundesgesetz sagen, daß rischen politischen Systems vollbracht haben, frei
wir das Grundgesetz damit nicht ändern. Wichtiger herum, ohne daß sie Strafen in irgendeiner Weise be-
1762 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Gerald Häfner
fürchten müssen. Im Gegenteil, es ist in der Regel so, Bundesrepublik Deutschland im internationalen Be-
daß die, die sich in besonders übler Weise in entspre- reich wenigstens in ersten Spurenelementen durch-
chend totalitären und diktatorischen Systemen her- zusetzen hilft. Wir sollten uns also einen Ruck geben
vorgetan haben, auch anschließend wieder oben und mit der Verabschiedung dieses Gesetzes das
schwimmen. Das ist etwas, was uns und was das in- jetzt Notwendige und Mögliche tun.
ternationale Recht nicht in Ruhe lassen kann. Inso-
fern kann Rechtspolitik, denke ich, auch immer wie- Gleichzeitig ist der klarstellende Hinweis, Art. 16
der frustrieren, wenn man feststellt, daß hier den Abs. 2 des Grundgesetzes bleibe unberührt, richtig,
kleinen Verbrechern nachgelaufen wird, während unschädlich und somit auch kein Stilbruch in diesem
die schrecklichsten Taten, die in der Welt vollbracht Gesetz, vor allem, wenn wir uns wechselseitig selbst
werden, ungesühnt bleiben. verpflichten, mit dem Ziel eines völkerrechtlich ver--
bindlich abgesicherten Internationalen Gerichtshofs
Insofern ist der heute hier vorliegende Gesetzent- langfristig auch an diesen Art. 16 Abs. 2 des Grund-
wurf tatsächlich ein Meilenstein im internationalen gesetzes heranzugehen. Dieser Artikel ist ja seiner-
Recht, im Völkerrecht. Er ist ein Meilenstein, weil er zeit unter völlig anderen Gesichtspunkten geschaf-
deutlich macht, daß das Prinzip der Nichteinmi- fen worden. Den Verfassungsgebern hat damals si-
schung im Bereich von Mord, Völkermord, Vergewal- cherlich nicht die Möglichkeit eines Internationalen
tigung usw. auf dieser Erde nicht mehr weiter gelten Gerichtshofes vor Augen gestanden, wie wir ihn hier,
kann und darf. Er ist ein Meilenstein, weil er endlich zunächst bezogen auf einen einzigen Fall, schaffen
auch denen, die unter dem Schutz eines totalitären und wie wir ihn in Zukunft sicherlich auch darüber
Regimes in großem Umfang Menschen umbringen hinaus brauchen werden.
und vergewaltigen, unmißverständlich klarmacht,
daß sie in Zukunft möglicherweise doch Strafe be- Wir werden also dem Gesetzentwurf zustimmen
fürchten müssen. Das halte ich für etwas außeror- und uns an der Erarbeitung eines späteren erweiter-
dentlich Wichtiges. ten Entwurfes beteiligen, der dann auch die Ände-
rung des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes beinhal-
Gleichwohl ist das, was wir hier auf den Weg brin- ten muß.
gen, zwar einerseits eine historische und wichtige,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
andererseits aber doch auch eine heikle Sache, die
rechtlich nicht ohne gravierende Probleme ist. Ich und bei der SPD)
denke, auch das muß gesagt werden. Der Internatio-
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem
nale Strafgerichtshof basiert nämlich nicht auf einem
Kollegen Detlef Kleinert.
völkerrechtlichen Vertrag, sondern wurde auf Grund
einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten
Detlef Kleine rt (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident!
Nationen errichtet. Es gibt begründete Zweifel
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Eine
daran, daß eine solche Resolution die Kompetenz zur
Weltfriedensordnung, und zwar eine Weltfriedens-
Einsetzung eines solchen Internationalen Strafge-
ordnung viel mehr und viel lieber durch das Recht als
richtshofes deckt. Ich bin allerdings der Meinung,
durch Waffen, ist etwas, wovon wir alle immer wie-
daß diese Kompetenz von einer solchen Resolution
der träumen, worum wir alle uns bemühen müssen
abgedeckt ist, solange die so geschaffene Gerichts-
und worum es schon sehr viele Bemühungen gege-
barkeit auf einen bestimmten Konflikt und damit
ben hat. Ich stimme den Vorrednern zu, daß mit der
auch auf einen örtlich und zeitlich eng definierten
Einrichtung dieses Strafgerichtshofes nach Jahrzehn-
Anwendungsbereich begrenzt ist. Das bedeutet -
ten vergeblicher Bemühungen in dieser Richtung,
darauf hat mein Kollege Professor Meyer zusammen
wie Herr Kollege Meyer ausgeführt hat, ein ganz we-
mit anderen hier und in der Rechtsausschußdebatte
sentliches Stück zur Weiterführung solcher Absich-
ja ebenfalls schon hingewiesen -: Wir werden das,
ten gegeben ist.
was wir hier in diesem einen konkreten Fall und
noch auf sehr dünnem rechtlichen Eis beginnen, Es liegt in der Natur dieser großen Aufgabe, die
ganz dringend ausdehnen und sehr schnell auf ein immer wieder so viele Rückschläge mit sich gebracht
völkerrechtlich abgesichertes Fundament stellen hat - bis in die jüngste Zeit, schmerzlich sichtbar und
müssen. Wir brauchen einen Internationalen Ge- fühlbar -, daß die Schritte, die derzeit überhaupt nur
richtshof, der Verbrechen gegen humanitäre Grund- möglich sind, nicht vollkommen sind. Deshalb ist
sätze, gegen die Menschlichkeit verbindlich zu ahn- auch das Gesetz, das heute hier zur Verabschiedung
den vermag. ansteht, im wahrsten Sinne des Wortes eine lex im
perfecta. Es ist ja nicht so ganz die Art des feinen Ge-
Ich möchte kurz noch etwas zu Art. 16 Abs. 2 des
setzgebers, daß wir den größten Teil der Einwohner
Grundgesetzes sagen. Ich denke, wir sind uns einig, dieses Landes und insbesondere alle deutschen Bür-
daß Art. 16 Abs. 2 von diesem Gesetzentwurf nicht
ger von der Auslieferung, die wir hier gesetzlich re-
berührt werden kann. Und ich will noch eine weitere
geln wollen, ausdrücklich ausnehmen und nur dieje-
Anmerkung machen, die rechtspolitisch vielleicht ein
nigen ausliefern, die mehr oder weniger zufällig in
bißchen spitzfindig klingt. Sie bezieht sich auf die
unser Land geraten sind und sich hier als Ausländer
Bedenken, die hinsichtlich des Art. 101 des Grundge-
aufhalten. Da muß man sich schon einmal überlegen,
setzes - also das Verbot eines Ausnahmegerichtes -
was es in Wirklichkeit bedeutet, ein deutsches Ge-
geltend gemacht werden. Ich denke vielmehr, daß
setz mit dieser Auswahl zu verabschieden.
hier gerade kein Ausnahmegericht geschaffen
wurde, sondern etwas - wenn auch rechtlich noch (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Das ist ge
auf dünnem Eis -, was Verfassungsgrundsätze der nau das Problem!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1763
Detlef Kleinert (Hannover)
Deshalb hat es auch gewisse Schwierigkeiten bei Ich danke Ihnen sehr.
der hier mehrfach angesprochenen Frage gegeben,
ob und wie wir das unseren internationalen Partnern, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
denen gegenüber wir ja verpflichtet sind, hier han- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
delnd tätig zu werden, mit dem Wortlaut des Geset- lege Professor Dr. Uwe-Jens Heuer.
zes genügend deutlich machen. Daher kam unsere
Anregung in der Sitzung des Rechtsausschusses zu Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine
erwägen, ob nicht durch den Zusatz „Art. 16 Abs. 2 Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf
des Grundgesetzes bleibt unberührt" das durchaus und die dahinterstehende Resolution des Sicherheits-
Selbstverständliche - ich folge dieser Beurteilung al- rates haben mich in einen ernsthaften Konflikt ge-
ler Vorredner -, daß nämlich das Grundgesetz nicht bracht, der mich veranlaßt, mich bei der Abstim-
einfachgesetzlich gebrochen werden kann, jeden- mung der Stimme zu enthalten. Ich will Ihnen die
falls aus Gründen der Fairneß, aus gewissen Stil- Gründe dafür darlegen.
gründen auch im Gesetzestext und nicht nur, wie
jetzt geschehen, im Bericht des Ausschusses zum Einerseits bin ich für die strafrechtliche Verfolgung
Ausdruck gebracht werden sollte. schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit im
ehemaligen Jugoslawien wie anderswo, wie ich
Es gibt Gegenargumente, die schon dargestellt überhaupt für eine internationale Strafgerichtsbar-
worden sind. Wir haben uns von diesen Gegenargu- keit zur Verfolgung von Verbrechen gegen den Frie-
menten letztlich überzeugen lassen. Gegen die Be- den, von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
gründung, die ich soeben hier skizziert habe, steht die Menschlichkeit bin.
die andere Begründung, daß man erstens etwas
In diesem Zusammenhang begrüße ich auch die
Selbstverständliches nicht ins Gesetz hineinschrei-
jahrelangen Bemühungen der UN-Völkerrechtskom-
ben soll. Dieses Gegenargument allerdings würde
mission, einen internationalen Strafgerichtshof zur
ich gegenüber dem Gebot der größeren Klarheit ge-
Verfolgung dieser Verbrechen zu schaffen. Ich frage
rade im internationalen Bereich nicht so hochschät-
mich erstens jedoch - hier stimme ich auch dem zu,
zen.
was der Kollege Häfner gesagt hat -, ob die Einset-
Das zweite war der Gedanke, wir könnten damit zung von Sondertribunalen durch den Sicherheits-
zum Ausdruck bringen wollen, daß wir an eine Ä n- rat der Vereinten Nationen ein geeignetes und
derung des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes über- durch die UN-Charta legitimiertes Verfahren ist, nur
haupt nicht denken. Ich muß also überhaupt nicht weil die Völkergemeinschaft bisher nicht in der Lage
nationalliberal sein. Die Freien Demokraten würden war, den notwendigen Strafgerichtshof zu bilden.
durchaus bereit sein, sich mit Ihnen darüber zu un- Der Sicherheitsrat wirkt hier als Gesetzgeber und mit
terhalten, welche enormen Verdienste unsere Vor- dem Tribunal, das als sein Hilfsorgan fungiert, zu-
gänger gehabt haben, die sich nationalliberal ge- gleich als Richter. Für beide Funktionen gibt ihm die
nannt haben. Wenn man allerdings Mißverständnisse Charta in meinen Augen kein Mandat.
vermeiden will, müßte man immer wieder neu defi- Dieser tiefe Eingriff in die Gerichtsbarkeit und das
nieren, was das in dieser Zusammensetzung heißt, Auslieferungsrecht aller Staaten ist mit einer Beru-
damit es dann nicht eines Tages aus Versehen nicht fung auf Kapitel VII der Charta nicht zu rechtferti-
mehr liberal ist. Deshalb wollen wir uns diese Diskus- gen. Dem Sicherheitsrat sind dort quasi Polizeifunk-
sion heute wohl nicht weiter gönnen. Dieser Ein- tionen zugeordnet. Er kann Maßnahmen zur Wah-
wand überzeugt jedenfalls. rung und Wiederherstellung des Friedens gegen ei-
nen Staat ergreifen. Der Sicherheitsrat kann aber
Wir wollten das gesamte Verfahren, dem schließ-
nicht - das ist dort nicht festgelegt - als Gesetzgeber
lich konkrete Anlässe zugrunde liegen, bei unserer
und - mittelbar - als Richter gegen Personen auftre-
Wertschätzung dieses Schrittes überhaupt nicht wei-
ten. Das gibt die UN-Charta nicht her.
ter behindern. Deshalb sind wir dankbar, daß durch
die Diskussion deutlich gemacht worden ist: Wir alle Die Schaffung von Ad hoc Gerichten ist zweitens
-
wollen sehr gründlich über notwendige weitere Kon- immer fragwürdig. Sie ist es insbesondere, weil sie
sequenzen, insbesondere über eine Änderung des notwendig selektiv ist. Das gewählte Verfahren
Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für solche und ver- schließt es von vornherein aus, daß es gegen den Wil-
gleichbare Zwecke, nachdenken. len eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrates
ein internationales Tribunal geben wird. Inzwischen
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kleinert, bitte! haben wir schon zwei Ad hoc-Tribunale: eines für
das ehemalige Jugoslawien und eines für Ruanda.
Vielleicht haben wir schon morgen ein drittes und
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Dazu gehört al-
viertes. Daß wir je eines zur Verfolgung von Verbre-
lerdings auch, wie Herr Häfner es schon angedeutet
chen etwa in Tschetschenien haben werden, ist wohl
hat, daß man sich in zukünftigen Fällen sehr genau
ausgeschlossen, weil Rußland das mit einem Veto
mit der Frage befaßt, ob die materiellen und forma-
verhindern würde. Nach meiner Ansicht würde nur
len Regelungen, nach denen ein solcher Gerichtshof
ein auf einer soliden völkerrechtlichen Grundlage er-
arbeitet, so ausgestaltet sind, daß wir es im Hinblick
richteter Strafgerichtshof die Probleme lösen.
auf unser mühsam errungenes rechtsstaatliches Sy-
stem verantworten können, unsere Staatsbürger ei- Ich habe drittens schließlich auch Bedenken we-
ner solchen Gerichtsbarkeit auszuliefern. Das wird gen der unpräzisen Strafnormsetzung durch den Si-
Gegenstand solcher Überlegungen sein müssen. cherheitsrat. Das Statut des Tribunals enthält zwar
1764 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Anlage 2 Anlage 3
Antwort Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Falthauser auf die des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die
Fragen des Abgeordneten Reiner Krziskewitz (CDU/ Frage des Abgeordneten Benno Zierer (CDU/CSU)
CSU) (Drucksache 13/676 Fragen 25 und 26): (Drucksache 13/676 Frage 27):
Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der von den Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß angesichts von
steuerlichen Auswirkungen betroffenen Betriebe und die Höhe Steuergeldverschwendungen in Ostdeutschland und angesichts
des entstehenden Steuerausfalls bei Einführung eines Betriebs- eines deutschen Nettobeitrags an die Gemeinschaften der Euro-
kostenpauschalabzugs analog zum österreichischen EStG päischen Union von 22 Mrd. DM mit bisher steigender Tendenz
1768* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
durch Rückführung der Nettobeiträge, durch sparsame Haus- Mehrere Gespräche mit gleicher Zielsetzung, an
haltsführung, strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips vor
allem bei Vorschlägen für neue Programme der Gemeinschaften
denen Bundesregierung und Bayerische Staatsregie-
und durch Überprüfung bestehender Ausgaben so viel Geld auf rung zusammenwirken, wurden in Brüssel geführt.
deutscher Seite eingespart werden kann, daß der Solidaritätszu-
schlag schon vor 1997 reduziert oder ganz aufgehoben werden Zu Frage 37:
kann?
Sollte die Europäische Kommission entscheiden,
Zwischen dem Solidaritätszuschlag und dem deut- daß die Maßnahmen nach dem Stahibeihilfenkodex
schen EU-Beitrag gibt es keinen Zusammenhang. nicht von der Kommission genehmigt werden kön-
nen, wird die Bundesregierung im Kontakt mit der
Der Solidaritätszuschlag ist im Rahmen der Soli-
Bayerischen Staatsregierung die Frage prüfen, ob ein
darpaktverhandlungen beschlossen worden, um zu-
Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung
mindest teilweise den Einnahmeverzicht des Bundes
nach Art. 95 EGKS-V gestellt werden soll.
im Rahmen des neugestalteten bundesstaatlichen Fi-
nanzausgleichs auszugleichen. Der Bund verzichtet Ein solcher Antrag hat nur dann Erfolg, wenn alle
allein 1995 zugunsten Ostdeutschlands auf Steuer- Ratsmitglieder ihm zustimmen. Nach den Erfahrun-
einnahmen von etwa 35 Milliarden DM; demgegen- gen der jüngsten Zeit ist damit kaum zu rechnen, zu-
über wird der Solidaritätszuschlag voraussichtlich mal der Ministerrat am 17. Dezember 1993 einstim-
nur rd. 26 Milliarden DM erbringen. mig beschlossen hat, neue Anträge auf Genehmi-
gung von Beihilfen nach Art. 95 EGKS-V zu vermei-
Der Solidaritätszuschlag kann erst dann abgebaut
den. Außerdem müssen die Rückwirkungen eines
werden, wenn die Belastungen aus den Finanzaus-
solchen Antrages auf andere Beihilfenfälle berück-
gleichsleistungen des Bundes abnehmen oder sein
sichtigt werden.
Aufkommen dauerhaft stärker ansteigt als bisher an-
genommen. Ein erster Schritt dürfte aber spätestens
1998 möglich sein.
Anlage 5
Anlage 4 Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Heinrich L. Kolb auf die
Anwort Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD)
des Parl. Staatssekretärs Heinrich L. Kolb auf die Fra- (Drucksache 13/676 Fragen 41 und 42):
gen des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) Wie begründet die Bundesregierung im einzelnen die Ein-
(Drucksache 13/676 Fragen 36 und 37): schränkung der Kontrollpflicht bei der Ausfuhr von Dual-Use-
Gütern, die für konventionelle Waffensysteme bestimmt sein
Wie beurteilt die Bundesregierung die Bemühungen des Frei- können, auf nur noch 13 Staaten, ausweislich der neuen „Liste K"
staates Bayern, unter Einsatz öffentlicher Mittel die Konsolidie- in der notwendigen Neuformulierung der Außenwirtschaftsver-
rung durch Privatisierung der Maxhütte voranzubringen, und ordnung?
wird sie den Freistaat dabei im Beihilfekontrollverfahren der Eu-
ropäischen Union unterstützen? Welche Möglichkeiten bestehen in Zukunft, nationale Sonder-
regelungen, wie sie in der deutschen „Liste K" bei der Ausfuhr
Würde die Bundesregierung im Falle einer Negativentschei- von Dual-Use-Gütern zum Ausdruck kommt, durch Kontrollen
dung der Europäischen Kommission in Sachen Maxhütte gege- im Intra-EU-Warenverkehr wirksam zu halten?
benenfalls die Entscheidung des Ministerrates anstreben, und
wie beurteilt sie die Erfolgsaussichten einer solchen Initiative?
Zu Frage 41:
Zu Frage 36: Auch aus der Mitte des Deutschen Bundestages ist
die europäische Harmonisierung der Ausfuhrkon-
In dem laufenden Beihilfenkontrollverfahren ste- trollvorschriften wiederholt gefordert worden. Eine
hen die Bundesregierung und die Bayerische Staats- Harmonisierung auf dem deutschen Kontrollniveau
regierung in engem Kontakt.
ist nicht erreichbar.
Die Entscheidung über die Vereinbarkeit der fi- Die Entscheidung der Bundesregierung für die
nanziellen Leistungen des Freistaates Bayern im Zu- Länderliste K war das Ergebnis sehr sorgfältiger Ab-
sammenhang mit der Privatisierung der Neuen Max- wägung zwischen exportkontrollpolitischer Verant-
hütte in Sulzbach-Rosenberg obliegt dabei zunächst
wortung und integrationspolitischer Verpflichtung
der Europäischen Kommission. Der Ausgang dieser
durch Verabschiedung der EG-dual-use-Verord-
Prüfung ist offen.
nung.
Die Bundesregierung hat auf der Grundlage von
Die neue Liste K enthält zunächst einen „harten
Informationen der Bayerischen Staatsregierung in
Kern" von 5 Ländern (Iran, Irak, Libyen, Nordkorea
mehreren Mitteilungen an die Kommission die Auf-
und Syrien), die wegen ihrer vielfältigen Beschaf-
fassung dargelegt, daß die finanziellen Leistungen
fungsaktivitäten insbesondere auch in der konventio-
der Bayerischen Staatsregierung im Zusammenhang
nellen Rüstung aufgenommen werden mußten.
mit der Veräußerung ihrer Anteile dem Verhalten ei-
nes privaten Unternehmers unter marktwirtschaftli- Mit der Aufnahme von Angola, Ex-Jugoslawien,
chen Bedingungen entsprächen und damit keine Bei- Myanmar und Somalia trägt die Bundesregierung
hilfe seien. der internationalen Beschlußlage Rechnung, da ge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1769*
gen diese Staaten entweder auf EU- oder VN-Ebene Nach Kenntnis der Bundesregierung wird der vom
flächendeckende Militärembargos bzw. reine Waf- Robert-Koch-Instut vermutete Zusammenhang zwi-
fenembargos beschlossen wurden. Für die Aufnahme schen der Verwendung von Glykopeptid-Antibiotika
von Afghanistan, Kuba, Libanon und Mosambik wa- in der Tierfütterung und dem Auftreten von glyko-
ren primär außenpolitische Erwägungen maßgeblich. peptid-resistenten Enterokokken beim Menschen je-
doch derzeit von kompetenten Fachleuten als wis-
Politische Veränderungen in mehreren Regionen senschaftlich nicht gesichert angesehen. Hierfür wer-
(insbesondere in Südafrika, Osteuropa und in Nah- den vor allem folgende Überlegungen angeführt:
ost) haben es erlaubt, deutsche Sonderkontrollen im
konventionellen Bereich gegenüber einer Reihe von 1. Glykopeptid-resistente Enterokokken werden
Ländern zu reduzieren. auch bei Tierarten, an die keine Antibiotika verfüt-
tert werden, wie z. B. Hund oder Pony, nachgewie-
Die neue Liste K stellt eine Momentaufnahme dar. sen.
Sie wird laufend überprüft.
2. Solche resistenten Keime werden auch in der Um-
Zu Frage 42: welt, z. B. in Abwässern, gefunden.
Grundvoraussetzung für eine wirksame Kontrolle 3. Obwohl in den USA Glykopeptid-Antibiotika als
durch nationale Sonderregelungen ist es, daß die Futterzusatzstoffe nicht verwendet werden, gibt es
Sonderregelungen nicht durch einen freien Intra-EU- dort höhere Resistenzraten gegen Glykopeptid-
Warenverkehr umgangen werden können. Aus die- Antibiotika als in Deutschland.
sem Grund hat sich die Bundesregierung bei den Ferner wird von Kritikern angeführt, daß die vom
Verhandlungen in Brüssel für die Aufnahme einer Robert-Koch-Institut vorgelegten Zahlen weder stati-
entsprechenden Kontrollmöglichkeit des Intra- stisch noch epidemiologisch ausreichen, um bereits
EU-Warenverkehrs eingesetzt (vgl. Art. 19 Abs. 3 eine Infektionskette vom Tier auf den Menschen ab-
EG-VO). leiten zu können. So können die bei Menschen und
Die durch diese EG-Norm ermöglichte einseitige in städtischen Kläranlagen nachgewiesenen Resi-
Belastung des Intra-EU-Warenverkehrs kann aus in- stenzen z. B. auch dahingehend interpretiert werden,
tegrationspolitischen Gründen nur noch auf die ex- daß eine Resistenzübertragung in umgekehrter Rich-
portkontrollpolitisch wirklich notwendigen Fallgrup- tung vom Menschen auf das Tier als Folge der Ver-
pierungen beschränkt werden; anderenfalls müßte wendung bestimmter Antibiotika in der Humanthe-
damit gerechnet werden, daß die Mitgliedstaaten bei rapie erfolgt. Diese epidemiologischen Zusammen-
einer Abänderung der EG-VO diese Klausel mit qua- hänge bedürfen weiterer Aufklärung.
lifzierter Mehrheit streichen könnten. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die
Insgesondere die Kontrolle nicht gelisteter Waren - Problematik einer möglicherweise durch bestimmte
d. h. eine sehr umfassende Kontrolle - wie im Fall der Fütterungsantibiotika induzierten Resistenz aus
Auffangnorm des § 5c AWV, muß sich daher auf we- Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes
nige Destinationsländer beschränken. dringend der Klärung bedarf. Sie hat deswegen un-
verzüglich, nachdem ihr die Ergebnisse des Robert-
Koch-Instituts bekannt wurden, die für die Zulas-
sung von Zusatzstoffen zuständigen Dienststellen
der EU-Kommission sowie die Mitgliedstaaten unter-
Anlage 6 richtet und die Erörterung der Frage in den zuständi-
gen EG-Sachverständigengremien initiiert.
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fra- Zu Frage 44:
gen der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren Die Zulassung von Futtermittelzusatzstoffen erfolgt
(SPD) (Drucksache 13/676 Fragen 43 und 44): seit 1970 EG-einheitlich nach den Bestimmungen der
Teilt die Bundesregierung die Besorgnis, daß der Einsatz von Richtlinie 70/524/EWG über Zusatzstoffe in der Tier-
Glykopeptiden als Futtermittelzusatz in der Tiermast (speziell ernährung. Die Beratungen über Zulassungsanträge
der Schweine- und Hühnermast) nachteilige Auswirkungen für erfolgen auf der Grundlage umfangreicher Zulas-
die menschliche Gesundheit haben kann, insbesondere unter
sungsunterlagen, deren gesundheitliche Aspekte in
dem Aspekt der neuesten Untersuchungen des Robert-Koch-In-
stituts, wonach die Entwicklung von krankheitserregenden Kei- Deutschland vom Bundesinstitut für gesundheitli-
men in der menschlichen Darmflora (sog. Enterokokken) begün- chen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin
stigt werden kann, die dann beim Menschen gegen das vor eini- (BgVV) geprüft werden (vor 1994 vom Bundesge-
gen Jahren noch wirksame Antibiotikum Glykopeptid resistent
sind und evtl. eine Heilung problematisch machen?
sundheitsamt).
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung zur Verhinde- Die Bundesregierung wurde erstmals Mitte 1994
rung des Einsatzes von Glykopeptid-Antibiotika in der Tiermast, vom BgVV auf Untersuchungen des Robert-Koch-In-
insbesondere in Schweine- und Hühnermastbetrieben ergrei- stituts über die Problematik der möglichen Entwick-
fen, um die Möglichkeit einer Beeinträchtigung/Schädigung der
lung von Glykopeptid-Antibiotika-Resistenzen durch
menschlichen Gesundheit durch diese Präparate auszuschalten?
Futtermittelzusatzstoffe aufmerksam gemacht. Sie
hat daraufhin - wie bereits erwähnt - unverzüglich
Zu Frage 43:
eine Diskussion dieser Frage in den zuständigen EG-
Die genannten Untersuchungen des Robert-Koch- Sachverständigengremien initiiert. Die bisherigen
Institutes sind der Bundesregierung bekannt. Erörterungen haben gezeigt, daß die vom Robert-
1770* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Koch-Institut vorgelegten Daten noch nicht für (vor allem an Dichtungen und Kraftstoffleitungen).
Schlußfolgerungen ausreichen. Die Bundesregierung Technische Schwierigkeiten (z. B. Kompressionsver-
hat inzwischen den Mitgliedstaaten und der EG luste, verstopfte Kraftstoffilter) sind ansonsten nicht
Kommission eine weitere Stellungnahme des Robert- auszuschließen.
Koch-Institutes zur Verfügung gestellt. Die Beratung
hierüber ist für März 1995 vorgesehen. Neben dem Problem der motortechnischen Eig-
nung stellt sich allen potentiellen Verwendern die
Unabhängig davon hat die Bundesregierung die Frage, ob die RME-Verwendung sich mit den spezifi-
für diese gesundheitspolitische Frage zuständigen schen Anforderungen, die sich aus dem Auftrag oder
Bundesinstitute aufgefordert, die Frage der Glyko- dem Unternehmensziel ergeben, insbesondere auch
peptid-Resistenz in einem wissenschaftlichen Fach- im Hinblick auf die verfügbaren RME-Mengen und-
gespräch unter Einbindung externer Fachleute zu die Eigenschaften des RME vereinbaren läßt.
klären und zu bewerten.
Derzeit wird RME in kommunalen Fuhrparks, in
Fahrzeugen des Landhandels und der landwirt-
schaftlichen Genossenschaften, in privaten Unter-
nehmen, beim Betrieb von Taxis und bei privaten
Anlage 7 Verbrauchern - allerdings in noch relativ geringem
Umfang - eingesetzt.
Antwort
Die Bundeswehr hat Versuche mit RME durchge-
des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fra- führt. Hierbei traten insbesondere Probleme bei den
gen des Abgeordneten Heinz Schmitt (Berg) (SPD) Kraftstoffleitungen auf. Da aber Qualitäten verwen-
(Drucksache 13/676 Fragen 45 und 46): det wurden, die nicht der jetzt erlassenen Vornorm
Wieviel Öko-Diesel (Rapsoel-Methylester, RME) wird derzeit DIN 51606 entsprachen, sind diese frühen Ergeb-
in den einzelnen Bundesländern in Deutschland produziert, und nisse nur bedingt aussagekräftig. Die Bundeswehr
welche neuen Produktionsstandorte (mit Mengenangabe) sind setzt die Untersuchungen zur technischen Eignung
für die nächsten Jahre geplant? von RME in ihrem Bereich fort.
Welche Fahrzeuge/Verkehrsmittel werden derzeit mit Öko-
Diesel betrieben und ist Öko-Diesel zur Verwendung bei der Die Deutsche Bahn AG (DB) setzt RME in Fahrzeu-
Bundeswehr, der Deutschen Bahn AG und/oder beim Bundes- gen der Bautrupps ein. Im Streckenverkehr einge-
grenzschutz geeignet? setzte Loks können nach in Versuchen gewonnenen
Erkenntnissen der DB nicht mit RME betrieben wer-
Zu Frage 45: den, weil die Leistungsminderung zu erheblichen
Schwierigkeiten führen würde. Hingegen fällt der
Die Produktionskapazität für Rapsmethylester in
Leistungsverlust der Motoren in den Fahrzeugen der
Deutschland ist derzeit noch gering. Eine kleinere
Bautrupps nicht so stark ins Gewicht.
Anlage in Leer/Ostfriesland ist derzeit in der Lage,
etwa 5 000 t/a zu erzeugen. Darüber hinaus verfügt Der Bundesgrenzschutz (BGS) hat bisher keine
die Fa. Henkel in Düsseldorf über eine Großanlage Versuche mit RME durchgeführt. Ausschlaggebend
zur Herstellung von Pflanzenölmethylester. Es wird dafür sind vor allem der höhere Preis für RME sowie
davon ausgegangen, daß dort freie Kapazitäten für erwartete technische Probleme in einem Fuhrpark,
die Treibstofferzeugung von etwa 60 000 bis 80 000 t der vorwiegend aus Altfahrzeugen besteht. Der BGS
vorhanden sind. Die Anlage in Leer/Ostfriesland soll, hat auch in naher Zukunft keine entsprechenden
nach Aussagen des Betreibers, auf eine Kapazität Versuche geplant.
von etwa 60 000 t/a erweitert werden. In Gmünden
am Main entsteht eine Anlage mit 100 000 t/a. Die Einen aus meiner Sicht sehr interessanten Bereich
dritte Anlage mit einer Kapazität von 10 000 t/a soll haben Sie allerdings in Ihrer Frage nicht angespro-
in Kiel entstehen. Zusammen mit den jetzt vorhande- chen. Dies sind umweltsensible Bereiche. Ich denke
nen Anlagen könnte damit in etwa zwei Jahren eine vor allem an die Binnengewässer. So beabsichtigt der
Kapazität von rd. 230 000 t/a erreicht werden. Freistaat Bayern ein Schiff auf dem Tegernsee auf
den Betrieb von Biodiesel umzurüsten und damit
Planungen zur Erstellung neuer Anlagen zur Her- erste Erfahrungen zu sammeln.
stellung von Rapsmethylester bestehen in den Län-
dern Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hessen. Diese
Planungen befinden sich in den Anfängen; konkrete
Aussagen über Standorte und Kapazitäten können
noch nicht getroffen werden. Anlage 8
In umfangreichen Motorentests und Fahrversu- des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fra-
chen, die zum Teil noch fortgesetzt werden, ist der gen der Abgeordneten Lydia Westrich (SPD)
Einsatz von Rapsmethylester (RME) untersucht wor- (Drucksache 13/676 Fragen 47 und 48):
den. Einige Kraftfahrzeughersteller haben inzwi- HältesdiBunrgfümölichundwrsegf.
schen bestimmte Fahrzeugtypen RME-tauglich aus- dafür einsetzen, das ehemalige NATO-Pipeline-Netz einschließ-
gerüstet und für den Betrieb mit RME freigegeben. lich der Tanklager und Pumpstationen - hier insbesondere be-
reits stillgelegte Lager in der Pfalz (z. B. in Hinterweidenthal,
Auch in Altfahrzeugen kann RME eingesetzt wer- Kusel-Bedesbach) - für den Transport und die Lagerung von
den, allerdings nur nach technischen Anpassungen Öko-Diesel (RME) zu nutzen?
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1771*
Wie beurteilt die Bundesregierung die Konkurrenzfähigkeit ten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung für
von Öko-Diesel (RME) im Vergleich zu anderen Treibstoffen? die häusliche Pflege fortführen und das Pflegegeld
nach § 37 SGB XI ebenfalls vorschüssig auszahlen.
Zu Frage 47: Auf diese Weise wird ein nahtloser Übergang bei der
Probleme bei der Bevorratung von Biodiesel sind Pflegegeldzahlung gewährleistet, ohne daß die in
der Bundesregierung bisher, auch in Anbetracht der den Fragen zugrundegelegten Übergangsprobleme
anfallenden Mengen, nicht bekannt geworden. Da- auftreten.
her hat die Frage der Verwendung ehemaliger
NATO-Einrichtungen in diesem Zusammenhang
keine Rolle gespielt. -
Sofern Unternehmen interessiert sind, ehemalige Anlage 10
Einrichtungen der NATO aus dem Bestand des Bun-
desministers der Finanzen zur Bevorratung von Bio- Antwort
diesel zu übernehmen, sollten sie Verbindung mit
der zuständigen Oberfinanzdirektion aufnehmen. des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Frage
des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Druck-
Zu Frage 48: sache 13/676 Frage 51):
Biodiesel konkurriert am Treibstoffmarkt mit Die- Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage von Selbstver-
waltungsorganen der Arbeitsämter, die darüber klagen, daß die
seltreibstoff auf petrochemischer Basis.
Maßnahmeträger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die ge-
Die technische Eignung von Biodiesel in entspre- forderte, im Jahr 1994 erhöhte Eigenbeteiligung vielfach nicht
aufbringen konnten, was in wesentlichen Bereichen zu einem
chend angepaßten Motoren ist weitgehend herge- Wegbrechen der bewährten Trägerlandschaft und damit zu
stellt und durch eine Vielzahl von Fahrversuchen, deutlich weniger Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geführt hat,
nicht zuletzt aufgrund umfangreicher Förderung und bis wann kann mit einer Änderung der Bestimmungen ge-
durch BML, belegt. Die Verwendung wird u. a. durch rechnet werden?
noch fehlende Herstellerfreigaben beeinträchtigt.
Die Bundesregierung geht nicht davon aus, daß
Der aus Raps von stillgelegten Flächen hergestellte die Änderung der förderungsrechtlichen Vorausset-
Rapsmethylester (RME) wird zu Tankstellenabgabe zungen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch
preisen von 1,15-1,20 DM/l angeboten. Unter Be- das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 vom
rücksichtigung von Mehrverbrauch, zum Teil auch 26. Juli 1994 zu einem Wegbrechen der bewährten
Leistungsminderung und Mehrpreis beläuft sich die Trägerlandschaft und damit zu deutlich weniger Ar-
Wettbewerbsdifferenz insgesamt auf 0,10-0,15 DM/l. beitsbeschaffungsmaßnahmen führt. Daher ist eine
Möglich wird die Annäherung an den Dieselpreis Änderung der rechtlichen Bestimmungen nicht vor-
u. a. deshalb, weil auf reine Biokraftstoffe in Deutsch- gesehen.
land keine Mineralölsteuer erhoben wird.
Es ist nicht zutreffend, daß die Änderung der förde-
rungsrechtlichen Voraussetzungen zum Ziel hatte,
die Eigenbeteiligung der Träger zu erhöhen. Denn
die Höhe der Lohnkostenzuschüsse wurde nicht ver-
Anlage 9 ändert, sondern nur die Höhe der Bemessungsgrund-
lage. Danach richten sich die Lohnkostenzuschüsse
Antwort nach 90 Prozent des Lohnes für vergleichbare unge-
förderte Arbeiten. Da nicht alle Arbeitslosen in sol-
des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Fra- che mit öffentlichen Mitteln bezahlte und bef ristete
gen des Abgeordneten Günter Graf (Friesoythe)
Tätigkeiten vermittelt werden können, ist es gerecht-
(SPD) (Drucksache 13/676 Fragen 49 und 50):
fertigt, daß der Abstand zu den Arbeitslosengeldbe-
Wie gedenkt die Bundesregierung das Problem zu lösen, daß ziehern nicht zu groß wird und mit den begrenzten
Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz vorschüssig, Mitteln möglichst viele Beschäftigungen gefördert
nach dem Pflegeversicherungsgesetz aber nachträglich gezahlt
werden und somit Pflegebedürftige, die in der Regel auf laufen- werden.
de Zahlungen angewiesen sind, den Übergangsmonat April
1995 aus eigenen finanziellen Mitteln überbrücken müssen?
Kann die Bundesregierung sicherstellen, daß die Pflegebe-
dürftigen in den Fällen zu Frage 49 oder bei einem nicht mögli-
chen nahtlosen Übergang von der einen in die andere Zahlungs- Anlage 11
art Vorschüsse erhalten können, um Notlagen bei den betroffe-
nen Personen zu vermeiden?
Antwort
Die von Ihnen befürchteten Übergangsprobleme des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Fra-
werden in der Praxis nicht auftreten. Die Kranken- gen der Abgeordneten Verena Wohlleben (SPD)
kassen stellen zur Zeit mit Rücksicht auf das Urteil (Drucksache 13/676 Fragen 52 und 53):
des Bundessozialgerichts vom 25. Oktober 1994
(3/1 RK 51/93) bei dem Pflegegeld nach § 57 SGB V Treffen Meldungen zu, daß der im Rahmen des Baus der ICE
Strecke zwischen Ingolstadt und Nürnberg geplante Ausbau der
von der nachschüssigen auf die vorschüssige Zah- Bahnhöfe Allersberg und Kinding zu Regionalbahnhöfen durch
lungsweise um. Die Pflegekassen werden diese ge- das Bundesministerium für Verkehr und die Deutsche Bahn AG
änderte Praxis zum 1. April 1995 mit dem Inkrafttre- inzwischen in Frage gestellt wird?
1772* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
Welche Alternativlösungen streben das Bundesministerium Nach den Untersuchungen der deutschniederlän-
für Verkehr und die Deutsche Bahn AG an, um sicherzustellen,
daß der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) - wie zuge-
dischen Arbeitsgruppe vom September 1991 werden
sagt - auf der ICE-Strecke in diesem Bereich verkehren kann im Schienengüterverkehr für das Jahr 2010 zwischen
und die Anbindung der beiden Orte gewährleistet wird? Emmerich und Oberhausen in beiden Richtungen zu-
sammen rund 160 Züge erwartet.
Zu Frage 52:
Für den Schienenpersonenfernverkehr ist ein Stun-
Nach Information der Deutschen Bahn Aktienge- dentakt zu erwarten.
sellschaft, die die unternehmerische Verantwortung
für die Neu-/Ausbaumaßnahme Nürnberg-Ingol- Die Frequenz der Züge des Nahverkehrs hängt da-
stadt-München trägt, ist der auf dem Neubaustrek- von ab, wieviel Nahverkehrsleistungen bestellt wer- -
kenabschnitt vorgesehene Ausbau der Bahnhöhe Al- den. Die ab 1996 greifende Regionalisierung des
lersberg und Kinding zu Regionalbahnhöfen plane- Schienenpersonennahverkehrs überträgt die Verant-
risch als Option berücksichtigt. Er soll im Einverneh- wortung dafür auf die Bundesländer.
men mit dem Freistaat Bayern planfestgestellt wer-
den. Der Deutsche Bahn Aktiengesellschaft liegt die Zu Frage 55:
Erklärung des Freistaates Bayern vor, im Rahmen der
zum 1. Januar 1996 in Kraft tretenden Regionalisie- Mit der Strecke Emmerich-Oberhausen liegt eine
rung Nahverkehrsleistungen bestellen sowie für den leistungsfähige, zur Zeit nur mäßig ausgelastete
Ausbau erforderliche Finanzierungsmittel bereitstel- Schienenverbindung vor, die zunächst keine zusätzli-
len zu wollen. chen Ausbaumaßnahmen erforderlich macht.
Die erste Betriebsstufe der Betuwe-Linie erfordert
Zu Frage 53: deshalb lediglich im Knoten Oberhausen Ausbau-
maßnahmen.
Aus den in der Antwort zu Frage 52 genannten
Gründen stellt sich die Frage nach Alternativlösun- Im übrigen handelt es sich in der ersten Phase in
gen aus Sicht der Bundesregierung nicht. Deutschland lediglich um eine intensivere Nutzung
der bereits bestehenden Eisenbahninfrastruktur. Erst
das für den Endausbau ggf. erforderliche dritte Gleis
zwischen Wesel und Oberhausen stellt eine wesentli-
che Änderung dar.
Anlage 12
Die Bundesregierung geht davon aus, daß dort
Antwort dann im Rahmen der Lärmvorsorge die entsprechen-
den gesetzlichen Regelungen zum Schutz der An-
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Fra- wohner durch die Deutsche Bahn AG beachtet wer-
gen der Abgeordneten Dr. Barbara Hendricks (SPD) den.
(Drucksache 13/676 Fragen 54 und 55):
Hat die Bundesregierung Kenntnis über den aktuellen Pla-
nungsstand der niederländischen Güterverkehrsstrecke Betu
we-Lijn, und welche Zugfrequenz wird nach Fertigstellung der
Betuwe-Lijn auf der Anschlußstrecke Emmerich-Oberhausen-
Duisburg erwartet?
Anlage 13
Ausnahmen beispielsweise für Postflüge (z. B. Frank- Im Zusammenhang mit der am 1. April 1995 begin-
furt). Der Flughafen Tegel hat ein ganztägiges Be- -
nenden schrittweisen Fernhaltung von Kapitel-2
triebsverbot für Kapitel-2-Flugzeuge. Flugzeugen von Flugplätzen in der Europäischen
Union ist eine weitere Entspannung der Lärmsitua-
Die neueren, leiseren Kapitel-3-Flugzeuge dürfen tion zu erwarten.
dagegen auf den Verkehrsflughäfen nachts - teil-
weise in der Zahl der Flüge kontingentiert - verkeh-
ren (z. B. München). Vor diesem Hintergrund hält die Bundesregierung
eine generelle Ausdehnung der nächtlichen Be-
Die Art der Nachtflugbeschränkungen orientiert schränkungszeiten nicht für erforderlich. Wenn je-
sich an der Lage des Flughafens in Bezug auf die Be- doch bei besonderen örtlichen Bedingungen weiter- -
siedelung in seinem Umfeld; die zeitlichen Beschrän- gehende Beschränkungen für Kapitel-2-Flugzeuge
kungen beginnen im allgemeinen um 23.00 Uhr und auf einzelnen Verkehrsflughäfen für erforderlich ge-
dauern bis ca. 7.00 Uhr. halten werden, wird sich die Bundesregierung dem
nicht widersetzen.
Nach § 6 Luftverkehrsgesetz in Verbindung mit
§ 31 Luftverkehrsgesetz obliegt den Ländern die Zu-
ständigkeit für die Genehmigung der Anlage und
des Betriebs von Flugplätzen mit Ausnahme der Prü-
fung und Entscheidung, inwieweit durch die Anle-
gung und Betrieb des Flugplatzes öffentliche Interes- Anlage 14
sen des Bundes - bei Einschränkung von Betriebszei-
ten ist das immer gegeben - berührt werden. Antwort
Laute Flugzeuge aus dem Nachtflugbetrieb zu ver- des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Fra-
drängen, ist übereinstimmende Politik der Bundesre- gen des Abgeordneten Werner Schulz (Berlin)
gierung, der Länder und der kommunalen Gebiets- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 13/676
körperschaften. Während die Bundesregierung auf Fragen 57 und 58):
ökonomische Mittel setzt, versucht die örtliche Flug-
hafenpolitik häufig über das Mittel weitgehender be-
Bis wann kann nach den Planungen des Bundesministeriums
trieblicher Beschränkungen Flugverkehr erst der lau- für Verkehr die ICE-Trasse Leipzig-Nürnberg fertiggestellt sein,
teren dann aber auch der weniger lauten Flugzeuge und wie ist die Finanzierung hierfür gesichert?
zu verhindern. Dem kann die Bundesregierung nicht
folgen, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland Welche Überlegungen haben die Bundesregierung veranlaßt,
angemessen wettbewerbsfähig bleibt. Neben den diese ICE-Strecke weniger vordringlich als andere einzustufen,
ökologischen Gesichtspunkten müssen die ökonomi- und welche strukturpolitischen Folgen erwartet die Bundesre-
schen Wirkungen von Betriebsbeschränkungen für gierung für die betroffenen Länder und insbesondere für den
sächsischen Wirtschaftsraum Leipzig-Zwickau-Chemnitz von
einer erheblichen Verzögerung der Inbetriebnahme dieser ICE
- die Wirtschaft der Region, Verbindung?
Zu Frage 60:
Der Bund hat die Deutsche Bahn Aktiengesell- Anlage 17
schaft in deren Aufsichtsrat aufgefordert, die Fehler
in der Gehaltsabrechnung abzustellen. Antwort
Er wird sich hierüber im Aufsichtsrat erneut be-
richten lassen. des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fra-
gen des Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen
Die übertariflichen Gehälter, zu denen auch die (SPD) (Drucksache 13/676 Fragen 63 und 64):
der Mitglieder des Vorstandes der Deutschen Bahn
Aktiengesellschaft gehören, waren, da sie in einem Liegt dem zuständigen Bundesministerium bereits ein Antrag
gesonderten Abrechnungskreis bearbeitet werden, auf Erteilung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung für den
von den Unregelmäßigkeiten nicht betroffen. geplanten Forschungsreaktor München II vor, wenn ja, seit
wann?
Anlage 16
Zu Frage 19:
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fra- Das Land Bayern hat am 3. Februar 1995 die Ertei-
gen des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) lung einer Unbedenklichkeitserklärung für die Er-
(Drucksache 13/676 Fragen 61 und 62): schließungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der
Wie bewertet die Bundesregierung den Verzicht der amerika- Errichtung einer Hochflußneutronenquelle in Gar-
nischen Regierung auf den Bau einer mit hochangereichertem ching beantragt.
Uran betriebenen Fortgeschrittenen Neutronenquelle (ANS)?
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, daß damit
der geplante Forschungsreaktor München Il weltweit der einzi- Zu Frage 20:
ge Forschungsreaktor für den Betrieb mit hochangereichertem
Uran ist, der nach dem Anlaufen des internationalen Programms
zur Anreicherungsreduzierung für Forschungs- und Versuchs- Ob die Kriterien für die Erteilung einer Unbedenk-
reaktoren (RERTR) 1978 neu errichtet werden soll? lichkeitserklärung erfüllt sind, wird derzeit geprüft.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1775*
rechtskommission der Vereinten Nationen gegen- ihrer Stellungnahme vertreten. Diese Stellungnahme
über dem mit der Redaktion des Berichts befaßten wird dem Menschenrechtszentrum in Kürze übermit-
Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen in telt.
Genf demarchiert. Dabei hat sie ausführlich die vom
Sonderberichterstatter praktizierte Aufnahme unge- Zu Frage 71:
prüfter Deutschland-kritischer Mitteilungen kritisiert
und nachdrücklich den Anspruch der Bundesregie- Die Scientology-Organisation ist auch auf der
rung auf eine gleichgewichtige Darstellung ihrer OSZE-Überprüfungskonferenz in Budapest (10. Ok-
Stellungnahme vertreten. Darüber hinaus hat der tober bis 2. Dezember 1994) aufgetreten. In der Ar-
Leiter der deutschen Delegation zur 51. Sitzung der beitsgruppe 3 dieser Konferenz konnten an bestimm-
Menschenrechtskommission, Gerhart Baum, unmit- ten Sitzungen auch Nichtregierungsorganisationen
telbar nach dortiger Vorstellung des Berichts des teilnehmen und eigene Diskussionsbeiträge leisten.
Sonderberichterstatters den Bericht in scharfer Form Von diesem Recht hat die Scientology-Organisation
öffentlich verurteilt. Gebrauch gemacht und dabei der Bundesrepublik
Deutschland vorgeworfen, ihr die Religionsfreiheit zu
verweigern und ihre Mitglieder zu diskriminieren.
Zu Frage 69: Die deutsche Delegation ist diesen Angriffen ent-
schieden entgegengetreten. Nach ihrem Eindruck
Die Bundesregierung wird nach Abstimmung mit
hat die Scientology-Organisation kaum Resonanz bei
den beteiligten Bundesländern dem Menschen-
anderen Staaten gefunden. Im Schlußdokument fin-
rechtszentrum der Vereinten Nationen in Kürze eine
den sich die Anliegen der Scientology-Organisation
Stellungnahme zu den erhobenen Vorwürfen über-
nicht wieder.
mitteln.
Anlage 22
Anlage 21
Antwort
Antwort
des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Frage
des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/
der Abgeordneten Renate Rennebach (SPD) (Druck- CSU) (Drucksache 13/676 Frage 72):
sache 13/676 Fragen 70 und 71):
Welche Informationen liegen der Bundesregierung über das
Militärabkommen zwischen Rußland und Serbien vor, und wie
Teilt die Bundesregierung meinen Eindruck, daß die UNO mit
beurteilt die Bundesregierung dieses Abkommen mit Blick auf
dem Deutschland-Teil des Berichts vom 20. Dezember 1994 des
eine Beendigung des serbischen Aggressionskrieges gegen Bos-
Sonderberichterstatters Amor zum Thema Intoleranz und Diskri-
nien-Herzegowina und Kroatien?
minierung aufgrund der Religion oder Überzeugung der Scien-
tology-Organisation dahin gehend Hilfestellung geleistet hat,
daß diese den Bericht als Bestätigung für ihre geschmacklosen Einzelheiten des Abkommens über militärische Zu-
Thesen im Rahmen ihrer Diffamierungskampagne in der ameri- sammenarbeit zwischen Rußland und der Bundesre-
kanischen Tagespresse gegen die Bundesrepublik Deutschland
und gegen deutsche Scientology-Kritiker verwendet, und wenn publik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) sind der
ja, wie will die Bundesregierung mögliche weitere Unterstützun- Bundesregierung nicht bekannt. Die Unterzeichner
gen dieser Art zukünftig verhindern? verlautbarten, daß das Abkommen erst nach Aufhe-
bung der Sanktionen gegen die Bundesrepublik Ju-
Welche weiteren internationalen Gremien sind bislang nach
Kenntnis der Bundesregierung von der Scientology-Organisati- goslawien (Serbien/Montenegro) in Kraft treten soll.
on für ihre Diffamierungskampagne gegen die Bundesrepublik Dem Vernehmen nach soll das Abkommen, in Anleh-
Deutschland und gegen deutsche Scientology-Kritiker bzw. zur nung an andere in der jüngsten Vergangenheit von
Verbreitung ihrer Ideologie und Zwecke benutzt worden, und Rußland abgeschlossene militärische Kooperations-
wie hat die Bundesregierung darauf im Einzelfall reagiert?
abkommen mit anderen Staaten, im wesentlichen Be-
stimmungen über militärische Kontakte und Aus-
Zu Frage 70: tauschprogramme enthalten. Nach Einschätzung der
Bundesregierung wird mit dem Abschluß dieses Ab-
Die Bundesregierung teilt diesen Eindruck. Daher kommens im gegenwärtigen Augenblick ein falsches
hat der Leiter der deutschen Delegation zur Signal gegeben. Es ist den Friedensbemühungen der
51. Sitzung der Menschenrechtskommission der Ver- Kontaktgruppe nicht dienlich.
einten Nationen, Gerhart Baum, unmittelbar nach
dortiger Vorstellung des Berichts des Sonderbericht-
erstatters den Bericht in scharfer Form öffentlich ver-
urteilt. Zudem hat die Bundesregierung gegenüber
dem mit der Reaktion des Berichts befaßten Men- Anlage 23
schenrechtszentrum der Vereinten Nationen in Genf
demarchiert und dabei ausführlich die vom Sonder- Antwort
berichterstatter praktizierte Aufnahme ungeprüfter
Deutschland-kritischer Mitteilungen kritisert. Außer- des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen
dem hat sie nachdrücklich den Anspruch der Bun- der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard (SPD) (Druck-
desregierung auf eine gleichgewichtige Darstellung sache 13/676 Fragen 73 und 74):
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995 1777*
Welche politisch-operativen Vorstellungen hat die Bundesre- optionen der WEU auch zur Stärkung der Gemeinsa-
gierung von einem „strategisch parallelen" Erweiterungsprozeß
men Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der
der NATO und der Europäischen Union bzw. der „Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) der Europäischen EU einzusetzen.
Union?
Die auf dem Petersberg beschlossene Einrichtung
Welche politisch-operativen Vorstellungen hat die Bundesre-
gierung über die Zukunft des europäischen Pfeilers der NATO,
einer militärischen Planungszelle der WEU und die
der WEU in Hinblick auf die weitere Vergemeinschaftung der Zuordnung nationaler und multinationaler Streitkräf-
Außen und Sicherheitspolitik der Europäischen Union (GASP)?
- teverbände, darunter auch das Eurokorps, sind in-
zwischen weitgehend abgeschlossen. Beim weiteren
Zu Frage 73: Ausbau der operationellen Fähigkeiten der WEU
steht für die Bundesregierung die Verbesserung der
Europäische Union und Nordatlantische Allianz Führungsfähigkeit der WEU und die Fortentwick-
sind zwei Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsar- lung der WEU zugeordneten Einheiten zu Streitkräf-
chitektur. Ziel der Bundesregierung ist die enge wirt- tepaketen für die verschiedenen Petersberg-Aufga-
schaftliche, politische und auch sicherheitspolitische ben im Vordergrund. Weiteres Element zur Stärkung
Verflechtung der neuen Demokratien mit der EU. der operativen Handlungsfähigkeiten der WEU ist
Eine dem Ziel eines „immer engeren Zusammen- die Möglichkeit, für WEU-Operationen zukünftig auf
schlusses" verpflichtete Europäische Union kann die kollektive Ressourcen der NATO und hier insbeson-
Sicherheit neuer und künftiger Mitglieder nicht ge- dere auf alliierte Streitkräftekommandos (CJTF) zu-
ringer einschätzen als die der alten Mitgliedstaaten. rückzugreifen. Die hierzu laufenden Arbeiten sind
Zonen ungleicher Sicherheit in der EU sind mit ihrem von besonderer Wichtigkeit.
Selbstverständnis nicht zu vereinbaren. Neue Mit-
glieder, die es wünschen, müssen daher gleichbe-
rechtigt an der Sicherheitsdimension der EU teilneh-
men und der WEU und auch der NATO beitreten
können. Denn das Atlantische Bündnis bleibt der
weitere Rahmen, in den auch die europäische Sicher- Anlage 24
heits- und Verteidigungsidentität eingebettet ist.
Zu Protokoll gegebene Rede
Die Bundesregierung hat diese Position im Laufe zu Tagesordnungspunkt 10
der Beratungen im Bündnisrahmen und mit den ein- (Antrag: Verkauf
zelnen Bündnispartnern vertreten. Sie hat Nieder- ehemals militärisch genutzter Wohnungen
schlag gefunden im Kommuniqué der Außenmini- durch das Bundesministerim der Finanzen)
stertagung des Bündnisses am 1. Dezember 1994, wo
es in Ziff. 5 heißt: „Die Erweiterung der NATO wird
die Erweiterung der Europäischen Union ergänzen, Irmgard Karwatzki, Parl. Staatssekretärin beim
ein gleichlaufender Prozeß, der auch seinerseits we- Bundesminister der Finanzen: Bei der Veräußerung
sentlich dazu beiträgt, Sicherheit und Stabilität auf bundeseigener Wohnungen sucht die Bundesvermö-
die neuen Demokratien im Osten auszudehnen." gensverwaltung grundsätzlich die Abstimmung mit
der Gemeinde, in deren Bereich sich das Verkaufsob-
jekt befindet. Die Kommunen sollen schon frühzeitig
Zu Frage 74: prüfen können, ob sie die Liegenschaft selbst erwer-
Die Maastrichter Erklärung der WEU vom ben oder ob eine Veräußerung zur Sicherung woh-
10. Dezember 1991 enthält die Vorgabe, die WEU als nungspolitischer Anliegen an einen bestimmten Drit-
Mittel zur Stärkung des europäischen Pfeilers der At- ten sachdienlich erscheint. So wurde auch von der
lantischen Allianz und als Verteidigungskomponente Oberfinanzdirektion Nürnberg im Jahre 1994 mit
der Europäischen Union weiterzuentwickeln. den 272 Wohnungen der amerikanischen Wohnsied-
lung in Erlangen verfahren. In den Verhandlungen
Beide Funktionen kann die WEU nur als militä- mit der erwerbsinteressierten Gemeinnützigen Woh-
risch handlungsfähige Organisation erfüllen. Dabei nungsbaugesellschaft Erlangen zeigten sich unter-
geht es nicht um die kollektive Verteidigung. Die schiedliche Wertvorstellungen, die zunächst als nicht
operative Wahrnehmung dieser Aufgabe bleibt, wie überbrückbar erschienen.
bereits im WEU-Vertrag festgelegt, auch weiterhin
der NATO übertragen. Die WEU wird aber seit ihrer Unterschiedliche Wertvorstellungen gehören im
Ministerratstagung auf dem Petersberg (19. Juni Immobilienbereich zum Alltag. Für eine an Rechts-
1992) zu einer militärisch handlungsfähigen Organi- vorschriften gebundene Verwaltung sind dabei nur
sation für humanitäre Einsätze, friedenserhaltende begrenzte Verhandlungsspielräume möglich. So kam
Aufgaben und Kampfeinsätze bei der Krisenbewälti- es, daß der beiderseits vorhandene gute Wille, sich
gung (sog. Petersberg-Aufgaben) ausgebaut. Mit der über den Kaufpreis als Grundlage eines General-
Schaffung eigener europäischer Handlungsoptionen mietvertrages zu verständigen, ohne greifbares Er-
für dieses Aufgabenspektrum übernehmen die euro- gebnis blieb.
päischen Bündnispartner größere Verantwortung für
ihre gemeinsame Sicherheit und entlasten die nord- Inzwischen gibt es ein Einvernehmen mit der er-
amerikanischen Partner im Bündnis. Die institutio- werbsinteressierten Gesellschaft, so daß wir eigent-
nelle Verbindung, die durch den Maastrichter Ver- lich „die Akte Erlangen" schließen können, denn
trag zwischen EU und WEU geschaffen wurde, er- beide Parteien haben sich bereits über einen Notar-
möglicht es zugleich, die militärischen Handlungs- termin verständigt. Der gestellte Antrag und die mit
1778* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. März 1995
ihm verfolgte Zielrichtung bieten aber Veranlassung Der Antrag macht auch deshalb keinen Sinn, weil
zu einigen grundsätzlichen Anmerkungen: den Kommunen bereits jetzt absoluter Vorrang für
den Erwerb von Wohnungen eingeräumt wird, die
Wir sollten davon absehen, durch parlamentari- von „Sozialmietern" genutzt werden sollen. Zudem
sche Anträge den Eindruck zu erwecken, uns in die unterliegen die Ergebnisse der Kontrolle des Bundes-
laufende Geschäftstätigkeit der Bundesvermögens- rechnungshofes und unseres Rechnungsprüfungs-
verwaltung einmischen zu wollen. Wir müssen den ausschusses. Insofern handelt das Bundesministe-
Mitarbeitern dieser Verwaltung die Chance geben, rium der Finanzen bereits jetzt in dem von den An-
ihre Aufgabe im Rahmen der geltenden rechtlichen tragstellern geforderten Sinne.
Vorschriften zu erfüllen. Wir dürfen uns nicht einsei-
tig in die Interessen der vor Ort am Erwerb interes- Deshalb meine Bitte: Prüfen Sie, ob wir uns die
sierten Gesellschaften einbeziehen lassen und die Behandlung des Antrages in den Ausschüssen
eine oder andere fragwürdige Verhandlungsposition nicht infolge der aktuellen Entwicklung sparen
zu unserer eigenen machen. können.