Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
25. Sitzung
Inhalt:
Begrüßung des Präsidenten der National-- wesens für die Jahre 1988 und 1989
versammlung der Republik Nicaragua, (Drucksache 12/203) 1661 D
Herrn Alfredo Cesar Aguirre 1661 A
Tagesordnungspunkt 2:
Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs
Karl-Heinz Spilker 1661 B eines Gesetzes zur Förderung von Inve-
stitionen und Schaffung von Arbeitsplät-
Nachträgliche Überweisung des Entwurfs zen im Beitrittsgebiet sowie zur Ände-
zur Änderung des Bundesarchivgesetzes an rung steuerrechtlicher und anderer Vor-
den Ausschuß für Frauen und Jugend 1661 B schriften (Steueränderungsgesetz 1991)
(Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459,
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord 12/562, 12/566)
nung 1661 B
b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs
eines Gesetzes zur Einführung eines be-
Tagesordnungspunkt 1: fristeten Solidaritätszuschlags und zur
Überweisung im vereinfachten Verfah- Änderung von Verbrauchsteuer- und
ren anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz)
(Drucksachen 12/220, 12/403, 12/561,
a) Erste Beratung des von der Bundesre-
12/565)
gierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Abkommen vom Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . 1662C, 1701B
18. Dezember 1989 zwischen der
Ingrid Matthäus-Maier SPD 1665C, 1672 C
Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 1669B, 1687 A
Republik Ungarn über den Luftver- 1670 D
Norbert Eimer (Fürth) FDP
kehr (Drucksache 12/341)
Norbert Eimer (Fürth) FDP 1672 B
b) Erste Beratung eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 2. Oktober 1990 zwi- Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 1672 D
schen der Bundesrepublik Deutsch- Dr. Hermann Otto Solms FDP 1675 B
land und der Tschechischen und Slo-
wakischen Föderativen Republik Joachim Poß SPD 1676A
über die Förderung und den gegen- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/
seitigen Schutz von Kapitalanlagen Linke Liste 1677 C
(Drucksache 12/460)
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 1679C
c) Beratung der Unterrichtung durch die
Bundesregierung Detlev von Larcher SPD 1682 D
Bericht des Bundesministers für Post Gunnar Uldall CDU/CSU 1684 C
und Telekommunikation über die Er-
Otto Reschke SPD 1686D
schließung des Zonenrandgebietes
im Bereich des Post- und Fernmelde- Hermann Rind FDP 1689A
II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 1689D, 1690D b) Beratung des Antrags der Gruppe
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vom
Ingrid Matthäus-Maier SPD 1691 A
Grundgesetz zur gesamtdeutschen
Detlev von Larcher SPD 1691 C Verfassung — Einrichtung und Auf-
Elisabeth Grochtmann CDU/CSU 1693 A gaben eines Verfassungsrates —
(Drucksache 12/563)
Manfred Hampel SPD 1694 B
c) Beratung des Antrags der Abgeordne-
Wilfried Seibel CDU/CSU 1695 D ten Dr. Karl H. Fell, Dirk Fischer
(Hamburg), Siegfried Hornung, weite-
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/
rer Abgeordneter und der Fraktionen
CSU 1696 D
der CDU/CSU und der FDP: Einset-
Wolfgang Kubicki FDP 1698 D zung eines Gemeinsamen Verfas-
Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU (Erklärung
sungsausschusses (Drucksache 12/
567)
nach § 31 GO) 1700 A
Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 1715 D
Namentliche Abstimmungen . . 1700D, 1701A
Dr. Rupert Scholz CDU/CSU 1718D
Ergebnisse 1701C, 1702A
Dr. Burkhard Hirsch FDP 1720 C
Tagesordnungspunkt 3: Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 1721B
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs Dr. Gerhard Riege PDS/Linke Liste 1722C
eines Gesetzes über Maßnahmen zur Ent-
lastung der öffentlichen Haushalte sowie Detlef Kleinert (Hannover) FDP 1724 D
über strukturelle Anpassungen in dem in Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 1727A
Artikel 3 des Einigungsvertrages genann- Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister
ten Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz -1991 BMI 1728D
— HBeglG 1991) (Drucksachen 12/221,
12/401, 12/461, 12/581) Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 1731D
Adolf Roth (Gießen) CDU/CSU 1702 B Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 1732A
Wolfgang Thierse SPD 1733 A
Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 1703 D
Dr. Edmund Stoiber, Staatsminister des Frei
Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesmi staates Bayern 1735 B
nister BMPT 1705 C
Dr. Willfried Penner SPD 1737 C
Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste 1706C
Dr. Paul Laufs CDU/CSU 1740A
Ina Albowitz FDP 1707 A
Dr. Burkhard Hirsch FDP 1741 C
Tagesordnungspunkt 4: Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 1742B, D
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs Dr. Franz Möller CDU/CSU 1743 C
eines Gesetzes zur Änderung wohngeld-
Angelika Barbe SPD 1744 B
rechtlicher Vorschriften (Artikel 5 und 6
aus Drucksachen 12/221, 12/401, 12/495, Norbert Geis CDU/CSU 1745 D
12/568) Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ 1746C
Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 1708D
Tagesordnungspunkt 6:
Siegfried Scheffler SPD 1710A Fragestunde
Dr. Walter Hitschler FDP 1712A — Drucksachen 12/488 vom 8. Mai 1991
Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste und 12/564 vom 13. Mai 1991 —
1712B
Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 1712 D Wohnungsbauprogramm für die abziehen-
den Sowjetischen Soldaten
Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer, Bundesmini
sterin BMBau 1713 D DringlAnfr 1, 2
Norbert Gansel SPD
Tagesordnungspunkt 5: Antw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 1747D,
Beratung von Anträgen der SPD, CDU/ 1749 B
CSU und FDP und der Gruppe BÜND- ZusFr Norbert Gansel SPD 1747D, 1749C
NIS 90/DIE GRÜNEN zur Einsetzung
eines Verfassungsausschusses ZusFr Otto Schily SPD 1748C, 1750A
ZusFr Gernot Erler SPD 1748C, 1750B
a) Beratung des Antrags der Fraktion der
SPD: Weiterentwicklung des Grund- ZusFr Dr. Christine Lucyga SPD 1748D, 1750D
gesetzes zur Verfassung für das ge- ZusFr Freimut Duve SPD 1748 D
einte Deutschland — Einsetzung ei-
nes Verfassungsrates — (Drucksache ZusFr Rudolf Bindig SPD 1749A
12/415) ZusFr Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 1749A
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 III
Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 1765 A hier: Veräußerung der Aktienmehr-
Norbert Formanski SPD 1766A heit an der Prakla-Seismos AG
(Drucksachen 12/73, 12/388)
Matthias Wissmann CDU/CSU 1766D
e) Beratung der Beschlußempfehlung
Paul Friedhoff FDP 1767 D des Haushaltsausschusses zu der Un-
Jutta Müller (Völklingen) SPD 1768D terrichtung durch die Bundesregie-
rung: Überplanmäßige Ausgaben bei
Ernst Hinsken CDU/CSU 1769D Kapitel 15 02 Titel 681 15 — Haus-
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister haltsjahr 1990 — (Erziehungsgeld)
BMWi 1770D (Drucksachen 12/44, 12/389)
Volker Jung (Düsseldorf) SPD 1772 D f) Beratung der Beschlußempfehlung
und des Berichts des Ausschusses für
Johannes Ganz (St. Wendel) CDU/CSU 1774 A
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
Ulrich Klinkert CDU/CSU 1774 D cherheit
25. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl H. Fell,
und Kollegen! Ich eröffne unsere erste volle Arbeits- Dirk Fischer (Hamburg), Siegfried Hornung, weiterer
Abgeordneter und der Fraktionen der CDU/CSU und der
sitzung hier in Berlin und heiße Sie ganz herzlich will- FDP: Einsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsaus-
kommen. Ich hoffe, daß Sie, obwohl wir ja noch nicht schusses — Drucksache 12/567 —
Arbeitsfähigkeit hergestellt haben, mit den Bedingun-
Hal-
1.AktuelSndafVrgeFktiondSPD:
gen zurechtkommen. tung der Bundesregierung zu Äußerungen des Bundeswirt-
schaftsministers zur Aufkündigung des Jahrhundertvertra-
Ich möchte auf der Ehrentribüne den Präsidenten ges
der Nationalversammlung der Republik Nicaragua,
Herrn Alfredo Cesar Aguirre, mit seiner parlamentari- R2.eBharbitlungdsA FaktionderSPD:
der Opfer des SED-Unrechtsstaates — Drucksache 12/570 —
schen Delegation ganz herzlich begrüßen.
3.ErsteBaungdesvo rAbgedntDr.BabHöl
(Beifall) und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
Wir freuen uns, daß Sie uns hier in Berlin in der par- — Drucksache 12/483 —
lamentarischen Arbeit begleiten können. Sie unter- 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und der
streichen mit Ihrer Anwesenheit die engen freund- Gruppe der PDS/Linke Liste: Maßnahmen zur Verbesserung
schaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern der sozialen Lage von Empfängerinnen und Empfängern
und Völkern. Wir wünschen Ihnen einen guten Auf- von Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeld in den neuen
Bundesländern — Drucksache 12/484 —
enthalt in Berlin und in Bonn.
Zugleich soll von der Fri st für den Beginn der Bera-
Ich habe noch einige amtliche Mitteilungen zur tung abgewichen werden, soweit dies bei einzelnen
Verlesung: Punkten der Tagesordnung erforderlich ist. Sind Sie
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Spilker damit einverstanden? — Ich sehe keinen Wider-
feierte am 3. Mai seinen 70. Geburtstag. Ich gratuliere spruch. Dann ist dies so beschlossen.
ihm nachträglich sehr herzlich im Namen des Hauses.
(Beifall)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Der in der 21. Sitzung des Bundestages bereits über-
wiesene Entwurf zur Änderung des Bundesarchivge- Überweisung im vereinfachten Verfahren:
setzes — Drucksache 12/288 — soll nachträglich dem
Ausschuß für Frauen und Jugend zur Mitberatung a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
überwiesen werden. rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 18. Dezember
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die 1989 zwischen der Regierung der Bundes-
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die republik Deutschland und der Regierung
Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkt- der Republik Ungarn über den Luftver-
liste aufgeführt. kehr
— Drucksache 12/341 —
Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 5:
Überweisungsvorschlag:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Weiterent- Ausschuß für Verkehr
wicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das ge-
einte Deutschland b) Erste Beratung eines Gesetzes zu dem Ver-
— Einsetzung eines Verfassungsrates — Drucksache
12/415 —
trag vom 2. Oktober 1990 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der
b) Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜ- Tschechischen und Slowakischen Födera-
NEN: Vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verf as- tiven Republik über die Förderung und den
sung
— Einrichtung und Aufgaben eines Verfassungsrates — gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
Drucksache 12/563 — — Drucksache 12/460 —
1662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Der Finanzausschuß hat bei seinen Beratungen Der Finanzausschuß hat im Rahmen der Beratungen
über das Steueränderungsgesetz 1991 und das Soli- der vorliegenden Gesetzentwürfe eine große Exper-
daritätsgesetz am letzten Mittwoch eine große Fülle tenanhörung durchgeführt. In einem zentralen Punkt
von Detailarbeiten zum Abschluß gebracht. Es gab waren sich alle Experten einig: Die Steuererhöhun-
alleine 73 Änderungsanträge zu beiden Gesetzen. gen sind notwendig; sie sind die bessere Alternative
-
Das veranschaulicht das Ringen um Einzelformulie- gegenüber einer weiteren Nettoneuverschuldung.
rungen, um Kommaverschiebungen, um Verwal- Dies war die Auffassung der Vertreter der Gewerk-
tungstechnik in einem kaum noch übersehbaren Netz schaften ebenso wie die der Arbeitgeber, die Auffas-
der Steuergesetzgebung. sung der Wissenschaftler ebenso wie die der Bundes-
bank.
Diese Millimeterarbeit widerzuspiegeln, ist nicht
der Sinn der Aussprache im Plenum des Deutschen Die Bundesbank hat nachdrücklich darauf hinge-
Bundestages. Hier haben wir vor allem die Aufgabe, wiesen, daß im Interesse der Erhaltung der Stabilität
der Bevölkerung deutlich zu machen, wo die Unter- der Preise und damit mittelfristig der wirtschaftlichen
schiede zwischen den Positionen der Mehrheit und Gesundheit in unserem Land die Grenze der 70 Milli-
denen der Opposition liegen. arden-Nettoneuverschuldung, die der Herr Bundesfi-
nanzminister vorgegeben hat, nicht überschritten
Wenn ich mir entsprechend dieser Zielsetzung die
werden darf. Deshalb ist als Alternative die Steuerer-
Argumentationslinien der SPD heute und in den ver-
höhung unumgänglich gewesen.
gangenen Wochen ansehe, komme ich zu dem Ergeb-
nis: Die SPD betreibt ein gigantisches steuerpoliti- Gleichwohl, vom Bund der Steuerzahler, von Ver-
sches Ablenkungs- und Ausweichmanöver. tretern der Medien und nicht zuletzt von vielen klu-
(Lachen bei der SPD) gen Verbandsvertretern haben wir in den letzten Wo-
chen immer wieder zu hören bekommen, daß es ei-
Zum einen weist sie in ihrer steuerpolitischen Argu- gentlich einen Königsweg gibt, eine ganz andere Al-
mentation nur in die Vergangenheit, wenn sie immer ternative zu Nettoneuverschuldung oder Steuererhö-
wieder ihre sattsam bekannte Geschichte von „Vor hung, nämlich den Subventionsabbau. Hurra! Bei die-
der Wahl — nach der Wahl" erzählt. sem Begriff sind sie alle dabei: Subventionsabbau all-
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Steu überall, aber, bitte schön, nur nicht im eigenen Be-
erlüge!) reich.
Hier flieht die SPD aus der bleihaltigen Luft der sach- Es konnte uns aber leider niemand sagen, wie man
lichen Auseinandersetzung auf die Ebene moralischer einen Finanzbedarf von 18 Milliarden in einem hal-
und künstlicher Empörung. ben Jahr, noch in diesem Jahr 1991, kurzfristig durch
Subventionsabbau realisieren soll. Selbst wenn dieser
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Haben Sie Bundestag über alle Fraktionsgrenzen hinweg in der
etwas gegen Moral?) Lage oder bereit wäre, einen entsprechend großen
Das zweite Ausweichmanöver der Opposition Einschnitt in die Subventionen zu tätigen, die rechtli-
lenkt in eine unbestimmte Zukunft, beschäftigt sich chen Bindungen ließen in der kurzen Zeit einen Sub-
mit etwas, was in beiden heute zu beratenden Geset- ventionsabbau in dieser Größenordnung von 18 Milli-
zen nicht zur Entscheidung steht: mit der Vermögen- arden DM gar nicht zu.
steuer im gesamten Staatsgebiet. Also, die SPD weicht
in Vergangenes oder in eine selbstgebastelte Zukunft Gleichwohl arbeitet — das will ich hier sagen —
innerhalb der Koalitionsfraktionen eine Arbeits-
aus.
gruppe an dem Auftrag, 5 Milliarden an steuerlichen
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Begünstigungen abzubauen. Die Arbeitsgruppe ist in
SPD: Dann habt ihr unsere Vorschläge gar ihrer Arbeit weit fortgeschritten. Wir werden in Kürze
nicht gelesen?) ein Paket über 5 Milliarden vorlegen können.
1664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ingrid Matthäus-Maier
Pfalz eine Ermutigung für Ehrlichkeit und Glaubwür- Nein, ich glaube nicht an Irrtum. Sie sagen die Un-
digkeit in der Politik; wahrheit, weil Sie die Auswirkungen Ihrer Steuerpo-
litik vor dem Bürger verstecken müssen. Die Marken-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ zeichen Ihrer Steuerpolitik sind nämlich Ungerech-
GRÜNE — Widerspruch bei der CDU/CSU)
tigkeit und Unehrlichkeit, und beides hängt mitein-
zeigt dieses Wahlergebnis doch: Steuerlüge lohnt sich ander zusammen. Weil Ihre Steuerpolitik sozial unge-
nicht, denn Steuerlügner wählt man nicht, meine Da- recht ist, weil sie 'die kleinen Leute und den Durch-
men und Herren. schnittsverdiener immer sehr viel mehr als die Großen
belasten und im Zweifel die Hochvermögenden sogar
(Beifall bei der SPD) noch entlasten, müssen Sie dieses Ergebnis vor dem
Die Bürger sollten aber wachsam sein, denn das Bürger verstecken. Deswegen haben Sie Angst, den
Tricksen und Täuschen hört bei dieser Bundesregie- Bürgern vor der Wahl die Wahrheit zu sagen.
rung nicht auf. Es durchzieht die Steuerpolitik dieser
(Beifall bei der SPD)
Bundesregierung wie ein roter Faden. Statt sich nach
der Bundestagswahl zu entschuldigen, erklärte Fi- Das Strickmuster ist immer das gleiche. Es gibt eine
nanzminister Waigel im März in der Haushaltsdebatte politische Aufgabe, die gelöst werden muß, und es
des Bundestages: „Wenn die Ausgaben für den Golf- gibt bei den Bürgern eine Bereitschaft zur Solidarität.
krieg nicht auf uns zugekommen wären, hätten wir im Diese Opferbereitschaft nutzt die Bundesregierung
Jahre 1991 die Steuern nicht erhöht. Das ist die Wahr- dann aber für eine unverblümte Politik der Umvertei-
heit." lung von unten nach oben aus. Nur zwei Beispiele:
Meine Damen und Herren, das Bundestagsproto- Unter dem Etikett der Schaffung von Arbeitsplätzen
koll vermerkt dazu den Zwischenruf der Abgeordne- hat diese Bundesregierung seit 1983 den Spitzensteu-
ten Matthäus-Maier (SPD): „Noch eine Steuerlüge!" ersatz, den Körperschaftsteuersatz und die Vermö-
gensteuer gesenkt und im Gegenzug die Mehrwert-
(Beifall bei der SPD) steuer, die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer, die Ver-
sicherungsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer erhöht, die
Ich sage Ihnen: Wer angesichts von einmaligen
Erdgassteuer neu eingeführt sowie den Weihnachts-
11,6 Milliarden DM Kosten für den Golfkrieg in die-
sem Jahr Steuer- und Abgabenerhöhungen in Höhe freibetrag, den Arbeitnehmerfreibetrag, den Alters-
freibetrag, den Essensfreibetrag und die Steuerfrei-
von 33 Milliarden DM in diesem Jahr und in den Fol-
gejahren vorsieht, heit für Nachtarbeitszuschläge abgeschafft. Daß dies
zugunsten der Großen und zu Lasten der Kleinen
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ist das schon ging, das sieht ja jedermann.
für den nächsten Golfkrieg?)
(Beifall bei der SPD)
will doch wohl die Wähler für dumm verkaufen, wenn
er sich hinter dem Golfkrieg versteckt. Zweites Beispiel. Unter dem Etikett der Finanzie-
rung der deutschen Einheit werden jetzt erneut die
(Beifall bei der SPD) Lohn- und Einkommensteuer, die Mineralölsteuer,
Meine Damen und Herren, die Wählertäuschungs- die Tabaksteuer, die Versicherungsteuer, die Kraft-
versuche der CDU nehmen zum Teil groteske Formen fahrzeugsteuer, die Mehrwertsteuer, die Arbeitslo-
an. So lieferte die Bundesregierung zwei Tage vor der senversicherungsbeiträge und die Telefongebühren
Wahl in Rheinland-Pfalz folgende Schlagzeile in Sa- angehoben. Damit werden erneut hauptsächlich die
chen Telefongebühren: „Keine Gebührenerhöhung kleinen und mittleren Einkommen zur Kasse gebeten
— aber telefonieren wird teurer. " Die Erklärung für und die Großverdiener vergleichsweise geschont, und
dieses Rätsel gab der Postminister, nämlich: Die Tele- nicht nur das, Großverdiener sollen sogar noch entla-
fongebühren werden nicht erhöht; man kann nur für stet werden.
dieselben Gebühren weniger telefonieren. Nach die- Meine Damen und Herren, wer sich diese lange
ser Logik erwarte ich eigentlich von Ihnen heute mor- Liste von Steuer- und Abgabenerhöhungen anschaut,
gen die Mitteilung, daß es Steuererhöhungen bei Mi- der sieht: Das dauernde Gerede von Union und FDP,
neralöl und Tabak gar nicht gibt, denn schließlich sie senkten die Steuern, und die SPD sei die Steuer-
kann man für dasselbe Geld nur weniger tanken und erhöhungspartei, ist Unsinn. Der Unterschied ist ein
rauchen! anderer. Bundeskanzler Kohl und seine Koalition er-
höhen die Steuern sozial ungerecht und verschweigen
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
ihre Pläne vor der Wahl. Wir Sozialdemokraten treten
GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Ich
dagegen auch bei der Steuerpolitik für soziale Ge-
tanke immer nur für 20 Mark!)
rechtigkeit ein und sagen den Bürgern vor der Wahl
Ich habe mich immer gefragt, warum die Politiker von die Wahrheit. Steuergerechtigkeit gegen Steuerunge-
CDU/CSU und FDP, von wenigen Ausnahmen abge- rechtigkeit, Steuerehrlichkeit gegen Steuerlüge, das
sehen, vor der Wahl so unverdrossen die Unwahrheit sind die wahren Alternativen, vor denen die Bürger
gesagt haben. Sie hätten sich geirrt, sagen Sie, Fehl- stehen.
einschätzung. Wenn das stimmt, meine Damen und (Beifall bei der SPD)
Herren, müßten Sie eigentlich wegen wirtschafts- und
finanzpolitischer Inkompetenz zurücktreten. Man Wir Sozialdemokraten sagen ein klares Ja zu kräfti-
kann sich doch nicht über zig Milliarden irren! gen Finanzhilfen für den Aufbau der neuen Bundes-
länder. Wir haben einen umfassenden Aufbauplan für
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ die neuen Bundesländer vorgelegt und zugleich meh-
GRÜNE) rere Maßnahmen zur Finanzierung vorgeschlagen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1667
Ingrid Matthäus-Maier
Wir haben dabei einen Schwerpunkt auf Einsparmaß- zeigt, daß Sie die Bürger bis in die Überschrift hinein
nahmen gelegt, denn ein Politiker darf den Bürgern täuschen wollen.
nur dann höhere Steuern abverlangen, wenn er zuvor
alle Einsparmöglichkeiten ausgeschöpft hat. Weil das (Beifall bei der SPD)
aber alles nicht ausreicht, haben wir — wohlwissend, Warum nennen Sie es eigentlich Solidaritätsgesetz,
daß es unpopulär ist — vor der Wahl eine auf vier wenn Sie darauf beharren, daß das Geld nicht für die
Jahre begrenzte Ergänzungsabgabe für Höherver- Solidarität mit den neuen Ländern, sondern für den
dienende vorgeschlagen, weil wir der Ansicht sind, Golfkrieg ausgegeben werden soll? Außerdem ist das
daß nach der Idee des Lastenausgleichs nach dem Gegenteil von Solidarität in diesem Gesetz richtig: Ihr
Zweiten Weltkrieg die Menschen mit den starken Steuergesetz ist zutiefst unsolidarisch, und zwar in
Schultern die Lasten leichter als die Menschen mit dreifacher Weise: unsolidarisch gegenüber den klei-
den schwachen Schultern tragen können. Bei Ihnen nen und mittleren Einkommen, unsolidarisch gegen-
ist es genau umgekehrt, denn bei Ihnen wird ein über den Menschen in den neuen Bundesländern und
durchschnittlich verdienender Arbeitnehmerhaushalt unsolidarisch gegenüber Ländern und Gemeinden.
mit zwei Kindern mit zusätzlich 110 DM im Monat zur
Kasse gebeten. Das sind rund 1 300 DM im Jahr. Der Sie fordern Solidarität von den kleinen Leuten, von
Masse der Arbeitnehmer wird mit einem Schlag all der breiten Masse der Bevölkerung; das gilt im We-
das wieder weggenommen, was Sie ihr durch die so- sten wie im Osten. Würden Sie unserem Vorschlag
genannte Steuerreform gegeben haben. Und mit der folgen und die Ergänzungsabgabe nur oberhalb einer
für 1993 vorgesehenen Anhebung der Mehrwert- Einkommensgrenze von 60 000 DM bei Ledigen bzw.
steuer werden auf die Bürger neue Belastungen hin- 120 000 DM bei Verheirateten im Jahr erheben, dann
zukommen. Deswegen, meine Damen und Herren, ist würde der Durchschnittsverdiener von der Ergän-
es auch ein Unrecht, daß Sie bereits im Jahr 1991 mit zungsabgabe verschont. Ihr Gesetz hingegen trifft
dem Abbau der Arbeitnehmerzulage in Berlin begin- nicht nur die Millionen der kleinen Lohn- und Ein-
nen. Die Berliner Arbeitnehmer werden auf diese kommensteuerzahler im Westen, sondern Ihre Ergän-
Weise doppelt zur Kasse gebeten. Wir hatten den An- zungsabgabe muß ab Juli auch von 70 % der Arbeit-
trag gestellt, das in das nächste Jahr zu verschie- nehmer in den neuen Bundesländern gezahlt werden,
ben. deren Löhne der Lohnsteuer unterliegen, also von
(Beifall bei der SPD) über 6 Millionen Arbeitnehmern allein im Osten.
Auch bei Rentnern und Arbeitslosen sahnt die Bun- Das wird viele dieser Menschen hart und völlig un-
desregierung kräftig ab. Die soziale Schlagseite wird erwartet treffen; denn als der Bundespräsident im
insbesondere deutlich, wenn man sich vergegenwär- letzten Herbst gesagt hat, die Teilung müsse durch
tigt, daß die Ergänzungsabgabe nur für ein Jahr gel- Teilen überwunden werden, da haben wir alle das
ten soll, die Erhöhungen der indirekten Steuern aber doch nicht so verstanden, daß es die Bezieher kleiner
unbegrenzt gelten sollen. Einkommen im Osten sein sollen, die Solidarität mit
sich selber üben sollen.
Was bei der Steuerpolitik dieser Bundesregierung
herauskommt, hat das renommierte Deutsche Institut (Zurufe von der CDU/CSU — Gegenruf von
für Wirtschaftsforschung im Deutschen Bundestag in der SPD: Das paßt euch nicht!)
einer Anhörung festgestellt. Es stellt fest: Nachdem Diese offensichtliche Ungerechtigkeit wollen Sie
nun die ganze Steuerreform zurückgenommen wird, ein wenig mit Ihrem sogenannten Tariffreibetrag aus-
gibt es aber noch eine gewichtige Differenzierung. Es gleichen. Aber wie wollen Sie den Menschen in den
heißt wörtlich: neuen Bundesländern eigentlich erklären, daß Otto
Normalverbraucher davon eine Entlastung von 9 DM
Allerdings werden jetzt die p ri vaten Haushalte im Monat erhält, während Frau Staatssekretärin Berg-
anders belastet, als sie damals entlastet wurden. mann-Pohl oder Herr Minister Krause oder auch west-
Während die untere Hälfte der Gesamtheit der liche Spitzenverdiener, die sich zeitweilig zur Arbeit
Lohnsteuerpflichtigen mit bis zu 45 000 DM Jah- im Osten aufhalten, das Dreifache erhalten?
reseinkommen im Saldo belastet wird, werden
die oberen 15 °A° mit über 80 000 DM Jahresein- Wenn sich der finanzpolitische Sprecher der CDU/
kommen kräftig entlastet. CSU-Fraktion im „Handelsblatt" — so wörtlich —
„über diesen komischen Tariffreibetrag" mokiert und
So das DIW. Es stellt seine Untersuchung unter die meint, er müsse zurückgenommen werden, dann,
Überschrift „Umverteilung der Einkommen von unten Herr Faltlhauser, können wir Ihnen helfen: Wir schla-
nach oben". gen Ihnen vor, lassen Sie uns diesen verkorksten Ta-
riffreibetrag durch eine Anhebung des Grundfreibe-
Diese Überschrift würde übrigens auch besser als trages um 600 DM für alle Bürger in Ost und West
die von Ihnen gewählte Überschrift zu Ihrem Steuer- ersetzen.
erhöhungsgesetz passen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Wir wissen, daß heute bereits das Existenzminimum
aller Bürger in verfassungswidriger Weise der Lohn-
Daß Sie Ihr ungerechtes Steuererhöhungsgesetz aus- und Einkommensteuer unterliegt. Auch Sie wissen
gerechnet Solidaritätsgesetz nennen, das. Schon jetzt werden alle Steuerbescheide entwe-
der angefochten oder vorläufig erlassen — ein unhalt-
(Zuruf von der SPD: Das ist zynisch!) barer Zustand. Ein Bundesfinanzminister, der das so
1668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ingrid Matthäus-Maier
weiterlaufen läßt, wird seiner Verantwortung nicht Obendrein beschließen Sie in Ihrer Koalitionsver-
gerecht. einbarung, auch noch die Vermögensteuer und die
Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Sie haben das
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ mit dem europäischen Binnenmarkt ab 1993 und der
GRÜNE) internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft
Deswegen schlagen wir Ihnen heute in einem beson- begründet. Meine Damen und Herren, das ist doch an
deren Antrag vor, den Tariffreibetrag durch eine An- den Haaren herbeigezogen. Schon jetzt ist die deut-
hebung des Grundfreibetrages als ersten Schritt hin sche Wirtschaft trotz der Vermögensteuer und trotz
zur Steuergerechtigkeit zu ersetzen. der Gewerbekapitalsteuer die leistungsfähigste Wirt-
schaft in der Europäischen Gemeinschaft. Das wird
Meine Damen und Herren, zu Ihrem Steuer- und auch so bleiben.
Abgabenerhöhungspaket gehört auch eine massive
Anhebung der Mineralölsteuer. Als wir Sozialdemo- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der
kraten im Sommer 1988 eine ökologische Umschich- FDP)
tung des Steuersystems forderten, bei der durch eine
— Warum gucken Sie denn so pessimistisch in die
Anhebung der Mineralölsteuer um 50 Pfennig auf der
Zukunft? Das bin ich gar nicht von Ihnen gewohnt,
anderen Seite eine Abschaffung der Kraftfahrzeug-
meine Damen und Herren.
steuer, eine kräftige Verbesserung des Grundfreibe-
trags, die Einführung einer Fernpendler- und Entfer- Jetzt sind Sie einen halben Schritt zurückgewichen.
nungspauschale, die Förderung des öffentlichen Per- Sie beharren nicht mehr auf der Abschaffung der Ver-
sonennahverkehrs und von Fahrgemeinschaften, mögensteuer; Sie wollen sie nur noch halbieren. Das
steuerliche Hilfen für das Energieeinsparen und so- begrüße ich und betrachte es als Erfolg unserer hart-
ziale Ausgleichsmaßnahmen für Rentner, Behinderte näckigen Kritik. Das beweist aber doch, daß Ihre bis-
und Arbeitslose finanziert werden sollten, hat diese herige Begründung, die Vermögensteuer müsse ab-
Regierungskoalition gegen unser reines Umschich- geschafft werden, damit das Steuerrecht vereinfacht
tungsmodell in nie dagewesener Weise- polemisiert. würde, ein Vorwand war. Der Verwaltungsaufwand
„Schlag gegen den ländlichen Raum" waren noch der Vermögensteuer ist nämlich bei einer halbierten
Ihre freundlichsten Vokabeln. Vermögensteuer genauso hoch wie bei der Vermö-
gensteuer in jetziger Höhe. Deswegen ist das unehr-
Aber, meine Damen und Herren, auch in dieser
lich, meine Damen und Herren. Nein, wir brauchen
Frage haben Sie die Menschen getäuscht. Während
keine Halbierung der Vermögensteuer. Dies ist unge-
Sie nämlich noch gegen unser reines Umschichtungs-
recht und führt zu hohen Steuerausfällen.
modell wetterten, haben Sie von 1988 bis heute die
Mineralölsteuer schrittweise um sage und schreibe Jeder weiß, daß die zunehmende Vermögenskon-
39 Pfennig angehoben. Trotzdem gibt es noch die zentration eine ganz zentrale Schwachstelle unserer
Kraftfahrzeugsteuer; und der Grundfreibetrag ist im- Wirtschaftsordnung ist. Nun kann zwar die Vermö-
mer noch verfassungswidrig. Eine Entfernungspau- gensteuer die Vermögenskonzentration nicht verhin-
schale gibt es immer noch nicht, und Fahrgemein- dern, aber eine solche Vermögenskonzentration
schaften werden immer noch nicht gefördert, dem öf- durch Abschaffung der Vermögensteuer auch noch zu
fentlichen Personennahverkehr geht es schlechter fördern, wird es mit den Sozialdemokraten nicht ge-
denn je. An Ausgleichsmaßnahmen für Rentner, Be- ben, meine Damen und Herren.
hinderte und Arbeitslose denken Sie ohnehin nicht.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Wenn Sie uns schon nicht glauben, Herr Waigel,
Nein, meine Damen und Herren, jeder deutsche dann empfehle ich Ihnen einen Blick in Ihre eigene
Autofahrer kann sich leicht ausrechnen, daß er bei Steuerbroschüre „Steuern von A bis Z" vom letzten
dem SPD-Umschichtungsmodell besser gefahren Jahr, in der eindeutig begründet wird, warum es eine
wäre. Ihre Mineralölsteueranhebung um 39 Pfennig Vermögensteuer geben soll. Das war vor der Bundes-
ist ein reines Abkassiermodell, und dieses Abkassier- tagswahl. Nach der Bundestagswahl behaupten Sie,
modell machen wir nicht mit. die Vermögensteuer müsse abgeschafft werden. Was
soll das eigentlich, wenn Sie das eine vor der Wahl
(Beifall bei der SPD) sagen und das andere nach der Wahl tun? Das ist
Während Sie Millionen Normalverdienern das Geld jedenfalls keine ehrliche Politik.
aus der Tasche ziehen, schanzen Sie zugleich Spitzen-
(Beifall bei der SPD — Dr. Hans-Jochen Vo
verdienern neue Steuererleichterungen zu. Nicht gel [SPD]: Sehr wahr!)
nur, daß Spitzenverdiener mit zwei Kindern unter
10 Jahren die Möglichkeit haben, sich das Einstellen Falsch und eine bewußte Irreführung der Öffent-
einer Haushaltshilfe zur Hälfte vom Staat bezahlen zu lichkeit ist auch die Behauptung, die SPD fordere die
lassen, während der Otto Normalverbraucher nicht Einführung der Vermögen- und Gewerbekapital-
einmal den Kindergartenbeitrag von der Steuer abset- steuer in den neuen Bundesländern. Die Wahrheit ist,
zen kann und der Staat kein Geld hat, neue Kinder- daß beide Steuern durch den Einigungsvertrag, dem
gartenplätze zu schaffen. Nicht nur, daß jetzt auch das wir ja ganz überwiegend zugestimmt haben, bereits
Schulgeld für den Besuch von Privatschulen steuerlich zum 1. Januar 1991 in den neuen Bundesländern ein-
abgezogen werden kann, während auf der anderen geführt sind. Dabei soll es auch bleiben. Bei verwal-
Seite viele Schulstunden ausfallen und die Bundes- tungsmäßigen Schwierigkeiten können bereits nach
länder kein Geld haben, um neue Lehrer einzu- geltendem Recht Fristverlängerungen für die Abgabe
stellen. von Steuererklärungen, vorläufige Steuerfestsetzun-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1669
Ingrid Matthäus-Maier
gen oder sogenannte Veranlagungen unter Vorbehalt ben natürlich gibt, reicht bereits das geltende Recht,
der Nachprüfung erfolgen. um damit fertigzuwerden, z. B. durch — ich wieder-
Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen auch hole — Fristverlängerungen bei der Abgabe der
in den neuen Bundesländern keine Aussetzung der Steuererklärung — d. h. die Betriebe müssen nicht
Vermögensteuer, denn dies würde nur zu neuem Un- gleich übermorgen die Vermögensteuererklärung ab-
recht führen. Wie schreibt die „Hannoversche Allge- geben — oder durch vorläufige Festsetzungen durch
meine Zeitung" am 8. Mai so treffend: die Finanzämter oder durch Veranlagung unter dem
Vorbehalt der Nachprüfung. Wir sind doch vernünf-
Dies hätte aberwitzige Folgen. Wer konnte denn
tige Leute.
in der ehemaligen DDR Vermögen, die über die
hohen Freibeträge hinausgehen, besitzen? Doch (Lachen bei der CDU/CSU)
wohl ausschließlich Schieber, Spekulanten und In den neuen Bundesländern hat doch keiner die Idee,
SED-Bonzen, die sich auf irgendeinem Weg Mil- sofort die Vermögensteuer zu erheben, Herr Faltlhau-
lionen verschafft haben. ser.
(Zuruf von der SPD: So ist es!) (Beifall bei der SPD)
Und ausgerechnet die sollen von der Vermögen-
steuer befreit werden? Warum soll in den neuen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine
Bundesländern eigentlich ein Vermögender nicht weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Faltl-
dieselben Steuern zahlen, denen im Westen ein hauser? — Bitte.
Vermögender unterliegt?
Ich finde, die „Hannoversche Allgemeine Zeitung"
hat recht, meine Damen und Herren! Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Ich entschuldige
mich zunächst einmal. Ich wußte nicht, daß Sie bei der
(Beifall bei der SPD) Anhörung mit dabei waren.
Mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze in den
- neuen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Na, sehen Sie
Bundesländern hat das schon gar nichts zu tun. Wenn
Sie sich wirklich für neue Investitionen und Arbeits- mal!)
plätze in den neuen Bundesländern einsetzen wollen, — Das war aber die einzige Sitzung.
dann sollten Sie unserem Vorschlag einer Anhebung (Zurufe von der CDU/CSU)
der Investitionszulage von 12 auf 25 % zustimmen. Ich wollte das gleiche nachfragen, was ich auch im
Finanzausschuß bei Ihren Kollegen nachgefragt habe:
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete Bedeutet das gemäß Ihrem Beispiel, daß auch SED-
Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage Bonzen oder irgendwelche Schieber in den nächsten
des Abgeordneten Faltlhauser? zwei Jahren in der Praxis durch entsprechende Ver-
waltungsvorgänge die Vermögensteuer nicht zu ent-
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Bitte. richten brauchen?
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie
erstaunen mich mit Ihrer Aussage. Sie waren bei der
Beratung dieser Gesetze im Finanzausschuß kein ein- Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Faltlhauser,
ziges Mal anwesend. wenn die Finanzämter es nicht schaffen, dann könnte
das sein. Aber was ist denn Ihre Alternative? Bei unse-
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) rem Vorschlag würde es vielleicht ein, zwei Jahre
Ist Ihnen vielleicht deshalb nicht aufgefallen, daß dauern. Bei Ihrem Vorschlag werden die Schieber und
auch Ihre eigenen Kollegen eine Initiative mit dem Bonzen auf Dauer befreit, Herr Faltlhauser.
Ziel initiiert haben, die Erhebung der Vermögen-
(Beifall bei der SPD)
steuer und der Gewerbekapitalsteuer in den neuen
Bundesländern auf dem Verwaltungswege nicht Meine Damen und Herren, die Anhebung der Inve-
durchzuführen? Deswegen frage ich Sie: Was soll das stitionszulage ist für ostdeutsche Unternehmen wich-
Beispiel, das Sie hier aus einer Zeitung zitieren? tig, da sie bisher überwiegend keine Gewinne ma-
chen. Nur deswegen haben sie etwas von der Investi-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
neten der FDP) tionszulage. Ich appelliere insbesondere an die ost-
deutschen Kolleginnen und Kollegen in der CDU/
CSU und FDP, einen echten Investitionsanreiz für die
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Faltlhauser, daß neuen Länder mitzutragen. Sie haben gleich in einer
Sie in einer Zwischenfrage gleich zweimal die Un- namentlichen Abstimmung die Möglichkeit dazu.
wahrheit sagen, ist schon ein starkes Stück.
Meine Damen und Herren, zum 1. Januar 1993 will
(Zurufe von der CDU/CSU) die Bundesregierung die Mehrwertsteuer anheben.
Erstens war ich im Finanzausschuß anwesend, z. B., Auch hier wird wieder getäuscht und get ri ckst. Zuerst
wie Sie wissen, bei dem großen Hearing, wo Ihnen die hieß es, die Mehrwertsteuererhöhung sei wegen der
Verbände Ihre ungerechte Steuerpolitik um die Oh- Steuerharmonisierung in Europa erforderlich. Nichts
ren geschlagen haben. Zweitens ist nicht wahr, daß davon ist wahr. Der deutsche Mehrwertsteuersatz
die SPD einer Aussetzung zugestimmt hat. Sie hat liegt innerhalb der Bandbreite von 14 % bis 20 % , die
— genauso wie ich hier heute morgen — gesagt: Bei die Europäische Kommission vorgeschlagen hat. Jetzt
verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten, die es in den wollen Sie offensichtlich, Herr Waigel, die Europäer
neuen Bundesländern angesichts der großen Aufga dazu bringen, den Mindestsatz in ganz Europa auf
1670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ingrid Matthäus-Maier
16 % anzuheben, damit Sie sich mit Ihrer Mehrwert- Dann soll nämlich der Spitzenverdiener 178 DM er-
steueranhebung dann hinter einer solchen neuen halten, aber der Niedrigverdiener nur 64 DM.
Festsetzung verstecken können. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das wird im
mer schlimmer!)
(Zuruf von der SPD: So ist es!)
Dies würde bedeuten, daß die Bevorzugung der Spit-
zenverdiener noch größer wird, als es heute schon der
Wo waren Sie eigentlich, Herr Finanzminister, am
Fall ist.
Wochenende, als es in Brüssel galt, einen Mehrwert-
steuersatz von 14 % zu verteidigen? Indem Sie das den Wenn man Sie auf diese Ungerechtigkeit Ihrer Fa-
Luxemburgern, den Spaniern und den Engländern, milienpolitik hinweist, dann sprechen Sie immer von
die mit Nein gestimmt haben, überlassen haben, ha- Neid. Ich sage Ihnen: Umgekehrt wird ein Schuh dar-
ben Sie eindeutig die Interessen der deutschen Steu- aus. was ist es denn anderes als Neid auf Ihrer Seite,
erzahler verletzt, Herr Waigel. Das ist ein schlimmer wenn Sie den kleinen und mittleren Einkommen nicht
Fehler. gönnen, daß sie genausoviel Kindergeld bekommen
(Beifall bei der SPD) wie Spitzenverdiener?
(Beifall bei der SPD)
Der nächste Bruch eines Wahlversprechens steht Sie neiden es den kleinen Leuten, daß nach unse-
bereits heute morgen hier zur Abstimmung. Sie haben rem Konzept die Kinder von Otto Normalverbraucher
im Bundestagswahlkampf landauf, landab verspro- dem Staat genausoviel wert sein sollen wie die Kinder
chen, daß die Familien, denen man in den Jahren von reicher Leute. Da wir diesen Neidkomplex nicht ha-
1983 bis 1985 zuviel Steuern abgenommen hat, alle ben, wie er bei Ihnen existiert,
etwas zurückbekommen, und nicht nur die, die Ein-
spruch eingelegt haben. Wenn die Bundesregierung (Josef Grünbeck [FDP]: Eine boshafte Unter
mit dem heutigen Gesetz nur den Familien etwas zu- stellung!)
rückgeben will, die gegen ihren Steuerbescheid Ein- bleibt es bei unserer Forderung: mindestens 200 DM
-
spruch eingelegt haben, und die große Mehrzahl der Kindergeld vom ersten Kind an, für alle gleich hoch.
Familien, die pünktlich gezahlt und nicht Einspruch (Beifall bei der SPD)
eingelegt haben, weil sie auf die Rechtmäßigkeit
staatlichen Handelns vertrauen, leer ausgehen soll,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete
dann ist das für die Familien mit Kindern empö-
Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage
rend.
des Abgeordneten Eimer?
Wir Sozialdemokraten stellen heute den Antrag,
daß rückwirkend alle Familien, auch die, die nicht Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja.
Einspruch eingelegt haben, bei der Rückzahlung zu
berücksichtigen sind, unabhängig davon, ob sie sich Norbert Eimer (Fürth) (FDP): Frau Kollegin, nach-
gegen ihren Steuerbescheid gewehrt haben oder dem Sie wiederholtermaßen derart merkwürdige
nicht. Sie werden heute in namentlicher Abstimmung, Rechnungen machen, frage ich Sie einmal anders-
meine Damen und Herren von Union und FDP, Farbe herum: Wieviel muß jemand brutto verdienen, wenn
bekennen müssen, ob Sie zwar Milliarden für die Sen- er 100 DM netto für seine Kinder ausgeben will, und
kung der Vermögensteuer und die Abschaffung der zwar einmal, wenn er ein sehr niedriges Einkommen
Gewerbekapitalsteuer lockermachen können, nicht mit Steuersatz Null hat und einmal ein sehr hohes
aber für die Wiedergutmachung des Unrechts an den Einkommen mit einem Steuersatz von 50 % hat?
Familien.
(Beifall bei der SPD)
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Sehr geehrter Herr
Noch zu den Familien. Die Bundesregierung hält Eimer, selbstverständlich muß ein Spitzenverdiener
daran fest, daß die Familien noch das ganze Jahr 1991 mehr verdienen, weil er progressiv besteuert wird.
nach den Maßstäben des Verfassungsgerichtes ver- (Zurufe von der CDU/CSU: Aha! — Josef
fassungswidrig zuviel Steuern zahlen. Erst 1992 will Grünbeck [FDP]: Das haben Sie aber unter
die Bundesregierung dies ändern. Das kommt zu spät schlagen!)
und ist zuwenig. Außerdem legen Sie den Schwer- Ich unterstelle, daß Sie das wissen, meine Damen und
punkt wieder auf die ungerechten Kinderfreibeträge Herren.
und verschärfen damit die Ungleichheit zwischen den
kleinen Leuten und den reichen Leuten. (Norbert Eimer [Fürth] [FDP]: Deswegen
frage ich ja! Das Verfassungsgericht sagt es
(Uta Würfel [FDP]: Oh nein!) nämlich anders aus!)
— Selbstverständlich muß er mehr verdienen. Aber ist
Schon heute bekommt ein Spitzenverdiener für je- das denn ein Grund dafür, warum die Kinder von Spit-
des Kind durch den Kinderfreibetrag 86 DM im Monat zenverdienern, die es im Leben sowieso viel einfacher
mehr auf die Hand als ein Niedrigverdiener. Nach als die Kinder kleiner Leute haben, so massiv geför-
Ihren Plänen soll ein Spitzenverdiener ab 1992 sogar dert werden, wie das bei Ihnen der Fall ist, Herr Ei-
114 DM mehr im Monat für sein Kind erhalten als ein mer?
Niedrigverdiener. (Beifall bei der SPD)
Wenn Sie, Herr Eimer, das Bundesverfassungsge-
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Was?) richt zitieren, so darf ich auf folgendes hinweisen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1671
Ingrid Matthäus-Maier
— das ist ein alter Streit zwischen uns — : das Bundes- Beamte, Minister, Staatssekretäre und endlich auch
verfassungsgericht läßt ausdrücklich offen, ob man Abgeordnete einbezogen werden.
die Steuerfreiheit der Unterhaltsaufwendungen für
Kinder über einen Kinderfreibetrag oder über das (Beifall bei der SPD)
Kindergeld oder über ein Mischsystem löst. Verwi- Viertens. Passen Sie die Mineralölsteuer in das Ge-
schen Sie deshalb die Debatte nicht mit unzutreffen- samtkonzept einer ökologischen Umschichtung des
den Hinweisen auf das Bundesverfassungsgericht! Steuersystems ein, und kassieren Sie nicht einfach bei
Gehen Sie vor den Bürger, und zeigen Sie ihm die den Menschen ab.
Alternative! Bei Ihnen kriegen die Reichen immer et- Fünftens. Stellen Sie endlich das Existenzminimum
was drauf, und wir sind der Ansicht, dem Staat muß steuerfrei. Wandeln Sie in einem ersten Schritt den
jedes Kind gleich lieb und gleich wert sein. vorgesehenen Tariffreibetrag in eine Verbesserung
(Beifall bei der SPD) des Grundfreibetrages für alle Steuerzahler in Ost und
West um.
Sagen Sie dem Bürger auch endlich einmal ehrlich,
Sechstens. Verzichten Sie auf die geplante Senkung
daß — wie in der Familienpolitik mit den Kinderfrei- der Vermögensteuer und auf die Abschaffung der
beträgen — auch in der Wohnungsbauförderung mit
Gewerbekapitalsteuer.
dem § 10e des Einkommensteuergesetzes Ihr Grund-
prinzip lautet: Wer hat dem wird vergeben — gege- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ben Siebtens. Fördern Sie den Aufbau der neuen Länder
(Heiterkeit) durch eine wirksame Investitionszulage von 25 % für
— vergeben nicht. Vergeben wollen wir den Reichen betriebliche Investitionen. Das kommt besonders den
und den Armen, aber wir wollen den Reichen nicht Unternehmen in den neuen Bundesländern zugute.
mehr geben. Achtens. Verzichten Sie auf die für 1993 geplante
(Beifall bei der SPD) Erhöhung der Mehrwertsteuer. Wenn Sie die Ergän-
Wir sind der Ansicht, daß Ihre Wohnungsbauförde- zungsabgabe für Höherverdienende auf vier Jahre
rung ungerecht ist. befristen und auf die Senkung der Vermögensteuer
und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ver-
Da Sie uns das nicht glauben, zitiere ich den Fami- zichten, dann hat der Staat genausoviel Geld zur Ver-
lienbund der Deutschen Katholiken. Er sagt zu Ihrem fügung wie bei der von Ihnen geplanten Anhebung
Gesetz: der Mehrwertsteuer.
Bezieher von Höchsteinkommen erfahren nach Neuntens. Speisen Sie die Familien mit Kindern
der Erhöhung des § 10e eine Entlastung von nicht länger mit schönen Worten ab. Erhöhen Sie das
8 745 DM jährlich. Bezieher von geringen Ein- einheitliche Kindergeld auf mindestens 200 DM vom
kommen erfahren eine Entlastung von 3 135 DM. ersten Kind an für alle Kinder.
Diejenigen 20 % der Einkommensbezieher mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den höchsten Einkommen erhalten derzeit 45
der Eigentumsförderungsmittel. Diejenigen 20 Zehntens. Lösen Sie Ihr Versprechen ein, daß alle
der Einkommensbezieher mit den niedrigsten Familien mit Kindern für die in den letzten Jahren
Einkommen erhalten dementgegen nur 5 %. zuviel gezahlten Steuern einen Ausgleich bekommen,
und nicht nur diejenigen, die Einspruch eingelegt ha-
Wir Sozialdemokraten sind mit dem Familienver- ben.
band der deutschen Katholiken, mit der deutschen Elftens. Stellen Sie die Förderung des Eigenheim-
Bauwirtschaft und mit den Bausparkassen der An- baus auf einen einheitlichen Förderbetrag für alle um,
sicht, daß dieses ungerechte System durch einen statt die bestehende Ungerechtigkeit zugunsten von
gleich hohen Zuschuß für alle Menschen ersetzt wer- Spitzenverdienern noch zu vergrößern, und erhöhen
den muß. Sie das Baukindergeld auf 1 200 DM.
(Beifall bei der SPD)
Zwölftens. Meine Damen und Herren, üben Sie
Meine Damen und Herren, hören Sie endlich auf endlich auch Solidarität mit den Ländern und Ge-
mit Ihrer Politik der Unwahrhaftigkeit und der Unge- meinden. Die westdeutschen Bundesländer haben
rechtigkeit. Machen Sie eine Politik im Interesse der sich solidarisch an der Finanzierung der deutschen
Menschen. Dann können Sie auch vor die Bürger tre- Einheit beteiligt.
ten und ihnen die Wahrheit sagen.
(Lachen bei der CDU/CSU)
Unsere sozial gerechte Alternative fasse ich in zwölf
Die Mehreinnahmen durch die Steuererhöhungen,
kurzen Forderungen zusammen:
die jetzt vorgenommen werden, fließen aber fast aus-
Erstens. Sparen Sie endlich; dann brauchen Sie schließlich in die Kassen des Bundes. Das ist unsolida-
nicht so rabiate Steuererhöhungen. risch. Wir Sozialdemokraten unterstützen die Forde-
rungen der Länder, ihnen angesichts wachsender
Zweitens. Befreien Sie die Bezieher kleiner und Ausgaben durch eine Neuverteilung des bestehenden
mittlerer Einkommen von der Ergänzungsabgabe Steueraufkommens einen größeren Anteil am Steuer-
durch die Einführung einer Einkommensgrenze. aufkommen zu verschaffen.
Drittens. Ersetzen Sie die ungerechte Beitragserhö- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
hung bei der Arbeitslosenversicherung durch eine Ar- Steuern sind ein notwendiges Übel. Der Staat braucht
beitsmarktabgabe für alle, in die auch Selbständige, sie, um seine Aufgaben zu erfüllen. Die Menschen
1672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, cien 14. Mai 1991
Ingrid Matthäus-Maier
werden aber nur dann bereit sein, dem Staat ihre Das Verfassungsgericht sagt nun: Bis zum Existenz-
meist mühsam erarbeiteten Steuergelder anzuver- minimum muß dem Staat jedes Kind gleich viel wert
trauen, wenn sie erstens das Vertrauen haben, daß die sein. Das heißt, daß der Reiche für sein Kind genauso
Politik ihnen nicht mehr Steuern abverlangt, als bei viel verdienen muß wie der Arme.
strenger Sparsamkeit nötig ist, wenn sie zweitens das (Zuruf von der SPD: Umgekehrt!)
Vertrauen haben, in Sachen Steuern vor der Wahl
Nichts anderes bewirken die Freibeträge. Frau
nicht belogen zu werden, und wenn sie drittens das
Matthäus-Maier, wenn Sie mehr wollen, dann hat das
Vertrauen haben können, daß die Steuerpolitik sozial
mit der ursprünglichen Forderung des Verfassungs-
gerecht ist und die Kleinen nicht für die Großen zah-
gerichts nichts zu tun.
len.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Finanzminister,
haben das Vertrauen der Menschen in diese Grund-
sätze der Steuerpolitik schwer erschüttert. Durch das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zur Erwiderung bit-
heute vorliegende Steuer- und Abgabenerhöhungs- tet Frau Matthäus-Maier um das Wort.
paket wird dieser Vertrauensverlust noch verschärft.
Deshalb lehnen wir Sozialdemokraten es ab. Unsere Ingrid Matthäus Maier (SPD): Sehr verehrter Herr
-
konstruktiven Alternativen liegen auf dem Tisch. Eimer! Ihre schönsten Berechnungen können nicht
darüber hinwegtäuschen, daß ein Niedrigverdiener
Ich danke Ihnen. durch den Kinderfreibetrag, den Sie eingeführt ha-
(Anhaltender Beifall bei der SPD sowie Bei ben, für sein Kind im Monat 48 DM
fall des Abg. Werner Schulz [Berlin] [Bünd (Norbert Eimer [Fürth] [FDP]: Das stimmt
nis 90/GRÜNE]) doch nicht! — Weitere Zurufe von der FDP
und der CDU/CSU)
- — ich bitte um Entschuldigung, das ist doch völlig
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zu einer Kurzinter- unstreitig; fragen Sie einmal Herrn Faltlhauser —, ein
vention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Nor- Spitzenverdiener für sein Kind im Monat 134 DM er-
bert Eimer. hält. Das sind 86 DM mehr, als der Niedrigverdiener
(Zurufe von der SPD: Och! — Gegenruf der bekommt.
Abg. Uta Würfel [FDP]: Sehr demokra (Beifall bei der SPD — Norbert Eimer [Fürth]
tisch!) [FDP]: Falsch!)
— Mein lieber Herr Eimer, daß Sie sich so eifrig bemü-
hen, dieses häßliche Ergebnis durch dauernde Zwi-
Norbert Eimer (Fürth) (FDP): Frau Präsidentin! schenfragen, Interventionen und Diskussionen zu ver-
Meine Damen und Herren! Die Unmutsäußerung von stecken,
der SPD läßt bei dieser Debatte einiges befürchten. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie liegen
(Zuruf von der SPD: Hände aus der Ta falsch!)
sche!) liegt offensichtlich daran, daß Sie Mühe haben, dieses
Ich weiß nicht, ob ein solches Verhalten der angemes- ungerechte Ergebnis zu ertragen.
sene demokratische Stil ist. (Beifall bei der SPD)
Meine lieben Kollegen, ich bin kein Freund von Dieses häßliche Ergebnis war der Grund, warum die
Freibeträgen. Das ist hier bekannt; ich habe das oft FDP 1974, als sie zusammen mit der SPD in der sozial-
genug gesagt. Aber ich kann es nicht hinnehmen, in liberalen Koalition war — und auch die CDU und die
welcher Art Freibeträge hier behandelt werden und CSU haben daran mitgewirkt — , die bis dahin beste-
wie die Öffentlichkeit — ich sage es bewußt — hinters henden Kinderfreibeträge abgeschafft und durch das
Licht geführt wird. einheitliche Kindergeld ersetzt hat. Damals waren Sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — unserer Ansicht, heute driften Sie wieder ab zur Um-
Widerspruch bei der SPD) verteilung von unten nach oben, meine Damen und
Herren.
Wie wirken denn Freibeträge? — Da Frau
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner
Matthäus-Maier bei der Antwort auf meine Zwischen-
Schulz [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE])
frage „herumgeeiert" ist,
(Zustimmung bei der FDP — Widerspruch Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
bei der SPD) der Abgeordnete Werner Schulz.
will ich Ihnen das einmal kurz vorrechnen.
Wenn jemand 100 DM für sein Kind ausgeben will, Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau
muß er, wenn er keine Steuern zahlt, 100 DM brutto Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir gehören
verdienen, damit er 100 DM ausgeben kann. Wenn zu denjenigen, die schon sehr frühzeitig erhebliche,
jemand einem Durchschnittssteuersatz unterliegt, größere finanzielle Mittel zur Herstellung der deut-
also 20 % Steuern zahlt, muß er 125 DM verdienen, schen Einheit gefordert haben. Ich kann es der Bun-
damit er 100 DM für sein Kind ausgeben kann. Wenn desregierung nicht ersparen, sie an ihre Verlautba-
jemand 50 % Steuern zahlt, also Großverdiener ist, rungen von gestern und vorgestern zu erinnern. Zu-
muß er 200 DM verdienen, damit er 100 DM für seine nächst hieß es, die im Fonds „Deutsche Einheit" be-
Kinder ausgeben kann. reitgestellten Mittel würden ausreichen, um die finan-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1673
SPD und der PDS/Linke Liste) Basis unseres Wohlstands, erschüttert. Das Vertrauen
in eine solide Währung und die Geldwertstabilität
haben allererste Priorität.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
(Hermann Rind [FDP]: So ist es!)
der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms.
Es ist ein bewährter finanzpolitischer Grundsatz,
daß der Druck zur Ausgabeneinsparung Vorrang vor
Dr. Hermann O tt o Solms (FDP): Frau Präsidentin! Steuererhöhungen haben muß. Deshalb hat die FDP
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Finanz- in den Koalitionsverhandlungen so großen Wert auf
politik der Koalition war die innenpolitische Erfolgs- den Abbau von Subventionen gelegt und andere
story der 80er Jahre. Sparmaßnahmen gefordert. Ohne die energische
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Durchsetzung wäre es nicht zu dem Beschluß gekom-
Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Das ist aber men, weitere 10 Milliarden an Subventionen einzu-
sehr genügsam, Herr Kollege!) sparen.
Das Ergebnis dieser Finanzpolitik kann sich sehen las- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das hat die SPD
sen: neun Jahre Aufschwung, stabile Preise, nahezu noch nicht mitgekriegt!)
zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in den west-
Ich darf daran erinnern, daß wir im Rahmen der gro-
lichen Bundesländern, ausreichende Ausbildungs-
ßen Steuerreformen bereits ein Volumen von
plätze und, und, und.
13 1/2 Milliarden DM eingespart haben.
(Beifall bei der FPD und der CDU/CSU)
Die Kürzungen sind eine gemeinsame Aufgabe von
Ich wüßte nicht, warum wir von diesem Kurs abwei- uns allen. Ich muß hier an die Gesamtverantwortung
chen sollten. Ich bin auch nicht pessimistisch, was Sie von Parlament und Regierung für solide Staatsfinan-
uns unterstellen zu müssen glauben, Frau Matthäus zen erinnern. Es ist, Herr Kollege Faltlhauser, auch
Maier, sondern ich bin voller Zuversicht, daß wir 1994 nicht eine spezielle Aufgabe des Bundeswirtschafts-
den Bürgern in ganz Deutschland eine erfolgreiche ministers allein, sich darum zu kümmern, sondern es
Bilanz vorlegen können, wenn wir diesen Kurs finanz- ist eine Aufgabe der Koalition; wir haben dies ge-
politischer Solidität durchhalten. meinsam beschlossen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Die erfolgreiche Finanzpolitik der 80er Jahre muß der CDU/CSU)
also fortgesetzt werden. Die Finanzpolitik muß weiter-
hin davon bestimmt sein, den Staatshaushalt auf das Das Verhalten der SPD im Finanzausschuß zeigt,
Wesentliche zu konzentrieren und den Staatsanteil daß die Opposition nicht ernsthaft bereit ist, am Sub-
am Bruttosozialprodukt zurückzudrängen. ventionsabbau mitzuwirken. Zählt man die zahlrei-
chen kostenträchtigen Anträge der SPD zusammen,
Was in den 80er Jahren richtig war, kann jetzt nicht so kommt man schnell auf ein Volumen von 50 Milli-
falsch sein. arden DM und mehr. Schon die Forderung der SPD,
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Doch!) die Investitionszulage für die neuen Bundesländer zu
1676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Joachim Poß (SPD): Kollege Solms, sind Sie bereit, Wichtig ist, daß der Solidaritätszuschlag auf ein
zur Kenntnis zu nehmen, daß die Berechnungen der Jahr begrenzt ist. Es ist ein Element dieser langfristi-
Bundesregierung ergeben haben, daß die Investi- gen Finanzpolitik, daß die Leistungskraft derjenigen,
tionszulage zusätzlich — man muß ja gegenrechnen die die Leistung in der Wirtschaft zu erbringen haben,
— 14 Milliarden DM und nicht über 30 Milliarden DM nämlich von Unternehmern und Arbeitnehmern, nicht
ergeben würde und daß das auch so in dem Bericht durch zusätzliche Steuerbelastungen eingeschränkt
des Finanzausschusses ausgewiesen ist und daß da wird.
sozusagen noch nicht eingerechnet ist, was an dyna- Daran wird sich nichts ändern. Der Solidaritäts-
mischer Wirtschaftsentwicklung dann über Wirt- zuschlag darf auf keinen Fall verlängert werden. Es
schaftswachstum, Beschäftigung und Steuern wieder muß Vertrauen bestehen, daß die Entlastung des Lei-
einkommt? stungsprozesses fortgesetzt wird. Die Unternehmen-
steuerreform ist deshalb ein zwingendes Gebot zur
Dr. Hermann O tt o Solms (FDP): Nein, ganz im Ge- Schaffung fairer Wettbewerbsverhältnisse, insbeson-
genteil. Wenn Sie jetzt die Diskussion um die Förder- dere wenn man daran denkt, daß ab 1993 der gemein-
maßnahmen nicht umgehend beenden und es bei dem same Binnenmarkt gilt.
Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost belassen, wel- Meine Damen und Herren, es ist der deutschen
ches ja die Zustimmung der wesentlichen Verbände Wirtschaft nicht zuzumuten, daß ihre Erträge wesent-
und Gruppierungen in diesem Land gefunden hat, licher höher, nahezu doppelt so hoch wie in einzelnen
dann werden Sie den Investitionsprozeß weiterhin Ländern Europas, belastet werden, wenn sie in einem
verzögern, denn die Investitionswilligen warten na- gemeinsamen Markt mit gemeinsamen Wettbewerbs-
türlich ab, welche Geschenke an sie noch verteilt wer- verhältnissen agieren müssen.
den sollen. Nein diese Diskussion muß nun beendet
werden, (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nein, wir müssen hier zu fairen Wettbewerbsverhält-
der CDU/CSU) nissen kommen, d. h. die Wirtschaft genauso wie die
die Investitionen müssen beginnen, und sie beginnen Arbeitnehmer muß so belastet werden, wie es dem
ja bereits. Die Situation sieht bereits wesentlich besser Belastungsniveau in den vergleichbaren und mit uns
aus, als es die öffentlichen Medien darstellen. Ich konkurrierenden Märkten entspricht.
gehe davon aus, daß dieser dynamische Prozeß an Falls nach Wegfall des Solidaritätszuschlags zur
Geschwindigkeit zunehmen wird und daß wir in den Realisierung einer familiengerechten und wettbe-
kommenden Monaten und Jahren eine sehr gesunde werbsfreundlichen Besteuerung Erhöhungen not-
Entwicklung erleben werden. Allerdings müssen wir wendig sind, kommt ab 1993 die Mehrwertsteuer in
erst ein tiefes Tal durchschreiten. Das weiß jeder, der Betracht. Wir haben dies ganz bewußt so beschlossen,
sich mit der Sache befaßt. damit Sie nicht schon im vorhinein daraus wieder eine
Zusätzliche Fördermaßnahmen können keine zu- neue Steuerlügen- Story entwickeln, Frau Matthäus.
sätzlichen Investitionen auslösen; das Angebotspaket
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber vor der
bietet für jeden Investitionswilligen etwas, und zwar
Wahl abgestritten!)
in ausreichendem Maße. Sie gefährden aber die Sta-
bilität der öffentlichen Finanzen in unverantwortli- Vielmehr ist ganz klar, daß im Zusammenhang mit
cher Weise, wenn wir weitere Ausgaben beschließen. dem gemeinsamen Binnenmarkt hier Korrekturen
Die Forderung nach zusätzlichen Fördermaßnahmen möglicherweise nötig sind. Das ist auch vor der Wahl
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1677
Dr. Hermann Otto Solms
nie bestritten worden. Im Zusammenhang mit Europa Meine Damen und Herren, 1994 wird es sich erwei-
stand das immer zur Diskussion. sen, daß es für die finanzpolitische Strategie der Koali-
tion in Wirklichkeit keine glaubwürdige Alternative
Für die FDP muß das Ziel gesichert sein, ab Mitte
gibt. Diese Strategie wird zu dem Erfolg führen, den
der 90er Jahre die Steuerlastquote wieder auf das
wir im Interesse unserer Bürger in Gesamtdeutsch-
niedrige Niveau von 1990 zurückzuführen. Die indi-
rekten, konsumabhängigen Verbrauchsteuern und land brauchen. Wir werden diese Strategie unerschüt-
terlich verfolgen, und wir werden uns von den Argu-
die direkten, leistungsbremsenden direkten Steuern
menten, die wir ja nun seit 10 Jahren immer wieder
müssen wieder in ein ausgeglichenes Verhältnis ge-
bracht werden. Es ist übrigens die Erkenntnis der Fi- von der SPD gehört haben, die uns aber nicht abhalten
konnten, diese gesunde finanzpolitische Strategie
nanzwissenschaftler überall auf der Welt, daß das ge-
1982 zu beschließen und beharrlich durchzuführen,
sundeste Steuersystem jenes ist, in dem sich direkte
nicht beirren lassen. Auf diesem Kurs werden wir be-
und indirekte Steuern auf gleichem Niveau gegen-
harren.
überstehen.
Vielen Dank.
Die Unternehmensteuerreform bleibt also auf der
Tagesordnung. Sie ist in dieser Legislaturperiode zu (Beifall bei der FDP — Joachim Poß [SPD]:
realisieren. Dabei müssen die Substanzsteuern, die Wie kann man bei der Situation nur so selbst
Gewerbekapital- und die Vermögensteuer, genauso gerecht sein!)
wie die Ertragsteuern, die Lohn- und die Einkommen-
steuer sowie die Körperschaftsteuer, spürbar gesenkt Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge-
werden. ordnete Dr. Schumann.
Ich will jetzt noch mit einem Satz auf die Diskussion
über die Vermögensteuer eingehen. Wir haben nie- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li-
mals die totale Abschaffung der Vermögensteuer ge- ste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit
fordert. Die FDP hat, ausweislich ihres Wahlpro-
- dem Steueränderungsgesetz und dem sogenannten
gramms, gesagt: Es geht darum, die betriebsbezogene Solidaritätsgesetz stehen Gesetze auf der Tagesord-
Vermögensteuer abzubauen. nung, die ohne Zweifel in den vergangenen Wochen
(Joachim Poß [SPD]: Aber beschlossen!) heiß diskutiert wurden; weniger im Osten Deutsch-
lands als im Westen.
Genau das ist es, was wir realisieren wollen; denn die Grundsätzliche Aussagen der Unionsparteien zur
Vermögensteuer — bezogen auf das Betriebsvermö- Wahl wurden mit diesen Gesetzen umgestoßen, und
gen — führt dazu, daß Betriebe, die in einer schwieri- das brachte und bringt Ärgernisse hervor; vor allem
gen Situation sind und die keine Erträge erzielen, ihre bei den in Sachen Wahlen viel geübteren westlichen
Steuern aus der Substanz zahlen müssen. Das führt Mitbürgern unseres Staates. Wir lehnen diese Gesetze
natürlich sehr schnell dazu, daß solche Betriebe, ge- jedoch nicht nur deshalb ab, weil eine Wahlaussage
rade die kleinen und mittelständischen Bet riebe, in nicht gehalten wurde, sondern weil die Finanzierung
die Gefahr ihrer Existenz geraten. des Aufbaus der fünf neuen Länder einschließlich Ber-
(Joachim Poß [SPD]: Da gibt es hohe Freibe lins nach unserer Auffassung konzeptionslos erfolgt,
träge!) und vor allem, weil die Mehreinnahmen an Steuern
für einen Krieg als Antwort auf die völkerrechtswid-
— Herr Kollege Poß, Sie, der Sie doch genau so lange rige Annexion Kuwaits durch den Irak ausgegeben
wie ich in der Diskussion sind, wissen doch, daß einem werden;
mittelständischen Unternehmen mit Freibeträgen
nicht zu helfen ist. Es geht darum, daß das Unterneh- (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann
men damit rechnen kann, daß diese Belastung nicht [PDS/Linke Liste])
eintritt. Betriebe brauchen klare Kalkulationsgrundla- für einen Krieg, den viele Bürger dieses Landes abge-
gen und nicht die Hoffnung darauf, daß ein gnädiger lehnt haben, für einen Krieg, der viel menschliches
Steuergesetzgeber ihnen irgendwo, hier oder dort, Leid und katastrophale ökologische Folgen hinterlas-
entgegenkommt. sen hat.
Wir halten es für prinzipiell unzulässig, Ausgaben
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
für den Golfkrieg mit den Anforderungen der deut-
der CDU/CSU)
schen Einigung und den Anforderungen der Dritten
Meine Damen und Herren, es ist aber nicht nur die Welt zu verknüpfen. Neben den finanzpolitischen und
Unternehmensteuerreform, die es in Ang riff zu neh- finanztechnischen Problemen, die diese Gesetze mit
men gilt, sondern es geht darüber hinaus darum, die sich bringen, ist das für uns ein absoluter Grund, die
Familienbesteuerung so umzugestalten, daß das Zustimmung zu diesen Gesetzen zu verweigern.
Steuerrecht den familiären Belastungen entspricht; Daß die Einheit Geld kosten wird, und zwar sehr
d. h., daß die Familien drastisch von der Besteuerung viel Geld, mußte jedem Realpolitiker und jedem Öko-
entlastet werden. nomen von Anbeginn klar sein. Es fehlte ja auch nicht
Des weiteren geht es darum, die steuerliche Befrei- an Stimmen aus allen politischen Lagern und der Wirt-
ung des Existenzminimums so zu gestalten, daß sie schaft, die mit Nachdruck vor den Folgen eines Crash
den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts ent- Kurses warnten.
spricht. Das heißt, daß man natürlich auch in dieser Was die PDS/Linke Liste angeht, so hat sie nicht nur
Legislaturperiode darüber reden muß, wie der Grund- eine quasi über Nacht erfolgende Währungsunion ab-
freibetrag gestaltet, d. h. erhöht wird. gelehnt, sondern auch mit großer Klarheit auf die da-
1678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Gunnar Uldall
z. B. für die erhöhte Investitionszulage oder für die genheit, Ihren Forderungen aus der „FAZ" von ge-
generelle Erhöhung des Grundfreibetrags, die Frau stern zuzustimmen.
Matthäus-Maier heute morgen einmal eben locker in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Diskussion eingebracht hat und die 4 Milliarden
DM gekostet hätte. Aber die Einnahmen wären um Der Zuschlag ist sozial ausgestaltet; denn er knüpft
viele, viele Milliarden zurückgegangen, z. B. durch linear an die Einkommensteuer, die den Besserverdie-
die Einführung der Einkommensgrenzen beim Solida- nenden auf Grund des Progressionsverlaufes stärker
ritätszuschlag. Höhere Ausgaben, aber geringere Ein- belastet als den Bezieher niedriger Einkommen, an.
nahmen — das ist keine ernst zu nehmende Finanzie- Ein Lediger mit 2 000 DM Monatseinkommen zahlt
rungskonzeption. 16 DM Solidaritätszuschlag. Wer 6 000 DM verdient,
muß 104 DM bezahlen. Also, wer das Dreifache ver-
Die Opposition soll Alternative zur Regierung sein. dient, muß das Sechsfache an Solidaritätszuschlag
Wir müssen erkennen, daß die Sozialdemokraten die- zahlen.
ser Aufgabe nicht gerecht werden.
(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Widerspruch bei der SPD) Das ist soziale Ausgewogenheit, meine Damen und
Herren.
Welche Belastungen kommen auf die Bürger durch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Solidaritätszuschlag zu? Ein lediger Arbeitneh-
mer mit 3 000 DM Monatseinkommen zahlt 34 DM Über Monate hinweg wurde von der SPD ein
Solidaritätszuschlag. Ist er verheiratet und hat zwei Steuerzuschlag gefordert.
Kinder, so zahlt er 12 DM pro Monat. Ist das wirklich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja!)
zuviel, um die Sanierung der Umwelt in den neuen
Bundesländern voranzubringen? Jetzt legt die Koalition einen entsprechenden Entwurf
vor. Aber die Opposition bringt nicht die Größe auf,
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Für -viele der Regierungsvorlage zuzustimmen.
Menschen ist das sehr viel Geld!)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Einkom
In der vergangenen Woche wurde der neue Tarif mensgrenzen!)
der IG Druck und Papier abgeschlossen. Die Gehälter
— Statt dessen schlägt sie Einkommensgrenzen vor,
steigen um 7 %. Für den eben genannten Arbeitneh-
liebe Frau Matthäus-Maier.
mer sind das 210 DM brutto mehr. Ist bei dieser Grö-
ßenordnung ein Solidaritätszuschlag von 34 DM oder (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Haben wir
12 DM wirklich zuviel, um den Aufbau der zerfallen- vor der Wahl gesagt!)
den Städte zu finanzieren? — Sie schlagen Einkommensgrenzen vor, die so hoch
(Beifall der CDU/CSU und der FDP) angesetzt sind, daß nur noch eine ganz geringe Zahl
von Bürgern den Solidaritätsbeitrag zu entrichten
Diese Frage stellt sich vor allem, wenn wir beden- hätte. Bei einer Einkommensgrenze von 60 000 DM
ken, daß die hohen Abschlüsse der diesjährigen Tarif- oder 120 000 DM Jahreseinkommen brauchte selbst,
runden natürlich auch darin begründet sind, daß, be- liebe Frau Matthäus-Maier, eine gut verdienende Ab-
dingt durch die Wiedervereinigung, die Konjunktur geordnete des Deutschen Bundestages mit zwei Kin
bei uns besonders gut läuft und die Einkommensstei- dern diesen Beitrag nicht mehr zu zahlen.
gerungen hoch ausfallen konnten. Hätten wir z. B.
eine Konjunktur wie in England oder in Frankreich, (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört! —
dann wäre die diesjährige Tarifrunde sicherlich im Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Es kommt dar
ganz normalen Rahmen ausgefallen, d. h. es hätte auf an, was sie verdient und was der Mann
nicht 7 %, sondern vielleicht nur 4 % mehr gegeben. In verdient!)
dem genannten Beispiel hätte der Arbeitnehmer nicht — Worauf kommt es an, liebe Frau Matthäus-Maier?
eine Lohnerhöhung von 210 DM, sondern von Sie brauchten den nicht zu zahlen.
120 DM bekommen.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Selbstver
Halten wir fest: Der Solidaritätszuschlag nimmt nur ständlich muß ich zahlen!)
einen Teil des Einkommenszuwachses, der auch — Rechnen Sie Ihre Kinderfreibeträge und alles ab,
durch die Wiedervereinigungskonjunktur erzielt dann werden Sie sehen, daß gerade Sie herausfal-
wird. len.
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der Ehrlicher wäre es gewesen, zu sagen: Alle sollen
FDP) zahlen. Solidarität darf nicht heißen, Frau Matthäus
Dieser Anteil geht an die Menschen, die nicht von Maier: Die anderen sollen zahlen. Solidarität heißt:
dem Konjunkturplus profitieren. Das ist echte Solida- Jeder soll nach seiner Leistungsfähigkeit zahlen.
rität. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Meine Damen und Herren, ich habe gestern in der Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Vielleicht
„Frankfurter Allgemeinen" einen Artikel gelesen, will sie freiwillig zahlen?)
Herr Thierse, in dem Sie schreiben: „Westdeutsche Ich möchte nun noch einmal Stellung nehmen zu
sollen auf Wohlstandswachstum verzichten." Heute dem häufig vorgetragenen Argument, man hätte die
legt die Regierung, legt die Koalition entsprechende unpopuläre Steuerentscheidung unmittelbar nach
Gesetzesvorschläge vor. Sie haben heute die Gele Öffnung der Mauer treffen sollen. Dann, so wird argu-
1686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Gunnar Uldall
mentiert, wäre die Bereitschaft größer gewesen, eine den 90er Jahren nicht schneller steigen als in den 80er
zusätzliche Belastung auf sich zu nehmen. Im Novem- Jahren.
ber oder im Dezember 1989 konnte keiner ahnen, wel- Viertens. Der Abbau der Neuverschuldung von 70
che neuen Aufgaben und welche neuen Ausgaben auf auf 50, auf 40 Milliarden DM muß in jedem Fall ein-
den Bund zukommen würden. gehalten werden. Die Einhaltung dieser Grenzen muß
(Detlev von Larcher [SPD]: Ahnungslose!) oberstes Gebot für unsere Finanzpolitik sein.
Fünftens. Das Streichen unnötiger Ausgaben und
Für uns, die Union, ist eine Steuererhöhung auf Ver-
Subventionen muß weitergehen. Heute, im Rahmen
dacht
dieser Gesetzesvorlagen, streichen wir 10 Milliarden
(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!) DM an Subventionen für Berlin und für das Zonen-
— das wäre sie gewesen, wenn man sie damals vor- randgebiet. Mit diesem gewaltigen Subventionsab-
genommen hätte — ein völlig ausgeschlossener Weg. bau, der durch die deutsche Einheit ermöglicht wird,
Das überlassen wir anderen. dürfen unsere Bemühungen nicht enden. Ein weiteres
Zehn-Milliarden-Paket für die Subventionen wird
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch vor der Sommerpause vorgelegt werden.
Hätte man damals trotzdem dem Drängen der Sozial-
demokraten nachgegeben und z. B. einen Solidari- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Uldall, Ihre
tätszuschlag beschlossen, so wäre doch selbstver- Redezeit ist zu Ende.
ständlich die damit erzielte Einnahme längst verfrüh
stückt, und wir stünden heute wiederum vor genau Gunnar Uldall (CDU/CSU): Dann komme ich zum
der gleichen Aufgabe, erneut irgendeine Steuererhö- Schluß, Herr Präsident.
hung zu verlangen. Uns stellen sich schwierige Aufgaben. Aber diese
(Joachim Poß [SPD]: Das tut weh!) schwierigen Aufgaben sind lösbar, vorausgesetzt, daß
wir unseren finanzpolitischen Kurs mit Beharrlichkeit
-
Für die CDU/CSU ist die Steuererhöhung das letzte fortführen und auch den Mut haben, einmal etwas zu
Mittel. tun, was auf den ersten Blick als unpopulär er-
(Zuruf von der SPD: Aber Sie können es ganz scheint.
gut!) Die heute zu verabschiedenden Gesetze sind ein
Durch unser Hinausschieben der Tariferhöhung — Beitrag für die langfristige Sicherung unserer Staats-
denn darum handelt es sich ja — haben wir den finanzen. Wir bitten deswegen um Ihre Zustim-
Steuerzahler so lange wie irgend möglich geschont. mung.
Vielen Dank.
(Joachim Poß [SPD]: Jetzt werden alle klat
schen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nun noch eine kurze Bemerkung zu der Besteue- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge-
rung von Erdgas, Heizöl und Zigaretten: Wir schlie- ordnete Otto Reschke.
ßen nicht aus, daß es zu Verzerrungen der Wettbe-
werbsfähigkeit zwischen Heizöl und Erdgas oder in-
Ott o Reschke (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
nerhalb des Zigarettenmarktes kommen kann. Durch
verehrten Damen und Herren! Mit dem Steuerände-
die jetzige Vorlage könnte sich eine Situation erge-
rungsgesetz soll die Wohneigentumsbildung verbes-
ben, daß der Gesetzgeber hier eine Überprüfung
sert und die Modernisierung in den neuen Bundeslän-
vornehmen müßte. Wir werden deswegen — so haben
dern gefördert werden. So die Begründung der Bun-
wir es im Ausschuß einhellig beschlossen — im Herbst
desregierung. Aber lieber Herr Kollege Dr. Faltlhau-
dieses Jahres eine entsprechende Prüfung und gege-
ser, wenn es richtig ist, daß Eigentum die wichtigste
benenfalls eine Korrektur vornehmen.
Säule des Wohnungsmarktes ist, wenn es richtig ist,
Welche Aufgaben stellen sich heute der Finanz- daß Eigentumsförderung der beste Mieterschutz und
politik? die beste Entlastung des Wohnungsmarktes ist — wie
Erstens. Wir müssen deutlich machen, daß nunmehr wir auch im Finanzausschuß gemeinsam festgestellt
mit dem Beschließen neuer Ausgaben Schluß ist. Auf haben — , und wenn es richtig ist, daß bei der Eigen-
die Kasse des Finanzministers gehört wieder ein tumsförderung nach § 10 e des Einkommensteuerge-
schwer zu hebender eiserner Deckel. setzes kaum wohnungspolitische Effekte erzielt wer-
den, warum gehen wir dann nicht auch heute gemein-
(Ingri d Matthäus-Maier [SPD]: Das werden sam an die Reform heran? Die SPD Bundestagsfrak-
-
Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege (Beifall bei der SPD)
Reschke, warum betonen Sie in diesem Plenum zur Dieses System kennen wir doch von der Investitions-
Kenntnis der Kollegen nicht auch, daß die Wohnungs- zulage, daß einem Betrieb, der über keine Steuerlast
baupolitiker der Koalition ebenso wie — zumindest verfügt, diese Zulage vom Finanzamt ausbezahlt
teilweise — die Finanzpolitiker der Koalition mit Ih- wird.
nen durchaus einig sind, daß eine Systemumstellung
beim Wohnungsbau insgesamt wohl zielführend sein Die Unionsparteien haben vor der Wahl die Umstel-
wird, - lung der Förderung auf einen Eigenheimabzugsbe-
trag versprochen. Sie haben aber dann das Ministe-
(Zuruf von der SPD: Warum machen Sie das rium an die FDP abgegeben. Auch dieses sagt mittler-
nicht?) weile, daß eine Umstellung wünschenswert sei, fügt
ein derartig umfassendes Reformwerk jetzt aber nicht aber hinzu, sie sei nicht zu finanzieren.
gleichzeitig seriös gestaltet werden kann? Denn ein
Das ist jedoch eine fadenscheinige Ausrede vor dem
entsprechendes umfassendes Reformwerk kostet un- Hintergrund anderer steuerlicher Vergünstigungen
glaublich viel Geld — das wissen Sie selbst — , Geld,
im Wohnungsbau. Das muß man der Öffentlichkeit
das wir heute, im Jahre 1991, nicht haben.
doch klarmachen: 90 % der Verluste, die bei der Ein-
kommensteuer vor den Finanzämtern geltend ge-
Ott o Reschke (SPD): Herr Kollege Faltlhauser, Sie macht werden, sind Verluste aus Vermietung und
haben ein unglaublich kurzes Erinnerungsvermö- Verpachtung; rund 40 Milliarden DM im Jahr. Das
gen. bedeutet eine Steuerverkürzung um rund 20 Milliar-
(Beifall bei der SPD) den DM. Und da schaffen wir es nicht, 3 bis 4 Milliar-
den DM herauszubrechen, um zielgerecht Wohn-
Diesen Vorschlag haben wir seit 1986 permanent in
eigentum zu fördern. Darum geht es.
den Deutschen Bundestag eingebracht und damit vor-
geschlagen, wie die Umstellung konkret laufen (Beifall bei der SPD)
kann.
Stehen Sie, meine Damen und Herren von der Re-
Die Expertenanhörung des Finanzausschusses hat gierung, zu Ihrem Wort — Frau Wohnungsbaumini-
bestätigt, daß das, was die Bundesregierung hier vor- sterin, da sind Sie besonders in die Pflicht genommen
schlägt, nur Flickschusterei ohne nennenswerte Ver- — und lassen Sie uns die überfällige Reform gestal-
besserung der Situation ist. Schlimmer noch: Der Bun- ten!
desregierung wird vorgeworfen, daß durch ihre Vor-
haben insgesamt viele Häuslebauer und solche, die es Jetzt haben Sie auf unseren Vorschlag im Finanz-
werden möchten, schlechter ausgehen werden als bis- ausschuß hin einen Prüfungsauftrag gegeben. Im
her. Die Fachwelt ist sich, wonach Sie soeben mit September soll ein Be richt kommen. Das ist natürlich
Recht gefragt haben, einig: Um eine wirksame Förde- eine lobenswerte Sache. Aber ob das unsere Kennt-
rung des selbstgenutzten Wohneigentums zu erhal- nisse erweitert, glaube ich nicht. Experten haben ja in
ten, muß die Förderung schnellstens umgestellt wer- der Anhörung deutlich gesagt: Die Umstellung ist
den: jetzt so vorzunehmen, um tatsächlich Wirkungen in
(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) der Bauleistung zu erreichen.
weg von der progressionsabhängigen steuerlichen Ich sage ganz deutlich: Ich freue mich. Aber dies ist
Förderung auf einen einkommensneutralen Abzug bei Ihnen natürlich Einsicht auf Raten. Blockieren Sie
von der Steuerschuld. diese Reform nicht durch angebliche finanz- oder ver-
(Beifall bei der SPD) fassungspolitische Zwänge!
Die Vorschläge liegen dem Haus konkret auf dem (Beifall bei der SPD)
Tisch. Wir begrüßen natürlich auch einiges in dem Gesetz-
Unser Vorschlag lautet — ich wiederhole ihn — wie entwurf, und zwar, daß Sie unserem im Wohnungs
seit 1986: Statt Spitzenverdiener mit einem Höchst- bauausschuß gestellten Antrag zugestimmt haben,
steuersatz von 53 % in acht Jahren mit 70 000 DM zu den Vorschlag des Bundesrates zu übernehmen, die
1688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Otto Reschke
Kommunen künftig von der Grunderwerbsteuer zu haben, obwohl es hier um Steuervergünstigungen in
befreien, wenn ihnen Grund und Boden von der Treu- Millionenhöhe geht, die Sie an anderer Stelle immer
hand übertragen wird. Dadurch wird einer enormen wieder beklagen und die angeblich nicht finanzierbar
finanziellen Belastung für die Kommunen entgegen- sind. Dabei haben die steuerlichen Abschreibungsbe-
gewirkt; sie verfügen derzeit kaum über Finanzen, um günstigungen, die die damalige Bauministerin Has-
solche Käufe mit der Mehrwertsteuer bzw. Grunder- selfeldt gegeben hat, bereits gezeigt, daß dadurch
werbsteuer zu bestreiten. kaum zusätzlicher Wohnraum entstanden ist, sondern
nur hohe Mitnahmeeffekte provoziert worden sind.
In den neuen Bundesländern sollen bei eigenge-
nutzten Wohnungen alle Aufwendungen für die Er- Die unzureichende Wohnungspolitik wird auch aus
haltung der Wohnungen, die nach dem 31. Dezember eigenen Reihen bestätigt; was Sie an Abschreibungs-
1990 und vor dem 1. Januar 1995 entstehen, mit je- möglichkeiten geben, entspricht nicht dem, was an
weils 10 % abgezogen werden können, begrenzt auf Bauleistungen entsteht.
20 000 DM. Entschuldigen Sie, ich muß jetzt auch für
In der Begründung des Finanzministeriums zur an-
viele Kollegen sagen, die das gar nicht mitbekommen gestrebten Verlängerung des § 7 k in diesem Gesetz-
haben: Im Finanzausschuß haben Sie soeben 20 000
entwurf heißt es:
DM hinterhergeschoben. Der Betrag ist jetzt 40 000
DM. So gehen Sie mit Abschreibungsbeträgen in Mil- Es liegen noch keine gesicherten Erkenntnisse
lionenhöhe um, in vielen Bereichen, ohne daß die darüber vor, ob mit der Abschreibungsvergünsti-
Fachausschüsse damit beschäftigt worden sind. gung nach § 7 k der erhoffte Anreiz für den sozia-
len Wohnungsbau noch erreicht werden kann.
(Beifall bei der SPD)
Deshalb haben Sie schon jetzt die Fristverlängerung
Ich sage ganz deutlich: So begrüßenswert diese von 1993 auf 1996 angemahnt und in den Gesetzent-
Situation ist — Sie sprechen von nachträglichen Her- wurf geschrieben.
stellungskosten — , es ist nichts anderes als eine Mo-
-
dernisierungsförderung für Bezieher kleiner Einkom- Auch die Steuerberater — ich nannte das eben
men, wo der § 10e, die Eigentumsförderung, nicht schon — beurteilen Ihre Gesetzgebung kritisch. Sie
greift. Sie beschließen jetzt eine Ersatzlösung über sagen, die steuerlichen Regelungen sind kompliziert
steuerliche Möglichkeiten für kleine Einkommen im und noch längst nicht in allen Fragen geklärt.
Osten. Wie wenig durchdacht Ihre Aktionen sind, zeigt
(Zuruf von der SPD: So ist es!) sich schon daran, daß in dem Moment, wo der Gesetz-
Grundsätzlich halten wir es für begrüßenswert, daß entwurf als Drucksache vorliegt, schon klar ist, daß er
energiesparende Maßnahmen in den neuen Bundes- nicht das letzte Wort ist, sondern durch nachgereichte
ländern gefördert werden. Dies ist ein Schritt in die Formulierungshilfen ergänzt, verbessert und manch-
richtige Richtung. Unbegrei flich bleibt allerdings, mal auch verwässert werden muß. Das war beim
warum Sie ökologische Gesichtspunkte einer ver- Haushalt so, ist beim Wohngeld so und ist auch bei
nünftigen Wohnungspolitik für Ost-Berlin gelten las- den steuerlichen Regelungen für den Wohnungsbau
sen, aber für den Westteil ausschließen. Dies ist sehr nicht anders.
unverständlich. Dort gilt die Förderung nämlich nicht. (Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!)
Auch in den alten Bundesländern lassen Sie die För-
derung der Energiesparmaßnahmen 1992 auslaufen, Herr Schneider leugnete jede Wohnungsnot, Frau
obwohl hier Verlängerungsbedarf besteht. Hasselfeldt versprach goldene Klinken für Mieter und
Bauherren und neue Sozialwohnungen. Frau Adam
Gleichzeitig haben Sie in einem Nachtrag neue Ab- Schwaetzer verspricht eine Million Wohnungen in
schreibungsbegünstigungen für nachträgliche Her- drei Jahren, aber sie kann nur Baugenehmigungen
stellungskosten von Gebäuden und für den Neubau vorlegen, in denen keiner wohnen kann. Wohnungs-
von Wohnungen in den neuen Bundesländern, ein- not und Wohnungsmangel in den alten und den neuen
schließlich Gesamt-Berlin, festgesetzt. Das ist ja zu Bundesländern verlangen dringend nach wirksamen
begrüßen. Maßnahmen. Die Fertigstellungszahlen sollten eine
Wir sagen: nun doch irgendwie ein § 82 a; da wer- Mahnung für Sie sein: Im Jahre 1990 sind nur 225 000
den auch Modernisierung und Energiesparmaßnah- neue Wohnungen entstanden gegenüber 221 000
men anerkannt und bezuschußt. Ich kann nur feststel- Wohnungen in Neubauten im Jahre 1989.
len: Hier fördern Sie diejenigen, die Mietwohnungs-
(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)
bau und Modernisierung betreiben, schließen aber
wieder die Eigenheimer von dieser Art der Förderung Sie können jetzt natürlich die rund 32 000 Wohnun-
aus. Dies gilt auch für die alten Bundesländer bei gen hinzuzählen, die durch Aus- und Umbau in vor-
Eigenheim und Mietwohnung. handenen Gebäuden entstanden sind. Aber Sie ma-
chen sich etwas vor, wenn Sie meinen, tatsächlich
Welch ein Durcheinander! Lesen Sie übrigens mal
steigen die Wohnungsbauzahlen um viele Punkte
die Stellungnahme der Steuerberaterkammer, die
an.
dazu etwas gesagt hat! (Beifall bei der SPD)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) Auch in den neuen Bundesländern ist Ihre Woh-
Es spricht für Ihren politischen Stil, daß Sie diese nungspolitik gescheitert. Wenn Sie sehen, daß in den
Regelungen, die ich eben angesprochen habe, nicht alten Bundesländern der Bau von Einfamilienhäusern
dem zuständigen Fachausschuß, dem Bauausschuß 1990 um 11,4 % zurückgegangen ist und der Bau von
des Deutschen Bundestages, zur Beratung vorgelegt Zweifamilienhäusern um 14,7 %, dann zeigt das deut-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1689
Otto Reschke
lich, daß es angebracht ist, die Reform jetzt nach den neuen Ländern immer wieder unvorhersehbares,
Vorschlägen der SPD durchzuführen. nicht vorher planbares Handeln, weil es für die Um-
stellung einer vierzigjährigen Kommandowirtschaft
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, Ihre auf ein System der Sozialen Marktwirtschaft keine
Redezeit ist abgelaufen. Erfahrungswerte gibt und auch die Wissenschaft und
die volkswirtschaftlichen Lehrbücher uns als Gesetz-
geber keine Handlungsgrundlage bieten können.
Ott o Reschke (SPD) : Ich komme zum Schluß.
Insofern ist die Gesetzgebung in den beiden Ge-
Diese Koalition, speziell das Finanz- und das Bau-
setzentwürfen Ausdruck des nicht vorhersehbar und
ministerium, ist aufgefordert, das System der Wohnei-
des nicht planbar Gewesenen.
gentumsförderung und der Wohnungsförderung
grundlegend umzustellen. Wir haben Ihnen dazu ei- Die Frage ist, ob es bei einer solchen geschichtlich
nige Vorschläge unterbreitet. Kommen Sie dazu, daß einmaligen Entwicklung noch eine Linie in der Steu-
endlich der Eigenheimabzugsbetrag eingeführt wird! erpolitik geben kann oder, anders gefragt, ob die er-
Kommen Sie dazu, daß jährlich 100 000 Sozialwoh- folgreiche Linie der Steuerpolitik bis 1990 aufgege-
nungen gefördert werden! Kommen Sie dazu, daß ben wurde oder verlorengegangen ist.
Zinshilfen gegeben werden und daß Modernisierung Das Solidaritätsgesetz mit den Steuererhöhungen
und Energiesparmaßnahmen in Zukunft vom Bund hat — dies will ich nicht verschweigen — in der FDP-
gezielt für diejenigen, die es nötig haben, gefördert Fraktion Zweifel an dem Willen ausgelöst, diese Linie
werden in den neuen und den alten Ländern. in der Steuerpolitik fortzusetzen. Es gibt namhafte
Schönen Dank. Stimmen — ich will hier nur aus einem Schreiben des
Bundes der Steuerzahler vom 19. Ap ril zitieren —, die
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ die Bedenken teilen, die die FDP-Fraktion sehr heftig
GRÜNE) bewegt haben. Der Bund der Steuerzahler schreibt:
Steuererhöhungen können die finanziellen
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Schwierigkeiten des Bundes nur vorübergehend
ordnete Hermann Rind. mildern. Mittelfristig verschärfen sie die Finan-
zierungsprobleme, weil sich das Wirtschafts-
Hermann Rind (FDP): Herr Präsident! Meine Kolle- wachstum entsprechend abschwächt, was nicht
ginnen und Kollegen! Herr Kollege Reschke, Sie ha- ohne Einfluß auf das Steueraufkommen bleibt.
ben gerade den Versuch gemacht, aus einer steuerpo- Die Erfahrungen mit der Steuerreform lehren uns
litischen Debatte eine wohnungspolitische Debatte zu doch, wie Steuersenkungen die Wirtschaft bele-
machen. ben können.
(Widerspruch bei der SPD) Ich glaube, das sind beachtenswerte Sätze. Wir
— Moment. Das ist Ihr gutes Recht. Einschlägig sind sprechen heute ja nicht nur über die zu beschließen-
die Dinge, die Sie am Anfang angesprochen haben. den Gesetze, sondern auch über die Linie der Steuer-
Sie sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, daß wir politik der nächsten Jahre. Da ist es nun — wie dies
auf Grund des Ergebnisses der Anhörung im Finanz- auch andere Redner schon betont haben — wichtig,
ausschuß einhellig der Auffassung waren, daß wir daß wir die langfristigen finanzpolitischen Zielset-
über eine Modifizierung, über eine Verbesserung des zungen unserer Steuerpolitik trotz dieser Gesetze
Systems der Wohnbauförderung nachdenken sollten. nicht aus dem Auge verlieren.
In diesem Zusammenhang ist Kritik zwar möglich, (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
aber doch gleichzeitig weitgehend entschärft, wenn der CDU/CSU)
man den grundsätzlichen Konsens im Finanzaus-
schuß in Rechnung stellt. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rind, ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordenten Sei-
Widerspruch bei der SPD) fert?
Meine Damen und Herren, die beiden heute zur
Debatte und zur Abstimmung stehenden Gesetze sind Hermann Rind (FDP): Bitte.
ein Spiegelbild gesamtdeutscher Wirklichkeit im
Frühjahr 1991. Auf der einen Seite werden im Solida- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Kollege, Sie
ritätsgesetz Steuererhöhungen beschlossen, die dem sprechen hier von der Einmaligkeit der Aufgabe. Für
Aufbau der neuen Länder und der Finanzierung inter- mich ist Solidarität immer die Solidarität der Schwa-
nationaler Verpflichtungen — ausgelöst durch den chen mit den noch Schwächeren. Ich habe den Ein-
Golfkrieg und den Aufbau eines marktwirtschaftli- druck, daß jetzt die Schwachen Solidarität mit dem
chen Systems in Osteuropa und unseren Beitrag dazu Starken, nämlich dem Staat, üben sollen, damit dieser
— dienen sollen. das Geld bekommt. Stimmen Sie mir zu, oder sehen
Auf der anderen Seite werden mit dem Steuerände- Sie das anders?
rungsgesetz die Berlin- und die Zonenrandförderung
abgebaut, steuerliche Förderungen für den Aufbau in Hermann Rind (FDP): Herr Kollege, Solidarität ist
den neuen Ländern gewährt und eine Reihe von steu- das Zusammenstehen vieler zum Erreichen eines
erlichen Begünstigungen in Erfüllung der Koalitions- übergeordneten Ziels, und zwar je nach ihrer Lei-
vereinbarung eingeführt. stungsfähigkeit. Wir sind der festen Überzeugung
Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinba- — ich weiß, daß es darüber zwischen uns und Ihnen
rung erfordert entsprechend der Entwicklung in den sowie der SPD und anderen unterschiedliche Auffas-
1690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hermann Rind
sungen gibt — , daß wir mit den Gesetzentwürfen die- haben und in den nächsten Wochen noch vorlegen
ses Prinzip der Solidarität nicht verletzen. werden, entsprechende Möglichkeiten sieht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich werde dazu im Zusammenhang mit einigen De- Dann möge er dies auch politisch vertreten.
tailpunkten noch Stellung nehmen. (Detlev von Larcher [SPD]: Haben wir doch
Meine Damen und Herren, ich habe von der lang- gemacht! — Gegenrufe von der FDP: Wo
fristigen finanzpolitischen Linie der Steuerpolitik ge- denn?)
sprochen, die bei den notwendigen Steuererhöhungs- Meine Damen und Herren, nun einige Anmerkun-
maßnahmen nicht verlorengehen soll und darf. Es gen zu Einzelheiten des Gesetzes. Ich komme auf den
muß unser zentrales Anliegen bleiben, auf den Pfad Einwand der sozialen Unausgewogenheit zurück. Der
der finanzpolitischen Tugend zurückzukehren, d. h., Solidaritätszuschlag ist insofern gerecht, als derje-
die Steuerlastquote zu begrenzen, die Struktur des nige, der wenig verdient, wenig Lohn- und Einkom-
Steuersystems zu verbessern und den Staatsanteil zu- mensteuer und damit auch nur einen geringen Zu-
rückzudrängen. Wir werden uns dafür einsetzen, daß schlag zur Lohn- und Einkommensteuer zahlt.
die volkswirtschaftliche Steuerquote bis Mitte der Im übrigen bestehen in der Öffentlichkeit völlig fal-
90er Jahre, nämlich bis zum Ende dieser Legislaturpe- sche Vorstellungen über die Höhe des Solidaritäts-
riode, auf das Niveau von 1990 zurückgeführt wird. zuschlags. Es machen sich viele nicht klar, daß der
Dies ist ein hohes Ziel. Es erfordert sehr viele Anstren- Solidaritätszuschlag bedeutet, daß 3,75 % von der
gungen, um es zu erreichen. Aber die Tatsache, daß Lohn- und Einkommensteuer als Zuschlag erhoben
dies im Interesse unserer Volkswirtschaft liegt und werden, nicht 7,5 % vom Einkommen pro Jahr, wie
damit auch der Sicherung und Erhaltung von Arbeits- dies mitunter in der Öffentlichkeit angenommen wird.
plätzen dient, ist es wert, sich diesem Ziel zu ver- Das heißt, wer im Jahr 1 000 DM Lohn- oder Einkom-
schreiben. Dies tun wir. mensteuer zahlt, zahlt durch den Solidaritätszuschlag
-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 37,50 DM mehr. Es geht also um eine echte Mehrbe-
der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: lastung in Höhe von lediglich 3,75 % von der Lohn-
Da klatscht nur die FDP!) oder Einkommensteuerschuld. Dies ist auch den Steu-
erzahlern mit geringem Einkommen durchaus zumut-
Rechtfertigen können wir auf der anderen Seite bar.
Steuererhöhungen nur, wenn Haushaltsdisziplin ge-
wahrt wird und wenn alle Einsparungsmöglichkeiten
ausgeschöpft und die berühmten Subventionen abge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rind, Herr
baut werden. Kollege Seifert möchte eine weitere Zwischenfrage
stellen.
In diesem Zusammenhang muß ich etwas richtig-
stellen. Entgegen dem Eindruck in der Öffentlichkeit
— dies ist auch eine gewisse Rechtfertigung für un- Hermann Rind (FDP): Bitte schön.
sere Zustimmung zu den Steuererhöhungen — gibt es
auf diesen Gebieten durchaus beachtenswerte Er-
folge. Ich darf noch einmal daran erinnern — mein Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Können Sie mir
Fraktionsvorsitzender hat dies vorhin schon ausge- nicht wenigstens dahin gehend zustimmen, daß für
führt — : Mit dem Steuerreformgesetz 1990 haben wir den Bezieher oder die Bezieherin eines kleinen Ein-
schon Steuervergünstigungen, somit indirekte Sub- kommens ein kleiner Zuschlag schwerer wiegt als für
ventionen, im Umfang von knapp 14 Milliarden DM den Bezieher eines großen Einkommens ein etwas
abgebaut, beispielsweise die Investitionszulage für größerer Zuschlag?
das Zonenrandgebiet. Dies sollte nicht vergessen wer- (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Deswegen ma
den. Dies war eine Maßnahme zum Subventionsab- chen wir es auch so!)
bau, die erhebliche Kraft und politische Durchset- Denn wenn man wenig hat, ist es doch bedeutend
zungsfähigkeit erfordert hat. schwerer, das noch zu teilen, als wenn man viel hat
In Kürze werden weitere 10 Milliarden DM Einspa- und es ein bißchen teilt.
rungen und Subventionskürzungen der Öffentlichkeit (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: So läuft es doch
vorgestellt werden. Der Abbau der Berlin- und der auch!)
Zonenrandförderung ergibt nochmals ein Volumen
von knapp 10 Milliarden DM jährlich. Im Entwurf des
Verteidigungshaushalts für 1991 wurden bereits Hermann Rind (FDP) : Das ist im Grundsatz natürlich
7,6 Milliarden DM Einsparungen vorgenommen. richtig. Aber Sie müssen sehen, daß bei uns nur der-
jenige Steuern zahlt, der bereits ein gewisses Grund-
Diese Reihe, meine Kolleginnen und Kollegen, ließe
einkommen hat, das ihm ein wirklich annehmliches
sich noch fortsetzen.
Auskommen ermöglicht, so daß für ihn die Belastung
(Beifall des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ durchaus tragbar ist, auch wenn sie bei ihm prozen-
CSU]) tual natürlich stärker als bei demjenigen mit einem
Ich muß einfach dem Eindruck entgegentreten, hier hohen Einkommen wirkt. Aber man muß den Gesamt-
werde nichts getan. Man kann immer noch der Mei- bereich unserer Sozialausgleichsleistungen in die
nung sein, es werde zuwenig getan. Aber derjenige, Überlegungen einbeziehen, um zu sehen, daß soziale
der diesen Vorwurf erhebt, möge bitte konkret sagen, Ausgewogenheit gegeben ist.
wo er zusätzlich zu dem, was wir bereits beschlossen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1691
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rind, jetzt als es auch von den Verbänden immer wieder darge-
eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier. stellt wird. Wir werden uns — dies ist im Entschlie-
ßungsantrag enthalten — diesem Thema aber im
Hermann Rind (FDP): Bitte schön. Herbst zuwenden.
Dasselbe gilt für die Struktur der Tabaksteuer. Wir
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Rind, wollen hier entsprechende Mehreinnahmen für den
wollen Sie mir nicht darin zustimmen, daß eine Ergän- Staat erzielen, und die Tabaksteuerformel ist ein
zungsabgabe ohne Einkommensgrenze gerade für die Schlüssel für entsprechende Mehreinnahmen bei der
kleinen und mittleren Einkommen deswegen beson- Tabaksteuer. Ich füge hinzu, daß wir, wenn wir diese
ders hart ist, weil, wie wir, glaube ich, alle hier im Gesetze heute beschließen und falls sich in diesen bei-
Hause doch wissen, daß heute bereits das Existenzmi- den Bereichen noch Änderungen ergeben, daraus für
nimum besteuert wird mit der Folge, daß das Ganze, die Bürger keine Steuermehrbelastungen erwachsen
wenn ich darauf noch eine Ergänzungsabgabe ohne lassen wollen, sondern daß wir lediglich Verbesserun-
Einkommensgrenze packe, noch härter wird? gen in der Relation der Steuerbelastungen bzw. in der
Struktur vornehmen wollen.
Hermann Rind (FDP) : Frau Matthäus-Maier, wir
werden uns mit dem Thema Grundfreibetrag, das Sie Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rind, ge-
hier ansprechen, noch auseinanderzusetzen haben, statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von
nämlich mit der Definition des Grundfreibetrags. Ich Larcher?
bin der Meinung, daß wir in diesem Staat auch bei den
sozial Schwachen wirklich ein Einkommensniveau Hermann Rind (FDP): Das ist dann aber wirklich die
nach Steuern, nach Sozialabgaben oder bei steuer- letzte Zusatzfrage im Interesse der Kollegen, die auf
freien Bezügen aus der Arbeitslosenversicherung, So- die namentlichen Abstimmungen warten.
zialhilfe oder anderen Sozialtransfers erreicht haben, Herr Kollege.
-
bei dem man sich, wenn man an die Neugestaltung
des Grundfreibetrags herangeht, Gedanken machen Detlev von Larcher (SPD) : Herr Kollege Rind, haben
sollte und muß, wie denn die Leistungsfähigkeit des Sie wirklich kein Gefühl für die Ungerechtigkeit, die
Staates in der Relation zur Leistungsfähigkeit des ein- darin liegt, daß durch das Fehlen der Einkommens-
zelnen zu sehen ist. grenze bei der Ergänzungsabgabe die Geringverdie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nenden in den neuen Ländern zur Solidarität mit sich
Wir leben entgegen Ihren Aussagen nicht in einem selbst gezwungen werden?
Land, in dem derjenige, der sozial schwach ist, einfach (Wolfgang Mischnick [FDP]: Ihr wolltet ge
nicht das Notwendige zum Leben hat. Er hat ein wei- rade den Sonderfreibetrag abschaffen!)
tes Stück sozialer Sicherheit darüber hinaus. Dies muß
in die Gesamtüberlegungen einbezogen werden. Hermann Rind (FDP): Sie stellen den Antrag, den
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — steuerfreien Betrag von 600 DM und 1 200 DM abzu-
Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Solms schaffen; Sie ersetzen unseren Antrag durch einen
klatscht aber nicht! Der weiß, daß das nicht nicht finanzierbaren anderen. Anschließend sprechen
stimmt!) Sie von Solidarität mit diesen Ländern. Unser Freibe-
Nun, meine Damen und Herren, zurück zum Thema trag ist ein Zeichen der Solidarität mit diesen Ländern
Solidaritätszuschlag. Die von der SPD vorgeschlagene und den Menschen, die dort Steuern zahlen.
Ergänzungsabgabe für sogenannte Besserverdie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
nende, wäre wirtschafts- und wachstumspolitisch ver- Detlev von Larcher [SPD]: Ich habe von et-
fehlt. was ganz anderem gesprochen!)
(Widerspruch bei der SPD) Beim Abbau der Berlin- und Zonenrandförderung
— Ich will das gleich begründen. — Um das Einnah- ist hervorzuheben, daß mit Berlin und den betroffenen
menziel von 22 Milliarden DM in den beiden Jahren Bereichen im Zonenrandgebiet weitgehende Über-
1991 und 1992 zu erreichen, müßten etwa 1,5 Millio- einstimmung erzielt wurde. Diese betrifft beim Abbau
nen Menschen — das sind die Leistungsträger in allen der Berlin-Förderung zwar nur den Grundsatz und
Berufsschichten und -ständen — einen etwa 15%igen nicht den Zeitrahmen und das Tempo des Abbaus.
Zuschlag zahlen. Wer die hohe Steuerbelastung ge- Aber immerhin: Die Bereitschaft ist anzuerkennen.
rade in den mittleren und höheren Einkommenschich- Sicherlich wurde Berlin die prinzipielle Zustim-
ten kennt, der weiß, daß eine solche Zusatzbelastung mung zum Abbau der Berlin-Förderung dadurch er-
jegliche Leistungsbereitschaft töten würde. Ange- leichtert, daß es als sechstes neues Bundesland voll in
sichts der zeitlichen Befristung des Stabilitätszu- die Förderung der neuen Bundesländer einbezogen
schlags auf ein Jahr muß man auch akzeptieren, daß wird, also weitgehend auch West-Berlin. Wir von der
er auf alle Steuerzahler ausgedehnt wird und nicht auf FDP sind froh darüber, daß wir unsere Forderung, die
die sogenannten Besserverdienenden beschränkt Regelungen der alten §§ 14a und 14b des Berlinför-
wird. derungsgesetzes, d. h. Schnellabschreibungen im Be-
Beim Thema Mineralölsteuer möchte ich nur noch reich des Wohnungsbaus in das Fördergebietsgesetz,
auf das leichte Heizöl und das Erdgas hinweisen. Uns und zwar für Gesamt-Berlin, aufnehmen konnten.
macht Sorge, daß hier gerade für den mittelständi- Die Verbesserungen bei der Förderung des selbst-
schen Mineralölhandel Wettbewerbsverzerrungen genutzten Wohneigentums haben Herrn Reschke zu
eintreten können. Aber dieses Thema ist komplexer, recht interessanten Äußerungen bewegt. Ich will nicht
1692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hermann Rind
verschweigen — ich habe das schon in den ersten Ein- der betrieblichen Vermögensteuer — Investitionszu-
gangssätzen gesagt — , daß wir auch ein gewisses Un- schüsse und Investitionszulagen gibt es bereits — , ha-
behagen über die Möglichkeiten dieses Förderinstru- ben wir ein Förderinstrumentarium, das ca. 60 Pro-
mentariums empfinden und Änderungen durchaus zent der Investitionen erreichen kann. Dies ist, glaube
aufgeschlossen gegenüberstehen, die natürlich finan- ich, ein Förderinstrumentarium, das wir als voll aus-
zierbar und auch verfassungsrechtlich haltbar sein reichend bezeichnen können und, damit kein Atten-
müssen. Beim Abzugsbetrag, dem Förderbetrag, den tismus ausgelöst wird, auch als Endpunkt der Förder-
die SPD wünscht, gibt es gewisse Probleme; aber ich maßnahmen bezeichnen müssen. Wir müssen daran
will das nicht mehr vertiefen. nicht nur aus finanzpolitischen Gründen festhalten,
sondern auch damit die Investitionen endlich in ver-
Die Nichteinführung der betrieblichen Vermögen- stärktem Umfang in Gang gesetzt werden. Es tut sich
steuer in den neuen Bundesländern hat denselben
schon eine ganze Menge, aber wir hoffen, daß sich
Hintergrund wie die Nichteinführung der Gewerbe-
nach Verabschiedung dieser Gesetze noch wesentli-
kapitalsteuer. Jeder, der die Realität in der Finanzver- che weitere Investitionen von Unternehmen in den
waltung der neuen Länder kennt, weiß, daß es der
neuen Ländern ergeben.
Finanzverwaltung auf absehbare Zeit — dies ist nicht
nur ein Zeitraum von ein, zwei Jahren, wie die SPD
Zu der Forderung der SPD, neben den Sonderab-
hier ausgeführt hat, sondern dies ist ein Zeitraum von
schreibungen alternativ eine erhöhte Investitionszu-
mindestens fünf, sechs, sieben, acht Jahren — nicht
lage von 25 Prozent zu gewähren, sage ich noch ein-
möglich sein wird, die Einheitsbewertung des Be-
mal: Wir konnten dem aus mehreren Gründen nicht
triebsvermögens und damit die Grundlage für die Be-
nähertreten, nicht nur wegen der erheblichen Steuer-
steuerung zu schaffen.
ausfälle, sondern auch weil — das wurde erörtert und
Wir sehen auch — das sollte die SPD bei ihrer Kritik ist im Grunde genommen Allgemeingut der volkswirt-
an der Nichteinführung der Vermögensteuer in den schaftlichen Lehre — solche Zuschüsse, die generell
neuen Ländern beachten — , daß gerade die Großbe- gegeben werden, natürlich leicht zu Fehlinvestitionen
triebe, die ehemaligen volkseigenen Betriebe, durch- führen. Wir sind auch der Meinung, daß gerade mitt-
aus erhebliche Probleme mit der Vermögensteuer ha- lere und kleinere Unternehmen in den neuen Ländern
ben, ohne daß sie einen Pfennig Ertrag haben; sie sind darauf angewiesen sind, innerhalb des Zeitraums, in
in einer Situation, in der ihnen das Wasser bereits bis dem die Abschreibungen gewährt werden, nämlich
Oberkante Unterlippe steht. In dieser Lage müßten sie innerhalb von fünf Jahren, entsprechende Gewinne
noch die betriebliche Vermögensteuer erbringen, weil zu machen, so daß auch diese Betriebe durchaus in
ihre bewertungsrechtliche Vermögenssituation den Genuß der Sonderabschreibungen kommen. Sie
durchaus Vermögensteuer auslöst. Dieses Problem ist brauchen für ihre Investitionen eine mittelfristige Fi-
also nicht ein Problem von kleinen und mittleren Be- nanzplanung; dabei müssen Gewinne berücksichtigt
trieben. Gerade für die Gesamtwirtschaft in den werden, und damit kommen auch die Sonderabschrei-
neuen Ländern sind dies — neben Verwaltungspro- bungen zur Geltung. Auch diesen Betrieben wird also
blemen — sehr gewichtige Argumente. Gerade die geholfen.
Situation der Betriebe in den neuen Ländern macht
deutlich, wie arbeitsplatzvernichtend Steuern sind, Ein anderes Problem ist, daß viele kleinere und mitt-
die unabhängig vom Ertrag und damit von der Er- lere Betriebe und Existenzgründer in den neuen Län-
tragskraft der Unternehmen erhoben werden. dern zu geringes Eigenkapital haben. Dafür aber müs-
sen wir andere Instrumente einführen. Ich wiederhole
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
hier die Forderung, daß wir zu einer Verbesserung
der CDU/CSU) von Bürgschaftsprogrammen für mittlere und klei-
Meine Damen und Herren, bei dem geplanten Vor- nere Unternehmen in den neuen Ländern kommen
haben „Reform der Unternehmensbesteuerung" wol- müssen, damit sie sich am Kapitalmarkt den Kredit
len wir die Befreiung von der Gewerbekapitalsteuer verschaffen können, den sie für ihre Investitionen
und eine weitgehende Entlastung von der betriebli- brauchen. Die Erhöhung der Investitionszulage ist da-
chen Vermögensteuer auch auf Gesamtdeutschland für nicht das richtige Instrument.
ausdehnen. Wir wollen — dies sei hier noch einmal
angemerkt, weil es immer wieder unterschlagen wird (Beifall bei der FDP)
— dies in der ersten Stufe durch den Abbau von
Abschreibungsvergünstigungen aufkommensneutral Abschließend bleibt festzustellen, daß die FDP dem
gestalten. Diese Verlagerung von ertragsunabhängi- Steueränderungsgesetz lieber zustimmt als dem Soli-
gen Steuern hin zu Ertragsteuern ist eine erhebliche daritätsgesetz, aber auch letzterem ihre Zustimmung
Verbesserung der Struktur der Unternehmensbe- nicht verweigern wird. Dies geschieht unter der si-
steuerung und damit ein erster wichtiger Schritt auf cherlich nicht justiziablen, aber politisch intensiv ver-
dem Weg zu einer Reform der Unternehmensbesteue- folgten Forderung, daß noch in dieser Legislaturpe-
rung mit dem Ziel: Erhaltung und Sicherung von Ar- riode die Steuerlastquote begrenzt, die Struktur des
beitsplätzen im Binnenmarkt bei einem Wettbewerb Steuersystems verbessert und der Staatsanteil am
der Steuersysteme. Wirtschaftsgeschehen zurückgedrängt wird. Diese
Fortsetzung der erfolgreichen Finanz- und Steuerpoli-
(Beifall bei der FDP)
tik der 80er Jahre ist im Hinblick auf ein gesundes
Meine Damen und Herren, mit allen Maßnahmen, Wachstum unserer Volkswirtschaft im Binnenmarkt
die heute beschlossen werden, Sonderabschrei- der Europäischen Gemeinschaft nach unserer Ober-
bungen, Gewerbekapitalsteuerfreiheit, Freiheit von zeugung unverzichtbar.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1693
Hermann Rind
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Dabei gibt es meiner Meinung nach zwei Aspekte
der Wende, zum einen den sozialpolitischen Aspekt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und zum anderen den emotionalen Aspekt.
der CDU/CSU)
Der sozialpolitische Aspekt ist klar definierbar: Es
muß ein System von einer sozialistischen Planwirt-
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Abgeord- schaft zur Sozialen Marktwirtschaft mit all ihren Pro-
neten Elisabeth Grochtmann das Wort. blemen umgestellt werden. Das geht nicht von allein.
Hier müssen Maßnahmen greifen wie die, die heute
im Bundestag beschlossen werden sollen.
Elisabeth Grochtmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Investitionen werden erleichtert. Das ist gut und
Meine Damen und Herren Abgeordneten! richtig. Gemeinden in den neuen Bundesländern wer-
Die sozialistische Planung ist ein wesentliches den von der Gewerbesteuerumlage befreit. Es gibt
Charakteristikum der sozialistischen Gesell- besondere steuerliche Vergünstigungen für diejeni-
schaftsordnung und ihr entscheidender Vorzug. gen, die sich entscheiden, den Aufbau der Wirtschaft
Die Praxis der sozialistischen Planwirtschaft be- in den neuen Bundesländern zu fördern. Außerdem
weist durch die Stabilität der gesellschaftlichen nenne ich noch die Einführung bef risteter Sonderab-
und ökonomischen Entwicklung das Entwick- schreibungen sowie den Verzicht auf die Erhebung
lungstempo von Produktion, Arbeitsproduktivität der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer
und Lebensstandard, ihre historische Überlegen- ab 1991. Die genauen Regelungen, aber auch weitere
heit gegenüber der kapitalistischen Wirtschafts- Regelungen sind dem Gesetzentwurf zu entnehmen.
organisation. Die sozialistische Planwirtschaft ist Rechnet man alle Maßnahmen einmal zusammen,
eine wesentliche Voraussetzung, um die Grund- dann ergibt sich für 100 DM Investition eine Rücker-
frage „Wer wen?" zugunsten des Friedens, der stattung von fast 50 DM.
-
Demokratie und des Sozialismus zu entschei-
den. Natürlich kommt es nun darauf an, die Wirksamkeit
dieser Maßnahmen zu sichern, denn sowohl Investi-
An Ihren Mienen, meine sehr verehrten Damen und tionsförderungsmaßnahmen als auch Steuererhöhun-
Herren, sehe ich, daß Sie sich fragen, ob Sie auf der gen und der befristete Solidaritätszuschlag sind ja
richtigen Veranstaltung sind kein Selbstzweck, keine Laune der Politiker. Hier
(Zustimmung bei der SPD) geht es darum, die bisher wichtigste Aufgabe in der
jüngsten deutschen Geschichte zu lösen: die Einheit
und ob ich von der richtigen Fraktion komme.
Deutschlands nicht nur auf dem Papier, sondern auch
(Detlev von Larcher [SPD]: Was ist eine in Wirklichkeit zu schaffen.
„richtige Fraktion"?)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dem ist so. Aber mit diesem Zitat aus dem Wörterbuch
der Politischen Ökonomie des Sozialismus wollte ich Das, meine Damen und Herren, ist nicht nebenbei
Sie daran erinnern und nochmals darauf hinweisen, möglich. Hier sind große Kraftanstrengungen sowohl
wie die Grundlagen der Wirtschaft in der ehemaligen der alten als auch der neuen Bundesländer nötig. Eine
DDR verstanden wurden. marode sozialistische Wirtschaft wird nicht über
Über 40 Jahre waren diese Grundlagen Pflichtwis- Nacht hocheffektiv, modern und umweltfreundlich.
sen an allen Hochschulen und Universitäten. Die in Aber die Zeichen des Aufschwungs sind da — zaghaft
dem Zitat angesprochene Frage „Wer wen?" wurde nur, aber wer sie sehen will, kann sie auch sehen.
mit der Wende im Herbst 1989 endgültig entschieden,
vorbereitet aber schon in den Jahren zuvor. Die Ent- Das große Problem besteht nun natürlich da rin, daß
wicklung, der wir jetzt gegenüberstehen, geht rasant, im Rahmen der Umstrukturierung der Wirtschaft un
schnell vorwärts. Vor drei, selbst vor zwei Jahren hätte effektive Arbeitsplätze schneller abgebaut werden,
kaum jemand daran gedacht, daß die Mauer fallen als neue dazukommen. Es kommt jetzt darauf an, die-
würde, daß wir einmal ein einheitliches Deutschland sen Prozeß so sozial wie möglich zu gestalten. Dieje-
erleben würden. Im November 1989 wollten die Men- nigen, die dabei bewußt blockieren, sind fehl am
schen Freiheit, Demokratie und Einheit. Diese Ziele Platze, wie z. B. jener Geschäftsführer in meinem
sind nun erreicht. Sie sind sehr schnell Selbstver- Wahlkreis — früher aktiver SED-Funktionär — , der
ständlichkeit geworden, werden als Selbstverständ- bereits zwei interessierte Investoren abwies und sei-
lichkeit betrachtet und sind scheinbar nicht mehr der nen Mitarbeitern einen Maulkorb umhing mit den
Rede wert. Worten: Kohl und Blüm haben uns Arbeitsplätze ver-
sprochen. Die sollen mal machen; wir tun nichts.
Die Menschen im Ostteil unseres Landes hatte
40 Jahre lang vor Augen, wie Wirtschaft, wie Leben, (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
wie Demokratie aussehen kann. Mit viel Arbeit und
Fleiß ist es den Bürgern in den alten Bundesländern Ich fordere die Treuhand auf — hier bin ich mir der
gelungen, sich einen freiheitlichen Staat aufzubauen. Zustimmung meiner Kollegen aus den neuen Bundes-
Demgegenüber waren Initiative und Selbstbewußt- ländern gewiß —, daß für die Betriebe, die noch im
sein in der ehemaligen DDR verpönt. Die Menschen Besitz der Treuhand sind, die Geschäftsführerstellen
zogen sich in ein Nischendasein zurück, konnten sich neu auszuschreiben sind;
damit aber nie abfinden. Mit der Wende 1989 begann
ihr neues Leben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
1694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Elisabeth Grochtmann
denn das soeben angeführte Beispiel ist kein Einzel- Arbeitsmarktzahlen und Industrieproduktion spre-
fall. chen eine beredte Sprache. Schauen Sie sich die Zah-
(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr len einmal an, meine Herren.
wahr!) (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto
Der sozialpolitische Aspekt, den ich soeben ange- Solms [FDP]: Jetzt geht es aber los!)
sprochen habe, ist für sich gesehen schon kompliziert Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht absehbar.
genug. Der zweite Aspekt ist aber die teilweise schon Sinkenden Arbeitslosenzahlen in den alten Bundes-
erläuterte emotionale Seite. Wir haben die Mauer aus ländern stehen drastische Steigerungsraten in den
Stein beseitigt. Nun kommt es darauf an, die Mauer in neuen Bundesländern gegenüber,
den Köpfen der Menschen zu beseitigen. Menschen, (Uta Würfel [FDP]: Wer hat das zu verantwor
denen bisher fast jeder Schritt vorgeschrieben wurde, ten?)
sind plötzlich aufgefordert, allein zu entscheiden und
und das trotz der großen Zahl von Pendlern aus den
ihr Leben zu gestalten. Das ist es, was wir immer
neuen Bundesländern.
gewollt haben. Aber wenn die Anforderungen mit
einemmal so stehen, sind die Probleme riesengroß.
Alles bisher Gewohnte und Bekannte verändert sich. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hampel,
Die Sorge um den Arbeitsplatz steht im Mittelpunkt gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grün-
der Bemühungen. Genügend Arbeitsplätze werden beck?
ohne p ri vate Investoren nicht geschaffen werden kön-
nen. Deshalb appelliere ich an diese: Nutzen Sie die Manfred Hampel (SPD) : Ich bin beim letzten Mal auf
Gunst der Stunde, und investieren Sie in den neuen viele Zwischenfragen eingegangen und bin daraufhin
Bundesländern! So günstige begleitende Bedingun- mit meiner Redezeit in Schwierigkeiten gekommen.
gen, wie z. B. jetzt, werden Sie so schnell nicht wieder
vorfinden.
- Vizepräsident Hans Klein: Die Zeit wird Ihnen nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) angerechnet.
Vor den Kommunalpolitikern in Mecklenburg-Vor-
pommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und
Manfred Hampel (SPD): Ich will heute auf das Zu-
Sachsen-Anhalt steht die Aufgabe, den Weg durch
Investitionsbescheinigungen, Erschließung von Ge- lassen von Zwischenfragen verzichten und möchte
werbegebieten usw. für diese Investitionen freizuma- mit meiner Rede fertig werden.
chen. Jetzt ist Initiative gefragt. Die ersten Schritte (Zurufe von der CDU/CSU: Nicht kneifen!)
müssen von den Kommunen und ihren Verwaltungen Umgekehrt ist es bei der Industrieproduktion: Die
getan werden. Der Aufschwung muß an der Basis Wirtschaft in den alten Bundesländern boomt; in den
beginnen. Das finanzielle und gesetzliche Fundament neuen Bundesländern erleben wir laufend Zusam-
dafür hat die Bundesregierung mit ihren Maßnahmen menbrüche von Industriebetrieben.
der letzten Monate und dem heutigen Tag gelegt. Alte (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Woran liegt
und neue Bundesländer müssen zusammenwachsen. das denn?)
Ich bin überzeugt davon, daß es uns gelingt, gemein-
sam ein einiges und einheitliches Deutschland zu ge- Die Kluft zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung
stalten. im Westen und der im Osten Deutschlands ist tiefer
geworden.
Danke.
(Hermann Rind [FDP]: Überrascht Sie das?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Einer Minderheit von Bet ri eben, bei denen es klei-
nere Erfolge bei der Umstellung gegeben hat, steht
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- die Mehrheit der Bet ri ebe gegenüber, die mit der
ordnete Manfred Hampel. Umstrukturierung nicht vorankommen. Viele Be-
triebe fürchten um ihre Existenz. Die damit verbun-
dene Sorge um den Arbeitsplatz und Zukunftsangst
Manfred Hampel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr haben zu einer resignativen Grundstimmung geführt.
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Faltlhau- Das ist nicht etwa auf — ich zitiere sinngemäß —
ser hat uns heute früh erzählt, daß die CDU/CSU- beharrliches Madigmachen der Situation zurückzu-
Fraktion gestern abend ins Schwimmen gekommen führen, und es wurde auch nicht durch Herbeireden
ist — auf einem Dampfer in einer sehr angenehmen neuer Horrorszenen Sand ins wirtschaftliche Getriebe
Art, wie ich hoffe. Allerdings kann ich mich der Mei- gestreut, wie Herr Glos dies den Sozialdemokraten
nung von Herrn Dr. Solms nicht anschließen, daß der vorwarf;
derzeitige finanz- und steuerpolitische Schlingerkurs (Paul Breuer [CDU/CSU]: Sie tun das ja im
der Regierung nicht ganz Deutschland ins Schwim- mer noch! — Dr. Hermann Otto Solms [FDP]:
men bringt — auf eine weit weniger angenehme Sie wissen es doch! — Zuruf von der FDP:
Art. Merken Sie das nicht?)
Deutschland ist nach der politischen Einigung in der es ist vielmehr eine Tatsache, die Sie im Wochenbe-
wirtschaftlichen Entwicklung leider tiefer geteilt als in richt des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
Jahrzehnten zuvor. vom 3. Mai nachlesen können.
(Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU Die Entwicklung der letzten Monate hat bedauerli-
und der FDP) cherweise gezeigt, daß die sogenannten Horrorszena-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1695
Manfred Hampel
rien bisher von der Wirklichkeit noch stets überboten haupt nicht zu zahlen. Begünstigt werden durch die
wurden. Abschaffung in erster Linie Privatpersonen mit hohem
Kapitalvermögen und Kapitalgesellschaften mit ho-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr
hem Finanzvermögen, und zwar auch dann, wenn sie
Bundesfinanzminister Waigel hat kürzlich einen tref-
keine Investitionen tätigen.
fenden Vergleich gezogen. Er hat gesagt: Einen Ab-
grund kann man nur in einem Satz überspringen. Sehr (Beifall bei der SPD)
schön! Nur, leider stehen wir noch nicht mit beiden Eine besondere Dimension bekommt die Nichterhe-
Beinen fest auf der anderen Seite, sondern krallen uns bung der Vermögensteuer noch, wenn man sich vor
mit den Händen am Abgrund fest und hoffen hochzu- Augen führt, daß die Leute, die in der ehemaligen
kommen. DDR große Privatvermögen erwerben konnten, fast
immer von Partei und Regierung geschützte Schieber
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und Spekulanten sowie ehemalige SED-Bonzen wa-
Um mit dem Vergleich fortzufahren: Wir werden ren. Solche Leute werden durch dieses System auch
kräftig gefüttert, damit wir nicht die Kraft aus den Fin- noch belohnt.
gerspitzen verlieren und ganz abstürzen. Ein Hoch- Ihnen, meine Damen und Herren von der Regie-
ziehen mit beiden Händen wäre sicher wirkungsvol- rungskoalition, geht es ja in Wirk lichkeit nicht um den
ler. Aufbau in den neuen Ländern, sondern Sie wollen den
Auch das hochdotierte Gemeinschaftswerk Auf- bundesweiten Abbau dieser Steuern einleiten. Indem
schwung Ost läßt für Investitionen keine Perspektive Sie den Ländern und Kommunen mit diesen Maßnah-
erkennen. Die Mittel gehen überwiegend in den Kon- men die finanzielle Basis für Infrastrukturinvestitio-
sum. An massiven Anreizen für Investitionen und da- nen wegnehmen,
mit für die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplät- (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Also, der
zen im produktiven Bereich fehlt es. Mann tickt nicht mehr richtig! — Zuruf von
- warum
Die Bundesregierung sollte sich der Frage, der CDU/CSU: Das ist unerhört, was Sie da
Investitionen noch immer ausbleiben, dringend stel- reden!)
len und weniger auf die Selbstheilungskräfte des schaden Sie den neuen Ländern auf Dauer mehr, als
Marktes vertrauen. Davon hängt das wirtschaftliche Sie ihnen helfen.
Überleben eines erheblichen Teils der neuen, größe- (Beifall bei der SPD — Wilf ried Seibel [CDU/
ren Bundesrepublik ab. CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
(Beifall bei der SPD) — Ich möchte bitten, auf Zwischenfragen zu verzich-
ten; ich habe nur noch sechs Minuten. Vielleicht kön-
Welche Antworten hat die Bundesregierung auf nen Sie die Zwischenfrage am Schluß stellen, wenn
diese Herausforderung? Ein Solidaritäts- und ein noch Zeit übrig ist.
Steueränderungsgesetz. Einem ehemaligen DDR-
Bürger dreht sich schon bei dem Wort „Solidarität"
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, die Zwi-
der Magen um,
schenfragen und die Antworten werden grundsätzlich
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ihr Pro von der Redezeit abgezogen. Also, darüber brauchen
blem!) Sie sich keine Sorgen zu machen.
weil es in der Vergangenheit zu allem Möglichen miß-
braucht wurde, nur nicht um Solidarität zu praktizie- Manfred Hampel (SPD): Na gut, dann gestatte ich
ren. Ähnliches gilt für dieses Gesetz. Solidarität kann eine Zwischenfrage.
es nur in einer Richtung geben: vom Starken zum
Schwachen. Wilfried Seibel (CDU/CSU): Herr Kollege, ich
Nach den Plänen der Bundesregierung sollen durch möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen kön-
den Solidaritätszuschlag mehr als 70 % der erwerbstä- nen und wollen, daß die hiermit eingetriebenen Steu-
tigen Ossis Solidarität mit sich selbst üben. ern ganz konkrete Verwendungszwecke haben, und
wie Sie vor diesem Hintergrund, wenn Sie das so ein-
(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Das ist doch räumen und nachvollziehen können, sagen können,
Unsinn! Man sollte Sie mal ins Seminar uns gehe es gar nicht um den Aufbau in den neuen
schicken!) Bundesländern?
So ist zumindest der Beg riff falsch gewählt, um es vor-
sichtig auszudrücken. Manfred Hampel (SPD): Die konkreten Verwen-
dungszwecke dieser Steuern sind die eine Seite. Wem
Ich möchte mich auf die in dem Gesetzespaket vor- sie letztendlich zufließen und wie sie schließlich ver-
gesehenen Hilfen zur Förderung von Investitionen in wendet werden, ist sicher die andere Seite.
den neuen Bundesländern konzentrieren. Dabei muß
ich zunächst feststellen, daß die vorgesehene Nichter- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP —
hebung der Vermögensteuer und der Gewerbekapi- Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Was soll
talsteuer tatsächlich keine Förderung von Investitio- denn das heißen?)
nen darstellt. Welcher Bet rieb in den neuen Bundes- Ich habe seit Wochen und Monaten in meinem Wahl-
ländern hat denn nach Abzug der Schulden ein so kreis immer wieder nachgefragt: Wo bleiben die Gel-
hohes Nettovermögen, daß er trotz der Freibeträge der aus dem Fonds Deutsche Einheit, die bereits im
diese Steuern zahlen müßte? Die im Aufbau befindli- Februar überwiesen werden sollten? Bis heute sind
chen Betriebe brauchen doch diese Steuern über die Kommunen nicht in der Lage, diese Gelder zu ver-
1696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Manfred Hampel
wenden, weil sie ihnen nicht zur Verfügung gestellt tionen sollen nur durch Sonderabschreibungen, nicht
wurden. aber durch Investitionszulagen gefördert werden. Je-
dem, der den Zustand unserer Betriebe kennt, dürfte
(Paul Breuer [CDU/CSU]: Reden Sie doch
klar sein, daß man moderne Maschinen und Anlagen
nicht so dummes Zeug! — Weiterer Zuruf von
nicht in Gebäude setzen kann, die erst durch Um- und
der CDU/CSU: Wofür sind Sie denn gewählt
Ausbau wieder betriebsfähig gemacht werden müs-
worden?)
sen.
— Das hat doch etwas mit der Landesregierung zu tun. Gestatten Sie mir einen Satz zum Stichwort ,,Atten-
— Ich möchte jetzt aber fortfahren. tismus", das Herr Dr. Solms anführte: Nicht unsere
(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Was haben Sie Vorschläge führen dazu; denn Ihnen dürfte klar sein,
denn getan, um das zu verbessern, Herr Kol- daß beide rückwirkend ab 1. Januar 1991 wirken wür-
lege? Herr Hampel, was haben Sie als ge- den. Was vielmehr dazu geführt hat, sind die Konzep-
wählter Abgeordneter gemacht, um diesen tionslosigkeit und die abwartende Haltung der Bun-
Zustand zu verbessern? — Weiterer Zuruf desregierung. Das ist das, was in der Wahrheit zum
von der CDU/CSU: Nichts habt ihr getan!) Attentismus geführt hat!
— Was ist denn das jetzt für eine Frage, Herr Ul- (Beifall bei der der SPD)
dall? Sie hätten doch bereits ab März letzten Jahres Kon-
Aber auch die von Ihnen vorgeschlagene direkte zeptionen erarbeiten können und diese spätestens ab
Förderung durch die Mischung von Investitionszulage 1. Juli oder 3. Oktober 1990 einführen können. Diese
und Sonderabschreibungen hilft den Betrieben in den Zeit zumindest ist verstrichen.
neuen Ländern wenig. Wir Sozialdemokraten halten (Zustimmung bei der SPD)
eine Erhöhung der Investitionszulage von derzeit
12 % auf 25 % für dringend geboten. Mit dem heute von uns vorgelegten Änderungsan-
- trag schlagen wir eine wirksame Investitionsförde-
(Zuruf von der FDP: Wo wollen Sie das Geld rung vor, die sowohl den investitionswilligen, finanz-
hernehmen?) starken westdeutschen Unternehmen als auch den im
Hierdurch würden private betriebliche Investitionen Aufbau befindlichen ortsansässigen Unternehmen
in den neuen Ländern vor allem im mittelständischen hilft.
Bereich wirksam unterstützt. Eine direkte Investi- Förderprogramme, auf die in diesem Zusammen-
tionszulage als ein direkter finanzieller Zuschuß zu hang verwiesen wird, sind kein äquivalenter Ersatz.
einer Investition wirkt auch dann, wenn die Unterneh- Erstens besteht auf Fördermittel kein Rechtsanspruch,
men anfangs keine Gewinne erwirtschaften. und zweitens vergeht durch lange Bearbeitungswege
Dagegen nützt die im Gesetzentwurf vorgesehene viel Zeit, bis die Investition überhaupt begonnen wer-
50%ige Sonderabschreibung den ortsansässigen In- den kann. Zeit ist aber das, was wir am wenigsten
vestoren so gut wie nicht, weil die Sonderabschrei- haben.
bungen erst dann greifen, wenn Gewinne erwirtschaf- Ich bitte Sie daher, meine Damen und Herren von
tet werden. Die Bundesregierung selbst geht bei ihrer der Regierungskoalition, und insbesondere Sie, liebe
Ausfallschätzung davon aus, daß nur 40 % der Unter- Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundeslän-
nehmen, die in den neuen Ländern Investitionen täti- dern: Verschließen Sie sich nicht den besseren Ein-
gen, Gewinne erwirtschaften und damit die Sonder- sichten und helfen Sie den Menschen, indem Sie über
abschreibungen nutzen können. Hierbei handelt es Ihren parteipolitischen Schatten springen und unse-
sich fast ausschließlich um westdeutsche Unterneh- rem Änderungsantrag zur Investitionszulage in der
men. Damit erleiden die Unternehmen in den ostdeut- namentlichen Abstimmung zustimmen!
schen Ländern, die die Sonderabschreibung nicht Schönen Dank.
nutzen können und somit eine geringere Förderung
als die gewinnstarken westdeutschen Bet riebe erhal- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
ten, einen weiteren Wettbewerbsnachteil. dem Bündnis 90/GRÜNE)
Nach unserer Auffassung sollten daher die Bet riebe
eine auf 25 % erhöhte Investitionszulage erhalten,
wenn ihnen die Sonderabschreibung nichts nützt. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge-
Hierdurch würden die Unternehmen auch eine grö- ordnete Hansgeorg Hauser.
ßere Sicherheit bei der Planung der Finanzierung von
Investitionen erhalten.
Das ist eine Meinung, mit der wir Sozialdemokraten
nicht allein stehen. Auch die Herren Professoren Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU):
Schneider und Hedtkamp haben in der Anhörung vor Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
dem Finanzausschuß diese Auffassung vertreten. Eine ren! Ich bin gespannt, wann die Frau Kollegin Mat-
ähnliche Auffassung wurde vom Verband deutscher thäus-Maier — sie ist jetzt leider nicht im Saal —
Reeder in der Stellungnahme im Finanzausschuß ge- (Joachim Poß [SPD]: Sie war aber die ganze
äußert. Zeit über im Saal!)
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz- endlich mit dem unwürdigen Schauspiel aufhört, im
entwurf ist auch hinsichtlich der Förderung von Ge- Osten zu fordern „Tischlein, deck dich", im Westen zu
bäudeinvestitionen unzureichend. Gebäudeinvesti rufen „Goldesel, streck dich" und hier an dieser Stelle
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1697
Ina Albowitz
Innerhalb der Bundesrepublik droht die Bela- Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 4,
stung der öffentlichen Haushalte und der Unter- den ich hiermit aufrufe:
nehmen das tragbare Maß zu überschreiten —
wenn nicht in bisher unvorstellbarem Umfang Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Einsparmöglichkeiten in anderen Bereichen ... Gesetzes zur Änderung wohngeldrechtlicher
konsequent genutzt werden. Vorschriften
— Artikel 5 und 6 aus Drucksachen 12/221,
Dem, meine Damen und Herren, ist nichts hinzuzufü-
12/401 —
gen.
Lassen Sie mich zum Schluß bei dieser Gelegenheit a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-
auch ein langsam wirklich unerfreuliches Thema an- schusses für Raumordnung, Bauwesen und
schneiden, nämlich das der immer wiederkehrenden Städtebau (19. Ausschuß)
Forderung nach zusätzlichen Mitteln durch den säch- — Drucksache 12/495 —
sischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf. Berichterstatter:
(Zurufe von der FDP: Richtig!) Abgeordnete Siegf ri ed Scheffler
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Wer sich in Kenntnis der umfangreichen Hilfe für die
ehemalige DDR mit ständig neuen Mehranforderun- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
gen zu profilieren versucht, belastet das Klima und schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
erzeugt bei Bürgern und Wirtschaft Unsicherheit. Be- — Drucksache 12/568 —
reits mit dem Abschluß des Bundeshaushaltes 1990
Berichterstatter:
haben wir feststellen müssen — und Sie wissen das
alle —, daß Fördermittel in Milliardenhöhe nicht ab- Abgeordnete Jochen Borchert
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
geflossen sind. Das liegt daran, daß Verwaltungen
bzw. Institutionen noch nicht so arbeitsfähig sind, wie Dr. Nils Diederich (Berlin)
wir uns das wünschen. Aber der tägliche Ruf nach (Erste Beratung 13. und 23. Sitzung)
zusätzlichen Mitteln führt dazu, daß die Opferbereit- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
schaft und die Solidarität der Bürger in den alten Bun- SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist
desländern nicht gerade zunehmen. Biedenkopf redet für die Aussprache wiederum eine halbe Stunde vor-
künstlich einen Gegensatz zwischen alten und neuen gesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe
Bundesländern herbei. und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
(Uwe Lambinus [SPD]: Unmöglich!) schlossen.
Wir sollten endlich mit dem Jammern aufhören und Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge-
statt dessen die vor uns liegenden Probleme zügig und ordnete Dietmar Kansy.
motiviert anfassen.
Die FDP-Fraktion gibt dem Haushaltsbegleitgesetz
ihre Zustimmung.
Ich danke Ihnen. Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU) : Herr Präsi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die abschlie-
ßende Beratung des Wohngeldsondergesetzes hier im
Berliner Reichstagsgebäude hat, meine ich, fast sym-
Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- bolischen Charakter. Hier in Berlin, wo nach der Wie-
che. dervereinigung Ost und West am unmittelbarsten mit-
einander verwoben sind, schließen wir die Beratung
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung eines Gesetzes ab, das beispielhaft dafür ist, wie wir
über den Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 1991 die schwierigen Jahre des Zusammenwachsens ge-
auf den Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461 und meinsam meistern können.
12/581. Ich rufe Artikel 1 bis 10, Einleitung und Über-
schrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgeru- Wie stellt sich die Situation dar? Mit Mieten im Be-
fenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte reich der früheren DDR, deren Höhe noch aus der Hit-
ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — ler-Zeit stammt, wollte man eine besonders soziale
Wer enthält sich der Stimme? — Die aufgerufenen Wohnungspolitik machen. Das Ergebnis war: verfalle-
Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite ner Wohnraum in Millionenhöhe, zerstörte Innen-
Beratung abgeschlossen. städte, kein Geld für Modernisierung, umweltfeindli-
Wir treten in die che Heizungssysteme, Wohnungsnot. Würde man
ausschließlich nach den Gesetzen der Marktwirt-
dritte Beratung schaft gehen, müßte man die Mieten zügig wenig-
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem stens auf kostendeckende Beträge erhöhen, um den
Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, Verfall zu stoppen und auch Neubau zu ermögli-
sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthal- chen.
tungen? — Aber wir haben in der Bundesrepublik Deutschland
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koali- eben nicht einen Laissez-faire-Kapitalismus, sondern
tionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Ent- wir haben Soziale Marktwirtschaft. Vor diesem Hin-
haltung der Stimmen der Gruppen PDS/Linke Liste tergrund wäre eine Mietanpassung auf westliches Ni-
und Bündnis 90/GRÜNE angenommen. veau, wobei im Westen im übrigen auch gesetzliche
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1709
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Begrenzungen vorhanden sind, von vornherein nicht Rentnerin wird einen erheblichen Teil ihrer Miete
möglich gewesen. über dieses Sonderwohngeld bekommen.
Die Mietverordnungen, die die Bundesregierung Auf der anderen Seite: Ein Maurer aus Potsdam,
zusammen mit dem Bundesrat dazu erläßt und die hier in der Nachbarschaft, der im früheren West-Ber-
heute nicht Bestandteil dieses Gesetzes sind, tragen lin arbeitet und genausoviel wie sein Kollege aus
diesem Gesichtspunkt bereits Rechnung. Wenn sie Schöneberg verdient, kann nicht erwarten, daß dieser
nunmehr insbesondere auf Wunsch der ostdeutschen Kollege ihm die wesentlich billigere Miete in Potsdam
Bundesländer zum 1. Oktober dieses Jahres in Kraft aus seinen Steuermitteln finanziert. Auch dies ist ein
treten, liegen sie weiterhin erheblich unter westdeut- Stück Gerechtigkeit.
schem Niveau. Sie sind die unterste Grenze dessen,
Wir haben dieses Sonderwohngeld so geschaffen,
was notwendig ist, um den Wohnraum in Ostdeutsch-
daß, im Vergleich zur Bevölkerung von Westdeutsch-
land zu erhalten. Doch selbst diese, gemessen an den
ökonomischen Notwendigkeiten immer noch nicht land, die unter Berücksichtigung des Wohngeldes im
ausreichende Mieterhöhungsmöglichkeit würde ei- Westen gut 20 % ihres Monatseinkommens für die
nen Teil der Menschen in den neuen Bundesländern Bruttokaltmiete ausgibt, die Familien in den ostdeut-
überfordern. schen Bundesländern auf Grund dieses Wohngeldes
im Schnitt etwa 10 % ihres Einkommens für die Brut-
Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, daß die Mie- tokaltmiete werden ausgeben müssen.
ten entsprechend den Einkommens- und Rentenstei-
gerungen schrittweise an westdeutsches Niveau her- Dies sind die Idee und die Leitlinie dieses Wohn-
angeführt werden sollen. Dies heißt übrigens wegen geldsondergesetzes.
der unterschiedlichen Qualität der Wohnungen auch Entsprechend den Anregungen des Bundesrats, ins-
nicht, daß sie unbedingt westdeutsches Niveau errei- besondere der ostdeutschen Bundesländer, wird in
chen sollen und werden. Ziel unserer Politik, Ziel auch diesem neuen Wohngeldrecht-Ost eine gegenüber er-
des Gesetzentwurfs, den ich hier für die CDU/CSU- sten Vorstellungen der Koalition wesentlich verein-
Fraktion vertrete, ist es, entsprechend den Schritt für fachte Regelung vorgesehen. Abweichend von dem
Schritt steigenden Einkommen und Renten im Bereich westdeutschen Wohngeld werden auch Sonderrege-
der neuen Bundesländer den Anteil des monatlichen lungen über die Berücksichtigung von Heizungs- und
Familieneinkommens für das Wohnen ebenfalls Warmwasserkosten getroffen, da die Mieter in den
Schritt für Schritt zu erhöhen. neuen Bundesländern zumindest heute sehr oft noch
Angesichts der bereits heute sehr unterschiedlichen keinen Einfluß darauf haben, wie hoch der Wasser-
und der Energieverbrauch sind.
Einkommensentwicklung in den neuen Bundeslän-
dern, sei es durch unterschiedliche Tarifverträge, die Die vereinfachte Regelung berücksichtigt auch die
ja teils schon bei 70 % und teils noch bei 35 To sind, sei inzwischen vom Bundesrat beschlossene Begrenzung
es durch vorübergehende Arbeitslosigkeit, sei es der umlagefähigen Kosten für Heizung und Warm-
durch Arbeitsverhältnisse Hunderttausender zwi- wasser auf 3 DM statt 2 DM je qm Wohnfläche und
schen Ost und West pendelnder Arbeitnehmer, und Monat.
auf Grund vieler anderer Faktoren ist es nicht mög-
lich, dies so zu tun, daß man für den gesamten Woh- Vor allen Dingen, meine lieben Kolleginnen und
nungsbestand der ehemaligen DDR oder für gewisse Kollegen: Mit der schnellen Verabschiedung des Ge-
räumliche Bereiche gleichermaßen verfährt. setzes am heutigen Tag und in wenigen Tagen im
Bundesrat ist außerdem die Gewähr dafür gegeben,
Wir haben deswegen auf ein bewährtes Instrument daß in den ostdeutschen Ländern und Gemeinden
zurückgegriffen, das schon in der alten Bundesrepu- ausreichend Zeit vorhanden ist, sich auf die Auszah-
blik dazu diente, persönliche Überforderung durch zu lung dieses Wohngelds vorzubereiten.
hohe Mieten individuell zu verhindern. Es ist die Idee
des Wohngelds. Dieses ist keine erweiterte Sozial- Zum Abschluß zwei Bitten: Die erste Bitte geht an
hilfe, sondern im Gegensatz zu der in der früheren die westdeutsche Bevölkerung: Haben Sie Verständ-
DDR praktizierten flächendeckenden Subventionie- nis für dieses Gesetz, auch für die Kosten, die damit
rung von Wohnraum eine individuelle Subventionie- verbunden sind! Denn die Menschen in Ostdeutsch-
rung des Wohnens. land haben in anderen Lebensbereichen schon erheb-
liche Nachteile; neben den Kosten des Wohnens gibt
Wir sind der Auffassung, daß das Wohngeld glei- es ja auch noch die Kosten der Unterhaltung, der Er-
chermaßen die gerechte Behandlung der betroffenen nährung, der Kleidung, der Post, der Bahn usw., die
Mieter in den neuen Bundesländern ermöglicht, aber wesentlich schneller gestiegen sind als die Einkom-
auch die Legitimation für viele Familien in den alten men und die Renten in der ehemaligen DDR. Haben
Bundesländern ist, die heute wesentlich höhere Mie- Sie also Verständnis, wenn wir diese Sonderregelung
ten bezahlen und über Milliarden von Steuermitteln treffen!
— wir werden allein für das Wohngeld-Ost im näch-
sten Jahr ungefähr 3 Milliarden DM aufwenden müs- Meine Bitte an die Bevölkerung in den neuen Bun-
sen — dieses Wohngeld mitfinanzieren. desländern: Haben Sie Vertrauen zu dieser Lösung,
die die Kombination darstellt zwischen begrenztem
Das heißt in der Praxis z. B.: Eine Rentnerin aus Mietanstieg und Sonderwohngeld! Wir werden die
Leipzig mit 600 DM Monatseinkommen hat Anspruch Bundesregierung, aber auch die Fraktionen in den
auf Solidarität aller Deutschen in Ost und West, wenn nächsten Wochen bis in jeden Haushalt hinein aus-
sie die zur Erhaltung dieser Wohnung dringend not- führlich informieren, damit Sie in der Lage sind, mit
wendigen Mieterhöhungen nicht tragen kann. Diese diesem Gesetz zu arbeiten. Ich bin sicher, daß wir eine
1710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der stens die Einkommensermittlung stark vereinfacht,
Kollege Dr. Walter Hitschler. zweitens die für die Bewilligung maßgebenden Vor-
schriften reduziert, drittens die Ermittlung der Miete
Dr. Walter Hitschler (FDP): Frau Präsidentin! Meine oder Belastung durch den Wegfall zahlreicher Bestim-
sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Ge- mungen entkompliziert, die Anwendung zahlreicher
fühl, daß der Kollege Scheffler die Fristen bezüglich Verwaltungsvorschriften ausgesetzt, die Antragsfor-
des Wohngeldsondergesetzes etwas durcheinander mulare vereinfacht und die Zahl der Wohngeldtabel-
gebracht hat und bei seiner Aufzählung etwas durch- len auf fünf reduziert.
einandergeraten ist. Das geht sogar soweit, daß die Obschon die Wohngeldstellen in der Tat zahlreiche
Daten in dem schriftlich vorgelegten Antrag nicht Anträge zu bearbeiten haben werden, wäre es ange-
stimmig sind. Es gibt beispielsweise Differenzen zwi- sichts dieses vereinfachten Verfahrens nach unserer
schen den Angaben im Antrag und in der Begrün- Auffassung möglich gewesen, die Regelung zum
dung. 1. August 1991 in Kraft zu setzen. Der Bundesrat hat
Mit der heute abschließenden Zustimmung zu ei- sich bedauerlicherweise für den Weg des geringsten
nem Wohngeldsondergesetz für das Beitrittsgebiet Widerstandes und ein Inkrafttreten erst zum 1. Okto-
werden die durch die Grundmieten- und Betriebsko- ber 1991 entschieden. Mit dieser Entscheidung scha-
stenverordnungen eingeleiteten Anpassungen des den die Ministerpräsidenten der Bauwirtschaft in den
bisherigen Mietunwesens der DDR durch eine Rege- neuen Bundesländern, denn die spätere Mietanhe-
lung ergänzt, die die erforderlichen Mietanhebungen bung wird zu erheblichen Verzögerungen bei der Mo-
durch eine verwaltungstechnisch einfache und groß- dernisierung und Instandsetzung des Wohnbestandes
zügige Subjektförderung abmildert. Damit wird auch führen. Die Länder belasten mit diesen Entscheidun-
das Wohngeld in den neuen Bundesländern zu einem gen im übrigen ihre eigenen Haushalte, da mit etwa
zentralen wohnungspolitischen Inst rument zur all- 3 Milliarden DM notwendigen Mietsubventionen ge-
mählichen Heranführung des Mietensystems an ein rechnet werden muß.
realistisches Marktniveau und zum zentralen
- Instru- Die Ministerpräsidenten müssen sich darüber im
ment der sozialen Abfederung der Wohnkostenbela- klaren sein, daß der Bund nicht auch noch für diese
stung. Seine Geltung ist für einen Übergangszeitraum selbstverschuldeten Haushaltsbelastungen etwa Aus-
bis zum 1. Januar 1995 vorgesehen, um die im Eini- gleichsleistungen vornimmt. Das verantworten die
gungsvertrag vorgesehene Überleitung der Mietbela- Länder selbst und haben es daher auch aus ihrem
stung entsprechend der Einkommensentwicklung ge- eigenen Portefeuille zu tragen.
stalten zu können. Danach gilt gemeinsames Wohn-
Das Wohngeldsondergesetz macht die den Mietern
geldrecht.
entstehenden Kosten für Heizung und Warmwasser
In einem ersten Schritt wird dann der Anteil der durch Berücksichtigung pauschaler Zuschläge je
Wohnkosten auf einen Satz zwischen 8 und 12 % des nach Heizungsart bis zu 3 DM pro Quadratmeter
Einkommens begrenzt. In weiteren Anpassungs- Wohnfläche wohngeldfähig. Dies erscheint als Über-
schritten wird das Belastungsniveau entsprechend der gangslösung insoweit vertretbar und erforderlich, als
Einkommensentwicklung in den nächsten Jahren bis viele Mieter keinen Einfluß auf die Kostenbelastung
zur Angleichung 1995 an unser Niveau angehoben. haben, da sie vielfach keine Regulierungsmöglichkeit
haben.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
Hitschler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- Inhaltlich gibt es über die Detailregelungen dieses
ordneten Seifert? Gesetzentwurfs kaum einen Dissens. Es war daher
richtig, die wohngeldrechtlichen Änderungen aus
Dr. Walter Hitschler (FDP): Ja, bitte. dem Haushaltsbegleitgesetz auszuklammern, um ein
eventuelles Vermittlungsverfahren zu vermeiden. Al-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege lein die Geltungsdauer und diverse Fristen nimmt die
Seifert. Opposition zum Anlaß, den Gesetzentwurf zu kritisie-
ren. Die Öffentlichkeit aber sollte wissen, daß die So-
Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Kollege Hitschler, zialdemokraten den Mietern auch die Umlage der In-
stimmen Sie mir darin zu, daß bei einer Anhebung standsetzungekosten aufbürden und sie damit noch
von, wie Sie sagen, 8 bis 12 % wiede ru m die niedrig- stärker belasten wollten. Die Koalition hingegen hat
sten Einkommen am stärksten belastet sind? sich an ihr Versprechen aus den Koalitionsverhand-
lungen gehalten, den Anteil der Wohnkosten am Ein-
Dr. Walter Hitschler (FDP): 8 bis 12 % gilt für alle kommen einkommensschwächerer Familien im ersten
Einkommen gleichermaßen. Jahr durchschnittlich nicht über 10 % steigen zu las-
(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist ja sen.
der Durchschnitt!) Mit diesem Gesetzentwurf halten wir unser Ver-
— Ja, eben. 8 % ist von 1 000 DM 8 % wie von sprechen ein. Wir erbitten daher Ihre Zustimmung.
10 000 DM; da kann ich keinen Unterschied erken- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nen.
Es ist deshalb erforderlich, daß die neue Wohngeld-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
regelung nicht nur zum gleichen Zeitpunkt wie die
Kollege Dr. Ilja Seifert.
Mietanhebung in Kraft tritt, sondern auch für Mieter
wie Vermieter effektiv wirksam wird. Dem tragen ins-
besondere die erheblich vereinfachten Rechts- und Dr. Ilja Seife rt (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!
Verwaltungsvorschriften Rechnung. Es wurden er Meine Damen und Herren! Ich bin dafür, das Kind
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1713
Die Regierungskoalition setzt sich für einen Mini- Zur gesamtdeutschen Verfassung sagen Sie: Wir
Verfassungsausschuß ein. Nur 16 Mitgliedern des haben schon eine gesamtdeutsche Verfassung, näm-
Deutschen Bundestages wollen Sie den Zugang zu lich das Grundgesetz; das Grundgesetz ist diese ge-
der Erarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung samtdeutsche Verfassung; wir wollen höchstens hie
erlauben. Wir machen das nicht mit, übrigens schon und da eine kleine Änderung haben; darüber lassen
wegen der Zahl nicht. Nochmals: Wir machen das wir mit uns reden, und dann hat es sich.
nicht mit, nicht nur wegen der Begrenzung auf Abge- Ich sage Ihnen: Das reicht uns nicht; denn das
ordnete — das sollten wir auch nicht tun — , sondern Grundgesetz — das ist völlig richtig; das sage ich
auch wegen der geringen Zahl der Mitglieder. Ich heute nicht zum erstenmal — hat sich als Verfassung
weiß nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen von für die alte Bundesrepublik bewährt. Es ist eine Ver-
der FDP und der Union, ob Sie sich überlegt haben, fassung, mit der wir in der Alt-Bundesrepublik gut
was Sie damit tun. Damit erklären Sie -Kollegen wie gefahren sind. Nur nebenbei: Es war nie sakrosankt;
Herrn Ullmann oder Herrn Weiß, daß sie nicht berech- es war auch offen für Änderungen. Das zeigen schon
tigt sein sollen, aus eigenem Recht Mitglieder dieses die 36 Änderungen der vergangenen 41 Jahre. Es war
Ausschusses zu werden. Wollen Sie das wirklich? Sind übrigens auch offen für die Präzisierung und für die
Sie wirkli ch der Auffassung, wir könnten über eine Weiterentwicklung der in ihm angelegten Staatsziele
gesamtdeutsche Verfassung für das geeinte Deutsch- und auch Bürgerrechte in einer Welt, die sich ständig
land auch nur reden, wenn wir diesen Kollegen be- wandelt. Hier hat sich das Bundesverfassungsgericht
scheinigen, sie hätten in einer solchen Kommission, in mit seiner Rechtsprechung bleibende Verdienste er-
einem solchen Ausschuß nichts zu suchen? Ich denke, worben.
das darf nicht wahr sein, und erkläre Ihnen hier noch-
mals deutlich: Wir machen das nicht mit. Wir sagen: Das Grundgesetz war als Verfassung des
Provisoriums Bundesrepublik gedacht, also des west-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ lichen Teils unseres Landes. Es war gedacht, bis zur
GRÜNE) Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zu
gelten. Dann — so hat es übrigens auch das Grundge-
Ich will eine zweite Verfahrensfrage ansprechen. setz selber angelegt — sollte das deutsche Volk in
Wir schlagen vor, die gesamtdeutsche Verfassung freier Selbstbestimmung seine eigene neue Verfas-
— nach Abstimmung, wie gesagt, im Bundestag und sung beschließen.
Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit — in einer Diese staatliche Einheit ist nun vollzogen. Viele von
Volksabstimmung allen Bürgerinnen und Bürgern un- Ihnen meinen nun, die freie Selbstbestimmung des
seres Landes zur Entscheidung zu unterbreiten. Sie Volkes bei der Schaffung einer neuen Verfassung sei
haben Skepsis auch gegenüber diesem Vorschlag ge- schon erfüllt; sie sei erfüllt, weil die staatliche Einheit
äußert. Ich hoffe, wir können Sie davon überzeugen, auf dem Weg des Art. 23 vollzogen worden sei,
daß wir auch in diesem Punkt recht haben. Gerade der schließlich habe die DDR den Beitritt zur Bundesrepu-
Weg, daß sich Bürgerinnen und Bürger aus ganz blik erklärt, und schließlich gelte das Grundgesetz
Deutschland an der Abstimmung über ihre eigene jetzt auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Verfassung beteiligen können, interessiert die Bürger.
Sie wollen abstimmen. Diese Frage interessiert sie Wir sagen: Das ist teilweise richtig. Das Grundge-
ebenso wie die vielen inhaltlichen Fragen, um die es setz gilt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in der
in der Diskussion gehen wird: beispielsweise ob es ein Modifikation, die wir mit dem Einigungsvertrag be-
Recht auf Arbeit durch Konkretisierung des Sozial- schlossen haben. Dennoch — das ist, glaube ich, au-
staatsgebots geben soll, wie wir es vorschlagen; ob wir ßerordentlich wichtig — ist es nicht die gesamtdeut-
— gemeinsam, denn Verfassungsfragen sind in der sche Verfassung, von der das Grundgesetz ausgegan-
Abstimmung letztlich Konsensfragen — mehr Bürger- gen ist.
beteiligung auch auf Bundesebene einführen können; (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
wie es mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer GRÜNE)
steht, die mit ihren Familien schon lange in der Bun-
desrepublik wohnen; oder wie wir es mit dem Staats- Wir sagen: In diese gesamtdeutsche Verfassung ge-
ziel Umweltschutz halten, mit der Bekräftigung des hört mehr: eben eine breite und öffentliche Diskus-
Grundsatzes der Friedensfähigkeit und der Friedens- sion, die vor allen Dingen den Menschen in den neuen
bereitschaft im geeinten Deutschland durch Verzicht Ländern die Chance gibt, eigene Erfahrungen zu arti-
etwa auf die Herstellung und auf die Lagerung atoma kulieren, ihre Erfahrungen der vergangenen Jahr-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1717
änderung und Ergänzung unserer Verfassung klar- arbeitung der Vorschläge, die zur Modernisierung
stellen müssen. Besonders muß klargestellt werden, — und ich sage sehr bewußt: zur Modernisierung —
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1719
Dr. Rupert Scholz
des Grundgesetzes geboten sind. Dies ist das richtige, diese Grundwerte auch für das Gebiet der damaligen
das angemessene Verfahren, da es — auch das DDR umgesetzt, so wie das Grundgesetz dies über
möchte ich deutlich sagen — auschließlich um be- Jahrzehnte für die alte Bundesrepublik getan hat.
stimmte Verfassungsänderungen, -anpassungen,
Man sollte heute also nicht davon sprechen, daß das
-modernisierungen geht, nicht aber um den Erlaß ei-
Grundgesetz etwa einer grundlegenden Revision im
ner neuen Verfassung, nicht um einen Gesamtumbau
Lichte eben jener Erfahrungen der Menschen aus der
unserer gegebenen Verfassung und nicht um eine
früheren DDR bedürfe. Diese Erfahrungen sind unbe-
Totalrevision.
strittenermaßen sorgfältig zu diskutieren und mit auf-
(Beifall bei der CDU/CSU) zunehmen; denn selbstverständlich müssen sich auch
Unser Grundgesetz gehört zu den wahrhaft histori- die Menschen in den neuen Bundesländern in unserer
gemeinsamen Verfassungsordnung, in unserem
schen Glücksfällen der deutschen Geschichte. Noch
nie gab es eine derart freiheitliche, eine demokratisch Grundgesetz, wiederfinden.
so stabile und auch sozial so gerechte Verfassungsord- Dennoch ist es falsch und ungerecht, wenn manche
nung in unserer Geschichte. Es ist kein Zufall, daß wir davon sprechen, daß den Menschen in den neuen
um diese Verfassung heute selbst in traditionellen Bundesländern mit dem Grundgesetz eine Verfas-
Demokratien, viel älteren Demokratien, als wir selbst sung übergestülpt würde, die sie gar nicht wollten
sind, beneidet werden. oder mit der sie sich noch gar nicht hätten befassen
Richtig ist, daß das Grundgesetz ursprünglich, im können. Wer so argumentiert, verkennt nicht nur die
Zeitpunkt seines Erlasses 1949, zunächst als Über- Grundwerte der f riedlichen Revolution, sondern der
gangsordnung bis zur deutschen Wiedervereinigung stellt diese gleichsam nachträglich in ihrer grundsätz-
gedacht war. Andererseits ist es aber schon historisch lich freiheitlichen und revolutionären Legitimation in
falsch, wenn heute teilweise — sehr plötzlich im übri- Frage; denn was ware jene f riedliche Revolution ohne
gen — wieder auf diesen Übergangscharakter domi- das Bekenntnis gerade zur Demokratie, zu Menschen-
nant abgestellt und behauptet wird, daß es nach unse- rechten und Rechtsstaatlichkeit? Was wäre sie eigent-
rer Einheit jetzt um die Erarbeitung oder Legitimie- lich gewesen, wenn man sie inhaltlich von der grund-
rung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung gehen gesetzlichen Verfassungsordnung und den von ihr
müsse. repräsentierten Verfassungswerten abzusetzen
suchte?
Das Grundgesetz und seine Väter und Mütter wa-
ren sehr viel klüger. Sie haben für die deutsche Ein- In Wahrheit ist es doch so, daß die Menschen der
heit bekanntlich zwei Wege alternativ bereitgestellt: früheren DDR mit ihrer friedlichen Revolution gerade
Das eine ist der Weg des Art. 23, und das andere ist, für diese Grundwerte gestanden haben und daß sie
wie Sie alle wissen, der Weg des Art. 146. Der Weg auch den Menschen in der alten Bundesrepublik mit
über Art. 23 wurde gegangen. Der Weg über Art. 23 ihrem ebenso mutigen wie standhaften Eintreten für
heißt nicht nur Beitritt der früheren DDR zur Bundes- eben diese Grundwerte im ursprünglichsten Sinne
republik Deutschland, sondern er heißt auch Beitritt des Wortes demonstriert haben, wie allein richtig und
zum Grundgesetz. menschengerecht diese Verfassungswerte, die unser
Grundgesetz uns seit 40 Jahren beschert hat, sind.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Wenn man will, kann man es auch so formulieren:
Er heißt darüber hinaus, daß das Grundgesetz damit Unser Grundgesetz hat gerade durch diese f riedliche
die eigenen Beschränkungen, das eigene Übergangs- Revolution im früher anderen Teil Deutschlands eine
verständnis aufgibt, daß es damit endgültige, legitime weitere innere Bestätigung gefunden.
deutsche Verfassung geworden ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Opposition fordert, wie Frau Däubler-Gmelin
Ich weiß, daß dies manchem nicht gefallen hat, daß eben begründet hat, die Einsetzung eines Verfas-
mancher die Gelegenheit der deutschen Einheit auch sungsrates, der von der Bundesversammlung gewählt
gern dazu genutzt hätte, eine neue gesamtdeutsche werden soll und dann über den neuen Art. 146 zur
Verfassung zu erarbeiten, eine Verfassung, die sich Volksabstimmung führen soll. Die Verfassung für das
vom Grundgesetz hier und dort sehr maßgebend ab- geeinte Deutschland, sie soll in Wahrheit eine neue
hebt. Aber hierbei sollte auch, und zwar ehrlich, ein- Verfassung sein, sie soll im Grunde den Weg des alten
geräumt werden, daß das viel zitierte Argument, das Art. 146 über die Hintertür doch noch realisieren.
wir jetzt hören, daß nämlich in unsere Verfassungs- Aber, meine Damen und Herren, ich verweise noch
ordnung auch jene Erfahrungen eingebracht werden einmal darauf: Mit Zweidrittelmehrheit hat dieses
müßten, die die Menschen in der früheren DDR mit Haus den Weg über Art. 23 gewählt, und genauso hat
ihrer großartigen f riedlichen Revolution empfangen die Volkskammer, die frei gewählte Volkskammer,
haben, machmal auch sehr zweckorientiert eingesetzt entschieden. Das sind verfassungspolitisch relevante
wird, um es vorsichtig zu formulieren. Entscheidungen. Diese Entscheidungen gilt es auch
Jene große friedliche Revolution in der früheren zu respektieren.
DDR stand für ebenjene Grundwerte, die auch die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zentralen Grundwerte unseres Grundgesetzes sind:
Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie, Menschen- Deshalb meine ich: Heute ist nicht die Stunde der
rechte, Rechts- und Sozialstaatlichkeit. In diesem Begründung eines Gremiums für eine neue Verfas-
Sinne hatte die erste frei gewählte Volkskammer der sung, sondern allein die Stunde einer gegebenenfalls
DDR über ihr Verfassungsgrundsätzegesetz genau zu verändernden, einer hier und dort zu modernisie-
1720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Wolfgang Thierse
Unterdrückung und Rechtlosigkeit wissen wir, wie ritäre Verhaltensweise und Charaktere en masse bei
unendlich wichtig die Sicherung individueller Grund- uns.
rechte ist, wie wichtig die Verankerung der Men- Demokratie kann eben nur in und durch demokra-
schenrechte in der Verfassung ist. Ob eine Gesell- tische Praxis erlernt werden; durch die Erfahrung also,
schaft letztlich auf Recht aufgebaut ist oder politischer nicht mehr Objekt von Politik, sondern Subjekt von
Willkür gehorchen muß — diesen gravierenden Un- Politik sein zu können. Nicht diskussions- und revi-
terschied haben wir am eigenen Leibe zur Genüge sionslose Überstülpung, sondern selbstbewußte An-
erfahren. Wir müssen darüber — auch nicht von Herrn nahme der neuen politischen Ordnung ist deshalb die
Scholz — nicht belehrt werden. Aufgabe.
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE und der PDS/Linke Liste) GRÜNE)
Gerade deshalb haben wir ja ein so leidenschaftli- Die Diskussion über die gemeinsame Verfassung ist
ches Interesse an Fragen der politischen Kultur, an eine entscheidende Bedingung genau für die selbst-
Verfassungsfragen. Daß wir ehemaligen DDR-Deut- bewußte Annahme der neuen politischen Ordnung.
schen unter das Dach des Grundgesetzes gekommen
Viertens. Wir kommen aus einem System, das mit
sind, halte ich keineswegs für ein Unglück, im Gegen-
gutem Grund ökonomisch, politisch und ideologisch
teil. Aber ist das Grundgesetz, so wie es ist, schon die
gescheitert ist. Viele empfinden sich deshalb auch
Antwort auf alle unsere Fragen? Ist unsere Erfahrung
selbst als Gescheiterte. Die gegenwärtige Situation in
mit dieser Ankunft schon vollständig abgegolten?
den neuen Bundesländern gibt nicht sehr viel Anlaß,
Zweitens. Diese Frage gilt auch für das, was ich als daß sich die Ostdeutschen als wirklich Gleichberech-
zweites Mitbringsel nennen möchte, nämlich unsere tigte erfahren können. Das dürfte sich, realistisch be-
Erfahrung eines leidenschaftlichen Aufbruchs im trachtet, so schnell nicht ändern. Der ökonomische
Jahre 1989, einer Selbstbefreiung, ein Anlaß zu und soziale Angleichungsprozeß wird lange dauern.
-
Selbstbewußtsein, den nicht nur ich, sondern eine Um so wichtiger ist es, in der politischen Kultur einen
nicht kleine, nicht unwichtige Minderheit in verschie- Raum der Erfahrung von Gleichberechtigung für uns,
denen Parteien und in den Bürgerbewegungen in den die Ostdeutschen, zu schaffen.
neuen Ländern fast verzweifelt zu verteidigen ver- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
suchte. Es geht hier nicht so sehr um Emotionen, auch GRÜNE)
wenn es kostbare sind. Es geht auch nicht um Lyrik.
Dabei füge ich nebenbei hinzu: Auch das Recht auf Die Art und Weise, ob und wie wir uns in eine Verfas-
Eigentum kommt mir eigentümlich lyrisch vor; denn sungsdiskussion einbringen können, wird dafür eine
es sichert ja noch nicht jedem Eigentum. Schlüsselerfahrung von positiver oder negativer Wir-
kung für die demokratische Zukunft Gesamtdeutsch-
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ lands sein.
GRÜNE und der PDS/Linke Liste)
Fünftens. Wir bringen die Erinnerung an eine auf
Es geht hier nicht so sehr um Emotionen, sondern es gewiß problematische Weise erzeugte Erfahrung so-
geht um Dinge von Gewicht, die wir mitbringen; das zialer Grundsicherheit mit. Arbeitslosigkeit, Angst
positive Erlebnis von unmittelbarer Demokratie, von vor Mietsteigerung und Wohnungsverlust kannten
Basisdemokratie, die Wertschätzung der Demokratie wir nicht. Ich weiß: Der Preis dafür war sehr hoch.
der Straße, wie das manche abschätzig nennen, und, Aber trotzdem: Soziale Sicherheit hat als ein grund-
als gewichtiges Dokument, in das diese unsere Erfah- sätzlich positiver Wert bei uns einen ganz hohen
rungen und wohl auch unsere Illusionen eingeflossen Rang, ebenso die soziale und ökonomische Gleichbe-
sind, den Verfassungsentwurf des Runden Tisches. rechtigung der Frau.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Deshalb streben wir die Aufnahme des Rechts auf
GRÜNE) Arbeit, auf menschenwürdigen Wohnraum und die
Verwirklichung von Gleichberechtigung als Staats-
Eine Diskussion darüber sollte — ich bitte Sie — nicht zielbestimmung in eine neue Verfassung an. Das sind
einfach mit dem Hinweis auf die wohlgeübte Praxis nicht einfach unverbindliche Setzungen, sondern es
der repräsentativen Demokratie und das bewährte sind Grundorientierungen, Vororientierungen für
Grundgesetz abgelehnt werden. Insofern bin ich von jede aktuelle Politik und insofern sinnvoll.
dem Bundeskanzler, aber auch von Herrn Kleinert
und von anderen enttäuscht, die immer nur von ge- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
wissen Änderungen, die jetzt erlaubt seien, sprechen. GRÜNE)
Mehr wird nicht zugestanden. Sechstens. Gelingende Demokratie, eine um unsere
Erfahrungen bereicherte neue deutsche Demokratie,
Drittens. Wir bringen auch ein schwieriges Erbe mit.
wird es nicht leicht haben angesichts der bedrücken-
Nach vierzig, nein nach sechzig Jahren Existenz in
den Tatsache, daß ihr Beginn im östlichen Deutsch-
zwei unterschiedlichen Diktaturen, zuletzt in einem
land begleitet, ja für viele geradezu verstellt ist von
beängstigend vormundschaftlichen Staat, sind wir,
sozialen Umbrüchen und Zusammenbrüchen, von
sind viele Menschen im östlichen Deutschland auch
Ängsten und existentiellen Unsicherheiten. Vieles da-
innerlich vormundschaftlich geworden. Ich sage das
von ist unvermeidlich, nicht alles.
ohne Vorwurf. Es gibt Demokratiedefizite. Es gibt De-
mokratieunsicherheiten. Es gibt Nachholbedarf und Es bedarf aber einer besonderen Anstrengung, die
echten Lernbedarf, aber es gibt auch Hörigkeit, auto im problemreichen Übergang die Chance zur Identifi-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1735
Wolfgang Thierse
kation mit der Demokratie eröffnet und sichert. Eine sich in erster Linie den Interessen jener Gruppen ver-
breite demokratische Verfassungsdiskussion wäre pflichtet fühlen, die sie repräsentieren. Sonderinteres-
eine unwiederbringliche deutsche Möglichkeit genau sen könnten in einem solchen Gremium zu Lasten des
dafür. Gemeinwohls in den Vordergrund rücken. Ich bitte
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Sie, zu bedenken, was es bedeuten würde, Vorschläge
GRÜNE) eines Verfassungsrates zurückzuweisen. Zwangsläu-
fig würde ein Legitimationskonflikt mit jenen herauf-
Wir dürfen diese Möglichkeit, die uns das Grundge-
beschworen, die ihre Interessen in dem Verfassungs-
setz ja selbst anbietet, nicht ungenutzt lassen, damit
rat besonders repräsentiert sehen. Das wäre für mich
der deutsche Einigungsprozeß, der ja noch lange nicht
eine völlig unnötige und vermeidbare Belastung der
beendet ist, wie wir angesichts der erfahrenen Tiefe
anstehenden Verfassungsdiskussion.
der ökonomischen, sozialen und menschlichen Spal
tung in Deutschland sehen, nicht nur von einer unend- Dies schließt selbstverständlich nicht aus, den Kreis
lichen Kostendebatte begleitet wird, sondern in eine jener, die sich in der Verfassungsdiskussion repräsen-
wirklich politische, eine Wertedebatte eingebettet ist tiert fühlen, möglichst weit zu ziehen. Aber ich meine,
und in eine erneuerte, vertiefte Demokratie mündet, dazu bedarf es keiner mediatisierten Gremien. Wich-
deren Grundlage, die erneuerte Verfassung, in einer tig ist, daß Bundestag und Bundesrat, in deren Hän-
Volksabstimmung vom Souverän angenommen den die Änderung und Ergänzung der Verfassung
wird. liegt, sich der ihnen gestellten Aufgaben bewußt und
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ zu einer für alle Standpunkte offenen Verfassungsdis-
GRÜNE) kussion bereit sind. Ein gemeinsamer, paritätisch be-
setzter Verfassungsausschuß von Bundestag und Bun-
In der Losung: „Wir sind e i n Volk" ist der Anspruch desrat vermag das nach meiner Überzeugung zu lei-
des trotzigen Rufs „W i r sind das Volk" nicht gänzlich sten. Er verdient hierzu unsere volle Unterstützung.
ausgelöscht, hoffe ich. Dieser Anspruch ist noch nicht
eingelöst. - Ein solcher Ausschuß läßt auch keine Zweifel dar-
über aufkommen, wem die Verfassung die Verant-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
wortung für die Änderung oder Ergänzung zuweist. Er
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
macht deutlich, daß Verfassungsänderungen und
Linke Liste)
-ergänzungen immer eine gesamtstaatliche Aufgabe
von Bund und Ländern sind, und er ist schließlich
Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt imstande, die mit der deutschen Einigung aufgewor-
der Innenminister des Freistaates Bayern, Herr Dr. fenen Verfassungsfragen umfassend und sachkundig
Edmund Stoiber. zu erörtern. Die Länder — das zeigt die vom Bundes-
rat einberufene Kommission Verfassungsreform —
sind zu einer außerordentlich breiten Diskussion be-
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Herr
reit. Sie hat auf ihrer konstituierenden Sitzung am
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 19. April entschieden, sich nicht allein mit den Fragen
Gerade auf das, was Herr Abgeordneter Thierse ge-
des Föderalismus zu beschäftigen; sie hat einen eige-
sagt hat, paßt natürlich wieder der Eingangssatz: Das
nen Arbeitsausschuß zur Diskussion über weitere
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat
Grundgesetzänderungen eingerichtet.
sich in über 40 Jahren hervorragend bewährt. Es ist
die freiheitlichste Ordnung der Geschichte Deutsch- Ich sehe nicht — noch einmal an die Adresse der
lands. Wir brauchen deshalb keine neue Verfassung, SPD — , wieso diese Gremien ihrem Auftrag nicht ge-
die die bewährten Strukturen verändert. recht werden sollen und wieso nicht alle mit der deut-
Der Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik schen Einigung aufgeworfenen Verfassungsfragen
Deutschland — ich meine das, Herr Thierse, über- unter Einbeziehung aller relevanter Standpunkte dort
haupt nicht zynisch — war auch ein klares Bekenntnis diskutiert werden können.
zum Grundgesetz. Auch daraus entsteht die gemein- Diese prinzipielle Offenheit für alle hier und jetzt
same Verpflichtung, das geeinte Deutschland auf der relevanten Fragen darf allerdings nicht dahin gehend
Basis des bewährten Grundgesetzes aufzubauen. verstanden oder mißverstanden werden, als gelte es,
Diese Haltung muß sich auch in dem Verfahren nun eine neue Verfassung zu schaffen. Wir sind nicht
widerspiegeln, das sich aus der Empfehlung des Eini- zu einem Akt der Verfassungsgebung, sondern zu
gungsvertrags ergibt, die mit der deutschen Einigung punktuellen Änderungen und Ergänzungen des
aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung Grundgesetzes aufgerufen. Hierüber darf von Anfang
des Grundgesetzes zu behandeln. Die Aufgabe, das an kein Zweifel bestehen. Wir sind es der Öffentlich-
Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen, ist gemäß keit schuldig, zu sagen, worum es in den nächsten
dem Grundgesetz den Verfassungsorganen Bundes- Monaten geht.
tag und Bundesrat zugewiesen. Dieser Regelung ent- Vieles von dem, meine sehr verehrten Damen und
spricht der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Herren, was wir in 40 Jahren in der alten Bundesre-
der FDP auf die Einsetzung eines Gemeinsamen Ver- publik erreicht haben, war nur möglich, weil wohlge-
fassungsausschusses. ordnete Entscheidungsprozesse politische Stabilität
Genauso entschieden wende ich mich gegen ein garantierten, war nur möglich, weil ökonomische Ent-
außenstehendes Gremium, ob es nun Verfassungsrat wicklungen in eine wohlbedachte rechts- und sozial-
oder wie auch immer heißen mag. Seine Mitglieder staatliche Verantwortung eingebunden waren. Ge-
wären nicht dem gesamtdeutschen oder dem Gesamt- rade jetzt, wo die zu bewältigenden Aufgaben größer
interesse verpflichtet und verantwortet. Sie würden denn je sind, ist es wichtig, sich die bewährte Konti-
1736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Angelika Barbe
40 Jahre lang vermißt. Das hat auch verhindert, daß es Auch dies bedarf einer Regelung in der Verfassung.
im Osten zu einer Demokratie kommen konnte. Dazu gehört auch das Recht der Frau, selbst über die
Fortsetzung der Schwangerschaft zu entscheiden, und
Aber — es fehlen die sozialen Grundrechte. Die gleichzeitig die Verpflichtung des Staats, werdendes
sind Ihrer Meinung nach schwer einklagbar und Leben durch das Angebot sozialer Hilfen zu schüt-
schwerer einzuhalten. Ich verstehe darunter aber zen.
auch Ihre Furcht vor Veränderungen der Machtver- (Beifall bei der SPD)
hältnisse. Das ist durch diese Argumente auch ausge-
drückt worden. In der Debatte muß bedacht werden, ob Frauen in
der DDR bisherige Rechtspositionen überhaupt ge-
Ich möchte ein paar Prinzipien ansprechen, die für nommen werden dürfen; denn es gibt einen Bestand-
uns im Osten ganz wichtig sind. Wenn das Prinzip der schutz für gewachsene Rechtsverhältnisse, auf denen
rechtlichen, gleichen Freiheit für alle — gleichzeitig Millionen von Lebensentwürfen aufgebaut worden
mit ökonomischer Herrschaft von Marktwirtschaft ge- sind. Auch dies alles muß in einer Verfassungsdebatte
koppelt ist — besteht immer die Gefahr, daß es zu Berücksichtigung finden.
besitzabhängiger sozialer Ungleichheit und damit zu
Als Ostparlamentarier in der Opposition bin ich
sozialer Unfreiheit kommen kann.
nach leidvoller Erfahrung zu der Überzeugung ge-
Wir haben aber im Osten nicht nur die Gefahr, son- langt, daß die parlamentarische Demokratie gestärkt
dern wir haben drüben die Wirklichkeit: die Arbeits- werden muß, und zwar nicht nur all jene Formen, die
losen und die Sozialhilfeempfänger, denen die Frei- den direkten Einfluß des Volkes auf die Willensbil-
heit jetzt überhaupt nichts nützt. dung des Staates erhöhen — ich denke hier an Volks-
begehren und Volksbefragungen, sondern ich denke
Deshalb sind gezielte staatliche Gegenwirkungen vor allem auch an das Verhältnis zwischen Parlament
nötig; um die vom Rechtsstaat gewährte individuelle und Regierung. Da muß etliches neu geregelt werden,
Freiheit und rechtliche Gleichheit überhaupt für Men- und zwar mit dem Ziel, die Informations- und Kontroll-
schen erlebbar zu machen. Die sozialen Errungen- rechte des Parlaments zu stärken.
schaften von Marktwirtschaftssystemen sind doch
politisch errungen worden. Denken wir nur an die (Beifall bei der SPD)
Kämpfe der Gewerkschaften, die das ja mitbewirkt Es hätte nicht zu dem Skandal zu kommen brau-
haben. chen, daß das Bundesministerium des Innern den Par-
lamentariern den Gauck-Bericht über de Maizière
Wenn jetzt Freiheit hoch geschätzt wird, gleichzei-
vorenthalten hat und wir dann alle die Daten aus dem
tig aber auch vielgestaltiges wirtschaftliches Leben
„Spiegel" erfahren haben.
als Voraussetzung von Freiheit zugelassen sein muß,
so frage ich mich nach den Erfahrungen des letzten An den Schluß meiner Rede möchte ich ein Zitat von
Jahres bei uns im Osten, welche gleichen Chancen Gustav Heinemann stellen, das uns, die wir in einem
denn für jeden vorhanden sind. Wo oder inwieweit Unrechtsstaat groß geworden sind und leben mußten,
findet denn Wettbewerb überhaupt statt? Es gibt eine beim Kampf um unsere Rechte weiterhelfen wird. Gu-
ungerechte Verteilung von Einkommen und Produk- stav Heinemann sagte: Das geschriebene Recht ist die
tivvermögen. Das macht die Startbedingungen im Magna Charta des kleinen Mannes. — Dieses Recht
Wettbewerb erst einmal gar nicht für alle gleich. Es haben wir als Interessenvertreter der Bürger für alle
macht sie extrem ungleich. Ich denke an die Vertei- Bürger und nicht nur für mächtige Lobbyisten poli-
lung öffentlicher Aufträge, die im Augenblick alle zu- tisch durchzusetzen.
gunsten der Westbetriebe erfolgen, zuungunsten der Danke schön.
Ostbetriebe. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Ich zitiere Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Der GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
Staat hat die Pflicht, für einen Ausgleich der sozialen Linke Liste)
Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialord-
nung zu sorgen. " Das ist aber nur eine Postulatform. In
Art. 20 und 28 reicht das nicht aus, sondern es ist ein Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und
bindendes eindeutiges Sozialstaatsmodell notwendig. Herren, nunmehr hat das Wort unser Kollege Norbert
Es sollte in einer zukünftigen Verfassung verankert Geis.
sein.
(Beifall bei der SPD) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Im Zusammenhang mit dem Anspruch eines jeden sehr verehrten Damen und Herren! Frau Barbe, das
Menschen auf Achtung und Schutz seiner Persönlich- Recht auf Leben sagt etwas aus über das Gemeinwe-
keit und Privatheit muß auch das Recht eines jeden sen, und das Recht auf Leben und auch das Recht des
einzelnen auf Einsicht in seine eigenen persönlichen ungeborenen Menschen auf Leben markiert das Maß
Daten und auf Einsicht in die ihn betreffenden Akten der Menschlichkeit in einem Gemeinwesen. Unser
in der zukünftigen Verfassung verankert sein. Ich Grundgesetz hat hier eine eindeutige Entscheidung
denke hier besonders an das Stasi-Aktengesetz. Täg- getroffen. Wir sollten daran nicht rütteln.
lich rufen etliche Bürger bei mir an oder schreiben mir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und fordern genau dies, nachdem sie 40 Jahre lang
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen
Drangsal erdulden mußten.
Sie mich ein Wort zu den plebiszitären Elementen
Ein weiteres Problem ist die Gleichstellung der sagen, die heute schon oft angesprochen worden sind.
Frau in allen Bereichen von Gesellschaft und Staat. Ich bin nicht der Auffassung, daß der Volksentscheid
1746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Norbert Geis
vom 17. Februar dieses Jahres in Bayern ein Mehr an alte Möglichkeit nun zunichte geworden ist, weil sie
Demokratie gezeigt hat, einmal, weil sehr wenige nicht angewendet wurde, dann muß man sich zumin-
daran teilgenommen haben, zum anderen, weil die, dest in dieser neuen Verfassungskommission die
die zur Entscheidung gegangen sind, über einen Frage stellen, ob der jetzt neugefaßte Art. 146, der
Sachverhalt haben entscheiden müssen — über zwei eine solche Aufhebung vorsieht, unserer Verfassung
Gesetzesvorschläge — , von dem sie — dessen bin ich entspricht. Diese Frage muß meiner Meinung nach
sicher, und ich trete dabei keinem zu nahe — nicht diskutiert werden. Deswegen hat der Innenminister
allzuviel begreifen konnten, weil der Sachverhalt so mit Recht erklärt, daß wir uns erst am Ende dieser
schwierig gewesen ist. Diskussion darauf festlegen sollten, ob wir zu einem
Volksentscheid kommen oder nicht, aber nicht jetzt
Die angelsächsischen Demokratien sowohl in Eng-
schon.
land als auch in den USA kennen plebiszitäre Ele-
mente nicht. Der berühmte englische Verfassungshi- Ich danke Ihnen.
storiker Sir Charles Pèt rie schreibt in einer großen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Abhandlung darüber, daß die Plebiszite oftmals der
Durchsetzung ausgesprochen undemokratischer
Ziele dienen, und er hat deshalb solche Plebiszite ab- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und
gelehnt. Herren, zum Schluß der Debatte hat der Bundesmini-
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der ster der Justiz, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
SPD, der von Ihnen ebenso wie von uns hochge-
schätzte und unvergessene Staatsrechtslehrer und
Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz hat in ei- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Herr
ner frühen Abhandlung schon 1928 — und er hat Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte mir
daran festgehalten — plebiszitäre Elemente in einer eigentlich vorgenommen, nur zu der formalen Frage
Demokratie abgelehnt. Verfassungsrat und Verfassungsausschüsse Stellung
Der Parlamentarische Rat hat, wie Sie wissen, nicht zu nehmen und ganz bewußt die übrigen Fragen ohne
an die Tradition der Weimarer Verfassung ange- Verfassungsänderungen wegzulassen. Der Verlauf
knüpft, sondern er hat gerade aus dieser Erfahrung der Debatte hat mich angeregt, einige andere Gedan-
heraus plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz ken zu versuchen.
nicht aufgenommen. Theodor Heuss warnte während Nach Jahren eines Unrechtsstaats in Deutschland,
der Beratungen des Parlamentarischen Rates davor, der immerhin bis 1945 gedauert hat, wurde unter dem
mit Volksbegehren und Volksentscheid die künftige Eindruck des damals geschehenen schlimmen, tiefen
Demokratie zu belasten. Das Schweizer Vorbild, so Unrechts der Versuch unternommen, dem freien Teil
Theodor Heuss, könne auf deutsche Verhältnisse des übriggebliebenen Deutschland eine neue Verfas-
nicht ohne weiteres übertragen werden. Der Volks- sung zu geben. Was 1949 geschaffen wurde, war ein
entscheid führe in einer großräumigen Demokratie Glücksfall. So sehen es nicht nur wir. Wir könnten ja
wie bei uns zu einer dauernden Erschütterung des selbstverliebt und bet riebsblind sein. Nein, so sieht es
mühsam erkämpften und noch zu erkämpfenden An- die Welt, die uns um dieses Grundgesetz beneidet
sehens der Gesetzgebungskörper. und es als Vorbild übernimmt — übrigens in den Län-
dern der Dritten Welt gleichfalls wie in den Ostblock-
Was damals galt, hat heute ebenso noch Geltung,
ländern.
insbesondere wenn man bedenkt, wie einseitig sich
bei uns die veröffentlichte Meinung oft orientiert. Man Im anderen Teil Deutschlands wurde eine Verfas-
kann sich sehr schnell vorstellen, daß Plebiszite in sung geschaffen, die den Staat als Instrument der
der Anonymität von Redaktionsstuben gesteuert wer- herrschenden Klasse beschrieb. Ich zitiere: „Die DDR
den und daß so Plebiszite weiter von der Demokratie ist die politische Organisation der Werktätigen unter
weg- als zu ihr hinführen. Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-le-
ninistischen Partei. "
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —
Norbert Gansel [SPD]: So war das auch bei Unser Grundgesetz geht von der Unterscheidung
der Parteienfinanzierung!) zwischen Staat und Gesellschaft aus. Es regelt in sei-
nen Bestimmungen über das Staatsorganisationsrecht
Ein Wort noch zu Art. 146 des Grundgesetzes. Hier Organisation und Aufbau des Staates und begrenzt
muß man, wie ich meine, zwischen dem Verfassungs- außerdem, insbesondere in seinem Grundrechtsteil,
geber und dem Verfassungsgesetzgeber unterschei- die Macht des Staates. Der Grundrechtsteil sichert
den. Unser Verfassungsgeber, der Parlamentarische den Freiraum von Bürger und Gesellschaft gegenüber
Rat, hat nur eine einzige Möglichkeit vorgesehen, das dem Staat. Es ist also ein grundverschiedener An-
Grundgesetz abzulösen. Das war der alte Art. 146 des satz.
Grundgesetzes. Diesen Weg haben wir nicht beschrit- Seit Oktober des letzten Jahres sind wir wiederver-
ten, sondern sind über A rt . 23 des Grundgesetzes ge- einigt, und zwar auf der Basis unseres Grundgesetzes.
gangen. Seit diesem Zeitpunkt ist unser Grundgesetz Daß wir aus der Verfassung der früheren DDR nichts
unsere legitimierte Verfassung. Wir leben im Augen-
übernehmen wollten, war wohl unbest ritten. Zu sehr
blick ja nicht in einem verfassungslosen Zustand; kein war diese Verfassung Artikulation des 40jährigen
Mensch könnte dies ernsthaft behaupten.
SED-Unrechtsstaates. Was das übrige Recht anbe-
Wenn aber der Verfassungsgeber — das bitte ich zu langt, haben wir uns entschlossen, praktisch unser
bedenken — nicht vorgesehen hat, daß die Verfas- gesamtes Recht auf die neuen Länder zu übertra-
sung, die er gibt, aufgehoben werden kann und die gen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1747
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die Rechts- Unternehmen ist für die deutsche Seite dabei ein we-
lage stellt sich so dar, Herr Kollege Duve, daß der sentliches Kriterium.
Mandatar der Bundesregierung, nämlich die Kredit-
anstalt für Wiederaufbau, zur Vergabe dieser Auf- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage
träge ihre Zustimmung erteilen muß. des Kollegen Gansel.
Vizepräsident Helmuth Becker: Weitere Zusatz- Norbert Gansel (SPD): Herr Staatssekretär, ist sich
frage des Kollegen Rudolf Bindig. die Bundesregierung darüber im klaren, daß in Anbe-
tracht des Umstandes, daß die Bundesregierung nach
Rudolf Bindig (SPD): Können Sie bitte sagen, von dem Vertrag keine rechtlichen Ansprüche hat, die
wann das von Ihnen eben erwähnte Memorandum Mitwirkung deutscher Baufirmen zu sichern, das Spiel
stammt und in welcher Form es vereinbart worden mit den Mechanismen den Charakter politischer Dro-
ist? hung haben kann und daß auf der sowjetischen Seite
(Norbert Gansel [SPD]: Vor oder nach dem in gleicher Weise reagiert werden kann, was zur Ver-
Vertrag?) zögerung des Abzugs der sowjetischen Truppen füh-
ren könnte, und stellt das nicht am Anfang eines sehr
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Das Memo- schwierigen Prozesses eine außerordentliche Bela-
randum ist im November 1990 der sowjetischen Seite stung dar?
übergeben worden.
(Norbert Gansel [SPD]: Also nach dem Ver Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Für die Bun-
trag!) desregierung ist dieser Prozeß der Auftragsvergabe
nicht mit Drohungen verbunden. Ganz im Gegenteil
Vizepräsident Helmuth Becker: Weitere Zusatz- liegt der Bundesregierung außerordentlich daran,
frage des Kollegen Dr. Heuer. hierin einen Start für die weitere wirtschaftliche Zu-
- Sie spra- sammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Bundesrepublik Deutschland zu sehen. Deswegen ist
chen vom Anteil der ostdeutschen Baubetriebe und die Bundesregierung auch sehr zuversichtlich, daß die
davon, daß es auch darum gehe, diesen Baubetrieben Gespräche im Lenkungsausschuß das Ergebnis zeiti-
Arbeit zu sichern; wir alle wissen, wie notwendig das
gen werden, daß wir uns alle wünschen, nämlich eine
ist. Wie hoch war denn der vorgesehene Anteil der Beteiligung deutscher Bauunternehmen bei der Auf-
ostdeutschen Bet riebe, wieweit waren sie nur Zuliefe- tragsabwicklung.
rer, oder wieweit waren sie daran beteiligt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es konnte Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und
durch die Bundesregierung naturgemäß keine Herren
Quotierung erfolgen; das war auch nicht der Sinn der (Norbert Gansel [SPD]: Ich habe noch eine
Ausschreibungen. Wir wollten dies im Wettbewerb Zusatzfrage, Herr Präsident!)
halten, und die ostdeutschen Firmen sollten innerhalb — darauf komme ich gleich —,
der Konsortien mitarbeiten. (Norbert Gansel [SPD]: Gut!)
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) : Wie hoch ich mache auf folgendes aufmerksam: Unsere Ge-
schätzen Sie denn den Anteil? schäftsordnung sagt für die Fragestunde, die Fragen
sollen kurz sein und eine kurze Beantwortung ermög-
Vizepräsident Helmuth Becker: Nein, das ist nicht lichen. Darauf wollte ich nur noch einmal aufmerksam
zulässig. machen.
Nunmehr kommen wir zu der zweiten Dringlich- Jetzt hat der Kollege Norbert Gansel eine weitere
keitsfrage des Kollegen Norbert Gansel. Zusatzfrage.
Wie wird sich die Bundesregierung in der bevorstehenden Sit- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Eine
zung des gemeinsamen deutsch-sowjetischen Lenkungsaus- kurze Zusatzfrage!)
schusses dafür einsetzen, daß insbesondere Bauunternehmen
und Arbeitskräfte aus den neuen Bundesländern an dem gesam-
ten Wohnungsbauprogramm beteiligt werden? Norbert Gansel (SPD): Trifft es zu, Herr Staatssekre-
Bitte, Herr Staatssekretär. tär, daß die Bundesregierung darauf gedrängt hat,
daß die Ausschreibungen für das Wohnungsbaupro-
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege gramm für die abziehenden sowjetischen Truppen in-
Gansel, die Bundesregierung wird in den anstehen- ternational getätigt werden und daß aus diesem
den Gesprächen mit der sowjetischen Seite auf die Grunde bei allen Verhandlungen Beamte der Euro-
Einhaltung vereinbarter Verträge und Verabredun- päischen Gemeinschaft dabei waren, und trifft es zu,
gen drängen, da der von der sowjetischen Fachebene daß auf diesem Hintergrund das Bundeswirtschafts-
vorgetragene Vergabevorschlag hiervon abweicht. ministerium seit Monaten Warnungen erhalten hat,
Außerdem wird die Bundesregierung erneut auf den daß im Ergebnis der Auftrag an ausländische Firmen
Gesamtzusammenhang mit den weiteren wirtschaftli- gehen könnte?
chen Beziehungen hinweisen.
Die Bundesregierung ist daher zuversichtlich, daß Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es ist richtig,
es bei der anstehenden Vergabe zu einer Entschei- daß die Bundesregierung auf eine internationale Aus-
dung kommt, die den Interessen beider Regierungen schreibung gedrängt hat. Dies hält die Bundesregie-
Rechnung tragen wird. Die Beteiligung ostdeutscher rung aus Wettbewerbsgründen — Preisgestaltung! —
1750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Noch eine Zusatz-
satzfrage hat der Abgeordnete Gernot Erler. frage von Frau Dr. Christine Lucyga.
Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben Dr. Christine Lucyga (SPD): Herr Staatssekretär, hat
hier in bewegenden Worten dargestellt, welches In- die Bundesrepublik die Möglichkeit gehabt, bei den
teresse die Bundesregierung an einer Beteiligung von Qualifikationsverfahren mitzuwirken, und wenn ja,
Firmen aus den neuen Ländern an dem großen Bau- hat sie den Startvorteil der ostdeutschen Bauindustrie
volumen hat. Könnten Sie dem Haus bitte einmal mit- durch langjährige Bauerfahrung in der Sowjetunion
teilen, was in den Vorschriften über bietende Firmen dabei in angemessener Weise mitberücksichtigt?
in bezug auf ihren Jahresumsatz und auf ihren Umsatz
im letzten Geschäftsjahr als Voraussetzung dafür, daß Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die Erfah-
sie sich am Wettbewerb beteiligen können, steht? rungen sind in die Bewerbungen der deutschen Kon-
sortien eingeflossen. Es handelt sich zum Teil auch um
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- verbundene Unternehmungen. Dabei sind also die
lege, ich kann Ihnen jetzt aus der Hand diese Summe Kenntnisse der ostdeutschen Bauunternehmen, so-
nicht nennen. Ich bin aber gern bereit, sie Ihnen nach- weit sie beteiligt waren, mit eingeflossen. Ich denke,
zuliefern. daß sie auch weiterhin von Vorteil sein werden, wenn
wir dieses Projekt in der Sowjetunion abwickeln.
Allerdings ist eines richtig, nämlich daß die Firmen
eine gewisse Größenordnung haben mußten, um zu Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu-
garantieren, daß sie auch in der Lage sein würden, die satzfrage des Kollegen Markus Meckel.
Ausschreibung voll zu erfüllen.
(Norbert Gansel [SPD]: 0,5 Milliarden DM
pro Jahr in den Bilanzen der letzten drei Markus Meckel (SPD): Gibt es unter den Überle-
Jahre! — Rudolf Bindig [SPD]: Damit sind die gungen und Vorschlägen des Wirtschaftsministe riums
ostdeutschen Firmen ausgeschlossen!) auch solche, die beinhalten, daß auch sowjetische und
polnische Firmen wenigstens durch Zulieferung be-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu- teiligt werden, damit nicht jeder Nagel und jede Tape-
satzfrage des Kollegen Dr. Brecht. tenrolle aus Deutschland oder sonst aus dem Westen
zugeliefert werden, und gibt es Prozentzahlen für die
Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Staatssekretär, Beteiligung aus dem Osten, wobei ich hier auch den
sind Ihnen Informationen bekannt, wonach sich die Osten Deutschlands einbeziehe?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1751
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Prozentzah- werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen
len, Herr Kollege Meckel, gibt es dabei nicht. Aber abgedruckt.
beide Seiten sind davon ausgegangen und gehen da- Auch die beiden Fragen aus dem Geschäftsbereich
von aus, daß auch Ware aus dem Land bezogen wird. des Bundesministers der Justiz, die Fragen 7 und 8 des
Das gilt insbesondere für die Sowjetunion. Kollegen Norbert Eimer, sollen schriftlich beantwortet
Im übrigen werden sich die Bauunternehmen natür- werden. Die Antworten werden als Anlagen abge-
lich der günstigsten Einkaufsmöglichkeiten bedie- druckt.
nen; denn die Sowjetunion hat ein großes Interesse Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
daran, daß mit dem Einsatz der Finanzmittel das desministers für Ernährung, Landwirtschaft und
größtmögliche Bauvolumen erzielt wird. Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Par-
lamentarischer Staatssekretär Gottf ried Haschke zu
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu- Verfügung.
satzfrage des Kollegen Johannes Gerster. Wir kommen zur Frage 9 des Herrn Abgeordneten
Hans-Günther Toetemeyer:
Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr
Staatssekretär, könnten Sie mir bitte einmal klarma- Unter Hinweis auf meine Fragen 26 und 27 (Drucksache
12/396) frage ich die Bundesregierung, ob neuerdings für Fra-
chen, wie das aufgeht, wenn wir der Sowjetunion ei- gen der Verletzung des Völkerrechts das Bundesministerium für
nerseits Tag für Tag raten, die Gesetze der Sozialen Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zuständig ist.
Marktwirtschaft anzuwenden, hier aber andererseits
ständig Vorschläge machen, die sämtliche Gesetze Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär beim Bun-
der Sozialen Marktwirtschaft außer Kraft setzen? desminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Danke, Frau Präsidentin. — Herr Kollege
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: In der Tat, Toetemeyer, das Bundesministerium für Ernährung,
Herr Kollege Gerster, ist es so, daß sich die Bundesre- Landwirtschaft und Forsten ist für die interne und
gierung unter diesem Aspekt für die internationale externe Fischereipolitik der Europäischen Gemein-
Ausschreibung entschieden hat; ich habe vorhin das schaft und damit auch für Probleme zuständig, die
Stichwort „Wettbewerb " genannt. Gleichwohl ist es sich in diesem Zusammenhang in den Beziehungen
legitim — das zeigen auch die Fragen seitens der Op- der Gemeinschaft zu einem Drittland ergeben.
position —, daß die deutschen Interessen hierbei nicht Das Ministerium stimmt sich bei Fragen, die auch
vernachlässigt werden. die Zuständigkeit anderer Resso rts berühren, mit die-
sen ab.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu-
satzfrage vom Kollegen Gerd Andres. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege.
Gerd Andres (SPD): Herr Staatssekretär, wenn es
nach den Kriterien der Sozialen Marktwirtschaft geht:
Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Herr Parlamen-
Würde die Bundesregierung auch hinnehmen, wenn
tarischer Staatssekretär, wenn dem so ist, was hat das
bei den weiteren Ausschreibungsverfahren nach ge-
Ministerium unternommen, um zu verhindern, daß
nau diesen Kriterien überhaupt keine deutschen Fir-
wegen des Gerichtsurteils als Folge der Völkerrechts-
men zum Zuge kämen und sich die Marktwirtschaft
verletzung die begonnenen Vertragsverhandlungen
damit klassisch durchsetzen könnte?
über ein Fischereiabkommen zwischen der Europäi-
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Verehrter schen Gemeinschaft und Namibia unterbrochen wer-
Herr Kollege Andres, das ist eine hypothetische Frage. den, was genau mit diesem Hinweis geschehen ist?
Man sollte in der Politik auf hypothetische Fragen
nicht antworten. Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Verehrter
Kollege, ich glaube, diese Frage ist Ihnen schon das
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- letzte Mal beantwortet worden. Die Bundesregierung
fragen liegen nicht vor. hat ihre Sorge über diesen Vorgang zum Ausdruck
gebracht. Wie ich Ihnen sagte, ist das der Schritt, der
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs
unternommen wurde. Es ist empfohlen worden, die
angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekre-
Verhandlungen sofort wiederaufzunehmen. Soweit
tär.
ich informiert bin, ist das schon im Gange.
Die Fragen 1 und 2 aus dem Geschäftsbereich des
Bundesministers für Gesundheit — es handelt sich um Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Halten Sie es für
Fragen von Frau Dr. Ch ristine Lucyga — sollen einen guten Stil, daß gegen Völkerrechtsverletzungen
schriftlich beantwortet werden. Die Antworten wer- nur dadurch vorgegangen wird, daß man seine Sorge
den als Anlagen abgedruckt. über die Verletzung von Völkerrecht zum Ausdruck
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- bringt?
desministers für Forschung und Technologie. Die bei-
den Fragen 3 und 4 der Frau Abgeordneten Dorle Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Da kann
Marx sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. man geteilter Meinung sein. Zur Europäischen Ge-
Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. meinschaft gehören ja zwölf Staaten. Wenn die Bun-
Dasselbe trifft für die Fragen 5 und 6 des Herrn desregierung ihre Sorge zum Ausdruck gebracht hat,
Abgeordneten Lothar Fischer aus dem Geschäftsbe- dann ist das schon etwas. Aber ich gebe Ihnen recht:
reich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusam- Wenn es erforderlich ist, kann es auch in etwas härte-
menarbeit zu, die ebenfalls schriftlich beantwortet rem Ton geschehen.
1752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Würden Sie das sächlich Arbeitslosigkeit entsteht oder aber in Ar-
auch tun? beitsbeschaffungsmaßnahmen oder in Fortbildung
und Umschulung gegangen werden kann. Die Ange-
Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Ja. bote liegen vor.
Jetzt eine Zahl zu nennen, wie die Schwankungs-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das waren jetzt breite wäre, ist ziemlich schwierig. Wenn ich sie nen-
zwar drei Zusatzfragen, aber die letzte war noch eini- nen müßte, würde ich sie ziemlich weit fassen.
germaßen zulässig.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu-
wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Danke schön, satzfrage, Herr Kollege Schily.
Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers Ott o Schily (SPD): In welcher Weise wird die Bun-
für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung desregierung bei Zugrundelegung der Zahlen, die Sie
steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Herr genannt haben, nach Ihrer Meinung darauf einwirken
Horst Günther zur Verfügung. können, die Zahlen zu senken?
Wir kommen zur Frage 10 des Herrn Abgeordneten
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Wir haben
Otto Schily:
durch das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost eine
Mit wieviel Arbeitslosen rechnet die Bundesregierung in den gute Grundlage, glaube ich, gelegt. Wir haben eine
Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in den Jahren 1991 Reihe von produktiven, arbeitsmarktfördernden Maß-
und 1992? nahmen eingeleitet. Heute abend werden in diesem
Hohen Hause, so hoffe ich, mit Mehrheit — vielleicht
Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- sogar einstimmig — weitere Maßnahmen beschlos-
nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege sen, die dazu beitragen können, die Arbeitslosenzah-
Schily, die Bundesregierung hat keine Vorausschät- len sinken zu lassen.
-
zung der Arbeitslosenzahlen im Beitrittsgebiet, ge-
trennt nach einzelnen Ländern, vorgenommen. Sie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage
geht für die Gesamtheit der fünf neuen Bundesländer des Kollegen Dr. Eberhard Brecht.
einschließlich des Ostteils von Berlin derzeit davon
aus, daß die Zahl der Arbeitslosen im Jahre 1991 rund Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Staatssekretär, die
1,1 Millionen und im Jahre 1992 rund 1,3 Millionen von Ihnen genannten Zahlen beziehen sich auf die
Personen betragen wird. reine Arbeitslosigkeit: Wie würden diese Zahlen aus-
Diese Annahmen implizieren, daß die Arbeitslosig- sehen, wenn Sie diejenigen Arbeitnehmer mit einbe-
keit in einer Reihe von Monaten zur Jahreswende ziehen, die sich in Kurzarbeit befinden und deren Ar-
1991/92 etwa 1,5 Millionen betragen wird. Im Verlauf beitsanteil weniger als 50 % beträgt?
des Jahres 1992 rechnen wir allerdings mit einem
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Wir haben im
Rückgang der Arbeitslosigkeit.
Moment etwas über 2 Millionen Kurzarbeiter, davon
Ich will allerdings auch noch darauf hinweisen, daß etwa die Hälfte mit weniger als 50 % Arbeitsanteil.
die Schätzungen für das Beitrittsgebiet einen weit
größeren Unsicherheitsspielraum haben als ver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu-
gleichbare Vorausschätzungen für das alte Bundesge- satzfrage des Kollegen Klaus Kirschner.
biet. Dies liegt daran, daß sich die Volkswirtschaft in
Ostdeutschland in einer dramatischen Umbruch Klaus Kirschner (SPD): Herr Staatssekretär, wenn
situation befindet, für die keine empirischen Erfah- Sie sagen, daß die Bundesregierung bestimmte Maß-
rungen aus der Vergangenheit vorliegen. Daher sind nahmen plane, dann müssen Sie doch auch auf ir-
den sonst üblichen, normalerweise bewährten Vor- gendwelchen Grundlagen arbeiten. Können Sie die
ausschätzungsmethoden in diesem Falle enge Gren- hier mal näher erläutern?
zen gesetzt.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Die Grundlage,
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, Kollege Kirschner, ist natürlich die Entwicklung des
Herr Kollege. Arbeitsmarktes dort drüben, die wir laufend beobach-
ten, Monat für Monat. Dann fassen wir auch die ent-
Ott o Schily (SPD): Wenn Sie davon ausgehen, daß sprechenden Beschlüsse. Ich hatte schon auf das Ge-
bei einer solchen Schätzung sehr viele Unsicherheits- setz, das heute verabschiedet wird, zusätzlich hinge-
faktoren zugrunde gelegt werden müssen, wie sollen wiesen. Ich habe auf das Gemeinschaftswerk Auf-
wir die Schwankungsbreite der Unsicherheitszone schwung Ost hingewiesen. Wir beobachten dort die
annehmen? Wenn Sie jetzt eine Zahl nennen, wie Sie einzelnen Regionen, sind dort auch mit Arbeitsbe-
es getan haben, welche Schwankungen halten Sie schaffungsmaßnahmen, mit Großprojekten, am
nach unten und nach oben für denkbar? Werke, handeln so vor Ort. Anders wird es wohl nicht
gehen.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das ist schwie-
rig zu sagen, Herr Kollege Schily, zumal wir zur Mitte Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu-
des Jahres noch eine Reihe von Maßnahmen abwar- satzfrage des Kollegen Ottmar Schreiner.
ten müssen wie etwa das Auslaufen von Rationalisie-
rungsschutzabkommen und das Auslaufen der Warte- Ottmar Schreiner (SPD): Herr Staatssekretär, wie
schleife. Wir wissen heute nicht, inwieweit hier tat verträgt sich denn Ihre Antwort auf die Frage des Kol-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1753
Ottmar Schreiner
legen Schily mit der Einschätzung des Bundesarbeits- che gemeint hat, sondern die Betroffenheit überhaupt,
ministers in einem Interview mit dem „Handelsblatt" und die ist, wie ich eben schon geschildert habe, viel-
im März dieses Jahres, wo er die Befürchtung äußerte, schichtig abzufangen.
daß die Arbeitslosenzahl in den ostdeutschen Ländern (Manfred Reimann [SPD]: Was ist der Unter
auf über 4 Millionen klettern könne? schied zwischen einem „Betroffenen" und
einem „Arbeitslosen"?)
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Der Herr Bun-
desarbeitsminister hat meines Erachtens hier die Ge-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zwischenfragen
samtbetroffenheit genannt, Kollege Schreiner, d. h. gibt es in der Fragestunde nicht. Wollen Sie sich zu
die Zahl all derer, die ihren Arbeitsplatz verlieren kön- einer Zusatzfrage melden, Herr Kollege Manfred Rei-
nen, gleichwohl nicht in Arbeitslosigkeit fallen müs-
mann?
sen. So ist diese Zahl zu verstehen. Sie hat eine Band-
breite von 2,5 bis etwa 4 Millionen. Aber wir sehen,
daß auch in entsprechenden Maßnahmen etwas gelei- Manfred Reimann (SPD): Herr Staatssekretär, da
stet werden kann, so daß sie nicht alle in Arbeitslosig- Sie dauernd von „Betroffenen" und von „Arbeitslo-
keit kommen. Dieser Entwicklungsprozeß hat ja be- sen" sprechen: Was ist der Unterschied?
reits eingesetzt.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Zum Beispiel
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu- sind Kurzarbeiter, die noch im Bet rieb verbleiben,
satzfrage des Kollegen Urbaniak. aber entweder zum Teil oder zu 100 % keine Arbeit
haben, keine Arbeitslosen.
Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Staatssekre- (Lachen bei der SPD — Abg. Manfred Rei
tär, wenn Sie sagen, wir haben es mit 2 Millionen mann [SPD] hat wieder Platz genommen)
Kurzarbeitern zu tun und davon würden 1 Mil li on zu — Jemand ist auch kein Arbeitsloser, Kollege Rei-
50 % oder darunter beschäftigt sein: Muß- man die mann, wenn Sie das noch hören wollen, der in Arbeits-
nicht realis tischerweise zu den Arbeitslosen zählen, beschaffungsmaßnahmen kommt.
und käme man damit nicht zu viel höheren Zahlen
tatsächlicher Arbeitslosigkeit?
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Reimann,
Ihre Frage wird noch beantwortet.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Urba-
niak, Sie wissen genau, daß wir dieses Sonderinstru- (Abg. Manfred Reimann [SPD] begibt sich
ment der Kurzarbeit und die Behandlung in den fünf zurück zum Saalmikrophon)
neuen Bundesländern bewußt gewählt haben, weil
die Umstrukturierung in den Bet rieben noch längst Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich kann das
nicht abgeschlossen ist und die Chance besteht, daß noch ausführen, damit Sie Ihr Lachen dann vielleicht
aus Kurzarbeit auch wieder Beschäftigung wird. Wir doch einstellen können.
haben dieses Instrument, auch bei Null-Arbeit in (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Nicht
Kurzarbeit gehen zu können, gewählt, damit die Be- so persönlich!)
troffenen zunächst einmal im Bet rieb verbleiben und Auch diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren,
nicht entlassen werden und so nicht eine Wiederein- aber sofort in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über-
gliederung nötig wird, sondern eine Weiterbeschäfti- nommen werden können, sind bekanntlich keine Ar-
gung möglich bleibt. beitslosen, zumindest für zwei Jahre nicht. Was dann
(Deltev von Larcher [SPD]: Das ist versteckte wird, werden wir sehen. Das sind die „Betroffenen".
Arbeitslosigkeit!) Diese kann man nicht alle als „Arbeitslose" bezeich-
nen, wenn sie in Maßnahmen kommen, die ihrer Wei-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Noch eine Zusatz- terbeschäftigung dienen sollen.
frage des Kollegen Gerd Andres.
(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Das
ist eine Frage der Statistik!)
Gerd Andres (SPD): Herr Staatssekretär, da, wie
Ihnen bekannt ist, der Bundesarbeitsminister in sei-
nem „Handelsblatt" -Artikel einzelne Gruppen von Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine letzte Zu-
Arbeitslosigkeit Bedrohter aufgezählt hat, wie satzfrage zu dieser Frage. Dann kommen wir zum
700 000 aus dem Bergbau, 400 000 aus der Landwirt- nächsten Geschäftsbereich.
schaft, die in der Warteschleife des öffentlichen
Dienstes, nach dem Kündigungsschutzabkommen, Ernst Schwanhold (SPD): Herr Staatssekretär, wür-
kann ja nicht zutreffen, daß der Arbeitsminister damit den Sie wenigstens zustimmen, daß die Gefahr der
sozusagen die Gesamtbetrachtung gemacht hat, son- statistischen Manipula tion dann nicht ganz von der
dern er hat von 3,5 bis 4 Millionen Arbeitslosen ge- Hand zu weisen ist?
sprochen. Ist diese Aussage nicht in eklatantem Wi-
derspruch zu dem zu sehen, was Sie uns hier vorge- Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Es wird stati-
tragen haben. stisch überhaupt nicht manipuliert, weil die Begriffe
(Beifall des Abg. Otto Schily [SPD]) eindeutig sind. Sie können das ja alles nachprüfen.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich habe eben Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit sind wir am
schon versucht, Kollege Andres, klarzustellen, daß der Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Danke
Bundesarbeitsminister nicht Arbeitslosigkeit als sol schön, Herr Staatssekretär Günther.
1754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, bitte. Wird bei der Einlagerung von Sondermüll sowie beim Trans-
port in den fünf neuen Bundesländern nun das Begleitschein
Meine Fragen sind mir soeben beantwortet worden. verfahren sowie die verantwortliche Erklärung des Sondermüll-
produzenten für den Transpo rt und die Deponierung von Son-
Ernst Schwanhold (SPD): Herr Staatssekretär, hat dermüll angewandt?
es inzwischen Untersuchungen der in Frage stehen-
den Deponie gegeben, ob sie überhaupt geeignet ist, Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kol-
dort weiterhin Einlagerungen vornehmen zu lassen. lege Schwanhold, nach den entsprechenden Bestim-
mungen des Einigungsvertrags vom 23. September
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- 1990 gelten das Abfallgesetz sowie die darauf beru-
lege, die gibt es in der Tat. Die Deponie Schönberg henden Rechtsverordnungen und Verwaltungsvor-
verfügt, wie Sie wissen, über einen für die Deponien schriften auch in den neuen Bundesländern.
von Sonderabfällen ausgelegten Teil, der die Kriterien Insbesondere gelten die Anforderungen des Abf all-
der TA Abfall für Sonderabfalldeponien erfüllt. Daher gesetzes an die Entsorgung „besonders überwa-
erfolgt die Ablagerung von Sonderabfällen auf der chungsbedürftiger Abfälle" sowie die entsprechen-
Deponie Schönberg auf der Grundlage des geltenden den Überwachungsvorschriften. Ich erwähne die Ab-
Rechts — mit all den Problemen der Altlasten, mit all fallbestimmungs-Verordnung nach § 2 Abs. 2 Abfall-
den Problemen der Verfüllung in den letzten Jahren. gesetz , die Reststoffbestimmungs-Verordnung und
Sie wissen, daß es da manche Überraschung geben die Abfall- und Reststoffüberwachungs-Verordnung,
kann. Aber diese Deponie ist überprüft. Sie unterliegt die unter anderem die Führung des Entsorgungs-
den Kritieren, die wir auch an Deponien in den alten nachweises durch den Sonderabfallerzeuger sowie
Bundesländern anlegen. das Begleitscheinverfahren regeln.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz-
Die alten Bundesländer leisten im Rahmen ihrer
frage. Möglichkeiten Verwaltungshilfe und sind bei Ver-
bringungen von Sonderabfällen in die neuen Länder
Ernst Schwanhold (SPD): Darf ich Ihrer- Antwort ohnehin in die Überwachungsverfahren nach oben
entnehmen, daß der Bundesregierung nicht bekannt genannten Verordnungen hinsichtlich der Erzeuger
ist, daß durch Mülltransportunternehmen besonders und Einsammler bzw. Beförderer eingebunden.
im Bereich Sondermüll noch immer Sonderabfälle so- Soweit der Bundesregierung bekannt ist, werden all
wohl nach Thüringen als auch in das Umland von Ber- diese von mir soeben zitierten Vorschriften in den
lin transportiert und dort abgelagert werden? Oder neuen Bundesländern zwar schon teilweise, aber
gibt es nur keine Untersuchungen und keine Nachfor- noch nicht flächendeckend angewandt, weil sich die
schungen darüber? hierfür notwendige Behördenstruktur noch im Aufbau
befindet.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kol-
lege, ich weiß nicht, was Sie unter „dort" verstehen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Kol-
Wenn Sie Schönberg meinen, dann — — lege Schwanhold.
(Ernst Schwanhold [SPD]: Nein; ich rede
nicht von Schönberg!) Ernst Schwanhold (SPD) : Welche Qualifizierungs-
maßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet, um
— Uns interessiert jeder Hinweis, den Sie haben, daß genug geeignetes Personal in den neuen Bundeslän-
auf andere Deponien Sonderabfälle aus den alten dern zur Verfügung zu haben?
Bundesländern angeliefert werden. Denn Sie wissen,
daß die Möglichkeit dazu in der Tat nicht besteht. Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Ich sagte,
(Ernst Schwanhold [SPD]: Gut!) daß die Hilfe der alten für die neuen Bundesländer
zum einen direkt besteht, daß auch in Bund-Länder-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Arbeitskreisen Besprechungen darüber stattfinden
frage des Kollegen Eich. und daß zusätzlich unser Haus über Berater den Län-
dern, den Kommunen, den entsorgungspflichtigen
Ludwig Eich (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie Körperschaften auch in diesen Fragen zur Verfügung
mir sagen, wie viele Tonnen aus den sogenannten Alt- steht. Wir haben ureigens zu diesem Zweck solche
ländern noch monatlich auf diese Deponie verbracht Beratergremien gebildet, die in den neuen Bundes-
werden? ländern auch dafür Hilfestellung geben.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das kann Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz-
ich Ihnen nicht sofort beantworten, weil dies Erhebun- frage.
gen bei dem zuständigen Land und den zuständigen
Entsorgern bzw. den Ländern, die dorthin transportie- Ernst Schwanhold (SPD): Da Sie diese Frage nicht
ren, notwendig macht. Ich bin gern bereit, Ihnen diese beantwortet haben, möchte ich gern die Frage stellen,
Zusatzfrage schriftlich zu beantworten. Ich sage Ihnen welche Qualifizierungsmaßnahmen Sie eingeleitet
gern zu, Ihnen diese Daten zu liefern. haben, um in den Betrieben, in denen Sondermüll pro-
(Ludwig Eich [SPD]: Vielen Dank!) duziert wird, den Sondermüllbeauftragten mit der
entsprechenden notwendigen Qualifikation zur Ver-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu- fügung zu haben.
satzfrage dazu liegt nicht vor.
Wir kommen zu Frage 23 des Kollegen Ernst Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kol-
Schwanhold: lege, da Sie von Nichtbeantwortung sprechen, haben
1756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
Herr Kollege Schily. nister für Post- und Telekommunikation: Frau Präsi-
dentin! Wenn Sie gestatten, würde ich gern die beiden
Ott o Schily (SPD): Wie weit ist denn die Erfassung Fragen des Kollegen Har ri es im Zusammenhang be-
der erhaltenswerten Alleebäume gediehen? antworten. Ich hoffe, der Herr Kollege Har ri es ist da-
mit einverstanden.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Die Län-
der sind mit dieser Erfassung beschäftigt. Die notwen- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ja, er ist damit
digen Hilfestellungen werden laufend gegeben. Ich einverstanden.
habe deshalb — auch durch den Hinweis auf die Be- Ich rufe also auch die Frage 30 des Abgeordneten
antwortung vom 25. Ap ril — darauf hingewiesen, daß Har ri es auf:
das Verkehrsministerium mit den Ländern und mit Beabsichtigt die Deutsche Bundespost, ihr Frachtgutkonzept
den zuständigen Straßenbaubehörden nicht nur im mit dem Ziel einer deutlichen Beschleunigung zu verändern?
Gespräch ist, sondern daß auch Grundzüge bei der
Beurteilung und beim Umgang mit diesen Bäumen, Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege
die z. B. durch Straßenbau tangiert werden, erstellt Har ri es, die Masse der Postsendungen wird nach wie
werden. vor auf der Schiene transportiert. Die Deutsche Bun-
despost Postdienst läßt sich dabei von dem Grundsatz
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zu- leiten, daß dem Schienenverkehr immer dann der
satzfrage, Herr Kollege Schily. Vorzug zu geben ist, wenn diese A rt der Beförderung
den Belangen des Postbetriebs ebensogut entspricht
Ott o Schily (SPD): Herr Schmidbauer, da Sie uns wie irgendeine alte rnative Transportorganisation.
hier mitteilen — wie das schon zuvor von einem Kol- Die Generaldirektion Postdienst plant nicht, die 400
legen aus dem Verkehrsministerium geschehen ist —, eingesetzten Bahnpostwagen abzuschaffen. Sie be-
daß Sie keine Übersicht darüber haben, wieviele Al- absichtigt allerdings, im Jahre 1991 zusätzlich zu den
leebäume bereits gefällt worden sind, frage ich: Wäre im Gesamtbestand enthaltenen 117 sogenannten
es Ihnen möglich — zumindest durch Raterteilung — Schnelläufern weitere 27 und im Jahre 1992 voraus-
darauf hinzuwirken, daß wenigstens einstweilen ein sichtlich noch einmal 42 Fahrzeuge für eine Höchst-
Stopp verhängt wird, der dahin geht, daß keine wei- geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern umzu-
teren Alleebäume gefällt werden? rüsten, um in noch größerem Umfang als bisher am
Hochgeschwindigkeitsverkehr der Deutschen Bun-
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: In B ri efen desbahn teilzunehmen.
aus unserem Haus und auch bei den Gesprächen un- Auch die zur Zeit laufenden Planungen im Trans-
serer Mitarbeiter, die ureigens in der Beratung in die- portbereich Fracht bauen auf einer Kooperation von
ser Angelegenheit in den Ländern unterwegs sind, Bahn und Post auf. Das durch die Deutsche Bundes-
wird genau auf diesen Punkt hingewiesen. Ich bin post Postdienst erarbeitete Frachtkonzept wird durch
gern bereit, noch einmal bei den Ländern rückzufra- den flächendeckenden 24-Stunden-Rhythmus die
gen, wie sich der Tatbestand heute stellt und ob es derzeitige Laufzeitqualität erheblich verbessern.
neue Zahlen über das Fällen solcher Bäume gibt, bzw.
darauf hinzuwirken, daß solche Fällungen nur in äu- Klaus Harries (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist
ßersten Notfällen vorgenommen werden. Dies ist aber Ihnen bekannt, ob die Deutsche Bundespost bei ihren
auch der heutige Sachstand. Entscheidungen die auch ökologische Auswirkungen
haben können, vorher Kontakt und Abstimmung mit
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- dem Bundesumweltminister sucht und findet?
fragen liegen nicht vor. Ich bedanke mich für die Be-
antwortung der Fragen, Herr Staatssekretär. Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Das tut sie si-
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun- cherlich, weil das ja der vorgeschriebene Weg ist, Herr
desministers für Post und Telekommunikation. Zur Kollege, wie Sie wissen.
Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatsse-
kretär Wilhelm Rawe zur Verfügung. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage
Wir kommen zur Frage 27 des Herrn Kollegen Herr Toetemeyer.
Dr. Jürgen Schmieder, sofern er im Saal ist. — Dies ist
nicht der Fall. Es wird verfahren, wie in der Geschäfts- Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Herr Parlamen-
ordnung vorgesehen. tarischer Staatssekretär, Sie haben eben gesagt: Die
Die Frage 28 des Kollegen Hans-Joachim Otto soll Masse der Postsendungen wird durch die Bundes-
schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als bahn transportiert. Könnten Sie das in Prozenten an-
Anlage abgedruckt. geben?
1758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege entsprechenden Orten auf den Basaren verkauft wor-
Toetemeyer, das kann ich im Moment nicht. Wenn ich den sind?
von der Masse spreche, gehe ich davon aus, daß es
über 50 % sind. Ich bin gern bereit, Ihnen die exakte Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es
Zahl nachzuliefern. mag sein, daß ein Repo rt er des Südwestfunks live sol-
che Unterstellungen oder Einlassungen gemacht hat.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es liegen keine Ich kann nur darauf hinweisen, daß bei der Fülle der
weiteren Zusatzfragen vor. Wir sind damit am Ende Hilfsgüter, die die Bundesregierung zur Verfügung
dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr gestellt hat, sicher im Einzelfall Mißbräuche nicht ver-
Staatssekretär. mieden werden konnten. Aber wir haben keinerlei
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- offizielle Hinweise darauf, und wir waren auch be-
nisters des Auswärtigen. Zur Beantwortung steht Herr müht, solche Mißstände nach Möglichkeit zu vermei-
Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung. den.
Die Frage 31 des Kollegen Ortwin Lowack soll
schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es ist für mich ein
Anlage abgedruckt. bißchen schwierig, wenn immer einige im Saal stehen,
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Hans Wallow auf, zu erkennen, ob eine Zusatzfrage gewünscht wird
der anwesend ist. oder ob es sich um einfaches Herumstehen handelt.
Welche politischen und organisatorischen Probleme entste- Der Kollege Rudolf Bindig hat eine Zusatzfrage.
hen bei den Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik Deutschland
für die kurdischen Flüchtlinge mit türkischen Behörden ein-
schließlich des Militärs? Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatsminister, sind eine
Reihe der Versorgungsschwierigkeiten, die am An-
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen fang entstanden sind, nicht auch dadurch entstanden,
Amt: Herr Kollege, die türkische Regierung und ihre daß die türkischen Behörden die geflohenen kurdi-
Behörden haben nicht nur rasch und großzügig ei- schen Flüchtlinge nicht aus den Bergen in bessere
gene Maßnahmen für die irakischen Flüchtlinge ein- Gebiete haben absteigen lassen, so daß deshalb so
geleitet, sondern auch die deutsche und andere aus- lange und schwierige Transportwege zu bewältigen
ländische Hilfe von Anfang an nach besten Kräften waren?
unterstützt und koordiniert. Besonders in der An-
fangsphase auftretende Schwierigkeiten waren ange- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das
sichts der Einmaligkeit und der Dimension der ge- ist sicher zutreffend. Wir hatten tatsächlich am Anfang
meinsamen Hilfsaktionen kaum vermeidbar. solche Probleme. Sie wissen, daß wir von Anfang an,
Über 500 000 Menschen flüchteten schließlich in- nachdem uns dies bekannt wurde, auf die türkische
nerhalb kürzester Zeit unter schlechten Wetterbedin- Regierung und auf die türkischen Behörden einge-
gungen in eine unwegsame und abgelegene Hochge- wirkt haben, damit die Flüchtlinge aus dem unwegsa-
birgsregion. Eine provisorische Infrastruktur mußte men gebirgigen Gelände in die Täler absteigen durf-
erst geschaffen werden. ten, was ihnen schließlich auch erlaubt wurde.
Durch einen intensiven Dialog mit der türkischen
Regierung und den türkischen Behörden, auch beim Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz-
Besuch des Bundesaußenministers in der Türkei am frage zu dieser Frage? — Das ist nicht der Fall.
19. April, konnte eine enge und vertrauensvolle Zu- Dann rufe ich die Frage 33 des Kollegen Wa llow
sammenarbeit gesichert werden. Es konnten damit auf:
auch gewährleistet werden: die Versorgung von Hub- Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen,
schraubern mit Benzin, die Akkreditierung priva- tun die Freiheit der Berichterstattung über die Problematik der
ter Hilfsorganisationen, Hubschrauberüberführungs- Hilfe für die kurdischen Flüchtlinge auf türkischem Gebiet zu
gewährleisten bzw. gegen Einschränkungen durchzusetzen?
flüge in den Iran und Zollabfertigung.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Wal-
low, im Laufe der Flüchtlingskatastrophe im türkisch-
Hans Wallow (SPD): Herr Staatsminister, ist der irakisch-iranischen Grenzgebiet haben zeitweise
Bundesregierung bekanntgeworden, daß durch türki- über 500 Journalisten aus dem Katastrophengebiet
sches Militär Hilfsgüter gestohlen und anschließend berichtet. Diese Berichterstattung hat breiten Nieder-
auf Basaren verkauft worden sind? schlag in den internationalen Medien gefunden.
Abgesehen von den Akkreditierungsformalitäten
Helmut Schäfer, Staatsminister: Es gab solche Ge- und Einschränkungen, die türkische millitärische Si-
rüchte. Aber wir haben keine festen Informationen cherheitsbereiche betroffen haben, konnte und kann
über die Gerüchte, die gelegentlich in Zeitungen zu
die Presse im Krisengebiet im wesentlichen frei arbei-
lesen waren. ten. Darüber hinausgehende Klagen deutscher Jour-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- nalisten sind nicht bekanntgeworden.
frage. Für besondere Maßnahmen seitens der Bundesre-
gierung besteht daher kein G ru nd. Die Botschaft in
Hans Wallow (SPD): Ist der Bundesregierung be- Ankara hat sich zum Teil mit Erfolg bemüht, sogar
kannt, daß ein Journalist im Südwestfunk live über hinsichtlich der erwähnten Einschränkungen, also in
diese Diebstähle berichtet hat und daß es auch Fern- ganz bestimmte militärische Sicherheitsbereiche hin-
sehaufnahmen gibt, die zeigen, daß Hilfsgüter in den ein, Erleichterungen zu erreichen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Ber lin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1759
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Verhandlungsverlauf werden wir mit großer Auf-
Kollege. merksamkeit verfolgen.
Hans Wallow (SPD): Herr Staatsminister, ist der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage.
Bundesregierung nicht bekanntgeworden, daß ameri-
kanische Journalisten und auch ein deutscher Journa- Hans-Günther Toetemeyer (SPD) : Wann hat es eine
list auf Grund der Berichterstattung über die Dieb- Besprechung der Außenminister zu diesem Fall gege-
stähle an Hilfsgütern unmittelbar darauf des Landes ben? Könnten Sie mich darüber informieren? Welche
verwiesen worden sind? konkreten Maßnahmen sind getroffen worden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, uns Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen
sind Fälle bekannt, etwa der dreier britischer Journa- jetzt nicht sagen, in welchem der zahlreichen Außen-
listen, denen die Akkreditierung dort auf Grund eines ministertreffen dieses spezielle Problem angespro-
besonderen Zwischenfalls entzogen worden ist. Aber chen worden ist. Aber ich habe bereits darauf hinge-
ich kann Ihnen zu den von Ihnen genannten Fällen wiesen, Herr Kollege Toetemeyer, daß die EG-Kom-
keine Auskunft geben, und ich kann vor allem den mission von uns und auch von anderen Staaten darauf
Zusammenhang, den Sie herstellen, nicht bejahen. hingewiesen worden ist, daß die spanische Regierung
es entsprechend bedauert hat und daß Verhandlun-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Keine weiteren gen zwischen der EG und Namibia auch im Hinblick
Zusatzfragen. auf die Frage der zukünftigen Fischerei vor der Küste
Ich rufe Frage 34 des Kollegen Hans-Günther Toe- geführt werden.
temeyer auf: (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Die Frage
Wie beurteilt das Auswärtige Amt die von mir dargestellten war — — )
flagranten Völkerrechtsverletzungen durch einen Mitgliedstaat
der Europäischen Gemeinschaft (s. Fragen 20 und 27, Drucksa- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, es
che 12/396)?
ist der Regierung freigestellt, wie sie Fragen beant-
wortet oder nicht beantwortet. Ich kann leider Gottes
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Toe-
nur zwei Zusatzfragen von Ihnen zulassen. Die
temeyer, Sie hatten in der Fragestunde am 25. Ap ril
Schlüsse aus den Antworten müssen Sie bitte selber
ausgeführt, daß spanische Fischer seit Sommer 1990
ziehen.
illegal in der 200-Meilen-Zone vor Namibia mehr als
45 000 t Fisch im Wert von ca. 120 Millionen DM ge- Gibt es von einem anderen Abgeordneten Zusatz-
fangen haben. Kollege Gallus hat in der Sitzung vom fragen zu Frage 34? — Das ist nicht der Fa ll.
25. April im Namen der Regierung diese illegalen Ich rufe Frage 35 des Kollegen Horst Sielaff auf:
Aktivitäten von einzelnen spanischen Fischern be- Ist der Bundesregierung bekannt, daß am 18./19. Mai 1991 in
dauert und erklärt, daß die Bundesregierung der EG- Annaberg/Polen ein Schlesiertreffen geplant ist, auf dem der
Kommission gegenüber ihre Sorge zum Ausdruck ge- Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Herbe rt Hupka,
als Hauptredner auftreten wird, der den Grundlagenvertrag mit
bracht hat. Diese Haltung war zwischen dem Land- Polen als „übereilt und höchst unzulänglich ausgehandelt" be-
wirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt zeichnet hat, und teilt die Bundesregierung die Meinung, daß
abgestimmt. Sie wird vom Auswärtigen Amt voll mit- eine solche Veranstaltung der Normalisierung des Verhältnisses
getragen. zwischen Deutschland und Polen und der Versöhnung zwischen
beiden Völkern höchst abträglich sein würde?
Ergänzend darf ich betonen, daß es sich um i llegale
Aktivitäten von einzelnen spanischen Fischern ge- Helmut Schäfer, Staatsminister: Wenn Herr Kollege
handelt hat. Die spanische Regierung hat diese illega- Sielaff und Sie, Frau Präsidentin, einverstanden sind,
len Aktivitäten gegenüber der Regierung Namibias möchte ich die beiden Fragen des Kollegen Sielaff
inzwischen förmlich bedauert und ihre Zusammenar- gern zusammen beantworten. — Der Kollege ist ein-
beit zur Vermeidung ähnlicher Vorfälle in der Zukunft verstanden.
angeboten.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann rufe ich
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. auch Frage 36 des Kollegen Horst Sielaff auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß am 18./19 Mai 1991 in
Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Herr Staatsmini- Annaberg zeitgleich das Schlesiertreffen sowie, seitens polni-
ster, da in allen der Europäischen Gemeinschaft ange- scher Organisationen, ein Treffen anläßlich des 70. Jahrestages
hörenden Parlamenten ähnliche Fragen gestellt wor- des 3. Schlesischen Aufstandes, der 1921 durch deutsche, in
Schlesien zusammengestellte Corps niedergeschlagen wurde,
den sind: Hat es inzwischen eine Kontaktaufnahme geplant ist, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregie-
der Außenminister untereinander gegeben, um auf ru ng, die damit zu erwartende Konfrontation zwischen Schle-
die EG-Kommission einzuwirken, da der für die Fi- siern und Polen zu verhindern?
scherei zuständige Kommissar dieses Verhalten der
spanischen Regierung ausdrücklich gedeckt hat? Helmut Schäfer, Staatsminister: Der Bundesregie-
rung ist bekannt, daß am 18. und 19. Mai dieses Jahres
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich ein Pfingsttreffen deutschstämmiger Oberschlesier
habe bereits darauf hingewiesen, daß wir mit der EG- am Annaberg geplant ist. Dieses Treffen fällt in der
Kommission, die zuständig ist, im Rahmen dieser Tat mit dem 70. Jahrestag des von Ihnen erwähnten
Maßnahmen etwas zu tun, Kontakt aufgenommen ha- sogenannten 3. Schlesischen Aufstandes, eines polni-
ben. Wir haben uns dafür eingesetzt und gehen davon schen Aufstandes, zusammen. Über die Teilnehmer
aus, daß auch die Fischereiverhandlungen mit Nami- an dem Treffen liegen der Bundesregierung keine
bia bald fortgeführt werden können. Den weiteren definitiven Informationen vor.
1760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Horst Sielaff (SPD) : Herr Staatsminister, sind Sie mit Ott o Schily (SPD): Herr Staatsminister, halten Sie
-
mir der Auffassung, daß das Sperrfeuer der CSU ge- das Schlesier-Treffen am Annaberg für hilfreich im
gen den ausgehandelten Text des Nachbarschaftsver- Sinne der Förderung der deutsch-polnischen Bezie-
trages mit Polen den Abbau von Konfrontationen zwi- hungen, und haben Sie vielleicht eine Anregung ge-
schen Deutschen und Polen negativ beeinträchtigt? geben, anstelle dieses Treffens lieber ein deutsch-pol-
nisches Treffen auf dem Annaberg zu veranstalten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das
steht nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang Helmut Schäfer, Staatsminister: Zunächst einmal
mit der Frage nach einem Treffen am Annaberg. darf ich wiederholen, Herr Kollege Schily, daß die
(Rudolf Bindig [SPD]: Das paßt in den Ge Anregung zu diesem Treffen von Deutschstämmigen,
samtrahmen!) die in Polen leben, ausgegangen ist und daß wir bei all
unseren Kontakten mit der deutschen Minderheit
Mir ist der Begriff „Sperrfeuer" zu militärisch; ich
deutlich gemacht haben, daß es jetzt, in der Zeit eines
würde vielleicht eher von einer gewissen Art von Don-
ganz wichtigen Vertragsabschlusses darauf an-
ner sprechen.
kommt, nicht Emotionen aufzuheizen, sondern im Ge-
(Lachen bei der SPD)
genteil alles zu tun, um das künftige Zusammenleben
Aber, Herr Kollege, ich meine, wir sollten hier, wie auch der deutschen Minderheit in Polen zu erleich-
schon so oft bei Fragestunden im Deutschen Bundes- tern, was natürlich wiederum mit der polnischen Re-
tag, Dinge nicht dramatisieren wollen, die sich im gierung zusammenhängt.
politischen Leben von Parteien pausenlos abspielen
Insofern ist jeder, der an einem solchen Treffen teil-
und sicher ganz andere Motive haben als das Treffen
nimmt, gut beraten, wenn er die kulturellen Aspekte,
am Annaberg und die Folgen.
die Sie in Ihrer Frage angesprochen haben, stärker in
den Vordergrund stellt als möglicherweise politische
Vizepräsidentin Renate Schmidt: So hat also auch Motive oder historische Reminiszenzen.
die Antwort nicht unbedingt den Sachkomplex getrof-
fen.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich werde mit
Herr Kollege Sielaff, weitere Zusatzfrage. Recht darauf hingewiesen, daß wir schon um vier Mi-
nuten überzogen haben. Deshalb lasse ich die letzte
Horst Sielaff (SPD): War geplant, Herr Staatsmini- Zusatzfrage zu; das ist die Zusatzfrage des Herrn Ab-
ster, daß der Parlamentarische Staatssekretär P ri es- geordneten Duve.
nitz an diesem Treffen am Annaberg teilnehmen
wollte oder sollte, wie es „Der Spiegel" am 6. Mai Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben
berichtete? eben im Zusammenhang mit unseren Fragen nach
dem Annaberg die Bedeutung des Vertragswerks mit
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, da Polen erwähnt. Ist die am heutigen Tage stattgefun-
der Staatssekretär Priesnitz nicht dem Auswärtigen dene Koalitionsbesprechung zum weiteren Vorgehen
Amt angehört, fällt es mir sehr schwer, Ihnen auf diese zwischen den drei Koalitionspartnern in Sachen die-
Frage eine Auskunft zu geben. Ich halte es nicht für ses Vertrages im Zusammenhang mit dieser Diskus-
ausgeschlossen, daß der Staatssekretär Priesnitz sol- sion über die Veranstaltung am Annaberg zu sehen,
che Absichten hatte. Ich habe aber auch irgendeiner und sind Sie bereit, dem Haus hier über das Ergebnis
Zeitung entnommen, daß er nicht dorthin fahren wird. dieses Gesprächs Mitteilung zu machen?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1761
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, da Herr Möllemann, gerade in der Energiepolitik, die
dieses Gespräch heute nachmittag nach meiner langfristige Perspektiven braucht, bei der wir uns alle
Kenntnis nicht zustande gekommen ist, um einen neuen Konsens bemühen, sind Ihre Eskapa-
(Freimut Duve [SPD]: Hört! Hört!) den überflüssig und schädlich. Man kann nicht einer-
seits einen energiepolitischen Konsens suchen und
was aber nichts mit dem Treffen auf dem Annaberg, andererseits die Verhandlungsbasis zerstören, bevor
sondern mit wesentlich vordergründigeren Dingen zu man überhaupt mit den Partnern geredet hat. Mit die-
tun hat, kann ich Ihnen diese Frage leider noch nicht sem Stil werden Sie nicht nur in der Energiepolitik
beantworten. scheitern.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir sind damit am Sie sollten statt dessen lieber Ihre energiepoliti-
Ende der Fragestunde angekommen. schen Schularbeiten machen. Sie haben bis heute
keine einzige Maßnahme ergriffen, um die Kohlen-
dioxidemissionen bis zum Jahre 2005 um 30 % abzu-
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: senken. Genau das hat die Bundesregierung be-
Aktuelle Stunde schlossen.
Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen Wir kennen keine konkrete Zahl von Ihnen oder
des Bundeswirtschaftsministers zur Aufkündi- eine Aussage darüber, wie der zukünftige Energiemix
gung des Jahrhundertvertrages auszusehen hat und welche Rolle dabei die einzelnen
Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu Energieträger — auch die heimische Steinkohle und
dem zuvor erwähnten Thema verlangt. die heimische Braunkohle — spielen werden. Wir ha-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr ben keine Klarheit, wie der Wirtschaftsminister lang-
Abgeordnete Schäfer. fristig zur Kernenergie steht. Es ist nicht erkennbar,
welche Anstrengungen der Bundeswirtschaftsmini-
- ster unternehmen wird, um die erneuerbaren Ener-
Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Frau Präsi- gien endlich in den Markt zu bringen. Auf allen die-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! sen wichtigen energiepolitischen Feldern Fehlan-
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Energiepoli- zeige der Bundesregierung!
tik der Bundesregierung fehlen Klarheit, Berechen-
barkeit und Verläßlichkeit. Den jüngsten Beleg dafür (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein, der Oppo
liefert erneut Bundeswirtschaftsminister Möllemann: sition!)
nach dem Zickzackkurs zum Kernenergieausbau in
den neuen Bundesländern nun eine unnötige Kohle- Statt mit konstruktiven Vorschlägen um Vertrauen
diskussion. Wir fragen uns: Wem eigentlich soll ein und Konsens zu werben, schüren Sie mit Ihrem letzten
solches Verhalten nützen, Herr Wirtschaftsminister Beitrag in der energiepolitischen Debatte Ängste,
Möllemann? wecken Sie Emotionen, gefährden Sie mit Ihrem sa-
loppen Gerede Arbeitnehmerexistenzen. Geben Sie
(Gerd Andres [SPD]: Was sagt der Blüm endlich Eckpunkte eines energiepolitischen Gesamt-
dazu? — Weitere Zurufe von der SPD) konzeptes vor, und halten Sie sich an gegebene Zusa-
Zum Sachverhalt: Am 24. August 1989 gibt der Bun- gen bei der Steinkohleverstromung!
deskanzler sein Wort. Viele Menschen verlassen sich
darauf. Das Wort lautet: Der Jahrhundertvertrag für Wir Sozialdemokraten stehen jedenfalls zu unserem
den Steinkohlenbergbau gilt bis 1995. Wort, auch in der Kohlepolitik. Was vor der Bundes-
tagswahl gegolten hat, gilt auch danach. Das ist übri-
(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) gens auch ein Gebot der politischen Moral und der
In der Koalitionsvereinbarung von Beginn dieses Jah- politischen Kultur, über die so oft bei uns, auch in die-
res, die der Wirtschaftsminister mit ausgehandelt hat, sem Hause heute an diesem Tage, geredet worden
heißt es noch: Die Kohleverhandlungen mit der EG ist.
werden auf der Basis von 40,9 Millionen t Steinkohle (Beifall bei der SPD)
pro Jahr für die Verstromung geführt. Bis 1995 bleibt
es beim Kohlepfennig. Nur wenn ein Gesamttableau auf dem Tisch liegt,
kann man über die Rolle der einzelnen Energieträger
Heute will der Wirtschaftsminister davon nichts
in der Zukunft reden. Wir Sozialdemokraten haben
mehr wissen und mit dem Sturzflug der Steinkohle
klare energiepolitische Aussagen gemacht. Sie liegen
lieber heute als morgen beginnen, und zwar ohne
diesem Hohen Hause vor.
Rücksicht auf energiepolitische, auf sozialpolitische,
auf arbeitsmarktpolitische, auf regionalpolitische Ver- Wir meinen freilich, meine Damen und Herren, daß
nunft. selbst bei Realisierung aller notwendigen Einsparpo-
Meine Damen und Herren, soll auch in der Energie- tentiale, bei Ausschöpfung aller Potentiale erneuerba-
politik der Bundesregierung das Motto gelten: Es gilt rer Energien, bei Schaffung eines neuen energiewirt-
das gebrochene Wort? schaftlichen Ordnungsrahmens durch das Vorlegen
eines neuen Energiegesetzes, das das Energiewirt-
(Zuruf von der SPD: Fürwahr!)
schaftsgesetz aus dem Jahre 1935 ablösen muß, daß
Ein klärendes und klarstellendes Wort des Bundes- selbst bei Realisierung all dieser längst überfälligen
kanzlers, daß die Zusage für den deutschen Steinkoh- energiepolitischen Maßnahmen die Kohle, die Stein-
lenbergbau aus Sicht der Bundesregierung bis 1995 kohle und die Braunkohle, für lange Zeit ein Eckpfei-
gilt, ist dringend geboten. ler einer umweltverträglichen und sicheren Energie-
(Beifall bei der SPD) versorgung bleiben wird.
1762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Schäfer, lem die Betroffenen, die Bergleute, die Steinkohlen-
kommen Sie bitte zum Schluß. wirtschaft und die Stromerzeuger.
(Uta Würfel [FDP]: Genau das findet statt!)
Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Noch ein Satz, Der Steinkohlenbergbau hat ein Optimierungsmo-
Frau Präsidentin! dell vorgelegt. Danach ist es in beschränktem Maße
Deshalb muß ein Sockel heimischer Steinkohle und möglich, die Produktionskosten zu senken. Darüber,
Braunkohle für die Stahlherstellung, für den ob die Vorschläge ausreichen oder nicht, wäre noch zu
Wärmemarkt und für die Stromerzeugung erhalten diskutieren. Die Bundesregierung sollte ihre Vortel-
bleiben. Zum Gespräch über den Umfang dieses Sok- lungen dazu bald bekanntmachen.
kels im Rahmen einer vernünftigen Anschlußrege- Eine vernünftige Energiepoli tik muß die Energie-
lung nach 1995 sind wir Sozialdemokraten bereit. versorgung über einen längeren Zeitraum berechen-
Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksam- bar halten. Deswegen muß sich eine Planung für die
keit. Zukunft über einen Zeitraum von mindestens 15 bis
(Beifall bei der SPD und bei dem Bündnis 90/ 20 Jahren erstrecken.
GRÜNE) (Uta Würfel [FDP]: Ach du meine Güte!)
Unstrittig scheinen mir die Ziele der Energiepolitik
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Meine Damen zu sein: erstens eine Versorgung zu Preisen, die uns
und Herren, ich möchte Sie darauf aufmerksam ma- international wettbewerbsfähig erhält, zweitens eine
chen, daß wir hier, was die Redezeit und die Einstel- langfristige Versorgungssicherheit, drittens eine mög-
lung der Uhr betrifft, eine andere Regelung haben als lichst hohe Umweltverträglichkeit und viertens die
bei uns im „Wasserwerk" in Bonn. Wenn hier die rote soziale Akzeptanz. Aber darüber, welche Energieart
Lampe leuchtet, ist die Redezeit um und nicht etwa in welchem Ausmaß eingesetzt werden soll oder darf,
- sich darauf
noch ein bißchen Zeit übrig. Ich bitte Sie, gibt es sicherlich unterschiedliche Auffassungen;
einzurichten. denn jede Energieart ist mit Vorteilen und Nachteilen
verbunden.
Jetzt hat der Kollege Hein rich Seesing das Wort.
Wie kompliziert diese Abwägungsprozesse sein
können, kann man besonders am Beispiel der Stein-
Heinrich Seesing (CDU/CSU): Frau Präsidentin! kohle sehen. Deutsche Steinkohle bietet eine hohe
Meine Damen und Herren! Leben ist ohne Energie Versorgungssicherheit. Deswegen haben wir den
nicht möglich. Bergbau mit erheblichen Subventionen — viele mei-
(Beifall bei der SPD) nen, mit zu hohen Subventionen — am Leben gehal-
Wenn wir wollen, daß es auch noch in hundert Jahren ten. Für deren soziale Akzeptanz ist in Bergbauregio-
menschliches Leben auf der Erde gibt, müssen wir nen gesorgt, leben doch diese Regionen immer noch
schon jetzt die Frage nach der Energieversorgung von der Steinkohle und mit der Steinkohle. Eine so-
nicht nur stellen, sondern auch beantworten. Viel Zeit ziale Akzeptanz, kurzfristig den Bergbau einzustellen
haben wir nicht mehr zu verlieren. Deswegen ist es oder auch nur einzuschränken, ist nicht zu erwarten.
gut, wenn sich der zuständige Bundesminister Gedan- Deswegen müssen Maßnahmen, wie sie auch vom
ken darüber macht. Nicht gut finde ich, daß er sich nur Bergbau selber vorgeschlagen werden, in einem ver-
über eine Energieart so geäußert hat, daß man ihn nünftigen, aber überschaubaren Zeitraum durchge-
eigentlich schelten müßte. führt werden.
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Der Abbau von Subventionen kann ein Grund sein,
Eigentlich?) die Steinkohlenförderung zu reduzieren. Mindestens
gleichrangig muß aber auch die Belastung der Erdat-
Es macht nämlich kaum einen Sinn, wenn man über mosphäre durch Kohlendioxidemissionen gesehen
Energieversorgung der Zukunft nachdenkt und nur werden. Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes bet rifft
über eine Energieart spricht. aber nicht nur die Steinkohle, sondern auch Braun-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) kohle, Erdöl und Erdgas. Deswegen hat es keinen
Wir — das sind CDU und CSU — fordern nach- Sinn, nur über eine Energieart zu sprechen.
drücklich die Vorlage eines energiepoliltischen Ge- Ich will nicht verschweigen, daß ich eine Sicherheit
samtkonzepts bis zum Herbst dieses Jahres. Es gibt für die deutsche Steinkohle nur sehe, wenn es gelingt,
auch für mich keinen Grund, von vertraglichen Ver- den Anteil der Stromerzeugung mit Hilfe der Kern-
einbarungen, die z. B. über die Nutzung der Stein- energie sehr langfristig zu halten. Ich befürchte aller-
kohle getroffen wurden, abzuweichen. Es liegen dazu dings, daß wir uns ziemlich kleinkariert mit deutschen
eindeutige Aussagen in den Koalitionsvereinbarun- Problemen beschäftigen und die sich abzeichnende
gen von CDU, CSU und FDP vor. Meine Glaubwür- Entwicklung eines europäischen Energiemarktes
digkeit möchte ich nicht gerne in Zweifel gezogen übersehen. Seine Perspektiven sind in das energie-
wissen. politische Gesamtkonzept einzubeziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU — Rudolf Bindig Vergessen wir nicht, meine lieben Kolleginnen und
[SPD]: Die haben Sie schon heute morgen Kollegen: Unsere wichtigste nationale Aufgabe ist der
verspielt!) Wiederaufbau einer leistungsfähigen und umweltver-
Sollte es neue Bedingungen geben, muß mit allen träglichen Energieversorgung in den östlichen Bun-
Beteiligten gesprochen werden. Dazu zählen vor al desländern.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1763
Heinrich Seesing
Danke schön. Kraftwerk bei Helmstedt, gehen Sie doch gar nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord heran.
neten der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Nennen Sie doch
einmal ein Beispiel aus Holland!)
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat Wenn Sie auf die Kosten der Importkohle aus Süd-
Herr Abgeordneter Dr. Ul rich Briefs das Wort. afrika in Höhe von nur 97 DM pro Tonne verweisen
— die Ruhrkohle kostet demgegenüber 270 DM pro
Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Tonne; das geben wir zu — , so vergessen Sie zugleich,
tin! Meine Damen und Herren! Die Ankündigung des daß die Importkohle mit Raubbau an der Natur und an
Bundeswirtschaftsministers, den sogenannten Jahr- der menschlichen Arbeitskraft oder unter zum Teil
hundertvertrag vorzeitig zur Disposition zu stellen, ist unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der soge-
nicht ganz neu. Wirtschaftsminister Haussmann hat es nannten Dritten Welt abgebaut wird.
schon früher durchblicken lassen: Nach den Wahlen Im übrigen geht es Ihnen und den hinter Ihnen ste-
in NRW und nach den Bundestagswahlen sollten die henden Kräften, Herr Bundeswirtschaftsminister, im
im Vertrag festgeschriebenen Verstromungsmengen wesentlichen doch nur darum, unter dem Motto „Neu-
in Deutschland geförderter Steinkohle reduziert wer- bewertung der Atomenergie" die Weichen für den
den. weiteren Ausbau der Atomenergieerzeugung zu stel-
Neu ist allerdings, daß der Anschluß der DDR nun- len. Jedes der AKWs in der BRD hat allein ca. 4 000
mehr als weitere Begründung für die geplante Sen- Arbeitsplätze im Bergbau gekostet; das dürfen Sie
kung der Verstromungsmengen und damit die Ver- nicht vergessen. Zusammen sind das über 60 000 Ar-
nichtung weiterer Arbeitsplätze an Saar und Ruhr, in beitsplätze. Die Steinkohlenförderung und die in ihr
Ibbenbüren und im Aachener Steinkohlenrevier ge- vorhandenen Arbeitsplätze stören Sie einfach beim
nannt wird. Vergessen wird dabei, daß das Ruhrgebiet weiteren Ausbau der gefährlichen Atomenergieer-
eine höhere Arbeitslosigkeit als NRW hat und zeugung.
- daß die-
ses Land sowie das Saarland wiederum eine höhere Aber der Vorstoß von Bundeswirtschaftsminister
Arbeitslosigkeit als der Bundesdurchschnitt haben. Möllemann hat noch einen anderen Aspekt. Er stellt
Nach wie vor suchen im Ruhrgebiet weit über eine einen Angriff auf wichtige von den Gewerkschaften
Viertelmillion Menschen einen Arbeitsplatz. Nach durchgesetzte Schutzvorkehrungen für abhängig Be-
wie vor zählt Nordrhein-Westfalen weit über 600 000 schäftigte dar, und er ist womöglich der Vorbote eines
Arbeitslose. In dieser Situation ist jede politische Maß- Generalangriffs auf die Gewerkschaften, auf die Er-
nahme zum weiteren Abbau von Arbeitsplätzen völlig gebnisse ihrer Kämpfe und Verhandlungen und auf
unverantwortlich. Arbeitsplatzabbau im Westen mit ihre Rechte. Es ist zu befürchten, daß mit dem Gutach-
der geradezu kataraktisch sich verstärkenden Ar- ten der Deregulierungskommission, das jüngst der
beitslosigkeit im Osten zu begründen, das ist zy- Bundesregierung übergeben wurde, der Prozeß eines
nisch. solchen Generalangriffs auf die Gewerkschaften in
Als Abgeordneter, der in der letzten Legislaturpe- Gang kommen soll.
riode im Wahlkreis Reck li nghausen im Ruhrgebiet in Wir, die PDS/Linke Liste, sagen an die Adresse des
dem Wahlkreis mit der größten Bergbaustadt Europas, Bundeswirtschaftsminsters Möllemann: Hände weg
Herten, politisch gearbeitet hat, vom Steinkohlenbergbau und seinen Arbeitsplät-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ich denke, Sie zen!
wohnen in Holland!) (Zuruf von der CDU/CSU: Hände hoch! —
sage ich: Herr Bundeswirtschaftsminister, vertreten Heiterkeit)
Sie doch einmal Ihre Absichten und Ansichten dort — Das ist der Ton, den Sie gerne hätten. Er kann Ihnen
auf einer Belegschaftsversammlung z. B. der Zeche nicht militärisch genug sein.
Auguste Victo ri a. Oder warum sagen Sie nicht z. B.
auf einer Belegschaftsversammlung auf der Zeche So-
phia Jacoba in Hückelhoven im Aachener Revier den Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich hätte jetzt
Bergleuten ins Gesicht, daß Sie die Absicht haben, gerne, daß Sie zum Ende kommen.
ihnen ihre Lebensgrundlage zu nehmen? Dort droht
bei der Schließung dieser Zeche die Arbeitslosigkeits-
quote auf 20 bis 25 % zu steigen. Wollen Sie das ver- Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Wir sagen:
antworten? Können Sie das verantworten, insbeson- Hände weg von den Gewerkschaften und ihren Rech-
dere auch angesichts der Beschäftigungskatastrophe ten! Wir werden in der zukünftigen Auseinanderset-
im Osten, die uns in der Zukunft noch gewaltige Be- zung um gewerkschaftliche Rechte und um den
wältigungsanstrengungen abverlangen wird? Oder Schutz der Arbeitsplätze in West und Ost an der Seite
wollen Sie, geleitet von einem diffusen marktradika- der Gewerkschaften und der Belegschaften stehen.
len Credo, erreichen, daß sich die beiden Teile des
neuen Deutschlands, der Osten und der Westen, ge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
genseitig auf immer höhere Grade von Arbeitslosig- Briefs, kommen Sie jetzt bitte zum Ende.
keit hinauf schaukeln?
Ihre sonstigen Argumente dagegen sind Scheinar-
gumente. An die Haupt-CO2-Ausstoßer, etwa die rie- Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Betreiben Sie
sigen Braunkohlenkraftwerke der RWE-Tochter die Erfüllung des Jahrhundertvertrages und damit die
Rheinbraun westlich von Köln oder das Buschhaus Sicherung der Bergarbeiterarbeitsplätze!
1764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich denke, daß sich der Übergang 1995 nicht abrupt
vollziehen kann — auch nicht vollziehen darf — , son-
Deswegen kann ich mich auch nicht weiter damit aus-
dern kontinuierlich erfolgen muß, mit Wirkungen
einandersetzen. -
möglicherweise auch schon vor 1995. Allerdings sage
Meine Damen und Herren, rationale Energiepolitik ich mit allem Nachdruck: Änderungen können nur im
und in ganz besonderem Maße die Braun- und Stein- Einvernehmen aller Beteiligten — Bundesregierung,
kohlepolitik müssen schon wegen der besonderen na- Landesregierungen, Unternehmen und auch der Ge-
türlichen und technischen Gegebenheiten und wegen werkschaft Bergbau und Energie — erfolgen! Über
der davon abhängigen sozialen Strukturen langfristig etwas anderes lassen wir mit uns überhaupt nicht re-
angelegt sein. Das hat auch der Kollege Schäfer schon den.
gesagt; da stimmen wir sicherlich überein.
Genau darum ist Bundeswirtschaftsminister Jürgen
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das ist Möllemann bemüht, und das wollen Sie bitte zur
doch trivial!) Kenntnis nehmen. Man muß nur genau hinhören, hin-
Für die deutsche Steinkohle sind die Rahmenbedin- hören wollen, um zu erfahren, was er zum Subven-
gungen im Kohleverstromungsgesetz, im Jahrhun- tionsabbau gesagt hat, und darf die Kritik an seinen
dertvertrag mit der Elektrizitätswirtschaft und im Hüt- Darlegungen nicht an einem einzigen Satz festma-
tenvertrag mit den bekannten zeitlichen Befristungen chen. Das Totschlagargument von der „Kohlelüge" ist
festgelegt. tendenziös und bösartig. Das muß ich einmal mit aller
Die daraus logischerweise folgenden Konsequen- Deutlichkeit sagen.
zen können nicht übersehen werden. Es ist ein zwin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gendes Gebot der Bergbauunternehmen wie der poli-
tisch Verantwortlichen, ihre Konzeptionen und Dispo- Und es hilft in dem von niemandem bestrittenen not-
sitionen an den veränderten Bedingungen und Para- wendigen Anpassungsprozeß überhaupt nicht: Es
metern zu orientieren. Sie alle kennen genausogut hilft nicht den Kumpels, und es hilft nicht den Men-
wie Bundesminister Jürgen Möllemann die in der schen an Ruhr und Saar, nicht den Menschen in Hük-
GATT-Runde vertretenen Positionen zur deutschen kelhoven und Ibbenbüren und auch nicht den Men-
Kohlepolitik; oder vielleicht sollte ich sagen: gegen schen in der Lausitz.
die deutsche Kohlepolitik. Sie kennen die Auffassung
Deswegen unterstützt die FDP den Bundeswirt-
der Internationalen Energieagentur und nicht zuletzt
schaftsminister in seinem Bemühen um einen ener-
auch die strikte Haltung der EG-Kommission zur Sub-
giepolitischen Konsens. Die FDP will keiner persönli-
ventionierung der deutschen Steinkohle. Schließlich
chen oder parteipolitischen Profilierung das Wort re-
ist ja die Mikat-Kommission deswegen berufen wor-
den.
den, um ein Konzept für die Rolle und damit das Men-
gengerüst der deutschen Steinkohle nach 1995 mit (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Na,
dem Ziel zu erarbeiten, die Subventionen drastisch zu na! — Weitere Zurufe von der SPD — Dr. Ul
reduzieren und den Steinkohlebergbau von Altlasten rich B riefs [PDS/Linke Liste]: Wenn Sie das
zu befreien. nicht gesagt hätten, wäre keiner darauf ge
Lassen Sie mich hier anmerken: Es ist ja zu begrü- kommen!)
ßen, daß die sogenannten Artikel-17-Betriebe aus der Wir wollen uns mit allen Beteiligten und Betroffenen,
Knappschaftsversicherung herausgenommen werden mit allen Parteien um eine Lösung der gewiß nicht
sollen. einfachen Probleme bemühen: unter Berücksichti-
(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Dummes gung — hören Sie gut zu — der umweltpolitischen
Zeug!) und der sozialpolitischen Maßstäbe.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1765
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Ich danke Ihnen. Viertens. Wir brauchen umgehend die Bereitstel-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lung von Ersatzarbeitsplätzen in den Steinkohlerevie-
ren. Freiwerdende Kohlesubventionsmittel sind für
den Regionalumbau zu verwenden.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Der vielzitierte Energiemix, der Konsens zwischen
spricht Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige. Kohle und Atomenergie, hat in der Vergangenheit
zum Ausbau der Atomstromerzeugung, zur Verdrän-
gung der Kohle, zum Abbau von Arbeitsplätzen ge-
Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Frau führt und gleichzeitig Energiesparmaßnahmen bzw.
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- den Ausbau regenerativer Energien verhindert.
ren! Was Herr Möllemann fordert, ist in gewissen Die drohende Klimakatastrophe erzwingt eine
Kreisen sicherlich außerordentlich populär. Und es ist schnellstmögliche Reduzierung der Verbrennung fos-
leicht, gegen die — zugegebenermaßen sehr kostspie- siler Energieträger. In einem ökologisch verantwort-
lige — Subventionierung der westdeutschen Stein- baren Energiekonzept kann die Kohlefördermenge
kohle zu polemisieren. daher nur als Restgröße angesehen werden, nachdem
Ich kann auch sehr gut nachvollziehen, daß Bürger alle Potentiale zur Energieeinsparung und zur Nut-
aus den ostdeutschen Braunkohlerevieren wenig zung regenerativer Energien ausgeschöpft sind. Über
Verständnis für die offenkundige Ungleichbehand- Kohlefördermengen zu diskutieren, ohne den ener-
lung haben: Im Westen werden mit Milliardenauf- giepolitischen Zusammenhang zu sehen, muß in die
wand Arbeitsplätze erhalten, während im Osten der Irre führen.
großflächige Zusammenbruch offenbar in Kauf ge- Diese Regierung bleibt — wie übrigens leider auch
nommen wird. einige SPD-Landesregierungen — der Energiepolitik
Dennoch: Es nützt wenig, den Kahlschlag im Osten der 70er Jahre verhaftet, die einseitig auf die Energie-
jetzt zum Modell für den westdeutschen Kohleberg- angebotsseite fixiert ist. Sie wollen nicht begreifen,
bau zu machen. Es ist ja nicht so, daß in Westdeutsch- daß es eigentlich um die Bereitstellung von Energie-
land keine Strukturanpassung betrieben würde. Im dienstleistungen gehen muß und daß hierzu nachfra-
Gegenteil: 50 000 Arbeitsplätze sind in den letzten geseitige Maßnahmen wie Energiespartechnologien,
Jahren abgebaut worden; weitere 30 000 sollen im rationelle Energienutzung usw. preiswerter und um-
Bereich der Steinkohle bis zum Jahre 2005 wegfal- weltverträglicher sind.
len. Wir fordern deshalb ein regional- und energiewirt-
Wir halten angesichts dessen wenig von der ange- schaftliches Gesamtkonzept für die Steinkohle, das
drohten Holzhammerpolitik des Bundesministers. Al- beschäftigungspolitische Maßnahmen sowie einen
lerdings glauben wir auch nicht, daß eine Subventio- umweltverträglichen Steinkohleeinsatz insbesondere
nierung des westdeutschen Steinkohlebergbaus im in der Kraft-Wärme-Kopplung vorsieht. Wir wollen
Umfang von 11 Milliarden DM pro Jahr auf Dauer ver- den Jahrhundertvertrag nach 1995 durch einen Kraft-
tretbar ist. Wärme-Kopplungs-Vertrag ersetzen, der die Stein-
(Zuruf von der FDP: Ach?) kohlesubventionen an einen umweltverträglichen
Steinkohleeinsatz bindet. Wir wollen den Kohlepfen-
Wer also über den Jahrhundertvertrag bzw. über
nig zugunsten einer allgemeinen Primärenergieab-
die Subventionierung der einheimischen Kohle debat-
gabe abschaffen, um das Energiepreisniveau anzuhe-
tiert, muß zunächst einmal überzeugende energie-
ben und damit Energiesparmaßnahmen noch lohnen-
politische Gesamtkonzepte vorlegen, und genau das
der zu machen.
läßt der Bundesminister bisher vermissen.
In dem von den GRÜNEN Anfang des Jahres vor-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gelegten Energiewendeszenario haben wir aufge-
Eine sinnvolle Kohlepolitik dagegen ist in folgende zeigt, daß auch die CO2-Bilanz einer solchen Energie-
energiepolitische Grundlinien eingebunden: politik — wohlgemerkt: ohne AKWs — mehr als über-
Erstens. Wir verlangen den sofortigen Ausstieg aus zeugend ist. In zwanzig Jahren kann der Ausstoß an
der unverantwortbaren Atomenergienutzung, und Kohledioxid um fast die Hälfte reduziert werden.
zwar nicht nur aus den bekannten Sicherheitsgrün- Nicht zuletzt steigt die Versorgungssicherheit be-
den, sondern auch, um einen zeitlichen Spielraum trächtlich an, weil die Menge der importierten Ener-
zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen in den Kohle- gieträger massiv reduziert werden kann.
revieren zu erhalten. Der Ausstieg aus der Atomener- Also noch einmal an die Adresse des Bundeswirt-
gie schafft Arbeitsplätze; nach einer Prognos-Studie schaftsministers: Es ist absolut unsinnig, durch pole-
bis zu 100 000 jährlich. mische Rundumschläge Panik und Neidgefühle zu
Zweitens. Wir fordern den schnellstmöglichen Aus- erzeugen, wenn man selbst noch keine über den
bau von umweltverträglichen Einsatzmöglichkeiten nächsten Tag hinausreichenden energiepolitischen
für die Steinkohle, insbesondere zukunftsträchtige In- Konzeptionen vorlegen kann.
vestitionen für die Kraft-Wärme-Kopplung, den Aus- Danke.
bau der Nah- und Fernwärmeversorgung und den (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke
gleichzeitigen Verzicht auf Elektroheizung. Liste)
Drittens. Notwendig ist eine progressive Anhebung
des allgemeinen Energiepreisniveaus, um die Ener-
gieeinsparung zu fördern. Die billigste und auch zu- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat
kunftssicherste Energie ist die gesparte Energie. der Kollege Norbert Formanski das Wort.
1766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Norbert Formanski (SPD) : Frau Präsidentin! Sehr das haut dem berühmten Faß den Boden aus, das löst
geehrte Damen und Herren! In den Bergbaurevieren zusätzlich Verbitterung aus.
rumort es. Nachdem heute morgen in der „Westdeut- (Beifall bei der SPD)
schen Allgemeinen Zeitung" weitere Pläne des Bun-
deswirtschaftsministers bekanntgeworden sind, wo- Inzwischen zweifeln immer mehr Menschen in den
nach er jetzt auch noch an die mit den Hüttenverträ- Bergbaurevieren daran, daß der Bundeskanzler sein
gen vereinbarten Kokskohlebeihilfen mit drastischen Wort halten wird.
Streichungen herangehen will, wächst die Unruhe (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Stimmt
weiter. Als Betriebsratsvorsitzender einer Schachtan- doch gar nicht!)
lage mitten im Ruhrgebiet weiß ich aus hautnaher
Auf den Schachtanlagen breitet sich der Zweifel sogar
Erfahrung, wovon ich rede. Deshalb warne ich auch
immer schneller aus, weil der Bundeskanzler hartnäk-
und gerade vor diesem Hohen Hause.
kig schweigt und schweigen läßt. Der Bundeswirt-
Da ist inzwischen richtig Druck im Kessel. Wenn schaftsminister dagegen kündigt fast jeden Tag einen
von Herrn Möllemann noch weiter angeheizt wird, neuen Wortbruch an.
dann fliegt der ganze Kessel in die Luft, dann brennt
(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Der hält
es tatsächlich an Rhein, Ruhr und Saar. Die Verant-
das gebrochene Wort!)
wortung dafür haben Bundesregierung und Regie-
rungsparteien. Herr Möllemann stellt den Jahrhundertvertrag zur Re-
vision, die sozial verträgliche Anpassung in Frage und
Ich frage die Bundesregierung, ob es denn wirklich will sich klammheimlich aus dem Hüttenvertrag
in ihrem Interesse liegen kann, daß neben den sozia- schleichen.
len Unruhen in den fünf neuen Bundesländern zusätz-
liche Unruhen in den Bergbauregionen provoziert (Dr. Christoph Zöpel [SPD]: Und der Blüm
werden. Wenn die Kohle-Kahlschlag-Pläne des Bun- schweigt! — Zuruf von der FDP: Was heißt
deswirtschaftsministers nicht ganz schnell und end- hier „klammheimlich" ?)
gültig vom Tisch genommen werden, dann ist nicht Ich sage Ihnen: Die Unsicherheit wird bald nicht mehr
nur der soziale Frieden in den Revieren ernsthaft ge- zu ertragen sein. Der Bundeskanzler darf nicht
fährdet, sondern es kann ein Flächenbrand entstehen, schweigen und sich nicht in den Wortbruch treiben
gegen den es nicht genug Löschwasser geben wird. lassen; denn einen Wortbruch haben die Bergleute
Der Anpassungsprozeß im deutschen Steinkohlen- und ihre Familien nicht verdient.
bergbau läuft seit mehr als 30 Jahren, erst unkontrol- Glück auf!
liert und im Sturzflug, dann unter sozialliberaler Re- (Beifall bei der SPD)
gierungsverantwortung geordnet und im Gleitflug.
Die sozial verträglichen Lösungen haben es der Indu-
striegewerkschaft Bergbau und Energie ermöglicht,
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat
die unvermeidbaren Anpassungsschritte mitzutragen
der Kollege Matthias Wissmann das Wort.
und auch gegenüber den Bergleuten zu vertreten.
Damit ist der soziale Friede in den gebeutelten Berg- (Ottmar Schreiner [SPD]: Der Eiertänzer vom
bauregionen bisher erhalten worden. Dienst!)
Bergbau und Bergleute stehen heute mitten drin in
einem weiteren Anpassungsprozeß, der 1987 mit der
Bundesregierung und den Regierungsparteien verab- Ma tt hias Wissmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
redet wurde und der noch bis 1995 planmäßig verlau- Meine Damen und Herren! Der Kollege Formanski
fen muß, bevor die damals vereinbarten Ziele erreicht sprach eben davon, daß wir die Unsicherheit nicht
werden können. In diesen sieben Jahren wird der schüren sollten.
Steinkohlenbergbau noch einmal fast 40 000 Arbeits- (Zuruf von der FDP: Eben!)
plätze aufgegeben haben, jedes Jahr mehr als
5 500. Herr Kollege Formanski, mein Eindruck ist: Es gibt
manche in Ihren Reihen, die genau dieses beabsichti-
Ich kann als Betriebsrat ein mehrstrophiges Lied gen.
davon singen, wie schwierig es ist, immer wieder je-
den gesunden, leistungsfähigen und leistungswilli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
gen 50jährigen Bergmann einzeln zu überzeugen, Detlev von Larcher [SPD]: Die übliche Leier!
den Beruf an den Nagel zu hängen, auf Geld zu ver- Laßt euch mal was Neues einfallen!)
zichten und einem Jüngeren Platz zu machen. Dahin- Wir wollen die Diskussion versachlichen. Wir wollen
ter verbirgt sich die Bereitschaft, auch persönliche zu einer Atmosphäre des Vertrauens beitragen.
Nachteile in Kauf zu nehmen, um anderen zu helfen. (Lachen bei der SPD)
Dieses Füreinandereinstehen, diese Solidarität unter
Bergleuten ist nicht überall selbstverständlich. Wir wollen Stetigkeit, Berechenbarkeit und Verläß-
lichkeit in der Energiepolitik.
Jetzt aber den Bergleuten vorzuwerfen, ihnen gehe
es viel zu gut und sie müßten für ihren Dienst an der (Erneutes Lachen bei der SPD)
Allgemeinheit mit Entlassung, sogar mit Arbeitslosig- Meine Damen und Herren von der SPD, wir sagen
keit bestraft werden, wie es der Bundeswirtschaftsmi- auch die unangenehmen Wahrheiten.
nister anstrebt,
(Rudolf Bindig [SPD]: Aber nicht vor der
(Zurufe von der FDP: Blödsinn! Quatsch!) Wahl!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1767
Matthias Wissmann
— Wir haben vor der Wahl deutlich gesagt, daß wir endlich ein klares Wort zur f riedlichen Nutzung der
zum Jahrhundertvertrag stehen. Wir sagen es nach Kernkraft sprechen,
der Wahl genauso. (Zurufe von der SPD: „Nein"!)
(Zuruf von der SPD: Steuer-Lüge!) daß Sie Ihren Eiertanz in der Energiepolitik beenden,
Wir haben vor der Wahl gesagt, daß nach 1995 eine daß Sie endlich bereit sind zu sagen, was Sie sich
Anpassungsregelung kommen muß, und wir sagen es unter einem Konsens in der Energiepolitik vorstellen.
nach der Wahl genauso. Das Hüpfen von Ast zu Ast in der Energiepolitik, wie
Sie es tun, kann doch kein Gesamtkonzept ersetzen.
(Ottmar Schreiner [SPD]: Eiertänzer!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben vor der Wahl klar gesagt, daß es ohne einen Es geht doch nicht darum, daß wir populistisch den
Energiemix aus Öl, aus Kohle, aus Kernkraft und re-
Menschen sagen, was sie im Moment in der jeweili-
generativen Energieträgern nicht geht. Und wir sagen gen Region hören wollen, sondern es geht darum, daß
es auch jetzt, wenn es um die Entwicklung eines ener- wir ihnen auch unangenehme Wahrheiten sagen —
giepolitischen Gesamtkonzeptes geht. aber nicht, indem wir Zusagen, die wir in der Vergan-
(Ottmar Schreiner [SPD]: Was wollen Sie genheit gegeben haben, auflösen, sondern indem wir
denn?) für die Zukunft ein Gesamtkonzept entwickeln, das
auch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre trägt. Kohle,
Ich wäre dankbar, wenn innerhalb der sozialdemo-
Kernkraft, Öl, regenerative Energieträger — aus die-
kratischen Reihen einmal ein klares Wort zu allen Ele-
sen Komponenten bauen wir ein Konzept für die
menten dieses Energiemixes, also auch zur Kernkraft,
zweite Hälfte der 90er Jahre.
gesagt würde.
(Monika Ganseforth [SPD]: Bloß nicht spa
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord ren!)
neten der FDP)
- Pro Jahr werden von den öffentlichen Haushalten,
Sagen Sie etwas dazu, daß auf Dauer zukunftsfähige den Stromverbrauchern, zur Zeit rund 11 Milliarden
Regelungen für die Kohle nicht finanzierbar sind, DM aufgebracht, um die Förderung deutscher Stein-
ohne den Anteil der Kernkraft an diesem Energiemix kohle dem Weltmarktniveau anzupassen. Während
zumindest auf einen absehbaren Zeitraum in der Zu- die Förderung einer Tonne deutscher Steinkohle zur
kunft zu gewährleisten. Zeit etwa 270 DM kostet, kann sie auf dem Weltmarkt
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es unter- für rund 100 DM eingekauft werden. Solche Beträge
schiedliche Meinungen. Aber ich bin froh, daß der — darüber sind auch Sie sich im klaren — können auf
Kollege Laermann für die FDP-Fraktion heute in sei- Dauer nicht für ein Mengengerüst von derzeit 70 Mil-
ner Rede eine Konzeption dargestellt hat, die auch in lionen Tonnen Steinkohleeinheiten pro Jahr ausgege-
unserer Fraktion Zustimmung findet. ben werden.
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Der hat
doch nichts gesagt! — Gegenruf. des Abg. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Wiss-
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [FDP]: Mehr mann, kommen Sie bitte zum Ende.
als Sie!)
Wir bauen jetzt gemeinsam an einem energiepoliti- Ma tt hias Wissmann (CDU/CSU): Das Konzept, das
schen Konzept für die Zukunft, in dem die Rolle der wir jetzt entwickeln müssen, muß dem Vertrauen ge-
deutschen Steinkohle nach 1995 neu definiert werden recht werden, das die Bergleute in uns investieren. Es
muß. muß gleichzeitig ein wirtschaftlich tragfähiges Zu-
Aber es ist doch ganz klar: Wir werden in diesem kunftsmodell werden. Ich bin zuversichtlich, daß die
schwierigen Umstrukturierungsprozeß die Bergleute Koalition in der Lage sein wird, ein solches Gesamt-
nicht alleine lassen. Wir werden nicht von gegebenen konzept zu entwickeln.
Zusagen abgehen. Wir werden für die Anpassung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
nach 1995 flankierende regionalpolitische und sozial- Detlev von Larcher [SPD]: In Sie investiert
politische Maßnahmen beschließen. Darauf kann sich keiner mehr Vertrauen!)
jeder verlassen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat
schon einmal gehört!) der Kollege Paul Friedhoff das Wort.
Dies ist auch Teil unserer Koalitionsvereinbarungen.
(Ottmar Schreiner [SPD]: Im Lügen hat die Paul Friedhoff (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr
Koalition beste Erfahrungen!) verehrten Damen und Herren! In der Energiepolitik
Meine Damen und Herren von der SPD, es wäre sind neue Konzepte notwendig; Lösungen, die Phan-
langsam einmal an der Zeit, die Widersprüche in den tasie und Sachverstand erfordern, sind gefragt. Es darf
eigenen Reihen zu klären. nicht wahr sein, daß Denkanstöße zum Subventions-
abbau vor der deutschen Steinkohle halt machen
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wel müssen und mit Totschlagargumenten wie „Kohle
che Widersprüche?) lüge" oder „Kahlschlagpolitik" diffamiert werden.
Es ist an der Zeit, daß Sie klarmachen, wie Ihre Posi (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
tion zur Kohle außerhalb der Reviergebiete ist, daß Sie der CDU/CSU)
1768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Paul Friedhoff
Verantwortliche Politik darf diesen Wirtschaftszweig Lassen sie mich nun zur Versorgungssicherheit
nicht ausklammern, wenn hier ca. 130 000 Arbeits- kommen. Es ist kein Geheimnis, daß auf dem Welt-
plätze, markt auch in absehbarer Zukunft genug Steinkohle
(Zuruf von der SPD: Vertrag!) verfügbar ist. Dies wird von niemandem ernsthaft be-
stritten. Mit der Vereinigung Deutschlands stehen zu-
von denen jeder jährlich mit 75 000 DM subventio-
sätzlich große Braunkohlenvorräte zur Verfügung.
niert wird, betroffen sind. Die bisher über 120 Milliar-
den DM Subventionen, die in die Steinkohle geflossen In dem größer werdenden Europa, zu dem nun auch
sind, haben nicht etwa zur Schaffung neuer Arbeits- die Steinkohlenreviere in Polen und der CSFR gehö-
plätze beigetragen, sondern sind eher konsumiert ren, läßt sich die Versorgung der Bundesrepublik mit
worden. Dies ist in der Geschichte .der Bundesrepu- Kohle auch bei erheblich verminderter Förderung von
blik Deutschland beispiellos. Steinkohle an Ruhr und Saar sicherstellen. Ich könnte
mir beispielsweise ein sehr hilfreiches Engagement
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der der deutschen Steinkohleindustrie in diesen Ländern
CDU/CSU) vorstellen. Deutsches bergmännisches Know-how
Der Strukturwandel in den 60er Jahren und schon und Kapital wären für die Volkswirtschaft Polens und
in den 50er Jahren im Eisenerzbergbau vollzog sich der CSFR wertvoll. Gleichzeitig würde langfristig die
ebenso wie der Wandel in der Textilindustrie in den Versorgung Deutschlands mit Steinkohle aus europäi-
70er Jahren ohne dauerhafte staatliche Eingriffe und schen Nachbarstaaten gesichert.
ohne nenneswerte öffentliche Unterstützungspro- Die immer wieder angeführten Probleme der deut-
gramme. schen Bergbauzulieferindustrie ließen sich auf diese
(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Denken Weise zumindest zum Teil ebenfalls lösen.
Sie mal an die Ölkrisen!) Lassen Sie mich zum Abschluß nochmals betonen,
daß die Diskussion über den Abbau der künftigen
In den deutschen Steinkohlerevieren wurde der er-
Subventionen für die deutsche Steinkohle so schnell
folgreiche Strukturwandel durch die staatliche
- Ali-
wie möglich und nicht erst 1995 geführt werden muß.
mentation verhindert
Nach den vielen Belastungen der deutschen Volks-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) wirtschaft im Zusammenhang mit der Vereinigung
und mit der Versorgungssicherheit begründet. müssen wir mit dem verstärkten Subventionsabbau
soweit wie möglich für Entlastungen sorgen und so die
(Zurufe von der FDP: Sehr gut!) Kapazitäten schaffen, um die Herausforderungen der
Das dem Kohlebergbau vorgegebene Mengengerüst Zukunft bewältigen zu können.
— bis 1995 müssen die Stromversorger jährlich Ich danke Ihnen.
40,9 Millionen t Steinkohle abnehmen — hat das be- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
triebswirtschaftliche Denken in den Bergbauunter- der CDU/CSU)
nehmen nicht gerade gefördert.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP — Hans Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat Frau
Eberhard Urbaniak [SPD]: Unerhört, was Sie Kollegin Jutta Müller.
da sagen!)
Für mich ist daher allenfalls ein Mengengerüst mit Jutta Müller (SPD) : Frau Präsidentin! Meine Damen
einer deutlich niedrigeren Preisvorgabe denkbar. Es und Herren! Sie werden verstehen, daß ich gerade als
dürften nur die kostengünstigsten Standorte, die in saarländische Bundestagsabgeordnete heute ganz
der Nähe der internationalen Wettbewerbsfähigkeit besonders betroffen bin, daß wir hier in einer Aktuel-
sein könnten, erhalten werden. Diese Wettbewerbsfä- len Stunde die Äußerungen von Bundeswirtschaftsmi-
higkeit ist nur mit der Aufgabe auch liebgewordener nister Möllemann zum Optimierungsmodell des deut-
Privilegien im deutschen Steinkohlenbergbau zu er- schen Steinkohlebergbaus und zum Jahrhundertver-
reichen. trag diskutieren müssen. Ich habe nämlich wie viele
Im folgenden möchte ich mich kurz auf zwei weitere andere Menschen in den Bergbaurevieren im August
Gesichtspunkte konzentrieren: den Abbau von Ar- 1989 dem Bundeskanzler geglaubt, als er uns entspre-
beitsplätzen und die Versorgungssicherheit. chende Zusagen machte. Heute muß ich feststellen,
daß dies ein Fehler war und daß, wie das heute schon
Für das Jahr 1991 erwarten wir in den alten Bundes-
öfter gesagt wurde, der nächste Wortbruch ins Haus
ländern die Schaffung von ca. 550 000 neuen Arbeits-
steht.
plätzen. Gleichzeitig beklagen wir einen nicht uner-
heblichen Facharbeitermangel. Im Bergbau sind ca. Ein lebensfähiger und leistungsfähiger Steinkohle-
130 000 hochqualifizierte Arbeitnehmer beschäftigt. bergbau ist für die Versorgungssicherheit unseres
Diese könnten zum überwiegenden Teil auch in ande- Landes unverzichtbar. Die Antikohlepolitik der Bun-
ren Wi rt schaftszweigen tätig werden. desregierung führt zwangsläufig in eine energiepoli-
tische Sackgasse. Während die Versorgungssicher-
Die Zahlen machen deutlich, daß bei etwas gutem heit durch die heimische Steinkohle aufs Spiel gesetzt
Willen und jener Flexibilität, die wir pausenlos in den wird, ist ein störanfälliges Industrieland wie die Bun-
neuen Bundesländern fordern, das Problem der Ar- desrepublik demnächst von zwei Energieträgern ab-
beitsplätze in den westdeutschen Bergbaurevieren so- hängig, die beide unzuverlässig und gefährlich sind.
zialverträglich gelöst werden kann. Das Öl erhalten wir von einer Gruppe politisch insta-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten biler Staaten, die auch nach dem Ende des Golfkrie-
der CDU/CSU) ges keine Versorgungssicherheit gewährleisten kön-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1769
Jutta Müller
nen. Der Atomstrom birgt dagegen Risiken, die auch tät einer Politik bezeichnen, es sei denn, man redu-
ein Minister für Reaktorsicherheit nicht verantworten ziert es auf die Aussage: Die Kontinuität der Politik
kann. des Bundeswirtschaftsministers besteht da rin, konti-
nuierlich Chaos zu verbreiten.
(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ul rich
Briefs [PDS/Linke Liste]) (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ul rich
Briefs [PDS/Linke Liste])
Ich denke, man kann deshalb das Kohleproblem
nicht auf ein bloßes Mengen- oder Subventionspro- Lassen Sie mich zum Schluß als Saarländerin auch
blem verkürzen. Jeder, der sich schon einmal mit noch ein Wort an das Kabinettsmitglied Bundesum-
Bergbau beschäftigt hat, weiß, daß die Bergbauunter- weltminister Töpfer richten, der leider heute hier nicht
nehmen Planungssicherheit brauchen und daß sie mit anwesend ist. Das zeigt auch schon einiges.
langfristigen Vorgaben arbeiten müssen. Das bedeu- (Ulrich Irmer [FDP]: Dafür sind Sie ja da!)
tet, daß in der Politik klare, berechenbare Vorstellun-
gen über die Energiepolitik eines Landes vorhanden Ich möchte Herrn Töpfer mal daran erinnern, daß er
sein müssen. Es ist aber keine klare berechenbare als Abgeordneter einen Wahlkreis vertritt, in dem die
Politik, wenn vier Jahre vor Auslaufen des Stromver- meisten Menschen vom Bergbau leben.
trages der Wirtschaftsminister die ganze Branche (Beifall bei der SPD — Dr. Werner Hoyer
durch immer schärfere Forderungen in Unruhe ver- [FDP]: Wo sind denn Lafontaine und Rau?)
setzt, und genau dies tut er.
Diese Menschen haben ein Anrecht darauf, daß auch
Zu der Subventionspolitik möchte ich noch ein er ihre Interessen vertritt, und diese Menschen warten
Wort sagen. Es wird von den Kohlegegnern oft ver- bis heute auf ein klares Wort und auf seine Unterstüt-
schwiegen, daß die Kohlesubventionen, die hier im- zung als Kabinettsmitglied. Ich möchte das hier an
mer mit 10 Milliarden DM genannt werden, zum dieser Stelle mal für die saarländische Bevölkerung
Großteil von den Stromverbrauchern getragen wer- einklagen. Ich denke, daß die Bergleute an der Saar
-
den. Lediglich 3,8 Milliarden DM kamen bisher aus und an der Ruhr diese Behandlung, wie sie zur Zeit
Bonn. Wenn man nun bedenkt, wie locker die Bundes- erfolgt, nicht verdient haben.
regierung 11 Milliarden DM zur Sicherung eines an- Ich danke Ihnen.
deren Energieträgers, nämlich für das Öl am Golf-
krieg, ausgegeben hat, dann wird deutlich, was die (Beifall bei der SPD)
Bundesregierung will, nämlich das Aus für den deut-
schen Steinkohlebergbau.
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat Herr
CSU: So etwas Simples!) Kollege Ernst Hinsken.
Ich finde, bei aller Diskussion über Mengen, Sub-
ventionen und Preise wird das menschliche Schicksal
der Bergleute im Saarland und an der Ruhr vergessen. Ernst Hinsken (CDU/CSU) : Frau Präsidentin!
Die Menschen im Saarland haben durch die Stahl- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine,
krise und durch den Abbau von Zehntausenden von daß gerade bei dieser Debatte Polemik wenig am Platz
Bergbauarbeitsplätzen in den vergangenen Jahren ist, und ich verstehe es nicht, Frau Kollegin, wenn Sie
schon genug einstecken müssen. Ein weiterer Abbau sich darüber mokieren, daß der Bundesumweltmini-
der Kohleindustrie hätte für uns Saarländer katastro- ster, Professor Töpfer, nicht hier ist, der wahrlich an-
phale Auswirkungen. Diesmal wären besonders viele deren Terminen nachzugehen hat. Die zwei Minister-
junge Familien vom Beschäftigungsabbau betroffen, präsidenten der Revierländer, Johannes Rau und Os-
weil die älteren Beschäftigten schon im Rahmen der kar Lafontaine, haben uns dagegen nicht einmal ei-
1987 und 1989 getroffenen Kohlevereinbarungen die nen Vertreter hierher geschickt.
Betriebe verlassen haben. Es ist eine Illusion, zu glau-
ben, mit Mengenkürzungen seien kurz- oder mittelfri- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stig Subventionskürzungen zu erreichen. Die Erfah- Dafür fehlt mir das notwendige Verständnis.
rung lehrt, Stillegungsmaßnahmen erfordern hohe
Anpassungshilfen, die von den Unternehmen nicht Meine Damen und Herren, Kohlepolitik hat die Auf-
aufgebracht werden können. Mir scheint, darüber hat gabe, die Gesamtheit aller energiepolitischen Zielset-
sich die Bundesregierung noch nicht viele Gedanken zungen unter ökonomischen Aspekten zu realisieren.
gemacht. Der in der Bundesrepublik bet riebene Kohleprotek-
tionismus belastet den Steuerzahler und den S trom-
Es entsteht auch der Eindruck, daß es am politi- verbraucher. Wenn wir das, was im Bereich der Kohle
schen Willen fehlt, sich solche Gedanken zu machen, geschieht und zur Diskussion ansteht, mit dem Bei-
und daß es am politischen Willen fehlt, dem Bergbau wort Politik versehen, so bedeutet dies auch, daß als
durch Modernisierungs- und Rationalisierungsmaß- Bestandteil jeder Neuorientierung auch der Blick auf
nahmen eine faire Chance zu geben. Denn hier gibt es die Menschen, die von dieser Politik betroffen wer-
auch einige Widersprüche. Einerseits fordert der Bun- den, nicht fehlen darf.
deswirtschaftsminister den Steinkohlebergb au auf,
Unbestritten: Solide Wirtschaftspolitik — auch für
die Förderkosten pro Tonne zu senken, während zur
die Zukunft — erfordert, Subventionen des Staates zu
gleichen Zeit der Forschungsminister die Entwick-
überprüfen und abzubauen.
lungsförderung für bergbauspezifische Automatisie-
rungsprojekte kürzt. Das kann man nicht als Kontinui (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
1770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ernst Hinsken
Dabei muß alles — auch der Jahrhundertvertrag der werbswind des Binnenmarktes allen Ernstes nicht
Kohle — auf den Prüfstand. wollen können.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Zuruf des Abg. Konrad Gillges [SPD])
der FDP) — Dem Zwischenrufer möchte ich einmal sagen:
Wenn er etwas von dem angesprochenen Problem
Deshalb pflichte ich Bundeswirtschaftsminister verstände und wenn er qualifizierte Zurufe tätigte,
Möllemann bei, wenn er zu einem grundlegenden dann ginge ich darauf ein. So aber muß ich die Zurufe
Nachdenken fiber die Kohlepolitik ohne Tabus auf- beiseite lassen, weil sie keiner Antwort wert sind.
ruft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
(Ottmar Schreiner [SPD]: Sagen Sie einmal Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Teu
etwas zur bayerischen Landwirtschaft!) fel!)
Ich darf bei der Gelegenheit auch darauf verweisen,
und den Jahrhundertvertrag, der vor 15 Jahren von
daß sich in meinem Wahlkreis ein Betrieb mit 350 Mit-
dem damaligen Wirtschaftsminister und jetzigem
arbeitern befindet, der sehr gut bezahlt, leider keine
FDP-Vorsitzenden, seinem politischen Urgroßvater,
Frachthilfe mehr bekommt und keine Zonenrandab-
ausgehandelt wurde, zur Disposition stellt.
schreibung mehr tätigen kann, aber mit 170 000 DM
Allerdings darf nicht das Kind mit dem Bade ausge- jährlich allein über den Kohlepfennig belastet wird.
schüttet werden. Ich pflichte deshalb dem baden Das heißt — umgerechnet —, er könnte jedem Mitar-
württembergischen Ministerpräsidenten Teufel und beiter jährlich um 500 DM mehr bezahlen, wenn er
dem bayerischen Wirtschaftsminister Dr. Lang, mit mit der Last, die er hier zu erbringen hat, nicht kon-
letzterem ich heute nachmittag noch telefoniert habe, frontiert wäre.
bei, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall und Zurufe von der SPD: Aha!) der FDP — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Li
- ste]: Das würde er auch tun?)
wenn sie feststellen, daß der Vertrag, der 1995 aus- Meine Damen und Herren, ein zweiter Aspekt ist
läuft, nicht verlängert werden so ll , Sie aber einen so- von wesentlicher Bedeutung: Die EG-Kommission ist
fortigen Ausstieg aus dem Vertrag nicht Rechtens fin- nicht mehr bereit, die Kohlesubventionierung, wie sie
den. Jetzt erwarte ich von Ihnen, der Opposition, Bei- in Deutschland betrieben wird, hinzunehmen. Späte-
fall. stens 1993, wenn in Brüssel eine neue Beihilfeent-
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Der scheidung getroffen werden muß, werden wir vor dem
Teufel war gerade am Telefon! — Lachen bei Scherbenhaufen einer verfehlten Kohlepolitik stehen,
der SPD) wenn wir das Problem nicht endlich mutig und offen-
siv angehen. Eine bloße Verschiebung des Problems
Meine Damen und Herren, betrachten wir uns die auf der Zeitachse bis 1993 oder 1995 ist kein politi-
Fakten der Kohlepolitik. Das immer wieder zitierte sches Konzept. Ein dann drohender abrupter Ausstieg
Argument der Versorgungssicherheit hat durch die aus der Kohleförderung mit dem Verlust von Tausen-
Verbreiterung der Primärenergieerzeugung und der den von Arbeitsplätzen ist ein Szenario, das schon
Bezugsquellen durch den Einsatz der Kernenergie heute durch sozial- und strukturpolitische Flankierun-
und nicht zuletzt durch die Schaffung des Binnen- gen verhindert werden muß.
marktes an Bedeutung verloren. Die nunmehr im
Osten unseres Landes zur Verfügung stehenden lang- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Hinsken,
fristig wettbewerbsfähigen Braunkohlereserven sind kommen Sie bitte zum Schluß.
ein weiterer Aspekt, die bei der Diskussion über ein
neues energiepoli tisches Gesamtkonzept nicht außer
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Bundesminister
Acht gelassen werden dürfen. Mit Milliarden wird
Möllemann, ich fordere Sie auf, Ihre Vorschläge un-
heute eine Kohleförderung subventioniert, die wenig-
verzüglich und in einem sozialpolitisch verträglichen
stens dreimal so teuer ist wie vergleichbare Import-
Rahmen voranzutreiben und die Betroffenen und Ver-
kohle. Die Subventionierung eines Arbeitsplatzes im
antwortlichen an einen Tisch zu holen, die Gewerk-
Steinkohlebergbau ist mit 70 000 DM eine ökonomi-
schaften und den Steinkohlebergbau. Alle zusammen
sche Fehlleistung ohnegleichen.
sind gefordert.
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir als Politiker werden sicherlich unseren Beitrag
dazu leisten, daß eine maßgeschneiderte soziale Abfe-
Denn nicht nur der Steuerzahler, sondern auch der
derung Platz greift.
Stromverbraucher — sei es der Privathaushalt oder sei
es die Indust ri e — werden durch den Kohlepfennig Ich bedanke mich.
belastet. Nimmt man zum Kohlepfennig die Eigen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
belastungen der Energieversorgungsunternehmen
hinzu, so verteuert die Kohle den Strom um bis zu zwei Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
Pfennig pro Kilowattstunde. Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann.
Dies geht zu Lasten der betroffenen Stromabneh-
mer, die ihre Kosten über den Verkaufspreis ihrer Pro- Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
dukte wieder einspielen müssen. Die deutsche Wirt- schaft: Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kol-
schaft sieht sich hier einem Wettbewerbsnachteil aus- legen! Ich möchte gern mit der nachdenklichen und
gesetzt, den wir im Hinblick auf den rauhen Wettbe rationalen Art, mit der der Kollege Friedhoff das
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1771
Jürgen W. Möllemann
Thema hier behandelt hat, ein paar Bemerkungen mische Energieträger. Diese Rolle hat die Braunkohle
zum Gegenstand der heutigen Debatte machen und in Ost und West übernommen. Dies kann nicht ohne
zunächst einmal die Tatsachen beschreiben. Auswirkungen auf die Rolle der heimischen Energie-
quellen für die Versorgungssicherheit bleiben. Wenn
Tatsache ist, daß die Koalitionsvereinbarung und
die Braunkohle in den neuen Bundesländern den aus
die Regierungserklärung zu Beginn der Legislaturpe-
ökologischen und ökonomischen Gründen unver-
riode festgelegt haben, daß Steinkohle und Braun-
meidlichen Anpassungsprozeß hinter sich haben
kohle auch im vereinten Deutschland zu einer siche-
wird, wird sie ebenso ein wettbewerbsfähiger Ener-
ren Energieversorgung beitragen müssen, allerdings
gieträger sein wie die rheinische Braunkohle. Die
auf einem niedrigeren Niveau als bisher. Ich stehe voll
deutsche Steinkohle hingegen ist und wird auch in
zu dieser politischen Linie und nehme sie ernst, aller-
Zukunft aus vielerlei Gründen nicht wettbewerbsfä-
dings auch in bezug auf den letzten Absatz.
hig sein. Dies hat das Optimierungsmodell des Stein-
Dabei bitte ich um Verständnis, daß es heute ange- kohlenbergbaus erneut gezeigt. Die Preisdifferenz
sichts der Tatsache, daß die Gespräche mit den in der zwischen deutscher Steinkohle und Importkohle be-
Energiepolitik Tätigen, von ihr Betroffenen, an ihr trägt pro Tonne heute 180 DM. Den Differenzbetrag
Beteiligten erst kürzlich begonnen haben, noch nicht zahlen Verbraucher und Steuerzahler.
möglich ist, mengenmäßig im Blick auf die künftige
Zweitens. Der Aufbau in den neuen Bundesländern
Tonnenzahl zu konkretisieren, wo dieses niedrigere
fordert die öffentlichen Finanzen weit stärker, als zu-
Niveau angesiedelt sein wird.
nächst erwartet. Hinzu kommen zusätzliche notwen-
Ich habe mir vorgenommen — das ist ebenfalls Ge- dige Hilfe für Osteuropa, zusätzliche Herausforderun-
genstand der Regierungserklärung — , im Herbst ein gen in der Familienpolitik, um nur einige Bereiche zu
energiepolitisches Gesamtkonzept vorzulegen, zu nennen.
dessen wichtigsten Eckpunkten neben der Integration
Ich halte deshalb aus Wirtschafts- und finanzpoliti-
der neuen Bundesländer in den gesamtdeutschen
schen Gründen und auch im Blick auf die beschlosse-
-
Energiemarkt, neben den Fragen des Klimaschutzes
nen Steuererhöhungen einen gleichzeitigen nachhal-
und der Kernenergie vor allem die Kohlepolitik ge-
tigen Subventionsabbau für unabdingbar.
hört. Mir geht es um einen möglichst breiten energie-
politischen Konsens über den künftigen Energiemix, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und das setzt die Diskussion mit allen Beteiligten vor- des Bündnisses 90/GRÜNE)
aus, in einer parlamentarischen Demokratie auch eine
öffentliche Diskussion über die sich wandelnden Eck- Die Koalition hat in den gleichen Beschlüssen, die ich
punkte. hier schon mehrfach zitiert habe, festgelegt, daß be-
ginnend mit dem Jahr 1992 10 Milliarden DM pro Jahr
Das praktizieren wir übrigens. Ich denke, die So- an Subventionen abgebaut werden sollen. Davon
zialdemokratische Partei führt solche Diskussionen kann die Kohle nicht ausgenommen werden. Sie stellt
über streitige Themen dieser Art auch öffentlich. Ich den größten Posten in meinem Haushalt dar. Ich kann
halte es für absurd zu glauben, man könnte dieses nicht von anderen Ressorts Subventionsabbau verlan-
Thema im verschlossenen Kämmerchen behandeln gen, ohne dazu im eigenen Bereich bereit zu sein. Der
und am Ende den überraschten Betroffenen das Er- für die Jahre 1992 bis 1994 vorgesehene Plafond für
gebnis mitteilen. Das ist nicht mein Verständnis von die Kokskohlenbeihilfe wird also enger werden. Ich
Demokratie. verstehe auch, Herr Kollege, die Überraschung dar-
über nicht. Der Bundeshaushaltsentwurf 1991 weist
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
dies bereits ausdrücklich aus. Er liegt Ihnen zur Bera-
der CDU/CSU)
tung vor, dort steht dies in der mittelfristigen Finanz-
Die entsprechenden politischen Gespräche mit den planung, vom Kabinett einstimmig beschlossen. Man
Ministerpräsidenten der Kohleländer, mit den zustän- braucht nur nachzusehen. Inwieweit sich dies auf die
digen Fachministern in den Ländern, mit den Spitzen Mengen auswirkt, wird auch davon abhängen, wie
auch der Parteien sind aufgenommen worden. Ich der Bergbau die Kosten in den Griff bekommt.
werde sie fortführen und bin gespannt zu sehen, wel-
Ich will nicht verhehlen, daß ein weiterer Abbau
che Bereitschaft zur Rationalität sich bei den verschie-
von Arbeitsplätzen auch im westdeutschen Bergbau
denen Beteiligten zeigt. Das ist für mich als Liberalen
unvermeidbar ist. Darüber bin ich mir im übrigen mit
für die Zukunft über den Bereich der Energiepolitik
den Landesregierungen der Kohleländer auch einig.
hinaus von Bedeutung.
Gestern habe ich mit Herrn Minister Einert darüber
Das Denken in diesen Fragen lasse ich mir im übri- gesprochen. Dies hat auch der Vorsitzende der IG
gen von niemandem verbieten. Ich würde mich Bergbau und Energie in seiner Rede auf dem Kongreß
freuen, wenn sich möglichst viele dieser Anstrengung deutlich erklärt.
unterzögen, bevor sie sich mit Totschlagargumenten,
Das wird im Rahmen regionaler und sozialer Flan-
wie sie zum Teil auch hier wieder gekommen sind, zu
kierung geschehen. Wir können aber nicht bei der
Wort melden.
Braunkohle in den neuen Bundesländern in einem
Folgende Fakten liegen auf dem Tisch. Erstens. Die sehr viel schwierigeren sozialen Umfeld massiven Be-
Grundlinien der bisherigen Kohlepolitik wurden vor schäftigungsrückgang verlangen — dieser wird sich
der deutschen Einheit formuliert. Es kann nicht be- innerhalb von drei Jahren um die Hälfte vollziehen —,
stritten werden, daß die Rolle der Steinkohle im Ener- im westdeutschen Steinkohlenbergbau aber daran
giemarkt des vereinten Deutschlands abgenommen festhalten, daß kein Bergmann in den Arbeitsmarkt
hat. Die Steinkohle ist nicht mehr der wichtigste hei entlassen wird. Bei einem Durchschnittsalter von
1772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Jürgen W. Möllemann
35 Jahren wäre die Vorstellung, hier mit Ruhestands- der EG-Kommission über eine vernünftige Menge ei-
regelungen zu arbeiten, auch einigermaßen absurd. nen Konsens zu erzielen.
Ein derartiger Unterschied der sozialpolitischen Maß- Meine Damen und Herren, dies als Schlußbemer-
stäbe ist im vereinten Deutschland nicht vertretbar. kung: Hier ist moniert worden, daß ich nach jetzt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten knapp 100 Tagen Amtszeit nicht die Fortschreibung
der CDU/CSU) für ein endgültiges energiepolitisches Konzept vor-
gelegt habe. Sie wissen sehr wohl, daß wir uns in den
Im Hinblick auf den Jahrhundertvertrag bis 1995 ersten Wochen meiner Amtszeit sehr energisch und
halte ich es für geboten, darauf hinzuweisen, daß die engagiert mit der Frage des Strategiekonzepts Auf-
seinerzeit beim Bundeskanzler beschlossenen schwung Ost beschäftigt haben. Sie wissen auch sehr
40,9 Millionen Tonnen pro Jahr nicht eine einseitige wohl, daß es zwingend notwendig ist, in der Frage
deutsche Angelegenheit sind, sondern von der EG- eines energiepolitischen Konsenses, wenn man ihn
Kommission akzeptiert werden müssen. Das ist keine wirklich ernsthaft anstrebt, mit allen Beteiligten zu
Überraschung, sondern allen Beteiligten seit langem sprechen. Es ist aber ganz gewiß nicht so, daß man in
bekannt. Die EG-Kommission hält den Vertrag für ein Gespräch über einen Konsens mit einer Position zu
grundsätzlich genehmigungsfähig. Sie will ihn aller- gehen hätte, die sozusagen die Übernahme der Posi-
dings nicht unverändert hinnehmen. Sie verlangt eine tion der anderen Seite beinhaltete. Das können Sie
begrenzte Absenkung der Menge bis 1993. Sie hat ernsthaft nicht so meinen.
dem Bergbau mitgeteilt — ich zitiere wörtlich aus dem Im übrigen, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Schreiben der EG-Kommission— : Kollegen, bitte ich Sie herzlich — —
Die Freistellung des Jahrhundertvertrags ist mit
der Maßgabe zu gewähren, daß die Bezugsver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun-
pflichtungen für Steinkohle desminister, ich muß Sie leider darauf aufmerksam
— der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft — machen, daß so die Verlängerung der Debatte ermög-
- licht wird. Sie überschreiten die Redezeit. Ich muß Sie
so weit reduziert werden, daß sie bis zum 31. De- darauf aufmerksam machen, weil wir ansonsten bei
zember 1993 die Jahresbezugsmenge von 30 Mil- der Gesamtdebattenlage in außerordentlich große
lionen Tonnen nicht überschreiten. Schwierigkeiten kommen.
Die Bezugsverpflichtungen der Elektrizitätswirtschaft
sollen also nach Auffassung der EG-Kommission von Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
34,4 Millionen Tonnen, die der Gesamtmenge von schaft: Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir die gleiche
40,9 Millionen Tonnen zugrunde liegen, auf 30 Millio- Großzügigkeit angedeihen lassen, wie sie die Präsi-
nen Tonnen reduziert werden. dentin zuvor einigen Rednern geboten hat, und
Ich werde die Verhandlungen mit der EG-Kommis- komme deswegen zur letzten Bemerkung.
sion im Einklang mit der Regierungserklärung des Ich halte es für zweckmäßig, meine Damen und
Bundeskanzlers in Kürze aufnehmen. 40,9 Millionen Herren, daß wir ganz nüchtern auf der Grundlage der
Tonnen sind dabei die Verhandlungsbasis. Verhand- Fakten über das künftige Konzept diskutieren und
lungsgegenstand ist also nicht der Jahrhundertvertrag daß wir jetzt hier nicht den Eindruck erwecken, als
als solcher, wohl aber die Fördermenge, die Verstro- gehe es darum, mit Totschlagargumenten Feindbilder
mungsmenge, die im Laufe der letzten Jahre schon aus dem Weg zu räumen, die man vorher selbst auf-
einmal verändert worden ist, beispielsweise durch die gebaut hat.
Verabredung, die hier mehrfach erwähnt worden ist.
Vielen Dank.
Der Jahrhundertvertrag sah für den jetzigen Zeitraum
ursprünglich ja 45 Millionen Tonnen vor, und es kam (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
dann doch zu einer Reduzierung der Menge. Jetzt Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Die haben
geht es wieder um die Menge. Man soll nicht so tun, Sie doch aufgebaut!)
als würde der, der über die Menge redet, den Vertrag
als solchen in Frage stellen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
(Vorsitz: Vizpräsident Dieter-Julius Cro hat der Abgeordnete Jung.
nenberg)
Die Verstromung deutscher Kohle ist aber nicht nur Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident!
eine Frage bis 1995. Die Bundesregierung hat nie ei- Meine Damen und Herren! Herr Möllemann, wenn
nen Zweifel daran gelassen, daß es auch nach 1995 Sie es wirklich ernst damit meinen, einen neuen ener-
eine langfristige Verstromungsregelung geben muß. giepolitischen Konsens zu suchen — ich betone: einen
Sie wird Bestandteil energiepolitischen Konzeptes der neuen energiepolitischen Konsens; es kann nicht um
Bundesregierung sein. den alten gehen —, dann können Sie diese Suche
nicht damit beginnen, daß Sie einen Generalangriff
Auch dafür brauchen wir das Plazet aus Brüssel. Ich auf einen Energieträger, nämlich auf die heimische
habe den Eindruck, daß die EG-Kommission die Ver- Steinkohle, fahren.
stromungsmengen des Jahrhundertvertrages in ei-
nem engen Sachzusammenhang mit der Kohlever- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
stromung ab 1996 sieht. Hier dürfen wir nicht zu kurz der PDS/Linke Liste)
denken. Die Steinkohle braucht in der Tat eine lang- Damit verbauen Sie sämtliche Konsensmöglichkeiten
fristige Perspektive. Unser Hauptziel muß es sein, mit für die Zukunft.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1773
Volker Jung (Düsseldorf)
Es muß noch einmal eindringlich daran erinnert Versuch gemacht, die Bergleute im Braunkohlentage-
werden, daß der Bundeskanzler im August 1989 den bau in Ostdeutschland gegen ihre Kollegen im Stein-
Ministerpräsidenten der Bergbauländer zugesagt hat, kohlenbergbau in Westdeutschland auszuspielen.
das Mengengerüst der Kohleverstromung bis 1995 zu
(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Ein schnö
gewährleisten. Um dieses Thema geht es, nicht um die
Anschlußregelung. der Akt!)
Der jüngste Kongreß der IG Bergbau und Energie hat
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gezeigt, daß dies nicht gelingen wird. Wegen der
Zur Anschlußregelung hat mein Kollege Schäfer er- Transportkosten wird nämlich keine einzige Tonne
klärt, daß wir über die Modalitäten zu sprechen bereit heimischer Steinkohle nach Ostdeutschland transpor-
sind. Auf der Grundlage des geltenden Jahrhundert- tiert und keine einzige Tonne Braunkohle nach West-
vertrages haben die Bergbauländer einen Teil der deutschland. Beide Energieträger werden in der Nähe
Finanzierungslasten aus dem Ausgleichsfonds in ihre ihrer Förderung verstromt. Das hat gute Gründe, und
Haushalte übernommen. Auf dieser Grundlage wurde das soll auch so bleiben.
auch die Mikat-Kommission eingesetzt, die die Drittens. Besonders verwerflich ist das Argument:
Grundzüge einer Anschlußregelung für den gelten- Weil im ostdeutschen Braunkohlentagebau Zehn-
den Jahrhundertvertrag erarbeitet hat. Auf dieser tausende von Arbeitsplätzen wegfallen würden, dürfe
Grundlage hat der Steinkohlenbergbau, der die An- man sich nicht darüber beklagen, wenn im westdeut-
passung aus der letzten Kohlerunde vom Dezember schen Steinkohlenbergbau einige Leute ins Bergfreie
1987 erst noch verkraften muß, sein Optimierungsmo- fallen. So Originalton Möllemann.
dell errechnet, das Möllemann schnöde vom Tisch
gefegt hat. (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)
Meine Damen und Herren, das heißt doch im Klartext:
Was ihm offenbar noch gar nicht aufgefallen ist, ist Je mehr Fehleinschätzungen und Versäumnisse sich
der Umstand, daß sich der Zuschußbedarf der Stein-
- die Bundesregierung im Osten Deutschlands zuschul-
kohleverstromung nach dieser Rechnung um ganze den kommen läßt, desto ungenierter kann sie im We-
3,4 Milliarden DM verringern würde. Das hat zwar mit
sten Arbeitsplätze vernichten.
dem Bundeshaushalt überhaupt nichts zu tun, denn
der Kohlepfennig ist eine Ausgleichsabgabe inner- (Beifall bei der SPD)
halb der Elektrizitätswirtschaft. Insofern ist das Argu- Das heißt, den Zynismus auf die Spitze zu treiben. Das
ment völliger Unfug, daß man mit einer Reduzierung werden die Bergleute nicht mitmachen.
der Steinkohleverstromung Subventionen einsparen
könnte. (Zuruf von der SPD: Auch nicht mit Herrn
Möllemann!)
Was ihm auch nicht aufgefallen ist, ist der Umstand,
daß jede weitere Förderreduzierung den Staatshaus- Dafür haben wir Sozialdemokraten volles Verständ-
halt zusätzlich belasten würde, nis.
Meine Damen und Herren, Sie weisen darauf hin,
(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: In Milliar daß die Europäische Kommission den Kohlepfennig
denhöhe!) ab 1993 nur noch genehmigen will, wenn das Men-
und zwar in Form von Stillegungskosten, Sozialplan- gengerüst abermals drastisch gekürzt wird. Ich weise
kosten, Kosten für Arbeitslosenunterstützung usw. darauf hin, daß Sie es waren, die die Klage vor dem
Diese Kosten tauchen zwar nicht in seinem Etat auf, Europäischen Gerichtshof haben ruhen lassen, um mit
belasten aber gleichwohl die Allgemeinheit. Das Brüssel eine Verhandlungslösung zu suchen. Wie man
sollte der Wirtschaftsminister eigentlich wissen. aus Brüssel hört, ist die Kommission auch dazu bereit.
Aber Sie haben überhaupt noch kein Verhandlungs-
(Beifall bei der SPD) konzept. Damit wird doch das alte Spiel über die
Wenn Herr Möllemann heute geltend macht, daß Bande fortgesetzt, das wir von Ihren Vorgängern zur
die Zusage des Bundeskanzlers vor der deutschen Genüge kennen.
Einigung gegeben wurde, dann ignoriert er schlicht (Zuruf von der SPD: So ist es!)
die Tatsachen. Dazu ist zu sagen:
Wenn es Ihnen wirklich um einen neuen energiepo-
Erstens. Die Zusage des Bundeskanzlers wurde litischen Konsens geht, Herr Möllemann, dann neh-
nach der deutschen Einigung mehrfach bestätigt, zu- men Sie doch endlich ernsthafte Gespräche mit allen
letzt in der Regierungserklärung vom Januar 1991, zu Beteiligten und auch mit uns auf, und formulieren Sie
einem Zeitpunkt also, als Möllemann der Bundesre- keine Ausgangspositionen, die jede Konsensmöglich-
gierung schon als verantwortlicher Minister ange- keit verbauen. Sonst werden Sie an einer Ihrer vor-
hörte. Das heißt: Ihn intressiert nicht nur sein Ge- dringlichsten Aufgaben, nämlich Planungs- und Inve-
schwätz von gestern nicht, sondern er straft auch sei- stitionssicherheit in der Energiewirtschaft zu schaffen,
nen eigenen Regierungschef Lügen. Deshalb sagen hoffnungslos scheitern.
wir: Darum muß der Bundeskanzler seinen Wirt-
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
schaftsminister zur Ordnung rufen.
der PDS/Linke Liste)
(Beifall bei der SPD)
Zweitens. Die Verstromung heimischer Steinkohle
hat mit der deutschen Einigung eigentlich überhaupt Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Das Wort
-
nichts zu tun. Hier wird doch nur der durchsichtige hat der Abgeordnete Ganz.
1774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Johannes Ganz (St. Wendel) (CDU/CSU): Herr Prä- Dies alles wird nicht mit einer Grätschaktion zu
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! machen sein. Es wird aber auch nicht ohne Konsens-
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie sehen es mir bitte bereitschaft auf allen Seiten zu machen sein. Das sage
nach — ich bin sicher, Sie tun es —, wenn ich fest- ich insbesondere an die Adresse meiner eigenen Lan-
stelle, daß Sie uns und sich selbst diese Aktuelle desregierung: Wer den Bergleuten wider besseres
Stunde hätten ersparen können, wenn Ihre Äußerun- Wissen vorgaukelt, daß der nationale Energiebedarf
gen in den Interviews der zurückliegenden Zeit so ausschließlich mit heimischer Kohle und regenerati-
klar gewesen wären, wie Sie sie heute hier vorgetra- ven Energieträgern sicherzustellen sei, verschweigt
gen haben. Dafür bin ich Ihnen eigentlich dankbar. ihnen, daß wir damit insgesamt sowohl im europäi-
schen Binnenmarkt als auch international keine wett-
Mit diesen Äußerungen — zumindest so, wie sie in
bewerbsfähigen Strompreise haben werden, was,
den Nachrichten übergekommen sind — haben Sie in wollte man die damit einhergehenden Arbeitsplatz-
der Tat den Eindruck erweckt, als wollten Sie den
verluste vermeiden, nur über beträchtliche Subven-
Jahrhundertvertrag in Gänze vorzeitig kündigen, als
tionen — sprich: von uns allen aufzubringende Steu-
wollten Sie mit der EG nicht nur über das Mengenge- ern oder Abgaben — kompensiert werden müßte.
rüst verhandeln, sondern den Vertrag als Ganzen in
Frage stellen. Das hat uns Beschwernis eingebracht, (Beifall des Abg. Dr. Norbert Lammert [CDU/
auch die Beschwernis, daß wir draußen gegenüber CSU] — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist
den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, insbesondere es!)
wir im Saarland auch den Bergleuten, Antwort auf die Deshalb ist meine Fraktion entschlossen, auch bei
Frage geben müssen: Wie haltet ihr es denn nun da- der fortzuschreibenden Energiepolitik an einem Mix
mit? Jeder einzelne von uns ist angesprochen und aus Steinkohle, Braunkohle, Kernenergie, Öl, Gas und
betroffen. regenerativen Energien festzuhalten. Dabei muß der
Anteil an heimischer Kohle noch definiert werden,
Deswegen darf ich feststellen — ich bin sicher, auch
wofür die Mikat-Kommission eine gute, und, wie ich
für die Mehrheit meiner eigenen Fraktion; ich sage
meine, konsensfähige Grundlage bietet.
dabei nichts anderes, als ich den Bergleuten an der
Saar auch im Wahlkampf gesagt habe — : Hier kann ich dem Ministerpräsidenten des Saar-
landes nur raten, sich wieder in Richtung Energiekon-
Erstens. Es muß noch einmal daran erinnert werden, sens zu bewegen;
daß der bis 1995 geltende Vertrag und dessen Wur-
(Beifall bei der CDU/CSU)
zeln in die sozialliberale Regierung hineinreichen,
daß er auf Drängen des Bundeskanzlers, der Bundes- denn die Arbeitsteilung, wie sie heute existiert, daß in
regierung und der sie tragenden Fraktionen fortge- den revierfernen Ländern die Kernkraftwerke stehen
schrieben worden ist und daß insofern — zweitens — und die Kohleländer genau dort die Subventionen
überhaupt kein Zweifel daran bestehen darf und die — sprich: den Kohlepfennig — einfordern, wird auch
CDU/CSU-Fraktion daran auch keinen Zweifel auf- er auf Dauer nicht durchhalten können.
kommen läßt, daß dieser Vertrag gilt und auch einge- Herzlichen Dank.
halten wird (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion hat aber auch nie Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Das Wort
-
einen Zweifel daran gelassen, daß im Interesse aller hat der Abgeordnete Klinkert.
Beteiligten vor Ablauf der vereinbarten Vertragszeit,
d. h. noch vor 1995, Entscheidungen über die An- Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
schlußregelung getroffen werden müssen. Dabei Damen und Herren! Sie können mir glauben, daß ich
weiß jedermann und wissen auch die Bergleute, daß aus eigener Erfahrung sehr genau weiß, was es für
es zu weiteren Anpassungsmaßnahmen kommen eine Region und die Menschen, die in dieser Region
muß, die schwierig sein werden und die sozial verträg- leben, bedeutet, wenn ein Großbetrieb oder gar ein
lich gestaltet werden müssen. Insofern hat der Herr ganzer Industriezweig zusammenbricht. In den
Kollege Möllemann an dieser Stelle nichts Neues und Braunkohlegebieten in Mitteldeutschland und in der
Spektakuläres, wie vorhin dargestellt worden ist, ge- Lausitz herrschen Existenzangst und Verunsiche-
sagt. Neu, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol- rung. Seit der Wende ist die Braunkohlenförderung
legen, für uns alle ist dabei auch nicht, daß dies gewal- um ca. 100 Millionen t zurückgegangen. Was das
tiger Anstrengungen nicht nur des Bundesministers Schlimmste dabei ist: Den Menschen kann im Mo-
für Wirtschaft, sondern von uns allen bedarf. ment keine Prognose gegeben werden. Niemand
weiß, wie es weitergeht und wie lange er seinen Ar-
Wir werden die geänderte Situation nach der Wie-
beitsplatz ganz konkret noch behalten wird.
dervereinigung zu berücksichtigen haben. Wir wer-
den Regelungen finden müssen, die den EG Vorstel-
-
Ich beneide die westdeutsche Steinkohlenindustrie
lungen standhalten. Es muß ein Ausgleich zwischen und die darin Beschäftigten, aber ich mißgönne es
den Interessen der Revierländer und der revierfer- Ihnen nicht, daß sie durch den im Parteienkonsens
nen Länder gefunden werden. Die Neuregelung muß geschlossenen Jahrhundertvertrag eine auf Jahre, bis
aber auch — ich als Saarländer sage: vor allem — die 1995, gesicherte Existenz haben.
Sorgen und Nöte unserer Bergleute berücksichtigen, Zirka 11 Milliarden DM pro Jahr werden aufge-
die in schweren Zeiten unsere Energieversorgung wandt, um die Förderung von 70 Millionen t Stein-
und damit den wirtschaftlichen Aufschwung und un- kohle zur Zeit zu stützen. Zur Erinnerung: 12 Milliar-
ser aller Wohlstand erst möglich gemacht haben. den DM fließen jährlich in den Aufschwung Ost. Aber
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1775
Ulrich Klinkert
die Menschen, die von der Steinkohle leben, haben a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-
für die Fördergarantie bis 1995 das Wort ihrer frei schusses für Arbeit und Sozialordnung
gewählten Bundesregierung, und auf dieses Wort (11. Ausschuß)
müssen sie sich verlassen können. — Drucksache 12/496 —
Ein Argument allerdings sticht in der Zwischenzeit Berichterstatter:
nicht mehr, das damals für den Jahrhundertvertrag Abgeordneter Heinz Schemken
mit ausschlaggebend war, nämlich daß die Steinkohle b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
alleiniger Energieträger zur nationalen Energiever- schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
sorgung sein kann. Ein notwendiger Energiemix für
— Drucksache 12/569 —
die Zeit nach 1995 muß umgehend erarbeitet werden,
weil er wichtige Zeichen für längerdauernde notwen- Berichterstatter:
dige Investitionen auch im Osten setzen wird. Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin)
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Es muß ein Kompromiß gefunden werden, der aus Ina Albowitz
volkswirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten
alle Energieträger berücksichtigt und Raum für alter- (Erste Beratung 15. und 24. Sitzung)
native Energien läßt. Die Industrie braucht Milliar- Dazu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Frak-
deninvestitionen, um die Energieerzeugung in den tion vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debatten-
neuen Bundesländern auf ein modernes ökologisches zeit von 30 Minuten vor. Ist das Haus damit einver-
Niveau zu heben. Dafür ist ein verläßliches Energie- standen? — Das ist offensichtlich der Fall.
konzept möglichst aller Parteien notwendig, unter Be- Dann kann ich die Debatte eröffnen und dem Abge-
rücksichtigung z. B. auch der vorgesehenen CO2-Re- ordneten Schemken das Wort erteilen.
duzierung.
Es kann aber nicht sein, daß traditionsreiche Ener-
gieerzeuger und Kohleförderer wie die in den- neuen Heinz Schemken (CDU/CSU) : Herr Präsident!
Bundesländern nun auch auf diesem Gebiet vorrangig Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in
zu Konsumenten werden. einer der schwierigsten Phasen des Umbaus von der
Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft in den
Als Politiker sind wir aufgefordert, Sorge zu tragen,
neuen Bundesländern. Die Einheit kann allerdings
daß den Menschen in den neuen Ländern in der Koh-
auf Sicht keine soziale Ungleichheit vertragen.
leförderung — aber nicht nur dort — eine Chance ge-
geben wird, nicht nur Konsumenten, also Nehmende, Wir wissen aber auch, daß das Erbe des verheeren-
zu sein, sondern auch Produzenten, Gebende. den Arbeitsmarktes die größte „Soziale Altlast" ist,
die uns der Arbeiter- und Bauernstaat der SED hinter-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lassen hat. Man kann dieses Erbe nicht von heute auf
Am Beispiel der westdeutschen Steinkohle kann morgen verbessern.
man vielleicht die Brisanz der Lage in den neuen Bun- Die Menschen in den neuen Bundesländern setzen
desländern im Zusammenhang mit der Kohle und die Hoffnung auf uns alle. Während in den alten Bun-
Energie nachvollziehen. Es ist hier die Zahl von 5 000 desländern die Arbeitslosigkeit auf 5 % absank, stieg
abzubauenden Arbeitsplätzen in der westdeutschen sie in den fünf neuen Bundesländern und Berlin im
Steinkohle pro Jahr genannt worden. In den neuen Berichtszeitraum April auf 10 % an. Hinzu kommt, daß
Bundesländern sind 5 000 abzubauende Arbeitsplätze der Ostmarkt und der Handel mit den RGW-Ländern
mitunter eine Tagesspitzenmeldung. völlig eingebrochen sind. Viele Betriebe waren bis zu
Ein vernünftiger Konsens und diese Chance in den 80 % vom RGW-Markt abhängig. Wir bewegen uns
neuen Ländern könnte helfen, den Menschen ihre deshalb auf eine dramatische Entwicklung des Ar-
Würde zurückzugeben und den Leitsatz der friedli- beitsmarktes im Beitrittsgebiet zu. Dies erfüllt uns mit
chen Revolution: Wir sind ein Volk! erlebbarer zu großer Sorge.
machen. Deshalb muß das Instrument des Arbeitsförde-
rungsgesetzes noch stärker eingesetzt werden. Daher
Vielen Dank.
ist die konsequente und schnelle Entscheidung die
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord dieser Gesetzentwurf von uns fordert, vonnöten.
neten der FDP) Wir werden nicht nur das Kurzarbeitergeld und
damit auch die Regelung für Kurzarbeiter bis zum
31. Dezember dieses Jahres verlängern, sondern auch
den Anspruch auf Altersübergangsgeld im Rahmen
Damit des Vorruhestandes für die 55- und 56jährigen Ar-
Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg:
-
sind wir am Ende der Aktuellen Stunde. beitslosen einführen. Dies sind weitere flankierende
Maßnahmen zur Abfederung der schwierigen Lage
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: der Menschen in den fünf neuen Bundesländern.
Eine deutliche Erhöhung der Zahl von Arbeitsbe-
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines schaffungsmaßnahmen kommt insbesondere kommu-
Gesetzes zur Änderung arbeitsförderungs- nalen Projekten und sozialen Einrichtungen zugute.
rechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vor- Wir schaffen damit auch die strukturellen Vorausset-
schriften (AFG u. a. ÄndG) zungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den
— Drucksachen 12/222, 12/413, 12/493 — Städten und Gemeinden. Deshalb sind diese AB-Maß-
1776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Heinz Schemken
nahmen im Grunde genommen auch Weichenstellun- Wenn wir Punkt 1 nehmen, sollen damit die Mög-
gen für neue Arbeitsplätze. lichkeiten geschaffen werden, in den Braunkohlenge-
bieten Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesell-
Das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost garan-
schaften zu gründen. Wir sind der Meinung, daß dies
tiert eine 100%ige Finanzierung. 280 000 Stellen im
möglich ist. Aber wir wollen das nicht dort ausdrück-
AB-Bereich bedeuten eine einmalige gewaltige Kraft-
lich privilegieren, sondern im Gegenteil: Wir wollen
anstrengung, die wir, mit vielen Milliarden DM aus-
dieses Thema so behandeln, wie es auch mit den übri-
gestattet, für die neuen Bundesländer erbringen.
gen Trägerschaften nach dem Arbeitsförderungsge-
Hinzu kommen 140 000 Schulentlassene, die setz möglich ist.
sicherlich unser besonderes Augehmerk erforderlich Punkt 2 entspricht in seiner Intention im Grunde
machen. Denn gerade die jungen Menschen in den genommen dem Gesetzentwurf. Es besteht auf Grund
neuen Bundesländern sollen die Soziale Marktwirt- dieser Entschließung überhaupt kein Entscheidungs-
schaft und ihre Chancen und Möglichkeiten so erfah bedarf.
ren, wie dies auch junge Menschen in den alten Bun- Nun zu den Angehörigen des öffentlichen Dienstes,
desländern tun.
die in Punkt 3 behandelt werden: Niemand ist daran
Hinzu kommen weitere 10 000 Jugendliche, die ih- gehindert, an einer AB-Maßnahme teilzunehmen. Es
ren Ausbildungsplatz durch Konkurse verlieren. ist auch nicht so, daß die, die in der „Warteschleife"
sind, vor ihrem beruflichen Wiedereinstieg eine Qua-
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt deshalb u. a. das lifizierungsmaßnahme absolvieren müßten. Im Ge-
Patentschaftsmodell des deutschen Handwerks als genteil: Sie könnten auch so direkt in eine AB-Maß-
Angebot an junge Menschen in den betroffenen Re- nahme, falls erforderlich.
gionen. Das Angebot sieht so aus, daß die Jugendli-
chen ihren Wohnort in den neuen Bundesländern be-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
halten, daß sie aber in Handwerksbetrieben in den
westlichen Ländern ihre Ausbildung absolvieren. geordneter Schemken, Sie wissen aus Ihrer Tätigkeit
- als Schriftführer, daß es nicht immer ganz einfach ist,
Natürlich brauchen wir auch die überbetriebliche den Redner an die Zeit zu erinnern. Machen Sie es
Hilfe für die Jugendlichen, die jetzt durch den Umstel- dem Präsidium nicht allzu schwer.
lungsprozeß betroffen sind.
Erfreulich ist — wir sollten hier auch einmal positive Heinz Schemken (CDU/CSU): Schönen Dank. Ich
Signale setzen — , daß eine hohe Zahl von Frauen, habe das Signal hier übersehen. Es gibt ja kein Vor
nämlich über 55 %, an Qualifizierungsmaßnahmen im signal.
Beitrittsgebiet teilnehmen. Dies ist sicherlich ein posi- Noch ein Satz: Wir bleiben dabei, daß den 55- und
tives Signal. Denn gerade die Ausbildung und die 56jährigen die Chance des Übergangs zum Vorruhe-
Qualifizierung sind der Schlüssel zur Verbesserung stand eröffnet werden soll. Wir sind nicht der Mei-
der Lage der Arbeitslosen. nung, daß es erforderlich ist, dieses auf weitere Jahr-
gänge aus sozialpolitischen Gründen vorzuziehen. Es
Bei aller Kritik an der Treuhand und in bezug auf ist in gewisser Weise auch eine Frage der Humanität,
das Zögern der Wirtschaft muß festgestellt werden: daß wir nicht auch schon den 50jährigen die Möglich-
1 600 Betriebe sind mit einem Investitionsvolumen keit eröffnen, sich vom Arbeitsmarkt zu lösen. Im Ge-
von 55 Milliarden DM schon privatisiert. Weitere genteil: Es gilt, ihnen Hoffnung zu machen, daß sie
300 Unternehmen befinden sich in der Umwand- morgen wieder aus der Arbeitslosigkeit ins Arbeitsle-
lung. ben eintreten können.
Aber eine der herausragenden und vorrangigen Schönen Dank.
Forderungen an die Wirtschaft und an den Handel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bleibt, in die neuen Bundesländer nicht nur Produkte
und Ausstattungen zu liefern, sondern dort auch zu
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er-
produzieren. Dies schafft Arbeitsplätze. Nur so wer-
den wir die Weichen für eine gute Zukunft stellen teile ich das Wort der Abgeordneten Frau Renne-
können. bach.
Hierzu gehört allerdings auch das gemeinsame soli- Renate Rennebach (SPD): Herr Präsident! Meine
darische Miteinander der alten Bundesländer mit den lieben, verehrten Kolleginnen und Kollegen! Was der
neuen Bundesländern. Gemeinsam mit der Bundesre- verehrte Vorredner gerade gesagt hat, klingt so wie
gierung und den Regierungen der Bundesländer kön- die „unvollendete Humanität".
nen wir es schaffen. Das Sammelgesetz über die Änderung arbeitsförde-
Wir sollten deshalb diesem Gesetzentwurf unsere rungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vor-
Zustimmung nicht verweigern. Im Gegenteil! Ich schriften hat einen kurzen, aber kennzeichnenden
möchte zur Einlassung der SPD-Fraktion im Entschlie- Leidensweg zurückgelegt. Es wurde zwar noch or-
ßungsantrag kommen, der eigentlich im wesentlichen dentlich vorbereitet, anberaten, durch Expertenmei-
das umfaßt, was bereits gesetzlich geregelt ist. nungen angereichert, dann aber auf Druck der Regie-
rung und der Koalitionsmehrheit im federführenden
(Widerspruch bei der SPD — Rudolf Dreßler Ausschuß wie im Schweinsgalopp über die parlamen-
[SPD]: Da müßt ihr Euch mal eine Brille kau tarische Bühne gebracht.
fen!)
Dieses unselig-unsägliche Verfahren habe, so
— Der ist obsolet, der ist eigentlich überflüssig. wurde dem Bundestagsneuling Rennebach mit wis-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1777
Renate Rennebach
sender Miene bedeutet, Tradition. Irgendwann, ver- dern druckvoll voranzubringen und überall dort, wo
ehrte Anwesende, haben Traditionen ausgedient, und sie Einfluß ausüben könnte, Initiativen entwickeln zu
zwar alle. helfen. Es kann doch nicht sein, daß in der Bundesre-
(Beifall bei der SPD) gierung aus einer Scheuklappenmentalität heraus
dieses Potential, dieses großartige Instrument so we-
Denn es geht hier nicht um parlamentarische Routine, nige Freunde hat. Oder glaubt man wie vor einem
sondern um Regelungen, die über die Lebens- und Jahr, der Aufschwung Ost werde sich, von den Markt-
Berufsperspektiven, über Glück und Aufbauwillen kräften inspiriert, automatisch einstellen?
Hunderttausender entscheiden können. Dies sollte
uns sehr teuer sein, so teuer, daß wir Präzision und Allerdings muß ich nach der heutige Fragestunde,
Schnelligkeit miteinander verbinden. Und das ist et- in der gefragt wurde, wie viele Arbeitslose das BMA in
was völlig anderes als die Eile der Beratungen. den neuen Ländern 1991 und 1992 erwartet, vermu-
ten, daß das Blüm-Ministerium wirklich nach Inspira-
(Beifall bei der SPD) tion — sprich : Kaffeesatz — handelt und weniger
Das beste Beispiel ist die von der Bundesregierung nach der Wirklichkeit vor Ort.
ins Auge gefaßte Übergangsregelung für ältere Ar- (Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Angestoßen
wurde ein verbesserter Vorruhestand in den neuen — Das ist kein Quatsch.
Ländern durch die Sozialdemokraten und — jetzt hö- Die Politik hat große Chancen, in diesem Jahr mit
ren Sie genau zu — durch die Bundesvereinigung der dafür zu sorgen, daß sich die Zeichen der Hoffnung
Arbeitgeberverbände. Regierung und Koalition muß- und der Änderung in den neuen Ländern rasch meh-
ten aus ihrem wohligen Zurücklehnen nach Verab- ren. Nur wollen muß sie das. Daher werden die Sozial-
schiedung der Operation „Aufschwung Ost" ausge- demokraten dem Sammelgesetz insgesamt ihre Zu-
rechnet auch durch die Arbeitgeber aufgeschreckt stimmung nicht verweigern.
werden. Denn genau wie uns brennt es auch - denen
auf den Nägeln, daß der Arbeitsmarkt im Osten Deut- (Dr. Gisela Babel [FDP]: Unerhört!)
schlands kollabiert. — Sollen wir nein sagen? — Es beinhaltet Minimal-
Während sich noch alle Welt wunderte, warum die sätze, die keineswegs zufriedenstellen können. Aber
Bundesregierung ausweichend bis ablehnend auf niemand will leugnen, daß durch dieses Gesetz Ver-
Vorruhestandsinitiativen reagierte, machte der Bun- schlechterungen auch vermieden werden. Nur, es
desarbeitsminister eine Kehrtwendung. bleibt hinter den Möglichkeiten zur Entlastung des
Arbeitsmarktes in den neuen Ländern weit zurück. Es
(Rudolf Dreßler [SPD]: Leider wahr! — Ott schafft keine wirkliche Perspektive im Prozeß des not-
mar Schreiner [SPD]: Darin hat er Übung! — wendigen wirtschaftlichen wie sozialen Wandels. Es
Weiterer Zuruf von der SPD: Zickzack läuft ist im Grunde Abklatsch der immer gleichen kleinmü-
der immer, der Blüm!) tigen Politik dieser Regierung, den die Westbürger
bereits zur Genüge kennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es nicht
tadelnswert, daß der Bundesarbeitsminister eine Notwendig ist eine Vorruhestandsregelung, die
Kehrtwendung vornahm. Er hat ja Bundestag wie Öf- eine ganze Reihe von Jahrgängen der Älteren in den
fentlichkeit im Laufe der Zeit häufiger mit Schlinger- neuen Bundesländern aus der Angst vor der Arbeits-
bewegungen vertraut gemacht. Tadelnswert ist, daß losigkeit befreit, so wie die Sozialdemokraten dies in
er sich nur zu einer Minimalregelung durchringen ihrem Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag zum
konnte, die nur zwei Jahrgänge in eine neue Alters- Ausdruck bringen.
übergangsregelung bringt und die zudem so schlecht Notwendig ist darüber hinaus eine Verlängerung
ausgestattet ist, daß bestenfalls 50 % eines Jahrgangs der Kurzarbeitergeldregelung, die jene belohnt, die in
davon Gebrauch machen würden, wenn sie die die Qualifizierung gehen.
Chance der Wahl hätten.
Notwendig ist auch, den Beschäftigten des öffentli-
Was der Arbeitsminister möchte, ist eine leptosome chen Dienstes der ehemaligen DDR wieder Berufsper-
Lösung, die im Schritt ein Altersübergangsgeld von spektiven zu geben und sie wirtschaftlich zu stüt-
weniger als 750 DM bedeutet. Ich finde, der Lohn für zen.
ein oft sehr hartes, demütigendes Arbeitsleben im
ehemaligen sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat Schließlich ist es dringend erforderlich, die Beschäf-
sollte uns mehr wert sein als eine Marge im Pegel der tigungs- und Qualifizierungsgesellschaften zu einem
Sozialhilfe. Hebel zu machen, über den sich wirtschaftspolitisch
(Zustimmung bei der SPD) etwas bewegen läßt.
Von ähnlicher Qualität sind die Bedingungen für All das finden Sie in unserer Entschließung, die ich
dringend Ihrer geschätzten Zustimmung empfehlen
die Arbeitnehmer, die das Kurzarbeitergeld verlän-
gert bekommen. Sie werden mit Sperrzeiten bestraft, möchte. Ich frage mich, warum die Bundesregierung
und in ihrem Schlepptau die sie tragende Koalition mit
wenn sie Kurzarbeitergeld nicht mit Qualifizierung
kombinieren. unseren weitreichenden Vorstellungen so ablehnend
umspringen. Ich meine das keineswegs rhetorisch.
Außerordentlich bedauerlich ist ferner, daß sich die Welche Blöße gibt sich eine Regierung, wenn sie sagt,
Bundesregierung nicht entschließen konnte — jeden- okay, die Opposition hat eine gute Idee — ich meine
falls bis heute nicht —, die Idee der Beschäftigungs- den Entschließungsantrag — , sie ist es wert, aufge-
und Qualifizierungsgesellschaften in den neuen Län nommen zu werden?
1778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Renate Rennebach
Niemand wird doch im ernst glauben, daß das real in größten Krisenzeiten und in den am stärksten be-
drohende schreckliche Problem der Arbeitslosigkeit troffenen Problemregionen nicht kannten.
im Alter in den neuen Ländern mit der Zuführung von
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zwei Jahrgängen in eine Übergangsregelung gelöst
wird. Warum nun kein attraktives weitergehendes Niemand bestreitet, daß die jetzige Situation im Be-
Angebot? Legt sich der Bundesfinanzminister quer? reich der ehemaligen Planwirtschaft DDR diesen Ein-
Fehlen ihm wegen des Vorruhestandes dann die Mil- satz erfordert. Die Arbeitsmarktsituation ist ernst, die
lionen und Milliarden, die Vermögensteuerzahler ge- Zahlen der Arbeitslosen steigen immer noch weiter
schenkt bekommen sollen? an, in den Problemzonen der Industrie sind Zeichen
Warum diskutieren wir nicht ganz ernsthaft über die der Besserung bei der Beschäftigung noch nicht in
Frage, ob eine neue Vorruhestandsregelung nicht Sicht.
auch für Arbeitsmarktproblemregionen des Westens (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)
in Betracht kommt? Ist im Westen alles so paletti, daß Die Bundesanstalt für Arbeit steht vor einer Herku-
er zurückstehen kann? les-Aufgabe. Sie muß dafür sorgen, daß die Finanz-
Viele der Parlamentsneulinge haben gehofft, daß mittel sinnvoll und verantwortlich ausgegeben wer-
Diskussionen über das Bündel der Wertvorstellungen, den. Schon jetzt sind die erbrachten Leistungen ein-
das uns zusammenbindet, offen und ohne Zeitdruck drucksvoll: Aufbau der Arbeitsämter, Requirieren und
und Scheuklappen geführt werden könnte. Schulen von Mitarbeitern, Durchführen der Maßnah-
men mit Bildungsträgern, die noch unerfahren sind
(Beifall bei der SPD) mit Qualifizierung nach unserem westdeutschen
Kolleginnen und Kollegen, die Sozialpolitik allein bie- Standard. Die Steigerung der AB-Maßnahmen von
tet ja eine ganze Menge solcher Ansätze. Gehofft 63 000 auf 85 000 bis Mai 1991 zeigt jetzt schon den
wurde auch, daß der Bundestag Forum dieser Diskus- Aufwärtstrend. Aber diese Zahlen, meine Damen und
sion sein würde, der Bundestag an erster Stelle. Herren, müssen sich verdreifachen, um die Zielgerade
Das Sammelgesetz über die Änderung- arbeitsförde- zu erreichen.
rungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vor- Ich finde es grundsätzlich gut, daß alle Parteien im
schriften und das dieses Gesetz leitende Verfahren Ausschuß diesen Gesetzentwurf mittragen, das Volu-
haben mich enttäuscht. Dennoch hoffen wir Sozialde- men der Finanzen gutheißen und der Verlängerung
mokratinnen und Sozialdemokraten, daß dieses Ge- der Fristen zustimmen. Aber, Frau Rennebach, es ge-
setz hilft, einen akuten Notstand in den neuen Län- hört nicht zu den verfassungsmäßigen Pflichten der
dern zu mildern. Die Bürgerinnen und Bürger in den Regierung noch der Koalition, die Opposition in allen
neuen Ländern setzen Hoffnungen in ihre Abgeord- Punkten glücklich zu machen.
neten. Sie sollen Vertrauen gewinnen in unsere par-
lamentarische Demokratie. Die Koalition hat sich gna- (Konrad Gilges [SPD]: Sie sollen nicht uns
denlos gegen Bundesrat und Opposition durchge- glücklich machen, sondern die Menschen!)
setzt. Auch mein Verständnis von parlamentarischer Es kann doch nicht angehen, daß wir z. B. die Kurzar-
Demokratie bekommt Sitzungstag für Sitzungstag beitergeldregelung dadurch noch attraktiver machen
eine Scheibe abgeschnitten. Und dennoch danke ich wollen, daß wir Qualifizierung belohnen. Es geht
für Ihre Aufmerksamkeit. darum, daß wir Anreize zur Flexibilisierung schaffen
(Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ und daß das, was man in der Anhörung die Nest-
CSU]: Und Sie stimmen zu!) wärme der Betriebe genannt hat, aufbricht, um bei
allen Beteiligten das Bewußtsein zu wecken und zu
fördern, daß man sich um neue Existenzen wirklich
Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Nun hat
- bemühen muß.
die Abgeordnete Frau Dr. Babel das Wort. (Beifall bei der FDP — Gerd Andres [SPD]:
Für die Abschaffung von Nestwärme sind Sie
die Richtigen! Das ist wohl wahr!)
Frau Dr. Gisela Babel (FDP): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der zur Schlußabstimmung vor- Insofern bestehen die Unterschiede zur Opposition in
liegende Gesetzentwurf zum Arbeitsförderungsge- der Beurteilung, welche Bedeutung arbeitsmarktpoli-
setz verlängert die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tische Maßnahmen überhaupt haben können.
bis 1992, ebenso die Sonderregelungen für das Kurz- In der Anhörung klang es an, und ich wiederhole es
arbeitergeld bis 1991, letztere mit der zusätzlichen für die Fraktion der FDP noch einmal von dieser
Bedingung der Teilnahme an Qualifizierung. Mit den Stelle: Arbeitsmarktpolitik allein kann keine Arbeits-
aufgestockten Mitteln aus dem Gemeinschaftswerk plätze auf Dauer schaffen, meine Damen und Her-
Aufschwung Ost sollen 280 000 AB-Maßnahmen ren.
durchgeführt werden. Dafür stehen 5,2 Milliarden
DM bereit. 7,7 Milliarden DM sind für Fortbildungs- (Gerd Andres [SPD]: Behauptet auch kei
und Umschulungsmaßnahmen vorgesehen, womit ner!)
etwa 500 000 Qualifizierungsmaßnahmen bis 1991 Der Prozeß der Arbeitsplatzschaffung kann nur durch
finanziert werden können. Maßnahmen der Wirtschafts-, der Struktur- und Ver-
Meine Damen und Herren, das sind gigantische kehrspolitik und durch Förderung der Investitionen,
Zahlen. Damit kommen die klassischen Instrumente durch Einsatz in der Privatwirtschaft gelingen, wenn
der Arbeitsmarktpolitik in einem Maße zum Einsatz, das Ziel die gesunde Soziale Marktwirtschaft und
wie wir das in der ehemaligen Bundesrepublik selbst nicht die Planwirtschaft ist.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1779
Frau Dr. Gisela Babel
Ich erinnere noch einmal an die Anmerkungen des vollen Mitteln ihren Beitrag geleistet. Die FDP stimmt
brandenburgischen Kreishandwerkermeisters in der dem Gesetz zu.
Anhörung. Er bat dringend darum, daß mit AB-Maß- Vielen Dank.
nahmen Baubetrieben und Handwerkern keine Auf-
träge weggenommen werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, das ist ein Punkt, auf den Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat die
wir achten müssen. Er hat sehr anschaulich geschil- Abgeordnete Bläss.
dert, wie das Beziehen von Kurzarbeitergeld durchaus
fähige Betriebsangehörige gehindert hat, vorzeitig Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!
eine neue Stelle anzunehmen. Man wartet ab, bis die Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute Vor-
Kurzarbeitergeldregelung ausläuft, hofft noch auf schläge zur Änderung arbeitsförderungs- und anderer
eine Prämie wegen Betriebsschließung, um sich dann sozialrechtlicher Vorschriften, wenige Tage nach Ver-
eventuell neu zu orientieren. Er hat sein Unverständ- öffentlichung der jüngsten Arbeitslosenzahlen für die
nis darüber ausgedrückt, warum das Arbeitsamt die neuen Bundesländer. Daß diese eine dramatische Zu-
Arbeitskräfte, die Kurzarbeitergeld beziehen, nicht spitzung der Lage dort sichtbar machen, brauche ich
vermittelt. angesichts der Tatsache, daß die Veröffentlichungen
Der Engpaß bei der Vergabe der Investitionen sei seit neuestem immer mit dem Kommentar versehen
die Bauverwaltung. Für diese könne man durch AB- sind, daß ein Ende der Talfahrt nicht absehbar ist, gar
Maßnahmen keine Hilfe schaffen, weil heute schon nicht zu betonen.
auf Grund des Tarifgefüges die Verwaltung fähige Wir diskutieren diesen Gesetzentwurf zum Arbeits-
Fachleute in neuen Bundesländern nicht mehr förderungsgesetz aber auch wenige Tage, nachdem
bekommen können. die sogenannte Deregulierungskommission ihren Be-
- richt vorgelegt hat — einen Bericht, dessen Vor-
Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Babel, sind schläge darauf abzielen, die gegenwärtige Arbeits-
Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? marktordnung zu verändern, und zwar durch grund-
legende Angriffe auf die Tarifautonomie und auf Ar-
beitnehmer- und Arbeitnehmerinnenschutzrechte.
Dr. Gisela Babel (FDP): Nein, Herr Präsident, ich
Ich nenne diesen Bericht in diesem Zusammenhang
möchte zum Schluß kommen. — Die Kritik eines Prak-
deshalb, weil er wie kein anderes Dokument bisher
tikers verdient unsere Beachtung und vor allem die
deutlich macht, welche Entwicklung für den Arbeits-
der Bundesanstalt für Arbeit bei der Durchführung
markt, für die abhängig Beschäftigten und vor allem
ihrer Maßnahmen.
für die Arbeitslosen wirklich vorgesehen sind, jenseits
Nun noch eine Bemerkung zum Altersübergangs- der heute zur Debatte stehenden Maßnahmen zum
geld. In gemeinsam gebilligten Anträgen wird die Krisenmanagement. Der Bericht beschreibt das Sze-
Altersgrenze für Bezieher von Altersübergangsgeld nario, mit dem künftig Unternehmermacht gegenüber
von 57 auf 55 Jahre herabgesetzt. Meine Damen und dem Einfluß der Gewerkschaften weiter ausgebaut
Herren, ich kann nicht begreifen, warum sich die SPD wird, mit dem gesetzliche und tarifvertragliche Rechte
hier nicht befriedigt geäußert hat. Denn ich meine, sie der abhängig Beschäftigten weiterhin reduziert, Er-
hat in dieser Frage durchaus auch Anregungen gege- werbstätige und Arbeitslose gegeneinander ausge-
ben. spielt werden.
(Gerd Andres [SPD]: Sie waren bei der Aus (Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)
schußberatung nicht da, Frau Kollegin!)
Vor diesem Hintergrund ist es für mich völlig ein-
Jetzt äußert sie sich wieder enttäuscht. Aber ich sichtig, daß die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes
denke, es ist diese Berufsenttäuschtheit, die Sie als bis zum Jahresende ebenso wie die weitere Auswei-
Opposition immer äußern müssen. tung von ABM-Programmen, die heute zur Debatte
(Gerd Andres [SPD]: Sie waren bei der Aus stehen, nicht zur Problemlösung beitragen, sondern
schußberatung nicht da! Sonst wüßten Sie lediglich dazu taugen, die bevorstehende Katastrophe
es!) zu verschleiern, an den Problemen herumzukurieren
Nicht nur unter sozialen Aspekten, sondern auch, und deren Lösung im Interesse der betroffenen Men-
weil der Arbeitsmarkt entlastet wird, ist diese Maß- schen zu vertagen. Eine Verknüpfung der Verlänge-
nahme sinnvoll. Besonders begrüße ich die Tatsache, rung des Kurzarbeitergeldes z. B. mit der Teilnahme
daß ein entsprechender neuer Vorschlag jetzt auch für an Qualifikationsmaßnahmen bleibt unseres Erach-
Selbständige Anwendung finden kann, die es ihnen tens nicht mehr als eine plumpe Sanktion, wenn die
erspart, unter den veränderten marktwirtschaftlichen Möglichkeiten dafür nicht gleichzeitig entschieden
Bedingungen noch einmal neu anzufangen. ausgeweitet werden.
(Zustimmung bei der CDU/CSU) Darüber hinaus muß den Betroffenen deutlich ge-
macht werden, daß Qualifizierung angesichts der
Sie waren bis zum 3. Oktober 1990 sozialversiche- strukturellen Entwicklungen in den neuen Bundes-
rungspflichtig. Insofern ist es nur allzu gerechtfertigt, ländern die Aussicht auf einen Arbeitsplatz minde-
daß man ihnen jetzt die Möglichkeit gibt, Arbeitslo- stens verbessert. Nach unserer Auffassung kann die
sengeld und Altersübergangsgeld zu beziehen. Kurzarbeiterinnenregelung dann zum Instrument
Meine Damen und Herren, die Arbeitsmarktpolitik wirtschaftsstruktureller Umstellungen werden, wenn
hat mit diesem Gesetz und den wirklichen eindrucks sie mit grundlegenden strukturpolitischen Maßnah-
1780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Petra Bläss
men verbunden ist. Dabei müssen auch für die Be- Lohn der Anerkennung für ihre Anstrengungen ge-
schäftigten Anreize geschaffen werden, sich auf neue bracht werden.
Strukturen und wirtschaftspolitische Erfordernisse (Konrad Gilges [SPD] und Ottmar Schreiner
einzustellen, statt ihnen Sperrfristen und Geldkürzun- [SPD]: Quatsch!)
gen anzudrohen.
Fortbildung und Umschulung: Seit Oktober
Wir als PDS/Linke Liste werden trotz aller Beden- 297 000; fast 300 000. Wir haben im April in vier Wo-
ken nicht gegen den vorliegenden Gesetzentwurf chen — —
stimmen, weil wir im Interesse der Menschen in Kurz-
arbeit wenigstens bis zum Jahresende ihre materielle (Zuruf des Abg. Konrad Gilges [SPD])
Absicherung gesichert wissen wollen. —Ach, bleiben Sie ganz ruhig. Ich rede nicht für mich;
ich rede für diejenigen, die etwas Großes im Interesse
Danke.
derer geleistet haben, die in Not sind und denen wir
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
beistehen müssen.
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Ihr habt
Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Das Wort
-
die Arbeitsplätze kaputtgemacht!)
hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, — Die Arbeitsplätze hat der Sozialismus vernichtet,
Dr. Norbert Blüm. nicht diese Bundesregierung.
(Gerd Andres [SPD]: Der sollte doch zur Koh (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lerunde reden!) Es wird ja immer schöner! Wir räumen die Trümmer
weg, und die Trümmergesellschaft beschwert sich
über unsere Arbeit.
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Zuruf von der FDP: Ein Witz!)
Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Noch mal zu F & U: Im April in vier Wochen 73 000
-
Herren! Ich möchte am Ende des Gesetzgebungsver- neue Umschulungsplätze. Ist das nichts? Dahinter
fahrens zu diesem wichtigen Gesetz doch einige Be- steht doch eine große Anstrengung.
merkungen machen.
(Konrad Gilges [SPD]: Langt überhaupt
(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Wenn auch nicht!)
kurz!)
— Sie langt noch lange nicht. Wir müssen auf diesem
Wir nutzen die Instrumente des Arbeitsmarkts, wie Weg weitermachen. Und dieses Gesetz bietet dafür
keine Regierung vor uns, Voraussetzungen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und werden großzügiger ausgestattet, mit Sachmitteln
der FDP) ausgestattet.
und zwar was die Zahl der Instrumente wie die Aus- Ich finde, wir müssen in ungewöhnlichen Zeiten
stattung anlangt. ungewöhnliche Anworten geben.
(Ottmar Schreiner [SPD]: Nachdem ihr ein
Jahr geschlafen habt!) Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Herr Bun-
-
Nie gab es mehr Geld und Instrumente im Arbeitsför- desminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu
derungsgesetz als durch dieses Gesetz. beantworten?
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: In den neuen
Bundesländern haben wir jetzt 85 000 ABM-Plätze. Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Das sind mehr als in den alten Westländern insge- Sozialordnung: Aber bitte.
samt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Bundesmini-
der FDP) ster, halten auch Sie es für einen Beitrag zur Überwin-
Wir haben in diesen Tagen mit den Arbeitsbeschaf- dung der Arbeitslosigkeit, wenn man Kurzarbeiter,
fungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern die die bildungsbereit sind, für die nach Aussagen ihrer
Zahl der in den alten Bundesländern angesiedelten eigenen Regierung aber nicht genug Plätze angebo-
ABM übertroffen. ten werden können, dafür bestraft, daß sie die nicht
vorhandenen Qualifizierungsmaßnahmen nicht wahr-
(Ottmar Schreiner [SPD]: Nachdem ihr in den nehmen können?
alten Ländern gestrichen habt!)
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der
85 000! Im März hatten wir 63 000. Ich möchte doch FDP)
alle, auch die Opposition, bitten, anzuerkennen, wel-
che Anstrengungen, auch vor Ort, auch durch die
Arbeitsämter, durch die Träger, in diesen Zahlen zum Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Ausdruck kommen. Diese Anerkennung, meine ich, Sozialordnung: Verehrter Herr Kollege! Meines Er-
ist ein Gebot der Redlichkeit. achtens geht es darum, die Kurzarbeit mehr, als es uns
in der Vergangenheit gelungen ist, mit Qualifizierung
(Konrad Gilges [SPD]: Mein Gott! Spiel dich zu verbinden. Dafür setzen wir sowohl bei den Perso-
doch nicht so auf wie im Wahlkampf!) nen wie bei den Institutionen an. Wir bezahlen und
— Ich spiele mich auf für die Leute, die durch diese unterstützen inzwischen auch 128 Träger für Fortbil-
Kritik, wie die Opposition sie hier vorträgt, um den dungs- und Umschulungsmaßnahmen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1781
Abbrechen des Arbeitsmarkts zu verhindern. Wir ha- Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Einzel-
ben sie großzügig ausgestattet und noch einmal um beratung und Abstimmung über den Gesetzentwurf
ein halbes Jahr verlängert. Aber wir möchten nicht, auf den Drucksachen 12/222, 12/413, 12/493, 12/496
daß die Kurzarbeit sozusagen eine passive Antwort in der jeweiligen Ausschußfassung.
auf die Arbeitslosigkeit ist. Wir möchten sie stärker
nutzbringend mit Qualifizierung verbinden. Das ist Ich rufe zunächst die Art. 1 bis 10, Einleitung und
der Sinn, wir wollen den Menschen helfen. Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den auf-
gerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dage-
gen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Gruppe
Das Altersübergangsgeld — das ist schon gesagt
der PDS/Linke Liste sind die Vorschriften angenom-
worden — betrachte ich nicht als den Normalweg: daß
men. Damit ist die zweite Lesung abgeschlossen.
sich ein 55jähriger sozusagen schon auf den Zugang
zur Rente vorbereitet. Nur finde ich: Wenn wir schon Wir treten nunmehr in die
vor der Wahl stehen, finde ich es sinnvoller, einem
55jährigen ein Altersübergangsgeld zu zahlen als ei- dritte Beratung
nem 20jährigen Arbeitslosengeld.
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
(Beifall bei der FDP) Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich,
sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthal-
Das ist die Philosophie, die dahintersteht.
tungen? — Bei einigen Enthaltungen aus der Gruppe
(Ottmar Schreiner [SPD]: Wenden Sie dieses der PDS/Linke Liste ist damit der Gesetzentwurf an-
Verfahren doch auch mal bei der Bundesre genommen.
gierung an! Da sind einige überreif!)
Wir stimmen nunmehr ab über den Entschließungs-
Wir sind überhaupt keine Dogmatiker. Wenn - es den antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/571.
Menschen hilft, helfen wir auch. Wir wollen auch die Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? — Wer
Selbständigen wieder in das Arbeitsförderungsgesetz stimmt dagegen? Damit ist dieser Entschließungsan-
einbeziehen. trag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abge-
lehnt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, wäre es nicht gut, Sie Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungs-
würden in Ihren Diskussionsbeiträgen ihrem Abstim- punkt 8:
mungsverhalten Rechnung tragen? Sie haben doch
alle gesagt, daß Sie dem Gesetz zustimmen. Machen Beratungen ohne Aussprache
Sie doch mal den Menschen, den Frauen, den Män-
nern, den Jungen, den Alten in den fünf neuen Bun- a) Erste und zweite Beratung sowie Schlußab-
desländern Mut, daß wir mit ihnen die schwere Krise stimmung des von der Bundesregierung
überwinden wollen. Ich finde, das ist wichtiger, als eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
hier den Dampf der Polemik abzulassen und am dem Abkommen vom 8. Dezember 1990
Schluß doch zuzustimmen. zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Polen über Soziale
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Sicherheit
Konrad Gilges [SPD]: Sie sind doch der — Drucksache 12/470 —
größte Polemiker, den es in diesem Hause
gibt!) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
— Ich amüsiere mich über Sie, wenn Sie solche Lach- des von den Fraktionen der CDU/CSU und
krämpfe kriegen. Warum stimmen Sie denn anschlie- FDP eingebrachten Entwurfs eines Geset-
ßend zu? Sie reden hier polemisch gegen ein Gesetz zes zu dem Abkommen vom 8. Dezember
und stimmen am Schluß doch mit Ja. Ich bedanke 1990 zwischen der Bundesrepublik
mich ausdrücklich für Ihre Ja-Stimmen und verzichte Deutschland und der Republik Polen über
auf Ihre Polemik. Soziale Sicherheit
— Drucksache 12/303 —
Ich bedanke mich auch bei allen Mitgliedern des
Ausschusses, daß Sie so schnell gearbeitet haben. Ich Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-
bedanke mich ausdrücklich bei denjenigen, die so schusses für Arbeit und Sozialordnung
schnell gearbeitet haben. Leider Gottes kam die Ar- (11. Ausschuß)
beitslosigkeit auch schnell. Deshalb kann man nicht — Drucksache 12/445 —
im Normalgang arbeiten, sondern muß eine schnelle
Antwort bringen. Ich bin dem Ausschuß dankbar, daß Berichterstatterin:
er die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Schnell- Abgeordnete Dr. Gisela Babel
ganges hatte. (Erste Beratung 21. Sitzung)
Ich glaube, wir helfen heute mit diesem Gesetz vie-
len Menschen. Wir sind nicht am Ziel, aber ein großes c) Zweite und dritte Beratung des von der
Stück kommen wir mit diesem Gesetz voran. Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die zwanzigste Anpas-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sung der Leistungen nach dem Bundesver-
1782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Gisela Schröter
seiner Presseinformation vom 10. Mai 1991 von den ende getan haben. Es geht auch heute darum, die
Opfern erbittet. Opfer zu versöhnen. — Bitte schön.
Es ist nicht zu leugnen, daß nach klassischen recht-
lichen Kriterien im Einzelfall Beweis- und Darle- Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Aus Ihrer
-
gungsschwierigkeiten bestehen werden. Unser Zwischenbemerkung habe ich entnommen, daß Sie
Rechtsstaat ist dann aber gehalten, für diese Notfälle bereit sind, die Zwischenfrage der Abgeordneten
— es handelt sich hier, meine Damen und Herren, um Frau Wollenberger zu beantworten.
echte Notfälle — nach Beschleunigungsmöglichkei- Bitte schön.
ten zu suchen.
Unter den Nachteilen, die die Opfer erlitten haben,
Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Ab-
war auch das Leid — ich sagte es bereits — , daß den
Opfern ihre Unschuld oft nicht geglaubt wurde. „Es geordneter, Sie haben eben in bewegenden Worten
wird schon etwas drangewesen sein" hieß das Miß- den Unrechtsstaat DDR geschildert. Sind Sie da nicht
trauen der Umwelt, dem heute eine offizielle Ehrener- auch der Meinung, daß es eine schwere Fehlentschei-
klärung entgegengestellt werden muß. dung war, dem Honecker-Regime noch Milliarden-
kredite zu geben und damit sein Leben zu verlän-
Mit einer schnellen Verabschiedung eines verbes- gern?
serten Rehabilitierungsgesetzes müssen wir einen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wichtigen Beitrag zu diesem ersten Schritt leisten.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Erwin Marschewski (CDU/CSU): Meine sehr ver-
der CDU/CSU) ehrte Kollegin, eine viel größere Fehlentscheidung
wäre es gewesen, wenn wir damals Herrn Modrow die
Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Das Wort
- 15 Milliarden DM gegeben hätten. Das haben wir be-
hat der Abgeordnete Marschewski. wußt nicht getan, und deswegen war diese Politik
- sicherlich richtig.
Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Präsident! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Meine Damen und Herren! Am 15. Dezember 1988 Widerspruch bei der SPD)
war es einem 18jährigen DDR-Bürger gelungen, die Aber, meine Damen und Herren, ich will zu diesem
Elbe zu durchschwimmen. Er erreichte westdeutsches Thema etwas anderes weiter ausführen. Gerade das,
Gebiet, rutschte auf den Knien aus dem Wasser, was Sie sagen, ist begründet, denn Opferversöhnung,
reckte sich hoch. In diesem Augenblick gab ein DDR- sehr verehrte Frau Kollegin, bedeutet natürlich Be-
Grenzer vier gezielte Schüsse auf ihn ab, einer ver- strafung der Verantwortlichen für Tod, für Leid und
letzte den Flüchtling schwer. Als Verräter an der Ar- für Unterdrückung. Ich meine, gerade das, was Sie
beiterklasse und am sozialistischen Staat DDR wurde sagen, ist begründet, denn die Hauptverantwortli-
er zu drei Jahren Haft verurteilt. chen, die Honeckers, die SchalckGolodkowskis, dür-
Ein zweiter Fall. Ein junges DDR-Paar, es trug mit fen nicht amnestiert werden.
„Glasnost" und „Perestroika" bedruckte T-Shirts, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —
ging an der Mauer in Berlin spazieren. Man nahm die Zurufe von der SPD)
beiden fest. Man verurteilte sie wegen ungenehmig- Für diese Leute darf es keinerlei Sonderregelung ge-
ter Demonstration zu 18 Monaten Freiheitsstrafe. ben. Auch das gehört zur Opferversöhnung.
Dies sind nur zwei Beispiele menschenunwürdiger Opferversöhnung heißt insbesondere berufliche Re-
Entscheidungen. Allein in Salzgitter — ich sage dies habilitation, d. h. Wiedergutmachung bei Repressio-
hier ganz bewußt; wir wollten Salzgitter damals nicht nen durch Verwaltungsbehörden. Es eilt — deswegen
auflösen — wurden 30 000 Fälle registriert. Die Ge- bin ich mit der Intention Ihres Antrags durchaus ein-
samtzahl der politisch Verfolgten dürfte so ungefähr verstanden — es ist ernst zu nehmen, was ich gesagt
bei 150 000 liegen: Terrorurteile gegen Unschuldige, habe, und Sie sollten es mit uns gemeinsam machen.
die nach DDR-Jargon wegen „Boykotthetze", „Sabo- Es eilt, die Menschen, die aus dem Bereich von Mauer
tage", „Diversion" oder „Zusammenrottung" einge- und Stacheldraht als sogenannte unzuverlässige Ele-
kerkert, in psychatrischen Anstalten interniert und mente vertrieben wurden, zu rehabilitieren. Opferver-
sogar ermordet wurden, und dies nur, weil ihre Sehn- söhnung bedeutet vor allen Dingen Aufhebung der
sucht nach Freiheit und Recht sie antrieb, nachzuden- Unrechtsurteile sowie eine angemessene Entschädi-
ken, zu fordern, Widerstand zu leisten oder zu fliehen. gung auf einfachem Wege und so schnell wie mög-
Nur deswegen wurden sie Opfer einer willfährigen lich.
Terrorjustiz, die im Namen der Gerechtigkeit Unrecht
Ich weiß selbst, was wir damals, am 17. Juni, gesagt
sprach.
haben. Ich kann es nicht begreifen, daß nach der der-
(Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/ zeitigen Gesetzeslage nicht die Möglichkeit besteht,
GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischen- eine Rehabilitierung der Leute zu vollziehen, die da-
frage) mals gegen die politische Polizei aufgestanden sind.
Dies — ich will das eben noch ausführen — muß Da sind wir durchaus, so meine ich, einer Meinung,
mich an die Zeit von 1933 bis 1945 erinnern, denn daß wir auch diesen Fall regeln müssen.
damals postulierte man so: Es sei nicht vom Recht aus- Eine weitere Problematik: Als ich neulich in Dres-
zugehen, sondern vom Entschluß, der Mann müsse den war, hat mir ein Gesprächspartner, der drei Jahre
weg. — Deswegen meine ich, wir müssen auch die unschuldig in Haft verbrachte, gesagt, daß er es nicht
Probleme so handhaben, wie wir dies nach Kriegs verstehe, im Monat nur 80 DM Entschädigung zu be-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1785
Erwin Marschewski
kommen. Ich teile auch da Ihre Auffassung. Wir kön- Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Meine Frage be-
nen uns nicht damit abfinden, daß jemand, der ein zieht sich auf das, was Sie über die Rehabilitierung
Jahr zu Unrecht in Haft verbracht hat, nur 1 000 DM nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt haben, also auf
Entschädigung für dieses Jahr bekommt. Laßt uns die Rehabilitierung in bezug auf das Naziregime. Sie
doch darüber nachdenken, ob wir nicht das, was im meinen damit sicherlich, daß auch Roma und Sinti,
Strafverfolgungsentschädigungsgesetz pro Hafttag Homosexuelle und Kommunisten entschädigt worden
vorgesehen ist — ich meine die 20 DM — , zumindest sind?
teilweise übernehmen. Ich meine, dieser Vorschlag ist
überlegenswert. Erwin Marschewski (CDU/CSU) : Ich sage Ihnen,
Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren daß wir insbesondere im strafrechtlichen Bereich eine
der SPD, das kann kein Ausgleich für erlittenes Un- ganze Menge getan haben, daß wir alle Unrechtsur-
recht sein. Ich meine aber, dies kommt der Verpflich- teile schon unmittelbar nach dem Kriege aufgehoben
tung der oft genannten Solidargemeinschaft, der ge- haben, wenn es auch noch Rechtsfälle und Restfälle
samten Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die- gab, die wir in der Zwischenzeit gelöst haben.
ses vereinten Deutschlands doch beträchtlich näher. Ich gehe davon aus, daß wir die Probleme, die Sie
Ich glaube, wir sollten auch darüber nachdenken. sicherlich nicht zu Unrecht ansprechen, noch lösen
werden. Nur haben wir nach dem Kriege eine sehr
Meine Damen und Herren, dieses Ziel gilt natürlich
umfassende Entschädigungsregelung geschaffen so-
auch für die Verwirklichung weiterer Ziele des Antra- wohl im faktischen, im finanziellen Wege, als natür-
ges. Ich meine, sehr geehrter Herr Minister, die Bun-
lich auch im Rechtswege.
desregierung muß unverzüglich, d. h. ohne schuldhaf-
tes Zögern, eine neue, alles erfassende, alles umfas- (Gerhard Pfeffermann [CDU/CSU]: Wir
sende gesetzliche Grundlage für die Rehabilitierung brauchen keine Nachhilfestunde von der
schaffen. Wir haben allein 50 000 Anträge im straf- SED und ihren Zöglingen! — Gegenrufe von
rechtlichen Bereich. Diese Anträge bedürfen drin- der SPD)
gend einer Antwort des Rechtsstaates. Ich meine, wir
sollten uns nicht auf Art. 17 des Einigungsvertrages Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer
beschränken, d. h. nur auf die strafrechtliche Rehabi- Zwischenfrage Herr Schily.
litation, nur auf die Einweisung in psychiatrische An- (Unruhe)
stalten. — Ich wäre dankbar, Herr Abgeordneter Pfeffermann,
Ich denke an die Zeit nach dem Krieg. Wir haben meine Damen, wenn der Abgeordnete Schily seine
noch vor geraumer Zeit über die Urteile des Volksge- Zwischenfrage in aller Ruhe formulieren könnte.
richtshofs gesprochen. 50 Jahre, nachdem diese Un- (Unruhe)
rechts- und Schreckensurteile gefällt worden sind, Herr Abgeordneter Schily, Sie haben das Wort.
darf es einfach nicht dauern.
Wir haben aber gute Beispiele: Die Bundesrepublik O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Marschewski, wir
hat sich nach 1945 zu einer kompromißlosen Wieder- sind uns ja sicherlich darüber einig, daß die ehemalige
gutmachung entschlossen. Dazu gehörte auch die be- DDR ein Unrechtsregime war und daß es sinnvoll ist,
rufliche Rehabilitation. Dazu gehörte natürlich auch die Opfer dieses Unrechtsregimes zu entschädigen
ein Ausgleich für Schäden an der Gesundheit. Bei der und zu rehabilitieren, soweit das irgendwie möglich
Vorbereitung zu diesem Thema habe ich gelesen, daß und praktikabel ist. Aber glauben Sie bei Ihren mehr-
sich der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer fachen Vergleichen mit dem NS-Regime nicht, daß
sehr häufig über die Bedenken seines Finanzministers Sie vielleicht doch auch gut daran täten, einige Unter-
Fritz Scheffer hinweggesetzt hatte. Meine Damen und schiede herauszuarbeiten, die zwischen dem NS-Re-
Herren, Konrad Adenauer tat dies, weil er wußte, daß gime und dem Unrechtsregime in der ehemaligen
gerade hier die Akzeptanz des Rechts, der innere DDR bestanden haben?
Friede und die Glaubwürdigkeit der jungen demokra- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke
tischen Republik zur Diskussion standen. Was damals Liste)
richtig war, sollte auch heute gelten.
Wir als Union sehen in der schnellen Rehabilitie- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Kollege
rung ein wesentliches versöhnendes Element zur de- Schily, ich bin schon erfreut darüber, und ich meine,
mokratischen Erneuerung von Gesellschaft, von Staat es ist schon bemerkenswert, daß Sie hier erklären, daß
und Recht in unserem wiedervereinigten Lande. Für die DDR ein Unrechtsstaat war. Da sind wir beide
die Menschen, die so unsägliches Leid erlitten haben wirklich völlig einer Meinung. Ich weiß natürlich ge-
— ich glaube, daß sich alle Demokraten in diesem nauso gut wie Sie, daß man Geschichte und das Wer-
Hause völlig einig sein müssen — , muß doch alles in ten von Fakten in der Geschichte nicht miteinander
unserer Macht Stehende getan werden, damit diesen vergleichen kann. Das ist sicherlich richtig. Nur, eines
Opfern endlich Gerechtigkeit zuteil wird. ist auch richtig: Das Dritte Reich war ein Unrechts-
staat, sicherlich mit anderen Facetten und unter ande-
ren Umständen. Die DDR war ebenfalls ein Unrechts-
staat, den wir jetzt in einen Rechtsstaat überführt ha-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ben, in einen Staat der Freiheit, in einen Staat der
geordneter, ich muß Sie noch einmal unterbrechen, Demokratie.
weil eine Bitte um eine Zwischenfrage vorliegt. (Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke
Bitte sehr, Frau Abgeordnete. Liste])
1786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Erwin Marschewski
— Nein, den Verbrecherstaat haben wir überführt. sind sehr nachdenkliche Worte. Ich glaube, unsere
— Wir haben sie in einen Staat überführt, in dem die Antwort hierauf ist eindeutig. Nur, unsere Forderung,
Menschenwürde endlich wieder gilt. die Forderung des Parlaments, muß sehr bald, muß
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das unverzüglich gestellt werden.
Dritte Reich war der größte Verbrecherstaat!
Informieren Sie sich mal, welche Rolle da Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich muß
Globke gespielt hat!) Sie jetzt noch einmal unterbrechen, weil Frau Wollen-
berger noch eine Zwischenfrage zu stellen wünscht.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau von
Renesse möchte eine Zwischenfrage stellen. Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ich bin fast am
Ende. — Wir stimmen der Überweisung zu.
Erwin Marschewski (CDU/CSU): Bitte schön.
Aber ich bin gern bereit, noch auf das zu antworten,
was Sie fragen.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bevor ich
die Frage von Frau von Renesse zulasse, mache ich auf
folgende Gefechtslage aufmerksam: Unsere Debat- Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Ab-
tenzeit wird bis zwischen 1 und 2 Uhr heute nacht geordneter, Sie haben vorhin von der Umwandlung
gehen. Ich bemühe mich — wie auch die Kollegin der ehemaligen DDR in einen Rechtsstaat gespro-
Vorgängerin —, einen Teil der Redebeiträge zu Proto- chen. Ist Ihnen bekannt, daß ehemalige Stasi-Richter
koll geben zu lassen. Ich wäre dankbar, wenn Sie sich heute als gut bezahlte Anwälte arbeiten, und meinen
auf die wirklich unverzichtbaren Zwischenfragen be- Sie nicht, daß dann das Bild vom Rechtsstaat etwas
schränken würden, weil die Geschichte sonst für das korrigiert werden muß?
arbeitende Personal, aber auch für uns selber unzu- (Zustimmung bei der SPD)
mutbar wird.
Frau von Renesse, wenn Sie jetzt noch - eine unver- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Kollegin,
zichtbare Zwischenfrage stellen wollen und der Abge- wenn es Einzelfälle geben sollte, so sind sie zu lö-
ordnete bereit ist, sie zu beantworten, dann bitte sen.
sehr. (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]:
Da stimme ich Ihnen zu! Ich hoffe, daß das
Margot von Renesse (SPD): Herr Abgeordneter, auch gemacht wird!)
finden Sie es nicht erstaunlich und glauben Sie nicht,
Aber ich halte es für völlig verwerflich, das, was in der
daß es den Menschen in der DDR, für die Sie sich,
DDR geschehen ist — die Menschen, die an der
wenn sie Opfer sind, mit so großem Engagement ein-
Mauer erschossen worden sind, und die Menschen,
setzen, verwunderlich erscheinen muß, daß wir uns in
die gequält worden sind —, mit einem einzigen Fall zu
den Ausschüssen schon mit einem Überleitungsgesetz
vergleichen,
— u. a. auch für die Anpassung der Versorgungen
und Sonderversorgungen für Angehörige von Block- (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]:
parteien, NVA, Volkspolizei, Stasi, Gesellschaft für Es sind mehrere!)
Sport und Technik und dergleichen — beschäftigen, den ich gar nicht kenne und den Sie einfach behaup-
während ein Rehabilitationsgesetz noch nicht in Sicht ten. Ich meine, daß ist ein unzulässiger Vergleich der
ist? geschichtlichen Situation, die wir hier zu lösen ha-
ben.
Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ich glaube, daß Sie können sich darauf verlassen, daß wir bei der
ich zum Rehabilitationsgesetz das Nötige gesagt Rehabilitierung alles tun werden, um den Opfern Ge-
habe. Es wird sicherlich seine Zeit dauern. Das ist nüge zu tun. Ich sage, um die Frage von Herrn Lud
keine Frage. Aber wir, das Parlament, Frau Kollegin, mann zu beantworten — ich will damit schließen — :
werden die Regierung beauftragen, das sehr schnell Diese Menschen dürfen nicht weiter Opfer sein. Wir
zu machen. Ich habe ja den Vergleich mit der Nach- werden in diesem Parlament alles tun, um Recht und
kriegszeit gezogen. Ich halte es für dringend erforder- Gerechtigkeit auch gegenüber diesen Opfern zum
lich — spätes Recht ist halbes Recht — , diese Proble- Siege zu verhelfen.
matik sehr schnell zu lösen, und zwar einfach deswe-
Ich bedanke mich ganz herzlich, daß Sie zugehört
gen, um den Menschen, die unsägliches Leid erlitten
haben, und insbesondere für die vielen, sehr interes-
haben, Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, damit
santen Zwischenfragen.
Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit erwächst.
Aber es gilt, insbesondere auf eines, was ich neulich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gelesen habe, eine Antwort zu finden. Da fragt Olaf
Ludmann, der 22 Monate wegen sogenannter Repu- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat
blikflucht in Haft war: Wofür ist das alles gewesen? das Wort die Abgeordnete Frau Köppe.
Wofür sind die Menschen an der Mauer gestorben,
und wofür wurden Tausende jahrelang eingesperrt? Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident!
Wofür wurden Familien auseinandergerissen, und Meine Damen und Herren! Ich meine, es ist kenn-
wofür wurden eigentlich so viele Menschen betrogen? zeichnend für die vollzogene staatliche Vereinheitli-
— Das schreibt der Mann aus der DDR. Das ist die chung von DDR und Bundesrepublik, daß zwei von
Lebenswirklichkeit dieses Staates gewesen. Er fragt der Volkskammer beschlossene wesentliche Gesetze
weiter: Um jetzt im Taumel der Freude vergessen zu zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, nämlich
werden? — Meine Damen und Herren, ich meine, das das am 24. August 1990 beschlossene Stasi-Aktenge-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1787
Ingrid Köppe
setz und das am 6. September 1990 beschlossene Re- mung von Grundrechten in friedlicher Form gehan-
habilitierungsgesetz, nicht als fortgeltendes Recht in delt haben. Wer sich dem Regime unf riedlich — dazu
den Einigungsvertrag aufgenommen wurden. Verant- gehören auch schon Sitzblockaden — widersetzte und
wortlich dafür, daß dieses Rehabilitierungsgesetz deswegen verurteilt wurde, kann nach dem jetzigen
nicht als fortgeltendes Recht aufgenommen wurde, ist Stand der gesetzlichen Regelungen nicht rehabilitiert
die CDU. werden.
Des weiteren finde ich es erstaunlich, daß die SPD, Auch für die zwischen 1945 und 1949 unrechtmäßig
die diesem Einigungsvertrag in der Volkskammer zu- Internierten und Verurteilten der sowjetischen Mili-
gestimmt hat, jetzt im nachhinein dieses Rehabilitie- tärjustiz muß es Entschädigungen geben. Vor allem
rungsgesetz so sehr hochlobt. Ich denke, es ist zu frü- die Bestimmungen des Gesetzes müssen in Art und
herer Zeit einiges versäumt worden. Wenn ich Sie Verfahren den besonderen Bedingungen der SED-
heute hier so reden höre, erscheint mir das fast als Herrschaft Rechnung tragen und den verfügbaren
Heuchelei. Quellen zum Nachweis von Verfolgungs- und Diskri-
minierungsmaßnahmen angemessen sein.
Sie wissen, daß diese Ignoranz gegenüber den Op-
fern von staatlichen Repressionen in der ehemaligen Speziell bei Anerkennung der Tatsache, daß es sich
DDR bei den Betroffenen Enttäuschung, Verbitterung bei der Staatssicherheit um eine verbrecherische Or-
hervorgerufen hat. Die Vermutung, erneut betrogen ganisation gehandelt hat, der es zudem hinterher ge-
zu werden, führte zu heftigen Protesten. Dem tau- lungen ist, bedeutende Unterlagen zu vernichten, ist
sendfach erlittenen Unrecht wird mit den zögerlichen mit Vermutungsregelungen zugunsten der Betroffe-
Wiedergutmachungsversuchen nur halbherzig be- nen zu arbeiten, wenn anderweitige Nachweise nicht
gegnet. Obwohl die persönlichen und beruflichen beigebracht werden können. Hierbei sind die Krite-
Perspektiven vieler Menschen davon abhängen, kom- rien der Glaubhaftmachung und der Glaubwürdigkeit
men die Rehabilitierung und Entschädigung von Op- zugrunde zu legen.
fern nur allzu zäh in Gang. Von einer gebotenen um- Das Hauptproblem: Der Justizminister kann bisher
fassenden Genugtuung für die Opfer kann - bisher nur juristische Erwägungen anstellen, die nichts ko-
nicht die Rede sein. sten. Die eigentliche Entscheidung liegt also beim Fi-
nanzminister. Die Auffassung, die strafrechtliche Re-
Der Deutsche Bundestag muß diesem Anliegen eine habilitierung einschließlich der Folgekosten obliege
hohe Priorität beimessen. In dem zu erarbeitenden den neuen Bundesländern, wird der Sache nicht ge-
Gesetz müssen die Intentionen des Rehabilitierungs- recht; denn wir wissen, die neuen Länder können das
gesetzes der DDR vom 6. September 1990 aufgegrif- nicht bezahlen. Die Vermutung der Opfer, der Bund
fen und materiell umgesetzt werden. wolle diese Kosten nicht übernehmen, wird mit der
Das bedeutet: Rehabilierungsregelungen dürfen ausbleibenden klaren Stellungnahme zu diesem
nicht auf strafrechtliche Rehabilitierungen und Fälle Thema immer mehr verstärkt.
der Zwangspsychiatrisierung und Zwangsaussiedlun- Es ist verständlich, daß die Bundesregierung bei der
gen aus den Grenzgebieten beschränkt bleiben. Scha- Erarbeitung eines Rehabilitierungsgesetzes Schwie-
denstatbestände wie Schaden an Körper, Leben, Ge- rigkeiten hat, vor allem deshalb, weil Westpolitikern
sundheit, aber auch Schaden durch Behinderung im offensichtlich die Detailkenntnis von staatlichen Un-
Bildungsweg und im beruflichen Fortkommen müs- rechtshandlungen in der ehemaligen DDR fehlt.
sen berücksichtigt werden. Und: Es muß eine Haftent-
Wir raten deshalb der Regierung: Beteiligen Sie an
schädigung geben, die ihren Namen auch wirklich
der Ausarbeitung des Gesetzes die Betroffenen! Set-
verdient.
zen Sie sich mit dem Bund der Stalinistisch Verfolg-
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!) ten an einen Tisch! Er vertritt als stärkste Interessen-
vertretung in den neuen Bundesländern die in der
Die zahlreichen Fälle von beruflicher Benachteili-
DDR politisch Verfolgten und hat bereits sachkundige
gung, Verweigerung von Ausbildung, Entlassung aus
Vorschläge für eine gesetzliche Regelung erarbeitet.
dem Beruf und Exmatrikulation vom Studium müssen
rehabilitiert werden. Der beharrlich vorgetragene Ausspruch des Justiz-
ministers, es dürfen keine unerfüllbaren Hoffnungen
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!) geweckt werden, ist eine erneute Demütigung für die
Diejenigen, denen staatliche Ausbildung verwehrt Opfer. Sie hoffen darauf, daß ihnen endlich Recht
wurde, und die infolgedessen kirchliche Einrichtun- widerfährt. Sie werden so lange zweifelnd und fremd
gen besuchten, haben ein Recht darauf, daß ihr beruf- diesem Rechtstaat gegenüberstehen, wie ihnen das
licher Abschluß anerkannt wird. Recht auf Rehabilitierung verwehrt wird.
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: So ist (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der
es!) SPD und der PDS/Linke Liste)
Vera Wollenberger
Seinerzeit ist in der Volkskammer eine Initiative Natürlich ist, wie meine Fraktionskollegin Frau Schrö-
von Abgeordneten gescheitert, diese Menschen zu ter bereits ausführte die Situation seit dem 3. Oktober
amnestieren. Statt dessen wurde beschlossen, daß 1990 hier nicht bef riedigend. Das Rehabilitierungsge-
man Einzelfallprüfungen durchführt. Seitdem ist über setz der Volkskammer wurde durch die Vereinba-
ein Dreivierteljahr vergangen, und ich habe von kei- rung zum Einigungsvertrag um ca. zwei Drittel ge-
nem einzigen Fall gehört, daß eine solche Überprü- kürzt. Die Rehabilitierung beruflicher Unrechtsmaß-
fung abgeschlossen worden wäre. nahmen fiel ersatzlos weg. Aus dem großen Bereich
der verwaltungsrechtlichen Repressionen gilt nur
(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Doch!)
noch die widerrechtliche zwangsweise Einweisung in
Vielleicht kann der Herr Justizminister, da er eben eine psychiatrische Anstalt als rehabilitierungswür-
versprochen hat, alles zu tun, um den Betroffenen zu dig. Auch bei der strafrechtlichen Rehabilitierung sind
helfen, in diesem Fall energische Schritte einleiten, große Unrechtsbereiche, beispielsweise die Ver-
damit diese Menschen nicht länger ungerechterweise schleppung und Ermordung politischer Gegner zwi-
in den Gefängnissen zubringen müssen. schen 1945 und 1949, einfach unter den Tisch gefal-
Herr Justizminister Kinkel, Sie haben hier vor über- len.
zogenen finanziellen Forderungen gewarnt. Aber ich
denke, es ist keine überzogene finanzielle Forderung, Ich möchte mich in meinen nun folgenden Ausfüh-
wenn man z. B. wie in meinem Fall erwartet, daß, rungen vorwiegend dem Bereich der strafrechtlichen
wenn das Ge ri cht festlegt, daß der Staatshaushalt die Rehabilitierung zuwenden: Die im Zusammenhang
Kosten des Rehabilitierungsverfahrens trägt, das auch mit der strafrechtlichen Rehabilitierung zur Zeit gel-
geschieht und sie nicht aus eigener Tasche bezahlt tenden rechtlichen Regelungen sind, wie auch der
werden müssen. Bundesjustizminister in seinen jetzigen Ausführun-
Ich habe heute schon darauf hingewiesen, daß auf gen richtigerweise darstellte, zum Teil unklar und wi-
Beschluß der alten Bundesregierung dem Honecker dersprüchlich. Die Grenzen des politischen Straf-
Regime Milliarden-Kredite zur Verfügung - gestellt rechts in der ehemaligen DDR sind durch die jetzigen
wurden. Ich finde, es wäre ein guter Beitrag zur mora- Rehabilitierungsregelungen nicht exakt erfaßt. Ein
lisch-politischen Hygiene, wenn ein ähnlich hoher Be- Bürger der DDR, der beispielsweise Anfang der 50er
trag zur Verfügung gestellt würde, um die Opfer des Jahre Kontakt zum Ostbüro der SPD aufgenommen
Honecker-Regimes zu entschädigen. Ich glaube, dann hatte, wurde von der Justiz der DDR wegen Spiona-
könnten die realistischen und auch berechtigten Er- getätigkeit zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Die-
wartungen der Opfer auch erfüllt werden. sem Bürger bleibt nach den jetzigen Rehabilitierungs-
regelungen eine Rehabilitierung versagt, weil Spio-
Vielen Dank. nage als Straftatbestand nicht als rehabilitierungs-
würdig gilt. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Hier
wäre nur Kassation möglich, was wegen der geringe-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ren gesellschaftlichen Wertigkeit für diesen Bürger als
hat nun der Abgeordnete Schwanitz. nicht akzeptabel betrachtet werden muß.
Roll Schwanitz
Völlig unakzeptabel ist freilich auch die Höhe der Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt
Entschädigung nach dem Häftlingshilfegesetz. unser Kollege Hartmut Büttner.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Herr
Eine finanzielle Leistung von 1 bis 2 DM pro Hafttag Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
kann von den Betroffenen nur als Verhöhnung ihres Die Bewältigung der DDR-Hinterlassenschaft ist in
Schicksals aufgefaßt werden. der Tat, Herr Schwanitz — ich bin für Ihre Rede sehr
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dankbar —, eine nationale Aufgabe, der wir uns alle
der CDU/CSU) zu stellen haben. Ich begrüße ausdrücklich die Gele-
genheit, den Opfern des SED-Unrechtsregimes sagen
Dies hat erfreulicherweise auch der Bundesjustizmini- zu können: Der Deutsche Bundestag hat Sie nicht ver-
ster in seiner Presseerklärung am 10. Mai so gesehen. gessen.
Hier müssen Leistungen gewährt werden, die sich an Die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts ist
den tatsächlichen Lebensbedingungen unserer Tage besonders wichtig, um die Glaubwürdigkeit des
orientieren, beispielsweise Tagessätze von 20 DM pro
Rechtsstaats in die Bundesrepublik Deutschland für
Hafttag, welche in besonderen Härtefällen auch an- die Menschen in den neuen Ländern erlebbar zu ma-
gehoben werden können.
chen. Rehabilitierung und Aufarbeitung der Folgen
(Beifall bei der SPD) von 40 Jahren sozialistischer Diktatur stärken auch
den inneren Frieden in unserem Land.
Nur so kann die Rehabilitierung näherungsweise ei-
nen Wiedergutmachungscharakter erhalten. Es ist auf die Grundlagen verwiesen worden, auf
den Volkskammer-Beschluß vom 6. September, auf
Abschließend möchte ich noch auf ein besonders den Art. 17 des Einigungsvertrags, aber auch auf die
trauriges Kapitel im Bereich der strafrechtlichen Re- Forderungen des Ausschusses Deutsche Einheit und,
habilitierung zu sprechen kommen. Gemeint das Un- ich will hinzufügen, auch auf die Koalitionsvereinba-
recht, welches zwischen 1945 und 1949 in der dama- rungen zwischen CDU/CSU und FDP, wo wir eindeu-
ligen SBZ durch die Sowjets begangen worden ist. tig gesagt haben, daß der Gesamtkomplex der Reha-
Dies war das wohl dunkelste Kapitel der politischen bilitierung zu überprüfen und neu zu regeln sei.
Verfolgung im Osten Deutschlands seit 1945. Hier
wurden die längsten Haftstrafen ausgesprochen, so- Zahlreiche Vorredner haben auf die Spannweite
fern überhaupt ein Gerichtsverfahren durchgeführt des den Menschen in der ehemaligen DDR zugefüg-
worden ist. Verurteilungen von 20 bis 25 Jahren ten Unrechts verwiesen.
Zwangsarbeit scheinen zeitweilig normales Strafmaß Ich will hier einige Beispiele anfügen. Angeführt
gewesen zu sein. Dies war auch die Zeit der vermehr- worden ist die Zeit nach dem Krieg, als Menschen
ten Todesurteile und der Vernichtung der Menschen deportiert, interniert und durch die sowjetischen Mili-
in den Internierungslagern und Haftanstalten. Allein tärtribunale verurteilt worden sind. Wir sollten aber
in der Haftanstalt Bautzen rechnet man mit ca. 16 000 auch daran erinnern, daß in dieser Zeit ehemalige
Toten, zum Großteil in der Zeit zwischen 1945 und Nazi-KZs wie Buchenwald umfunktioniert und einem
1949. Es kann nicht akzeptiert werden, daß diese Un- neuen Zweck zugeführt worden sind. Ich erinnere an
taten weiterhin aus dem Geltungsbereich des Rehabi- das Massengrab von Oranienburg, das eine beredte
litierungsgesetzes herausfallen. Sprache über die Untaten dieser Zeit spricht.
Es geht hier nicht darum, daß die Sowjetunion als Wir müssen auch daran erinnern, daß nach 1949 das
eigentlicher Verursacher dieses Unrechts heute völ- Strafrecht zum Kampfinstrument zur Aufrechterhal-
kerrechtlich dafür geradestehen will, wie dies der Par- tung der SED-Herrschaft verkommen ist. Bewußt sind
lamentarische Staatssekretär des BMJ, Herr Göhner, unbeugsame Bürger zu Verbrechern gestempelt wor-
und auch der Minister selbst heute wieder als Haupt- den. Die Grenzlinien zwischen politisch Inhaftierten
hinderungsgrund ausgeführt haben. Es geht hier nicht und kriminellen Straftätern wurden verwischt. Die
um einen Anspruch, den die Betroffenen gegenüber Kriminalisierung der politischen Opfer war Me-
der Sowjetunion besitzen oder wahrnehmen wollen, thode, da es offiziell keine politischen Gefangenen in
sondern es geht darum, daß diesen Unrechtsmaßnah- der DDR zu geben hatte.
men bei dem innerstaatlichen Recht die gleiche Auf- Das Leid der Betroffenen übersteigt heute noch das
merksamkeit entgegengebracht wird wie dem, was Vorstellungsvermögen des unbefangenen Beobach-
sich nach 1949 in der DDR abgespielt hat. ters. Hier ist erwähnt worden, wie menschenunwür-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) dig die Haftbedingungen waren. Hier ist noch nicht
erwähnt worden, daß es Wegnahme und Zwangs-
Die Aufnahme dieser Inhaftierungen, Verschleppun- adoptierung von Kindern gab, daß Familien zerrissen
gen und Tötungen zwischen 1945 und 1949 in die worden sind. Hier müssen die zahlreichen Todesfälle
Rehabilitierung ist für uns unverzichtbarer Bestand- auch in der Haft in den letzten Jahren erwähnt wer-
teil eines künftigen, möglichst schnell zu beschließen- den. Das Beispiel Bautzen ist hier genannt worden.
den Rehabilitierungsgesetzes. Dieses für die Betroffe-
Ich denke auch an die zahlreichen Schikanen und
nen so wichtige Signal zu setzen, meine Damen und
Willkürakte. 150 000 bis 200 000 Menschen gingen
Herren, hätten Sie durch den vorliegenden SPD-An-
durch die Kerker der SBZ und der DDR — 150 000 bis
trag nun die Möglichkeit.
200 000 Menschen — , allein aus politischen Gründen.
Danke schön. Ich denke, Bautzen, Cottbus und Hoheneck sind Sym-
(Beifall bei der SPD) bole dieses Staatsterrors.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1793
Die Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts ist Meine Damen und Herren, weder menschlich noch
vor allen Dingen allerdings auch eine moralische Auf- politisch ist zwischen den Opfern deutscher Diktatu-
gabe. Neben der materiellen Seite muß es ebenfalls ren ein Unterschied zu machen. Ich möchte deshalb
den Vorschlag einfügen, daß eine Orientierung an
die menschliche Qualität der Rehabilitierung geben.
Die Opfer der Diktatur dürfen nicht den Eindruck den Entschädigungszahlen für Nazi-Opfer unter Be-
gewinnen, als würde die Fürsorge für diejenigen, die rücksichtigung der heutigen Verhältnisse ein geeig-
in der untergegangenen DDR Unrecht zu verantwor- neter Maßstab wäre.
ten haben, mehr Aufmerksamkeit als die teilweise (Beifall bei der CDU/CSU)
vergessenen Opfer erregen.
Eine Sonderregelung jenseits des Häftlingsgesetzes
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist auch deshalb geboten, weil auch eine Vereinfa-
chung des Verfahrenswegs angesichts der Fülle der
Meine Damen und Herren, der Bundesjustizmini- Ansprüche unausweichlich ist. Eine Gerichtsentschei-
ster sprach von 50 000 zur Zeit vorliegenden Rehabi- dung über eine anerkannte Wiedergutmachungsmaß-
litierungsanträgen. Zu erwarten sind 100 000 als vor- nahme muß auch für die Vollzugsbehörden bindend
sichtige Schätzung. Allein diese Zahlen zeigen die sein. Auf zusätzliche, langwierige Anerkennungsver-
Dimension der Aufgabe. Deshalb dürfen wir nicht den fahren sollte verzichtet werden.
Eindruck erwecken, als könnten wir jegliches erlitte-
nes Unrecht, Frau Köppe, sofort materiell und Meine Damen und Herren, ein Punkt, der mir be-
menschlich lösen. Diese 45 Jahre lassen sich, denke sonders am Herzen liegt, müßte allerdings hier auch
ich, nicht in wenigen Monaten aufarbeiten. Deshalb Erwähnung finden. Ich denke, daß auch der Bereich
sollten wir bei der Bewältigung des Gesamtproblems der Widerständler des Volksaufstandes vom 17. Juni
Schwerpunkte setzen, wir auch bewußt als Parla- 1953 durch Erweiterung des Tatbestandes der Reha-
ment. bilitierung Aufnahme in das Gesetz finden sollte.
Diese Widerständler sind durch die bisherigen Rege-
Ich meine, daß hier zunächst einmal an erster Stelle lungen ebenfalls nicht erfaßt worden.
die Rehabilitierung der Haftopfer von Bautzen und
Hohenegg und der anderen Gefängnisse beginnen Besondere Schwierigkeiten — das wurde angespro-
muß. Den Betroffenen der gleichgeschalteten Justiz chen — werden wir bei der Bewältigung der unter-
muß unsere erste Fürsorge gelten. Das gilt ebenfalls schiedlichen Einzelaspekte der beruflichen Rehabili-
für die Menschen aus den Grenzgebieten, die tierung bekommen. Hier wird es auch sehr, sehr
zwangsausgesiedelt worden sind. Ich meine aller- schwer sein, die Zahlen zusammenzubekommen.
dings auch — das ist hier ebenfalls von Frau Schröter Deshalb wird dieser Bereich sicherlich erst nach sorg-
schon einmal angesprochen worden —, das muß vor fältiger Aufarbeitung aller verfügbaren Quellen zu
allem für ältere Menschen gelten. Die Opfer der Zeit lösen sein.
1794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hans-Joachim Hacker
der nach dem Einigungsvertrag übriggebliebene schen im Machtbereich der SED schikaniert, diszipli-
Torso. niert und zwangsweise den Weisungen der Parteifüh-
rungen untergeordnet wurden.
Die nun anstehende Reparaturgesetzgebung muß
sich von dem Grundsatz leiten lassen, wie er in der Dazu gehören auch die vielen Tausenden von Men-
Präambel des Gesetzes vom 6. September 1990 for- schen, die in inhumaner Weise aus dem grenznahen
muliert wurde, daß die Rehabilitierung von Personen, Raum zwangsevakuiert wurden. Ich denke an dieser
die im Widerspruch zu verfassungsmäßig garantierten Stelle insbesondere an diejenigen, die von den un-
Grund- und Menschenrechten strafrechtlich verfolgt, menschlichen Maßnahmen des Grenzregimes der da-
diskriminiert oder in anderer Weise in ihren Rechten maligen DDR betroffen wurden. Wir in diesem Hause
schwerwiegend beeinträchtigt wurden, ein wesentli- müssen uns dessen in besonderer Weise bewußt sein,
ches Element der Politik zur demokratischen Erneue- wenn wir daran denken, welche Gedenksteine in we-
rung der Gesellschaft, des Staates und des Rechts in nigen 100 m Entfernung stehen.
den neuen Bundesländern ist.
Im Zusammenhang mit der Zwangsevakuierung
In diesem Sinne ist auch die Anfrage der Fraktion aus dem ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiet ist
der SPD zur Rehabilitierung der Opfer des SED-Un- ein Problem aufgetreten, auf das ich an dieser Stelle
rechts vom Februar dieses Jahres zu sehen, mit der wir ausdrücklich aufmerksam machen möchte, das wir
die Bundesregierung zum wiederholten Male zu einer allerdings auch bei der Änderung des Vermögensge-
gründlichen Bestandsaufnahme als Grundlage für die setzes durch das Gesetz vom 22. März 1991 zur Besei-
dringende und umfassende Novellierung des Rehabi- tigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von
litierungsgesetzes veranlassen wollten. Wir Sozialde- Unternehmen und zur Förderung von Investitionen
mokraten waren mit der schleppenden Behandlung nicht genügend berücksichtigt haben. Ich meine, das
dieser wichtigen Aufgabe durch die Bundesregierung Vermögensgesetz stellt in § 1 Abs. 1 a auf die entschä-
nicht einverstanden, die sich den Vorwurf gefallen digungslose Enteignung und Überführung in Volksei-
lassen muß, die Regelung der Eigentumsfragen, die gentum ab. Damit werden die rechtsstaatswidrigen
Entschädigung für Enteignungen, viel intensiver und Vertreibungsmaßnahmen von Bürgern aus dem Ge-
zügiger betrieben zu haben als die Ausarbeitung von biet an der sogenannten Staatsgrenze-West der ehe-
Regelungen auf dem Gebiet der Rehabilitierung und maligen DDR nicht mit erfaßt, da hier in der Regel
der wenigstens teilweisen Wiedergutmachung des Entschädigungen gezahlt worden sind. Den Betroffe-
den Opfern des Stalinismus und SED-Unrechts zuge- nen geht es aber um die Wiedereinsetzung in ihre
fügten menschlichen Leides. alten Eigentümerrechte als Voraussetzung für die
Die erschütternden Schicksale der Opfer wurden Rückkehr in die alte Heimat. Es ist unhaltbar, wenn
auf Foren deutlich. Ich kann Ihnen sagen: In meinem die zwangsweise Ausgesiedelten jetzt die Prozedur
eigenen Wahlkreis wird mir in Beratungen mit Betrof- über sich ergehen lassen müssen, daß sie als Bittsteller
fenen jedesmal deutlich, welches Unrecht dort ge- erst zum Vermögensamt, dann zum Landrat und dann
schehen ist. zur Landesregierung gehen in dem Bestreben, eine
Lösung ihres Problems herbeizuführen. Sie erfahren
Wir Sozialdemokraten begrüßen, daß sich nunmehr zwar überall viel Verständnis, aber praktische Hilfe ist
auch der Bundesjustizminister zur Notwendigkeit ei- nicht möglich.
ner umfassenden und beschleunigten Regelung der
offenen Rehabilitierungsfragen bekannt hat, Eine umfassende Rehabilitierung muß auch berück-
sichtigen, daß im Sinne der dargestellten Ziele der
(Zustimmung bei der SPD) SED-Politik ebenso Maßnahmen beruflicher Benach-
so daß der Ihnen vorliegende Entschließungsantrag teiligung wie Berufsverbote, Entlassungen und Aus-
der Fraktion der SPD Aussicht hat, von der Mehrheit schluß von Beförderungen sowie behördliche Un-
dieses Hauses akzeptiert zu werden. rechtsakte wie die Aberkennung von Qualifikationen
und die Verweigerung und der Entzug staatlicher Er-
(Zustimmung bei der SPD) laubnisse von den Organen des Staates durchgeführt
Dieser Antrag sollte als Ausgangsposition und ge- wurden. Dies ist sicher nicht der einfachste Rege-
meinsame Grundlage für die anstehende Reparatur- lungsbereich, da Hunderttausende beruflich benach-
gesetzgebung Ihre Zustimmung finden. Mit einem teiligt wurden und der Gesetzgeber die Relation die-
klaren Votum würden wir ein nachhaltiges Signal set- ses Regelungsbereichs zu anderen Bereichen unbe-
zen, auf das die Betreffenden seit dem 3. Oktober war- dingt beachten muß. Ich befinde mich in Übereinstim-
ten. mung mit dem Bundesjustizminister, wenn ich sage:
Hier kommt es auf eine Gewichtung an. Wir müssen
Ich möchte nun auf einige Schwerpunkte der No- die grassierenden Auswüchse, die vor allen Dingen im
vellierung des Rehabilitierungsgesetzes eingehen. Bereich des politischen Strafrechts vorgekommen
Darauf haben meine Vorredner zwar schon hingewie- sind, natürlich anders bewerten als Einschränkungen
sen, aber ich denke, es sind doch noch einmal einige im Bereich der beruflichen Tätigkeit.
Akzente in besonderer Form zu setzen. Mit der Repa-
raturgesetzgebung ist sicherzustellen, daß neben der Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ab-
strafrechtlichen Rehabilitierung auch die verwal- schließend noch kurz auf das Problem der Kosten der
tungsrechtliche und die berufliche Rehabilitierung Rehabilitierung eingehen. Es kann nicht akzeptiert
der Opfer des SED-Unrechts ermöglicht wird, denn werden, wenn die Bezahlbarkeit der Wiedergutma-
die Kriminalisierung Andersdenkender mit den Mit- chungsleistungen in den Vordergrund der Überlegun-
teln des politischen Strafrechts war nur eine Erschei- gen gestellt wird. Es ist den zumeist im fortgeschritte-
nungsform der Willkürakte, mit deren Hilfe die Men- nen Lebensalter befindlichen, an den Folgen der Un-
1798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hans-Joachim Hacker
rechtsmaßnahmen noch heute leidenden Menschen, Interfraktionell wird Überweisung der soeben be-
die zum Teil in kümmerlichen Verhältnissen leben, handelten Vorlage auf Drucksache 12/570 an die in
nicht zuzumuten, noch mehr Geduld aufzubringen, der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
als sie bis jetzt schon aufgebracht haben. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe
und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überwei-
(Zustimmung bei der SPD)
sung so beschlossen.
Insofern ist es für mich persönlich enttäuschend, wenn
Sie, Herr Bundesminister, offensichtlich auch unter
Hinweis auf bestimmte Verweise des Finanzministers Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 9 auf:
diese Geduld weiter einfordern. Zu den besonderen
Problemen der beruflichen Rehabilitierung und der Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
entsprechenden Vorbereitung hatte ich mich, denke Aktionsprogramm zur Sicherung der berufli-
ich, deutlich geäußert. Ich sehe auch hier einen Be- chen Bildung in den neuen Ländern
reich für eine gründliche Prüfung.
Ganz eindeutig stellen wir Sozialdemokraten fest, — Drucksache 12/416 —
daß die Kosten für die Rehabilitierung der Bund tra- Überweisungsvorschlag:
gen muß und daß sie nicht auf die Länder abgescho- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend)
ben werden können, auch wenn diese nach der Ver- Ausschuß für Wirtschaft
fassung dafür zuständig sind. Insbesondere die neuen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
Bundesländer haben für diesen Bereich nicht das nö- Haushaltsausschuß
tige Geld, um die Kosten zu tragen.
In diesem Zusammenhang erinnere ich erneut an Es haben inzwischen alle für diesen Tagesord-
die Möglichkeit der Inanspruchnahme der wider- nungspunkt vorgesehenen Redner ihre Rede zu Pro-
tokoll gegeben. )
rechtlich erworbenen Vermögenswerte der SED und
der anderen Blockparteien für die Zwecke der Reha- (Beifall)
bilitierung. Ich hoffe, daß alle damit einverstanden sind, daß wir
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr so verfahren. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann
wahr!) ist das so beschlossen.
Hierbei geht es nicht um Enteignung, sondern um In diesem Fall wird interfraktionell die Überwei-
eine Vermögenszuführung an den rechtmäßigen Ei- sung der Vorlage auf Drucksache 12/416 an die in der
gentümer, der dann über das Vermögen befinden Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
kann. Ich freue mich, daß sich auch Herr Kollege Pro- gen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und
fessor Heuer heute dazu in verbindlicher Form geäu- höre keinen Widerspruch. Dann ist auch diese Über-
ßert hat. Aber bis heute ist der von der Volkskammer weisung so beschlossen.
der damaligen DDR erteilte Auftrag an die ehemalige
Regierung, die am 3. Oktober die Verantwortung auf
die neue Regierung Gesamtdeutschlands übertragen Ich rufe nunmehr Zusatztagesordnungspunkt 3
hat, nicht abgearbeitet worden. Es ist für uns nicht zu auf:
erkennen, was sich auf dem Gebiet der Klärung der
Parteienvermögensfrage tut. Jedenfalls ist bis jetzt Erste Beratung des von der Abgeordneten Dr.
nichts Erkennbares geschehen. Ich frage die Bundes- Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke
regierung, welche Aktivitäten insbesondere durch die Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Treuhandanstalt inzwischen eingeleitet wurden und zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
zu welchen Ergebnissen sie geführt haben. — Drucksache 12/483 —
Nach wie vor können noch von den Altparteien ein- Überweisungsvorschlag:
gesetzte Gesellschafter aus den ihnen eingeräumten Ausschuß für Familie und Senioren (federführend)
Vorzugsbedingungen Gewinne realisieren und alte Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Seilschaften ein gutes Leben führen, während die Ar- Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
beitnehmer in den neuen Bundesländern die Folgen
Auch hier haben alle Redner, die sich zu diesem
der Mißwirtschaft in der DDR zu tragen haben und die
Opfer des SED-Unrechts bisher leer ausgingen. Hier Tagesordnungspunkt gemeldet haben, ihre Rede zu
Protokoll gegeben. *)
ist eine Deckungsquelle für die Kosten der Rehabili-
tierung, auf die ich die Bundesregierung nachdrück- (Beifall)
lich hinweisen will. Ich hoffe, daß auch hier kein Widerspruch erfolgt. —
Ich danke Ihnen. Dann ist das so beschlossen.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Wir werden diesen Antrag auf Drucksache 12/483,
GRÜNE) wie interfraktionell vorgesehen, an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse überweisen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und
Herren, ich schließe die Aussprache. Weitere Wort- *) Die Reden werden in einem Nachtrag zu diesem Plenarpro-
meldungen liegen nicht vor. tokoll veröffentlicht.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1799
Vizepräsident Helmuth Becker
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 Das in seiner Art einmalige, europäisch orientierte
auf: und überaus niveauvolle Kulturprogramm des
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ange- Deutschlandsenders wäre für die westdeutsche Hör-
lika Barbe, Holger Bartsch, Ing rid Becker funklandschaft eine Bereicherung. Künftig sollten
Inglau und weiterer Abgeordneter aus allen auch die Programme der beiden entstehenden ost-
Fraktionen und Gruppen deutschen Rundfunkanstalten überall in Deutschland
zu hören sein.
Einspeisung der DFF-Länderkette in das Fern-
sehkabelnetz des Deutschen Bundestages Zudem ermöglicht die Realisierung unseres Antra-
ges einen Einblick in den vielschichtigen Versuch der
— Drucksache 12/481 — ehemals staatstragenden Massenmedien, die Demo-
Überweisungsvorschlag: kratisierung unseres Landes weiterzuführen, Vergan-
Ältestenrat (federführend) genheitsbewältigung zu leisten und zugleich der Ver-
Haushaltsausschuß
antwortung für den Wiederaufbau der Gesellschaft
Zum Tagesordnungspunkt 10 gibt es zwei Wortmel- gerecht zu werden. Diese schwere Arbeit muß in den
dungen. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Medien wie überall im Land getan werden. Sie bleibt,
Weiß. Bitte sehr. wie so vieles in dieser Zeit, nicht ohne Rückschläge
und Niederlagen.
Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Gerade deswegen sollten wir Abgeordneten alle
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fühle mich ehrlichen Bemühungen im Deutschen Fernsehfunk,
an die Zeiten in der Volkskammer erinnert, als wir im Funkhaus Berlin und in den ostdeutschen Landes-
ebenfalls in nächtelangen Debatten diskutiert haben; sendern mit unserer Aufmerksamkeit und Ermuti-
das liegt vielleicht an Berlin. gung begleiten. Schließlich kommt gerade uns die
Aufgabe zu, im so überaus komplizierten Einigungs-
Der vorliegende interfraktionelle Antrag reiht sich prozeß integrativ und verständnisfördernd zu wir-
in eine Kette von Initiativen ein, die eine Neugestal-
- ken.
tung der Medienlandschaft in Deutschland zugunsten
einer stärkeren Beteiligung der ostdeutschen Medien Nicht zuletzt wäre die Einspeisung des DFF ein
zum Ziel haben. Die schwierigen wirtschaftlichen und wichtiges politisches Signal für die Mitarbeiter in den
sozialen Prozesse, die sich gegenwärtig in den östli- ostdeutschen Medien selber. Deren soziale und sozio-
chen Bundesländern vollziehen, bedürfen der ge- kulturelle Situation sowie ihre häufige Nichtakzep-
nauen und sachkundigen Reflexion in den Medien. tanz bei ihren westdeutschen Berufskollegen und bei
Diese Arbeit kann und muß zuerst von denen geleistet den Politikern wirken sich denkbar ungünstig auf ihre
werden, die in der DDR gelebt haben und hier ge- Kreativität und ihren Mut aus, auch unbequeme The-
formt, vielleicht auch verformt worden sind. men kritisch und couragiert zu behandeln. Massen-
entlassungen, ungerechtfertigte Schuldzuweisungen
Die aktive Auseinandersetzung mit dieser Vergan- oder die nicht seltene Bevorzugung gerade der ange-
genheit ermöglicht eine Sichtweise auf den Eini- paßten und dienstfertigen Ehemaligen durch die
gungsprozeß, die so nur von Ostdeutschen in die ge- neuen Auftraggeber bewirken Resignation, Zynismus
samtdeutsche Medienlandschaft eingebracht werden oder — genauso schädlich — vorauseilenden Gehor-
kann. Daher war die starke Resonanz, die die vorlie- sam. Nicht zufällig sind ehemals fanatische Genossen
gende Initiative in allen Fraktionen gefunden hat, be- auch heute wieder unkritische Verfechter der Regie-
sonders erfreulich. Fast 150 Abgeordnete haben sich rungspolitik, nicht nur in den Medien.
dem Antrag angeschlossen, mehr als die Hälfte davon
aus den alten Bundesländern. Einige der Unterzeich- (Zustimmung der Abg. Dr. Herta Däubler
ner und Unterzeichnerinnen baten zusätzlich darum, Gmelin [SPD])
eine Ausweitung des Antrages vorzunehmen und die Zwar hat mir der Haushaltsausschuß bereits vor der
Einspeisung der ostdeutschen Hörfunk- und Fern- Überweisung durch das Plenum mitgeteilt, er habe
sehsender in alle Kabelnetze zu beschließen. Prinzi- nicht die Absicht, einer Einspeisung ins Bonner Kabel-
piell wäre das zwar zu begrüßen, aber wir haben hier- netz zuzustimmen.
bei die alleinige Zuständigkeit der Länder für ihre (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP:
Medienlandschaft zu respektieren und uns auf die Bitte? — Was?)
Empfehlungen für die Ministerpräsidenten zu be-
schränken. Ich denke jedoch, der Deutsche Bundestag ist es sich
schuldig, mit gutem Beispiel voranzugehen und sich
Ziel unseres Antrages ist es, den Abgeordneten des für diese sinnvolle Investition in die deutsche Einheit
ersten gesamtdeutschen Bundestages wenigstens den zu entscheiden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerk-
Zugang zum Programm des Deutschen Fernsehfunks samkeit.
zu ermöglichen und damit auch am vorläufigen Parla- (Beifall im ganzen Hause)
mentssitz in Bonn ein gesamtdeutsches Medienange-
bot zu haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und
FDP) Herren, als nächste Rednerin hat Frau Petra Bläss das
Wort.
Umfassende Information ist die beste Voraussetzung
dafür, die für die neuen Länder notwendigen Ent-
scheidungen verantwortungsbewußt und sensibel zu Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!
treffen. Ich denke, auch die ostdeutschen Sender Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste be-
könnten dazu beitragen. grüßt zunächst das Zustandekommen des von Abge-
1800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Petra Bläss
ordneten aller Fraktionen getragenen Antrags zur nen, die die Befindlichkeiten der Menschen und die
Einspeisung der DFF-Länderkette in das Fernsehka- regionalen Eigenarten genau kennen und die da-
belnetz des Deutschen Bundestages und bekundet durch am besten auf die realen Probleme eingehen
hiermit ihre volle Zustimmung zur vorliegenden Be- können.
gründung.
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das spricht na Vizepräsident Helmuth Becker: Entschuldigen Sie,
türlich gegen den Antrag!) Frau Kollegin Bläss. Gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Lammert?
In der Möglichkeit, die DFF-Länderkette im Bun-
destagskanalnetz empfangen zu können, sehen wir
eine große Chance vor allem für unsere Kolleginnen Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Ja.
und Kollegen aus den alten Bundesländern, eine un-
mittelbare Reflexion der Situation in den neuen Bun- Dr. Norbe rt Lammert (CDU/CSU) : Frau Kollegin,
desländern quasi ins Haus zu bekommen, was selbst- angesichts Ihrer eindrucksvollen, mich fast rühren-
verständlich nicht den Aufenthalt vor Ort ersetzen den
kann. (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Zu Trä
Wie Infas-Umfragen ermittelten, wird der Deutsche nen!)
Fernsehfunk seit Monaten unverändert als Fernseh- Begründung für die Notwendigkeit einer möglichst
sender angesehen, der für die Bewältigung der vielen breiten Wahrnehmung aller vorhandenen Kommuni-
neuen Probleme in den neuen Bundesländern die kationsmöglichkeiten, in diesem Falle also der Ein-
beste Orientierungshilfe leistet. Als Wegbegleiter im speisung des DFF in das Kabelnetz des Deutschen
Einigungsprozeß genießt er bei den Bürgerinnen und Bundestages, könnten Sie vielleicht in Ihren ein-
Bürgern in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sach- drucksvollen Beitrag noch einen Satz der Begründung
sen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Thüringen einflechten, warum Ihre Vorgängerpartei SED nach
breite Akzeptanz und spielt als solcher- im Vergleich meiner Erinnerung zu keinem Zeitpunkt ähnliche An-
mit den anderen zu empfangenden Sendern noch im- strengungen unternommen hat, für die Einwohner der
mer die wichtigste Rolle. ehemaligen DDR eine ähnliche Transparenz und die
Verfügbarkeit westdeutscher Fernsehsender sicher-
Die Auswertung vorliegender Analysen ergab, daß
zustellen?
ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger in den neuen
Bundesländern auf keinen Fall auf den Deutschen
Fernsehfunk verzichten möchte und sich diesen Sen- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Ich darf Sie auch im
der nicht aus der Medienlandschaft wegdenken Anschluß an die Ausführungen meines Kollegen
kann. Heuer darauf aufmerksam machen,
Die DFF-Länderkette wird heute häufiger genutzt (Zuruf von der FDP: Nein, bitte nicht!)
als noch vor einem Jahr. Die Neuverteilung der Fre- daß wir eine — so sage ich einmal — bunte, farbige
quenzen und die damit verbundene Reduzierung des Fraktion sind. Ich selbst bin nicht Mitglied der PDS.
DFF-Angebots auf ein Programm hat das Ansehen Ich bin Mitglied des Unabhängigen Frauenverbandes
dieses Senders bei den Zuschauerinnen und Zuschau- und als unabhängige Kandidatin auf diese Liste ge-
ern nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: Die Einschalt- kommen.
quoten zeigen, daß die Zuschauerinnen und Zu- (Zuruf von der FDP: Das ehrt Sie!)
schauer in den neuen Bundesländern nicht auf be-
Gestatten Sie mir, hier auch zu erläutern, weshalb
liebte Programmelemente, wie „Elf 99", das Donners- meine Rede vielleicht sehr emotional ist. Ich bin nach
tagsgespräch, Polizeiruf 110 oder Unterhaltungssen- wie vor Angehörige des Deutschen Fernsehfunks.
dungen verzichten wollen. Die Mehrheit aller Zu-
schauerinnen und Zuschauer der neuen Bundeslän- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Also, Betrof
der äußerte sich laut Infas positiv darüber, wie es dem fene dürfen hier gar nicht reden!)
Deutschen Fernsehfunk bisher gelungen ist, die Er- Ich habe bis zur Annahme des Mandats im Deutschen
wartungen und Bedürfnisse breiter Zuschauer- und Bundestag als Redakteurin dort gearbeitet, habe in
Zuschauerinnenkreise zu erfüllen. den vergangenen Wochen noch einmal Gespräche mit
dem Personalrat, mit dem Intendanten und mit dem
Zweifellos mußte der Deutsche Fernsehfunk als aus
Personalchef geführt, habe daher die neuesten Zahlen
dem ehemals staatlichen Fernsehen der DDR hervor-
und bin deshalb natürlich auch beteiligt; das gebe ich
gegangener Sender zunächst um Akzeptanz und
zu.
Glaubwürdigkeit ringen. Doch mittlerweile ist die
Kompetenz der ostdeutschen Programmacherinnen (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Danach
und Programmacher für ihr Sendegebiet, ihre diffe- hatte ich zwar nicht gefragt, aber es war
renzierte Sicht der Lage in den neuen Bundesländern trotzdem eindrucksvoll!)
unumstritten. Mit dem Deutschen Fernsehfunk wird ganz bewußt
ein Programm für die Bürgerinnen und Bürger in den
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Muß die denn neuen Bundesländern gemacht. Davon, daß sich die
unbedingt reden? Das spricht doch gegen Kolleginnen und Kollegen in Adlershof und in den
den Antrag!) einzelnen Landessendern mit nachweisbarem Erfolg
Hier arbeiten Journalistinnen und Journalisten, die in darum bemühen, zeugt nicht zuletzt die hohe Zuwen-
ihren Sendungen über die neuen Bundesländer aus dung der Zuschauer und Zuschauerinnen zu Nach-
ihrem unmittelbaren Erlebnisbereich schöpfen kön richten-, Magazin- und Ratgebersendungen. Lassen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1801
Petra Bläss
Sie mich im übrigen anmerken, daß die Sendungen von Vorruhestands- bzw. Altersübergangs-
des DFF auch in den alten Bundesländern, sofern ein geld in den neuen Bundesländern
Empfang möglich ist, also in den ehemaligen Zonen-
randgebieten, Zuspruch finden. — Drucksache 12/484 —
Überweisungsvorschlag:
Meine Damen und Herren, laut Einigungsvertrag
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
wird der ehemals zentrale Rundfunk der DDR zum Ausschuß für Wirtschaft
Jahresende 1991 in Länderhoheit übergeführt. Ge-
genwärtig erhalten die ostdeutschen Fernsehhaus- Zu diesem Tagesordnungspunkt haben die Redner
halte statt früher zwei nur noch ein Fernsehprogramm ihre vorbereiteten Reden zu Protokoll gegeben. * )
aus ihrer regionalen Produktion: die DFF-Länder-
(Beifall)
kette, die allen Grundsätzen öffentlich-rechtlicher
Programme entspricht. Doch die Grundversorgung ist Wenn kein Widerspruch erfolgt, dann ist dies so be-
angesichts des ständig vorgegebenen Personalabbaus schlossen. — Ich sehe und höre keinen Wider-
sowie der mangelnden Bereitschaft der Parlamente spruch.
und Regierungen in den neuen Bundesländern,
schnelle Beschlüsse zur Neuordnung des Rundfunks Damit können wir diesen Antrag auf der Drucksa-
che 12/484, wie interfraktionell vorgeschlagen, an die
zu fassen, in Gefahr. Solange keine Landesmedienge-
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
setze verabschiedet werden, wird der Aufbau der Lan-
weisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und
desrundfunkanstalten weiter verzögert. Die herr-
schende Unklarheit über die Überführung von Pro- höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
grammteilen und Personal wirkt sich auf das Zustan-
dekommen funktionierender Landesfunkhäuser
schmerzlich aus. Und wenn in einem leistungsfähigen Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf:
Sendestandort, wie er gegenwärtig noch in Berlin- Erste Beratung des von den Abgeordneten An-
Adlershof besteht, erst alle entlassen sind, kann
- auch neliese Augustin, Richard Bayha, Meinrad
nichts mehr produziert werden. Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
Die Versorgungspflicht des Deutschen Fernseh der CDU/CSU sowie den Abgeordneten
Funks gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen in Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Dirk Hansen,
den neuen Bundesländern darf nicht unterschätzt Heinz-Dieter Hackel, weiteren Abgeordneten
werden. Die Bundesrepublik braucht einen Kanal, in und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent-
dem die Probleme in den neuen Bundesländern hart wurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Ände-
und offen, sozusagen aus erster Hand angesprochen rung des Bundesausbildungsförderungsgeset-
werden. zes (14. BAföGÄndG)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit zu dieser — Drucksachen 12/473, 12/497 (Berichti-
späten Stunde. gung) —
(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Überweisungsvorschlag:
Abgeordneten der SPD und des Bündnis Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend)
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ses 90/GRÜNE)
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Berichtigung
D eutscher Bundestag
Nachtrag zum
Stenographischen Bericht
25. Sitzung
Inhalt:
Anlage 1 Anlage 6
Anlage 4
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne-
ten Michael Wonneberger, Dr.-Ing. Paul Krü- Zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatzta-
ger, Rolf Rau, Udo Haschke (Jena), Rainer gesordnungspunkt 3 (Entwurf eines Geset-
Krziskewitz (alle CDU/CSU) zur Abstim- zes zur Änderung des Bundessozialhilfege-
mung über den Entwurf des Haushaltsbe-
setzes)
gleitgesetzes 1991 (Tagesordnungspunkt 3) 1808* A
Angelika Pfeiffer CDU/CSU 1816* A
Anlage 8 Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Bedingungen für die Wiederaufnahme der
nungspunkt 10 (Beratung des Antrags betr. Entwicklungshilfe für Somalia
Einspeisung der DFF-Länderkette in das
MdlAnfr 5, 6 — Drs 12/488
Fernsehkabelnetz des Deutschen Bundesta-
—
Anlage 11 Anlage 17
Schließung von Polikliniken in den neuen Sondergenehmigung für Tiefflugübungen
Bundesländern auf Grund fehlender Mittel; für die schnelle Eingreiftruppe seit dem Golf-
Sicherstellung der ärztlichen Versorgung krieg; Einstellung der Tiefflüge von Bundes-
MdlAnfr 1, 2 — Drs 12/488 —
luftwaffe und verbündeten Streitkräften über
Dr. Christine Lucyga SPD der Bundesrepublik Deutschland
SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 1827* A SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 1829* D
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 III
Anlage 19 Anlage 25
Ergänzung der geplanten Autobahn Bad Laufende Zuwendungen für Asylbewerber;
Hersfeld—Görlitz durch den Ausbau der B 49 Höhe des Taschengeldes für albanische
zwischen Limburg und Wetzlar gegen den Flüchtlinge in Niedersachsen
Willen der hessischen Landesregierung
MdlAnfr 41, 42 — Drs 12/488 —
Anlage 20 Anlage 26
Konsequenzen aus der Anhörung des Um- Tarifliche Regelung für die Arbeitsentgelte
weltausschusses zu den ökologischen Folgen im öffentlichen Dienst in den neuen Bundes-
des Golfkriegs ländern ab 1. Juli 1991
MdlAnfr 24 — Drs 12/488 —
Anlage 21
Anlage 27
Verkürzung der Laufzeiten im Postzeitungs-
dienst Unterstützung des Autorenversorgungs-
werks VG WORT bis zum Inkrafttreten der
MdlAnfr 28 — Drs 12/488 — Künstlersozialversicherung in den neuen
Hans Joachim Otto (Frankfurt) FDP
- Bundesländern; Zahlung der Bibliothekstan-
tieme aus dem Bundeshaushalt oder dem
SchrAntw PStSekr Wilhelm Rawe BMPT 1830* D Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" zur
finanziellen Entlastung der Bibliotheken in
den neuen Bundesländern
Anlage 22
Aufnahme Ungarns und der CSFR in die MdlAnfr 44, 45 — Drs 12/488 —
SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 1831* C SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 1834* D
IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Anlage 30 Anlage 35
Offenlegung der Bilanzen aller Parteien und Neuauflage der Zonenrandförderung für die
Massenorganisationen der ehemaligen DDR betroffenen Gebiete in den neuen Bundes-
zum 7. Oktober 1989; Höhe und Verwen- ländern
dung der den am „Runden Tisch" Beteiligten
zugeflossenen Mittel MdlAnfr 58 — Drs 12/488 —
Anlage 36
Anlage 31 Bekämpfung des Schwarzhandels in den
neuen Bundesländern
Erkenntnisse über das Auslandsvermögen
der SED-PDS, insbesondere aus dem Verant-
MdlAnfr 59 — Drs 12/488
wortungsbereich des früheren Staatssekre-
—
Anlage 2
Endgültiges Ergebnis und Namensliste der namentlichen Abstimmung
über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/579 *)
ja: 202
nein: 355
enthalten: 4
Anlage 3
Endgültiges Ergebnis und Namensliste der namentlichen Abstimmung
über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/580 *)
Abgegebene Stimmen 561; davon
ja: 202
nein: 357
enthalten: 2
Berlin, den 14. Mai 1991 — Die Haftbedingungen waren häufig menschenun-
würdig.
— Es kam zur Wegnahme und Zwangsadoptierung
von Kindern.
Anlage 5 — Zahlreiche Todesfälle als Folge von Haft oder wäh-
rend der Haft belegen die menschenzerstörende
Zu Protokoll gegebene Rede Wirkung durch Schikanen und Willkürakte.
zu Zusatztagesordnungspunkt 2 Bautzen, Cottbus, Hohenegg sind die Symbole die-
(Beratung des Antrags betr. Rehabilitierung der ses Staatsterrors.
Opfer des SED-Unrechtsstaates) * * ) — Wir müssen erinnern an das Enteignungsrecht der
sogenannten Bodenreform und der zahlreichen
Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Die Be- Betriebs- und Hausenteignungen.
wältigung der DDR-Hinterlassenschaft ist eine natio-
— 200 000 Menschen waren durch die sowjetische
nale Aufgabe. Ich begrüße die heutige Gelegenheit,
um den Opfern des SED-Unrechtsstaates sagen zu Besatzungsmacht oder durch SED-Behörden ein-
gekerkert worden.
*) Vgl. Seite 1702A — Zu erinnern ist an die Einziehung des Vermögens
**) Vgl. Seite 1783 A von Republikflüchtigen und von Regimegegnern.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1809*
Wirtschaft und des dualen Systems, in dem die klei- Wiedervereinigung fordert neue Wege: Betriebe er-
nen Betriebe eine bedeutende Rolle spielen. Zugleich halten Geld für die Ausbildung. Mit diesem Programm
werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß werden zugleich die Weichen für die Zukunft gestellt
die Jugendlichen dort ausgebildet werden, wo man — für ein funktionsfähiges Berufsbildungssystem im
sie in den nächsten Jahren als Fachkräfte dringend Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft. Das ist die be-
benötigen wird. ste Hilfe, die wir geben können. Denn unser duales
Viertens. Die Erhaltung und Modernisierung von System der Berufsausbildung ist weltweit anerkannt.
Vollzeitberufsschulen, die Sie fordern, ist ein Thema, Es ist die Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolges
das im Rahmen der dualen Ausbildung sicher anders und die beste Voraussetzung für einen erfolgreichen
zu sehen ist als noch zur Zeit der DDR. Die betriebli- Neubeginn in den neuen Bundesländern.
che Ausbildung hat nun einen höheren Stellenwert. Meine Damen und Herren von der SPD, das, was Sie
Mit den Investitionshilfen im Rahmen des Gemein- heute fordern, ist im Programm der Regierung bereits
schaftswerks „Aufschwung Ost" wird bereits ein we- enthalten. Wir haben bereits gehandelt!
sentlicher Beitrag zur Erhaltung und Modernisierung
der Berufsschulen geleistet.
Günter Rixe (SPD): Der Deutsche Bundestag hat
Fünftens. Für die Förderung außerbetrieblicher Be- bereits am 27. Februar übereinstimmend zwischen al-
rufsausbildung sowie berufsvorbereitender Maßnah- len Fraktionen festgestellt, daß die Lage für die Ju-
men sind im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit in gendlichen in den neuen Bundesländern, die einen
diesem Jahr rund 663 Millionen DM vorgesehen. Vor- qualifizierten Ausbildungsplatz suchen, äußerst be-
rang hat jedoch die Vermittlung von Jugendlichen in drohlich ist. Diese Befürchtungen von vor gut drei
betriebliche Ausbildungsverhältnisse. Monaten werden immer mehr zur Gewißheit.
Sechstens. Der Treuhandvorstand hat bereits be- Für den 1. September sind ca. 140 000 Schulabgän-
schlossen, Gebäude und Einrichtungen, die derzeit ger zu erwarten, die mit den etwa 40 000 Konkurs-
nicht mehr für die Berufsausbildung benutzt werden, lehrlingen und den schätzungsweise 20 000 jungen
für überbetriebliche Ausbildung zur Verfügung zu Menschen aus den zu Ende gehenden Warteschleifen
stellen. Ein flächendeckendes Netz dieser überbe- Ausbildungsplätze suchen werden. Diesen rund
trieblichen Berufsbildungsstätten zur Ergänzung der 200 000 Bewerberinnen und Bewerbern stehen aber
Ausbildung in Klein- und Mittelbetrieben wird zügig nur x-tausend Plätze gegenüber.
aufgebaut.
Die ursprüngliche Zahl über das Ausbildungsplatz-
Siebtens. Der Bund geht mit gutem Beispiel voran: angebot aus Industrie, Handel, Handwerk und den
Er stellt 1991 in seinem Bereich 10 000 Ausbildungs- sonstigen Dienstleistungsbereichen ist in alarmieren-
plätze zur Verfügung. Wir erwarten, daß auch Länder den Schritten rückläufig. Am 31. März dieses Jahres
und Kommunen in den neuen Ländern diesem Bei- waren gerade erst 36 200 betriebliche Ausbildungs-
spiel folgen.
plätze von den Arbeitsämtern in den neuen Ländern
In den Punkten 8 und 9 sprechen Sie Qualifizierung gemeldet. Gegenüber der in unserem Antrag genann-
und Information an. Flankierende Maßnahmen des ten Zahl ist insofern eine Korrektur nach unten erf or-
Regierungsprogramms sind die fachliche und päd- derlich. Wie viele Plätze dann tatsächlich am 1. Sep-
agogische Zusatzqualifizierung des Personals in der tember zur Verfügung stehen werden, ist sehr unsi-
beruflichen Bildung, Qualifizierungskonzepte für cher. Gegen diese besorgniserregenden Entwicklun-
Ausbildungsbetriebe, berufliche Schulen und überbe- gen gilt es sofort mit konkreten Handlungen anzuge-
triebliche Berufsbildungsstätten. hen.
Zehntens. Selbstverständlich ist es richtig, öffentli- Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion den Ih-
che Aufträge an Betriebe in den neuen Ländern zu nen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute zur Ent-
vergeben. Da rennen Sie offene Türen ein. schließung vorliegenden Antrag eingebracht. Wir
konnten feststellen, daß die Bundesregierung trotz all
Die zehn Punkte, die Sie heute fordern, hat die Bun-
dieser bedrückenden Tendenzen — und meine Vor-
desregierung bereits weitgehend beschlossen. Dar-
rednerinnen und Vorredner haben diese Problematik
über hinaus fördert die Bundesanstalt für Arbeit Aus-
ja anschaulich verdeutlicht — bisher weitestgehend
bildungspartnerschaften zwischen Betrieben in den
untätig geblieben ist. Die Aktivitäten beschränkten
neuen und den alten Ländern. Dabei erfolgt ein Teil
sich im wesentlichen auf Appelle und Ankündigun-
der Ausbildung bei einem Partnerbetrieb im Westen;
gen; so etwa die Zusicherung im „Gemeinschaftswerk
der Abschluß der Ausbildung muß jedoch im Heimat-
Aufschwung Ost", mit der auch schon für 1991 allen
betrieb erfolgen. Für die Zeit im Westen kann der Aus-
Schulabgängerinnen und Schulabgängern ein Aus-
zubildende Berufsausbildungsbeihilfe nach dem Aus-
bildungsplatz versprochen wurde, oder wie im Berufs-
bildungsförderungsgesetz erhalten.
bildungsbericht 1991, wonach in den nächsten Jahren
Außerdem fördert die Bundesanstalt für Arbeit be- eine berufliche Qualifizierungsoffensive notwendig
rufsvorbereitende Maßnahmen für noch nicht berufs- sei.
reife Jugendliche, Maßnahmen für benachteiligte Ju-
gendliche und vorübergehend auch außerbetriebliche Wie soll aber die Wirtschaft diese Appelle umset-
Maßnahmen. zen, wenn ihr noch die Substanz fehlt, um über ihren
kurzfristigen Bedarf und die begrenzten Möglichkei-
Mit dem „Ausbildungsförderungsprogramm Ost" ten hinaus zusätzliche Ausbildungsanstrengungen zu
werden Hilfen von insgesamt über einer Milliarde DM unternehmen? Ich sage Ihnen, die Ausbildungs- und
zur Verfügung gestellt. Das Jahrhundertereignis der Qualifizierungsoffensive ist daher nicht erst in den
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1811*
nächsten Jahren notwendig; nein, sie muß jetzt hier Der Vorschlag des Bundesministers für Bildung und
und heute mit konkreten Maßnahmen beschlossen Wissenschaft über einen Zuschuß von einmalig
werden. 5 000 DM an alle Betriebe mit bis zu 20 Mitarbeitern
wird angesichts der Wirtschaftssituation und der Ko-
Auch die im Entwurf des Haushaltsplanes 1991 von
sten für einen Ausbildungsvertrag über dreieinhalb
der Bundesregierung vorgesehenen Mittel zur Förde-
Jahre kaum zu neuen Ausbildungsplätzen in Hand-
rung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern
werk und Mittelstand führen. Sehr geehrter Herr Mi-
reichen bei weitem nicht aus. Die bis zur Verabschie-
nister, solch einen Vorschlag können Sie doch nicht
dung geltende vorläufige Haushaltsführung erlaubt
mit „ordnungspolitischen Regeln" rechtfertigen. Hier
weder die Fortsetzung der im letzten Jahr eingeleite-
müssen Sie doch die Realitäten sehen, die in den
ten Maßnahmen noch erlaubt sie notwendige und
neuen Bundesländern herrschen. Mit einem einmali-
neue Maßnahmen im Hinblick auf die Vorbereitun-
gen Zuschuß werden Sie bei der aktuellen Wirt-
gen zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres am
schaftslage des Mittelstandes und des Handwerks
1. September.
doch keinen hinter dem Ofen hervorlocken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das „Ak- Viertens. Für die Erhaltung und Modernisierung
tionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung von Vollzeitberufsschulen, die Förderung außerbe-
in den neuen Ländern" ist auf vier Jahre angelegt. Die trieblicher und überbetrieblicher Ausbildungsstätten,
Kosten dieses Aktionsprogrammes betragen für den die Qualifizierung von Ausbilderinnen und Ausbil-
Bund insgesamt 3,37 Milliarden DM, wovon 600 Mil- dern und für die Anpassung der Ausbildungspraxis an
lionen DM im Hauhaltsjahr 1991 aufzubringen sind. die geltende Gesetzeslage sind die bisher vorgesehe-
Das soziale Grundrecht aller Jugendlichen auf eine nen Haushaltsmittel wesentlich zu erhöhen. Denn nur
qualifizierte zukunftsorientierte Berufsausbildung ist so können die zur aktiven berufsbildungspolitischen
in den neuen Ländern bedroht. Die Unternehmen Mitwirkung bereiten Träger Ausbildungsstätten
können ihre vom Bundesverfassungsgericht bekräf- schaffen, die qualifizierte Ausbildung garantieren.
tigte Verantwortung, vorrangig für ein auswahlfähi- Die Erhöhung der Mittel muß aber auch jetzt gesche-
ges und den Anforderungen des Berufsbildungsgeset- hen, damit die Träger genügend Vorlauf für die Vor-
zes genügendes Ausbildungsplatzangebot zu sorgen, bereitung der Angebote haben.
derzeit nicht allein wahrnehmen. Und wenn fünftens — und damit komme ich zum
Deshalb und auch, weil der Bund nach dem Grund- Schluß — die öffentlichen Verwaltungen und Be-
gesetz und dem Einigungsvertrag verpflichtet ist, für triebe, insbesondere die Bundesunternehmen ein-
ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht zwischen schließlich Reichsbahn, Post und Telekom, über ihren
den Bundesländern zu sorgen — und hierzu gehört Bedarf Ausbildungsverträge abschließen — also min-
auch die Tatsache, daß die Förderung der beruflichen destens 10 000 zusätzliche Plätze zum 1. Septem-
Bildung ein entscheidendes Element zum Ausgleich ber — , dann bin ich überzeugt, daß wir für das Jahr
unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet, 1991 ein kleines Stückchen weitergekommen sind auf
ein entscheidendes Element zum gesellschaftlichen dem Weg zur Sicherung der beruflichen Bildung in
den neuen Ländern.
Neuaufbau und zum sozialen Zusammenhalt dar-
stellt —, ist sofortiges Handeln der Bundesregierung
zusammen mit allen berufsbildungspolitisch Verant- Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ein hinsichtlich
wortlichen geboten. Anzahl und Qualität ausreichendes Angebot an Lehr-
stellen in den östlichen Bundesländern zu sichern ist
Lassen Sie mich zu einigen der Sofortmaßnahmen ein wesentlicher Beitrag zur Herstellung der inneren
noch anmerken: Erstens. Die Treuhand muß ab sofort
Einheit Deutschlands. Die bestehende Problemlage
darauf hinwirken, daß die in ausreichender Zahl noch
wird hinreichend dadurch deutlich, daß laut Prognose
aus der DDR-Zeit vorhandenen Kapazitäten der be- Mitte April dieses Jahres für 100 Bewerber in den
trieblichen Schulen und Ausbildungszentren erhalten westlichen Bundesländern 110 Stellen, in den östli-
bleiben. Dieses muß bei der Veräußerung und bei der chen Bundesländern jedoch nur 44 Lehrstellen ange-
Sanierung von Betrieben oder Betriebsteilen sicher- boten wurden.
gestellt werden und auch für die Fälle gelten, wenn
die Treuhand den entsprechenden Betrieb selber Welche Zielvorstellungen bewegen aber neben der
nicht mehr für erhaltenswert erachtet. formalen Erlangung einer Lehrstelle einen zukünfti-
gen Lehrling?
Zweitens. Für diejenigen Jugendlichen, die durch
Konkurse und Betriebsstillegungen bedroht sind, ih- Er möchte seinen Wunschberuf erlernen. Er erwar-
ren Ausbildungsplatz zu verlieren, muß der Bund die tet, daß der Lehrbetrieb vernünftig erreichbar ist, eine
Ausbildungsvergütungen übernehmen, damit andere entsprechende Berufsschule vorhanden, die Ausbil-
Betriebe oder außerbetriebliche Ausbildungsstätten dung in Betrieb und Schule aktuell und paßfähig zu
in der Lage sind, wenn sie es wollen, die Ausbildung einem zukünftigen Arbeitsplatz ist und daß es diesen
der betroffenen Jugendlichen zu Ende zu führen. nach Lehrabschluß auch geben wird.
Drittens. In der privaten Wirtschaft müssen alle Un- Welche Probleme stehen der Realisierung dieser
ternehmen einen Zuschuß von 5 000 DM für jeden Wunschvorstellungen in den östlichen Bundesländern
neuen Auszubildenden und pro Ausbildungsjahr er- zur Zeit entgegen?
halten, wenn die Ausbildungsquote des einzelnen Un- Die mittelständische Industrie — normalerweise
ternehmens 5 % der am 1. Mai 1991 Beschäftigten Hauptträger der beruflichen Ausbildungsleistungen
übersteigt. — funktioniert noch nicht. Betriebe, die um das wirt-
1812* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
schaftliche Überleben kämpfen, haben Mühe, Ausbil- — den Partnern in der Wirtschaft, die auch bereit
dungsverhältnisse zu Ende zu führen. Das ist dort sind, Lehrlinge über den aktuellen oder erwarteten
keine Frage der Ausbildungsbereitschaft. Eigenbedarf hinaus einzustellen,
In nahezu allen Betrieben besteht Modernisie- — der Treuhand für die konkrete Maßnahmeunter-
rungsbedarf. Die unklare Wirtschaftsentwicklung er- setzung zur Stützung des Ausbildungsstellen-
schwert die Identifikation sicherer Zielberufe. Auch marktes,
durch Abwanderungstendenzen entsteht die Gefahr — der Regierung für das Maßnahmepaket im Sinne
eines Fachkräftemangels in den nächsten Jahren. Da- der Auszubildenden der östlichen Bundesländer.
bei können außerbetriebliche Hilfsmaßnahmen nur
Notlösungen sein. Sie dürfen den Neuaufbau des dua- Insgesamt wird erkannt, so scheint mir, daß Sozial-
len Berufsbildungssystems nicht erschweren. politik und psychologische Notwendigkeit weit
schwerer wiegen als rein betriebliche Argumente.
Die Ursachen für das Defizit im Lehrstellenangebot
Mit den im Antrag der SPD-Fraktion angeführten
liegen vor allem in der wirtschaftlichen Entwicklung
Vorschlägen kann meinerseits weitgehende inhaltli-
bzw. der Notwendigkeit zur Neuprofilierung in den
che Übereinstimmung festgestellt werden. Wie
östlichen Bundesländern, der Erweiterung der Ausbil- könnte es auch anders sein? Entsprechen diese doch
dungszeit von 2 auf 3 Jahre und der Umstellung der
in vielen Details den von der Bundesregierung einge-
Ausbildung auf anerkannte Ausbildungsberufe für
leiteten Maßnahmen. Das Notwendige wird mit dem
etwa 100 000 Jugendliche.
Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Siche-
Am Prozeß der Bereitstellung und Sicherung von rung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern
Qualität und Quantität der Lehrstellen sind die Indu- getan.
strie, das Handwerk, die Verbände, sind also die Wirt- Das Wünschenswerte ist nicht vollständig finanzier-
schaft und die öffentliche Hand, für die betrieblichen bar.
Ausbildungsplätze sind die Kommunen- und die Lan-
desregierungen für die Schulen, ist die Bundesregie- Die CDU/CSU-Fraktion ist für die Überweisung des
rung, der Staat für Förderung, Nothilfe und Mittelbe- SPD-Antrags in die Ausschüsse.
reitstellung zuständig.
Dirk Hansen (FDP): „Klotzen, nicht kleckern" oder
Die Maßnahmen der Regierung sprechen diese „Immer feste druff" oder „Wir können's noch besser
Partner an. Der Antrag der SPD-Fraktion fordert die als ihr" — so scheinen Sozialdemokraten zu meinen,
Bundesregierung zu Aktivitäten auf.
wenn es um staatliche Programme geht. So auch hier
Es geht darum, neben kurzfristig wirksamen Maß- beim vorliegenden Antrag. Die SPD will „draufsat-
nahmen die Grundlage für einen Neuaufbau des dua- teln" , wo die Regierung und die sie tragenden Koali-
len Berufsbildungssystems zu schaffen. Der Staat darf tionsfraktionen einiges nicht nur angekündigt, son-
nicht Aushilfslehrer auf Dauer werden! dern schon vorgelegt und beschlossen haben. Der
Antrag erhebt den Anschein, nicht nur alles besser zu
Natürlich liegt die Versuchung nahe, offene Lehr- wissen, sondern auch schneller agieren zu wollen.
stellen in den westlichen Bundesländern durch Aus- Jedoch schon das Kabinett hat am 24. April 1991 be-
zubildende aus den östlichen Bundesländern zu bele- schlossen — und Sie wissen dies —, womit Sie jetzt
gen. Der Bedarf und damit auch Ausbildung und Ab- noch nachklappern wollen. 250 Millionen DM sind für
schluß müssen aber in den neuen Bundesländern ge- die Schaffung von Ausbildungsplätzen in kleinen und
sichert werden. Dabei mag der Lehrstellenüberschuß mittleren Betrieben vorgesehen. Und der Bund wird
bestenfalls als Reserve gesehen werden. 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche
aus dem Osten in Verwaltungsbehörden schaffen.
Eine überschlägige Lehrstellenbilanz zeigt, daß ei- Hinzu kommen von der Bundesanstalt für Arbeit
nem zu erwartenden Bedarf von 155 000 Lehrstellen 663 Millionen DM für die außerbetriebliche Berufs-
zur Zeit bereits ca. 120 000 Angebotsstellen gegen- ausbildung in 1991.
überstehen. Dabei sind 35 000 zu erwartende Bewer-
ber berücksichtigt, die durch Schließung oder Kon- In der langatmigen Vorlage wechseln Teile der rich-
kurs von Betrieben neue Ausbildungsplätze benöti- tigen — und das sei hier eingestanden — Situations-
gen. beschreibung mit solchen der offenbar politparla-
mentarisch als notwendig betrachteten Regierungs-
Ich bin überzeugt, daß die mit der Treuhand verein- herabsetzung — nach dem schiefen Motto: Wer an-
barten Maßnahmen, die Maßnahmen der Bundesan- dere erniedrigt, erhöht sich selbst — und solchen der
stalt für Arbeit (663 Millionen DM) sowie Ausbil- vollmundigen Bekenntnisse zum dualen System, wo-
dungspartnerschaften mit den Betrieben in den west- bei dann zugleich — ich beziehe mich etwa auf Ab-
lichen Bundesländern die rechnerisch noch beste- schnitt III.4 „Erhaltung und Modernisierung von Voll-
hende Diskrepanz beseitigen können. zeitberufsschulen" — zu fragen wäre, ob dies nicht
nur Lippenbekenntnisse sind. Denn eine Modernisie-
Ich möchte hier stellvertretend für die Betroffenen rung, die auch langfristig sinnvoll sein soll, verträgt
in den östlichen Bundesländern allen um die Lehrstel- sich nur schlecht mit dem ansonsten auf angeblich nur
lenbeschaffung und -sicherung Bemühten herzlich vier Jahre angelegten Aktionsprogramm.
danken,
Im übrigen: die Kommunen haben für dieses Jahr
— zuerst wohl den altbundesdeutschen Steuerzah erhebliche Möglichkeiten im Rahmen der Investi-
lern, die die erheblichen Kosten aufbringen, tionshilfen des „Gemeinschaftswerks Aufschwung
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1813*
Ost" erhalten, um die Berufsschulen zu erhalten bzw. an. Und da frage ich Sie, wie Sie denn z. B. Ihren Vor-
zu modernisieren. schlag (Seite 6 unten) praktizieren wollen, die Be-
grenzung der Ausbildungsförderung, wie wir sie in
Überhaupt bleiben auch weitere Widersprüche Betrieben mit bis zu 20 Arbeitnehmern praktikabel
nicht aus, so z. B. wenn einerseits — Seite 4 Zeile 2 — und sinnvoll vorsehen, aufzuheben, und statt dessen
Finanzhilfen des Gemeinschaftswerks Aufschwung auch „Ausbildung über Bedarf" gefördert wissen wol-
Ost gerügt werden, weil sie am „Bewilligungsrecht len. Was heißt denn das? Wer bestimmt denn den
des Parlaments vorbei" erfolgten (was haushaltsrecht- Bedarf? Kontrolleure! Bürokraten! Wahrlich SPD-ge-
lich betrachtet auch nicht zutrifft, denn keiner wird raten.
übersehen, daß der Bundestag sich momentan in den
Haushaltsberatungen befindet; selbst der Antragstel- So verbleiben insgesamt in dem ja keineswegs mit
ler nutzt ja diese Gelegenheit), und andererseits im heißer Nadel gestrickten Antrag — jedenfalls wenn
Antrag mehrfach von „sofort" oder „unverzüglich" man das Nachdenken des Antragstellers auf die Zeit
die Rede ist. Etwa ohne parlamentarischen Beschluß? seit der Aktuellen Stunde vom 27. Februar 1991 kon-
Auch Elemente des selektiven Lesens werden beim zediert — eine Vielzahl von Ungereimtheiten und Un-
Antragsteller erkennbar, wenn er — ist es Zufall oder klarheiten. Es kann Sie daher nicht überraschen, daß
hat es Methode? — den Berufsbildungsbericht 1991 wir Ihren Antrag überwiesen wissen wollen zwecks
zitiert und die darin angesprochene Warnung vor ei- Beratung in den Ausschüssen. Denn man kann ja
ner Subventionsmentalität glaubt als Beleg dafür her- durchaus bei einzelnen Vorschlägen konform mit Ih-
anziehen zu können, daß die Regierung und die sie nen gehen. Es sei ausdrücklich von mir betont, daß Sie
tragenden Fraktionen Scheu hätten vor staatlichen mit uns einiggehen, wenn Sie z. B. die Treuhand auf-
Maßnahmen. Weit gefehlt — und das in doppelter fordern, darauf zu achten, daß Ausbildungsplatzkapa-
Weise — : Liest man an der entsprechenden Stelle im zitäten nicht vernichtet werden sollten, oder wenn
Berufsbildungsbericht nach, so liest der ehrliche Leser gesagt wird, daß im außer- und überbetrieblichen
(auf Seite 3 unter 1.2) auch von einer „erforderliche(n) Ausbildungsbereich noch ungenutzte Reserven lie-
subsidiäre(n) staatliche(n) Förderung beruflicher gen, um über die ja keineswegs bestrittenen Nöte zu
Qualifizierungsprozesse". Und der zur Differenzie- kommen. Und dies geht gerade auch die Frage der
rung neigende Leser versteht dann im weiteren sehr sogenannten Konkurslehrlinge in '91 und '92 an.
wohl, daß die Warnung, solche „keinesfalls auf
Dauer" anzulegen, durchaus ein Kriterium abwägen- Ganz wichtig scheint mir auch der Hinweis auf die
der, relativierender, pragmatischen Lösungen zuge- Qualifizierung der Ausbilder zu sein, ebenso der Hin-
neigter Politik ist. Im übrigen ist ja das am 24. April weis, öffentliche Aufträge vorrangig an auszubil-
1991 vom Kabinett beschlossene Ausbildungsplatz- dende Betriebe im Osten selber zu vergeben. Können
förderungsprogramm in Höhe von 250 Millionen DM zum Teil auch von Ihnen selber dazu keine Kostenver-
selbst der beste Beleg gegen solche sozialdemokrati- anschlagungen vorgenommen werden, so sind wir
schen Vorurteile. Zu wünschen wären aber auch Be- doch dankbar für Ihre Unterstützung. Denn keiner
gründungen für die schlichte Behauptung, die An- von uns kann wollen, daß die Weichen für den Auf-
sätze reichten „bei weitem nicht aus" (Seite 3 unten). schwung Ost im Leeren enden oder der Drang gen
Woher nimmt die SPD die prophetische Gabe, vor Westen sich weiter verstärkt. Es wird weiter — auch in
Beginn eines Programms um das Ende desselben zu den Ausschüssen — zu beobachten und zu beraten
wissen? Wie begründet sie denn ihre eigenen An- sein, wie Bund, Länder, Kommunen, Kammern, Schu-
sätze? Auch hier Fehlanzeige. Zahlenspielereien? len, Betriebe und Verbände zusammenarbeiten, um
Spekulationen. das gesteckte Ziel zu erreichen.
Wir wissen doch alle heute nicht genau zu beziffern, Investitionen vor Ort und in die Ausbildung der
ob die angesetzten finanziellen Mittel ausreichen Menschen, und ganz besonders in junge Leute, sind
werden. Die Wahlkampfmelodie „Was kostet uns das immer noch die beste Kapitalanlage in einem Land
alles?" ist doch in der Sache vollkommen unspielbar ohne sonstige Ressourcen. „Köpfe sind unser Kapital"
und ödet das Publikum nur an. Zahlenkolonnen auf- — und dies wahrlich nicht nur aus schlichten ökono-
zustellen ist auch nichts anderes als „propagandisti- mischen Gründen.
scher Aufwand" . Dieser Vorwurf fällt auf den Antrag-
steller zurück.
Evelin Fischer (Gräfenhainichen) (SPD): Die Lage
Und wenn an anderer Stelle (Seite 4 oben) wie-
derum schlankweg behauptet wird, die Investitions- und Perspektive für die Jugendlichen im Hinblick auf
pauschale von 5 Milliarden DM des Bundes für Ge- eine qualifizierte Ausbildung ist äußerst besorgniser-
meinden und Kreise „reicht nicht aus" , so bleibt auch regend. Darin bestand in der von der SPD beantragten
dies unbegründet und allzu pauschal. Es geht doch Aktuellen Stunde über die Ausbildungssituation Ei-
gar nicht um die Frage, ob ausreichend Gelder zur nigkeit zwischen allen Fraktionen. Jetzt, 10 Wochen
Verfügung gestellt werden, sondern in der alltägli- danach, ist diese Lage noch bedrohlicher geworden;
chen Wirklichkeit geht es vielmehr entscheidend denn 120 000 Schulabgängerinnen und Schulabgän-
darum, wie dieselben umgesetzt, eingesetzt und in gern und einer Zahl von mehreren zehntausend Be-
Aufträge an möglichst viele Firmen im Osten selber werberinnen und Bewerbern aus dem letzten Jahr ste-
verwandelt werden können. hen nach Einschätzung der Bundesanstalt für Arbeit
nur 41 000 gemeldete Ausbildungsplätze gegenüber.
Nein, meine Damen und Herren, es geht nicht um Selbst diese Zahl wird sich noch nach unten korrigie-
theoretische Erwägungen, sondern um die Wirklich- ren. Nahezu kein ostdeutscher Betrieb ist vor dem
keit. Die ist zu packen. Die Praxis vor Ort geht uns Konkurs sicher.
1814* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ein Hoffnungsschimmer wäre tatsächlich, wenn die chen Bildung in den fünf neuen Ländern zuzustim-
von Bundesminister Ortleb fest einkalkulierten 30 000 men.
Ausbildungsstellen zusätzlich vom Handwerk ange- Meine Damen und Herren, die Mauer, die mitten
boten würden, doch nach Aussagen des DIHT-Präsi- durch unser Land ging, haben wir abgerissen, aber sie
denten Stroisch sieht sich das Handwerk, obwohl mo- hinterließ bis heute tiefe Gräben, die das deutsche
tiviert, durch die derzeitige schlechte wirtschaftliche Volk trotzdem trennen. Gerade die Jugendlichen sind
Situation, durch nichtgelöste Eigentumsfragen und aber am ehesten in der Lage und auch bereit, diese
durch zusätzliche Kostenbelastung der Handwerks- Gräben zu überwinden. Tun Sie jetzt und heute das
betriebe nicht in der Lage, Schulabgänger in ein be- dazu Erforderliche: mit einem Programm, das jungen
triebliches Ausbildungsverhältnis in dieser Größen-
Leuten eine Chance für einen erfolgreichen Start ins
ordnung aufzunehmen. Leben gibt! Es ist auch eine Chance der Bundesregie-
Besonders problematisch sind die Ausbildungs- rung!
chancen für Mädchen. Von 11 200 gemeldeten Aus-
bildungsplätzen in Sachsen-Anhalt entfallen nur Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Die Abgeord
knapp ein Drittel auf Mädchen. Sie machen aber 51 netengruppe PDS/Linke Liste gibt dem Aktionspro-
der Schulabgänger aus. Laut 8. Jugendbericht bevor- gramm ihre Zustimmung, und zwar aus Gründen, die
zugen Arbeitgeber junge Männer bei der Einstellung, den Unterschied zwischen diesem Programm und
auch wenn Mädchen oder junge Frauen die gleiche dem sogenannten Ausbildungsplatzförderprogramm
Qualifikation nachweisen können. der Bundesregierung ausmachen. Das Aktionspro-
In einem Manifest mit dem Titel „Berufs- und Le- gramm ist komplexer und weniger kurzatmig als das
benschancen für Frauen in der neuen Bundesrepu- mit vielen Appellen garnierte und — zumindest was
blik" , das führende Politikerinnen und Politiker unse- die betriebliche Berufsausbildung bet ri fft — mit zu-
res Landes unterzeichnet haben, heißt es: „Beruf und wenig Finanzmitteln ausgestattete Notprogramm der
Arbeit sind der einzige Weg zur persönlichen
- Eigen- Regierung.
ständigkeit. Sie darf im demokratischen Staat nicht als Im Unterschied zur „Lehrstellenkampagne Ost" der
,Privileg für Männer' reserviert werden." Der Forde- Bundesregierung, die noch bis vor kurzem von einem
rung der Bundesministerin Merkel, eine Quotenrege- stark geschönten Lehrstellenmanko von etwa 60 000
lung für freie Ausbildungsplätze einzuführen, müßte in den neuen Ländern ausging und diese Zahl quasi
eine Forderung nach einer Quotenregelung bei Ein- über Nacht auf realitätsnähere 120 000 hochrechnete
tritt in die Erwerbstätigkeit folgen. — was die Seriosität auch anderer bildungspolitischer
Günstig wäre meines Erachtens die Förderung Rechnungen der Bundesregierung bezweifeln läßt —,
staatlicher Berufsfachschulen, insbesondere für kauf- geht das Aktionsprogramm von vornherein von einer
männische Berufe, in denen bevorzugt Mädchen aus- realistischeren Einschätzung der Lage aus.
gebildet werden könnten. Der Bedarf in der Wirtschaft Während im Regierungslager auch in bezug auf die
und in der Verwaltung ist schon jetzt groß. Um eine Berufsbildungspolitik die Einsicht nur langsam reift
Kammerprüfung zu erreichen, könnte man die Ausbil- und von Anhängern der reinen Marktlehre heftig be-
dungszeit auf drei Jahre verlängern bzw. müßte man kämpft wird, daß der Übergang von einer Plan- zu
nach einem halbjährigen Betriebspraktikum den An- einer Marktgesellschaft — ob man das will oder
trag auf Prüfung vor der Kammer stellen können, die nicht — eines weit über das „Marktübliche" hinaus-
dann auch die Prüfung abnehmen müßte. gehenden Maßes an staatlicher Regulierung bedarf,
Ich mache keine Panik, aber ich sehe tagtäglich die zeugt der im Aktionsprogramm vorgesehene Maß-
Unsicherheit und Angst, die aus den Gesprächen mit nahmekatalog von solcher Einsichtigkeit.
Schulabgängern ersichtlich wird. Mir fällt es schwer, In den konkreten Maßnahmevorschlägen vermei-
diesen Mädchen und Jungen die Tatsachen ins Ge- det das Aktionsprogramm die Ungereimtheiten und
sicht zu sagen, und es tut mir weh, wenn ich höre, wie die Widersprüchlichkeit des Notprogramms der Re-
besonders Abiturienten ohne Studienplatzchance sich gierung.
mit dem Gedanken tragen, in die alten Bundesländer
zu gehen, um sich dort ausbilden zu lassen. Aus unerfindlichen Gründen will die Regierung die
finanzielle Förderung der bet ri eblichen Ausbildung
Rico Apel aus Schmalkalden, der kurz vor dem auf das erste Ausbildungsjahr auf 5 000 DM je Ausbil-
Abitur steht: „Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde dungsplatz und auf Unternehmen bis zu 20 Beschäf-
ich lieber hier arbeiten, weil ich doch hier in Thürin- tigten begrenzen. Sie verkündet den fraglos richtigen
gen zu Hause bin, aber hier bieten sich einfach keine Grundsatz von der Priorität der bet ri eblichen Ausbil-
Perspektiven. " Ich gebe zu, daß es immer noch besser dung, favorisiert aber praktisch die fragwürdige au-
ist, sich im Westen ausbilden zu lassen, als überhaupt ßerbetriebliche Ausbildung, indem sie diese mit
keine Lehrstelle zu bekommen, aber das allerbeste 15 000 DM je Ausbildungsplatz und mit insgesamt
wäre doch, die jungen Leute fänden dort, wo sie zu 650 Millionen DM gegenüber 250 Millionen für die
Hause sind, einen Ausbildungsplatz. bet ri ebliche Ausbildung finanziell anreizen will.
Ich glaube auch, daß nicht nur meine Fraktion zu- Eine entschieden höhere Wirksamkeit ist bei Reali-
tiefst über die derzeitige Lage in den fünf neuen Län- sierung der im Aktionsprogramm vorgesehenen fi-
dern beunruhigt ist, sondern auch meine Abgeordne- nanziellen Förderung zu erwarten, nämlich 5 000 DM
tenkollegen der anderen Parteien, und deshalb fällt es je neuen Auszubildenden und für jedes Ausbildungs-
mir auch nicht schwer, sie herzlich zu bitten, doch jahr zu gewähren und die Förderung nicht willkürlich
unserem Aktionsprogramm zur Sicherung der berufli auf Unternehmen bis zu 20 Beschäftigten zu begren-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1815*
zen, sondern „Mitnahmeeffekte" dadurch einzudäm- Ausbilder entlassen werden. Eine Anweisung der
men, daß der finanzielle Zuschuß unabhängig von der Treuhand an die ihr gehörenden Betriebe ist ergan-
Beschäftigtenzahl, aber erst nach Erfüllung einer gen. Im Rahmen ihrer Privatisierungsaktivitäten wird
„Pflichtquote" von je einem Ausbildungsplatz auf je die Treuhand darauf achten, daß Neuerwerber vor-
20 Beschäftigte, also einer Ausbildungsquote von 5 % handene Ausbildungsverhältnisse fortführen.
gewährt werden soll.
Der Treuhandvorstand hat darüber hinaus be-
Im Verbund mit den anderen vorgeschlagenen schlossen, nicht genutzte Berufsbildungseinrichtun-
Maßnahmen kann das Aktionsprogramm dazu beitra- gen in Treuhandbetrieben überbetrieblichen Trägern
gen, der von der Regierung in bekannter Vollmundig- kostenlos oder kostengünstig zur Nutzung zu überlas-
keit und Unverbindlichkeit versprochenen Ausbil- sen oder, soweit eine dauerhafte Nutzung vorgesehen
dungsplatzgarantie für die Lehrstellensuchenden in ist, zu übereignen. Diese Selbstverpflichtungen der
Ostdeutschland näher zu kommen. Treuhand, die durch nachdrückliche Intervention des
Ich setze als bekannt voraus, daß die PDS/Linke Bundesministers für Bildung und Wissenschaft er-
Liste von Anfang an für eine verbindliche Ausbil- reicht wurden, sind erhebliche Beiträge zur Problem-
dungsplatzgarantie und in diesem Zusammenhang lösung, die berufliche Ausbildung in den neuen Län-
für die volle Ausschöpfung der dafür 1m Grundgesetz dern zu gewährleisten.
— Art. 91 b — und im Einigungsvertrag vorgesehenen
Möglichkeiten eingetreten ist. Im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit sind für
alle jetzt noch notwendigen Maßnahmen zur Förde-
Die Ausbildungsplatzgarantie ist keine Frage des rung außerbetrieblicher Berufsausbildung und Be-
Ermessens oder des Wohlwollens. Sie ist unabding- rufsvorbereitung 1991 ausreichende Mittel etatisiert,
bar, um die immer bedrohlicher wachsende Jugend- insgesamt 663 Millionen DM.
arbeitslosigkeit einzudämmen.
Die Organisationen der westdeutschen Wirtschaft
Zu den gegenwärtig ca. 120 000 jugendlichen- Ar- leisten bei der Organisation entsprechender Träger
beitslosen kommen allein 1991 ca. 120 000 -s Potentielle chaften und Einrichtungen im Rahmen der Gemein-
durch fehlende Lehrstellen hinzu. Und selbst wenn schaftsaktion umfassende und wirksame Hilfe. In die-
diese Lehrstellen geschaffen werden können, wozu sem Zusammenhang hat sich der Bundesminister für
die PDS/Linke Liste auch vor Ort, in den Regionen Bildung und Wissenschaft bereit erklärt, die Entsen-
ihren Beitrag leisten wird, kann die Jugendarbeitslo- dung erfahrener Berater zu fördern.
sigkeit nicht begrenzt oder gar beseitigt werden,
wenn nicht eine neue Politik der Wirtschaftsförderung Die Bundesanstalt für Arbeit und der Bundesmini-
in den neuen Ländern bet ri eben wird. Eine solche ster für Arbeit und Sozialordnung stellen sicher, daß
Politik muß nicht zuletzt darauf gerichtet sein, daß aus Jugendliche, die in Ausbildungsverbünden zwischen
den jetzigen „Überbedarfsplätzen" in der Berufsaus- Ausbildungsbetrieben in den neuen Ländern und
bildung „Bedarfsplätze" werden, d. h., daß sich für die Partnerbetrieben in den alten Ländern ausgebildet
betroffenen Jugendlichen die Gewißheit, einen Aus- werden, für Ausbildungsphasen im westlichen Part-
bildungsplatz zu erhalten, mit der begründeten Aus- nerbetrieb Berufsausbildungsbeihilfe erhalten kön-
sicht verbindet, anschließend auch einen Arbeitsplatz nen.
zu erhalten.
Die Bundesregierung hat mit der Investitionshilfe
für die Komunen im Rahmen des Gemeinschaftswer-
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär beim Bun kes „Aufschwung Ost" einen wesentlichen Beitrag
desminister für Bildung und Wissenschaft: Es ist ein zur Erhaltung und Modernisierung von Berufsschulen
gemeinsames Anliegen aller Fraktionen des Deut- geleistet. Wir flankieren diese Maßnahmen mit quali-
schen Bundestages und der Bundesregierung, die Be- tativen Komponenten, für die fachliche und pädagogi-
rufsausbildung in den neuen Ländern zu sichern. Die sche Zusatzqualifizierung des Personals in der beruf-
Bundesregierung hat längst gehandelt und mit dem lichen Bildung, für die konzeptionelle Vorbereitung
Beschluß des Bundeskabinetts vom 24. April 1991 und und fachlich-inhaltliche Ausgestaltung außerbetrieb-
einer Reihe flankierender Maßnahmen alle notwendi- licher Ausbildungsmaßnahmen, für den Innovations-
gen Schritte eingeleitet. Das Aktionsprogramm der transfer von in den alten Ländern entwickelten, er-
SPD-Fraktion kommt insoweit für 1991 zu spät, zum probten und erfolgreich eingesetzten Modellver-
Teil sind die Schwerpunkte nicht zielentsprechend. suchsergebnissen, Lehr- und Lernmitteln, Qualifizie-
Mit einem 250-Millionen-Sonderprogramm des rungskonzepten und Umsetzungshilfen für Ausbil-
Bundesministers für Bildung und Wissenschaft wird dungsbetriebe, berufliche Schulen und überbetriebli-
die Ausbildung in kleinen Unternehmen mit höch- che Berufsbildungsstätten, für den Aufbau eines
stens 20 Beschäftigten intensiv unterstützt. Im Bereich pluralen und marktwirtschaftlich orientierten Systems
der Bundesverwaltung werden 10 000 zusätzliche beruflicher Weiterbildung. Ein flächendeckendes
Ausbildungsplätze für Jugendliche aus den neuen Netz überbetrieblicher Berufsbildungsstätten zur Er-
Ländern angeboten und besetzt. gänzung der Ausbildung in kleinen und mittleren Be-
trieben wird aufgebaut.
Die Finanzierung der beruflichen Ausbildung in
Treuhandbetrieben wird für bestehende Ausbil- Die zuständigen Bundesministerien, die Bundesan-
dungsverhältnisse sichergestellt. Im Rahmen der ver- stalt für Arbeit, die Organisationen der Wirtschaft sor-
fügbaren Ausbildungskapazitäten werden Jugendli- gen in enger Abstimmung miteinander dafür, daß die
che neu eingestellt — nach Möglichkeit über den Ei- neuen Länder, Kammern, Betriebe, Schulen und die
genbedarf hinaus. In Treuhandbetrieben dürfen keine betroffenen Jugendlichen und Eltern über alle Maß-
1816* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
nahmen und Fördermöglichkeiten umfassend infor- Das soll nicht heißen, daß ich die Summe 120 DM im
miert werden. Monat ausreichend finde. Auch ich wäre glücklich,
allen älteren Menschen mehr Geld zukommen zu las-
Die Bundesregierung wird durch die interministe-
sen. Gerade unsere alten Bürger, die viele Jahre nach
rielle Arbeitsgruppe für die Sicherung eines ausrei-
dem Krieg schwer gearbeitet haben, sollten uns be-
chenden Ausbildungsplatzangebots 1991 die weitere
sonders am Herzen liegen. Die begrenzten Mittel, die
Entwicklung und die Wirksamkeit der Maßnahmen
uns zur Zeit zustehen, müssen aber in erster Linie die
zusammen mit Wirtschaft, Gewerkschaften, den
beklagenswerten Situationen in vielen Altenheimen
neuen Landesregierungen und der Bundesanstalt für
(hauptsächlich im Beitrittsgebiet) verbessern helfen,
Arbeit eingehend beobachten und sich regelmäßig
— nicht in Vorzeigeheimen für Funktionäre, sondern
mit dem erreichten Stand befassen. Die Berufsbildung
in Heimen für den Normalverbraucher.
in den neuen Bundesländern muß und wird ihren Bei-
trag zur schnellen Entwicklung der Marktwirtschaft Die Berufung der PDS auf den Begriff Humanität in
leisten. ihrem Antrag ist auf Grund der tatsächlichen Situation
(die von dieser Partei verschuldet wurde) absurd und
unglaubwürdig. Jeder anderen Partei oder Gruppe
hätte ich gute Absichten für diese Gesetzesänderung
bescheinigt. Der PDS-SED spreche ich auf Grund mei-
ner jahrelangen Erfahrungen auf dem geriatrischen
Anlage 7 Gebiet die gute Absicht ab. Wo waren denn die Hu-
manitätsgefühle der PDS-SED zu Honeckers Zeiten?
Zu Protokoll gegebene Reden
zu Zusatztagesordnungspunkt 3 Die älteren Bürger leben und lebten in Häusern mit
(Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des schlechter Bausubstanz und schlechter Ausstattung.
Bundessozialhilfegesetzes) * ) Die Parteifunktionäre mit hohen Renten haben
- ebenso wie ein Mindestrentner 105 Mark in
Feierabendheimen und 120 Mark in Pflegeheimen
Angelika Pfeiffer (CDU/CSU): Ich fühle mich gera zahlen müssen. Den großen Rest konnten Funktionäre
dezu gerufen und berufen, für meine Fraktion zu dem sparen, der kleine Rest der Mindestrentner hatte nur
Antrag der PDS „Entwurf eines Gesetzes zur Ände- ein Taschengeld von 120 Mark.
rung des Bundessozialhilfegesetzes" Stellung zu neh-
men. Von Beruf Hebamme, in zweiter Ausbildung Es ist typisch für die PDS, medienwirksam zu versu-
geriatrischer Fürsorger, über zehn Jahre Leiter eines chen, Geld zu verteilen, das ihr nicht gehört. Die PDS
Seniorenheimes in Leipzig und Diplomsoziologe, ist sollte erst einmal ihre eigenen unrechtmäßig erworbe-
es mir ein Bedürfnis, Antwort zu geben. nen Gelder verteilen, eventuell für eine humanitäre
Sache!
Diese Gesetzesänderung wäre im Grunde eine gute
Sache, aber ich frage mich, was die PDS damit zu tun
hat. Die PDS ist für mich die SED. PDS — praktisch das Margot von Renesse (SPD): Die Bewohner/innen
selbe! von Alten- und Pflegeheimen in der ehemaligen DDR
haben im April dieses Jahres einen Schock erleben
Meine jahrelange Fürsorgearbeit in Heimen und im müssen: Erstmals kamen auf sie, die früher nur zu
Wohngebiet zeigt ein Bild der Betreuungsleistungen einem geringen Teil der tatsächlichen Heimkosten
für die älteren Bürger, die im großen Kontrast zu den herangezogen wurden, realistischere Kostensätze zu.
Betreuungsleistungen für ältere Bürger in den alten Folge ist, daß sie praktisch alle schlagartig zu Sozial-
Bundesländern stehen. Der Zustand der Senioren- hilfeempfänger/innen geworden sind. Während sie
und Pflegeheime im Beitrittsgebiet war und ist nach früher von ihren geringen Renten noch Ersparnisse
wie vor katastrophal. ansammeln konnten, sind sie heute für ihre persönli-
Für regimetreue Genossen der SED gab es geson- chen Bedürfnisse auf das schmale sogenannte Ta-
derte, gut ausgestattete Heime, gegebenenfalls Ein- schengeld nach dem BSHG angewiesen. Das Ergeb-
zelzimmer in anderen Heimen. Auf Anträgen für Se- nis ist verständlicherweise Verbitterung.
nioren- und Pflegeheime mußten die Mitarbeiter des Die Verbitterung ist umso größer, als der Zustand
Sozialwesens vermerken, ob die Antragsteller lang- der meisten Heime in der ehemaligen DDR bekla-
jährige SED-Mitglieder waren oder langjährige genswert ist: Das DDR-Regime hat die bauliche Sub-
FDGB-Mitglieder. Danach wurden Plätze in Heimen stanz der Heime verkommen lassen; sanitäre Anlagen
vergeben. sind häufig in einer unglaublichen Verfassung; Vier-,
Diese Gesetzesänderung, die die PDS jetzt anstrebt, Sechs- und Mehrbettzimmer machen für die Bewoh-
so gut und medienwirksam es auch klingt, verstößt ner/innen eine private Umgebung unmöglich.
gegen das Gleichbehandlungsprinzip: Alle Menschen Dabei ist der Betrieb dieser Heime gerade wegen
sind vor dem Gesetz gleich. ihrer Unzulänglichkeit personell aufwendig und
Was aber machen die älteren Bürger im Wohnge- teuer; der Geldbedarf, um sie bald erträglich auszu-
biet, die nicht in Heimen leben, die ihre Wohnung statten, ist ungeheuer groß. Dies belastet derzeit weit-
unterhalten müssen, für ihren Lebensunterhalt auf- gehend die Kommunen als Noch-Träger der Einrich-
kommen und so oftmals keine 120 DM Taschengeld tungen.
im Monat nur für sich haben? Ein erhöhtes „Taschengeld" für Heimbewohner/in-
nen würde die Kommunen als Träger der Sozialhilfe
*) Vgl. Seite 1798 D zusätzlich finanziell treffen. Voraussichtlich müßten in
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1817*
den neuen Bundesländern dafür rund 100 Millionen 2. Die Kosten müßten nicht, wie im Vorblatt unter D
DM aufgewendet werden. Dabei stehen die Kommu- geschrieben, von den Ländern, sondern von den
nen schon jetzt vor einer Vielzahl von Aufgaben, de- Kommunen getragen werden.
ren gleichzeitige Erledigung von ihnen gefordert wird
Wir gehen einen anderen Weg:
und kaum zu leisten ist.
1. Erhöhung des Rentenniveaus. Das betrifft beson-
Ein zweites: Man kann unmöglich Sozialhilfelei-
ders die neuen Bundesländer. Das wurde von der
stungen nur für eine Gruppe von Empfänger/innen
Koalition bereits in ersten Schritten vollzogen.
erhöhen, ohne die Verzerrungen zu bedenken, die
sich für sonstige Bedürftige ergäben. Wie soll man den 2. Noch in dieser Legislaturperiode wird diese Koali-
Rentner/innen mit Mindestrenten von 500 DM monat- tion eine Pflegeversicherung einführen.
lich, einschließlich Sozialzuschlag, die nicht in Hei- Wir halten unseren Weg für den besseren. Die PDS
men leben, erklären, daß der finanzielle Spielraum ist noch in alten Denkstrukturen verhaftet, die sich in
der Rentner/innen in Heimen für persönliche Bedürf- über 40 Jahren nicht bewährt haben.
nisse bei gleicher Rente 260 DM beträgt? Dies ist im-
merhin auch der Betrag, den das Sozialamt zur Dek
ung aller Bedürfnisse eines Kindes zwischen 7 und Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): In den letzten
11 Jahren an Familien zahlt. Diese Verzerrungen Wochen hatte ich Begegnungen mit vielen Senioren
müssen ebenfalls bedacht werden. in Alters- und Pflegeheimen in Sachsen. Viele dieser
Heimbewohner waren ob der Ungewißheit über die
Der Zorn der Heimbewohner/innen ist zu verste- Neufestlegung der Kostensätze und der Verteilung
hen. Abhilfe ist aber weniger im BSHG zu suchen als der Heim- bzw. Sozialhilfeanträge verängstigt und
vielmehr in einer vernünftigen und sozialen Neuge- verzweifelt. Eine sozial verträgliche dynamisierte Ko-
staltung der Sicherungssysteme bei Alter und Pflege. stenbeteiligung entsprechend der Rentenerhöhung
Hier gilt es, die Autonomie der Betroffenen, zu der vertrete ich als ein Mittel, den Bestand der Alters- und
auch die finanzielle Seite gehört, zu erhalten. Pflegeheime zu sichern. Mir ist jedoch klar, daß dies
--k
sicher nur in wenigen Regionen der neuen Bundeslän-
Norbert Eimer (Fürth) (FDP): In der Problembe der und nur bei einigen Trägern gelingen wird, und
schreibung zum Gesetzentwurf schreibt die PDS, daß wenn, sicher nur für kurze Zeit.
die Taschengeldregelung für die älteren Bürger in Mit der Gesetzesänderung, das Taschengeld für
den neuen Bundesländern „ganze 120 DM" Taschen- Heimbewohner aufzubessern, will die PDS/Linke Li-
geld und damit eine „drastische Einschränkung des ste hier im Bundestag etwas tun, um die Lage aller
Bewegungsspielraums" bringe. Abgesehen von der Betroffenen erträglicher zu gestalten. Als Parlamenta-
Peinlichkeit, daß der Begriff „drastische Einschrän- rier sind wir verpflichtet, auch in diesem Bereich ent-
kung des Bewegungsspielraums" ausgerechnet von sprechend dem Grundgesetz zu wirken. Die Würde
einer Partei gebraucht wird, deren Vorgänger der ge- und Unverletzbarkeit des Menschen gelten auch im
samten Bevölkerung kaum Bewegungsspielraum ließ, Alter. Ich teile die Empfindung der Entwürdigung vie-
muß ich fragen, wieviel Taschengeld — ich betone ler Menschen, welche nach einem arbeitsreichen Le-
Taschengeld — die älteren Bürger vor der Wende hat- ben plötzlich nur noch über eine karg bemessene
ten. Summe, ein Taschengeld frei verfügen können.
Kommen wir zu den „Lösungen". Da wird gesagt, Mit der Erhöhung der Unterhaltskosten auf 800, —
„Leistungen" nicht einer „Profitorientierung zu unter- bis 2 500, — DM monatlich für die Heim- und Pflege-
werfen". Ich übersetze diesen Begriff in eine normale plätze in den neuen Bundesländern, können diese
Sprache: Altenheime dürfen keine Erträge haben. nicht mehr von der eigenen Rente bezahlt werden.
Wohin aber ein System führt, das keine Erträge haben Von dieser Regelung sind in der ehemaligen DDR
darf, das haben 40 Jahre Sozialismus in der ehemali- etwa 150 000 Menschen, alle Heimbewohner, betrof-
gen DDR gezeigt. Auch ein Vergleich zwischen alten fen.
Menschen bei uns und in der vergangenen DDR ist
nicht für uns peinlich. Nur Rentner durften in der DDR Auch in den alten Bundesländern, in denen die Un-
in den Westen reisen. Wenn sie wegblieben, war es kostenbeiträge bekanntlich zwischen 3 000 und
nicht schlimm für den Sozialismus, denn sie waren ja 10 000 DM pro Platz und Monat liegen, sind etwa
nicht mehr „profitabel". Ich meine, wir brauchen uns 70 Prozent der in Heimen lebenden älteren Bürger
das Wort Profitorientierung von der PDS nicht vorwer- von der Taschengeldregelung erfaßt.
fen zu lassen. Alle diese Menschen erhalten ein monatliches Ta-
Die PDS fordert mehr Geld. Das hört sich immer gut schengeld zwischen 120 und 185 DM. Wir wenden
an. Nachteil der PDS-Regelung ist jedoch, daß sie bei uns strikt gegen diese Einengung des Bewegungs-
der Taschengeldregelung bleibt. spielraumes von knapp einer halben Million Bürgerin-
nen und Bürger in den alten und neuen Bundeslän-
Alle Parteien im Bundestag waren sich einig, daß dern.
Taschengeldregelungen nicht optimal sind. Sie sind
entwürdigend. Obwohl immer als Rechtsanspruch gepriesen, wird
den Bürgerinnen und Bürgern in ostdeutschen Hei-
Der Vorschlag der PDS ist von zwei Seiten falsch:
men ganz konkret klar, wie belastend Sozialhilfe ist.
1. Weil der Maßstab für die Höhe des Taschengeldes Es ist nicht nur die generelle Scheu ob des Bittgangs
die Sozialhilfe sein soll, d. h. wer viel zu seiner zu überwinden. Auf vierseitigen Formularen ist aufzu-
Alterssicherung beiträgt, soll eben so wenig erhal- zählen, welche Geschenke über 500 DM in den letz-
ten wie derjenige, der nichts dazu beiträgt. ten 10 Jahren vergeben wurden. Was soll das? Ge-
1818* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
schenke, die unter ganz anderen gesellschaftlichen das für die PDS/Linke Liste der Beistands- und Sor-
Bedingungen gemacht wurden, sollen jetzt angerech- gepflicht des Staates und der gesamten Gesellschaft
net oder zurückgefordert werden? Dies wäre eine Ver- obliegt und nicht durch zusätzliche Pflichtabgaben
fahrensweise, als ob man Bürger für etwas bestrafen der Bürgerinnen und Bürger zu tragen ist. Als eines
will, was zur Zeit des „Tatherganges" nicht strafbar der reichsten und entwickelsten Länder hat die Bun-
war. Daß das rechtlich nicht geht, wird mittlerweile desrepublik auch international die Pflicht, entspre-
bei der „Behandlung" der ehemaligen „Oberen" der chend ihrem Potential, das Wohlergehen der alten,
DDR eingesehen. Sollen nun die „Kleinen" , die Pfle- behinderten und pflegebedürftigen Mitbürger und
gebedürftigen, die Alten zur „Verantwortung" gezo- Mitbürgerinnen zu gestalten.
gen werden für „Liebesdienste" an ihren Verwand-
ten? Für die PDS/Linke Liste wird die Pflegeproblematik
zu einem Modellfall über die Grundrichtungen künf-
Es ist entwürdigend, daß der Heimbewohner und tiger Sozialpolitik in der BRD. Doch bevor es soweit ist,
die Heimbewohnerin eine Ermächtigung zur unein- plädieren wir dafür, den Menschen in Alten- und Pfle-
geschränkten Offenlegung ihrer Kontenführung sei- geheimen rasch durch die wohlwollende Behandlung
tens der Bank erteilen müssen, hinzu kommt, daß die unseres Gesetzesänderungsentwurfs einen größeren
Kinder der Bewohnerinnen und Bewohner ihre Ein- finanziellen Spielraum einzuräumen.
kommen offenlegen und belegen müssen, damit
eventuell ein Zuschuß von diesen „Unterhaltspflichti-
gen" eingefordert werden kann. Ob mit letzterem ein
„vernünftiger Druck" auf den Entscheid für die Pflege Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei
in der Familie befördert wird, wage ich zu bezweifeln. der Bundesministerin für Familie und Senioren: Wenn
Sind denn Frauen — meist sind sie es doch, die häus- ich mir diesen Gesetzentwurf, vor allem seine Begrün-
liche Pflege übernehmen — sind also Frauen, die ihre dung ansehe, dann kommen mir erhebliche Zweifel,
berufliche Entwicklung verfolgten, selbst Kinder er- ob den Verfassern das Umdenken von einem soziali-
ziehen und „zufällig" eine pflegebedürftige Mutter stischen Gießkannensystem, das den vollendeten
haben, die sich zur Betreuung in ein Heim begab, mit Staatsbankrott zur Folge gehabt hat, zu einem rechts-
dem Stempel eines „asozialen Verhaltens zur Fami- und sozialstaatlichen System des verantwortbaren
lie" zu versehen, wofür sie nun „zahlen" müssen? Ich -Ausgleichs zwischen Wünschbarem und ordnungs
kenne viele Frauen und Männer in der ehemaligen und finanzpolitisch Machbarem bereits gelungen ist.
DDR, deren Mütter in Heimen leben, die dennoch und Die Verwirklichung des Gesetzentwurfs würde eine
vielleicht erst im Rahmen solcher Bedingungen für ein halbe Milliarde DM kosten, einen Betrag, der bei der
gutes familiäres Klima sorgen. so dringend notwendigen Sanierung der herunterge-
kommenen Alten- und Pflegeheime und der Schaf-
Hinzu kommt, daß ein solcher Schritt ins Heim fung neuer, menschenwürdigerer Einrichtungen in
kaum noch korrigierbar ist, auch jetzt, unter gewan- den neuen Bundesländern fehlen würde. Und was Sie
delten gesellschaftlichen Verhältnissen nicht. Wie auch verschweigen, ist, daß nach Ihrer Feierabend-
viele Bürgerinnen und Bürger gab es, die auf Grund und Pflegeheim-Verordnung seit 1979 bis in das letzte
eigener schlechter Wohnbedingungen, miserabler Jahr hinein unverändert an Heimbewohner ohne oder
Infrastruktur, der Vollbeschäftigung der Kinder und mit geringem Einkommen eine Unterstützung zur
deren beengter Wohnverhältnisse in ein Feierabend- persönlichen Verwendung in Höhe von nur 120 Mark
heim zogen. Ja dieser Name ist nicht nur belastet als im Monat gezahlt wurde. War das nach Ihren Wert-
„Endstation", er bedeutete für viele Menschen auch vorstellungen human?
Geborgenheit und Ruhe in sich. Aber mit diesem
Schritt ins Feierabendheim haben sie nun unwiderruf- Es stimmt, in den alten Bundesländern sind die
lich die Wohnung verlassen — und sind dieser nun Heimkosten entsprechend den dort erbrachten Lei-
kommenden Sozialhilfepraxis — man muß es so sa- stungen so hoch, daß die größere Zahl der Heimpfle-
gen: ausgeliefert. gebedürftigen sie nicht allein aus ihrer Altersrente
bezahlen kann. Den fehlenden Betrag — 1989 waren
Diese Sozialhilfepraxis betrachtend, lohnt es auch
das im alten Bundesgebiet knapp 8 Milliarden DM —
nicht, auf Besserung durch die avisierte Pflegeversi-
trägt die Allgemeinheit in Form der Sozialhilfe. Hier-
cherung von Herrn Blüm zu warten. Denn die
auf hat jeder, der nicht Selbstzahler aus Einkommen
2 000 DM, welche auf Basis dieser Versicherung ma-
und Vermögen ist, einen Rechtsanspruch; dessen ist
ximal für pflegebedürftige Menschen in Heimen ge-
er sich bewußt und er muß es deshalb nicht als diskri-
zahlt werden sollen, decken die Kosten nicht annä-
minierend empfinden. Dennoch wollen wir für Pflege-
hernd, die Zahl der sozialhilfeabhängigen Heimbe-
bedürftige durch eine gesetzlich abgesicherte Finan-
wohner wird nicht sinken. Nutznießer werden die
zierung der Pflegebedürftigkeit eine von der Sozial-
Krankenkassen und die Kassen der Sozialhilfe sein.
hilfe weitgehend unabhängige Lösung schaffen.
Es sind also nur scheinbare „Verlockungen", daß
eine Pflegeversicherung die anstehenden Aufgaben Was nun im besonderen den Anspruch des Heimbe-
auf diesem Gebiet in Ost und West lösen könne, des- wohners auf einen zusätzlichen „angemessenen Bar-
halb lehnt die PDS/Linke Liste eine solche Versiche- betrag zur persönlichen Verfügung" betrifft — das ist
rung ab. Der Humanismus einer Gesellschaft zeigt die gesetzliche Bezeichnung, nicht das von Ihnen in
sich unserer Ansicht nach auch und vor allem in ihrem verächtlich machender Absicht gebrauchte Wort „Ta-
Umgang mit hilfs- und pflegebedürftigen Bürgerin- schengeld" — , so sprechen schon Gerechtigkeits-
nen und Bürgern. Der Schutz des betagten und behin- gründe dafür, Heimbewohner nicht anders zu stellen
derten Lebens ist ein hohes sittlich-moralisches Gut, als diejenigen alten Menschen, die keinen Heimplatz
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1819*
in Anspruch nehmen und ihr Leben z. B. in einer be- Bundesländern voraus, um die notwendigen und rich-
scheidenen Mietwohnung führen. Das war ja gerade tigen parlamentarischen Entscheidungen treffen zu
die Ungerechtigkeit Ihres sozialistischen Systems, daß können. Und daß das DFF-Neue-Länderkette-Pro-
es von diesen Menschen verlangte, alles Verfügbare gramm mit dazu beitragen kann, diesen notwendigen
an Rente und Erspartem zur Bestreitung ihres Lebens- Informationsfluß zu verstärken, Einblicke auch in den
unterhalts einzusetzen, wobei beim Mindestrentner Lebensalltag unserer Mitbürger im östlichen Teil
für wirk li ch persönliche Bedürfnisse kaum einmal et- Deutschlands zu geben, kann und soll nicht bestritten
was übrig geblieben sein dürfte. Dagegen hatte der werden.
Heimbewohner, auch der mit einer hohen Funktio-
närsrente, bis auf einen geringen Eigenbeitrag — bis Besser als sich über's Fernsehn zu informieren, wäre
vor einem Jahr waren das ganze 100 oder 120 Mark — allerdings, wenn alle Abgeordneten sich „vor Ort"
seine ganze Rente zur freien Verfügung und brauchte begeben würden, um sich die notwendigen Informa-
sein Vermögen überhaupt nicht anzutasten. tionen zu beschaffen. Und so hat denn ja auch in den
letzten Monaten eine über diesen Antrag hinausge-
Was das jetzt bundeseinheitlich geltende Finanzie- hende Diskussion darüber stattgefunden, ob nicht das
rungssystem über die Sozialhilfe mit „Profitorientie- DFF-Programm über eine Einspeisung in die Kabel-
rung" oder „mangelnder Humanität" zu tun haben netze bundesweit ausgestrahlt werden sollte.
soll, bleibt Ihr Geheimnis.
Sie wissen, daß diese Überlegungen schließlich ins-
Wenn wir nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz besondere aus zwei Gründen ad acta gelegt wurden:
verfahren, dann müssen wir feststellen, daß die seit Eine Übernahme des DFF-Programms in West-
vielen Jahren im alten Bundesgebiet geltende Rege- deutschland würde eine besondere Heranführung an
lung ausgewogen ist: Empfänger laufender Sozialhil- die bestehenden ca. 2500 Breitbandverteilungsanla-
feleistungen zum Lebensunterhalt haben in etwa die gen über einen Satellitenkanal notwendig gemacht
gleichen Mittel zur Bestreitung persönlicher Bedürf- haben. Hierfür wären Kosten in Höhe von ca. 11 Mil-
nisse zur Verfügung, wie sie Heimbewohner mit der lionen DM/Jahr entstanden. Hinzugekommen wäre
gesetzlichen Barbetragsregelung erhalten. Hieran et- die Problematik der Urheber- und Leistungsschutz-
was zu ändern besteht deshalb kein Anlaß. Auch der rechte. Für eine Ausstrahlung im Westen fehlen dem
Deutsche Verein für öffentliche und p ri vate Fürsorge, DFF nämlich die Senderechte. Ihr Erwerb wäre schät-
der in den letzten Jahren Vorschläge zur Weiterent- zungsweise noch einmal mit der gleichen Summe zu
wicklung der Sozialhilfe erarbeitet hat, hat zu der hier veranschlagen gewesen. Ein solcher finanzieller Auf-
in Rede stehenden Regelung des § 21 Abs. 3 des Bun- wand — und dies war der zweite wesentliche
dessozialhilfegesetzes keine inhaltliche Änderung Grund — für ein Programm, dessen Weiterführung
vorgeschlagen. der Einigungsvertrag nur bis Ende 1991 vorsieht, wäre
Ich bitte deshalb den Deutschen Bundestag, den nicht zu verantworten gewesen.
Gesetzentwurf der PDS-Gruppe abzulehnen.
All das bedeutet nun aber nicht, daß Westdeutsch-
land für das Fernsehprogramm des DFF „terra incog-
nita" ist. So ist der DFF mit ca. 5 % an der Gesamtpro-
duktion von 3-Sat beteiligt. Neben dem sonntäglichen
Kulturmagazin (17.30-18.00 Uhr) und der Sendung
Anlage 8 „Landauf-Landab", Bericht aus den neuen Ländern
(Sonntag 17.00 Uhr), sendet der DFF im 3-Sat-Rah-
Zu Protokoll gegebene Reden men täglich die Nachrichtensendung „Spätjournal",
zu Tagesordnungspunkt 10 die frühere „AK 2". Im übrigen: Im September be-
(Beratung des Antrags betr. Einspeisung der DFF- ginnt die ARD ein neues Ländermagazin. Montags bis
Länderkette in das Fernsehkabelnetz des Deutschen Freitags von 17.00 —17.15 Uhr. Behandelt werden sol-
Bundestages) * ) len dabei vor allem die neuen Bundesländer.
Sich über diese 3-Sat-Sendungen zu informieren, ist
Dr. Joseph-Theodor Blank (CDU/CSU): Der von
auch Bundestagsabgeordneten möglich. Wollte man
zahlreichen Kolleginnen und Kollegen quer durch alle
darüber hinaus, wie dies der vorliegende Antrag for-
Fraktionen und Gruppen dieses Hauses eingebrachte dert, das Fernsehprogramm „DFF Neue Länderkette"
Antrag, das Fernsehprogramm „DFF Neue Länder- in das Kabelnetz des Deutschen Bundestages einspei-
kette" (NLK) — ein drittes Programm nach westdeut- sen, so würde für die technische Heranführung des
schem Vorbild — in das Fernsehkabelnetz des Deut- Programms der Aufbau und der Betrieb einer Richt-
schen Bundestages einzuspeisen, erscheint auf den funkstrecke erforderlich sein. Hierfür sind Investi-
ersten Blick unproblematisch und zustimmungsfähig. tionskosten in Höhe von 1,7 Millionen DM erforder-
Denn richtig ist sicherlich: Die Bewältigung unserer lich. Der Aufbau einer solchen Richtfunkstrecke
zentralen innenpolitischen Aufgabe, den notwendi- würde ca. ein Jahr in Anspruch nehmen. Mir erscheint
gen Strukturwandel von Gesellschaft und Wirtschaft angesichts des absehbaren Endes des Programms
im östlichen Teil Deutschlands herbeizuführen, ihn eine solche Maßnahme unter finanziellen und zeitli-
sozialpolitisch abzusichern und den Menschen neue chen Gesichtspunkten nicht sehr sinnvoll zu sein.
Perspektiven zu vermitteln, setzt insbesondere für die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine mög- Man könnte allerdings die Ausstrahlung auf be-
lichst umfassende Kenntnis der Situation in den neuen stimmte Tageszeiten beschränken. Eine solche zeit-
lich befristete Schaltung wäre über bestehende Richt-
*) Vgl. Seite 1799 A funkstrecken sofort durchführbar. Allerdings würden
1820* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
auch hier Kosten in Höhe von ungefähr 1,5 Millio- verlaufene Geschichte der beiden Deutschlands in
nen DM anfallen. den zurückliegenden 40 Jahren vor dem Umschwung
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der besser zu durchleuchten — auch in ihren Nach-
Überweisung an die in der Tagesordnung angeführ- wehen!
ten Ausschüsse zu. Vor dem Hintergrund der beste- Im übrigen sollten wir uns vor jeder Hochnäsigkeit
henden Empfangsmöglichkeiten über 3-Sat und unter in Sachen Medienpolitik hüten. Auch im Westen gibt
den Gesichtspunkten Zeit und Kosten bedarf der An- es Seilschaften, wenn auch ganz anderer Machart als
trag, das Fernsehprogramm „DFF Neue Länderkette" die in der ehemaligen DDR. Auch im Westen ist die
in das Kabelnetz des Deutschen Bundestages einzu- schöne Ursprungsidee vom Rundfunk, der sich weder
speisen, einer sorgfältigen Abwägung des Für und dem Staat noch den Interessen Privater unterwirft,
Wider von Kosten und Nutzen in den Parlamentsaus- gründlich verkehrt worden. Die neuen Bundesländer
schüssen. robben sich langsam an die Bildung öffentlich-rechtli-
cher Sender heran. Eine neue, geordnete Medien-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Ein hochran landschaft ist bislang nicht einmal in Umrissen er-
giger Vertreter der ARD soll über die Arbeit von DFF- kennbar. Und die Verbeugungen, die etwa der Mini-
Aktuell so geurteilt haben: „In der Nachrichtenaus- sterpräsident von Mecklenburg-Vorpommern im Ge-
wahl dominieren die Themen aus dem Gebiet der frü- rangel um den Anschluß seines Landes an den NDR
heren DDR. Unterschwellige Kritik ist an der Tages- oder aber die Bildung eines Nordostdeutschen Rund-
ordnung. " Soweit dieses Zitat, das sein Verfasser ei- funks unter Mißachtung seines eigenen Landtages vor
gentlich abfällig meinte. Aber falls er recht hat, kann den medienpolitischen Einflüsterungen höchster
es uns gerade nicht schaden, die Programme der DFF- CDU-Kreise machte, nähren nicht gerade die Hoff-
Länderkette gelegentlich einzuschalten. Ich erwarte nung auf eine schnelle Blüte des unabhängigen, wirk-
weder Lobhudeleien auf die deutsche Einigung noch lich staatsfreien Rundfunks in den neuen Ländern.
Musterbeiträge, die uns auf Schritt und Tritt bewei- Geben wir also uns und der DFF-Länderkette eine
-
sen, wie gründlich sich die journalistische Arbeit des kleine Chance — und tun wir das schnell, solange es
DFF aus den Fesseln und Einfärbungen alter SED- sich noch lohnt.
Seilschaften befreit hat. Ich erwarte wohl aber Infor-
mationen und Eindrücke aus erster Hand über Alltag,
Heinz-Dieter Hackel (FDP): Ich habe den Antrag
Lebensgefühl und Probleme in den neuen Bundeslän-
dern. Wir Abgeordneten brauchen Anschauungs- nicht mit unterzeichnet, bin aber gleichwohl der Mei-
material jeglicher Art. Vielleicht ist es sogar span- nung, daß die Einspeisung der DFF-Länderkette in
nend, die Reste alter Kaderschulung im Medienbe- das Kabelnetz des Deutschen Bundestages wün-
schenswert ist. Es ist nach meiner Meinung wichtig,
reich noch ausfindig zu machen — selbst dort, wo
sicherlich der Wille zu personeller und inhaltlicher daß die Länderkette auch in das Kabelprogramm ein-
Neuorientierung vorherrscht. bezogen wird, damit die Abgeordneten aus den neuen
Bundesländern, aber auch aus den alten Bundeslän-
Es geht auch nicht darum, ein auslaufendes Modell dern die Möglichkeit erhalten, sich über die Probleme
noch eine Zeitlang abzustützen. Wir wissen, daß der im Osten unseres Landes zu informieren.
DFF schon seit 15. Dezember 1990 auf dem ersten
Kanal der ARD weichen mußte und daß die Länder- Die Einspeisung der DFF-Länderkette in das Kabel-
kette auf dem zweiten Kanal die Sendungen einstel- netz des Deutschen Bundestages ist allerdings deswe-
len soll, wenn sich in den neuen Ländern die jeweili- gen problematisch und mit einigem Aufwand verbun-
gen Rundfunkanstalten etabliert haben. Dennoch den, weil dieses Programm jedenfalls in Bonn — für
wird die Einspeisung der DFF-Sendungen in das Berlin gilt dies ausdrücklich nicht — nicht terrestrisch
Fernsehkabelnetz des Deutschen Bundestages für zu empfangen ist. Der Einwand ist erheblich, daß das
„politisch wünschenswert" gehalten. Wenn man das Heranführen des Programms über eine längere Kabel-
wirklich meint, muß man allerdings dafür sorgen, daß strecke mit erheblichen Kosten verbunden ist. Des-
es nicht bei frommen Wünschen bleibt! Deshalb tra- halb befürwortet meine Fraktion den Auftrag des Al-
gen und unterstützen wir Sozialdemokraten den An- testenrates an die Verwaltung, hierfür Lösungen zu
trag, und ich freue mich über die parteiübergreifende suchen, die mit einem vertretbaren Kostenrahmen die
Initiative. Die technischen und finanziellen Hürden umfassende Information der Abgeordneten sicherstel-
halte ich für überwindbar. Die Kosten sollen sich auf len können. Die Situation wäre vermutlich einfacher,
541 000 DM belaufen, wenn eine Verbindung über würde die DFF-Länderkette in einen freien Satelliten-
Hannover geschaltet wird. Denken Sie auch daran, kanal eingespeist. Dies hätte zudem den Vorteil, daß
liebe Kollegen und Kolleginnen, daß uns das Kabel- dieses Fernsehprogramm dadurch in allen Kabelnet-
netz ansonsten wahrhaft auch Überflüssigeres anbie- zen Westdeutschlands verfügbar sein könnte. Auch
tet als die vom DFF produzierten Länderprogramme! hier ist allerdings der Kostenrahmen noch nicht ab-
So können wir uns das holländische Fernsehen zu sehbar.
Gemüte führen, auch Video-Clips und Tutti Frutti. Das Informationsangebot der DFF-Länderkette
Nun werden sogleich einige von Ihnen dies alles kei- würde eine Komplettierung des Angebots der Kabel-
neswegs als überflüssig bezeichnen, aber ich verlange anlage des Deutschen Bundestages darstellen. Nach
ja auch gar nicht die Abschaffung all dieser Angebote, Meinung der FDP-Fraktion sollten die Probleme der
sondern lediglich ihre bescheidene Ergänzung durch neuen Bundesländer einen sachgerechten Nieder-
Programme, die die aktuelle Situation in den neuen schlag in der Alltagsarbeit des Deutschen Bundesta-
Bundesländern umfassend dokumentieren. Das wird ges finden. Soweit dies mit vertretbarem finanziellen
uns im übrigen auch helfen, die so unterschiedlich Aufwand zu erreichen ist, unterstützen wir das Anlie-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1821*
gen der Antragsteller. Dem Überweisungsvorschlag schlägige Sendungen aufzeichnen lassen und den In-
stimmen wir zu. teressenten auf Abruf oder mittels Kassette zur Verfü-
gung stellen. Damit würde auch eine Präjudizierung
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes für gleichgelagerte Fälle in der Zukunft vermieden.
minister des Innern: Der zur Beratung vorliegende
Antrag befaßt sich mit einer ausschließlich internen
Angelegenheit des Deutschen Bundestags. Eine rund-
funkrechtliche Kompetenz des Bundes ist nicht gege-
ben. Anlage 9
Der Veranstalter, dessen Programm in das hausin-
terne Verteilnetz des Deutschen Bundestages einge- Zu Protokoll gegebene Reden
speist werden soll, ist die gemeinsame Ländereinrich- zu Zusatztagesordnungspunkt 4
tung in Berlin. Adressat der rundfunkrechtlichen An- (Antrag betr. Maßnahmen zur Verbesserung der so
-zeige bei einer Einspeisung des Programms der DFF zialen Lage von Empfängerinnen und Empfängern
Länderkette in das Verteilnetz des Deutschen Bun- von Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeld in
destages ist die Landesanstalt für Rundfunk in Düssel- den neuen Bundesländern) *)
dorf.
Aus der Sicht der Bundesregierung möchte ich mich Julius Louven (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Fraktion
daher auf einige kurze Bemerkungen beschränken: wird den Antrag ablehnen. Der Vorruhestand ist ein
wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument, das
Die DFF-Länderkette ist aus den früheren Program- man nicht überstrapazieren darf, wie es mit dem vor-
men des Deutschen Fernsehfunks entstanden und liegenden Antrag geschieht.
wird gemäß Art. 36 des Einigungsvertrages von der
gemeinsamen Ländereinrichtung verantwortet. Die Der Vorruhestand spielt für die älteren Arbeitneh-
-
Einrichtung ist bis spätestens Ende dieses Jahres in mer und den Arbeitsmarkt in den fünf neuen Bundes-
die noch zu errichtenden Landesrundfunkanstalten in ländern eine wichtige Rolle. Rund 400 000 Personen
den neuen Ländern überzuführen, und die Einrich- sind in diese Frühpensionierungsregelung eingetre-
tung ist dann aufgelöst. Spätestens Ende 1991 wird ten. Für sie sind im Haushaltsplan des Bundes Ausga-
das Programm der DFF-Länderkette nicht mehr vor- ben in Höhe von 4,1 Milliarden DM vorgesehen. Es ist
handen sein. Es bestehen derzeit keine Anzeichen, heute absehbar, daß dieser Ansatz nicht ausreichen
daß die neuen Landesrundfunkanstalten das Pro- wird. Gerade heute haben wir mit der Absenkung des
gramm der DFF-Länderkette getrennt oder gemein- Zugangsalters für das Altersübergangsgeld weiter ge-
sam fortführen. handelt.
Nach den rundfunkrechtlichen Vorschriften des Die Zuverdienstgrenze der Vorruheständler von
Landes Nordrhein-Westfalen kann mit der Einspei- monatlich 130 DM auf mindestens 400 DM zu erhö-
sung des Programms frühestens zwei Monate nach hen, würde diesen Personenkreis gegenüber den Ar-
ihrer Anzeige an die Landesanstalt für Rundfunk in beitslosen und Empfängern von Altersübergangsgeld
Düsseldorf begonnen werden. Dies bedeutet, daß die besserstellen. Dafür gibt es angesichts der vergleich-
Einspeisung sich letztlich auf den Zeitraum von An- baren sozialen Lage der Betroffenen keinen Grund.
fang September — nach Beendigung der Sommer-
Durch den vorgezogenen Ruhestand für ältere Ar-
pause — bis längstens Ende Dezember — insgesamt
beitnehmer sollen für jüngere die Beschäftigungs-
auf höchstens vier Monate — erstrecken würde.
möglichkeiten erhalten bleiben. Mit Ihrem Vorschlag
Dem in der Begründung des Antrags geltend ge- der Zulassung von mehr Nebenbeschäftigungen
machten Informationsmangel über die Situation in würde dieses Ziel unterlaufen.
den neuen Bundesländern vermag ich nicht zuzustim-
men. Die Fernsehanstalten der ARD und das ZDF ha- Beim zweiten Ansatz schießt die PDS in ihrem Ent-
ben ihre Berichterstattung aus den neuen Bundeslän- schließungsantrag ein Eigentor. Die Modrow-Regie-
dern erheblich verstärkt. rung hat in die Vorruhestandsregelung hineinge-
schrieben, daß für Invalidenrentner das Vorruhe-
Hinzu kommen die Informationsmöglichkeiten standsgeld und die Invalidenrente zusammen
durch Presse und insbesondere Hörfunk. Ich möchte 1 000 DM im Monat nicht übersteigen dürfen.
die heutige Diskussion gerne zum Anlaß nehmen und
an dieser Stelle darauf hinweisen, daß der Deutsch- Diese Regelung hat doch sicher ihren Grund auch in
landfunk als erste Hörfunkanstalt unmittelbar nach der Finanzierung dieser Leistungen. Wenn Sie nun-
der Öffnung der Grenzen in den neuen Bundeslän- mehr — und ich sage: Gott sei Dank — außerhalb der
dern Korrespondentenplätze eingerichtet hat. Der Regierungsverantwortung stehen, fühlen Sie sich an
Deutschlandfunk verfügt heute im Gebiet der neuen Grundsätze der Solidität und Ehrlichkeit nicht mehr
Bundesländer über die meisten Studio- und Korre- gebunden.
spondentenplätze im Hörfunkbereich. Ich sage Ihnen: Populistische Allüren haben kurze
Um dem Informationsbedürfnis der interessierten Beine. Nur überzeugende Konzepte, die gerecht und
Kollegen dieses Hohen Hauses gerecht zu werden, finanziell abgesichert sind, tragen weiter. Nach die-
ließe sich auch ein anderer — bestimmt auch erheb- sen Grundsätzen handeln wir. Ihren Antrag lehnen
lich kostengünstigerer — Weg beschreiten. Das wir ab.
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
könnte Informationssendungen und sonstige ein *) Vgl. Seite 1801B
1822* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Eva Pohl (FDP): Auf den ersten Blick mag dieser Renate Jäger (SPD): Die PDS/Linke Liste hat auf
Antrag vertretbar, möglicherweise sogar sozial er- die Schnelle einen Antrag eingebracht, der im zustän-
scheinen. Blickt man jedoch genauer hin, so wird der digen Ausschuß des Bundestages sicher seine not-
Pferdefuß sehr deutlich. Vergegenwärtigen wir uns wendige Beratung finden wird.
doch bitte noch einmal den Sinn und Zweck dieser
Regelungen, heißen sie nun Vorruhestand — oder Al- Auf den ersten Blick ist jedoch jetzt schon sichtbar,
tersübergangsgeld. daß er die soziale Gerechtigkeit nicht mit der objekti-
Ziel dieser Maßnahmen war und ist: Erstens. Älte- ven Notwendigkeit der Entlastung des Arbeits-
marktes verbindet. Dies ist aber angesichts der Lage
ren Arbeitnehmern, die auf Grund des durch über 40
in den neuen Ländern unerläßlich.
Jahre Mißwirtschaft notwendig werdenden wirt-
schaftlichen Umbruchs ihre Arbeitsstelle verlieren Unseres Erachtens ist es dringend notwendig, für
und auf Grund ihres Alters geringe Chancen haben, in die Geburtsjahrgänge 1935 bis 1939, vielleicht sogar
absehbarer Zeit einen neuen Arbeitsplatz zu erhalten, bis 1940, einen Vorruhestand zu schaffen, der diesen
soll die Möglichkeit geboten werden, vorzeitig in den Frauen und Männern die Arbeitslosigkeit als letzte
Ruhestand gehen zu können, ohne längere Zeit in Stufe des Erwerbslebens erspart. Nach unseren Vor-
Arbeitslosigkeit verharren zu müssen. stellungen könnten heute 600 000 ältere Arbeitneh-
Ich weiß, daß dieser Abschied vom Arbeitsleben merinnen und Arbeitnehmer von diesem Los befreit
kaum jemandem leicht fällt; ich kann das nur zu gut werden.
verstehen. Ich weiß aber auch, daß viele eine solche
Regelung längerer Arbeitslosigkeit vorziehen. Inso- Die Bundesregierung setzt dagegen auf eine Grö-
fern handelt es sich um eine sozialverträgliche Rege- ßenordnung von nur 200 000 bei einer finanziellen
lung. Ausstattung in der Größenordnung des Arbeitslosen-
Zweitens. Ziel dieser Regelung — des Altersüber- geldes. Würde die Bundesregierung unseren Vorstel-
gangsgeldes — ist es aber auch, die Beschäftigungs- lungen folgen, könnte dies die Versorgungsängste
möglichkeiten für jüngere Arbeitnehmer - zu verbes- vieler älterer Bürger beseitigen.
sern, das ist jetzt besonders dringlich. Da die PDS/Linke Liste auf dem Gebiet zu Arbeits-
Wer beide Ziele bejaht — und beide gehören zu- markt- und sozialen Fragen recht viele Anträge ein-
sammen —, der darf aber das von mir zuletzt ge- bringt, wäre zu erwarten, daß sie an der Arbeit dieses
nannte Ziel nicht durch die erweiterte Zulassung von Ausschusses besonders interessiert ist. Obwohl ich
Nebenbeschäftigungen wieder selbst in Frage stellen. Verständnis für die Schwierigkeit habe, mit einer zah-
Dies würde von vielen Bürgern, insbesondere denen, lenmäßig kleinen Gruppe alle Ausschußberatungen
die in den neuen Bundesländern arbeitslos sind, nicht regelmäßig zu besetzen, verstehe ich an dieser Stelle
verstanden werden. Darüber hinaus würde Ihr Vor- die Prioritätensetzung nicht, denn ausgerechnet in
schlag zu einer Besserstellung der Bezieher von Vor- diesem Ausschuß ist die PDS/Linke Liste meist nicht
ruhestands-/Altersübergangsgeld gegenüber Ar- anwesend und kann damit ihre Vorstellungen hier
beitslosen führen. Ich meine, man sollte und kann hier auch nicht einbringen.
nicht mit zweierlei Maß messen.
Im übrigen darf ich daran erinnern, daß wir vor
wenigen Stunden das AFG-Änderungsgesetz mit ei- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Das Anliegen
ner Absenkung der Altersgrenzen beim Altersüber- unseres Antrages zielt darauf, Entscheidungen zu in-
gangsgeld auf das 55. Lebensjahr verabschiedet ha- itiieren, die die soziale Lage von Frauen und Män-
ben. Eine so sinnvolle und notwendige Regelung nern, die in den neuen Bundesländern Vorruhe-
würde konterkariert, wenn wir Ihrem Antrag folgen stands- bzw. Altersübergangsgeld empfangen, zu er
würden. leichtern. Wir halten dies für gerechtfertigt, weil der
Des weiteren ist auch daran zu erinnern, daß mit der Vorruhestand keineswegs für alle das erstrebens-
Steigerung der Lohnersatzleistungen entsprechend werte Ziel ist. Obschon eine Reihe Bürgerinnen und
der Einkommensentwicklung — und die Steigerungs- Bürger in diesem Alter den Vorruhestand wegen sei-
raten in diesem Jahr sind beachtlich und werden es im ner relativen sozialen Sicherung bejahen, bringt er für
nächsten Jahr mindestens in der gleichen Höhe alle diejenigen, deren Vorruhestand in erster Linie
sein — auch dieser Personenkreis an der Lohndyna- Ausdruck ihrer erzwungenen verdeckten Arbeitslo-
mik teilhat. sigkeit ist, neben materiellen Einbußen eine Vielzahl
psychischer Belastungen mit sich. Diese aus dem ab-
Was die Parallelität der Leistungen von Invaliden-
rupten und endgültigen Ausstieg aus dem Berufsle-
rente und Vorruhestands-/Altersübergangsgeld an-
ben herrührenden Belastungen dürfen unserer Mei-
belangt, so ist schon von Vorrednern auf die damit
nung nach nicht durch „kleinliche" Beschneidungen
verbundene Problematik hingewiesen worden. Auch
von finanziellen Bezügen verstärkt werden, die aus
ich habe große Zweifel, ob eine solche parallele Lei- dem Versuch zielen, sich irgendwie noch nützlich zu
stungsgewährung tatsächlich gerechtfertigt ist.
machen. Die Chancen dazu sind ohnehin durch die
Alles in allem: Mit Ihrem Antrag werden falsche Si- prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt gering.
gnale gesetzt und Erwartungen geweckt, die in der
jetzigen Situation nicht realisierbar sind. Es wird hier Unser Vorschlag, die Zuverdienstgrenze auf
nach der Melodie des Rattenfängers von Hameln ver- 110 DM pro Woche zu erhöhen, geht zudem konform
fahren. Aus den genannten Gründen ist dieser Antrag mit den sogenannten geringfügigen Beschäftigungs-
kein Antrag zum sozialen Frieden, und wir werden ihn verhältnissen bis 470 DM bzw. 15 Wochenstunden,
deshalb nicht unterstützen. die dann bevorzugt von dieser Personengruppe ge-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1823*
gust vorgesehene Neuregelung für die Feststellung beitsplatzes eintreten können. So heißt es beschöni-
der anzurechnenden Einkommen auch rückwirkend gend in einer Pressemeldung des Bundesministers für
angewandt werden kann oder soll. Wir werden bei Bildung und Wissenschaft zum Kabinettsbeschluß.
dieser Beratung streng darauf zu achten haben, ob Mitte April 1991 gab es bereits 690 000 Arbeitslose
dies überhaupt durchführbar ist oder ob nicht die ge- und über 2 Millionen Empfänger von Kurzarbeiter-
rade von mir gelobte Leistungsfähigkeit der neuen geld in den neuen Ländern. Der Präsident der Bundes-
Ausbildungsverwaltung dann überfordert und damit anstalt für Arbeit verrät uns in seiner jüngsten Arbeits-
untergraben wird. marktstatistik nicht, wie viele Erwerbspersonen in
den neuen Ländern — vor allem Frauen — bereits in
Doris Odendahl (SPD): Das individuelle Ausbil die „Stille Rese rve" abgedrängt worden sind. Ab
dungsförderungsrecht in der Bundesrepublik zeich- Mitte des Jahres droht vielen das Ende ihrer „Warte-
net sich immer mehr durch das Prinzip „klarstellende schleife". In dieser Situation beabsichtigt die Bundes-
Verwirrung" aus. Gerade für die Auszubildenden in regierung, die auch psychologisch diskriminierende
den neuen Ländern und die neu eingerichteten Aus- Sonderregelung bei der Einkommensanrechnung erst
bildungsförderungsämter stellen die komplizierte ab 1. August für nach dem 31. Juli beginnende Bewil-
Mate ri e als solche und die einheitsbedingten Über- ligungszeiträume in Kraft setzen zu lassen. Wir for-
gangsbestimmungen einen gravierenden Unsicher- dern die rückwirkende Aufhebung des § 24 Abs. 1 a
heitsfaktor dar: Welche Bestimmung ist zu ihrem Vor- BAföG bereits zum 1. Januar 1991. Die Ausbildungs-
teil, durch welche werden sie gegenüber den Betrof- förderungsämter in den neuen Ländern haben dem
fenen in den alten Ländern benachteiligt? Hinzu Bundesminister für Bildung und Wissenschaft einhel-
kommt: Dieser Gesetzentwurf ist mehr eine bürokra- lig erklärt, daß sie hierzu administrativ in der Lage
tische Spielerei denn aus der Einsicht in notwendiges wären und daß sie dies für notwendig halten. Die SPD
Handeln geboren. Die tatsächlichen Probleme der hätte auch keine Einwände erhoben, wenn entspre-
Auszubildenden in den neuen Ländern werden nicht chend bereits im Gesetzesvollzug gehandelt worden
-
ernsthaft angepackt. Diese dritte BAföG-Novelle in- wäre.
nerhalb eines Jahres, nicht mitgerechnet die Über-
gangsbestimmungen im Einigungsvertrag, verstellt In der ehemaligen DDR gab es Ausbildungsbeihil-
geradezu den Blick auf die trostlose Lage vieler Schü- fen für Schüler der EOS ab Klasse 11. Ab 1. Januar
lerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten — 1991 wurden diese Beihilfen durch das sehr viel nied-
in den neuen Ländern mehr noch als in den alten. rigere Kindergeld ersetzt. Ergänzende Schülerförde-
rungsgesetze konnten die neuen Länder wegen feh-
Wenn Sie sich die Internate und Studentenwohn- lender Finanz- und Verwaltungskraft noch nicht er-
heime in Dresden, Halle und überall — ich zitiere lassen. In der alten Bundesrepublik wurde die in den
Art. 1 Nr. 4 des Gesetzentwurfs — „in dem in § 12 siebziger Jahren mit größter Mühe gehaltene Bundes-
Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a bezeichneten Gebiet" anse- schülerförderung von dieser Bundesregierung 1983
hen, werden Sie erschrecken über die vielfach völlig abgeschafft. Unter dem Stichwort „Voneinander ler-
unzureichenden Wohnbedingungen in den neuen nen" wäre die Einigung eine gute Gelegenheit für den
Ländern. Der Einwand, dies habe nichts mit der Bund gewesen, die Schülerförderung jedenfalls in
14. Novelle zu tun, ist leicht zu widerlegen: Die Tat- dem früheren Umfang wieder aufzunehmen. Dies for-
sache, daß viele Studierende in Sechsbettzimmern mit dert die SPD nach wie vor, auch zur namhaften Entla-
einer einzigen Kochnische und bei tropfendem Was- stung der Sozialhilfeträger! Im Haushaltsentwurf der
serhahn sich auf eine wissenschaftliche Berufstätig- Bundesregierung sind für das BAföG 2,75 Milliarden
keit vorbereiten sollen, führt zu einer Flucht in eine DM Ausgaben und über 340 Millionen DM Rückflüsse
Studentenbude. Auf dem durchaus schon schwarzen aus unseligen Darlehen veranschlagt. Nach unserer
Wohnungsmarkt werden teilweise bereits Mieten ver- Schätzung wären alle unsere Forderungen ohne grö-
langt, die im Westen nicht unverschämter sein kön- ßere Erhöhung des Ansatzes im Bundeshaushalt fi-
nen. Dies bedeutet, daß die Differenzierung der Be- nanzierbar. Daß die Bundesregierung diese Einschät-
darfssätze nach der Lage der besuchten Ausbildungs- zung offenbar teilt, ist daraus ersichtlich, daß sie plant,
stätte nicht mehr gerechtfertigt ist. Da auch die Le- ihre „Lehrstellenhilfe" in diesem Jahr aus dem Pla-
benshaltungskosten allgemein in den neuen Ländern fond des Einzelplans 31 zu finanzieren.
sich rasch an das Preisniveau in den alten Ländern
angepaßt haben, fordert die SPD die Beseitigung der
Das Ausbildungsförderungsrecht muß nach den
Differenzen bei den Bedarfssätzen. Die Herstellung
Vorstellungen der SPD alsbald grundlegend über-
gleicher Lebens- und Arbeitsbedingungen setzt die
prüft werden. Die 12. Novelle war lediglich ein erster
Schaffung gleichen Rechts für alle voraus. Mit dieser
Schritt. Einer der Prüfpunkte, zu dem wir auch gern
Forderung weiß sich die SPD einig mit dem Sächsi-
die Auffassung des BAföG-Beirats hören würden, be-
schen Landtag, dessen Ausschuß für Bildung und Wis-
senschaft am 18. April 1991 für einheitliche Grundbe- trifft die Frage, ob das BAföG „europafit" ist. Die Bun-
desregierung hat einem Urteil des Europäischen Ge-
darfssätze und die schrittweise Anpassung des Miet-
zuschlags votiert hat. richtshofs folgend in der 14. Novelle vorgesehen, daß
in bestimmtem Umfang nach EG-Recht bevorrech-
Der Kern des Gesetzentwurfs der Bundesregierung tigte ausländische Auszubildende bei einer Ausbil-
und der Koalitionsfraktionen bet rifft die Schaffung der dung im Heimatland gefördert werden können. Dies
Möglichkeit, auf besonderen Antrag jetzt auch in den wirft grundsätzliche Fragen nach einer Harmonisie-
neuen Ländern bei der Anrechnung von Eltern- bzw. rung der Ausbildungsförderungssysteme in den Mit-
Ehegatteneinkommen Einkommensrückgänge zu be- gliedstaaten der EG auf. Wir weisen darauf hin, daß
rücksichtigen, wie sie z. B. durch den Verlust des Ar weitere Ungereimtheiten, etwa zwischen EG-Aufent-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1825*
Für im Beitrittsgebiet gelegene Grundstücke und tere Benachteiligung stellte die Hochrechnung der
Betriebsvermögen stehen kurzfristig keine geeigne- drei letzten Monate von 1990 auf das gesamte Jahr
ten Bemessungsgrundlagen zur Verfügung. Für eine 1990 dar, da in diesen Monaten die Einkommenssitua-
Übergangszeit bis zum 31. Juli 1992 werden sie daher tion u. a. durch Gewährung von Sozialzuschlägen in
von der Anrechnung des Vermögens des Auszubil- sehr vielen Fällen günstiger als im Jahresdurchschnitt
denden ausgenommen. 1990 war. Ich verweise darauf, daß die Bundesregie-
Im Bereich der Anrechnung des Vermögens der El- rung für die unsinnige Regelung vom Dezember 1990
tern enthält der Gesetzentwurf eine Klarstellung: Eine und die mit ihr und ihrer Rückgängigmachung ver-
Veranlagung zur Vermögensteuer im vorletzten Ka- bundenen hohen personellen und finanziellen Auf-
lenderjahr wird aus Gleichbehandlungsgründen nur wendungen und nicht zuletzt für die Verärgerung und
dann berücksichtigt, wenn sie nach dem Vermögen- Demütigung der Betroffenen verantwortlich zu ma-
steuergesetz der Bundesrepublik Deutschland er- chen ist.
folgte. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird die
Eine Änderung der durch den Einigungsvertrag Beseitigung des entstandenen Dilemmas wieder den
vorgenommenen Absenkung der Bedarfssätze in den Beteiligten aufgebürdet, indem die Auszubildenden
neuen Ländern ist im Gesetzentwurf nicht vorgese- einen besonderen Antrag stellen müssen, wenn sie
hen. Die Absenkung ist nach Auffassung der Bundes- bzw. ihre Eltern von der Aktualisierungsmöglichkeit
regierung weiterhin notwendig, um den gegenwärtig Gebrauch machen wollen.
noch bestehenden erheblichen Unterschieden in den Für einen Übergangszeitraum von mehreren Jahren
Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten, insbeson- sollte den Antragstellern aus den neuen Ländern ge-
dere den Mietkosten und den niedrigeren Erwerbs- nerell freigestellt werden, einen von zwei oder mehr
einkommen in den neuen Ländern Rechnung zu tra- möglichen Berechnungszeiträumen zu wählen.
gen. Eine Anpassung der Bedarfssätze wird in dem In Übereinstimmung mit dem Studentenwerk und
Maße erfolgen, wie sich diese Grunddaten verän- Studentenverbänden fordern wir gleiche BAföG-
dern. -
Sätze in alten und neuen Bundesländern und die Auf-
Lassen Sie mich abschließend noch die weiteren im nahme einer entsprechenden Regelung in das Ände-
Gesetzentwurf enthaltenen Änderungen kurz skizzie- rungsgesetz.
ren: Im Anschluß an ein entsprechendes Urteil des
Europäischen Gerichtshofes vom November 1990
wird es ermöglicht, nach EG-Recht bevorrechtigte
ausländische Auszubildende künftig auch bei einer
Anlage 11
Ausbildung in ihrem Heimatland zu fördern. Ferner
werden in der Rechtsprechung entstandene Zweifel Antwort
über die sachlich-instantielle Zuständigkeit der Ämter der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
für Ausbildungsförderung ausgeräumt; die bundes- auf die Fragen der Abgeordneten Dr. Christine Lu-
rechtlichen Vorgaben für die Organisationsregelun- cyga (SPD) (Drucksache 12/488 Fragen 1 und 2):
gen der Länder lassen es zu, daß andere als die kom-
Ist der Bundesregierung bekannt, daß den Polikliniken auf
munalen Ämter die Aufgaben der Auslandsförderung dem Gebiet der ehemaligen DDR auf Grund mangelnder finan-
wahrnehmen. zieller Handlungsfähigkeit der Kommunen vorzeitige Schlie-
ßung droht obwohl andererseits die Anzahl freipraktizierender
Die Bundesregierung begrüßt, daß die Koalitions-
niedergelassener Ärzte noch längst keine ausreichende medizi-
fraktionen den Entwurf eines 14. BAföG-Änderungs- nische Versorgung gewährleisten kann?
gesetzes eingebracht und damit ermöglicht haben,
Mit welchem Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung die
daß diese Änderungen noch rechtzeitig zum Beginn Leistungsfähigkeit derjenigen Polikliniken zu sichern, die in
der neuen Bewilligungszeiträume im Herbst 1991 in dem vom Einigungsvertrag vorgesehenen Übergangszeitraum
Kraft treten können. von fünf Jahren zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung
der Bevölkerung notwendig sind?
Die Bundesregierung sieht deshalb keinen Anlaß, DM zur Verfügung gestellt. Sie wurde über das
zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung der Komitee Cap Anamur — Deutsche Notärzte e. V.
Bevölkerung bestimmte Polikliniken finanziell abzu- abgewickelt. 1990 waren es bereits 1,2 Millionen
sichern. DM.
— Über das Auswärtige Amt wurden dem IKRK 1991
(Stand 30. Ap ril 1991) 300 000 DM für humanitäre
Hilfsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. 1990 er-
Anlage 12 hielten das IKRK 1 Million DM und der UNHCR
Antwort 800 000 DM für Flüchtlingshilfe.
des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fra- Darüber hinaus wird die Bundesregierung ihre Ver-
gen der Abgeordneten Dorle Marx (SPD) (Drucksa- pflichtung zur humanitären Hilfe vor allem auch im
che 12/488 Fragen 3 und 4): Rahmen der Vereinten Nationen und der Europäi-
schen Gemeinschaft erfüllen. Letztere stellte bisher
Trifft es zu, daß im Rahmen der Vergabe von Forschungsmit-
teln an Universitäten in den neuen Ländern anhand eines spe- für 1991 (Stand 30. April 1991) 3 Millionen ECU bereit.
ziellen Fragenkatalogs Informationen über Hochschulangehö- In der Europäischen Gemeinschaft wurde des weite-
ri ge gesammelt werden, wobei neben fachlichen Qualifikatio- ren ein Nahrungsmittelhilfe-Sonderprogramm für
nen unter anderem die bisher vertretene politische Anschauung, Afrika südlich der Sahara über 440 Millionen DM
Verhalten gegenüber ideologischen Abweichlern und Art und
Enge der Bindungen zur SED erfragt werden? (400 000 t) beschlossen. In seinem Rahmen sind für
Somalia 20 000 t vorgesehen.
Falls ja, auf welche Weise werden solche Informationen erho-
ben, und erhalten die Betroffenen von den über sie eingeholten Die Europäische Gemeinschaft wird einen bei den
Auskünften Kenntnis?
Vereinten Nationen in Vorbereitung befindlichen hu-
manitären Hilfsplan unterstützen. Auf Vorschlag der
In den Verfahrensregelungen der Förderung der Bundesregierung soll die EG-Präsidentschaft die Or-
Drittmittelforschung (Projektförderung) des Bundes- ganisation für Afrikanische Einheit (OAU) zu einer
ministers für Forschung und Technologie in den aktiven Rolle bei der politischen Konfliktlösung in
neuen Bundesländern ist der erwähnte Fragenkatalog Somalia auffordern.
nicht enthalten.
Wenn die Rahmenbedingungen in Somalia Aus-
Auch nach dem Ergebnis von Nachfragen in Förder- sichten auf entwicklungspolitische Wirksamkeit ge-
referaten ist ein Fragenkatalog im Sinne der Anfrage eigneter Vorhaben bieten, wird die Bundesregierung
nicht bekannt. Entsprechendes gilt für den Förderbe- die Entwicklungszusammenarbeit mit entsprechen-
reich des Bundesministers für Bildung und Wissen- den Maßnahmen wieder aufnehmen.
schaft.
Zu Frage 6:
Gegenwärtig besteht in Somalia keine landesweite
Anlage 13 Regierungsgewalt. Die Bundesregierung ist jedoch
bereit, auf Wunsch mit Vertretern der verschiedenen
Antwort somalischen Gruppierungen auf Arbeitsebene Infor-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Peter Repnik auf die mationen und Meinungen auszutauschen.
Fragen des Abgeordneten Lothar Fischer (Homburg)
(SPD) (Drucksache 12/488 Fragen 5 und 6):
Wann und unter welchen Bedingungen gedenkt die Bundes-
regierung die Entwicklungshilfe für Somalia wieder aufzuneh-
men? Anlage 14
Wird die Bundesregierung mit der somalischen Übergangsre- Antwort
gierung Kontakt aufnehmen, um die erforderlichen Informatio-
nen darüber zu erhalten, in welchen Bereichen nunmehr Ent- des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Fragen
wicklungshilfe vorrangig zu leisten ist? des Abgeordneten Norbert Eimer (Fürth) (FDP)
(Drucksache 12/488 Fragen 7 und 8):
Zu Frage 5: Wie hoch ist die Klagehäufigkeit in der Bundesrepublik
Die Bundesregierung sieht gegenwärtig keine Deutschland im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern
wie England, Frankreich, Italien, die Niederlande?
Möglichkeiten für eine reguläre Entwicklungszusam-
menarbeit mit Somalia, da wegen des Bürgerkrieges Wie teilen sich die Punkte, um die geklagt wird, prozentual
auf?
und der weiterhin anhaltenden Auseinandersetzun-
gen die für Entwicklungszusammenarbeit erforderli-
chen Strukturen nicht bestehen. Zu Frage 7:
In Übereinstimmung mit der Auffassung des Aus- Im Jahre 1988 — die Zahlen für 1989 sind für die
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit des Justizstatistik noch nicht aufbereitet, für das Jahr 1990
Deutschen Bundestages wird die Bundesregierung liegen sie noch nicht vor — betrug der Geschäftsanfall
sich vorerst ausschließlich auf humanitäre und Nah- an erstinstanzlichen Zivilsachen in den Altländern der
rungsmittelhilfe konzentrieren. Bundesrepublik Deutschland 1 633 093 Sachen.
— Für Nahrungsmittelhilfe wurden bisher durch das Es entfielen auf je 1 000 Einwohner rund 26,5 Sa-
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen- chen. In diesen Zahlen ist der Geschäftsanfall in
arbeit 1991 (Stand 30. April 1991) ca. 2 Millionen Mahnsachen, in Familiensachen und in Sachen der
1828* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Zu Frage 12: sehen, wird sich erst nach erfolgter Entscheidung be-
Die Entwicklung des Gewehrs G11 erfolgte im Auf- schreiben lassen. Dasselbe gilt für die Frage mögli-
trag der Bundeswehr und wurde in vollem Umfang mit cherweise zu räumender Liegenschaften.
Haushaltsmitteln des Bundes finanziert.
Die Entwicklungsverträge sind durch das BWB hin-
sichtlich des Preises geprüft und für angemessen be-
Anlage 17
funden worden. Daß die Beschaffung des G-11 Ge-
wehres vorläufig nicht eingeleitet werden kann, liegt Antwort
auch daran, daß der EPl 14 drastisch reduziert worden des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen
ist und im Zuge einer Priorisierung die Beschaffung der Abgeordneten Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD)
des G-11 Gewehrs zurückgestellt werden mußte. (Drucksache 12/488 Fragen 17 und 18):
Als Auftragnehmer verfügt die Firma Heckler & Warum wurde seit dem Golfkrieg in der Area 7 für die Staffel
Koch auch nach dem Verkauf über das Recht zur Ver- der schnellen Eingreiftruppe eine unbefristete Sondergenehmi-
gabe von Lizenzen. Sie muß sich jedoch mit ihrem gung für Tiefflugübungen erteilt, und wie wird die damit ver-
bundene Beschränkung auf 700 Flugstunden kontrolliert?
Vertragspartner — dem Bundesamt für Wehrtechnik
und Beschaffung — ins Benehmen setzen, bevor Wann wird die Bundesregierung ihr Versprechen, daß von
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages und der Bevölke-
Rechte oder Verfahren zum Nachbau des Gewehrs rung begrüßt worden ist, einlösen, sowohl Tiefflüge als auch
G11 ins Ausland vergeben werden. Die Vergabe kann Angriffsübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik
untersagt werden. Deutschland einzustellen, und was gedenkt die Bundesregie-
rung angesichts der gewonnenen Souveränitätsrechte zu tun,
Für den Export von Gewehren oder Lizenzen zu daß sich die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten
ihrer Herstellung gelten darüber hinaus unverändert bzw. den bundesrepublikanischen Luftraum benutzenden
die Regelungen des Kriegswaffenkontroll- und Au- NATO-Luftstreitkräfte ebenfalls an ein Verbot von Tiefflügen
halten?
ßenwirtschaftsrechtes.
-
Zu Frage 17:
Aus Gründen der Aufrechterhaltung der Einsatzfä-
higkeit besteht zur Zeit eine Ausnahmegenehmigung
Anlage 16
für eine Staffel mit ca. 20 Alpha Jets aus Oldenburg,
Antwort die zur schnellen Eingreifreserve der NATO — AMF
— gehört. Der Einsatz dieser AMF-Staffel in der Tür-
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen
kei hat gezeigt, daß eine realitätsnahe Ausbildung der
der Abgeordneten Edelgard Bulmahn (SPD) (Druck-
Flugzeugführer im Tiefflug unbedingt notwendig
sache 12/488 Fragen 15 und 16) :
ist.
Treffen die Berichte der Zeitung „DIE WELT" vom 6. und
7. Mai 1991 zu, denen zufolge die Bundesregierung plant, in Die AMF-Staffel hat seit Erteilung der Ausnahme-
Niedersachsen 17 Standorte ganz bzw. 5 Standorte zu mehr als genehmigung keine Übungsflüge in der Area 7
50 aufzugeben, und in welchem Zeitraum sollen die Schlie- durchgeführt.
ßungen bzw. Reduzierungen an den jeweiligen Standorten ab-
gewickelt werden? Die Bundesregierung läßt die Kontrolle der mit der
Welche Auswirkungen hat das im Bundesministerium der Ausnahmegenehmigung verbundenen Beschrän-
Verteidigung am 2. Mai 1991 erörterte Stationierungskonzept kung auf 700 Flugstunden mittels Addition der von
auf die jeweilige Zahl der Soldaten und Zivilbediensteten der dem Verband gemeldeten Stunden durchführen.
Bundeswehr in Hannover sowie den angrenzenden Gemeinden,
und welche Liegenschaften beabsichtigt die Bundeswehr je-
weils am Standort Hannover sowie den angrenzenden Gemein- Zu Frage 18:
den zu räumen?
Die Bundesregierung hat kein Versprechen, „so-
wohl Tiefflüge als auch Angriffsübungen über dem
Zu Frage 15: Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einzustel-
Die Berichte in „Die Welt" vom 6. und 7. Mai treffen len", gegeben.
nicht zu, da dem Bundesminister der Verteidigung die Die Bundesregierung hat kein generelles Tiefflug-
Detailplanungen zur Truppenstationierung noch verbot gegenüber den „in der Bundesrepublik
nicht vorgetragen wurden und er sie demzufolge auch Deutschland stationierten bzw. den bundesrepublika-
nicht genehmigt haben kann. nischen Luftraum benutzenden NATO-Luftstreitkräf-
Von einer Planung der Bundesregierung kann da- ten" ausgesprochen.
her zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein; eine
Erörterung von Zeitvorstellungen erübrigt sich da-
her.
Anlage 18
Zu Frage 16: Antwort
Die noch zu treffenden Entscheidungen zu den Sta- des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die
tionierungen der Truppenteile sowie der Bundes- Frage des Abgeordneten Hans Joachim Otto (Frank-
-
wehrverwaltung werden maßgebliche Auswirkungen furt) (FDP) (Drucksache 12/488 Frage 19):
auf die Zahl der Soldaten und Zivilbediensteten der Wie viele Unfälle und mit welchen Folgen wurden 1990 von
Bundeswehr in Hannover sowie den angrenzenden Verkehrsteilnehmern mit einem Blutalkoholgehalt zwischen 0,5
Gemeinden haben. Wie diese allerdings konkret aus und 0,79 Promille verschuldet?
1830* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
B 49 zwischen Limburg/Ahlbach und Wetzlar im Zu- (FDP) (Drucksache 12/488 Frage 28):
sammenhang mit der Zunahme des Ost-West-Ver- Welche Maßnahmen müssen nach Ansicht der Bundesregie-
kehrs ein erhöhtes Gewicht zukommt. Die Bundesre- rung ergriffen werden, um die immer länger werdenden Lauf-
zeiten im Postzeitungsdienst wieder zu verkürzen?
gierung beabsichtigt, bei der Fortschreibung des Be-
darfsplanes für die Bundesfernstraßen den 4streifigen
Zur Verbesserung der Laufzeiten im Postzeitungs-
Ausbau der B 49 zwischen Ahlbach und Wetzlar mit
dienst sind von der Deutschen Bundespost Postdienst
dem Ziel einer vordringlichen Einstufung neu zu be-
bereits zahlreiche Maßnahmen durchgeführt worden,
werten. Über eine möglicherweise günstigere Einstu-
wie Erweiterung des Nachtluftpostnetzes, Umleitung
fung der B 49 entscheidet der Deutsche Bundestag.
von Sendungsströmen, Änderung der Briefabgangs
organisation, Einsatz zusätzlicher Bahn- und Straßen-
posten, Zusatzschichten mit Überstunden und auch
Zu Frage 21:
die Anwerbung von zusätzlichem Personal.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß entspre- Die vielfältigen zentralen, regionalen und örtlichen
chend der Einstufung des Projektes im fortgeschriebe- Maßnahmen werden durch ein Maßnahmenbündel
nen Bedarfsplan Planung und spätere Baudurchfüh- einer breit angelegten Qualitätsoffensive verstärkt,
rung durch das Land Hessen als Auftragsverwaltung die von der Generaldirektion Postdienst am 13. Mai
weitergeführt werden. Das Hessische Ministerium für 1991 eigens bundesweit gestartet wurde. Eine einge-
Wirtschaft, Verkehr und Technologie ist bisher wegen richtete Zentralstelle trifft durch die täglich eingehen-
der Auswirkungen der Koalitionsvereinbarung auf den Lageinformationen von den betrieblichen Brenn-
den Ausbau der B 49 nicht an das Bundesverkehrsmi- punktstellen sofort und effektiv Entscheidungen, um
nisterium herangetreten. aufkommende Engpässe kurzfristig zu beseitigen und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1831*
präventive Maßnahmen zur Sicherung der Qualität Sollte das Schlesiertreffen auf dem Annaberg zustande kom-
men, welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen,
einzuleiten. um in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit unmißver-
Zur langfristigen Sicherung und zum Ausbau der ständlich die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegen-
über diesem Treffen zum Ausdruck zu bringen?
Qualität der postalischen Dienstleistungen werden
vom Unternehmen Deutsche Bundespost Postdienst
neue Konzepte für den Brief- und Frachtdienst erar- Herr Abgeordneter, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich
beitet. Ihre Fragen zusammen beantworten.
Nach Kenntnis der Bundesregierung liegen die or-
ganisatorischen Vorbereitungen des Treffens in den
Händen von Personen, die in Oberschlesien ansässig
Anlage 22 sind.
Antwort Bitten um eine Bezuschussung der Kosten für das
Treffen, die der Bundesregierung übermittelt wurden,
des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des ist nicht entsprochen worden.
Abgeordneten Ortwin Lowack (CDU/CSU) (Drucksa-
che 12/488 Frage 31): Hinsichtlich der Haltung der Bundesregierung ge-
Was spricht eigentlich dagegen, in Verhandlungen mit Un-
genüber diesem Treffen verweise ich Sie auf meine
garn und der CSFR langfristig eine Mitgliedschaft in der NATO Antwort auf die Fragen des Kollegen Sielaff.
anzustreben und diese Länder bereits jetzt mit den parlamenta-
rischen Gremien der NATO zusammenarbeiten zu lassen?
rungen haben noch keine Dienstzeitregelungen zum der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Renten-
Inhalt. Die Tarifvertragsparteien haben allerdings versicherung aufbringen müssen.
vereinbart, daß bei den vorhandenen Angestellten die Die Beitragsrückerstattung an die Künstler in den
erstmalige Zuordnung zu diesen Lebensaltersstufen neuen Bundesländern soll aufgrund des Einigungs-
wie bei einer Neueinstellung vollzogen wird. Diese vertrages von der Stiftung Kulturfonds vorgenommen
Regelung des BAT-O ist identisch mit der im BAT bei werden. Neben den Einnahmen aus der Künstlersozi-
Neueinstellungen vorgesehenen. Die Gleichstellung alabgabe erhält die Stiftung Kulturfonds Bundesmittel
mit Neueinstellungen ist folgerichtig, weil der betrof- in Höhe von 20 Millionen DM, um u. a. auch den Au-
fene Personenkreis erstmals in das neue System der toren in den neuen Bundesländern entsprechend den
Vergütung nach dem BAT-O einbezogen wird. Auf- Bestimmungen des Einigungsvertrages ihre Beiträge
grund der bisher geltenden völlig unterschiedlichen zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung
Vergütungssysteme konnten keine Bewährungs- oder bis zur Hälfte erstatten zu können.
Tätigkeitszeiten vor Inkrafttreten des Tarifvertrags
berücksichtigt werden. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche-
rung werden wie bei den Autoren in den alten Bun-
Hinsichtlich der Höhe der Vergütung ist sicherge- desländern von der zuständigen Allgemeinen Orts-
stellt, daß sie nach dem BAT-O mindestens die bishe- krankenkasse bzw. einer Ersatzkasse und die Leistun-
rige Vergütung erreicht. Es kann also in keinem Fall gen der gesetzlichen Rentenversicherung von der
durch die neuen tariflichen Regelungen zu einer Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bzw. der
Schlechterstellung kommen. Überleitungsanstalt Sozialversicherung erbracht.
Angesichts dieser Sach- und Rechtslage sieht die
Bundesregierung keine Möglichkeit, über die er-
wähnten 20 Millionen DM hinaus zusätzliche Mittel
Anlage 27 dem Autorenversorgungswerk der VG WORT zur
- Verfügung zu stellen.
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fra- Zu Frage 45:
gen des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Druck- Nach Einführung der sog. Bibliothekstantieme in
sache 12/488 Fragen 44 und 45): § 27 Urheberrechtsgesetz haben Bund und Länder in
Wird die Bundesregierung im Hinblick darauf, daß die Auto- einem Vertrag mit den Verwertungsgesellschaften
ren in den neuen Bundesländern erst ab 1. Januar 1992 von der
die Zahlungsverpflichtung für das Verleihen von Bü-
Künstlersozialversicherung partizipieren können, das Autoren-
versorgungswerk der VG WORT wirtschaftlich unterstützen, chern durch öffentliche Bibliotheken übernommen.
damit diese in die Lage versetzt wird, auch die Autoren aus den Die mit den Verwertungsgesellschaften vereinbarten
neuen Bundesländern entsprechend zu unterstützen? Jahrespauschalen zur Befriedigung des nach § 27
Wird die Bundesregierung die pauschalen Bibliothekstantie UrhG bestehenden Vergütungsanspruches werden
men von rund 4,9 Mio. DM, die die Kommission als angemes- von Bund und Ländern im Verhältnis 1 : 9 getragen.
sene Pauschalvergütungssumme für die Zeit vom 3. Oktober
1990 bis 31. Dezember 1991 anerkannt hat, aus dem Bundes- Seit dem 3. Oktober 1990 gilt das Urheberrechtsge-
haushalt oder aus dem Programm „Aufschwung Ost" an die setz auch in den neuen Bundesländern, die damit ne-
beteiligten Verwertungsgesellschaften zahlen, um die neuen ben dem Bund zur Zahlung der Bibliothekstantieme
Länder und ihre Kommunen, deren Bibliothekswesen ohnehin
besonderen Belastungen ausgesetzt ist, für die Übergangszeit
verpflichtet sind.
wenigstens finanziell zu entlasten, und sieht sie dafür eine Er- Bei der von der Kommission Bibliothekstantieme
mächtigung oder Verpflichtung im Einigungsvertrag?
der KMK für angemessen gehaltenen pauschalen Bi-
bliothekstantieme von 4,9 Millionen DM für den Zeit-
Zu Frage 44: raum vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember
Das Künstlersozialversicherungsgesetz tritt nach 1991 handelt es sich nur um den von den neuen Bun-
dem Einigungsvertrag (Anlage 1, Kapitel VIII, Sach- desländern aufzubringenden Anteil an der Biblio-
gebiet F Abschnitt III, Nummer 5) in seiner Gesamt- thekstantieme, nicht um den Anteil des Bundes.
heit erst zum 1. Januar 1992 in Kraft. Bereits seit dem Eine rechtliche Verpflichtung des Bundes zur Über-
1. Januar 1991 besteht die Abgabepflicht der Unter- nahme des von den neuen Bundesländern aufzubrin-
nehmer, die Werke und Leistungen selbständiger genden Anteils an der Bibliothekstantieme besteht
Künstler und Publizisten für Zwecke ihres Unterneh- nicht; Art. 35 des Einigungsvertrages, der eine über-
mens gegen Entgelt in Anspruch nehmen (Künstlerso- gangsweise Mitfinanzierung des Bundes zur kulturel-
zialabgabe). Die Künstlersozialabgabe wird für die len Substanzerhaltung und zur Förderung der kultu-
soziale Absicherung der Künstler und Publizisten im rellen Infrastruktur ermöglicht, bietet keine hinrei-
Jahre 1991 verwendet. Im Einigungsvertrag wurde chende Ermächtigungsgrundlage. Die Abgeltung der
festgelegt, daß den Künstlern und Publizisten in den urheberrechtlichen Vergütungsansprüche, die jedem
neuen Bundesländern, deren Jahreseinkommen Autor, nicht nur den in den neuen Bundesländern
24 000, — DM nicht übersteigt, auf Antrag die von ih- lebenden Schriftstellern zusteht, dient weder der kul-
nen für das Jahr 1991 zu zahlenden Beiträge zur Kran- turellen Substanzerhaltung in den neuen Bundeslän-
ken- und Rentenversicherung bis zur Hälfte erstattet dern, noch wird durch die Übernahme dieser urheber-
werden. Mit dieser Übergangsregelung wird bereits rechtlichen Vergütung die kulturelle Infrastruktur in
im Jahre 1991 eine weitgehende Gleichstellung der den Kommunen gefördert. Wenngleich der Bund
Künstler in den neuen Bundesländern mit denen in keine Verpflichtung zur Übernahme der von den
den alten erreicht, die nach dem KSVG nur die Hälfte neuen Bundesländern aufzubringenden Bibliotheks-
1834* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
tantieme sieht, ist er gleichwohl bereit, gemeinsam halten wurde, wird nunmehr entgegen früheren Be-
mit den Ländern, insbesondere mit der KMK und der kundungen des Parteivorsitzenden ausgeführt, ein
VG WORT nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, Verzicht sei bisher nicht erklärt worden; jedoch be-
damit die neuen Bundesländer bei der Aufbringung stehe nach wie vor die Bereitschaft hierzu. Allerdings
der Bibliothekstantieme vorübergehend entlastet lehnt die PDS in diesem Zusammenhang eine Mitwir-
werden. kung bei der Feststellung von Art und Umfang dieses
Auslandsvermögens ab. Nach ihrer Auffassung be-
steht ihrerseits keine Aufklärungspflicht.
Demgegenüber ist die Unabhängige Kommission
Anlage 28
der Ansicht, daß die PDS einmal im Rahmen der von
Antwort ihr nach § 20a PartG-DDR zu erstellenden Vermö-
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage gensübersicht eine detaillierte Auskunft über das ge-
des Abgeordneten Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD) samte Auslandsvermögen zum Stichtag 7. Oktober
(Drucksache 12/488 Frage 46): 1989 zu geben hat und daß diese darüber hinaus — da
rechtliche Identität mit der früheren SED besteht —
Über welche Kenntnisse über das Auslandsvermögen der
SED/PDS verfügt die Bundesregierung, insbesondere bezogen
alle Maßnahmen zu treffen hat, die für die Aufklärung
auf die seitens der SED/PDS nach eigenen Aussagen vorgenom- und Sicherstellung des Verbleibs dieses Vermögens
mene Übertragung ihres Auslandsvermögens auf die ehemalige erforderlich sind. Die Unabhängige Kommission wird
Regierung der DDR? in diesem Sinne in Zusammenarbeit mit der Treu-
handanstalt die ihr notwendig erscheinenden Schritte
Für die Ermittlung des Vermögens der PDS — wie zur Sicherung des Auslandsvermögens vornehmen.
auch der anderen Parteien, ihnen verbundenen Orga-
nisationen, juristischen Personen und Massenorgani- Soweit ausländische Gesellschaften der Partei und
sationen der DDR — ist gemäß Anlage II Kapitel II deren Vermögen durch den Bereich Kommerzielle
-
Sachgebiet A Abschnitt III zum Einigungsvertrag Koordinierung für die Partei verwaltet wurden, sind
(BGBl. II 1990, S. 885, 1150) in Verbindung mit § 20 a sie im wesentlichen bekannt.
PartG-DDR (GBl. 1990, S. 275f) die Unabhängige Allerdings fehlt derzeit noch eine detaillierte Kennt-
Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Par- nis über den Umfang des Gesamtvermögens zu dem
teien und Massenorganisationen der DDR, die der in § 20a Abs. 2 PartG-DDR gesetzten Stichtag des
Rechtsaufsicht der Bundesregierung untersteht, zu- 7. Oktober 1989 sowie über anschließend eingetre-
ständig. Das Sekretariat der Unabhängigen Kommis- tene Veränderungen. Die PDS ist ihrer diesbezügli-
sion hat mir zu Ihrer Frage mitgeteilt: chen Berichtspflicht nicht nachgekommen. Eine Grö-
Die PDS hat mehrfach — auch öffentlich und gegen- ßenordnung läßt sich deshalb zur Zeit noch nicht an-
über der Unabhängigen Kommission — erklärt, sie geben.
habe im Dezember 1989 gegenüber der DDR-Regie-
rung zugunsten des Staatshaushalts der DDR auf ihre
Auslandsvermögen — einschließlich des Vermögens
in den alten Bundesländern — verzichtet.
Die wiederholte Aufforderung der Unabhängigen Anlage 29
Kommission, diesen Verzicht nachzuweisen und Antwort
hierzu entsprechende Urkunden vorzulegen, blieb al-
lerdings ohne Reaktion. Daraufhin hat die Unabhän- des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fra-
gige Kommission in ihrer Sitzung am 24. April 1991 gen des Abgeordneten Ludwig Eich (SPD) (Drucksa-
die PDS unter Fristsetzung aufgefordert, Auskunft che 12/488 Fragen 47 und 48):
über das Vorliegen und den Inhalt sämtlicher rechts- Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, ob die
geschäftlich verbindlicher Erklärungen und Verein- SED/PDS Verfügungsrechte über das Kommerzielle Koordinie-
rungs-Auslandsvermögen wahrzunehmen in der Lage war?
barungen zum SED/PDS-Auslandsvermögen zu ertei-
len und diese Auskunft durch vollständige Vorlage Seit wann liegt der Bundesregierung der Zwischenbericht der
der entsprechenden Dokumente zu belegen. Regierungskommission zur Überprüfung des Vermögens der
Parteien und Massenorganisationen der DDR vor, wann beab-
Der Bescheid wurde am 26. April 1991 zugestellt. sichtigt sie eine Weiterleitung an den Deutschen Bundestag?
Eine Antwort der PDS auf diesen Bescheid ist bei der
Unabhängigen Kommission am 10. Mai 1991 einge-
Zu Frage 47:
gangen. In dieser Antwort gibt sie an, es habe zwei
Arten von Auslandsvermögen der PDS gegeben. Der Für die Ermittlung des Vermögens der PDS — wie
eine Teil dieses Vermögens sei über den Bereich Kom- auch der anderen Parteien, ihnen verbundenen Orga-
merzielle Koordinierung verwaltet worden — und nisationen, juristischen Personen und Massenorgani-
zwar unter Leitung von Herrn Schalck-Golod- sationen der DDR — ist gemäß Anlage II Kapitel II
kowski — , der andere Teil durch das ZK der SED Sachgebiet A Abschnitt III zum Einigungsvertrag
selbst. Hinsichtlich des ersten Teils schließe sich die (BGBl. II 1990, S. 885, 1150) in Verbindung mit § 20 a
PDS der Rechtsauffassung einer Ende 1989 vom Mini- PartG-DDR (GBl. 1990, S. 275f) die Unabhängige
sterrat der DDR eingesetzten Sonderkommission an, Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Par-
wonach das Parteivermögen, das vom Bereich Kom- teien und Massenorganisationen der DDR, die der
merzielle Koordinierung verwaltet wurde, in Wirk- Rechtsaufsicht der Bundesregierung untersteht, zu-
lichkeit Staatseigentum gewesen sei. Bezüglich des ständig. Das Sekretariat der Unabhängigen Kommis-
Auslandsvermögens, das direkt vom ZK der SED ge sion hat mir zu Ihrer Frage mitgeteilt:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1835*
Nach den Erkenntnissen der Unabhängigen Kom- nungen — in keinem Falle zum Stichtag des 7. Okto-
mission ist davon auszugehen, daß die SED bis ca. ber 1989. Die Unabhängige Kommission hat nunmehr
Anfang Dezember 1989 in der Lage war, ihre wirt- Wirtschaftsprüfungsgesellschaften beauftragt, an-
schaftlichen Auslandsinteressen sowohl über den Be- hand der vorgelegten Unterlagen Vermögensüber-
reich Kommerzielle Koordinierung als auch unmittel- sichten zum gesetzlichen Stichtag zu erstellen.
bar gegenüber den ausländischen Parteigesellschaf-
ten wahrzunehmen. Für die Zeit danach liegen detail- Zu Frage 50:
lierte Erkenntnisse über eine etwaige Einflußnahme
der SED/PDS auf das Auslandsvermögen noch nicht Bei der Beantwortung der Frage wird davon ausge-
vor. gangen, daß der insoweit maßgebliche Zeitraum mit
dem Tag der Wiedervereinigung der beiden deut-
schen Staaten (3. Oktober 1990) endet.
Zu Frage 48:
Der Zwischenbericht der Unabhängigen Kommis- Die Verwaltung des Deutschen Bundestages hat der
sion zur Überprüfung des Vermögens der Parteien Bundesregierung Unterlagen der Volkskammer sowie
und Massenorganisationen der DDR ist beim Bundes- der Arbeitsgruppe Parteienfinanzierung der Volks-
minister des Innern am 26. März 1991 eingegangen. kammer der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Nachdem sich zwischenzeitlich die zuständigen Res- Republik über die Gewährung staatlicher Leistungen
sorts mit dem Zwischenbericht befaßt haben, fand an Parteien/politische Vereinigungen in der ehemali-
eine Kabinettbehandlung am 15. Mai 1991 statt, bei gen Deutschen Demokratischen Republik zur Verfü-
der die Weiterleitung des Zwischenberichts an den gung gestellt. Über deren Vollständigkeit und Rich-
Deutschen Bundestag beschlossen wurde. tigkeit können keine Angaben gemacht werden.
Hiernach wurden finanzielle Leistungen an fol-
gende Parteien/politische Vereinigungen erbracht:
- — Bund Freier Demokraten (B.F.D.)
Anlage 30
— Bündnis 90 (NEUES FORUM-DEMOKRATIE
Antwort JETZT — IFM)
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fra- — Christlich-Demokratische Union Deutschlands
gen des Abgeordneten Manfred Hampel (SPD) (CDU)
(Drucksache 12/488 Fragen 49 und 50): — CDJ
Ist der Bundesregierung bekannt, ob alle Parteien und Mas-
senorganisationen der ehemaligen DDR der Auflage zur Offen- — „Demokratischer Aufbruch — sozial+ökologisch"
legung ihrer Bilanzen zum Stichtag 7. Oktober 1989 nachge- (DA)
kommen sind?
— Demokratie Jetzt
Ist der Bundesregierung bekannt, welchen Parteien und Mit-
gliedern am sogenannten Runden Tisch finanzielle Mittel zuge- — Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD)
flossen sind, und wie wurden diese verwandt?
— Deutsche Forumpartei (DFP)
Zu Frage 49: — Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD)
Für die Ermittlung des Vermögens der PDS — wie — Deutsche Biertrinker Union (DBU)
auch der anderen Parteien, ihnen verbundenen Orga- — Deutsche Jugendpartei (DJP)
nisationen, juristischen Personen und Massenorgani-
sationen der DDR — ist gemäß Anlage II Kapitel II — Deutsche Soziale Union (DSU)
Sachgebiet A Abschnitt III zum Einigungsvertrag — Die Nelken
(BGBl. II 1990, S. 885, 1150) in Verbindung mit § 20 a
PartG-DDR (GBl. 1990, 5. 275f) die Unabhängige — Domowina
Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Par- — Europa-Union der DDR
teien und Massenorganisationen der DDR, die der
Rechtsaufsicht der Bundesregierung untersteht, zu- — Freie Deutsche Jugend (FDJ)
ständig. Das Sekretariat der Unabhängigen Kommis- — Freie Demokratische Partei in der DDR
sion hat mir zu Ihrer Frage mitgeteilt: — Die Liberalen (FDP)
Nach § 20 a Abs. 1 PartG-DDR hat die Unabhängige
— Grüne Liga (Runder Tisch, aber nicht als Partei
Kommission die Aufgabe, einen Bericht über die Ver-
registriert)
mögenswerte aller Parteien und ihnen verbundenen
Organisationen, juristische Personen und Massenor- — Grüne Partei/Unabhängiger Frauenverband (UFV)
ganisationen der DDR im In- und Ausland zu erstellen. — Jugendbund Deutscher Regenbogen
Damit die Unabhängige Kommission diese Aufgabe
erfüllen kann, sind alle Parteien und sonstigen Insti- — Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM)
tutionen bzw. deren Rechtsnachfolger nach § 20 a — JuliA
Abs. 2 PartG-DDR verpflichtet, Rechenschaft zu le-
gen. Sie haben insbesondere eine Vermögensüber- — Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
sicht nach dem Stand vom 7. Oktober 1989 vorzule- — Landjugendverband in der DDR
gen. Die Parteien und sonstigen Institutionen haben
der Unabhängigen Kommission Vermögensübersich- — NEUES FORUM
ten vorgelegt, jedoch — trotz wiederholter Anmah — Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)
1836* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Anlage 32 Anlage 33
Antwort Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf
die Fragen des Abgeordneten Arne Fuhrmann (SPD) die Fragen des Abgeordneten Rudolf Bindig (SPD)
(Drucksache 12/488 Fragen 52 und 53): (Drucksache 12/488 Fragen 54 und 55):
Welche konkreten Schritte beabsichtigt die Bundesregierung Kann die Bundesregierung angeben, wie der Bundesminister
im Zusammenhang mit Verhandlungen zur Aufhebung des Sol- der Finanzen die haushaltstechnische Abwicklung der für hu-
tau-Lüneburg-Abkommens in nächster Zeit, um eine sofortige manitäre Hilfe für die Kurdenflüchtlinge vorgesehenen 415 Mil-
Reduzierung des täglichen Panzerkrieges in den bewohnten lionen DM vorzunehmen gedenkt; aus welchen Haushaltstiteln
Teilen der betroffenen Region zu gewährleisten, um weitere und Haushaltsetats soll der Betrag bereitgestellt werden?
Panzer- und Schießübungen im Naturschutzgebiet (in dem
Kann die Bundesregierung — gegebenenfalls kalkulato-
Wanderer die Wege nicht verlassen dürfen und der Gebrauch
risch — angeben, welcher Teilbetrag der 415 Millionen DM,
von Feuer und offenem Licht verboten ist) sofort zu unterbinden,
welche für die humanitäre Hilfe für Kurden vorgesehen sind,
um die weitere Zerstörung dieser einmaligen Kulturlandschaft
wahrscheinlich für Transport- und sonstige Leistungen an die
und die Verseuchung des Bodens mit Ölen, Cadmium, Blei und
Bundeswehr zu zahlen, d. h. dem Bundesministerium der Ver
Quecksilber zu verhindern?
teidigung zu erstatten sein wird?
Welche konkreten Maßnahmen beabsichtigt die Bundesre-
gierung, um die Regeneration des verseuchten Bodens und die
notwendigen Aufforstungsarbeiten zu garantieren, und für wel- Zu Frage 54:
chen Zeitraum sind — auch nach Aufhebung des Soltau-Lüne-
burg-Abkommens — Entschädigungs- und Ausfallzahlungen
Der Bundesminister der Finanzen hat im Anschluß
für die betroffenen Kreise und Gemeinden von seiten des Bun- an die Kabinettberatung am 17. April 1991 dem Aus-
des gesichert? wärtigen Amt die Bewirtschaftung der erforderlichen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1837*
Zu Frage 61:
Anlage 37
Der Bundesregierung ist bekannt geworden, daß
Antwort
die US-Tochtergesellschaft des deutschen Unterneh-
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die mens, Heckler & Koch, INC., Trainingsprogramme für
Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (CDU/CSU) Heckler & Koch-Waffen in den USA durchführt. Teil-
(Drucksache 12/488 Frage 60) : nehmer dieser Veranstaltung sind amerikanische Po-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1839*