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Universität Zürich, Prof. Dr. J.

Rössel
Seminar: Der Zusammenbruch der staatssozialistischen
Gesellschaften in komparativer Perspektive

Defekte Demokratien

Zürich, 25. November 2008


Sandro Turcati & Sonja Gartmann

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Übersicht
• Definitionen: Defekte Demokratie
• Formen der defekten Demokratie
• Transformationsregionen
• Ursachen für defekte Demokratien
• Beispiele: Russland, Slowakei und Albanien
• Kritik zu den Typologisierungen von Merkel
• Empirische Untersuchungen in Italien
• EU-Charta der Grundrechte
• Fazit

2
Definition: Defekte Demokratie
„Defekte Demokratien sind Herrschaftssysteme, die
sich durch das Vorhandensein eines hinreichend
demokratischen Wahlregimes zur Regelung des
Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch
Störungen in der Funktionslogik der übrigen
Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die
in einer funktionierenden Demokratie zur
notwendigen Sicherung von Freiheit, Gleichheit und
Kontrolle notwendig sind.“
Defekte Demokratien müssen keine
Übergangslösungen sein. Sie können sich auch
langfristig etablieren [1].
3
Formen der defekten Demokratie
• Exklusive Demokratie
 universelles Wahlrecht ist nicht gegeben

• Illiberale Demokratie
 Beschädigungen am Rechtsstaat

• Delegative Demokratie
 Kontrolle der Exekutive ist durch Legislative und dritte
Gewalt eingeschränkt

• Enklavendemokratie
 verzerrte Machtbildung durch Vetomächte [1],[2].

4
Defekte
Demokratien

[1]
5
Transformationsregionen
• defekte Demokratien dominieren in
Transformationsregionen (72 %)

• liberale Demokratien (22%) vorwiegend in


Mittelosteuropa

• Verletzung der bürgerlichen Freiheitsrechte und


Gewaltenteilung kommen am häufigsten vor

• Selbstregulierung ist nicht garantiert [1]

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Ursachen für defekte Demokratien
Wahrscheinlichkeit steigt bei:
– niedrigem sozioökonomischem Entwicklungsniveau
– ungleicher Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen
– Wirtschaftskrisen
– Dominierung des Sozialkapitals in ethnischer oder
religiöser Form
– geringem interpersonellem Vertrauen
– ungelösten Identitäts- oder Staatlichkeitskrisen
– langer Prägung der Gesellschaft durch das vorherige
Regime
– von oben gesteuerten oder von unten erzwungenen
Systemwechsel
– stark geprägten „informalen“ Interaktionsmustern
– fehlenden Kontrollmechanismen zum Schutz liberal-
demokratischer Institutionen [1]
7
Beispiele

• Russland: defekte Demokratie mit


delegativen und
illiberalen Elementen

• Slowakei: funktionierende Demokratie

• Albanien: illiberale defekte Demokratie


mit anarchischen Beimischungen
[3]

8
Russland
• Defekte im Bereich des Wahlregimes und
Massenmedien

• Hohe Korruptionsrate

• „Superpräsidentialismus“

• schwaches Parlament, unterentwickelte


demokratisch- rechtsstaatliche Kultur

• wenig aktive Zivilgesellschaft [3]

9
Slowakei
• diskontinuierliche Prozesse

• 1994-1998: defekte Demokratie mit illiberalen


und delegativen Zügen

• Politik von Vladimír Mečiar, Wahlniederlage


2002

• Sogkraft der sanktionierenden EU

• seit Mai 2004 Mitglied der EU [3]

10
Albanien
• schwaches Parteiensystem, starke Polarisierung,
mangelnde Koalitions- und Fraktionsdisziplin

• 1996: Überschreitung der Schwelle zum


autoritären Regime durch gravierende
Manipulationen bei Wahlen

• seit 1997 illiberale Demokratie

• schwacher Staat, rechtsfreie Räume, Korruption


und Klientelismus [3]

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Kritik
• starke Trennungslogik obwohl die
Differenzierungskriterien der Systeme unscharf
seien

• Grenze zwischen Autokratie und Demokratie


verschieben sich zugunsten der demokratischen
hybriden Systeme

• Abgrenzung zwischen defekter Demokratie und


Autokratie würden nicht überzeugen [2]

12
Robert Putnams Italien-Studie
Forschungsfrage [4] :

Unter welchen Bedingungen bilden sich starke,


effektive und repräsentative Institutionen?

Anlass [4]:

1970 gleichzeitige Bildung der Regionalregierungen


in Italien (20 Regionen), denen 1976 die
Zentralregierung die Kompetenz in zahlreichen
Politikbereichen übertrug.

13
Italien-Studie: Theorie
Annahmen des Neoinstitutionalismus [4]:
1. Institutionen prägen den politischen Prozess.
2. Institutionen werden durch die Geschichte
geprägt.

Zusätzliche Annahme Putnams:


3. Die Performanz von Institutionen sind durch den
sozialen Kontext („social context“) geprägt, in
denen sie operieren.

14
Vergleich: Demokratie-Einbettung
15
[1]
Italien-Studie: Performanzmessung I
Die institutionelle Performanz wird anhand von 12
Kriterien gemessen [4]:
1. Stabilität der Regierungskoalitionen
2. Unverzüglichkeit der Budgetgenehmigung
3. Verfügbarkeit von Statistiken und Informationen
4. legislative Reformen
5. Implementierungsgeschwindigkeit
6. Verfügbarkeit von Kinderkrippen
7. Verfügbarkeit von Familienkliniken
8. Industrieförderung
9. Landwirtschaftsförderung
10. Gesundheitsversorgung
11. Wohnbauförderung
12. Bereitwilligkeit der Verwaltung

16
Italien-Studie: sozioökon. Erklärung
Die
Performanz
hängt von der
sozioöko-
nomische
Entwicklung,
gemessen am
BIP positiv ab
[4]

17
Italien-Studie: soziale Erklärung I
Die institutionelle Performanz hängt vor allem von der
Ausprägung der Zivilgesellschaft („civic community“)
ab.

Putnam misst die Stärke diese Ausprägung anhand vier


ihrer „Gesichter“ [4]:
a) Einsatz für die Allgemeinheit („civic
engagement“)
b) politische (horizontale) Gleichheit
c) Solidarität, Vertrauen und Toleranz
d) Verbreitung des Vereinswesens

18
Italien-Studie: soziale Erklärung II
Die institutionelle
Performanz hängt
von der
Ausprägung der
Zivilgesellschaft
ab [4]

19
Italien-Studie: soziale Erklärung III
Die Interviews ergaben ergänzend folgendes Bild [4]:
– Im Süden suchen Bürger/-innen öfter das persönliche
Gespräch mit den Eliten als im Norden.
– Sie sprechen dann eher über persönliche als über
allgemeine Probleme vor.
– Im Norden drehen sich die – seltenere – persönliche
Gespräche mit den Eliten eher um die Allgemeinheit.
– Die Dichte an Gewerkschaftsmitglieder ist im Norden
höher als im Süden.
– Die Elite schätzt sich selbst im Norden weniger Korrupt
ein als die im Süden.
– Die Bevölkerung ist im Norden zufriedener mit ihrer
Regionalverwaltung als im Süden (Zufriedenheit und
Performanz korrelieren stark positiv).

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Italien-Studie: Rolle des Sozialkapitals
Laut Putnam beinhaltet Sozialkapital Vertrauen, Normen und
soziale Netzwerke, die Kooperation innerhalb der Gesellschaft
begünstigen.

Sozialkapital ist ein öffentliches Gut, und kann sich als solches
nur bilden, wenn unkooperatives Verhalten sanktioniert werden
kann und wird.

In durch Patronage und Abhängigkeit vertikal strukturierten


Gesellschaften sind Sanktionsmechanismen schwer
durchsetzbar.

 Die Bildung von Sozialkapital und deshalb auch von


Kooperation sind gehemmt, unkooperatives Verhalten ist dann
rational. Süditalien befindet sich in einem Teufelskreis [4]
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Exkurs: EU-Charta der Grundrechte
Die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ enthält
Prinzipien für fast alle Teilregime (ausser E) nach Merkel auf
der individuellen Ebene [5]:

A) Aktives und passives Wahlrecht in freien und geheimen


Wahlen auf europäischen und kommunaler Ebene.

B) Meinungsäusserungs- und Vereinigungsfreiheit

C) Bürgerliche Rechte nach Locke auf Leben, Freiheit,


Eigentum, aber auch auf Arbeit, Gesundheits-
versorgung, Bildung, Kinderschutz, Asyl, Schutz vor
Diskriminierung infolge Rasse, Ethnie, Religion und
Geschlecht, usw...

D) Recht auf unabhängiges Urteil und Rechtsbeistand.


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Fazit
• Demokratische Wahlen allein machen ein politisches
Regime noch lange nicht zur rechtsstaatlichen Demokratie.

• Wenn Teile der Freiheitsrechte, Partizipationsrechte,


Machtkontrolle oder die effektiver Regierungsmacht
fehlen, werden demokratische Wahlen wichtiger
Funktionen beraubt, die für die Selbstregulierung einer
politischen Gemeinschaft unverzichtbar sind [1].

• Das Vorhandensein einer Zivilgesellschaft und die


Intensität ihres „Lebens“ sind notwendig für „nicht
defekte“ Demokratien [1],[4]

23
Diskussionsfragen
1. Wieso ist die Gewaltentrennung zentral für die
Demokratie? Welche (soziale) Rolle hat die Judikative?

2. Wo liegt die grenzen zwischen defekte Demokratie und


Autokratie? Wann ist eine Demokratie so „defekt“, dass
sie keine mehr ist?

3. Kann man die Intensität der Zivilgesellschaft objektiv


messen? Welche Rolle spielen dabei kulturelle
Rahmenbedingungen?

4. Ist das Vorhandensein einer Zivilgesellschaft nur


notwendig oder auch hinzureichend für eine Demokratie?

24
Literatur und Quellen
[1] Wolfgang Merkel, 2003: „Eingebettete“ und defekte Demokratien:
Theorie und Empirie, in: Claus Offe (Hg.): Demokratisierung der
Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt/New
York: 43‐71.

[2] Jörn Knobloch, 2002: Defekte Demokratien oder keine?: Das


politische System Russlands. Münster.

[3] Wolfgang Merkel et al., 2006: Defekte Demokratie. Band 2:


Regionalanalysen. Wiesbaden.

[4] Robert Putnam, 1993: Making Democracy Work. Princeton

[5] Europäisches Parlament, 2000: Charta der Grundrechte der


Europäischen Union, Strasbourg

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Italien-Studie: Forschungsdesign
• Querschnittanalyse der 20 Regionen Italiens über
die Periode 1970-89
• Sieben Interview-Serien und eine schriftliche
Umfrage mit regionalen Eliten aus Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft
• Mehrere Dutzend Interview-Serien mit Wähler/-
innen
• Statistische Analysen
• ein Experiment (1983) zur Performanz der
regionalen Verwaltungen
• Fallstudien zu einzelne Prozesse der Politik und
der Planung. [4]

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Italien-Studie: Performanzmessung II
Die
Performanz
korreliert stark
positiv mit der
Zufriedenheit
der Leute mit
ihrer
Regional-
verwaltung [4]

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Italien-Studie: soziale Erklärung IV
Kriterium Norden Süden

a) Beteiligung an hoch tief


Referenda
b) persönliche weit
Präferenz-Stimmen selten verbreitet
bei Wählen
c) Verbreitung von hoch tief
Tageszeitungen
d) Vereinsdichte p.c. hoch tief

[4]
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