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Verfassungs- und
verwaltungsrechtliche
Fragestellungen der COVID-
Pandemie in Europa
Deutsch-tschechische Aspekte
11 Se 2022
Planch_
Institut
für ausl. öffentl. Recht U. Völkerrecht
Bibliothek
II
"eidelbeX%-3
1r das er-
zur kol- Die lange „Stunde der Gubernative"
bung des
Teilhabe Covid-19 und der Parlaments-
larauf re-
amen ge- vorbehalt in Deutschland
ehandeln
or Derka
Carsten Bäcker*
ich stark
cht. Hier
e, als ge-
einer all-
und eine A. Einführung
ieten Jo-
Die rechtswissenschaftliche Debatte in Deutschland befasst sich seit dem Frühjahr
2020 mit den Pflichten und Grenzen, die das Recht dem Staat in seinen Maßnah-
n, insbe- men zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie auferlegt. Zu Beginn der Pandemie
3uns mit wurde diese Frage von einer verfassungstheoretischen Diskussion um den Aus-
Druck- nahmezustand geprägt. Der Ausnahmezustand ist ein Zustand, in dem das Recht,
kulturel- auch das Verfassungsrecht, das staatliche Handeln nicht mehr führen und begren-
agen ha- zen kann, da die fragliche Situation rechtlich ungeregelt ist — oder sich der recht-
lichen Bewältigungper se entzieht.' Doch im fortschreitenden, gerade auch medial
deutlich entdramatisierten Verlauf der Pandemie setzte sich bald die Auffassung
von der Bewahrung des rechtlichen Normalzustands in einer epidemischen Aus-
nahmesituation durch.2 Die Debatte konzentriert sich seitdem überwiegend auf die
Vorgaben, die das gegebene Recht bereithält — in Deutschland auf Bundesebene
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 23.3.2021 gehalten hat, im
Rahmen eines vom Obersten Gerichtshof in Mexiko organisierten Webinars über die
Grundrechtsbeeinträchtigungen in der Covid-19 Pandemie. Es handelt sich bei dem vor-
liegenden Beitrag um eine überarbeitete und aktualisierte Version des Beitrags, der in
der Forschungsreihe des mexikanischen obersten Gerichtshofs (Sistema Bibliotecario de
la Suprema Corte de Justicia de la Naciön Catalogaciön) publiziert wird.
1 Es hängt wesentlich vom Begriff des Rechts ab, was es umfasst und regelt — dazu zählt,
ob das Recht das staatliche Handeln auch unter außerordentlichen Umständen bestimmt:
Geht es um geschriebenes, mitgeschriebenes oder auch ungeschriebenes (Verfassungs)
Recht? Um positives oder überpositives? Einsichtig ist: Je weiter der Begriff des Rechts
gezogen wird, umso mehr unterfallt seinen Regelungen; je enger, desto näher liegt der
Ausnahmezustand.
2 Ein eingehendes Plädoyer gegen einen Ausnahmezustand und für die effektive Begeg-
nung der Pandemie innerhalb der Grenzen des gegebenen Rechts halten Kersten/Rixen,
Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl. 2021, insb. S. 39 ff.
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tungsrechtli- Grundsätzen die kollidierenden Güter in einen Ausgleich zu bringen sind. Sicher
ist dabei, dass die Dynamik der Pandemie eine im Kern gleichlaufende Dynamik
der Maßnahmen verlangt, verschärfend wie abmildernd.
:ungsrechtli-
. die Grund- Neben den Grundrechten als materiell-rechtlichen Grenzen, die angesichts ihrer
ergriffenen, Abwägungsfähigkeit und Abwägungsbedürftigkeit eher unscharf bleiben, zieht
fragen war das Verfassungsrecht dem Verwaltungsrecht im Allgemeinen wie auch dem Pan-
ssstraßenstil- demiebekämpfungsrecht im Besonderen formalrechtliche, insb. kompetenzrecht-
mgsverbote, liche Grenzen. Zu diesen vergleichsweise schärferen Grenzen zählen unter dem
Impfreihen- Grundgesetz vor allem der Parlamentsvorbehalt, der anhand der sog. Wesentlich-
?,2 geringere keitstheorie und des Bestimmtheitsgrundsatzes vom Bundesverfassungsgericht in
Ungeimpfte, seiner Rechtsprechung profiliert worden ist. Mittelbar schützt der Parlamentsvor-
undesrepub- behalt freilich wiederum die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte,
der gesund- weswegen er bei genauerem Hinsehen notgedrungen an Schärfe einbüßen muß,
ich auferlegt unmittelbar aber geht es um die Wahrung der verfassungsrechtlich verankerten
s Grund und Staatsstrukturgrundsätze — vor allen die Gewaltenteilung und die Demokratie.13
er materielle
Im vorliegenden Beitrag werden nicht die Grundrechte, sondern der Parlaments-
. staatlichen
vorbehalt als kompetenzrechtliche, den Parlamentarismus verteidigende Grenze
heitsrechten
der Pandemiebekämpfung in den Blick genommen." Es wird aufgezeigt, dass
iach dessen
diese Grenze in bedenklicher Intensität ignoriert wurde. Dazu ist sich zunächst der
rechtsdogmatischen Grundlagen des Parlamentsvorbehalts zu versichern (A.), be-
vor der die Pandemiebekämpfung zumindest bis zu den Bundestagswahlen im
in beim Men-
Herbst 2021 prägende Zustand dieser formalrechtlichen Bastion des Parlamenta-
des Gesetzes
rismus in Deutschland nachgezeichnet werden soll (B.). Der Beitrag wird, zum
ien kultureller Abschluss, die These vertreten, dass die Pandemie eine konstruktive Schwäche
des parlamentarischen Rechtsstaats aufgezeigt hat (C.). Es gilt, auch in dieser Hin-
a• Demokratie sicht aus der Krise zu lernen.
ssungsstaat in
sondern
p, S. 164; sie
der unwillent-
Grundrechts-
Ruschemeier,
der Pandemie
inahmen Leis-
Verfasungsblog.de, 6.4.2020, verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-
äßigkeitsprin- denkkategorien-in-der-corona-pandemie/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2022).
Legendum 13 Vgl. BVerfGE 149, 407 (416): „den aus Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip abgelei-
fung Lepsius, teten Wesentlichkeitsgrundsatz".
na-Pandemie, 14 Gleicher Fokus wie hier jüngst bei Wolff/Zimmermann, JURA 2022, S. 1488 (1488).
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Die lange „Stunde der Gubernative"
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Carsten Bäcker
Grundgesetz bemißt sich jedoch nicht in erster Linie an den Funktionen, sondern
an dem Grundsatz der Grundrechtsbindung aller staatlicher Gewalt in Art. 1 Abs. 3
GG, positiv wie negativ. Ausgehend von diesem in Deutschland erstmals 1949
verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz einer allgemeinen Grundrechtsbin-
dung des Staates ist der Wesentlichkeitsgrundsatz entwickelt worden. Nach die-
sem Grundsatz, der das Kernelement der grundgesetzlichen freiheitlich-demokra-
tischen Grundordnung umschreibt, bemisst sich das Erfordernis einer parlaments-
gesetzlichen Regelung als Grund und Grenze eines bestimmten staatlichen
Handelns.
Kernaussage des Wesentlichkeitsgrundsatzes ist, dass der Gesetzgeber die far die
Verwirklichung des Grundrechtsschutzes wesentlichen Fragen selbst regeln muss.
Die Rede von der „Grundrechtsverwirklichung"2° weist über die klassische ab-
wehrrechtliche Dimension der Grundrechte weit hinaus; sie bezieht sämtliche Di-
mensionen der Grundrechte mit ein. Die bundesrepublikanische Verfassungsrea-
lität ist damit über den tradierten Gedanken des Eingriffsvorbehalts hinausgegan-
gen, nach dem nur (wesentliche) Eingriffe in verfassungsrechtlich gewährleistete
Grundrechte einer (parlamentarischen) gesetzlichen Grundlage bedurften. Hierin
spiegelt sich die enorme Ausdehnung der Bedeutung der Grundrechte gegenüber
ihren liberalistischen Wurzeln in der Bonner Republik.'
Der Parlamentsvorbehalt wird vom Bestimmtheitsgrundsatz flankiert. Nach die-
sem Grundsatz ist nicht jedes formell ordnungsgemäß vom Parlament beschlos-
sene Gesetz als Gesetz im Sinne des Parlamentsvorbehalts anzusehen, sondern nur
eines, dass den Handlungsraum der staatlichen Gewalt genau genug bezeichnet.
Ein zu unbestimmtes Gesetz ist deswegen verfassungswidrig. Nur so kann die Bin-
dung der vollziehenden Gewalt und mittelbar auch der Judikative an das Gesetz
iSv Art. 20 Abs. 3 GG effektuiert werden. Eine gesetzliche Norm (besser: ein ge-
setzlicher Normsatz)' muss deswegen so formuliert sein, dass das Verhalten der
Exekutive nach Inhalt, Zweck und Ausmaß begrenzt wird und die Gerichte an die-
sem Maßstab das behördliche Vorgehen kontrollieren können. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat diesen Maßstab im Wege einer Je-desto Formel näher ausbuch-
stabiert: Der Gesetzgeber muss „die gesetzliche Regelung desto detaillierter [aus-
gestalten], je intensiver die Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung der
20 Vgl. BVerfGE 147, 253 (310): „Dieser verpflichtet den parlamentarischen Gesetzgeber,
wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu tref-
fen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen"; st. Rspr.
21 Zur Entwicklung des Grundrechtswesens in Deutschland näher Bäcker, in: Stern/Sodan/
Möstl, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund,
§ 65, erscheint vss. 2022.
22 Zum semantischen Normbegriff, nach dem zwischen Norm (als Bedeutungsinhalt) und
Normsatz (als sprachlichem Zeichen) zu unterscheiden ist, vgl. Alexy, Theorie der
Grundrechte, 1985, S. 42 ff.
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en, sondern Betroffenen sind"23. Daraus erhellt: Das erforderliche Maß der Bestimmtheit be-
rt. 1 Abs. 3 misst sich anhand einer Abwägung. Nimmt man hinzu, dass auch die Wesentlich-
tmals 1949 keit des betroffenen Grundrechtsschutzes eine Maßfrage ist, wird die dogmatische
[drechtsbin- Unsicherheit deutlich, die mit der Anwendung dieser Grundsätze verbunden ist.
L. Nach die- Dies wirkt sich in der Beurteilung der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in
h-demokra- Deutschland aus, über deren Verfassungsmäßigkeit im Einzelnen wie im Ganzen
parlaments- nach wie vor keine Einigkeit besteht.
staatlichen
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ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zustän-
dige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen [...], soweit und solange es zur Ver-
hinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist[...]"; Hervorhe-
bung durch den Verfasser.
27 Deutlich etwa Volkmann, NJW 2020, S. 3153; Dreier, DÖV 2021, S. 229; Kluckert,
DVB12021, S. 96.
28 Vgl. etwa Bäcker, Corona in Karlsruhe, Verfassungsblog.de, 25.3.2020, verfassungs-
blog.de/corona-in-karlsruhe/ (zuletzt abgerufen am 28.03.2022); Pautsch/Haug, NJ
2020, 281 (282 f.); Barzak, RuP 2020, S. 458 (462 f.).
29 Vgl. etwa Bethge, Ausgangssperre, Verfassungsblog.de, 24.3.2020, verfassungs-
blog.de/ausgangssperre/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2022): „in unvorhergesehenen Situ-
ationen [können] vorübergehend auch drastische Maßnahmen auf Generalklauseln ge-
stützt werden".
30 Vgl. Brüning, NVwZ 2021, S. 272.
31 Erhellend zu diesem Begriff Barzak, RuP 2020, S. 458 (462 f.).
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timmtheits- mäßigkeit der Maßnahmen, sei es aus formalrechtlichen Gründen, insb. einer man-
tiert, es sei gelnden Kompetenz der Exekutive.32 Diese Maßnahmen seien gleichwohl aus
us später in Staatsräson zu befolgen, bis die Gerichte sie aufheben. Vertreter dieser Auffassung
ieses Argu- der „Duldung trotz Verfassungswidrigkeit" erwarteten eine rasche Korrektur der
ruing in der Maßnahmen durch die Gerichte — die aber bis heute hins. des Kompetenzrechts
rtion hinein kaum erfolgte." Vielmehr haben die Gerichte die Maßnahmen zur Bekämpfung
der Pandemie im Großen und Ganzen gehalten, wenn auch bislang überwiegend
nur im Eilrechtsschutz.34 Dazu trug anfangs ohne Frage bei, dass die Pandemie
men zu be-
weiter anhielt und sich entgegen den verbreiteten Erwartungen und Hoffnungen
;emäß keine nicht etwa abschwächte, sondern eher noch zuspitzte. Es blieb bei dem, was schon
nnte. In der zu Beginn der Pandemie prognostiziert wurde: Kein (Verfassungs-)Gericht der
einer drän-
Welt würde die Maßnahmen Mr rechtswidrig erklären, solange die Bedrohung
Lungen han-
durch die Epidemie ungebremst anhielt.35
ug handeln
[five"' ver- Ungeachtet der regen Diskussion um die Anerkennung in der Rechtswissenschaft
3 der Schutz wurden gerade die frühen Maßnahmen von einem überwältigenden Anteil in der
indheitswe- Bevölkerung, gestützt auf dramatische Berichte in der medialen Öffentlichkeit,
,sfähige Or- weitgehend als notwendig erachtet. Die Bevölkerung fiigte sich überraschend wi-
hi- kann aus derstandslos in den ersten sog. „Lockdown", die neuen Regeln wurden nahezu
noch nicht einhellig befolgt und auch verbreitet far materiell richtig gehalten. Rechtstheore-
-lierfür son- tisch gesprochen wurden hier etwaige Bedenken einiger Juristen hins. der ord-
Len. Der Er- nungsgemäßen Gesetztheit durch ein klar hinreichendes Maß an sozialer Wirk-
nie. Anders samkeit überlagert. Im weiteren Verlauf wurde gleichwohl auf die in der Rechts-
usnahmesi- wissenschaft und der gerichtlichen Spruchpraxis geäußerten Bedenken hins. der
. formellen Verfassungsmäßigkeit der exekutivrechtlichen Maßnahmen reagiert.36
issungswid-
nverhältnis-
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Ltionaler Trag-
lasses, an die
MedR 2020, 43 Manche hielten die Regelungen damit für „sowohl präzisiert als auch legitimatorisch
chlichten Par- abgesichert", so Greve, NVwZ 2020, S. 1786; andere zeigten sich weniger überzeugt,
vgl. nur Kießling, Was verlangen Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot?,
rriative „auch verfassungsblog.de, 4.11.2020, verfassungsblog.de/was-verlangen-parlamentsvorbe-
a Grundgesetz i halt-und-bestimmtheitsgebot/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2022).
44 Vgl. Kingreen, NJW 2021, S. 2766 (2768): „einfach nur retrospektiv Maßnahmen auf-
Verfassungs- gezählt [...], die in der Vergangenheit ergriffen warden".
'-gegen-c ovid- 45 Ebenso, nach eingehender Analyse, Boehme-Neßler, DÖV 2021, S. 243 (251): „Blanko-
vollmacht [...], durch Rechtsverordnungen hart und tief in Grundrechte einzugreifen";
von nationaler s.a. Kirchhof DVB1 2021, S. 689 (692): Der Gesetzgeber ist „seiner Aufgabe, fir jede
!020, S. 1780; Maßnahme selbst eine Rechtsgüterabwägung anzustellen und in gesetzliche Tatbe-
iit dem wenig standsvoraussetzungen oder Leitlinien auszuformen, nicht gerecht geworden".
über künftige 46 Eine ähnliche Situation lag und liegt in der bis heute unterbliebenen gesetzlichen Rege-
ngt in der not- lung der Triage. Darin sehen manche eine Schutzpflichtverletzung; vgl. Brade/Müller,
g. Bundesnot- NVwZ 2020, S. 1792. Eingehende verfassungsrechtliche Würdigung der Triage etwa bei
1. Greve/Las- Lehner, DÖV 2021, S. 252; s.a. Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-
Krise, 2. Aufl. 2021, S. 143 ff.
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47 Vgl. nur die Kurzmeldung des Bundestages v. 13.1.2021 (hib 61/2021); rückblickend
einordnend Kießling/Kingreen/Leisner-Egensperger, Keine Priorität für die Rechtswis-
senschaft, Verfassungsblog.de, 2.2.2021, verfassungsblog.de/keine-prioritat-fur-die-
rechtswissenschaft/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2022).
48 Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2
(CoronaImpfV), BAnz AT 21.12.2020 V3, 1.
49 Nach den §§ 2-4 CoronaImpfV.
50 Vgl. aber Leisner-Egensperger, NJW 2021, S. 202 (208), die zwar nicht eine „Priorisie-
rung durch Gesetz" für geboten hält, wohl aber eine „Priorisierung aufgrund Gesetzes".
Noch zurückhaltender Stüer, DVB12021, S. 373 (374): „Zugegeben: Man kann sich eine
konkretere gesetzliche Ermächtigung vorstellen".
51 Vgl. etwa § 3 Abs. 2 Nr. 5, § 15 Abs. 2 S. 4 BW-CoronaVO v. 15. September 2021 in
der ab 15. Oktober geltenden Fassung.
52 Durch Gesetz vom 22.11.2021, BGB1. 2021 14906. — Zu den Änderungen kritisch etwa
Kießling, NVwZ 2021, S. 1801; vgl. auch Kießling, NVwZ 2022, S. 15, zu den noch im
Dezember erfolgenden Anpassungen des Gesetzes.
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ser Verord- sen. Sie wurzeln, kurz gesagt, in einer Minderleistung der parlamentarischen Le-
knderungen gislative, die zunehmend Züge einer Arbeitsverweigerung trägt. Diese Minderleis-
km Hinter- tung wurde in Deutschland seit Ausbruch der Pandemie durch eine Überleistung
edürftigkeit der Exekutive kompensiert, sicher auch induziert.53 Doch die exekutivrechtlichen
;rtigen, dass Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung haben in einem Ausmaß evident wesent-
50
lich in Grundrechte eingegriffen, welches nach dem Wesentlichkeitsgrundsatz zu-
mindest ein bestimmteres Handeln des Parlaments erfordert hätte. Gleichwohl ist
;en im Kern
die Judikative der Exekutive lange kaum in den Arm gefallen.
Lzu wurden,
gere Zulas- Insgesamt bezeugt dies ein tiefes staatsstrukturrechtliches Problem: Wenn das ei-
, Genesene gentlich zuständige Organ einem eigentlich nicht zuständigen Organ das Feld
tteln, kultu- überlässt, ändern sich die tatsächlichen staatsstrukturrechtlichen Begebenheiten.
rge, zu Ge- Die Praxis des Verfassungslebens prägt das normative Verfassungsrecht. Mit dem
1. Die Wahl Wesentlichkeitsgrundsatz und dem Bestimmtheitsgebot sind bis dato allgemein
wesentliche konsentierte, streng behütete staatsorganisationsrechtliche Leitplanken in der
exekutiv- Corona-Krise überrollt worden.54
ten) Betrei-
modell).51
I. Das staatsstrukturelle Problem
Nehmen wir das staatsstrukturelle Problem etwas näher in den Blick: Die Legis-
lative hat, nach dem herkömmlichen verfassungsrechtlichen Grundkonsens, die
originäre Abwägungskompetenz in Grundrechtsfragen. Sie soll, per Gesetz, das
grundrechtswesentliche Handeln des Staates präformieren, in typischerweise abs-
trakt-generellen Regelungen. Derartige abstrakt-generelle Regelungen verlangen
. November nach Konkretisierungen, die je nach Unterschiedlichkeit der konkret-individuellen
iekämpfung Anwendungsbereiche durchaus unterschiedlich ausfallen können. In der Corona -
werden las- Pandemie sind bis heute nur wenige parlamentsgesetzliche Regelungen erlassen
worden. Wesentliches Argument, nach einer ersten Phase der Erstarrung des Par-
laments, war die Dynamik der Pandemie, die kurzfristige Reaktionen und Verän-
derungen der Rechtslage erforderlich mache.
rückblickend
je Rechtswis- Tatsächlich gilt, etwa in Bayern, inzwischen die fünfzehnte Infektionsschutzmaß-
oritat-fur-die-
nahmenverordnung.55 Diese Verordnung ist bis Ende Februar 2022 bereits durch
SARS-CoV-2 diverse Änderungsverordnungen geändert worden; wie sich auch generell über
den gesamten Zeitraum der Pandemie hinweg betrachtet die Verordnungslage sehr
dynamisch gezeigt hat. Hinzu kommt, dass die zentralen Verordnungen auf Län-
„Priorisie-
nd Gesetzes".
kann sich eine
53 Wolff/Zimmermann, JURA 2022, S. 148 (155), weisen daraufhin, dass das Problem der
i-riber 2021 in „Exekutivlastigkeit der Rechtsetzung" zwar schon vor der Pandemie bestand, aber erst
in ihr zu einem Übermaß anschwoll.
L kritisch etwa 54 Lepsius, JÖR 2021, S. 705 (730 ff.), sieht, mit guten Gründen, auch den Verhältnismä-
den noch im ßigkeitsgrundsatz als materielle Leitplanke des Verfassungsrechts erschüttert.
55 Verordnung v. 23.11.2021, BayMB1. 2021, Nr. 816.
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56 Zur hier nachrangigen, juristisch aber komplexen Frage, wann Rechtsverordnungen und
wann Allgemeinverfügungen angezeigt sind, vgl. Brodmerkel, BayVB1. 2021, S. 37.
57 An dieser Stelle ließe sich fragen, ob der Bestimmtheitsgrundsatz in einer zeitlichen Di-
mension Grenzen setzt; dies nimmt etwa das AG Ludwigsburg an (Fn. 33 Rn. 43).
58 Zu einzelnen Ausnahmen vgl. etwa Volkmann, NJW 2020, S. 3153 (3153 f.). Deutlich
kritischer agierten die Gerichte in Österreich, vgl. etwa den Überblick bei Eller/Wachter,
ÖJZ 2021, S. 12. — Eine dezidiert kritische Haltung der Verwaltungsgerichte zeigt sich
gegenwärtig in der gerichtlichen Beurteilung der Frage, ob der Genesenenstatus im
Wege einer dynamischen Verweisung in einer Verordnung des Bundesregierung (§ 2
Nr. 5 SchAusnahmV) auf medizinische Einschätzungen des Robert-Koch-Institut von
sechs auf drei Monaten verkürzt werden konnte, vgl. nur VG Osnabrück, Beschluss v.
4.2.2022 — 3 B 4/22; VG Ansbach, Beschluss v. 11.2.2022 — AN 18 S 22.00234; VG
Hamburg, Beschluss v. 14.2.2022 — 14 E 414/22; VG Berlin, Beschluss v. 16.2.2022 —
VG 14 L 24/22.
59 Vgl. etwa OVG Saarlouis, Beschluss v. 9.3.2021 —2 B 58/21.
60 Dieser Unterschied verschwimmt, wenn der Parlamentsvorbehalt selbst zum Gegenstand
einer Abwägung mit materiellen Gründen gemacht wird, so Kalscheuer/ Jacobsen, DÖV
2018, S. 523; mit Corona-Bezug; Kalscheuer/Jacobsen, DÖV 2021, S. 633.
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Carsten Bäcker
nen Folgen nicht aufgehoben — ohne damit zu befinden, dass sie verfassungsge-
mäß waren.67 Allerdings hat das Gericht die geprüften Maßnahmen auch nicht für
evident verfassungswidrig befunden — andernfalls hätte es eine einstweilige An-
ordnung im Sinne der Beschwerdeführer verfügen müssen.68 Diese Einschätzung
des Gerichts mag materiell-rechtlich vertretbar sein, kompetenzrechtlich aber
überzeugt sie nicht.69 Es ist daher kaum ein Zufall, dass das Gericht über die kom-
petenzrechtliche Frage (einstweilig) geschwiegen hat.7° Dieses einstweilige
Schweigen wird in den anstehenden Hauptsacheentscheidungen gerade auch des
Bundesverfassungsgerichts71 so nicht mehr möglich sein. 72
67 Vgl. BVerfGK, Beschluss v. 7.4.2020 — 1 ByR 755/20 Rn. 11: „Die hier geltend ge-
machten Interessen sind gewichtig, erscheinen aber nach dem hier anzulegenden stren-
gen Maßstab nicht derart schwerwiegend, dass es unzumutbar erschiene, sie einstweilen
zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu
ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unver-
sehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG prinzipiell auch verpflichtet ist".
68 Vgl. BVerfGK, Beschluss v. 7.4.2020 — 1 ByR 755/20 Rn. 7: „Die Verfassungsbe-
schwerde ist, jedenfalls soweit die angegriffenen Maßnahmen den Beschwerdeführer
selbst betreffen, zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbe-
gründet. Sie bedarf eingehenderer Prüfung, was im Rahmen eines Eilverfahrens nicht
möglich ist.".
69 Vgl. Bäcker, Corona in Karlsruhe II, Verfassungsblog.de, 8.4.2020, verfassungsblog.de/
corona-in-karlsruhe-ii/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2022).
70 In einem anderen Eilverfahren unterließ das BVerfG eine Prüfung der formellrechtlichen
Bedenken, die, wie es hervorhebt, von den Fachgerichten unterschiedlich beurteilt wor-
den seien, weil der Antragsteller seine entsprechenden Bedenken nicht hinreichend sub-
stantiiert habe, vgl. BVerfGK, Beschluss v. 22.10.2020 — 1 ByQ 116/20 Rn. 8.
71 Zu den ersten Entscheidungen des BVerfG in der Hauptsache vgl. nur Degenhart, NJW
2022, S. 123. Die dort behandelten Entscheidungen zur Bundesnotbremse sind freilich
hins. des Parlamentsvorbehalts weitgehend unproblematisch (vgl. S. 124).
72 Inzwischen sind erste verwaltungsgerichtliche Entscheidungen in der Hauptsache zur
Frühphase der Pandemie getroffen worden, vgl. etwa jüngst BayVGH, Beschluss v.
04.10.2021 — Az. 20 N 20.767. Hier wird zwar die formelle Verfassungsmäßigkeit der
in Bayern besonders strikt geltenden Ausgangssperre in der ersten Welle der Pandemie
nach wie vor angenommen, aber die materielle Verfassungsmäßigkeit bzw. Verhältnis-
mäßigkeit verneint.
73 Dazu etwa Rennert, DVB1. 2021, S. 1269.
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7fassungsge- nachzudenken.74 Wenig Parlament ist immer noch besser als kein Parlament; zu-
ich nicht für mal das Parlament intrinsisch motiviert sein dürfte, einen parlamentarischen Not-
weilige An- zustand zügiger zu überwinden, als einen undefinierten parlamentarischen Däm-
inschätzung merzustand. Doch von einem parlamentarischen Notstand könnte heute sicher
chtlich aber nicht mehr gesprochen werden.75 Braucht es daher eine dauerhafte Kompetenzver-
)er die korn- lagerung auf die Gubernative für den Pandemiefall? Eine klare verfassungsrecht-
einstweilige liche Regelung wäre jedenfalls vorzugswürdig gegenüber einer verfassungsrecht-
de auch des lich verschämten Verantwortungsverlagerung vom Parlament auf die Gubernative
im Infektionsschutzgesetz. Eine verfassungsrechtliche Basis wäre notwendig, um
die Kompetenzen überhaupt verfassungsrechtsfest derart weitgehend von der Le-
gislative zur Exekutive zu verschieben, wie wir es seit dem Frühjahr 2020 in
Deutschland beobachten konnten.76
mheiten der Einige Beobachter gingen schon zu Beginn der Pandemie so weit, im staatlichen
rer Prozesse Umgang mit ihr einen stillen Staatswandel zu erkennen. Der Staat des Grundge-
loch immer setzes orientiere sich de facto weg von einem auf dem Parlamentsgesetz fußenden
Lber ein ver- freiheitlich-liberalen Verfassungsstaat hin zu einem „faschistoid-hysterischen Hy-
ig der Not- gienestaat"77. Das ist ohne Frage rhetorisch überspitzte Wortgewalt — aber es zeigt
otausschuss die großen Sorgen, die mit der nach wie vor überwiegend von der Exekutive ge-
tragenen, rechtlichen Bekämpfung der Corona-Pandemie verbunden sind.78 Es ist
höchste Zeit, dass sich das Parlament seiner Verantwortung wieder vollumfänglich
sr geltend ge-
genden stren- besinnt.79 Immerhin besteht die Hoffnung, dass sich die vorpandemische verfas-
ie einstweilen sungsrechtliche Normallage nachpandemisch wieder einstellen wird. 80
bensschutz zu
;rliche Unver-
erfassungsbe-
:hwerdeführer
ichtlich unbe- 74 So schon früh Thielbörger/Behlert, Covid-19 und das Grundgesetz, Verfassungsblog.de,
rfahrens nicht 19.3.2020, verfassungsblog.de/covid-19-und-das-grundgesetz/ (zuletzt abgerufen am
28.3.2022); vgl. auch Schmidt, DVB1 2021, S. 231; zurückhaltend etwa Ipsen, RuP 56
sungsblog.de/ (2020), S. 118 (126 f.). — Zu den Notstandsregelungen in den Bundesländern instruktiv
Lemke, RuP 57 (2021), S. 16.
ellrechtlichen 75 Zu den Einschränkungen der parlamentarischen Arbeit zu Beginn der Pandemie vgl. Un-
beurteilt wor- trieser/Neußer, NVwZ 2021, S. 282.
reichend sub- 76 Vgl. Ipsen, DVB12020, S. 1037.
M. 8. 77 Heinig, Gottesdienstverbote auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes,
genhart, NJW Verfassungsblog.de, 17.3.2020, verfassungsblog.de/gottesdienstverbot-auf-grundlage-
sind freilich des-infektionsschutzgesetzes/ (zuletzt abgerufen am 29.3.2022).
78 Vgl. Möllers, Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus, Vedas-
auptsache zur sungsblog.de, 26.3.2020, Verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-
Beschluss v. im-zeichen-des-virus/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2022).
mäßigkeit der 79 So auch das Fazit der sorgfältigen Nachzeichnung der Situation von Gölzer/Fischer-
der Pandemie Uebler/Schaub, NVwZ 2021, S. 928 (935).
v. Verhältnis- 80 Vgl. den hoffnungsvollen Schlusssatz bei Kingreen, NJW 2021, S. 2766 (2771): „Wenn
das Virus bald Ruhe gibt, wird die notwendige Muße fur gute Gesetzgebung zurückkeh-
ren".
21
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Erfreulich ist, dass die Legislative in jüngster Zeit, nach der Neuwahl des Bundes-
tages im Herbst 2021, ernsthafte Bemühungen erkennen lässt, die aus seinem Un-
terlassen resultierende staatsstrukturelle Krise zu überwinden. Es ist höchste Zeit
zur Rückbesinnung des Parlaments auf seine Kernfunktion, die Repräsentation des
Souveräns. Doch diese Rückbesinnung erfolgte zu lange nicht. Die Sorgen werden
noch dadurch verstärkt, dass der Souverän sich daran kaum zu stören
schien — noch immer und im Rhythmus der Virus-Wellen stößt die vor allem von
der Exekutive ausgetragene Corona-Politik in Deutschland im Großen und Ganzen
auf Zustimmung. Angesichts dieser breiten Zustimmung im Angesicht der Pande-
mie bekommt das juristische Beharren auf die Legalität, die Legitimität verleihen
soll, etwas verzweifelt Formalistisches:81 Kann eine (kompetenzrechtlich) illegale
Staatspraxis illegitim sein, wenn der Souverän sie trägt? Überwiegt die Legitimität
ex post durch das fortgesetzte stille Plebiszit die Illegalität ex ante qua Verfas-
sungsrechtsordnung? Wäre eine gesetzliche Bindung der Exekutive angesichts der
empfundenen Unvorhersehbarkeit der Wendungen in dieser Pandemie zu starr,
wenn nicht gar lähmend? Kurzum: Verlangt die Lage nicht alternativlos nach einer
starken Exekutive? Unabhängig von den Antworten auf diese Fragen, die die Dis-
kussion zurück in die Verfassungstheorie fahren, ist es absehbar, dass die lange
„Stunde der Gubernative" auch unter dem neugewählten Bundestag noch nicht
vorüber ist.
81 Dezidiert anderes Legitimitätsverständnis etwa bei Schliesky, ZRP 2021, S. 27, der die
„Legitimitätsidee der westlichen Demokratien [in der] Freiheit des Einzelnen, kombi-
niert mit der Gemeinwohlbindung der Staatsgewalt, sichergestellt durch einen die Men-
schenwürde und die Gleichheit der Menschen achtenden Rechtsstaat" (S. 28) erkennt —
und diese Legitimität in der Pandemiebekämpfung im Schwinden sieht.
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