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ZSTW 2020; 132(2): 502–519502–519

Assoz. Professorin Dr. Margareth Helfer*


Je unberechenbarer, desto weiter? –
zum strafrechtlichen Schutz kollektiver
Rechtsgüter vor Naturgefahren
Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Haftung
für Lawinenunfälle in Italien

https://doi.org/10.1515/zstw-2020-0018

I. Einleitung
Die strafrechtliche Regelung von Gemeingefahren ist eine Herausforderung.
Zum einen gilt es, das Strafrecht so einzusetzen, dass der Schutz der All-
gemeinheit vor diffusen und oft konturenlosen Gefahren gewährleistet wird;
zum anderen soll das Gebot der Subsidiarität des Strafrechts berücksichtigt
werden.
Ein großer Teil der gemeingefährlichen Verbrechen im italienischen Straf-
recht ist an Naturereignisse geknüpft. Eine besondere Rolle spielt dabei der Tat-
bestand des schuldhaften Verursachens einer Überschwemmung, eines Erdrut-
sches oder einer Lawine. An ihm zeigt sich, dass die Komponente Natur das
Problem des verhältnismäßigen Einsatzes des Strafrechts verschärft, insofern
die Natur in ihrer Einzigartigkeit unberechenbar und als solche für das Straf-
recht geradezu unerträglich ist. Komplexe Kausalverläufe und teils unerforschte
Formen des Zusammenwirkens verschiedenster Faktoren sind für das Strafrecht
eine Herausforderung und entsprechen gerade nicht dem Idealbild eines Sach-
verhalts, den sich das Strafrecht wünscht, um über typische Bewertungspara-
meter zu einer hinreichend gesicherten Aussage zu Sein oder Nichtsein straf-
rechtlicher Verantwortlichkeit gelangen zu können. Die Beurteilung der Sachla-
ge wird schwierig, insbesondere, wenn gesicherte Aussagen zur Abfolge und
Interaktion von Handlungssträngen nicht in ausreichendem Maße getroffen
werden können. Die Herausforderung liegt darin, trotz widriger Umstände recht-

*Kontaktperson: Margareth Helfer, Assoziierte Professorin an der Universität Innsbruck, Institut


für Italienisches Recht.

Open Access. © 2020 Margareth Helfer, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist
lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
91 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 503

lich verwertbare Aussagen zur Zuverlässigkeit einer wissenschaftlichen Hypo-


these treffen zu können.1
Weil jedoch ungeachtet aller Vorkehrungen gerade in diesem schwer greif-
baren Bereich Beweisschwierigkeiten immer wahrscheinlich sind, die Effizienz
des Strafschutzes gleichzeitig aber nicht aufs Spiel gesetzt werden soll, scheint
der Einsatz von Gefährdungsstrafrecht kombiniert mit kollektiven Rechtsgütern
eine gute Wahl zu sein, um möglichen später auftretenden Defiziten in der Fest-
stellung der Strafbarkeit entgegenzuwirken und dadurch die Rechtsanwendung
einfacher und vorhersehbarer zu gestalten2. Die rechtspolitische Entscheidung für
ein solches Gefährdungsstrafrecht ist nachvollziehbar. Ob sie auch gerechtfertigt
bleibt, ist eine Frage, die gerade angesichts veränderter Gewichtungen relevanter
Strafrechtsprinzipien in Italien an Brisanz gewinnt.

II. Der strafrechtliche Schutz vor Naturgefahren


in Italien
Die Auseinandersetzung mit der Frage, wann Naturereignissen eine strafrecht-
liche Bedeutung zukommen kann, hat in Italien eine lange Tradition. Bereits im
ausgehenden 18. Jahrhundert war insbesondere die strafrechtliche Relevanz von
Brand und Überschwemmung Thema einer breiteren Diskussion zur Lehre der
Gemeingefahr. Es waren insbesondere die berühmten italienischen Strafrechts-
gelehrten Filangieri und Carmignani und später Francesco Carrara, die sich sehr
früh mit der Theorie der Gemeingefährdungsdelikte befassten3. Mit dem Codice

1 Stella, Giustizia e modernità. La protezione dell’innocente e la tutela delle vittime, Milano, 2002,
S. 346 f.; Prittwitz, Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminal-

politik in der Risikogesellschaft, Frankfurt a. M., 1993, S. 34 ff.


   

2 Gargani, Reati contro l’incolumità pubblica. Tomo I. Reati di comune pericolo mediante violen-
za, in: Grosso/Padovani/Pagliaro (Hrsg.), Trattato di diritto penale, Parte generale, Band IX, Mila-
no, 2008, S. 130; Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, München,
2005, S. 79 ff.

3 Gargani (Anm. 2), S. 13 ff. und S. 15 mit Verweis auf einen Eintrag von Francesco Carrara in Remi-

niscenze di cattedra e foro, Lucca, 1883, wonach es „die Italiener“, wie sonst auch so oft, ver-
absäumt hätten, dogmatisch ausgereifte Lehren in geltende Normen zu gießen. Im Fall der Inkri-
minierung der Gemeingefährdungsdelikte sei der deutsche Gesetzgeber mit der Verabschiedung
des RStGB dem italienischen eindeutig zuvorgekommen (ital. Originalzitat, Francesco Carrara,
S. 338: „Queste idee che già avevano balenato nella mente di Filangieri, e che si erano enucleate e
ridotte a dottrina scientifica dal Carmignani, hanno avuto per la solita vicenda del pensiero italiano
la loro attuazione nel titolo 27 del nuovo codice dello Impero Tedesco; perché è destino che l’Italia
504 Margareth Helfer 92

Zanardelli sollte im Jahr 1889 schließlich, auch in Anbetracht des in Deutschland


bereits 1871 in das Reichsstrafgesetzbuch eingefügten 27. Abschnitts zu den „Ge-
meingefährlichen Verbrechen und Vergehen“, der Titel VII eingeführt werden,
der im Unterschied zum deutschen RStGB mit der terminologischen Variante be-
titelt war: „Über die Verbrechen gegen die öffentliche Unversehrtheit (Dei delitti
contro la pubblica incolumità)“.4 Darunter fielen vorerst die vorsätzliche und fahr-
lässige Brandstiftung (Artt. 300 und 311 c. p.) und das vorsätzliche und fahrlässige

Verursachen einer Überschwemmung (Artt. 302 und 311 c. p.)5. Später, d. h. im


   

Jahr 1930, sollten im Codice Rocco Erdrutsch und Lawine als namentlich erwähnte
Naturphänomene hinzugefügt werden.
Seitdem wird gemäß den Strafrechtsbestimmungen in Artt. 426 i. V. m. 449 c.p.    

das Verursachen einer Überschwemmung, eines Erdrutsches oder einer Lawine


dann bestraft, wenn dies vorsätzlich oder fahrlässig geschieht und das Ereignis auf-
grund des Ausmaßes der Naturkatastrophe (disastro naturale6) eine Gefahr für das
geschützte Rechtsgut der öffentlichen Unversehrtheit darstellt.
Obwohl dieses Tatbestandsprofil sich klar und unmissverständlich präsen-
tiert, ist seine Interpretation und Anwendung umstritten. Problematisch ist nicht
nur die Bestimmung des Gefahrengrades, der auch in verfassungsrechtlicher
Hinsicht erreicht sein muss, um eine strafrechtlich relevante Gefährdung des ge-
schützten Rechtsguts ableiten zu können. Als schwierig erweist sich auch die Prü-
fung der Fahrlässigkeit vor dem Hintergrund der Rolle, die dem erlaubten Risiko
im Zusammenhang mit Naturereignissen zugesprochen werden kann.
Am Beispiel der rechtlichen Beurteilung des Naturereignisses Lawine treten
diese Anwendungsschwierigkeiten besonders deutlich zu Tage. Im Zuge einer nä-
heren Untersuchung des Sondertatbestandes soll skizziert werden, wie das Straf-
recht die komplexen Vorgänge in der Natur rechtlich zu erfassen sucht. Inwiefern

debba imparare dagli stranieri l’applicazione delle verità che agli stranieri furono insegnate dagli
italiani“.
4 Marinucci, Crollo di costruzioni, in: Enciclopedia del diritto, Band XI, Milano, 1962, S. 412;
D’Orazi, Distinzione e interdipendenza tra i concetti di ‘comune pericolo’ e ‘pubblica incolumità’,
in: Crit. pen. e med. leg., Rass. trim. di dottrina, giurisprudenza, medicina legale e delle assicura-
zioni, criminologia, 1960, S. 235 ff.; zur Vorgeschichte siehe auch Cadoppi/Veneziani, Elementi di

diritto penale. Parte speciale, Padova, 2012, S. 165 f.


5 Für eine deutsche Fassung des Codice Zanardelli siehe Vinciguerra/Vormbaum, Strafgesetzbuch
für das Königreich Italien („Codice Zanardelli“) vom 30. Juni 1889, in: Vormbaum (Hrsg.), Rechts-
geschichte und Rechtsgeschehen – Italien, Münster, 2014.
6 Der übersetzungstechnisch richtige Begriff für den im italienischen Gesetzestext verwendeten
Ausdruck „disastro“ lautete „Unglück“. Im Zusammenhang mit Naturereignissen und der Forde-
rung, dass diese für ihre strafrechtliche Relevanz eine gewisse Dimension aufweisen müssen, er-
scheint der Begriff „Katastrophe“ jedoch passender.
93 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 505

die geltenden Bestimmungen den Ansprüchen zentraler Strafrechtsprinzipien,


wie jenem der Subsidiarität des Strafrechts und des Schuldprinzips, und ihrer
zeitgemäßen Auslegung gerecht werden, wird abschließend analysiert.

III. Überschwemmung, Erdrutsch und Lawine als


strafrechtlich relevante Naturereignisse

1. Der Naturkatastrophentatbestand (Artt. 426 i. V. m.    

7
449 c.p. ): Rechtsgut und Deliktsstruktur
Gemäß Art. 426 c. p. ist mit Gefängnisstrafe von fünf bis zwölf Jahren zu bestrafen,

„wer eine Überschwemmung, einen Erdrutsch oder das Niedergehen einer Lawi-
ne“ vorsätzlich verursacht. Wird die Tat fahrlässig begangen, so droht nach
Art. 449 c. p. eine Gefängnisstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren.

Das geschützte Rechtsgut ist die öffentliche Unversehrtheit (pubblica incolu-


mità), verstanden als die individuelle Unversehrtheit (Leben, physische Integrität
und Gesundheit) einer unbestimmten Anzahl von Personen. Dies bedeutet jedoch
nicht, dass die tatbestandsmäßige Beeinträchtigung des Rechtsguts immer erst
dann gegeben ist, wenn eine Vielzahl von Personen gefährdet ist. Auch die Ge-
fährdung der Unversehrtheit nur einer einzelnen Person soll darunterfallen, wo-
bei die individuelle physische Unversehrtheit hier nicht als Individualrechtsgut,
sondern als Teil des kollektiven Rechtsguts der öffentlichen Unversehrtheit ge-
schützt wird8. Der Schutz der öffentlichen Unversehrtheit lässt sich somit als

7 Die Abkürzung „c.p.“ steht für „codice penale“, das italienische Strafgesetzbuch aus dem Jahr
1930 (sog. Codice Rocco).
8 Vgl. dazu Ardizzone, Incolumità pubblica (delitti e contravvenzioni contro la), in: Digesto delle
discipline penalistiche, VI, Torino, 1982, S. 366 f.; Angioni, Contenuto e funzioni del concetto di

bene giuridico, Milano, 1983, S. 190 ff.; Dean, L’incolumità pubblica nel diritto penale. Contributo

alla teoria generale dei reati di comune pericolo, Milano, 1971, S. 30 ff. Für eine anderslautende Mei-

nung, laut welcher auch die individuelle Unversehrtheit neben der öffentlichen Unversehrtheit di-
rekt geschütztes Rechtsgut sei, siehe Antolisei/Grosso, Manuale di Diritto penale, Parte speciale II,
Milano, 2016, S. 5 f.; Corbetta, Delitti contro l’incolumità pubblica. Band I. I delitti di comune peri-

colo mediante violenza, in: Marinucci/Dolcini (Hrsg.), Trattato di diritto penale, Padova, 2003, S. 17.
Für die hinsichtlich des Rechtsguts vergleichbare österreichische Bestimmung der Gemeingefähr-
dung (§ 177 StGB) wird hingegen die (konkrete) Gefährdung von mindestens zehn Personen ver-
langt. Näher dazu Murschetz, Naturgefahren und Strafrecht, in: Fuchs/Khakzadeh/Weber (Hrsg.),
Recht im Naturgefahrenmanagement, Innsbruck, 2006, S. 37.
506 Margareth Helfer 94

Schutz kumulierter Individualrechtsgüter definieren9. Die Entscheidung, Letztere


als Kollektiv zu schützen, mag für die Legitimierung des stark vorverlagerten
Rechtsschutzes eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.
Der Tatbestand wurde vom Gesetzgeber als vermutetes Gefährdungsdelikt
(delitto di pericolo presunto) konzipiert. Dabei handelt es sich um eine dritte, auto-
nome Kategorie an Gefährdungsdelikten, die neben die abstrakten und konkreten
Gefährdungsdelikte tritt10. Für die Strafbarkeit menschlichen Verhaltens genügt
es, eine vom Gesetzgeber definierte Situation herbeizuführen, bei deren Vorliegen
eine Gefährdung des geschützten Interesses gesetzlich angenommen werden
kann. Ist der in der Norm skizzierte Tatbestand erfüllt, gilt die Handlung auto-
matisch als gefährlich. Ob eine Rechtsgutsgefährdung (abstrakter oder konkreter
Natur) auch tatsächlich eingetreten ist, bleibt dabei ohne Belang. Die Gefahr für
das Rechtsgut wird absolut vermutet. Ein Gegenbeweis in Form des Beweises der
tatsächlichen Ungefährlichkeit der Handlung ist rechtlich unerheblich11. Für die

9 Siehe dazu grundlegend Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 140 ff.; ders.,

Die Rechtsgutslehre und der Besondere Teil des Strafrechts. Ein dogmatisch-empirischer Vergleich
von Chile, Deutschland und Spanien, in: ZIS, 10/2012, S. 507 ff.  

10 Zur Terminologie: Die verwendeten Begriffe „vermutete Gefährdungsdelikte“ und „abstrakte


Gefährdungsdelikte“ sind auf die Übersetzung der italienischen Bezeichnungen „delitti di pericolo
presunto“ und „delitti di pericolo astratto“ zurückzuführen. Die Unterschiede werden im Haupttext
näher erläutert werden. An dieser Stelle sei allein präzisiert, dass die ins Deutsche übersetzten ita-
lienischen Begriffe inhaltlich nicht den in Deutschland und in Österreich verwendeten Kategorien
der abstrakten und vermuteten/potentiellen Gefährdungsdelikte entsprechen.
11 Zu dieser Sonderkategorie und ihrer Abgrenzung zu den abstrakten Gefährdungsdelikten, die
heute als gefestigt gilt, siehe Gallo, I reati di pericolo, in: Il Foro Penale, 1969, S. 5 ff.; Fiandaca, La

tipizzazione del pericolo, in: Dei delitti e delle pene, 1984, S. 464 ff.; Parodi Giusino, I reati di peri-

colo tra dogmatica e politica criminale, Milano, 1990, S. 277 ff.; Angioni, Il pericolo concreto come

elemento della fattispecie penale. La struttura oggettiva, Milano, 1994, S. 242; Manna, I reati di
pericolo astratto e presunto e i modelli di diritto penale, in: Curi/Palombarini (Hrsg.), Diritto pena-
le minimo, Roma, 2002, S. 35 ff.; Gargani (Anm. 2), S. 125 ff.; Summerer, I reati di disastro naturale:
   

inondazione, frana o valanga (art. 426) e danneggiamento seguito da inondazione, frana o val-
anga (art. 427), in: Cadoppi/Canestrari/Manna/Papa (Hrsg.), Trattato di diritto penale, Parte spe-
ciale IV. I delitti contro l’incolumità pubblica e in materia di stupefacenti, Milano, 2010, S. 72 ff.  

Der Unterscheidung zwischen vermuteten und abstrakten Gefährdungsdelikten kann hingegen


ein Teil der Lehre weder aus phänomenologischer noch aus rechtsdogmatischer Sicht etwas abge-
winnen; als Gegenstück zu den konkreten Gefährdungsdelikten sollte es nur eine Kategorie geben
können (terminologisch zu bezeichnen entweder als „vermutete Gefährdungsdelikte“ oder „abs-
trakte Gefährdungsdelikte“), unter die alle Formen einer wie auch immer gearteten abstrakten
Gefährdung zu subsumieren seien. Für einzelne Vertreter dieser Lehre solle die Konsequenz
schließlich jene sein, die Inkriminierung nur konkret gefährlicher Handlungen zu legitimieren, da
es in allen anderen Fällen zu einer verfassungswidrigen Vorfeldkriminalisierung käme. Näher da-
zu Bricola, Teoria generale del reato, in: Novissimo Digesto Italiano, Torino, 1974, S. 86; Grasso,
95 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 507

Begründung strafrechtlicher Intervention für diese geringste Form der Beeinträch-


tigung eines Rechtsguts lässt der Gesetzgeber hier im Vergleich zu den abstrakten
Gefährdungsdelikten (delitti di pericolo astratto) somit eine von einer konkreten
Verletzung des Rechtsguts entferntere Gefährdung des Rechtsguts genügen. Da-
mit wird folglich eine noch niedrigere Strafbarkeitsschwelle legitimiert.
In Bezug auf das Beispiel des Naturereignisses Lawine bedeutet dies, dass
eine Gefahr für das geschützte Rechtsgut der öffentlichen Unversehrtheit immer
dann iuris et de iure vorliegt, wenn die ausgelöste Lawine dem vom Gesetzgeber
gedachten und definierten Typus einer gefährlichen Lawine entspricht. Nur eine
tatbestandsmäßige Lawine ist also eine gefährliche Lawine im Sinne des Straf-
rechts. Die Feststellung der strafrechtlich relevanten Gefahr für das Rechtsgut er-
folgt deduktiv auf der Grundlage der einzelnen, vom Gesetzgeber unter Bezug-
nahme auf allgemeine Erfahrungswerte ausformulierten Tatbestandsmerkmale.12
Eine richterliche Feststellung des Erfolgs in Gestalt einer tatsächlichen (abstrak-
ten oder konkreten) Rechtsgutsgefährdung ist daher nicht erforderlich13.

2. Der Naturkatastrophentatbestand: vom vermuteten zum


abstrakten Gefährdungsdelikt
a) Genese einer Entwicklung

Für das in seinen Grundzügen autoritär geprägte Strafgesetzbuch aus dem Jahr
1930 sollte daher für die Vollendung der Straftat des Auslösens einer Naturkata-
strophe zunächst eine rein gesetzlich vermutete Gefährdung des Rechtsguts der
öffentlichen Unversehrtheit ausreichen. Erst nach Inkrafttreten der italienischen
Verfassung im Jahr 1948, die sich aufgrund ihres liberalen und modernen
rechtsstaatlichen Charakters gerade für das Strafrecht zu einem korrigierenden
zentralen Grundrechtekompass etablierte, wurde diese ursprüngliche rechtliche

L’anticipazione della tutela penale: i reati di pericolo e i reati di attentato, in: Rivista italiana di
diritto e procedura penale, 1986, S. 687; Canestrari, Reati di pericolo, in: Enciclopedia giuridica
XXVI, Roma, 1991, S. 4 ff.; Patalano, Significato e limiti della dommatica dei reati di pericolo, Na-

poli, 1975, S. 71 ff.


12 Parodi Giusino (Anm. 11), S. 284; Romano, Pre-Art. 39, in: ders. (Hrsg.), Commentario sistema-
tico del Codice penale I (2004) Rdn. 111; Ardizzone, Inondazione, frana o valanga, in: Digesto delle
Discipline Penalistiche VII (1993), S. 61; Benini, Art. 426, in: Padovani (Hrsg.), Codice penale, Ras-
segna di giurisprudenza e di dottrina, Band IV, Buch II, 2005, S. 424.
13 Siehe dazu Landesgericht Bozen, Außenstelle Schlanders, Urteil vom 25.03.2002, Nr. 23, in:
L’indice penale, 2004, S. 689 ff., mit Anmerkung von Helfer, I criteri di accertamento della colpa in

caso di caduta di valanga.


508 Margareth Helfer 96

Qualifikation aus dem Jahr 1930 und mit ihr die Kategorie der vermuteten Ge-
fährdungsdelikte in ihrer Gesamtheit hinterfragt.
Eine rein gesetzliche Vermutung der Gefährlichkeit einer Handlung für ein
bestimmtes Rechtsgut sollte nicht mehr ausreichen, um die Strafbarkeit derselben
zu legitimieren, auch nicht im Interesse des Schutzes eines kollektiven Rechts-
guts. Die sog. „offensività“ oder Offensivität14 einer Handlung, verstanden als
konkret festzustellende Eignung, das geschützte Rechtsgut zu verletzen, fehlte in
diesen Fällen. Gerade der Umstand, dass es bei den vermuteten Gefährdungs-
delikten für die Strafbarkeit der Handlung keiner konkreten oder auch nur nähe-
ren Beziehung zum Rechtsgut bedarf, und somit eine sehr weite Vorverlagerung
der Strafbarkeit zugelassen wird, wurde als mit den in der Verfassung veranker-
ten Grundsätzen der Offensivität (Art. 25 Verf.) und der notwendigen Schuld
(Art. 27 Verf.) unvereinbar erklärt15. Das Legitimieren von Strafe in Fällen, in de-
nen das Rechtsgut in keinster Weise beeinträchtigt wird, widerspricht der an der
Rechtsgutstheorie unverändert festhaltenden Grundidee des italienischen Straf-
rechts, nach der erst die „offesa“, d. h. die Gefährdung oder Verletzung des

geschützten Rechtsguts durch die Tat, der dazugehörigen Handlung ihre straf-
rechtliche Relevanz verleiht16. Für das italienische Strafrecht als Tatstrafrecht ist

14 Zur Übersetzung des Begriffs „offensività“ mit dem Fremdwort „Offensivität“ anstatt mit „Sozi-
alschädlichkeit“ oder „Beeinträchtigungs-/Verletzungsprinzip“, insofern diese letzten beiden Be-
griffe nur z. T. der Bedeutung des Prinzips der „offensività“ in Italien entsprechen, siehe Vorm-

baum, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur italienischen Strafrechts- und Kriminalpolitik,
Münster, 2015, S. X.
15 Vgl. dazu die konstante Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes im Laufe der Jahrzehn-
te, wonach auch für sog. vermutete Gefährdungsdelikte die Feststellung der wenn auch nur abs-
trakten Gefährdung des Rechtsguts im konkreten Fall gefordert wird. VerfGH Nr. 286/1974; Nr. 333/
1991; Nr. 133/1992; Nr. 360/1995; Nr. 296/1996; Nr. 247/1997; Nr. 263/2000; Nr. 519/2000; Nr. 265/
2005/; Nr. 225/2008. Dazu bereits Canestrari, voce Reato di pericolo, in: Enciclopedia Giuridica,
XXVI, 1985, Roma, S. 8. Zum Prinzip der Offensivität als Gebot, das insbesondere im Zuge der Aus-
legung von Strafrechtsnormen zu berücksichtigen ist, Donini, Teoria del reato, in: Digesto delle
discipline penalistiche, XIV, Torino, 1999, S. 235; ders., Il principio di offensività. Dalla penalistica
italiana ai programmi europei, in: Diritto penale contemporaneo, Rivista trimestrale 4/2013,
S. 23 f.; Manes, Il principio di offensività nel diritto penale. Canone di politica criminale, criterio

ermeneutico, parametro di ragionevolezza, Torino, 2005, S. 245 ff.; ders., L’evoluzione del rapporto

tra corte e giudici comuni nell’attuazione del “volto costituzionale” dell’illecito penale, in: Manes/
Napoleoni, La legge penale illegittima. Metodo, itinerari e limiti della questione di costituzionalità
in materia penale, Torino, 2019, S. 33.
16 Donini, Teoria del reato. Una introduzione, Padova, 1996, S. 157; Manes, Der Beitrag der italie-
nischen Strafrechtswissenschaft zur Rechtsgutslehre. Terminologie und Dogmatik. Das sog. prin-
cipio di offensività, in: ZStW, 2002, 114, S. 728. Die Kategorie des vermuteten Gefährdungsdelikts,
die in Deutschland in etwa jener der „abstrakten Gefährdungsdelikte“ entspricht, gilt auch in
Deutschland als kriminalpolitisch und dogmatisch umstritten. Dazu Jescheck/Weigend, Lehrbuch
97 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 509

strafrechtliche Intervention, auch in ihrer präventiven Mission des Rechtsgüter-


schutzes, ausschließlich bei tatsächlich rechtsgutsdefizitären Handlungen ge-
rechtfertigt. Alle anderen Fälle gelten als Pflichtverletzungen und bloßer Gesin-
nungstadel, die als solche außerhalb des Strafrechts anzusiedeln sind.
Auf der Grundlage konstanter Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes
hat sich schließlich auch auf der Ebene der ordentlichen Gerichte nach und nach
die Auslegung durchgesetzt, vermutete Gefährdungsdelikte korrigierend in diese
Richtung zu interpretieren. Eine Handlung ist erst dann strafrechtlich relevant,
wenn der Richter im Einzelfall in der Lage ist, exakt jene Elemente des gesetzli-
chen Tatbestandes festzustellen, bei deren tatsächlichem Vorliegen eine zumin-
dest abstrakte Gefährdung des geschützten Rechtsguts gewährleistet ist und so-
mit die Verletzung des geschützten Rechtsguts immerhin für möglich gehalten
werden kann17. Erst die abstrakte Gefährdung des Rechtsguts soll den Einsatz des
Strafrechts rechtfertigen.

b) Der Naturkatastrophentatbestand – konkrete Anwendungsschwierigkeiten

Nach dieser Auffassung kann beispielsweise eine Lawine dann als strafrechtlich
relevant qualifiziert werden, wenn sie das Rechtsgut auch tatsächlich einer abs-
trakten Gefahr aussetzt und eine Verletzung im konkreten Fall immerhin möglich
scheint. Aus nachträglicher diagnostischer Sicht muss es sich um eine Lawine
gehandelt haben, die aufgrund ihres (gesetzlich geforderten) erheblichen Aus-
maßes (es muss sich immerhin um eine sog. Naturkatastrophe handeln) und der
örtlichen und zeitlichen Umstände ihres Abgleitens im konkreten Fall eine ex an-
te-Prognose der Möglichkeit der Verletzung des kollektiven Rechtsguts der öffent-
lichen Unversehrtheit erlaubte18. Aufgrund ihrer Dimension muss die Lawine so-
mit geeignet sein, eine unbestimmte Anzahl von Personen (es kann sich dabei am
Ende auch nur um eine Person handeln) zu gefährden19; sie ist aber erst dann

des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage, Berlin, 1996, S. 264 f.; Kindhäuser, Gefährdung als

Straftat, Frankfurt am Main, 1989, S. 225 ff.; Kuhlen, Zum Strafrecht der Risikogesellschaft, in: GA

1994, S. 347 ff. Sie könnten allerdings nur außerhalb der Rechtsgutstheorie legitimiert werden, in

einem Verständnis des Strafrechts als Instrument, das die Sicherheit des Menschen als sein Grund-
recht garantieren soll.
17 Parodi Giusino (Anm. 11), S. 407 f.

18 Dazu näher, im Zusammenhang mit dem technisch-normativen Begriff der Naturkatastrophe,


Gargani (Anm. 2), S. 171 f.

19 Ardizzone, Inondazione, frana o valanga, in: Digesto delle discipline penalistiche, VII, Torino,
1993, S. 58; Helfer, Naturgefahren und Strafrecht in Italien, in: Fuchs/Khakzadeh/Weber (Hrsg.),
Recht im Naturgefahrenmanagement, Innsbruck, 2006, S. 94; Summerer (Anm. 11), S. 70.
510 Margareth Helfer 98

strafrechtlich relevant, wenn die Verletzung des Rechtsguts im Einzelfall auch


tatsächlich als möglich eingestuft werden kann und somit eine abstrakte Gefähr-
dung vorliegt. Eine strafrechtliche Bedeutung einer Lawine ist infolgedessen aus-
zuschließen, wenn sie aufgrund 1) eines nur geringen Ausmaßes20 oder 2) der
örtlichen und zeitlichen Umstände eine Verletzung der Unversehrtheit einer un-
bestimmten Anzahl von Personen im Einzelfall unmöglich erscheinen lässt.21
Nach diesen Vorgaben fällt eine einfache Schneeumlagerung ohne Verschüt-
tungsgefahr nicht darunter. Ebenso gilt, dass einer Lawine grundsätzlich dann
keine strafrechtliche Bedeutung zukommt, wenn sie zwar erheblichen Ausmaßes
ist, sich allerdings in einem entlegenen und schwer zugänglichen Gelände ereig-
net, sodass eine Verschüttung von Personen geradezu ausgeschlossen werden
kann22.
Obwohl der Tatbestand als vermutetes Gefährdungsdelikt konzipiert ist, er-
möglicht es diese einschränkende, verfassungskonforme Auslegung als abstrak-
tes Gefährdungsdelikt23 somit, die Gefährlichkeit der Lawine nicht mehr allein
deduktiv aus der Norm abzuleiten. Verlangt wird vielmehr, die Gefahr für die öf-
fentliche Unversehrtheit mit Blick auf das konkrete Geschehen induktiv fest-
zustellen und somit nur dann als gegeben anzunehmen, wenn die Lawine erheb-
lichen Ausmaßes ist und in einem sog. anthropisierten Gelände abgleitet, d. h. in  

einem Gelände, in dem mit der Anwesenheit von Menschen in der Regel gerech-
net werden kann und somit die Gefährdung der öffentlichen Unversehrtheit im-
merhin real scheint24.
Der ex post-Gegenbeweis der Unmöglichkeit der Gefährdung von Menschen
bei Abgleiten einer Lawine in einem menschenleeren Gelände soll somit erlau-

20 Beispiele, auch für Überschwemmungen und Erdrutsche, können jeweils sein: Abfließen
bescheidener Wassermengen durch die Beschädigung einer Staumauer; kleine Erdrutsche;
Schneerutschungen verstanden als Schneeumlagerung ohne unmittelbare Verschüttungsge-
fahr.
21 Ardizzone (Anm. 19), S. 61; Parodi Giusino (Anm. 11), S. 408.
22 So bereits Manzini, Trattato di Diritto penale italiano, VI, Torino, 1983, S. 288; vgl. auch Corbet-
ta, Art. 426 c. p., in: Dolcini/Marinucci (Hrsg.), Codice penale commentato, Band II, Art. 314–592

c. p., Milano, 2015, Rdn. 9.


23 Zustimmend, KassGH, Sektion IV, Urteil 2.4.2019, Nr. 14263; zuvor bereits, KassGH, Sektion IV,
Urteil 20.12.2017, Nr. 12631; KassGH, Sektion IV, Urteil 20.5.2014, Nr. 5397; KassGH, Sektion IV, Ur-
teil 20.2.2007, Nr. 19342, in: Riv. pen., 2007, 10, S. 995; siehe auch bereits, Landesgericht Bozen,
Urteil 24.12.2002, Nr. 679.
24 Helfer, Die strafrechtliche Haftung bei Lawinenunfällen in Italien – eine Regelung mit Vorbild-
charakter?, in: Büchele/Ganner/Khakzadeh-Leiler/Mayr/Reissner/Schopper (Hrsg.), Aktuelle Fra-
gen des Schirechts, Innsbruck, 2013, S. 98 ff.; Kritzinger, Lawine und Strafrecht. Ein Rechtsver-

gleich zwischen Italien und Österreich, Dissertation, Univ. Innsbruck, 2014, S. 88 ff.

99 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 511

ben, eine gegenteilige ex ante-Beurteilung der Situation zu entkräften. Andern-


falls verschwimmt der Unterschied zum vermuteten Gefährdungsdelikt, bei wel-
chem von einer absoluten Gefährdung ohne Möglichkeit eines Gegenbeweises
ausgegangen wird.

c) Der Begriff „anthropisiertes Gebiet“ und seine kontroverse Interpretation

Um die abstrakte Gefährlichkeit einer Lawine, wie auch einer Überschwemmung


oder eines Erdrutsches, im Einzelfall präziser bestimmen zu können, wird immer
öfter das Kriterium der Anthropisierung eines Gebietes herangezogen.
Der Begriff „anthropisiertes Gebiet“ wurde zunächst insbesondere von Erst-
gerichten im Zuge der Anwendung des Naturkatastrophentatbestandes auf Lawi-
nenunglücke verwendet25. Bestärkt durch die Vorgabe des Verfassungsgerichts-
hofs, den Tatbestand verfassungskonform auszulegen und erst nach Prüfung der
abstrakten Gefährlichkeit der Lawine als erfüllt anzuerkennen, sollte die Einfüh-
rung eines greifbaren Kriteriums die Komplexität der Materie entwirren und so
dazu beitragen, im Interesse größerer Rechtssicherheit exakter bestimmen zu
können, wann eine strafrechtlich relevante Gefährdung verstanden als reale Ge-
fährdung des Rechtsguts überhaupt gegeben sein kann. Die Definition eines Ge-
bietes als anthropisiert sollte dabei nur einen ersten selektiven Anhaltspunkt lie-
fern, um dann im Einzelfall genau prüfen zu können, ob das geschützte Rechtsgut
denn tatsächlich abstrakt gefährdet war.

(1) Der Naturkatastrophentatbestand als konkretes Gefährdungsdelikt


Ein erster Versuch, durch eine sehr enge Definition des Kriteriums der Anthropi-
sierung den Tatbestand bereits im Zuge einer ersten Selektion so weit wie möglich
einzugrenzen, sollte scheitern. Zu ambitioniert war die Forderung, als „anthropi-
siert“ nur jenes Gebiet verstehen zu wollen, in dem sich auch tatsächlich „eine
oder mehrere nicht individuell bestimmte Personen aufhielten“26. Schließlich ent-
sprach diese Vorgabe dem Maßstab einer konkreten Gefährdung. Eine solche dort
zu verlangen, wo der Gesetzgeber ursprünglich eine reine Vermutung der Gefahr

25 Unter den ersten Urteilen, in denen das Kriterium der Anthropisierung eines Gebietes als Be-
wertungsparameter eine Rolle spielte, siehe Landesgericht Bozen, Urteil 23.4.2002, Nr. 679.
26 Ergebnisprotokoll des Workshops „Juridische Aspekte von Lawinenauslösungen“, EURAC, Bo-
zen, 19.01.2011, veröffentlicht auf der Seite des Südtiroler Alpenvereins www.alpenverein.it; ähn-
lich, Bruccoleri, Sci fuori pista e sci alpinismo: tra prevenzione e divieti, S. 2, veröffentlicht auf der
Seite www.bormioforumneve.eu.
512 Margareth Helfer 100

ausreichen lassen wollte, wurde als zu weitgehend und weder rechtsdogmatisch


noch rechtsstaatlich vertretbar angesehen. Die Herabstufung eines vermuteten
Gefährdungsdelikts auf ein konkretes Gefährdungsdelikt wurde schon allein des-
wegen kaum befürwortet, da dies einem unzulässigen Eingriff der Judikative in
die Kompetenz des Gesetzgebers zu entsprechen drohte27.

(2) Der lange Schatten des vermuteten Gefährdungsdelikts als größte Hürde
für die Etablierung eines einheitlichen Kriteriums
Gegenstand von Diskussionen bleibt die Frage, wie das Kriterium des anthropi-
sierten Gebietes im Interesse erhöhter Rechtssicherheit definiert werden soll, um
hinreichend konkret jene Fälle benennen zu können, in denen durch das Natur-
ereignis eine zwischen einer vermuteten und konkreten Gefährdung liegende Ge-
fahr für das geschützte Rechtsgut vorliegt und diese trotz ihres abstrakten Cha-
rakters noch mit dem Prinzip der Offensivität in Einklang zu bringen ist.
Während vor allem erstinstanzliche Gerichte den Begriff nach wie vor eng
auslegen und darunter ein Gebiet einordnen, in dem sich Infrastrukturen wie Auf-
stiegsanlagen, präparierte Skipisten, bewirtschaftete Almhütten, ausgewiesene
Pfade für Schneeschuhwanderer oder Straßen befinden28, genügt es nach Ansicht
des Kassationsgerichtshofes für die Feststellung einer verfassungskonformen ab-
strakten Gefährdung bereits, im Einzelfall nicht ausschließen zu können, dass
sich Personen im Gebiet aufhalten, unabhängig davon, wie hoch die Wahrschein-
lichkeit dafür aufgrund der Beschaffenheit des Geländes oder vorhandener Infra-
strukturen einzuschätzen ist.
Es ist zwar richtig, davon auszugehen, dass die tatsächliche Anwesenheit von
Personen nicht notwendigerweise im einen Fall eher gegeben sein muss als im
anderen; unbestreitbar bleibt trotzdem, dass die Wahrscheinlichkeit anwesender
Personen im Falle infrastrukturstarker Gebiete (z. B. ein mit Aufstiegsanlagen er-

schlossenes Skigebiet) höher ist als in einem freien und schwer zugänglichen Ge-
lände. Und diese Folgerung sollte eine Rolle spielen dürfen vor dem Hintergrund,
dass die Inkriminierung abstrakt gefährlicher Verhaltensweisen schlussendlich
allein dadurch legitimiert ist, dass die Verletzung des Rechtsguts durch Zufall

27 Helfer (Anm. 24), S. 98 ff.; Kritzinger (Anm. 24) S. 88 ff.


   

28 Siehe dazu Rossi/Busato, Sinistri in fuori pista e responsabilità penale, in: Rivista di diritto
sportivo 1/2018, S. 198, mit Verweis auf die Urteile des Landesgerichts Bozen, 9.11.2010, Nr. 529
(Urteil „Königangerspitze“) und des Landesgerichts Modena, 7.4.2011, Nr. 16. In beiden Fällen wur-
den Tourengeher von der Anklage des fahrlässigen Auslösens einer Lawine freigesprochen. Die
Lawine war jeweils in einem entlegenen und nicht erschlossenen Gebiet niedergegangen. So be-
reits das richtungsweisende Urteil des Landesgerichts Bozen, 24.12.2002, Nr. 679 (Anm. 25).
101 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 513

nicht eingetreten ist und ihr Ausbleiben nicht auf eine dem Täter obliegende
und ihn schlussendlich entlastende „Zufallsbeherrschung“29 zurückgeführt wird.
Trotz nicht eingetretener Rechtsgutsverletzung wird das Verhalten im Interesse
präventiven Rechtsgüterschutzes bestraft. Obwohl dieser neben der Unrechtsver-
geltung zu den zentralen Aufgaben des Strafrechts zählt30, bedeutet dies jedoch
keine uferlose Legitimierung strafrechtlicher Intervention bei Rechtsgütergefähr-
dung. Zurückhaltung ist gerade für Vorfeldkriminalisierungen in Kombination
mit kollektiven Rechtsgütern geboten31.
Als Beispiel für eine problematisch weite Auslegung des Tatbestandes kann
jener Fall des Kassationsgerichtshofs angeführt werden, in dem jüngst zwei Vari-
antenfahrer für das fahrlässige Auslösen einer Lawine verurteilt wurden32. Ob-
wohl die von den beiden Snowboardern ausgelöste Lawine in einen abgesperrten
und schwer zugänglichen Schneekanal abglitt, wurde darin eine abstrakte Gefahr
für das Rechtsgut der öffentlichen Unversehrtheit erkannt. Das entscheidende Ar-
gument war dabei, dass man schon allein von der Anwesenheit der beiden Sport-
ler auf die mögliche Anwesenheit auch anderer Personen in demselben Gebiet
hätte schließen können. Die Tatsache, dass sich die beiden Variantenfahrer in
dem Gebiet aufhielten, hätte nicht ausschließen lassen, dass sich, wie die Täter
selbst, auch andere Personen im Gelände hätten aufhalten können, indem sie
zuvor, wiederum wie die Täter selbst, das Zutrittsverbot missachtet und über den
Absperrungszaun geklettert wären. Der Umstand, dass eine Person in das Gebiet
vorgedrungen sei, lasse somit immer den Schluss zu, dass sich ebenso andere
Personen vor Ort befinden könnten und das Gelände, so entlegen es auch immer
sei, faktisch anthropisieren33. Eine Gefährdung anderer Personen ist nach dieser
Auffassung in diesen Fällen – und somit automatisch in allen Fällen, in denen
eine Lawine oder ein anderes Naturereignis von Menschenhand ausgelöst wird –

29 Siehe dazu im deutschen Schrifttum, Kratzsch, Prävention und Unrecht – eine Replik, in: GA
1989, S. 49 ff.; ders., Aufgaben- und Risikoverteilung als Kriterien der Zurechnung im Strafrecht, in:

Herzberg (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, Köln u. a., 1985, S. 65 ff.; kri-
   

tisch dazu Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, Tübingen, 1996, S. 26, 41 ff.;  

Hefendehl (Anm. 9), S. 215; Neumann, Buchbesprechung von Herzog, Felix: Gesellschaftliche Un-
sicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge. Studien zur Vorverlegung des Strafrechtsschutzes
in den Gefährdungsbereich, Heidelberg, 1991, in: ZStW 106 (1994), S. 195; Anastasopoulou
(Anm. 2), S. 230.
30 Neumann (Anm. 29), S. 196.
31 Gargani (Anm. 2), S. 125 ff.; Gallo (Anm. 11), S. 9.

32 KassGH, Sektion IV, Urteil 2.4.2019, Nr. 14263.


33 Dies sollte im konkreten Fall sogar gelten, obwohl das Gebiet abgesperrt war. So wie der Täter
das Verbot missachtet habe, so könne dies auch bei anderen Personen nicht ausgeschlossen wer-
den.
514 Margareth Helfer 102

abstrakt immer gegeben34. Die Folge wäre, von der Anwesenheit einer Person (des
Täters) im Gelände immer auf die mögliche Anwesenheit einer anderen Person
schließen zu können.
Obwohl die Argumentationskette logisch erscheint, stellt sich die Frage, ob
sie auch vor dem Verfassungsgerichtshof und seinem Gebot der Interpretation des
Naturgefahrentatbestandes eben nicht mehr als vermutetes, sondern als abstrak-
tes Gefährdungsdelikt standzuhalten in der Lage ist. Denkt man den Gedanken-
gang konsequent zu Ende, so muss die Frage verneint werden. Insofern strafrecht-
lich relevante Naturereignisse immer nur solche sind, die von Menschenhand
ausgelöst werden, ist die Anwesenheit einer Person vor Ort in den allermeisten
Fällen (mit Ausnahme von Unterlassungsszenarien) für die Tatverwirklichung
nicht wegzudenken. Und dies bedeutet, dass in all diesen Fällen immer auch auf
die mögliche Anwesenheit weiterer Personen geschlossen werden müsse, was tat-
sächlich die Schlussfolgerung, rectius, die Annahme einer abstrakten Gefährdung
im Einzelfall immer legitimieren würde. Das scheinbar überwundene vermutete
Gefährdungsdelikt käme somit über die Hintertür wieder herein.

(3) Die notwendige Offensivität und die Option zwischen abstrakter Gefahr in
kollektiv anthropisierten Gebieten oder konkreter Gefahr, tertium non datur
Eine am Verfassungsprinzip der notwendigen Offensivität orientierte Auslegung
der abstrakten Gefährdungsdelikte veranlasst demnach, von einer strafrechtlich
relevanten Handlung erst dann zu sprechen, wenn die Verletzung der Unversehrt-
heit einer unbestimmten Anzahl von Personen im Einzelfall tatsächlich mög-
lich scheint und somit von einer ernst zu nehmenden Verletzungsaussicht aus-
zugehen ist35. Um zu verhindern, dass diese enge, an die reale Offensivität der
Handlung gekoppelte Auslegung ihrer abstrakten Gefährlichkeit durch die Kom-
bination mit dem weiten Rechtsgut der öffentlichen Unversehrtheit an Griffigkeit
verliert, insofern Letzteres jenen Fall miteinschließt, in dem auch nur eine einzel-
ne Person beeinträchtigt wird36, ist es wichtig, den Unterschied zwischen einer
Einzelperson verstanden als Individuum und einer Einzelperson verstanden als
Vertreterin eines Kollektivs herauszustreichen und diesen konsequent bei der Be-
urteilung des Gefahrengrades mitzudenken. Will man an der konsolidierten An-
sicht festhalten, die abstrakte Gefährdung auch nur einer Person in Vertretung
eines Kollektivs gelten zu lassen, so ist dies umso mehr ein Grund dafür, einen

34 Ausführlich dazu immer KassGH, Sektion IV, Urteil 2.4.2019, Nr. 14263.


35 Gargani (Anm. 2), S. 172 f.

36 Siehe Kap. III.1.
103 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 515

ehrlichen und engen Maßstab bei der Bewertung einer Handlung als abstrakt ge-
fährlich anzulegen und diesen schlussendlich an das gedachte Kollektiv anzuleh-
nen und nicht an das potentielle einzelne Opfer. Tatsächlich kann die Anwesen-
heit einer einzelnen Person, wo auch immer, nie völlig ausgeschlossen werden,
jene einer Vielzahl von Personen hingegen durchaus. Und dies muss insbesonde-
re bei der Qualifizierung eines Gebietes als anthropisiert angemessen berücksich-
tigt werden.
Wenn das allgemein anerkannte Postulat gelten soll, dass das geforderte Maß
an Wahrscheinlichkeit einer Verletzung umso geringer sein kann, je höher der
drohende Schaden ist, so scheint die vertretene einschränkende Interpretation
angesichts der geforderten Offensivität der Handlung für ihre Inkriminierung
zweifelsfrei legitimiert.
Unterstützendes Argument bleibt in diesem Zusammenhang, dass selbst der
Gesetzgeber aus dem Jahr 1930 für eine generalisierende Gefährlichkeitsprognose
einer Naturkatastrophe forderte, dass diese aufgrund ihrer materiellen Dimension
und Örtlichkeit als ein die Gemeinschaft alarmierendes Ereignis wahrgenommen
werde, es also einen sog. allarme sociale auslöste. Eine durch das corpus delicti-
Naturkatastrophe generierte Gemeingefahr sollte daher auch erst dann vermutet
werden, wenn die Verletzung von Leib und Leben einer unbestimmten Anzahl
von Personen, eben eines Kollektivs, aus einer ex ante-Sicht ernstlich für möglich
gehalten werden konnte37.
Gerade für die neuere Auslegung des Tatbestandes als abstraktes Gefähr-
dungsdelikt soll vor diesem Hintergrund umso mehr darauf vertraut werden kön-
nen, eine abstrakte Gefahr für das Rechtsgut erst dann zu erkennen, wenn auf-
grund der örtlichen und zeitlichen Tatumstände der Zufall, dass nichts „passiert“
ist, als erheblich eingestuft werden kann. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn
die ausgelöste Naturkatastrophe, z. B. eine Lawine, in einem großteils erschlosse-

nen Gebiet niedergeht, z. B. auf eine geöffnete Skipiste abgleitet, sodass eine mög-

liche Anwesenheit von Personen am Unglücksort nicht die Ausnahme, sondern


die Regel ist. Ein Beispiel für einen abstrakt gefährlichen Erdrutsch könne in je-
nem Fall zu erkennen sein, in dem dieser auf einen benutzten Wanderweg, auf ein
Bahngleis oder in einem besiedelten Gebiet niedergeht.
Eine enge Auslegung der abstrakten Gefahr durch Berufung auf das Kriterium
der faktischen Anthropisierung scheint daher sinnvoll und geboten. Zum einen
kann dadurch eine klare Trennlinie zu einer rein vermuteten Gefährdung gezogen
werden. Zum anderen wird ermöglicht, eine Strafbarkeitsschwelle hinreichend
konkret zu definieren, die insbesondere vor dem strafrechtlichen Grundsatz des

37 Stella (Anm. 1), S. 577 f.



516 Margareth Helfer 104

Schuldnachweises über den berechtigten Zweifel hinaus bestehen kann. Wird


gerade diese letzte Hürde ernst genommen, so ergibt sich für die abstrakten Ge-
fährdungsdelikte auch keine andere verfassungsrechtlich vertretbare Interpreta-
tionsmöglichkeit. Die einzige verfassungskonforme Alternative zu dieser engen
Auslegung der abstrakten Gefährdungsdelikte bliebe dann nur mehr die Neuklas-
sifizierung der Tatbestände als konkrete Gefährdungsdelikte.

3. Die Prüfung der Fahrlässigkeit

Der Naturkatastrophentatbestand wird in den allermeisten Fällen als Fahrlässig-


keitsdelikt begangen. Mit der Notwendigkeit der Prüfung der Fahrlässigkeit ist
eine weitere Herausforderung gegeben. Besonders deutlich zeigt sich das an der
Schwierigkeit der Bestimmung des maßgerechten Täterverhaltens bei von Winter-
sportlern ausgelösten Lawinenunglücken.
Laut moderner Schnee- und Lawinenkunde gilt, dass das Abgleiten einer La-
wine im alpinen Gelände auch bei günstigsten Verhältnissen nie ausgeschlossen
werden kann. Ein sog. Restrisiko bleibt immer bestehen38. Wird dies allerdings im
Zuge der Rechtsanwendung nicht berücksichtigt und in Folge zu Unrecht nicht als
erlaubtes Risiko qualifiziert, insofern es außerhalb jenes Radius liegt, der vom
Menschen durch eine gebotene und ihm konkret zumutbare Sorgfalt kontrolliert
werden kann, so wird bei der Prüfung der allgemeinen Fahrlässigkeit die Frage
nach der strafrechtlich relevanten Vorhersehbarkeit des Lawinenabgangs durch
den Handelnden stets bejaht werden müssen. Die Entscheidung des Einzelnen,
die Skitour im freien Gelände unternehmen zu wollen, wäre somit von Beginn
an objektiv sorgfaltswidrig. Das konkrete ex ante Nicht-Vorhersehen und somit
Nicht-Vermeiden des (durch Unterlassen vermeidbaren) Erfolgs bei einem tat-
sächlich immer vorhersehbaren Risiko seines Eintritts wäre somit automatisch
fahrlässig.
Nun kann hier der Einwand erhoben werden, Risikosportarten liegen außer-
halb sozial adäquater Handlungen. Dass es sich beim Skitourensport und ganz
allgemein bei Risikosportarten um gefährliche Freizeitaktivitäten handelt, mag
unbestritten sein. Trotzdem reicht dies nicht aus, um das Risiko, das der Einzelne
dabei bereit ist einzugehen, als rechtlich missbilligtes Risiko zu qualifizieren.
Wenn das Kriterium für die Einordnung einer risikogeneigten Handlung in den

38 Munter, Risikomanagement im Wintersport, Vernamiège, 2014, 5. Auflage, S. 179 f. Zur Sicher-


heitsoptimierung und zum unvermeidbaren Restrisiko führt der Autor näher aus (S. 180): „Das
ungewisse Ereignis wird mit Sicherheit früher oder später eintreten. [...] Das einzig sichere am Rest-
risiko ist sein Eintreten“.
105 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 517

Radius sozial anerkannter und erwünschter Aktivitäten jenes ist, dass der soziale
Nutzen, der daraus gezogen wird, im Leben der modernen Gesellschaft nicht ent-
behrt werden kann, so kann der Skitourensport ohne Bedenken darunter sub-
sumiert werden. Obwohl es sich um eine gefährliche Freizeitaktivität handelt, hat
sich der Skitourensport im Alpenraum in den letzten Jahrzehnten zu einem be-
liebten Breitensport entwickelt. Der Nutzen, den man für das Wohlbefinden und
die individuelle Leistungsfähigkeit daraus zieht, in der unberührten alpinen Na-
tur sportlich aktiv sein zu können, steht wohl für viele im Vordergrund und ins-
besondere weit höher im Kurs als das damit verbundene Risiko, es könne ein
strafrechtlich relevanter rechtsgutsdefizitärer Erfolg eintreten.
Damit diese getroffene Interessensabwägung allerdings als sozial verträglich
und adäquat eingestuft und in der Folge das immer verbleibende Restrisiko als
erlaubtes Risiko qualifiziert werden kann, ist es erforderlich, sich jener gebotenen
Verhaltensregeln und technischen Hilfsmittel zu bedienen, die dazu beitragen,
das mit der Tätigkeit verbundene drohende Risiko zu minimieren. Sorgfalt kann
in diesem Zusammenhang somit als „vorsichtiges Handeln in Gefahrensituatio-
nen“39 definiert werden. Einer Subsumierung des verbleibenden Restrisikos eines
Lawinenabgangs unter den Begriff des erlaubten Risikos kann somit unter diesen
Umständen zugestimmt werden.
Obwohl die Lehre vom erlaubten Risiko in den modernen Strafrechtsordnun-
gen als anerkannt gilt40, ist eine konsequente Anwendung derselben in der italie-
nischen Rechtsordnung bei der Prüfung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit des
Dritten (insbesondere im Zusammenhang mit Bergunfällen) nicht durchwegs ge-
geben41. Die Maßfigur wird überhöht dargestellt, die Fähigkeiten insbesondere

39 Jescheck/Weigend (Anm. 16), S. 580.


40 Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, Frankfurt a. M., 1966, S. 21 ff.; Maiwald, Zur Leis-
   

tungsfähigkeit des Begriffs ‚erlaubtes Risiko‘ für die Strafrechtssystematik, in: Vogler u. a. (Hrsg.),

Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Berlin 1985, S. 405 ff.; Prittwitz, Straf-

recht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesell-
schaft, Frankfurt a. M., 1993, S. 29, S. 267 ff.; Kindhäuser, Erlaubtes Risiko und Sorgfaltswidrigkeit.
   

Zur Struktur strafrechtlicher Fahrlässigkeitshaftung, in: GA, 1994, S. 197.


41 Von einer ursprünglich noch sehr kritischen Haltung zu diesem für das italienische System
fremden Begrenzungsmaßstab der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, insbesondere zur Bestim-
mung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit, bis hin zu einem heute zwar anerkannten, jedoch nicht
durchwegs angewandten Kriterium siehe Gallo M., voce Colpa penale (dir. vig.), in: Enciclopedia
del diritto, VII, Milano, 1960 S. 639 ff.; Bricola, Aspetti problematici del cosiddetto rischio consen-

tito, in: Bollettino dell’istituto di diritto e procedura penale dell’Università degli studi di Pavia,
Pavia, 1960–61, S. 89 ff.; Fiore C., L’azione socialmente adeguata nel diritto penale, Napoli, 1966,

S. 169 ff.; Castaldo, La concretizzazione del rischio giuridicamente rilevante, in: Rivista italiana di

diritto e procedura penale, 1995, S. 1096 ff.; Militello, Rischio e responsabilità penale, Milano, 1988,

S. 55 ff., S. 205; Forti, Colpa ed evento nel diritto penale, Milano, 1990, S. 250 ff. und S. 453 ff.; Do-
     
518 Margareth Helfer 106

des Schutzpflichtigen, durch gebotene Sorgfalt das auch auf ein Restrisiko zu-
rückführbare Unglück vermeiden zu können, überschätzt. Die Trennlinie zwi-
schen erlaubtem Restrisiko und unerlaubtem Allgemeinrisiko verschwimmt. Eine
objektive Sorgfaltswidrigkeit und somit ein für die Fahrlässigkeit relevantes Un-
rechtsverhalten wird im Zweifel bejaht.
Verdeutlicht werden kann dies anhand eines Auszugs aus einem Urteil des
Kassationsgerichtshofs zu einem Lawinenfall:

„Jedenfalls war das Verhalten des Antragstellers unvorsichtig und nachlässig. Die Lawine
war aufgrund von wenigstens drei Risikofaktoren, welche das Gerichtsgutachten hervorhob,
vorhersehbar (Hangneigung, der gefallene Schnee und der Temperaturanstieg). Diese hät-
ten den Antragsteller – als erfahrenen Bergsteiger – veranlassen sollen, von der Abfahrt
abzusehen. Andere Faktoren, im Gerichtsgutachten ebenfalls angeführt, haben das Risiko
wohl verringert, es aber nicht ausgeschlossen [...]“42

Eine realistische Einschätzung und entsprechende rechtliche Bewertung von All-


tags- und Sonderrisiken ist daher gerade in diesem Zusammenhang unverzicht-
bar. Erst dann kann im Einzelfall die Feststellung persönlicher Schuld garantiert
werden.

IV. Fazit
Die engere oder weitere Auslegung des Offensivitätsprinzips ist in Italien ent-
scheidend für die Bestimmung des Grades an Gefährdung, der erreicht sein muss,
um eine Handlung als strafrechtlich relevant qualifizieren zu können.

nini, Illecito e colpevolezza nell’imputazione del reato, Milano, 1991, S. 317 ff. und S. 412 ff.; Giunta,
   

Illiceità e colpevolezza nella responsabilità colposa. I. La fattispecie, Padova, 1993, S. 185 ff.; Pier-

gallini, Il paradigma della colpa nell’età del rischio: prove di resistenza del tipo, in: Rivista italiana
di diritto e procedura penale, 2005, S. 1684; Ronco, Il reato come rischio, in: Archivio penale, 2015,
S. 717; Risicato, Colpa e comunicazione sociale del rischio sismico tra regole cautelari “aperte” e
causalità psichica, in: Giurisprudenza italiana, 2016, S. 1228 ff.; Pagliaro, Principi di diritto penale.

Parte generale, 8. Auflage, Milano, 2003, S. 300; Mantovani, Diritto penale. Parte generale, Milano,
2017, 10. Auflage, S. 344 f.; Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte generale, 7. Auflage, Torino,

2018, S. 581 ff.


42 KassGH, Sektion IV, Urteil 27.1.2006, Nr. 3367: „[...] comunque la condotta dell’imputato è stata
imprudente e negligente. La valanga era prevedibile in base ad almeno tre fattori di rischio eviden-
ziati dalla C.T.U. (pendenza, neve caduta e aumento della temperatura) che avrebbero dovuto
indurre il ricorrente – esperto alpinista – a desistere dalla discesa. Altri fattori, pure elencati nella
C.T.U., hanno ridotto il rischio ma non l’hanno escluso [...]“.
107 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 519

Wie sich zeigt, hat der Verfassungsgerichtshof auf der Grundlage seiner libe-
ralen Auslegungspraxis von Strafnormen bereits einen ersten Schritt gesetzt und
vermutete Gefährdungsdelikte für nicht verfassungskonform erklärt. Die Bestra-
fung einer faktisch ungefährlichen Handlung ist in einem am Tatstrafrecht orien-
tierten System nicht zu legitimieren, da dies auf eine Bestrafung allein der Ge-
fährlichkeit einer Person hinausläuft und somit nicht vertreten werden kann.
Einwände, wonach es sich bei den vermuteten Gefährdungsdelikten um eine adä-
quate Normsetzungstechnik zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter, wie
beispielsweise der öffentlichen Unversehrtheit, handle, sollen daher auch keine
Berücksichtigung finden43. Das Missverhältnis zwischen der Inkriminierung ver-
muteter Gefährdungsdelikte und dem Offensivitätsprinzip wird als zu stark emp-
funden, um es durch Argumente wie ein wichtiges gesetzgeberisches Motiv ein-
ebnen zu können.
Bei vermuteten Gefährdungsdelikten kann daher erst das Vorliegen einer abs-
trakten Gefahr strafbegründend sein. Erst die geforderte engere Beziehung zwi-
schen Tat und Rechtsgut und somit das den abstrakten Gefährdungsdelikten im-
manente höhere Verletzungspotential rechtfertigt strafrechtliche Intervention.
Für den Naturgefahrentatbestand und andere gemeingefährliche Delikte haben
sich damit die Anwendungsvoraussetzungen grundlegend geändert. Unberechen-
barkeit und Konturenlosigkeit der Gefahr ist kein Freibrief mehr für flächen-
deckenden strafrechtlichen Schutz. Ganz im Gegenteil: Ein akzentuiertes Offensi-
vitätsprinzip erlaubt, erst bei hinreichend zweifelsfreier Bestimmung einer tat-
sächlichen Gefährdung des Rechtsguts strafrechtliche Haftung anzunehmen.
Anstelle eines blinden Vorsorgeschutzes soll ein in Richtung Verletzung skalierter
Schutz und eine präzisere Konturierung des Rechtsguts treten, um der Besonder-
heit und Subsidiarität strafrechtlicher Intervention besser gerecht werden zu kön-
nen.

43 Dazu allgemein Fiandaca/Di Chiara, Una introduzione al sistema penale per una lettura costi-
tuzionalmente orientata, Napoli, 2003, S. 142 f.

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