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https://doi.org/10.1515/zstw-2020-0018
I. Einleitung
Die strafrechtliche Regelung von Gemeingefahren ist eine Herausforderung.
Zum einen gilt es, das Strafrecht so einzusetzen, dass der Schutz der All-
gemeinheit vor diffusen und oft konturenlosen Gefahren gewährleistet wird;
zum anderen soll das Gebot der Subsidiarität des Strafrechts berücksichtigt
werden.
Ein großer Teil der gemeingefährlichen Verbrechen im italienischen Straf-
recht ist an Naturereignisse geknüpft. Eine besondere Rolle spielt dabei der Tat-
bestand des schuldhaften Verursachens einer Überschwemmung, eines Erdrut-
sches oder einer Lawine. An ihm zeigt sich, dass die Komponente Natur das
Problem des verhältnismäßigen Einsatzes des Strafrechts verschärft, insofern
die Natur in ihrer Einzigartigkeit unberechenbar und als solche für das Straf-
recht geradezu unerträglich ist. Komplexe Kausalverläufe und teils unerforschte
Formen des Zusammenwirkens verschiedenster Faktoren sind für das Strafrecht
eine Herausforderung und entsprechen gerade nicht dem Idealbild eines Sach-
verhalts, den sich das Strafrecht wünscht, um über typische Bewertungspara-
meter zu einer hinreichend gesicherten Aussage zu Sein oder Nichtsein straf-
rechtlicher Verantwortlichkeit gelangen zu können. Die Beurteilung der Sachla-
ge wird schwierig, insbesondere, wenn gesicherte Aussagen zur Abfolge und
Interaktion von Handlungssträngen nicht in ausreichendem Maße getroffen
werden können. Die Herausforderung liegt darin, trotz widriger Umstände recht-
Open Access. © 2020 Margareth Helfer, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist
lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
91 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 503
1 Stella, Giustizia e modernità. La protezione dell’innocente e la tutela delle vittime, Milano, 2002,
S. 346 f.; Prittwitz, Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminal-
2 Gargani, Reati contro l’incolumità pubblica. Tomo I. Reati di comune pericolo mediante violen-
za, in: Grosso/Padovani/Pagliaro (Hrsg.), Trattato di diritto penale, Parte generale, Band IX, Mila-
no, 2008, S. 130; Anastasopoulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, München,
2005, S. 79 ff.
3 Gargani (Anm. 2), S. 13 ff. und S. 15 mit Verweis auf einen Eintrag von Francesco Carrara in Remi-
niscenze di cattedra e foro, Lucca, 1883, wonach es „die Italiener“, wie sonst auch so oft, ver-
absäumt hätten, dogmatisch ausgereifte Lehren in geltende Normen zu gießen. Im Fall der Inkri-
minierung der Gemeingefährdungsdelikte sei der deutsche Gesetzgeber mit der Verabschiedung
des RStGB dem italienischen eindeutig zuvorgekommen (ital. Originalzitat, Francesco Carrara,
S. 338: „Queste idee che già avevano balenato nella mente di Filangieri, e che si erano enucleate e
ridotte a dottrina scientifica dal Carmignani, hanno avuto per la solita vicenda del pensiero italiano
la loro attuazione nel titolo 27 del nuovo codice dello Impero Tedesco; perché è destino che l’Italia
504 Margareth Helfer 92
Jahr 1930, sollten im Codice Rocco Erdrutsch und Lawine als namentlich erwähnte
Naturphänomene hinzugefügt werden.
Seitdem wird gemäß den Strafrechtsbestimmungen in Artt. 426 i. V. m. 449 c.p.
debba imparare dagli stranieri l’applicazione delle verità che agli stranieri furono insegnate dagli
italiani“.
4 Marinucci, Crollo di costruzioni, in: Enciclopedia del diritto, Band XI, Milano, 1962, S. 412;
D’Orazi, Distinzione e interdipendenza tra i concetti di ‘comune pericolo’ e ‘pubblica incolumità’,
in: Crit. pen. e med. leg., Rass. trim. di dottrina, giurisprudenza, medicina legale e delle assicura-
zioni, criminologia, 1960, S. 235 ff.; zur Vorgeschichte siehe auch Cadoppi/Veneziani, Elementi di
5 Für eine deutsche Fassung des Codice Zanardelli siehe Vinciguerra/Vormbaum, Strafgesetzbuch
für das Königreich Italien („Codice Zanardelli“) vom 30. Juni 1889, in: Vormbaum (Hrsg.), Rechts-
geschichte und Rechtsgeschehen – Italien, Münster, 2014.
6 Der übersetzungstechnisch richtige Begriff für den im italienischen Gesetzestext verwendeten
Ausdruck „disastro“ lautete „Unglück“. Im Zusammenhang mit Naturereignissen und der Forde-
rung, dass diese für ihre strafrechtliche Relevanz eine gewisse Dimension aufweisen müssen, er-
scheint der Begriff „Katastrophe“ jedoch passender.
93 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 505
7
449 c.p. ): Rechtsgut und Deliktsstruktur
Gemäß Art. 426 c. p. ist mit Gefängnisstrafe von fünf bis zwölf Jahren zu bestrafen,
„wer eine Überschwemmung, einen Erdrutsch oder das Niedergehen einer Lawi-
ne“ vorsätzlich verursacht. Wird die Tat fahrlässig begangen, so droht nach
Art. 449 c. p. eine Gefängnisstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren.
7 Die Abkürzung „c.p.“ steht für „codice penale“, das italienische Strafgesetzbuch aus dem Jahr
1930 (sog. Codice Rocco).
8 Vgl. dazu Ardizzone, Incolumità pubblica (delitti e contravvenzioni contro la), in: Digesto delle
discipline penalistiche, VI, Torino, 1982, S. 366 f.; Angioni, Contenuto e funzioni del concetto di
bene giuridico, Milano, 1983, S. 190 ff.; Dean, L’incolumità pubblica nel diritto penale. Contributo
alla teoria generale dei reati di comune pericolo, Milano, 1971, S. 30 ff. Für eine anderslautende Mei-
nung, laut welcher auch die individuelle Unversehrtheit neben der öffentlichen Unversehrtheit di-
rekt geschütztes Rechtsgut sei, siehe Antolisei/Grosso, Manuale di Diritto penale, Parte speciale II,
Milano, 2016, S. 5 f.; Corbetta, Delitti contro l’incolumità pubblica. Band I. I delitti di comune peri-
colo mediante violenza, in: Marinucci/Dolcini (Hrsg.), Trattato di diritto penale, Padova, 2003, S. 17.
Für die hinsichtlich des Rechtsguts vergleichbare österreichische Bestimmung der Gemeingefähr-
dung (§ 177 StGB) wird hingegen die (konkrete) Gefährdung von mindestens zehn Personen ver-
langt. Näher dazu Murschetz, Naturgefahren und Strafrecht, in: Fuchs/Khakzadeh/Weber (Hrsg.),
Recht im Naturgefahrenmanagement, Innsbruck, 2006, S. 37.
506 Margareth Helfer 94
9 Siehe dazu grundlegend Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 140 ff.; ders.,
Die Rechtsgutslehre und der Besondere Teil des Strafrechts. Ein dogmatisch-empirischer Vergleich
von Chile, Deutschland und Spanien, in: ZIS, 10/2012, S. 507 ff.
tipizzazione del pericolo, in: Dei delitti e delle pene, 1984, S. 464 ff.; Parodi Giusino, I reati di peri-
colo tra dogmatica e politica criminale, Milano, 1990, S. 277 ff.; Angioni, Il pericolo concreto come
elemento della fattispecie penale. La struttura oggettiva, Milano, 1994, S. 242; Manna, I reati di
pericolo astratto e presunto e i modelli di diritto penale, in: Curi/Palombarini (Hrsg.), Diritto pena-
le minimo, Roma, 2002, S. 35 ff.; Gargani (Anm. 2), S. 125 ff.; Summerer, I reati di disastro naturale:
inondazione, frana o valanga (art. 426) e danneggiamento seguito da inondazione, frana o val-
anga (art. 427), in: Cadoppi/Canestrari/Manna/Papa (Hrsg.), Trattato di diritto penale, Parte spe-
ciale IV. I delitti contro l’incolumità pubblica e in materia di stupefacenti, Milano, 2010, S. 72 ff.
Für das in seinen Grundzügen autoritär geprägte Strafgesetzbuch aus dem Jahr
1930 sollte daher für die Vollendung der Straftat des Auslösens einer Naturkata-
strophe zunächst eine rein gesetzlich vermutete Gefährdung des Rechtsguts der
öffentlichen Unversehrtheit ausreichen. Erst nach Inkrafttreten der italienischen
Verfassung im Jahr 1948, die sich aufgrund ihres liberalen und modernen
rechtsstaatlichen Charakters gerade für das Strafrecht zu einem korrigierenden
zentralen Grundrechtekompass etablierte, wurde diese ursprüngliche rechtliche
L’anticipazione della tutela penale: i reati di pericolo e i reati di attentato, in: Rivista italiana di
diritto e procedura penale, 1986, S. 687; Canestrari, Reati di pericolo, in: Enciclopedia giuridica
XXVI, Roma, 1991, S. 4 ff.; Patalano, Significato e limiti della dommatica dei reati di pericolo, Na-
12 Parodi Giusino (Anm. 11), S. 284; Romano, Pre-Art. 39, in: ders. (Hrsg.), Commentario sistema-
tico del Codice penale I (2004) Rdn. 111; Ardizzone, Inondazione, frana o valanga, in: Digesto delle
Discipline Penalistiche VII (1993), S. 61; Benini, Art. 426, in: Padovani (Hrsg.), Codice penale, Ras-
segna di giurisprudenza e di dottrina, Band IV, Buch II, 2005, S. 424.
13 Siehe dazu Landesgericht Bozen, Außenstelle Schlanders, Urteil vom 25.03.2002, Nr. 23, in:
L’indice penale, 2004, S. 689 ff., mit Anmerkung von Helfer, I criteri di accertamento della colpa in
Qualifikation aus dem Jahr 1930 und mit ihr die Kategorie der vermuteten Ge-
fährdungsdelikte in ihrer Gesamtheit hinterfragt.
Eine rein gesetzliche Vermutung der Gefährlichkeit einer Handlung für ein
bestimmtes Rechtsgut sollte nicht mehr ausreichen, um die Strafbarkeit derselben
zu legitimieren, auch nicht im Interesse des Schutzes eines kollektiven Rechts-
guts. Die sog. „offensività“ oder Offensivität14 einer Handlung, verstanden als
konkret festzustellende Eignung, das geschützte Rechtsgut zu verletzen, fehlte in
diesen Fällen. Gerade der Umstand, dass es bei den vermuteten Gefährdungs-
delikten für die Strafbarkeit der Handlung keiner konkreten oder auch nur nähe-
ren Beziehung zum Rechtsgut bedarf, und somit eine sehr weite Vorverlagerung
der Strafbarkeit zugelassen wird, wurde als mit den in der Verfassung veranker-
ten Grundsätzen der Offensivität (Art. 25 Verf.) und der notwendigen Schuld
(Art. 27 Verf.) unvereinbar erklärt15. Das Legitimieren von Strafe in Fällen, in de-
nen das Rechtsgut in keinster Weise beeinträchtigt wird, widerspricht der an der
Rechtsgutstheorie unverändert festhaltenden Grundidee des italienischen Straf-
rechts, nach der erst die „offesa“, d. h. die Gefährdung oder Verletzung des
geschützten Rechtsguts durch die Tat, der dazugehörigen Handlung ihre straf-
rechtliche Relevanz verleiht16. Für das italienische Strafrecht als Tatstrafrecht ist
14 Zur Übersetzung des Begriffs „offensività“ mit dem Fremdwort „Offensivität“ anstatt mit „Sozi-
alschädlichkeit“ oder „Beeinträchtigungs-/Verletzungsprinzip“, insofern diese letzten beiden Be-
griffe nur z. T. der Bedeutung des Prinzips der „offensività“ in Italien entsprechen, siehe Vorm-
baum, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur italienischen Strafrechts- und Kriminalpolitik,
Münster, 2015, S. X.
15 Vgl. dazu die konstante Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes im Laufe der Jahrzehn-
te, wonach auch für sog. vermutete Gefährdungsdelikte die Feststellung der wenn auch nur abs-
trakten Gefährdung des Rechtsguts im konkreten Fall gefordert wird. VerfGH Nr. 286/1974; Nr. 333/
1991; Nr. 133/1992; Nr. 360/1995; Nr. 296/1996; Nr. 247/1997; Nr. 263/2000; Nr. 519/2000; Nr. 265/
2005/; Nr. 225/2008. Dazu bereits Canestrari, voce Reato di pericolo, in: Enciclopedia Giuridica,
XXVI, 1985, Roma, S. 8. Zum Prinzip der Offensivität als Gebot, das insbesondere im Zuge der Aus-
legung von Strafrechtsnormen zu berücksichtigen ist, Donini, Teoria del reato, in: Digesto delle
discipline penalistiche, XIV, Torino, 1999, S. 235; ders., Il principio di offensività. Dalla penalistica
italiana ai programmi europei, in: Diritto penale contemporaneo, Rivista trimestrale 4/2013,
S. 23 f.; Manes, Il principio di offensività nel diritto penale. Canone di politica criminale, criterio
ermeneutico, parametro di ragionevolezza, Torino, 2005, S. 245 ff.; ders., L’evoluzione del rapporto
tra corte e giudici comuni nell’attuazione del “volto costituzionale” dell’illecito penale, in: Manes/
Napoleoni, La legge penale illegittima. Metodo, itinerari e limiti della questione di costituzionalità
in materia penale, Torino, 2019, S. 33.
16 Donini, Teoria del reato. Una introduzione, Padova, 1996, S. 157; Manes, Der Beitrag der italie-
nischen Strafrechtswissenschaft zur Rechtsgutslehre. Terminologie und Dogmatik. Das sog. prin-
cipio di offensività, in: ZStW, 2002, 114, S. 728. Die Kategorie des vermuteten Gefährdungsdelikts,
die in Deutschland in etwa jener der „abstrakten Gefährdungsdelikte“ entspricht, gilt auch in
Deutschland als kriminalpolitisch und dogmatisch umstritten. Dazu Jescheck/Weigend, Lehrbuch
97 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 509
Nach dieser Auffassung kann beispielsweise eine Lawine dann als strafrechtlich
relevant qualifiziert werden, wenn sie das Rechtsgut auch tatsächlich einer abs-
trakten Gefahr aussetzt und eine Verletzung im konkreten Fall immerhin möglich
scheint. Aus nachträglicher diagnostischer Sicht muss es sich um eine Lawine
gehandelt haben, die aufgrund ihres (gesetzlich geforderten) erheblichen Aus-
maßes (es muss sich immerhin um eine sog. Naturkatastrophe handeln) und der
örtlichen und zeitlichen Umstände ihres Abgleitens im konkreten Fall eine ex an-
te-Prognose der Möglichkeit der Verletzung des kollektiven Rechtsguts der öffent-
lichen Unversehrtheit erlaubte18. Aufgrund ihrer Dimension muss die Lawine so-
mit geeignet sein, eine unbestimmte Anzahl von Personen (es kann sich dabei am
Ende auch nur um eine Person handeln) zu gefährden19; sie ist aber erst dann
des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage, Berlin, 1996, S. 264 f.; Kindhäuser, Gefährdung als
Straftat, Frankfurt am Main, 1989, S. 225 ff.; Kuhlen, Zum Strafrecht der Risikogesellschaft, in: GA
1994, S. 347 ff. Sie könnten allerdings nur außerhalb der Rechtsgutstheorie legitimiert werden, in
einem Verständnis des Strafrechts als Instrument, das die Sicherheit des Menschen als sein Grund-
recht garantieren soll.
17 Parodi Giusino (Anm. 11), S. 407 f.
19 Ardizzone, Inondazione, frana o valanga, in: Digesto delle discipline penalistiche, VII, Torino,
1993, S. 58; Helfer, Naturgefahren und Strafrecht in Italien, in: Fuchs/Khakzadeh/Weber (Hrsg.),
Recht im Naturgefahrenmanagement, Innsbruck, 2006, S. 94; Summerer (Anm. 11), S. 70.
510 Margareth Helfer 98
einem Gelände, in dem mit der Anwesenheit von Menschen in der Regel gerech-
net werden kann und somit die Gefährdung der öffentlichen Unversehrtheit im-
merhin real scheint24.
Der ex post-Gegenbeweis der Unmöglichkeit der Gefährdung von Menschen
bei Abgleiten einer Lawine in einem menschenleeren Gelände soll somit erlau-
20 Beispiele, auch für Überschwemmungen und Erdrutsche, können jeweils sein: Abfließen
bescheidener Wassermengen durch die Beschädigung einer Staumauer; kleine Erdrutsche;
Schneerutschungen verstanden als Schneeumlagerung ohne unmittelbare Verschüttungsge-
fahr.
21 Ardizzone (Anm. 19), S. 61; Parodi Giusino (Anm. 11), S. 408.
22 So bereits Manzini, Trattato di Diritto penale italiano, VI, Torino, 1983, S. 288; vgl. auch Corbet-
ta, Art. 426 c. p., in: Dolcini/Marinucci (Hrsg.), Codice penale commentato, Band II, Art. 314–592
23 Zustimmend, KassGH, Sektion IV, Urteil 2.4.2019, Nr. 14263; zuvor bereits, KassGH, Sektion IV,
Urteil 20.12.2017, Nr. 12631; KassGH, Sektion IV, Urteil 20.5.2014, Nr. 5397; KassGH, Sektion IV, Ur-
teil 20.2.2007, Nr. 19342, in: Riv. pen., 2007, 10, S. 995; siehe auch bereits, Landesgericht Bozen,
Urteil 24.12.2002, Nr. 679.
24 Helfer, Die strafrechtliche Haftung bei Lawinenunfällen in Italien – eine Regelung mit Vorbild-
charakter?, in: Büchele/Ganner/Khakzadeh-Leiler/Mayr/Reissner/Schopper (Hrsg.), Aktuelle Fra-
gen des Schirechts, Innsbruck, 2013, S. 98 ff.; Kritzinger, Lawine und Strafrecht. Ein Rechtsver-
gleich zwischen Italien und Österreich, Dissertation, Univ. Innsbruck, 2014, S. 88 ff.
99 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 511
25 Unter den ersten Urteilen, in denen das Kriterium der Anthropisierung eines Gebietes als Be-
wertungsparameter eine Rolle spielte, siehe Landesgericht Bozen, Urteil 23.4.2002, Nr. 679.
26 Ergebnisprotokoll des Workshops „Juridische Aspekte von Lawinenauslösungen“, EURAC, Bo-
zen, 19.01.2011, veröffentlicht auf der Seite des Südtiroler Alpenvereins www.alpenverein.it; ähn-
lich, Bruccoleri, Sci fuori pista e sci alpinismo: tra prevenzione e divieti, S. 2, veröffentlicht auf der
Seite www.bormioforumneve.eu.
512 Margareth Helfer 100
(2) Der lange Schatten des vermuteten Gefährdungsdelikts als größte Hürde
für die Etablierung eines einheitlichen Kriteriums
Gegenstand von Diskussionen bleibt die Frage, wie das Kriterium des anthropi-
sierten Gebietes im Interesse erhöhter Rechtssicherheit definiert werden soll, um
hinreichend konkret jene Fälle benennen zu können, in denen durch das Natur-
ereignis eine zwischen einer vermuteten und konkreten Gefährdung liegende Ge-
fahr für das geschützte Rechtsgut vorliegt und diese trotz ihres abstrakten Cha-
rakters noch mit dem Prinzip der Offensivität in Einklang zu bringen ist.
Während vor allem erstinstanzliche Gerichte den Begriff nach wie vor eng
auslegen und darunter ein Gebiet einordnen, in dem sich Infrastrukturen wie Auf-
stiegsanlagen, präparierte Skipisten, bewirtschaftete Almhütten, ausgewiesene
Pfade für Schneeschuhwanderer oder Straßen befinden28, genügt es nach Ansicht
des Kassationsgerichtshofes für die Feststellung einer verfassungskonformen ab-
strakten Gefährdung bereits, im Einzelfall nicht ausschließen zu können, dass
sich Personen im Gebiet aufhalten, unabhängig davon, wie hoch die Wahrschein-
lichkeit dafür aufgrund der Beschaffenheit des Geländes oder vorhandener Infra-
strukturen einzuschätzen ist.
Es ist zwar richtig, davon auszugehen, dass die tatsächliche Anwesenheit von
Personen nicht notwendigerweise im einen Fall eher gegeben sein muss als im
anderen; unbestreitbar bleibt trotzdem, dass die Wahrscheinlichkeit anwesender
Personen im Falle infrastrukturstarker Gebiete (z. B. ein mit Aufstiegsanlagen er-
schlossenes Skigebiet) höher ist als in einem freien und schwer zugänglichen Ge-
lände. Und diese Folgerung sollte eine Rolle spielen dürfen vor dem Hintergrund,
dass die Inkriminierung abstrakt gefährlicher Verhaltensweisen schlussendlich
allein dadurch legitimiert ist, dass die Verletzung des Rechtsguts durch Zufall
28 Siehe dazu Rossi/Busato, Sinistri in fuori pista e responsabilità penale, in: Rivista di diritto
sportivo 1/2018, S. 198, mit Verweis auf die Urteile des Landesgerichts Bozen, 9.11.2010, Nr. 529
(Urteil „Königangerspitze“) und des Landesgerichts Modena, 7.4.2011, Nr. 16. In beiden Fällen wur-
den Tourengeher von der Anklage des fahrlässigen Auslösens einer Lawine freigesprochen. Die
Lawine war jeweils in einem entlegenen und nicht erschlossenen Gebiet niedergegangen. So be-
reits das richtungsweisende Urteil des Landesgerichts Bozen, 24.12.2002, Nr. 679 (Anm. 25).
101 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 513
nicht eingetreten ist und ihr Ausbleiben nicht auf eine dem Täter obliegende
und ihn schlussendlich entlastende „Zufallsbeherrschung“29 zurückgeführt wird.
Trotz nicht eingetretener Rechtsgutsverletzung wird das Verhalten im Interesse
präventiven Rechtsgüterschutzes bestraft. Obwohl dieser neben der Unrechtsver-
geltung zu den zentralen Aufgaben des Strafrechts zählt30, bedeutet dies jedoch
keine uferlose Legitimierung strafrechtlicher Intervention bei Rechtsgütergefähr-
dung. Zurückhaltung ist gerade für Vorfeldkriminalisierungen in Kombination
mit kollektiven Rechtsgütern geboten31.
Als Beispiel für eine problematisch weite Auslegung des Tatbestandes kann
jener Fall des Kassationsgerichtshofs angeführt werden, in dem jüngst zwei Vari-
antenfahrer für das fahrlässige Auslösen einer Lawine verurteilt wurden32. Ob-
wohl die von den beiden Snowboardern ausgelöste Lawine in einen abgesperrten
und schwer zugänglichen Schneekanal abglitt, wurde darin eine abstrakte Gefahr
für das Rechtsgut der öffentlichen Unversehrtheit erkannt. Das entscheidende Ar-
gument war dabei, dass man schon allein von der Anwesenheit der beiden Sport-
ler auf die mögliche Anwesenheit auch anderer Personen in demselben Gebiet
hätte schließen können. Die Tatsache, dass sich die beiden Variantenfahrer in
dem Gebiet aufhielten, hätte nicht ausschließen lassen, dass sich, wie die Täter
selbst, auch andere Personen im Gelände hätten aufhalten können, indem sie
zuvor, wiederum wie die Täter selbst, das Zutrittsverbot missachtet und über den
Absperrungszaun geklettert wären. Der Umstand, dass eine Person in das Gebiet
vorgedrungen sei, lasse somit immer den Schluss zu, dass sich ebenso andere
Personen vor Ort befinden könnten und das Gelände, so entlegen es auch immer
sei, faktisch anthropisieren33. Eine Gefährdung anderer Personen ist nach dieser
Auffassung in diesen Fällen – und somit automatisch in allen Fällen, in denen
eine Lawine oder ein anderes Naturereignis von Menschenhand ausgelöst wird –
29 Siehe dazu im deutschen Schrifttum, Kratzsch, Prävention und Unrecht – eine Replik, in: GA
1989, S. 49 ff.; ders., Aufgaben- und Risikoverteilung als Kriterien der Zurechnung im Strafrecht, in:
Herzberg (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, Köln u. a., 1985, S. 65 ff.; kri-
tisch dazu Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, Tübingen, 1996, S. 26, 41 ff.;
Hefendehl (Anm. 9), S. 215; Neumann, Buchbesprechung von Herzog, Felix: Gesellschaftliche Un-
sicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge. Studien zur Vorverlegung des Strafrechtsschutzes
in den Gefährdungsbereich, Heidelberg, 1991, in: ZStW 106 (1994), S. 195; Anastasopoulou
(Anm. 2), S. 230.
30 Neumann (Anm. 29), S. 196.
31 Gargani (Anm. 2), S. 125 ff.; Gallo (Anm. 11), S. 9.
abstrakt immer gegeben34. Die Folge wäre, von der Anwesenheit einer Person (des
Täters) im Gelände immer auf die mögliche Anwesenheit einer anderen Person
schließen zu können.
Obwohl die Argumentationskette logisch erscheint, stellt sich die Frage, ob
sie auch vor dem Verfassungsgerichtshof und seinem Gebot der Interpretation des
Naturgefahrentatbestandes eben nicht mehr als vermutetes, sondern als abstrak-
tes Gefährdungsdelikt standzuhalten in der Lage ist. Denkt man den Gedanken-
gang konsequent zu Ende, so muss die Frage verneint werden. Insofern strafrecht-
lich relevante Naturereignisse immer nur solche sind, die von Menschenhand
ausgelöst werden, ist die Anwesenheit einer Person vor Ort in den allermeisten
Fällen (mit Ausnahme von Unterlassungsszenarien) für die Tatverwirklichung
nicht wegzudenken. Und dies bedeutet, dass in all diesen Fällen immer auch auf
die mögliche Anwesenheit weiterer Personen geschlossen werden müsse, was tat-
sächlich die Schlussfolgerung, rectius, die Annahme einer abstrakten Gefährdung
im Einzelfall immer legitimieren würde. Das scheinbar überwundene vermutete
Gefährdungsdelikt käme somit über die Hintertür wieder herein.
(3) Die notwendige Offensivität und die Option zwischen abstrakter Gefahr in
kollektiv anthropisierten Gebieten oder konkreter Gefahr, tertium non datur
Eine am Verfassungsprinzip der notwendigen Offensivität orientierte Auslegung
der abstrakten Gefährdungsdelikte veranlasst demnach, von einer strafrechtlich
relevanten Handlung erst dann zu sprechen, wenn die Verletzung der Unversehrt-
heit einer unbestimmten Anzahl von Personen im Einzelfall tatsächlich mög-
lich scheint und somit von einer ernst zu nehmenden Verletzungsaussicht aus-
zugehen ist35. Um zu verhindern, dass diese enge, an die reale Offensivität der
Handlung gekoppelte Auslegung ihrer abstrakten Gefährlichkeit durch die Kom-
bination mit dem weiten Rechtsgut der öffentlichen Unversehrtheit an Griffigkeit
verliert, insofern Letzteres jenen Fall miteinschließt, in dem auch nur eine einzel-
ne Person beeinträchtigt wird36, ist es wichtig, den Unterschied zwischen einer
Einzelperson verstanden als Individuum und einer Einzelperson verstanden als
Vertreterin eines Kollektivs herauszustreichen und diesen konsequent bei der Be-
urteilung des Gefahrengrades mitzudenken. Will man an der konsolidierten An-
sicht festhalten, die abstrakte Gefährdung auch nur einer Person in Vertretung
eines Kollektivs gelten zu lassen, so ist dies umso mehr ein Grund dafür, einen
36 Siehe Kap. III.1.
103 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 515
ehrlichen und engen Maßstab bei der Bewertung einer Handlung als abstrakt ge-
fährlich anzulegen und diesen schlussendlich an das gedachte Kollektiv anzuleh-
nen und nicht an das potentielle einzelne Opfer. Tatsächlich kann die Anwesen-
heit einer einzelnen Person, wo auch immer, nie völlig ausgeschlossen werden,
jene einer Vielzahl von Personen hingegen durchaus. Und dies muss insbesonde-
re bei der Qualifizierung eines Gebietes als anthropisiert angemessen berücksich-
tigt werden.
Wenn das allgemein anerkannte Postulat gelten soll, dass das geforderte Maß
an Wahrscheinlichkeit einer Verletzung umso geringer sein kann, je höher der
drohende Schaden ist, so scheint die vertretene einschränkende Interpretation
angesichts der geforderten Offensivität der Handlung für ihre Inkriminierung
zweifelsfrei legitimiert.
Unterstützendes Argument bleibt in diesem Zusammenhang, dass selbst der
Gesetzgeber aus dem Jahr 1930 für eine generalisierende Gefährlichkeitsprognose
einer Naturkatastrophe forderte, dass diese aufgrund ihrer materiellen Dimension
und Örtlichkeit als ein die Gemeinschaft alarmierendes Ereignis wahrgenommen
werde, es also einen sog. allarme sociale auslöste. Eine durch das corpus delicti-
Naturkatastrophe generierte Gemeingefahr sollte daher auch erst dann vermutet
werden, wenn die Verletzung von Leib und Leben einer unbestimmten Anzahl
von Personen, eben eines Kollektivs, aus einer ex ante-Sicht ernstlich für möglich
gehalten werden konnte37.
Gerade für die neuere Auslegung des Tatbestandes als abstraktes Gefähr-
dungsdelikt soll vor diesem Hintergrund umso mehr darauf vertraut werden kön-
nen, eine abstrakte Gefahr für das Rechtsgut erst dann zu erkennen, wenn auf-
grund der örtlichen und zeitlichen Tatumstände der Zufall, dass nichts „passiert“
ist, als erheblich eingestuft werden kann. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn
die ausgelöste Naturkatastrophe, z. B. eine Lawine, in einem großteils erschlosse-
nen Gebiet niedergeht, z. B. auf eine geöffnete Skipiste abgleitet, sodass eine mög-
heitsoptimierung und zum unvermeidbaren Restrisiko führt der Autor näher aus (S. 180): „Das
ungewisse Ereignis wird mit Sicherheit früher oder später eintreten. [...] Das einzig sichere am Rest-
risiko ist sein Eintreten“.
105 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 517
Radius sozial anerkannter und erwünschter Aktivitäten jenes ist, dass der soziale
Nutzen, der daraus gezogen wird, im Leben der modernen Gesellschaft nicht ent-
behrt werden kann, so kann der Skitourensport ohne Bedenken darunter sub-
sumiert werden. Obwohl es sich um eine gefährliche Freizeitaktivität handelt, hat
sich der Skitourensport im Alpenraum in den letzten Jahrzehnten zu einem be-
liebten Breitensport entwickelt. Der Nutzen, den man für das Wohlbefinden und
die individuelle Leistungsfähigkeit daraus zieht, in der unberührten alpinen Na-
tur sportlich aktiv sein zu können, steht wohl für viele im Vordergrund und ins-
besondere weit höher im Kurs als das damit verbundene Risiko, es könne ein
strafrechtlich relevanter rechtsgutsdefizitärer Erfolg eintreten.
Damit diese getroffene Interessensabwägung allerdings als sozial verträglich
und adäquat eingestuft und in der Folge das immer verbleibende Restrisiko als
erlaubtes Risiko qualifiziert werden kann, ist es erforderlich, sich jener gebotenen
Verhaltensregeln und technischen Hilfsmittel zu bedienen, die dazu beitragen,
das mit der Tätigkeit verbundene drohende Risiko zu minimieren. Sorgfalt kann
in diesem Zusammenhang somit als „vorsichtiges Handeln in Gefahrensituatio-
nen“39 definiert werden. Einer Subsumierung des verbleibenden Restrisikos eines
Lawinenabgangs unter den Begriff des erlaubten Risikos kann somit unter diesen
Umständen zugestimmt werden.
Obwohl die Lehre vom erlaubten Risiko in den modernen Strafrechtsordnun-
gen als anerkannt gilt40, ist eine konsequente Anwendung derselben in der italie-
nischen Rechtsordnung bei der Prüfung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit des
Dritten (insbesondere im Zusammenhang mit Bergunfällen) nicht durchwegs ge-
geben41. Die Maßfigur wird überhöht dargestellt, die Fähigkeiten insbesondere
tungsfähigkeit des Begriffs ‚erlaubtes Risiko‘ für die Strafrechtssystematik, in: Vogler u. a. (Hrsg.),
Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Berlin 1985, S. 405 ff.; Prittwitz, Straf-
recht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesell-
schaft, Frankfurt a. M., 1993, S. 29, S. 267 ff.; Kindhäuser, Erlaubtes Risiko und Sorgfaltswidrigkeit.
tito, in: Bollettino dell’istituto di diritto e procedura penale dell’Università degli studi di Pavia,
Pavia, 1960–61, S. 89 ff.; Fiore C., L’azione socialmente adeguata nel diritto penale, Napoli, 1966,
S. 169 ff.; Castaldo, La concretizzazione del rischio giuridicamente rilevante, in: Rivista italiana di
diritto e procedura penale, 1995, S. 1096 ff.; Militello, Rischio e responsabilità penale, Milano, 1988,
S. 55 ff., S. 205; Forti, Colpa ed evento nel diritto penale, Milano, 1990, S. 250 ff. und S. 453 ff.; Do-
518 Margareth Helfer 106
des Schutzpflichtigen, durch gebotene Sorgfalt das auch auf ein Restrisiko zu-
rückführbare Unglück vermeiden zu können, überschätzt. Die Trennlinie zwi-
schen erlaubtem Restrisiko und unerlaubtem Allgemeinrisiko verschwimmt. Eine
objektive Sorgfaltswidrigkeit und somit ein für die Fahrlässigkeit relevantes Un-
rechtsverhalten wird im Zweifel bejaht.
Verdeutlicht werden kann dies anhand eines Auszugs aus einem Urteil des
Kassationsgerichtshofs zu einem Lawinenfall:
„Jedenfalls war das Verhalten des Antragstellers unvorsichtig und nachlässig. Die Lawine
war aufgrund von wenigstens drei Risikofaktoren, welche das Gerichtsgutachten hervorhob,
vorhersehbar (Hangneigung, der gefallene Schnee und der Temperaturanstieg). Diese hät-
ten den Antragsteller – als erfahrenen Bergsteiger – veranlassen sollen, von der Abfahrt
abzusehen. Andere Faktoren, im Gerichtsgutachten ebenfalls angeführt, haben das Risiko
wohl verringert, es aber nicht ausgeschlossen [...]“42
IV. Fazit
Die engere oder weitere Auslegung des Offensivitätsprinzips ist in Italien ent-
scheidend für die Bestimmung des Grades an Gefährdung, der erreicht sein muss,
um eine Handlung als strafrechtlich relevant qualifizieren zu können.
nini, Illecito e colpevolezza nell’imputazione del reato, Milano, 1991, S. 317 ff. und S. 412 ff.; Giunta,
Illiceità e colpevolezza nella responsabilità colposa. I. La fattispecie, Padova, 1993, S. 185 ff.; Pier-
gallini, Il paradigma della colpa nell’età del rischio: prove di resistenza del tipo, in: Rivista italiana
di diritto e procedura penale, 2005, S. 1684; Ronco, Il reato come rischio, in: Archivio penale, 2015,
S. 717; Risicato, Colpa e comunicazione sociale del rischio sismico tra regole cautelari “aperte” e
causalità psichica, in: Giurisprudenza italiana, 2016, S. 1228 ff.; Pagliaro, Principi di diritto penale.
Parte generale, 8. Auflage, Milano, 2003, S. 300; Mantovani, Diritto penale. Parte generale, Milano,
2017, 10. Auflage, S. 344 f.; Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte generale, 7. Auflage, Torino,
42 KassGH, Sektion IV, Urteil 27.1.2006, Nr. 3367: „[...] comunque la condotta dell’imputato è stata
imprudente e negligente. La valanga era prevedibile in base ad almeno tre fattori di rischio eviden-
ziati dalla C.T.U. (pendenza, neve caduta e aumento della temperatura) che avrebbero dovuto
indurre il ricorrente – esperto alpinista – a desistere dalla discesa. Altri fattori, pure elencati nella
C.T.U., hanno ridotto il rischio ma non l’hanno escluso [...]“.
107 Naturgefahren im italienischen Strafrecht 519
Wie sich zeigt, hat der Verfassungsgerichtshof auf der Grundlage seiner libe-
ralen Auslegungspraxis von Strafnormen bereits einen ersten Schritt gesetzt und
vermutete Gefährdungsdelikte für nicht verfassungskonform erklärt. Die Bestra-
fung einer faktisch ungefährlichen Handlung ist in einem am Tatstrafrecht orien-
tierten System nicht zu legitimieren, da dies auf eine Bestrafung allein der Ge-
fährlichkeit einer Person hinausläuft und somit nicht vertreten werden kann.
Einwände, wonach es sich bei den vermuteten Gefährdungsdelikten um eine adä-
quate Normsetzungstechnik zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter, wie
beispielsweise der öffentlichen Unversehrtheit, handle, sollen daher auch keine
Berücksichtigung finden43. Das Missverhältnis zwischen der Inkriminierung ver-
muteter Gefährdungsdelikte und dem Offensivitätsprinzip wird als zu stark emp-
funden, um es durch Argumente wie ein wichtiges gesetzgeberisches Motiv ein-
ebnen zu können.
Bei vermuteten Gefährdungsdelikten kann daher erst das Vorliegen einer abs-
trakten Gefahr strafbegründend sein. Erst die geforderte engere Beziehung zwi-
schen Tat und Rechtsgut und somit das den abstrakten Gefährdungsdelikten im-
manente höhere Verletzungspotential rechtfertigt strafrechtliche Intervention.
Für den Naturgefahrentatbestand und andere gemeingefährliche Delikte haben
sich damit die Anwendungsvoraussetzungen grundlegend geändert. Unberechen-
barkeit und Konturenlosigkeit der Gefahr ist kein Freibrief mehr für flächen-
deckenden strafrechtlichen Schutz. Ganz im Gegenteil: Ein akzentuiertes Offensi-
vitätsprinzip erlaubt, erst bei hinreichend zweifelsfreier Bestimmung einer tat-
sächlichen Gefährdung des Rechtsguts strafrechtliche Haftung anzunehmen.
Anstelle eines blinden Vorsorgeschutzes soll ein in Richtung Verletzung skalierter
Schutz und eine präzisere Konturierung des Rechtsguts treten, um der Besonder-
heit und Subsidiarität strafrechtlicher Intervention besser gerecht werden zu kön-
nen.
43 Dazu allgemein Fiandaca/Di Chiara, Una introduzione al sistema penale per una lettura costi-
tuzionalmente orientata, Napoli, 2003, S. 142 f.