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Plenarprotokoll 13/25

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

25. Sitzung

Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 12: Tagesordnungspunkt 14:


Erste Beratung des von dem Abgeord-
Unterrichtung durch die Bundesregie-
neten Manfred Müller (Berlin) und der
rung: Bericht über die Situation der
weiteren Abgeordneten der PDS einge-
Kinder und Jugendlichen und die Ent-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
wicklung der Jugendhilfe in den neuen
Änderung des Arbeitsförderungsgeset-
Bundesländern - Neunter Jugendbe-
zes (§ 116) (Drucksache 13/581)
richt - mit der Stellungnahme der Bun-
desregierung zum Neunten Jugendbe- in Verbindung mit
richt (Drucksache 13/70)
Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 1779 B Zusatztagesordnungspunkt 7:
Dr. Edith Niehuis SPD 1782 B Erste Beratung des von den Abgeord-
neten Annelie Buntenbach, Kerstin
Wolfgang Dehnel CDU/CSU 1784 D Müller (Köln), Elisabeth Altmann
Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE (Pommelsbrunn) und der Fraktion
GRÜNEN 1786 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Dr. Edith Niehus SPD 1787 C Änderung des Arbeitsförderungsge-
Heinz Lanfermann F.D.P 1789 B seizes (§ 116) (Drucksache 13/691)

Rosel Neuhäuser PDS 1790 C in Verbindung mit


Klaus Riegert CDU/CSU 1792 B
Zusatztagesordnungspunkt 8:
Thomas Krüger SPD 1793 D, 1799 B
Erste Beratung des von der Fraktion der
Klaus Riegert CDU/CSU 1794 A SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Wiederherstellung der Neu-
Jürgen Türk F.D.P 1796 A
tralität der Bundesanstalt für Arbeit bei
Monika Brudlewsky CDU/CSU 1797 C, 1799 C Arbeitskämpfen (Drucksache 13/715)
Ursula Mogg SPD 1799 D Rudolf Dreßler SPD 1807 C

Kersten Wetzel CDU/CSU 1801 C Andreas Storm CDU/CSU 1809 B


Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE
Klaus Hagemann SPD 1802 D GRÜNEN 1810 D
Helmut Jawurek CDU/CSU 1804 C Uwe Lühr F.D.P 1811 D
Thomas Krüger SPD 1805 C Manfred Müller (Berlin) PDS 1812 D
Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU 1813 D
GRÜNEN . 1806 B Adolf Ostertag SPD 1814 C
Eckart von Klaeden CDU/CSU 1806 C Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär BMA . 1816 B
II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Tagesordnungspunkt 13: neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN: Beschränkung der Ab-
Erste Beratung des vom Bundesrat ein- schiebungshaft von Ausländerinnen
gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes und Ausländern (Drucksache 13/107)
zur Änderung des Bundeserziehungs-
Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
geldgesetzes (Drucksache 13/204)
NEN 1824 A

in Verbindung mit Eckart von Klaeden CDU/CSU 1825 C


Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD 1826 D
Zusatztagesordnungspunkt 9: Dr. Max Stadler F.D.P. 1828 B
Antrag der Abgeordneten Rita Grießha- Ulrich Irmer F.D.P 1828 D
ber und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ulla Jelpke PDS 1829 D
GRÜNEN: Mehr Zeit und Geld für Kin- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 1830 B
der (Drucksache 13/711)
Dr. Winfried Wolf PDS 1831 A
Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1817 C
Dieter Wiefelspütz SPD 1831 B
Walter Link (Diepholz) CDU/CSU 1818 B
Hildegard Wester SPD 1819 D Nächste Sitzung 1831 D

Heinz Lanfermann F.D.P. 1821 D


Anlage 1
Heidemarie Lüth PDS 1823 A
Liste der entschuldigten Abgeordneten 1832* A
Tagesordnungspunkt 15:
Antrag der Abgeordneten Cern Özde Anlage 2
mir, Christa Nickels, weiterer Abgeord Amtliche Mitteilungen 1832* C

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25. Sitzung

Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Wer von „Verlierern der Einheit" spricht, weiß
liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sit- nicht, wovon er redet, und vergißt eine wesentliche
zung. Sache: Kein Problem bei der Bewältigung der anste-
henden Aufgaben wiegt schwerer als der Gewinn
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: der Freiheit für die Menschen in den neuen Bundes-
ländern. Die Freiheit gibt jungen Menschen Lebens-
Beratung und Unterrichtung durch die Bun- perspektiven, die sie im Sozialismus nie gehabt hät-
desregierung ten. Verloren hat der reale Sozialismus, gewonnen
Bericht über die Situation der Kinder und haben die Menschen.
Jugendlichen und die Entwicklung der Ju- Der Neunte Jugendbericht ist nicht nur am Um-
gendhilfe in den neuen Bundesländern
fang und Inhalt gemessen ein wichtiges Zeitdoku-
- Neunter Jugendbericht - ment. Er beschreibt unter jugendpolitischen Ge-
sichtspunkten den historischen Prozeß des Um-
mit der Stellungnahme der Bundesregie bruchs und Wandels in den neuen Bundesländern.
rung zum Neunten Jugendbericht In vielen Bereichen spiegelt der Bericht auch meine
- Drucksache 13/70 - sehr persönlichen Erfahrungen wider. Ich wiederhole
daher hier gerne meinen Dank und den Dank der
Überweisungsvorschlag:
Bundesregierung an die Mitglieder der Kommission
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(federführend)
und an die Mitarbeiterinnen des Deutschen Jugend-
Sportausschuß instituts für ihre Arbeit und Mühe.
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtehau Es ist wichtig, daß der Jugendbericht sich mit den
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Verhältnissen vor der friedlichen Revolution in der
nologie und Technikfolgenabschätzung DDR auseinandersetzt. Er macht deutlich, daß es sich -
Dazu liegen Entschließungsanträge der Fraktionen bei dem SED-Staat nicht nur um ein autoritäres Herr-
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schafts- und ein staatsmonopolistisches Wirtschafts-
vor. system handelte, sondern auch um eine „Erzie-
hungsdiktatur". Es ging um die „politisch-ideologi-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für sche Erziehung der Jugend" als einen umfassenden
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Da ich Erziehungsanspruch von Partei und Staat.
keinen Widerspruch aus Ihren Reihen höre, verfah-
ren wir so. Für nostalgische Sehnsüchte gibt der Bericht
nichts her. Dies sollte insbesondere von denen zur
Es beginnt die Ministerin Frau Claudia Nolte. Kenntnis genommen werden, die Kritik an der Ge-
genwart dafür nutzen möchten, ihre Vergangenheit
Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- zu verklären.
ren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin! Liebe Kol-
Junge Menschen waren in der DDR daran ge-
leginnen und Kollegen! Es ist eine erfreuliche und
wöhnt, bevormundet und gegängelt, aber auch in ho-
positive Entwicklung, daß die Jugendlichen in den
hem Maße versorgt und betreut zu werden. Mit der
neuen Bundesländern den Vereinigungs- und Um-
Demokratisierung brach für die jungen Menschen
strukturierungsprozeß weitestgehend gemeistert ha-
das bislang verkündete Weltbild zusammen; bislang
ben. Der Neunte Jugendbericht stellt an verschiede-
vermittelte Normen verloren ihre Geltung; die leiten-
nen Stellen fest, daß eine deutliche Mehrheit der jun-
den und kontrollierenden Institutionen fielen weg.
gen Menschen der Wiedervereinigung rückhaltlos
zustimmt, die Zufriedenheit mit den eigenen Lebens- Die jungen Menschen waren auf neue Weise gefor-
verhältnissen groß und der Zukunftsoptimismus aus- dert. Sie konnten und mußten sich eigenständiger
geprägt ist. entscheiden. Für viele war das ein Gewinn. Aber der
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Bundesministerin Claudia Nolte


Prozeß war auch nicht ohne Probleme. Die Vielfalt gramm zum Auf- und Ausbau freier Träger der Ju-
der Einflüsse und Möglichkeiten einer freien Gesell- gendhilfe und die Informations-, Beratungs- und
schaft galt es zu verarbeiten. Unterstützung und Hil- Fortbildungsdienste Jugendhilfe zur Fortbildung der
fen waren und sind noch in besonderem Maße not- Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendämter.
wendig.
Wir müssen nun das bislang Erreichte mit Blick auf
Kinder- und Jugendhilfe in dem Verständnis, wie die normale Aufgabenverteilung zwischen Bund und
es dem Kinder- und Jugendhilfegesetz zugrunde Ländern für die Zukunft sichern. Die Kommunen
liegt, hatte es in der DDR nicht gegeben. Solche Ju- sind weiterhin vor große Aufgaben gestellt.
gendhilfestrukturen mußten erst neu aufgebaut wer-
Die Personalsituation in den Jugendämtern muß
den. Neues Recht wollte gelernt und angewendet
vorrangig konsolidiert werden. Gesetzlich vorge-
sein. Es galt, die Voraussetzungen für eine schritt-
schriebene Aufgaben der Jugendämter können nicht
weise Entwicklung der Struktur freier Träger zu
durch ABM-Stellen erfüllt werden, sondern müssen
schaffen. Die Zusammenarbeit von freien und öffent-
ihren Niederschlag in ordentlichen Stellenplänen fin-
lichen Trägern spielte sich nach und nach ein. Das
den.
weithin neue Personal hatte sich in die bislang unbe-
kannten fachlichen Anforderungen einzuarbeiten. Noch für viele Jahre ist mit einem ebenso hohen
wie dringlichen Qualifizierungsbedarf des Fachper-
Wenn der Bericht nun feststellt, daß strukturell
sonals der Kinder- und Jugendhilfe zu rechnen. Die
wichtige Rahmenbedingungen für eine dem Kinder-
hierzu nötigen Angebote haben die zuständigen Lan-
und Jugendhilfegesetz konforme Jugendhilfe ge-
desbehörden und die freien Träger bereitzustellen.
schaffen wurden, dann, denke ich, ist das ein gutes
Zeugnis für die Arbeit der Verantwortlichen in den Für den Aufbau freier Träger ist eine weitere öf-
neuen Ländern und Kommunen und ein Beleg für fentliche Förderung durch die zuständigen staatli-
die erfolgreiche Unterstützung durch den Bund. chen Stellen unverzichtbar.
Die Bundesregierung würdigt die Anstrengungen, Der Bund hat das Volumen seines Kinder- und Ju-
die in den vergangenen Jahren von den neuen Bun- gendplans gegenüber 1989 in dem Haushaltsentwurf
desländern und ihren Kommunen geleistet wurden. 1995 von 120 auf 208 Millionen DM erhöht. Darin
Für Aufgaben und Leistungen nach dem Kinder- sind weiterhin Mittel für Sonderaufgaben in den
und Jugendhilfegesetz wurden im Jahre 1993 in den neuen Bundesländern enthalten.
neuen Bundesländern rund 8,2 Milliarden DM aufge-
wendet - ein Betrag, der keineswegs hinter dem der Die örtliche Jugendarbeit braucht dringend
alten Bundesländer zurücksteht. Räume und Gebäude.
(Hanna Wolf [SPD]: Wie wahr!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Hier sind Länder und Kommunen gefordert, wobei
Zwischen 1991 und 1993 haben sich die Ausgaben
gegebenenfalls die Mittel des Investitionsförderungs-
um schätzungsweise 30 % erhöht.
gesetzes Aufbau Ost des Bundes einzusetzen sind.
Auch der Bund hat grolle finanzielle und perso-
Der Neunte Jugendbericht bestätigt meine politi-
nelle Anstrengungen unternommen, um die neuen
sche Überzeugung, daß die Entwicklungschancen
Länder und ihre Kommunen in den Stand zu verset-
von Kindern und Jugendlichen vorrangig von der Le-
zen, den Auf- und Ausbau von Trägern der freien Ju-
bensqualität der Familien, in denen sie aufwachsen,
gendhilfe zu fördern. Wesentliche Hilfen in der bis-
insbesondere von der emotionalen Wärme und der
herigen Übergangszeit wurden in den neuen Bun- -
verfügbaren Zeit, in der sich Eltern ihren Kindern zu-
desländern und Kommunen über den Fonds Deut-
wenden können, und von ihren Einkommensverhält-
sche Einheit, das Gemeinschaftswerk Aufschwung
nissen bestimmt werden.
Ost, die kommunale Investitionspauschale und an-
dere Finanzierungsinstrumente geleistet, Die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse von Fami-
lien mit Kindern in den neuen Bundesländern sind
Jenseits aller Kompetenzfragen war der Bund von
beileibe nicht überall zufriedenstellend. Doch die Da-
Anfang an bestrebt, übergangsbedingte Angebots-
ten des Berichts hinken natürlicherweise der aktuel-
und Leistungslücken von Ländern und Kommunen
len Entwicklung hinterher.
durch umfangreiche und gezielte Programme, Zu-
wendungen und andere Hilfen zu schließen. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesam-
tes haben sich die monatlichen Nettoeinkommen der
Um einige zu nennen: etwa 20 000 Arbeitsstellen Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern
für die Kinder- und Jugendhilfe auf ABM-Basis ; Qua-
und Berlin-Ost deutlich verbessert. Der Anteil der
lifikations- und Fortbildungsmaßnahmen auch im Be-
Ehepaare mit Kindern, die ein durchschnittliches mo-
reich der Kinder-, Jugend-, Familien- und Sozialhilfe; natliches Nettoeinkommen von mehr als 3 000 DM
18 000 Stellen nach § 249h des Arbeitsförderungsge- aufweisen, hat sich von 25 % im Jahre 1991 auf 68 %
setzes in den Arbeitsfeldern der Jugendhilfe und der
im April 1993 erhöht und damit fast verdreifacht.
sozialen Dienste; bis zu 80 % verbilligter Erwerb von Auch die Einkommenssituation Alleinerziehender
Liegenschaften und Gebäuden des Bundes; seit 1991
hat sich in dieser Zeit fühlbar verbessert.
jährlich zusätzliche 47 Millionen DM im Bundesju-
gendplan, die zum großen Teil den neuen Bundes- Trotzdem muß noch mehr zur Entlastung von Fami-
ländern zugute kommen; gezielte Sonderprogramme lien getan werden. Die Verbesserung der Familien-
des Bundes für die neuen Bundesländer wie das Pro förderung ist nicht von ungefähr ein Schwerpunkt
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Bundesministerin Claudia Nolte
der Politik der Bundesregierung in dieser Legislatur- Perspektive, und deshalb sind die Bemühungen not-
periode. Kinder und Jugendliche in kinderreichen wendig.
Familien, von Alleinerziehenden und in Familien, die
von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wachsen häufig (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
unter schwierigen Bedingungen auf. Die von den Ko- Hanna Wolf [SPD]: Frau Nolte, da hilft es
alitionsfraktionen in diesen Tagen beschlossene Fort- nicht, nur zu appellieren!)
entwicklung des Familienlastenausgleichs wird ge-
rade für solche Familien die materiellen Lebensbe- Die Bundesregierung teilt die Einschätzung der
dingungen verbessern. Kommission, daß die Situation auf dem Arbeitsmarkt
in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren
(Beifall bei der CDU/CSU) angespannt bleibt, wenngleich die Arbeitsmarkt-
situation von jüngeren Erwachsenen insgesamt bes-
Der Neunte Jugendbericht befaßt sich ausführlich ser ist als für die übrigen Altersgruppen und die Zahl
mit der Umgestaltung des Bildungswesens in den der Arbeitslosen in dieser Altersgruppe rückläufig
neuen Bundesländern. Hier sind tiefgreifende Verän- ist.
derungen vorgenommen worden. Die früheren ideo-
logischen Zwänge wurden abgelegt, und dafür In den Jahren des Übergangs wird dem Arbeitsför-
wurde ein differenziertes, Begabung und Leistungs- derungsgesetz weiterhin eine besondere Bedeutung
fähigkeiten berücksichtigendes Schulsystem aufge- zukommen, selbst wenn das frühere Höchstniveau
baut. mit einem Entlastungseffekt von zeitweilig jahres-
durchschnittlich fast 2 Millionen Männern und
Zur Situation im Hochschulbereich stellt der Frauen sowohl aus finanz- als aus ordnungspoliti-
Neunte Jugendbericht fest, daß hier der Verände- schen Gründen langfristig nicht gehalten werden
rungsprozeß von den jungen Menschen am besten konnte.
bewältigt wurde. Der Ausbildungsnotstand, der nach
dem Jugendbericht 1993 angeblich „nun wirklich Probleme, die junge Menschen wegen ihrer Ar-
drohte", fand weder 1993 noch 1994 statt. beitslosigkeit haben, brauchen unser besonderes Au-
genmerk . Deshalb wird das Bundesjugendministe-
Durch ein Bündel verschiedener Maßnahmen der rium sein Projekt „Arbeitsweltbezogene Jugendso-
Arbeitsverwaltung, der Länder und des Bundes ist es zialarbeit" fortführen und dessen Schwerpunkt auf
in den zurückliegenden Jahren gelungen, allen Ju- die neuen Bundesländer verlagern. Defizite der Ju-
gendlichen ein Ausbildungsangebot zu machen; in gendsozialarbeit müssen dringend abgebaut werden.
der Tat nicht immer dort, wo der Wunsch bestand,
aber doch so, daß jeder einen Ausbildungsplatz er- Der Neunte Jugendbericht diagnostiziert eine
halten konnte. emotionale Politikverdrossenheit junger Menschen
in Ostdeutschland. Er beschreibt ein sich verschär-
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Nicht verschlei fendes politisches Integrationsdefizit Jugendlicher,
ern, Frau Nolte!) das er mit der deutlichen Bedeutungszunahme der
Gleichaltrigengruppen in Verbindung bringt.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin das Ziel,
allen Jugendlichen Ausbildungsplätze anzubieten, Dies sind ernste Befunde. Ähnliche sind uns aus
mit Nachdruck verfolgen und die Berufsausbildung Westdeutschland seit den 70er Jahren bekannt. Vor
in gemeinsamer Verantwortung mit der Wirtschaft diesem Hintergrund sollte man auch vorsichtig sein,
weiter ausbauen und absichern. die Distanz gegenüber den Strukturen der Erwachse--
nengesellschaft allein auf spezifische Bedingungen,
Ich halte es für bedenklich, feststellen zu müssen, Probleme und Defizite in den neuen Bundesländern
daß sich immer mehr - vor allem die größeren - Un- zurückzuführen.
ternehmen der beruflichen Ausbildung entziehen.
Als eine wichtige Ursache der Entfremdung führte
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der Neunte Jugendbericht an, daß junge Menschen
Es geht nicht an, daß die öffentliche Hand immer ihre Interessen durch die staatliche Politik nicht hin-
weiter Aufgaben der Wirtschaft übernehmen muß. reichend berücksichtigt und vertreten sehen.
Dies widerspricht langfristig auch den Interessen der
Der Ansicht, daß der Staat nicht genug für die Ju-
Wirtschaft, die ein eigenes Interesse an qualifizier-
gend tut, waren 51,5 % in den alten Bundesländern
tem Nachwuchs hat.
und beachtliche 71 % in den neuen. Insbesondere zu-
(Hanna Wolf [SPD]: Was wollen Sie tun?) gunsten der Kommunen muß es erlaubt sein, darauf
hinzuweisen, daß dieser Eindruck junger Menschen
Ich appelliere an die Unternehmen: auch eine Folge der subsidiären Organisationsform
der Kinder- und Jugendhilfe ist.
(Hanna Wolf [SPD]: Appelle, Appelle, Ap
pelle!) Jugendarbeit wird weitgehend von freien Trägern
angeboten und durchgeführt. Nur selten wird dabei
Schaffen Sie Ausbildungsplätze! Schaffen Sie sie erkennbar, daß hinter solchen Angeboten freier Trä-
auch dann, wenn Sie keine Chance sehen, die jun- ger auch der Staat, insbesondere das kommunale Ju-
gen Menschen anschließend weiter bei sich zu be- gendamt, als fördernde, planende, anregende und
schäftigen. Sie geben damit jungen Menschen eine koordinierende Instanz steht.
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Bundesministerin Claudia Nolte


Nichtsdestotrotz müssen wir in unserem Bemühen, sondere den politischen Handlungsbedarf hinsicht-
Jugendliche für unsere Demokratie zu gewinnen, lich der Situation der Jugendlichen noch einmal zu
fortfahren. Formen von Partizipation für junge Men- überdenken. Es ist sehr bedauerlich, daß die Bundes-
schen wie z. B. Jugendgemeinderäte sollten erprobt, regierung in ihrer Stellungnahme diese Chance nicht
gefördert und ausgeweitet werden. ergriffen hat und im Niveau gegenüber dem Sach-
verständigenbericht deutlich abfällt.
Eines ist mir noch wichtig: Wir wissen zwar, daß
fast alle Jugendlichen aus den neuen Bundesländern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
bereits mindestens einmal in den alten Bundeslän- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
dern waren. Der Anteil der Jugendlichen aus den al- und der PDS)
ten Bundesländern, die bereits die neuen Bundeslän-
In ihrer Stellungnahme zeigt sich die Bundesregie-
der besucht haben, ist dagegen nach meiner Erfah-
rung unfähig, die Lebenssituation junger Menschen
rung noch lange nicht befriedigend. Damit Deutsch-
in den neuen Bundesländern in ihrer Differenziert-
land weiter zusammenwächst, brauchen wir mehr
heit überhaupt wahrzunehmen. Die Stellungnahme
Treffen und mehr Gespräche zwischen jungen Men-
verkommt zu einer äußerst platten Regierungspropa-
schen aus Ost- und aus Westdeutschland. Solche Be-
ganda.
gegnungen sollten von allen unterstützt werden, ins-
besondere von Schulen, Kommunen, Vereinen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Verbänden. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) Junge Menschen haben einen Anspruch darauf,
daß eine Bundesregierung Probleme zur Kenntnis
Die innere Einheit werden wir nur mit der jungen
nimmt und alles politisch Mögliche tut, zur Problem-
Generation vollenden, und zwar nur dann, wenn wir
lösung beizutragen. Das gravierendste Problem ist
ihr die Perspektive auf eine gute Zukunft eröffnen
die Ausbildungsplatz- und dann Arbeitsplatznot jun-
und erhalten. Alle, die im Bund, den Ländern und
ger Menschen in den neuen Bundesländern.
Gemeinden, in der Wirtschaft und Gesellschaft Ver-
antwortung tragen, müssen hierzu ihren Beitrag lei- Mir ist unverständlich, wie die Bundesregierung
sten. den von den Sachverständigen vorhergesagten Aus-
Der Jugendbericht gibt dazu viele wertvolle An-
bildungsnotstand zufrieden mit dem Satz kommen-
tiert - Frau Nolte hat das auch heute getan -, daß die-
satzpunkte. Ich wünsche mir, daß uns Diskussion
ser auch 1993 abgewendet werden konnte. Sie ver-
über ihn in einer breiten Öffentlichkeit und in allen
schleiern mit diesem Satz die Tatsache, daß in den
Bereichen dem Ziel der Vollendung der inneren Ein-
neuen Bundesländern eine bedenkliche Ausbil-
heit näherbringt.
dungsplatzlücke besteht; denn die Hälfte der sich um
Danke schön. einen Ausbildungsplatz bemühenden Jugendlichen
bekommt keinen betrieblichen Ausbildungsplatz.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) Nur durch staatliche Programme, durch außerbe-
triebliche Ausbildung, kann die Krise der dualen Be-
rufsausbildung verschleiert werden.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht
die Kollegin Dr. Edith Niehuis. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN -
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
und der PDS)
DIE GRÜNEN]: Nach dieser Fürbitte bitte
eine politische Rede!) Wir wissen, daß in unserem System außerbetriebli-
che Ausbildung häufig nur eine Warteschleife ist und
daß die Aussicht auf einen Arbeitsplatz am ehesten
Dr. Edith Niehuis (SPD): Frau Präsidentin! Sehr ge-
ehrter Kollegen und Kolleginnen! Der Neunte Ju- über einen betrieblichen Ausbildungsplatz gegeben
gendbericht beschäftigt sich mit der Situation der Ju- ist.
gendlichen in den neuen Bundesländern und ver- Junge Menschen können von der Politik erwarten,
sucht zugleich eine Bewertung der bisher erfolgten daß ihre Probleme nicht einfach quantitativ-stati-
jugendpolitischen Arbeit. stisch wegdiskutiert werden, wie die Bundesregie-
Ich möchte der Sachverständigenkommission für rung es versucht, sondern ernstgenommen werden.
den ausführlichen Bericht ausdrücklich danken, ins- Dieses Hinwegsehen über Probleme kann zu Enttäu-
besondere auch für den Versuch, DDR-Vergangen- schungen mit möglicherweise schwierigen gesamt-
heit und die politische Entwicklung nach der Verei- gesellschaftlichen Auswirkungen führen, insbeson-
nigung in einen Zusammenhang zu stellen. dere dann, wenn die Jugendlichen große Erwartun-
gen an die deutsche Vereinigung haben, wie die Stu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne die gezeigt hat.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS) Junge Menschen wollen spüren, daß die Gesell-
schaft, daß die Arbeitswelt sie braucht. Das gilt
Der Bericht gibt uns in der Politik durch seine aus- grundsätzlich. Das gilt aber noch mehr, wenn man
führliche und abwägende Art eine Möglichkeit, die aus der DDR-Vergangenheit heraus stark arbeitszen-
deutsche Vereinigung und ihre Folgen sowie insbe trierte Werte gewohnt ist. Daß 38 % der 21- bis
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Dr. Edith Niehuis
24jährigen in den neuen Bundesländern Sozialhilfe Vieles, was sich in den neuen Bundesländern in
oder andere Transferleistungen als Haupteinnahme- dramatischer Weise als Schwierigkeit zeigt, ist be-
quelle haben und bereits jeder dritte Sozialhilfeemp- reits in den alten Bundesländern als Problem ange-
fänger in den neuen Bundesländern jünger als legt. Das gilt für die Wahlfreiheit zwischen Beruf und
18 Jahre ist, ist eine bedenkliche Situation. Familie. Das gilt aber auch für die angesprochene
Ausbildungsnot, die sich als zunehmender Ausbil-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dungsmangel auch im Westen abzeichnet, wie der
GRÜNEN und der PDS) Entwurf des Berufsausbildungsberichts 1995 der
Bundesregierung zeigt. Industrie und Handel versu-
Doch die Bundesregierung wiegelt ab und ver-
chen, sich aus ihrer Verantwortung, die sie in der
weist darauf, alles sei in Ordnung, weil dank Sozial-
dualen Berufsausbildung haben, zu stehlen. Um der
hilfe Armut und Not gelindert werde. Es ist richtig:
jungen Menschen willen, Frau Nolte, sollten Sie
Sozialhilfe soll materielle Not lindern. Aber ein Ju-
diese Situation nicht verschleiern, sondern endlich
gendbericht handelt von jungen Menschen. Dann
Konzepte auf den Tisch legen, die diese bedenkliche
geht es eben nicht nur um den materiellen Aspekt
Situation abwenden.
von Sozialhilfe, sondern auch darum, daß junge Men-
schen Perspektiven brauchen. (Beifall bei der SPD und der PDS)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Auf Grund dieser schwierigen Ausbildungs- und
GRÜNEN und der PDS) Arbeitsplatzsituation, aber auch grundsätzlich muß
Aber gerade Perspektiven - das wissen Sie wie ich - unser Augenmerk besonders auf den Ausbau freier
vermitteln Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und das Feh- pluraler Träger in der Jugendhilfe gerichtet sein.
len von Ausbildungsplätzen nicht. Dazu eine grundsätzliche Bemerkung, weil sich in
Ost und West etwas Ähnliches abzeichnet, wenn
Ein besonderes Augenmerk müssen wir dabei auf auch in unterschiedlicher zeitlicher Folge.
die noch schwierigere Situation junger Frauen rich-
ten. Angesichts der hohen Frauenarbeitslosigkeit, Dadurch, daß das Kinder- und Jugendhilfegesetz
weil Frauen nämlich als erste von Kündigungen be- Angebote für Kinder und Jugendliche in einem Ge-
troffen waren, als letzte wieder in die Erwerbstätig- setz zusammenfaßt, kommt es sowohl in Ost als auch
keit integriert werden und schwer Ausbildungsplätze in West zu einer nicht wünschenswerten Konkur-
finden, ist es zynisch, wenn die Bundesregierung in renzsituation zwischen Kindern und Jugendlichen
ihrer Stellungnahme darauf verweist, daß Frauen auf kommunaler Ebene. Nach der Vereinigung leg-
nach der Vereinigung nun endlich eine Wahlmög- ten die ostdeutschen Länder und Kommunen großen
lichkeit zwischen Familie und Beruf hätten, die ihnen Wert darauf, ihre Kindertagesstätten zu erhalten, was
in der DDR verwehrt worden sei. zu Lasten der finanziellen Unterstützung der Jugend-
hilfe ging. Auf Grund des Rechtsanspruches auf ei-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nen Kindergartenplatz müssen wir auch im Westen
GRÜNEN und der PDS) nun beobachten, daß die Umsetzung dieses Rechts-
anspruches zu Lasten der Jugendhilfeangebote geht.
Muß ich Sie denn wirklich daran erinnern, daß Hier liegt eine grundsätzliche Problematik des KJHG
eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene oder seiner Implimentation. Diese finanzielle Kon-
Studie über „Frauen in mittlerem Alter" hinsichtlich kurrenzsituation von Kinder- und Jugendarbeit ist
der Wahlmöglichkeit von Frauen bereits vor Jahren nicht gut. Darum erwarten wir von der Bundesregie-
feststellte: rung alsbald Vorschläge, die geeignet sind, diese-
verheerende Entwicklung abzuwenden.
Das proklamierte Leitmotiv während der letzten
Jahre hieß, „Wahlfreiheit" für verschiedene Le- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
bensentwürfe von Frauen zu erhalten und zu för- ten der PDS)
dern. De facto ging es aber darum, die Wahl zu-
gunsten der „Ganztagshausfrau" zu stützen. Ver- Neben dieser grundsätzlichen Problematik gilt es,
schwiegen wurde dabei oft, daß mit jeder Wahl hinsichtlich der neuen Bundesländer zu überprüfen,
erhebliche, z. T. nicht umkehrbare Folgen und Ri- wie die Anstrengungen der Bundesregierung zu be-
siken verbunden sind - und zwar materielle, so- urteilen sind, nach der Einheitsjugend FDJ eine plu-
ziale und psychische. rale freie Trägerstruktur aufzubauen.

Dieses Grundproblem unserer Gesellschaft er- Mit Stolz verweist die Bundesregierung in ihrer
reicht jetzt die jungen Frauen im Osten. Jetzt sugge- Stellungnahme darauf, daß nach der deutschen Ver-
riert man ihnen die Wahlfreiheit zwischen Familie einigung ca. 217 Millionen DM in die Programme der
und Beruf, obwohl sie in der Realität schwer zu fin- freien Jugendhilfe Ost geflossen sind.
den ist. Junge Frauen im Osten reagieren auf diese
Täuschung in der Umbruchsituation sehr konkret. Doch, sehr verehrte Damen und Herren, in dieser
Der Rückgang der Geburtenrate seit 1989 in den historischen Umbruchsituation war nicht nur Quanti-
neuen Bundesländern um zwei Drittel spricht eine tät, sondern auch Qualität gefordert. Es geht um die
überaus deutliche Sprache. Frage, wie effektiv die finanziellen Mittel denn ei-
gentlich eingesetzt wurden. Die SPD hat Sie zeitig
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und immer wieder und von diesem Pult aus vor einer
DIE GRÜNEN) Politik der konzeptionslosen kurzfristigen Sonderpro-
1784 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Dr. Edith Niehuis


gramme gewarnt und stets darauf hingewiesen, daß der laut Bericht der „Hannoverschen Allgemeinen
durch diese kurzatmige Jugendpolitik zwar viel Geld Zeitung" vom 2. Juli 1994 auf der Dresdner Tagung
in die neuen Bundesländer fließt, aber der lang- unter dem Motto „Unterwegs zur Einheit", folgendes
fristige Erfolg nur gering ist. sagte - ich zitiere -:

Der Neunte Jugendbericht bestätigt nun unsere Vor kurzem habe er einen Runden Tisch zum
Kritik. Dort heißt es - ich zitiere -: Thema „Gewalt und Jugend" eröffnet. Auch die
Frage an die Jugendpfleger, was sie denn alle tä-
Der Aufbau der freien Träger der Jugendhilfe in ten, hätten alle geantwortet, daß sie dieses The-
den fünf neuen Bundesländern bedarf einer kon- ma bearbeiteten. „Gibt's denn so viel Gewalt?"
tinuierlichen und verläßlichen finanziellen Förde- wollte der Innenminister wissen. „Nein, aber so
rung. Die bisherige Förderpolitik eröffnet den viele Fördertöpfe", lautete die Antwort.
freien Trägern weder klare konzeptionelle noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
förderpolitische Perspektiven, von Planungssi-
cherheit kann nahezu nirgendwo die Rede sein. Sie können mir nicht erzählen, daß dies eine sinn-
volle Arbeit für Jugendliche ist. Sie werden den Ju-
Deutlicher kann man die konzeptionslose Jugend- gendlichen in ihrer Situation damit nicht einmal ge-
politik der Bundesregierung nicht kritisieren. recht.
(Beifall bei der SPD) Nach fünf Jahren deutscher Vereinigung steht die
Bundesregierung vor einer schlechten Bilanz, was
Die freie Jugendhilfe Ost steht mitten in der Auf- Jugendpolitik Ost anbetrifft. In dieser Woche schrieb
bauphase jetzt vor der Situation, daß nach einer aus- eine Hamburger Wochenzeitung: In Bonn hat das
gesprochen großzügigen Anfangsförderung nun Schönreden Konjunktur.
mangels Anschlußförderung manches Aufgebaute
beendet, zerstört werden muß. Da, Frau Nolte, hilft Ich hoffe sehr, daß wir in der weiteren Ausschußar-
der Appell an die anderen nicht, daß sie etwas tun beit nicht nur schönreden, sondern die Ergebnisse
müssen. Sie haben mit einer ausgesprochen großzü- des Neunten Jugendberichts nehmen und daraus
gigen Anfangsförderung begonnen; nun können Sie das Beste, für die Jugendlichen in den neuen Bun-
nicht alle vor das Nichts stellen. desländern machen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne GRÜNEN und der PDS)
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster
Ich will in diesem Zusammenhang auch etwas Kri- spricht der Abgeordnete Wolfgang Dehnel.
tisches zum Aktionsprogramm gegen Aggression
und Gewalt sagen. Viele, die dieses Programm loben Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau
- es gibt viele, die das tun -, loben es, weil sie aus Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren Kolle-
unterschiedlichen Motiven froh sind, daß überhaupt gen! Einige von Ihnen werden sich sicher wundern,
Geld geflossen ist. Dies kann in einer verantwortli- daß ich als 50jähriger zu Entwicklungschancen der
chen Politik aber nicht der alleinige Maßstab sein. Jugend sprechen möchte.
Ich bleibe dabei: Es wäre besser gewesen, dieses
Geld wäre in den Aufbau einer präventiven Jugend- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ -
arbeit geflossen, die, wenn sie gut ist, auch zur Ag- DIE GRÜNEN]: Für die CDU sind Sie doch
gression neigende Jugendliche mit erfaßt hätte. noch jung! Ein junger Hüpfer!)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Da ich aber am letzten Tag der Jalta-Konferenz gebo-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ren wurde, als Roosevelt, Churchill und Stalin gerade
und der PDS) die Teilung Deutschlands besiegelten, kann ich
schon einige Erfahrungen darüber einbringen, was
Mit diesem Sonderprogramm hingegen haben Sie in den jugendlichen Köpfen in Ost und West damals
zweierlei bewirkt: Ganze Regionen haben keine vorgegangen ist.
Chance gehabt, daraus Fördermittel zu bekommen, Das Wichtigste jedoch ist, daß ich gerne mit Ju-
weil ihr Gewaltindex einfach nicht hoch genug war. gendlichen zusammenarbeite, aber auch mit ihnen
Das hat mit dem Aufbau flächendeckender pluraler streite, wenn es um die Zukunft geht.
Jugendarbeit nichts zu tun. Zweitens haben Sie eine
Antragslyrik erzeugt - so heißt es im Neunten Ju- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
gendbericht -, die so manche Jugendliche nur we- DIE GRÜNEN]: Das hätten wir nicht anders
gen der Fördermittel zu „gewaltbereiten Jugendli- erwartet!)
chen" abgestempelt hat.
Denn die Jugend von heute und morgen muß mit un-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der seren Entscheidungen von gestern und heute, die
PDS) wir auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens
getroffen haben bzw. noch treffen, leben. Dazu zäh-
Wenn Sie der SPD und auch dem Neunten Jugend- len wirtschaftspolitische, umweltpolitische wie wis-
bericht nicht glauben wollen, dann glauben Sie viel- senschafts- und kulturpolitische, in besonderem
leicht dem sächsischen Innenminister Eggert (CDU), Maße auch familienpolitische Entscheidungen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1785
Wolfgang Dehnel
Wenn wir der Jugendpolitik in diesem Rahmen (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Ja, z. B. mit der
ausreichend Beachtung und Raum bieten, werden Arbeitslosigkeit! Verdammt nochmal, jetzt
die Verwalter des nächsten Jahrhunderts - von ei- kriege ich aber zuviel!)
nem Jahrtausend möchte ich hier gar nicht sprechen -
gewappnet sein, auf den von uns vorgegebenen liegt doch gerade in dieser verlogenen Geborgenheit
Gleisen die richtige Fahrt aufzunehmen, aber auch begründet. In vielen Trainingsstunden wurden die
die wichtigen Stopps und Signale zu erkennen. Hurra-Rufe auf die Parteiführung und das System in
die jungen Köpfe eingehämmert. Ist das alles denn
Der jetzt vorliegende Neunte Jugendbericht über schon vergessen?
die Situation der Kinder und Jugendlichen und die
Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der
ländern bietet nach meiner Ansicht eine ausgezeich- CDU/CSU: Nein!)
nete Grundlage, um die Wirksamkeit der bisherigen
Ja, auch ich wünschte mir heute mehr Enthusias-
Maßnahmen auf jugendpolitischem Gebiet im östli-
mus bei jungen Leuten, die durch ihr Vorbild andere
chen Teil Deutschlands zu analysieren und Auf-
mitreißen, wenn es um den Abbau politischer Fron-
schluß für die weitere Arbeit und für kommende Ent-
ten, aber nicht um den Aufbau von verhärteten oder
scheidungen zu erhalten.
gar Gewaltfronten geht.
Für die wirklich umfassende Fleißarbeit möchte ich
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
dem Erstellerteam im Namen meiner Ausschuß-
DIE GRÜNEN]: Dürfen wir Sie als Redner
gruppe ganz herzlich danken.
im Wahlkampf engagieren? Wir bezahlen es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. auch!)
Jürgen Türk [F.D.P.] - Joseph Fischer
Das ist ein Problem, das sich letztlich vollständig erst
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
in der nächsten Generation lösen wird. Es ist eine
Die Rede ist echt gut!)
Erblast, die uns die SED hinterlassen hat.
- Das glaube ich auch, Herr Fischer.
Es werden neue Überlegungen notwendig sein,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ meine Damen und Herren, um mehr Hilfe zur Selbst-
DIE GRÜNEN]: Das groovt so richtig ab!) hilfe leisten zu können. Gerade die Unterstützung
von Initiativen der Basis, also der Jugendlichen
In vielen Punkten und Sichtweisen stimmt die Auf- selbst, bietet größere Erfolgsaussichten als die Streu-
fassung der Bundesregierung mit den Aussagen des ung von immer mehr Broschüren und Kongressen. So
Berichtes überein. gesehen ist die Bundesregierung auf dem richtigen
Weg seit der schwierigen Umstrukturierung des Aus-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ bildungswesens im besonderen und aller Bereiche
DIE GRÜNEN]: Ecstasy ist nichs dagegen!) des gesellschaftlichen Lebens im allgemeinen seit
dem Einheitsprozeß.
Das zeigten die Ausführungen meiner Kollegin Frau
Ministerin Claudia Nolte in überzeugender Weise, an- Gerade die Jugendlichen haben in vorderster Linie
ders als Sie, Frau Niehuis, das hier darstellen wollten. dieser machtvollen, aber friedlichen Bewegung ge-
standen. Sie wollten Freiheit, Demokratie und Wohl-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
stand in einem Volk.
Ich selbst aber kann ein in dem Bericht enthaltenes -
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Halleluja!)
gewisses Bedauern über das Wegbrechen der Gebor-
genheit in der Ex-DDR nicht nachvollziehen. Weder der Wille noch die ersten freien Wahlen in der
Ex-DDR wurden aufgezwungen, sondern erkämpft
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
als logische Folge der im Frühjahr 1990 nicht abeb-
DIE GRÜNEN]: Das kann ich mir vorstel
benden Demonstrationen.
len!)
Von den gewaltigen Umwälzungen des Einheits-
Das Leben der Jugendlichen war doch gleichsam
prozesses wurden auf dem Arbeitsmarkt aber leider
eine „Ver" borgenheit, nämlich hinter Mauern und
auch die Ausbildungsplätze betroffen. Dem sich
Stacheldraht, weich gebettet in einer verlogenen
jährlich abzeichnenden Ausbildungsplatzmangel hat
Ideologie,
die Bundesregierung aber in zweifacher Hinsicht
(Widerspruch bei der PDS) entgegengewirkt: zum ersten durch Ausbildungs-
platzförderprogramme gemeinsam mit den Landesre-
fernab von freier Entfaltung und freier Meinungs- gierungen und zum zweiten durch ständigen direk-
äußerung, auch fernab von demokratischen Denk- ten Kontakt mit den Verbänden und Unternehmen.
und Handlungsweisen.
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Sie war ja auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wahnsinnig erfolgreich!)
ordneten der F.D.P.)
Lehrausbildung ist die beste Investition in die Zu-
Daß die ostdeutsche Jugend heute noch in großen kunft eines Unternehmens. Das scheinen viele große
Teilen Schwierigkeiten hat, mit den neuen demokra- und mittelständische Unternehmen zunehmend zu
tischen Verhältnissen klarzukommen, vergessen. Sie warten offensichtlich so lange, bis die
1786 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Wolfgang Dehnel
Regierungen politisch gezwungen werden, wieder hat außerdem sehr viel mit dem Herrn Finanzmini-
aus Steuermitteln außerbetriebliche Ausbildungs- ster und mit vielen anderen Leuten im Kabinett zu
plätze zu schaffen. Solches Verhalten untergräbt un- tun. Ich halte es für ein Unding, daß sie nicht hier
ser bewährtes duales Bildungssystem. sind. Wir haben gestern den Agrarbericht debattiert,
da waren mehr von den Damen und Herren von der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Regierung anwesend.
Dies ist ein Pokerspiel, das sich später durch man-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gelnde Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden Un-
bei der SPD und der PDS)
ternehmen rächen wird.
Meine Damen und Herren, den hohen Stellenwert Ich hoffe, daß die Präsenz nichts mit deren Interesse
der Benachteiligtenförderung nach dem Arbeitsför- an diesem Thema zu tun hat;
derungsgesetz, auf den die Kommission wie auch die
Bundesregierung gleichermaßen sensibel reagieren, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
habe ich in der vergangenen Woche bei einem Be- DIE GRÜNEN]: Doch, doch, doch!)
such einer entsprechenden Ausbildungsstätte sozu- denn das wäre ziemlich erschreckend.
sagen vor Ort kennengelernt.
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Aber Sie haben Der Neunte Jugendbericht selbst ist ein metho-
hingenommen, den 40c zu streichen!) disch sehr vielfältiges, ein sehr ausführliches Werk.
Ich halte ihn für sehr fundiert, und ich glaube, darin
Ich war schon tief beeindruckt, wie der finanzielle steht eine Menge Vernünftiges. Meine Erfahrung in
Aufwand durch Fördermittel plus menschliche Zu- Gesprächen mit vielen Leuten, die praktisch in der
wendung plus Ausbildung gute Ergebnisse in den Jugendarbeit in den neuen Bundesländern tätig sind,
Zeugnisnoten bringt und - noch wichtiger - Integra- zeigt auch, daß er dort großen Respekt genießt. Das
tionshilfe leistet. weiß auch die Pressestelle des Ministeriums für Ju-
gend; denn die Nachfrage nach diesem Jugendbe-
So zeigt sich für mich abschließend, daß nicht das richt ist sehr groß, und sie konnte anfangs auch
Geld allein die Welt regieren muß, daß Fördermittel
kaum gestillt werden.
und Transferleistungen nicht in den Sand gesetzt
werden, sondern zukunftsträchtig - im besten Sinne Sowohl die Stellungnahme der Bundesregierung
des Wortes - angewendet werden. als auch das, was auf grünem Papier steht - dabei
Wenn wir uns über solche positiven Erfahrungen frage ich mich: warum ist das nicht rosa? -, schlägt
wie auch über negative Erscheinungen national und das Diskursangebot aus. Sie überzeichnet auch die
international durch verstärkte Jugendaustauschpro- Ergebnisse der eigenen Politik. Ich finde sie beschö-
gramme näherkommen, fallen die Mauern der Vorur- nigend und vor allem unzureichend.
teile und der Voreingenommenheit wie von selbst,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
vielleicht auch bei der Opposition.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Danke. der PDS)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Hier wird die Politik letzten Endes über den grünen
ordneten der F.D.P.) Klee der blühenden Landschaften gelobt. Was Frau
Nolte gesagt hat, klang auch ein bißchen wie eine
-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Abschiedsrede aus der Jugendpolitik. Wie oft war
Kollege Matthias Berninger. das Thema: Was haben wir alles geleistet! Was ha-
ben wir alles vollbracht! Wie wenig war Thema, was
wir in Zukunft alles leisten müssen. Davon habe ich
Ma tt hias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nur sehr wenig gehört.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im
Grunde hätten wir uns schon in der letzten Legisla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
turperiode mit diesem Jugendbericht beschäftigen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
müssen. Das hat sich ein bißchen verzögert, und das der PDS)
hätte sich auch noch weiter verzögert. Der Bericht ist
nämlich schon im Dezember vorgestellt worden. Die Grundfragen dieses Berichts - es sind ja nur
Jetzt sind wir kurz vor der Osterpause und hätten einige Grundfragen, die er stellt - sind Grundfragen
noch immer nicht darüber geredet. Aber wer sich die des Generationenverhältnisses. Wir als Parlament
Haushaltsberatungen, wie sie zur Zeit laufen, einmal dürfen nicht den Fehler der Regierung machen, mit
genauer anschaut und wer sich auch die Debatte hier einer kleinen Propagandastellungnahme das Thema
genauer anschaut, der weiß, warum wir uns ganz schnell abzuhaken und aus der Tagesordnung zu
dringend mit der Situation der Jugend in der Bundes- streichen. Dieser Jugendbericht ist Grundlage für die
republik Deutschland und damit natürlich auch in nächsten Jahre. Da gibt es wirklich viel zu tun. Des-
den neuen Ländern beschäftigen müssen. halb bitte ich Sie, meine Damen und Herren hier im
Parlament, lassen Sie uns einen anderen Weg gehen
Zu Anfang gestatten Sie mir noch eine Bemer- als den, den die Regierung gegangen ist!
kung. Jugendpolitik hat sehr viel mit der Ministerin
für Jugend, der Frau Nolte, zu tun. Aber sie hat auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -
eine ganze Menge mit dem Herrn Kanzler zu tun, sie Zuruf von der SPD: Das müssen wir!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1787

Matthias Berninger
Ich möchte auf einige Bundesprogramme einge- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hen und beginne mit dem Programm AFT, Aufbau Bitte.
freier Träger. Ziel war es, freie Trägerstrukturen, die
in den neuen Ländern Jugendarbeit machen können, Dr. Edith Niehuis (SPD): Herr Berninger, ich weiß,
zu schaffen. Das bundespolitische Engagegement daß wir da unterschiedlicher Meinung sind, was das
hat ein jähes Ende gefunden; auch das kann man in Programm gegen Aggression und Gewalt betrifft.
den Haushaltsberatungen sehen. Ich habe den Ein- Darum folgende Frage: Sind Sie nicht mit mir einer
druck, Frau Nolte, Sie glauben, nach vier Jahren sei Meinung, daß es ein Unterschied ist, ob man in der
das Problem schon gelöst. Bundesrepublik West, wo eine durchgehend plurale
Wir haben aber eine ganze Menge Leute, die auch Jugendstruktur vorhanden ist, zusätzlich Fanklubs
praktisch arbeiten und die sagen: Bis wir die freien oder Hooliganklubs macht? Das ist das eine. Wenn
Trägerstrukturen haben, dauert es vielleicht zehn Sie dem zustimmten, würde ich mit Ihnen überein-
oder 15 Jahre. Das sind keine Pessimisten, die stimmen.
schwarzmalen, sondern Leute, die die konkreten Aber ist es nicht so, daß in den neun Bundeslän-
Probleme der Verbände und der vielen anderen Trä- dern, wo die plurale freie Struktur noch nicht vorhan-
ger vor Ort kennen. Damit werden die Kommunen den ist, etwas passiert ist, was nach dem KJHG kata-
und die Länder, wie ich finde, verdammt allein gelas- strophal ist, daß nämlich Leute zielgruppenorien-
sen. tierte Arbeit, gewaltorientierte Arbeit gemacht ha-
(Zuruf von der SPD: So ist es!) ben, weil es dort Fördertöpfe gibt? Dabei war der all-
gemeine Aufbau der Jugendstruktur nicht vorhan-
Vieles droht endgültig den Bach herunterzugehen. den. Sind Sie nicht mit mir dieser Meinung?
Fragen Sie einmal die Leute, die versuchen, junge
Menschen in Verbände hineinzubekommen! Fragen
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie einmal die Leute, die versuchen, mit jungen Men-
Was Sie voraussetzen, ist, daß die Mittel so begrenzt
schen etwas aufzubauen! Wenn wir uns hier in finan-
sind und daß man nicht beides hätte machen kön-
zieller Hinsicht heraushalten, meine Damen und Her-
nen. Wenn Sie es alternativ diskutieren, sind die
ren, dann geht vieles den Bach herunter.
freien Trägerstrukturen wichtiger. Das wissen Sie,
Die Bundesregierung stellt hier auch die falsche Aber ich diskutiere es nicht alternativ. Beides hätte
Frage. Systemwidrigkeit von Sonderprogrammen gemacht werden müssen, und beides ist halbherzig
ist die zentrale Fragestellung der Bundesregierung gemacht worden. Das kritisiere ich auch,
im Jugendbericht. Es sei systemwidrig, es sei mit der
Das AgAG-Programm an sich war aber nicht so
Verfassung nicht in Einklang zu bringen, wenn wir
schlecht wie sein Ruf. Das sagen mir zum Teil auch
hier die Sonderprogramme fortsetzten. Ich halte das
die, die damit gearbeitet haben.
für falsch. Die Worte, die mich interessiert hätten,
wären gewesen: Chancengleichheit, gleichwertige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensverhältnisse. Vergleichen Sie die freien Trä- und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord
gerstrukturen in den neuen Ländern mit denen in neten der F.D.P.)
den alten Ländern; dann wissen Sie, was ich meine.
Wenn man mit den Rechten, mit rechtsextremen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jugendlichen redet - ich nehme einmal das Beispiel
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zittau -, dann stellt man plötzlich fest, daß es ihnen
der PDS) etwas geholfen hat. Das hat auch dazu geführt, daß -
weniger Gewalt verübt wurde. Ich lasse mich nicht
Zum zweiten Programm, dem Programm gegen
auf die Frage einengen, ob man das eine oder das an-
Aggression und Gewalt, habe ich eine etwas andere dere hätte machen müssen. Beides mit mehr Mitteln,
Position als Sie, Frau Kollegin Niehuis.
das wäre richtig gewesen.
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Das weiß ich!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Es ist viel kritisiert worden. Natürlich ist das Pro- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gramm nicht präventiv gewesen. Natürlich ist es vor der F.D.P.)
allem dort angelegt worden, wo sozusagen brisante Die Diskussion, die wir hier führen, ist aber ein biß-
Gewalt offen auftrat. Aber wir kennen alle die Situa- chen feuilletonistisch; denn wenn wir so weiterma-
tion, die es gab, als wir die Asylfrage neu regeln chen wie die Bundesregierung zur Zeit, dann hinter-
mußten. Ich halte die Überlegung der Regierung, lassen wir in beiden Bereichen sozialpolitische Bau-
das, was Frau Merkel damals gemacht hat, nämlich ruinen. Das, was die Bundesregierung dort angesto-
konkret zu reagieren, nicht für unvernünftig. Das
ßen hat, kann so nicht weitergemacht werden, wenn
liegt vor allem daran, daß ich mir einige Orte angese-
wir uns hier nicht weiter engagieren. Das ist das
hen habe, wo das AgAG-Programm gegriffen hat
Kernproblem, nicht die Frage, welches von den bei-
und wo viele gute Sachen gemacht werden.
den Programmen besser oder schlechter ist.
(Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.])
Das Gewaltproblem hat für uns natürlich immer
dann eine Dimension, wenn wir die Gewalt sehen,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Berninger, ge- z. B. wenn Scheiben eingeschlagen werden oder
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegen Nie- wenn geprügelt wird. Ich möchte hier auf einen
huis? Punkt eingehen, der auch sehr viel mit Gewalt zu tun
1788 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Matthias Berninger
hat, von dem wir aber gar nicht so viel merken. Der nen dauernd aufgebürdet? Darf man sich da wun-
Jugendbericht fragt, wie junge Frauen auf die Eini- dern, wenn die Kommunen von den neuen Pflicht-
gungssituation reagieren, und er sagt, daß Frauen oft aufgaben erdrückt werden und die Jugendarbeit
mit Gewalt gegen sich selbst reagieren. Sie kennen nicht in den Griff bekommen?
das: Eßstörungen, Bulimie, Magersucht. In diesem
Bereich gibt es - ich finde, das ist ein großes Pro- Es gibt eine Menge Kommunalpolitiker - gerade in
blem - kein Engagement, auch kein Programm ge- den neuen Ländern habe ich viele kennengelernt -,
gen Aggression und Gewalt, obwohl dieses Problem die sich wahnsinnig anstrengen. Es gibt einen brei-
mindestens genauso wichtig ist. Hier, denke ich, muß ten Konsens darüber, daß die Jugendarbeit nicht ein-
die Bundesregierung neue Programme entwickeln. brechen darf. Aber es gibt auch eine Finanzsituation
Die Gruppe der Frauen, die dort angesprochen wird, bei den Kommunen, die diesen Kurs nicht mehr
ist mir wirklich sehr wichtig. lange möglich macht. Das müssen wir im Bundestag
zur Kenntnis nehmen. Wir müssen Angebote machen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dürfen die Leute nicht im Regen stehenlassen
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
SPD und der PDS) und der SPD sowie bei Abgeordneten der
PDS)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will zur Situa-
tion der Frauen in den neuen Bundesländern nicht Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungs-
mehr viel sagen. Was zu diesem Thema am Mittwoch erklärung gesagt: Wir müssen für die kommenden
zu hören war, und zwar von allen Fraktionen, macht Generationen haushaltspolitisch sparen. „Kom-
mir Mut, weil es zeigt, daß wir uns in diesem Parla- mende Generationen" ist eines seiner Lieblings-
ment nicht damit abfinden, daß Frauen zu den Ver- worte. Ich glaube, auch hier hat er wieder eine ideo-
liererinnen der Einheit werden. Relativ gesehen sind logische Nebelkerze geworfen. Denn was hier tat-
sie auf jeden Fall die Verliererinnen der Einheit, Ich sächlich passiert - das Zurückfahren von Bundespro-
hoffe einmal, daß die Bundesregierung das merkt grammen -, ist nicht das Sparen für, sondern das
und daß sie ihre Politik in diesem Bereich ändert. Sparen bei kommenden Generationen. Das ist im
doppelten Sinne, wie ich finde, ziemlich ärgerlich.
Die Personalsituation in der Jugendarbeit ist an- Man sagt den Leuten, die heute unter dieser Spar-
gesprochen worden. Jugendarbeit ist nur durch den politik zu leiden haben: Wir sparen für eure Zukunft.
zweiten Arbeitsmarkt mit Hilfe von ABM-Program- Zugleich schafft man es aber nicht - das sollten Sie in
men und Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungs- Ihre Haushaltsberatungen mitnehmen -, kommen-
gesetz geschaffen worden. Aber auch hier stehen den Generationen - jungen Leuten, die heute schon
tiefe Einschnitte bevor. Ich will versuchen, das an ei- leben -, einen vernünftigen Haushalt für die näch-
nem Beispiel zu erläutern. In Ilmenau gibt es ein Kul- sten Jahre zu hinterlassen. Daran sieht man auch den
turzentrum an der Technischen Universität - früher Widersinn der Finanzpolitik der Bundesregierung.
war das ein Studentenklub -, in dem drei Leute ar-
beiten, die versuchen, gemeinsam mit Menschen aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dem Landkreis, mit Jugendlichen und mit Studenten und der SPD sowie bei Abgeordneten der
Jugendarbeit zu machen. Finanziert wurden sie nach PDS)
dem § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes. Nie- Der Jugendbericht setzt sich ja nicht nur mit Pro-
mand ist in der Lage, den notwendigen zehnprozen- blemgruppen auseinander, sondern zeichnet auch
tigen Eigenanteil zu erbringen. Das bedeutet, daß ein Bild von jungen Leuten. Da wird gesagt, es gebe
dieses kleine Projekt stirbt. Das sind nur drei von tau- -
eine Menge junger Leute, die optimistisch sind und
send Stellen allein in Thüringen, die gefährdet sind. in diesem Einigungsprozeß etwas bewegen wollen.
Das ist völlig richtig; das beruhigt mich allerdings
Ich vermute, daß es da wieder brennen wird. Wenn
nicht, da diese Bundesregierung keine konkreten
ich mir das anschaue, kann ich die Hitze schon spü-
Angebote dazu macht, wie junge Leute an diesem Ei-
ren, die dort entsteht, Wenn wir uns hier hinstellen
nigungsprozeß teilhaben sollen.
und sagen, das müssen andere lösen, dann wird es,
glaube ich, große Probleme geben. Ich selber mache seit 1989 Politik. Ich kenne Politik
nur aus Sicht des vereinten Deutschland. Ich habe
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das nie vorher gemacht. Ich sehe aber viele meiner
sowie bei Abgeordneten der SPD) Altersgenossinnen und Altersgenossen, die fragen:
Was will dieser Bundestag eigentlich von uns? Sie sa-
Damit bin ich beim lieben Geld, und damit bin ich
gen, diese Institution interessiere sie nicht mehr. Die
auch bei dem Punkt, daß der Kollege Finanzminister
sind nicht politikverdrossen, weil die sehr wohl raf-
nicht anwesend ist. Es ist völlig richtig: Jugendarbeit
fen, was los ist. Die verstehen das. Sie kennen die
muß zu einem großen Teil über Kommunen laufen.
Probleme; sie sehen, wie mit ihnen umgegangen
Aber das Problem ist, daß die Qualität und die Stan-
wird.
dards von Jugendarbeit nicht so klar definiert sind
wie beispielsweise ein Kindergartenplatz, so daß Ju- Ich bin also ein bißchen in einer kuriosen Situation,
gendzentren letzten Endes ganz oft zum Spielball ei- weil ich immer sage, der Bundestag schaffe es noch
ner kommunalen Haushaltskonsolidierung werden. nicht so richtig - das Kabinett scheint ja sowieso
Ich will nicht mit dem Finger auf andere zeigen; nicht interessiert zu sein -, aber wir müßten mehr An-
denn Länder und Bund tragen hier nun einmal die gebote machen. Wir müssen deutlicher die Hand rei-
Mitschuld. Wie viele Pflichten werden den Kommu chen, und wir müssen das konkreter machen. Da
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1789
Matthias Berninger
sind die Partizipationsangebote, die Sie, Frau Nolte, Ich glaube, in dem Bemühen, hier etwas zum Thema
angesprochen haben, völlig richtig. Das ist ein Weg; beizutragen, können wir uns alle nur übertreffen,
aber das ist eben nur einer. Wir sollten uns gemein- auch unabhängig vom Alter. Ich würde Ihnen vor-
sam Gedanken über noch mehr Angebote machen, schlagen, sich öfter auf die Rednerliste setzen zu las-
weil sonst die Wahlbeteiligung noch weiter sinkt, sen oder sich vielleicht auch einmal aus Ihrem Sitz
und zwar, wie ich behaupte, ins Bodenlose. heraus zu einer Zwischenfrage zu bemühen - das
fällt Ihnen ja sichtlich schwer, wenn man Sie so an-
Wenn der Herr Bundeskanzler von Jugend redet,
schaut -; das wäre dann etwas kommunikativer, als
dann spricht er immer davon, daß man die junge Ge-
wenn Sie hier immer nur dazwischenreden. Aber das
neration mehr in die Pflicht nehmen müsse. Wenn nur am Rande!
Herr Schäuble über junge Leute schreibt, dann
zeichnet er das Bild des folgsamen konservativen Ju- Meine Damen und Herren, dieser Neunte Jugend-
gendlichen, den er sich so als Traum vorstellt. Im bericht hat natürlich ein strukturelles Problem im
Kleinen gipfelt das dann in Äußerungen wie der des Hinblick auf die Zukunft. Er beschäftigt sich - es ist
Kollegen Lintner, der zu Beginn dieser Woche gesagt richtig, daß das schon etwas spät ist - mit der Situa-
hat, er finde die Techno-Discos sehr suspekt und tion in den neuen Ländern. Ich glaube, in Zukunft
wolle den Kids verbieten, in diese Techno-Discos zu wird es etwas besser sein, wieder Berichte zu haben,
gehen. die die Gesamtsituation sehen, allerdings auch -
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ selbst wenn es manchmal schwerfällt - im Vergleich
DIE GRÜNEN]: War er denn da überhaupt zwischen den alten und den neuen Ländern, damit
schon mal? Das sollte man erst einmal prü die Aufgaben für die Politik dann auch richtig be-
fen! - Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE schrieben werden können.
GRÜNEN)
Dabei habe ich das Gefühl, wenn ich mir den letz-
- Ich vermute es nicht. ten Beitrag vor Augen halte, daß es leicht ist, sich
hier ans Pult zu stellen und dieses und jenes zu for-
Es ist Luther zitiert worden, gestern auch Schiller;
dern, was die Bundesregierung noch alles tun
das fand ich o.k. In diesem Zusammenhang sollten
könnte, und zugleich zu sagen, man solle nicht Poli-
Sie, Frau Nolte, im Kabinett und ich hier im Bundes-
tik zu Lasten der jungen und der künftigen Genera-
tag aber auch andere zitieren. Ich nehme einmal
tionen machen. Beides geht natürlich nicht. Man
Pink Floyd. Pink Floyd hat in einem Text geschrie-
kann nicht auf der einen Seite eine Finanzpolitik kri-
ben: „We don't need no education, we don't need no
tisieren, die sparen muß, und andererseits lauter For-
thought control." Das ist Ihre Rolle! Wir sollten nicht
derungen stellen und der Bundesregierung vorwer-
die Objektsicht der älteren Herren nach außen ver-
fen, sie täte nicht genug. Das ist nicht so ganz die
kaufen, sondern dem etwas entgegensetzen und
ehrliche Haltung.
deutlich machen, daß wir eben keine knetbare
Masse sind, daß wir auch keine Leute sind, die all (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
das machen, was die älteren Damen und Herren die-
ses Parlaments ihnen vorschreiben. Vielmehr sollten Frau Niehuis, das gilt auch für Sie. Ich habe mit In-
wir konkret Überlegungen anstellen, wie wir Dinge teresse vernommen, was Sie gesagt haben, daß man
anders machen wollen. nämlich die Politik für die Jugendlichen, was die fi-
Nehmen Sie das auch mit, meine Damen und Her- nanziellen Zuwendungen angeht, nicht zu Lasten
ren, wenn wir in der nächsten Woche über den der Politik für Kinder beschränken solle. Wir haben
Klima-Gipfel diskutieren. dieses Thema im nordrhein-westfälischen Landtag in-
den letzten Jahren mehrfach angemahnt, weil die
Ich danke Ihnen. von der SPD geführte Landesregierung dort im Be-
griff ist, genau dies zu tun. Also manches, was hier
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gesagt wird, richtet sich vielleicht eher an die Län-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
derregierungen als an die Bundesregierung.
der PDS und der Abg. Dr. Gisela Babel
[F.D.P.]) Meine Damen und Herren, daß Jugendpolitik Zu-
kunftspolitik ist, ist sicher mehr als ein Gemeinplatz,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort erhält und die Lebensqualität der Familien, in denen Kin-
jetzt der Kollege Lanfermann. der und Jugendliche aufwachsen, ist natürlich zu-
nächst einmal das erste, was wir betrachten sollten.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Noch ein Jugendlicher! - Erlauben Sie mir, daß ich neben all den kritischen
Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Stimmen, die wir gehört haben, vielleicht auch ein-
NEN]: Weiblich, jung und schön!) mal etwas Positives in diese Debatte einbringe. Da
wollen wir zunächst einmal festhalten, daß sich bei
Heinz Lanfermann (F.D.P.): Frau Präsidentin! allem, was noch zu tun ist, und bei allem, was noch
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fischer, ich zu kritisieren ist, die Lebenssituation der Menschen
freue mich ja über Ihren Zwischenruf. Aber ich und der Familien insgesamt seit dem 1. Juli 1990
glaube, manchmal sehen Sie gegenüber mir sogar auch im Osten qualitativ und materiell entscheidend
ganz alt aus. verbessert hat.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
1790 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Heinz Lanfermann
Wenn Sie hier kritische Stimmen aufnehmen, an industriellen Mittelstandes mit bis zu 500 Be-
denen natürlich etwas Wahres dran ist, dann möchte schäftigten sind natürlich die Punkte, die zählen. Das
ich aber auch sagen, daß sich z. B. allein zwischen sind die Ausbildungsplätze, die es tatsächlich gibt
1991 und 1993 der Anteil der Ehepaare mit Kindern, und auch auf Dauer gibt.
die ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkom-
men von mehr als 3 000 DM haben, von 25 % auf Ein letztes Wort. Es ist natürlich richtig, daß man in
68 % erhöht hat. Das Statistische Bundesamt - das einer Übergangssituation, die wir haben und die na-
sind ganz unverdächtige Zahlen - hat für Alleinerzie- türlich auch länger dauert, durch Arbeitsmarktpolitik
hende errechnet, daß 59 % zwischen 1 000 und 2 500 und durch Beschaffungsmaßnahmen und Über-
DM zur Verfügung haben und 25 % mehr als 2 500 gangsmaßnahmen natürlich etwas tun muß, damit
DM. Das ist noch nicht mit dem Durchschnitt im We- überhaupt Plätze zur Verfügung stehen. Aber auf
sten zu vergleichen, aber es zeigt doch, daß wir auf Dauer helfen wirklich nur Arbeitsplätze, die sich
dem richtigen Wege sind. Man muß die Fakten na- selbst tragen, die sich am Markt behaupten können,
türlich innerhalb einer vernünftigen Zeitschiene be- die wirtschaftlich gesund sind. Das sind vornehmlich
werten und darf nicht einfach nur generell Kritik mittelständische. Es ist unsere Politik, praktisch et-
üben, ohne zu sehen, wie die Situation vorher war. was zu tun, damit sich Arbeitsplätze am Markt be-
haupten können, die auch wirkliche Zukunftsper-
Ich darf auch daran erinnern, um noch etwas Posi- spektiven für die Jugend bieten. Auch das ist wich-
tives zu sagen, daß immerhin das Bildungssystem tig. Deswegen wollte ich auch noch etwas Positives
komplett umgestellt werden mußte. Da ist ein ganz in die Debatte einbringen, die leider von der Seite
wichtiger Punkt, wenn wir hier über die Situation der Opposition meiner Ansicht nach etwas zu nega-
von Jugendlichen sprechen. Ich bin auch stolz dar- tiv geführt worden ist.
auf, daß es immerhin liberale Bildungsminister wa-
Vielen Dank.
ren, die es geschafft haben, daß die neuen Länder in
das gemeinsame Bildungs-, Wissenschafts- und For- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
schungssystem im vereinten Deutschland integriert Hanna Wolf [SPD]: Der Bericht stand heute
werden konnten. im Mittelpunkt!)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht
die Kollegin Rosel Neuhäuser.
Meine Damen und Herren, es sind Milliardensum-
men, die wir auch für Hochschulerneuerungspro-
gramme und Erhaltungsmaßnahmen in den ostdeut- Rosel Neuhäuser (PDS): Frau Präsidentin! Meine
schen Hochschulen ausgegeben haben. Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit
dem Neunten Jugendbericht und der Stellungnahme
Ich möchte mich jetzt auf ganz wenige Punkte be- der Bundesregierung dazu, die eigentlich Gegen-
schränken, weil der Kollege Türk in der nächsten stand parlamentarischer Erörterungen in der letzten,
Runde auf die Situation im Osten noch einmal einge- also in der 12. Wahlperiode hätte sein sollen. Ich
hen wird. Ich will nur noch einmal auf das Thema werde hier keine Vermutungen darüber anstellen,
Ausbildungsplätze zurückkommen. Es ist natürlich warum das nicht der Fall gewesen ist. Allerdings
so, daß man immer den Wunsch hat, es könnte viel- sollte der Bundestag darauf bestehen, daß der fol-
leicht noch etwas mehr sein gende, der Zehnte Jugendbericht noch in der
13. Legislaturperiode ins Parlament kommt. -
(Zuruf von der SPD: Es muß!)
Es ist vorhin schon mehrfach deutlich geworden,
oder daß jeder wirklich seinen gewünschten Ausbil- daß die Analyse, die diesem Bericht zugrunde liegt,
dungsplatz bekommt. Das ist aber nicht einmal im die realen Situationen einschätzt. Deshalb kann ich
Westen möglich. Es ist ein großer Erfolg, daß man es es eigentlich nicht verstehen, daß der Kollege Dehnel
in den letzten Jahren geschafft hat, in der tatsächli- die Geborgenheit in der ehemaligen DDR derart dar-
chen Situation die Probleme zu bewältigen. stellt. Ich will keine Nostalgie und will auch nichts
schönreden. Aber die Zahlen und Fakten, die in die-
Frau Kollegin Niehuis, Sie können nicht die Per- sem Bericht aufgenommen wurden, machen doch ei-
spektiven, die die Leute an die Wand malen, was Uns gentlich vieles deutlich.
droht, in einem Satz bringen zusammen mit dem,
was die Bundesregierung tatsächlich getan hat. Es ist Der vorliegende Jugendbericht beschreibt in um-
ein Unterschied zwischen Perspektiven, selbst wenn fassender Form die Situation der Kinder und Jugend-
sie bedrohlich sind, und dem, was an praktischer Ar- lichen in den neuen Bundesländern. Viele Details
beit zunächst einmal geleistet wird. Da zählt das, was werden Gegenstand der Diskussion in den Ausschüs-
getan wird, und nicht das, was Sie für die Zukunft sen sein, wie dies auch Frau Niehuis vorhin schon
schwarz an die Wand malen. zum Ausdruck brachte. Ich denke, auch wir können
uns einbringen, vieles unterstreichen oder anderes
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) deutlich machen und fordern.
Meine Damen und Herren, die 440 000 selbständi- Die Mehrzahl der Daten und Einschätzungen des
gen Unternehmen, die bis Ende 1993 in Ostdeutsch- Berichtes standen bereits Mitte 1993 fest. Auch wenn
land gegründet worden sind, die 3 Millionen Arbeit- die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme einen
nehmer beschäftigen, die 11 000 Unternehmen des anderen Eindruck zu vermitteln sucht: Die Lage hat
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1791
Rosel Neuhäuser
sich nicht entspannt - im Gegenteil. Sicher, der Bund Ich hoffe daher inständig, daß es uns gelingt, ein
hat seit 1990 umfangreiche Mittel für den Kinder- Auslaufen des Aufbauprogramms freier Träger und
und Jugendbereich in den neuen Bundesländern be- auch der Maßnahmen nach § 249h des Arbeitsförde-
reitgestellt, und das Geld ist auch geflossen. rungsgesetzes zu verhindern. Jugendpolitik braucht
eine kontinuierliche, langfristig gesicherte und groß-
(Beifall des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.]) zügige Finanzierung.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Aber effektiver Mitteleinsatz hängt auch und in er-
ster Linie von Konzeptionen ab. Eben da liegt das Wer in diesem Bereich spart, bezahlt am Ende teuer,
große Problem der Bundesregierung bzw. des zustän- mit der Zukunft einer Gesellschaft.
digen Ministeriums.
Der Neunte Jugendbericht macht eines deutlich:
Wenn Sie versuchen - so wie es auch im Bericht Es ist dringend an der Zeit, daß das Bundesministe-
dargestellt -, in 40 Jahren gewachsene Strukturen, rium seine großen Worte von der „Jugendpolitik, die
Formen und Instrumente unreflektiert auf eine an- ein Schwerpunkt der Regierungspolitik bleibt", mit
dere gesellschaftliche Realität zu übertragen, die Sie tragfähigen Konzepten und angemessenen finanziel-
kaum in Ansätzen verstehen oder verstehen wollen, len Mitteln untersetzt. Benötigt wird ein Politikan-
dann kann das nur ins Auge gehen. Ein Beispiel hier- satz, der Jugendpolitik als gesellschaftliche Quer-
für sind die in der Stellungnahme hochgelobten Son- schnittsaufgabe begreift und gestaltet. Niemand er-
derprogramme, nämlich das Aufbauprogramm freier wartet von Frau Bundesministerin Nolte, daß sie die
Träger. in der Tat komplexen Probleme im Kinder- und Ju-
gendbereich allein mit ihrem Ressort bewältigt. Doch
Entsprechend den Vorgaben des Kinder- und Ju- sollten wir zumindest erwarten können, daß die Fa-
gendhilfegesetzes wurden z. B. in Thüringen in den milienministerin jugendpolitisch relevante Probleme
letzten Jahren eine Reihe von Angeboten der Ju- gegenüber ihren Amtskollegen offensiv und nach-
gendhilfe geschaffen. Die hundertprozentige Förde- drücklich vertritt.
rung der Stellen bei einer Vielzahl von kleinen Trä- (Beifall bei der PDS)
gern, Neugründungen und Jugendinitiativen machte
es möglich, mit der Entwicklung von dezentralen, Ein solches Problem sind Ausbildungs- und Ar-
pluralen Strukturen in der Jugendarbeit zu begin- beitsplätze für Jugendliche. Das ist aus unserer Sicht
nen. Engagiert gingen die Mitarbeiter daran, wesent- - wie eben auch schon deutlich geworden - ein ju-
liche Voraussetzungen für langfristig angelegte An- gendpolitisches Schwerpunktthema, das geradezu
gebote, z. B. im Jugendfreizeitbereich, zu schaffen. auf den Nägeln brennt.
Der Streit zwischen Bund und ostdeutschen Län-
Die Akzeptanz bei den Kindern und Jugendlichen dern über die Lehrstellenfinanzierung ist in vollem
war da, doch die Freude währte nur kurz. Die 1995 Gange. Bei 10 % mehr Ausbildungssuchenden, 3,7 %
auslaufende Förderung bedeutet für viele kleine Trä- weniger Ausbildungsplätzen und einer Bundesregie-
ger das gnadenlose Aus. rung, die nicht bereit ist, die Aufgaben der Wirtschaft
zur Schaffung von Lehrstellen zu übernehmen, blei-
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Ja, so ist es!) ben in diesem Jahr die Erwerbs- und Bildungsbiogra-
phien Tausender junger Menschen mit Sicherheit auf
Hier geht mehr kaputt als ein Jugendtreff oder ein der Strecke.
Verein. -
Sicher können und müssen der Bund und die Län-
(Zustimmung bei der PDS) der auch im öffentlichen Dienst Ausbildungsplätze
schaffen. Wichtiger ist allerdings, daß der Bund Un-
Eben mühsam geschaffene Strukturen brechen zu- ternehmen über Steuer- und Finanz- oder auch an-
sammen, neue haben kaum Chancen auf Entfaltung. dere Maßnahmen zur Schaffung von Ausbildungs-
plätzen motiviert. Es kann doch nicht sein, daß in
Was bleibt, sind Enttäuschung und Frustration bei dem Opel-Werk in Eisenach - ein Beispiel aus mei-
allen Beteiligten: ner Heimat -, das über 2 000 Beschäftigte hat, ganze
zehn Ausbildungsplätze für junge Leute zur Verfü-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) gung stehen.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
Engagement lohnt sich doch nicht! Auf längere Sicht
ten der SPD - Zuruf von der PDS: Uner
- die dem Familienministerium aber offensichtlich
hört!)
abgeht - wird der Verlust von Vertrauen in die Politik
und die Politiker teurer als eine Fortsetzung der För- Ich muß allerdings zugeben, daß mich der bishe-
derung. Denn was heute an präventiver Jugendar- rige Umgang der Bundesregierung mit dem Jugend-
beit versäumt wird, kostet später beim Reparieren - bericht sehr pessimistisch gestimmt hat. Die un-
das wissen wir alle - meist das Doppelte oder das glaubliche Blauäugigkeit, Ignoranz und Selbstzufrie-
Dreifache. denheit, die aus vielen Einschätzungen spricht, ist
schon erschreckend, vor allem angesichts der Viel-
(Beifall bei der PDS und der SPD sowie des zahl von drängenden Problemen. So kann ich z. B.
Abg. Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE die „hohe generelle Zufriedenheit mit dem eigenen
GRÜNEN]) Leben" nicht konstatieren.
1792 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Rosel Neuhäuser
Kinder und Jugendliche sind sehr wohl geprägt Im Gegensatz zur öffentlichen Jugendhilfe als Auf-
und auch beeinflußt von der Angst der Eltern vor gabenbereich der kommunalen Selbstverwaltung er-
dem Verlust des Arbeitsplatzes; sie erleben wieder, weist sich der Aufbau pluraler Trägerstrukturen in
daß Kritik nicht erwünscht ist - also: „Kopf runter den neuen Ländern als schwierig. Warum? Freie Trä-
und Mund halten! ". Sie sind weiterhin geprägt von ger spielten in der alten DDR keine Rolle. Im Gegen-
dem Erleben, daß Arbeitslosigkeit Resignation und satz zur Vielfalt der Jugendverbände in der alten
Isolation bedeutet - teilweise auch Verschuldung der Bundesrepublik gab es in der DDR neben kirchli-
Familie -, und von der Unsicherheit sie umgebender chen Verbänden nur die FDJ als Monopolverband,
Menschen, vor allem der Frauen und Mädchen, die verpflichtet dem Programm und den Beschlüssen der
sich in sinkenden Geburtenraten, einer steigenden SED. Hier herrschte das Prinzip der „freiwilligen
Zahl von Sterilisationen, einer Arbeitslosigkeit von Zwangsmitgliedschaft" . Durch ihr Leben in der DDR
über 60 % sowie in der Tatsache ausdrückt, daß waren junge Menschen daran gewöhnt, nicht nur be-
Frauen mit 31 % überproportional von Sozialhilfe ab- vormundet und gegängelt, sondern in hohem Maße
hängen. 46 % der Kinder in Ostdeutschland leben in auch versorgt und be treut zu werden.
Haushalten, die Sozialhilfe erhalten.
Vor diesem Hintergrund muß der Aufbau der
Der Bericht informiert über einen deutlichen Wer- freien Wohlfahrtspflege und einer freien Jugendhilfe
tewandel, auf den die Bundesregierung in ihrer Stel- gesehen werden. Wesentliche Hilfen wurden den
lungnahme nicht eingeht. Wir halten deshalb eine neuen Ländern und Kommunen über den Fonds
Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes Deutsche Einheit, das Gemeinschaftswerk Auf-
für dringend erforderlich, in der die bisherigen Erfah- schwung Ost und die kommunale Investitionspau-
rungen aus den neuen Bundesländern berücksichtigt schale geleistet. Darüber hinaus hat der Bund - ich
werden und in die die entsprechenden ostdeutschen betone: übergangsweise - Angebots- und Leistungs-
Institutionen und Organisationen einbezogen wer- lücken von Ländern und Kommunen auch im Sozial-,
den. Wichtig sind hier verbindliche Festlegungen für Kultur-, Sport- und Freizeitbereich durch gezielte
alle Leistungs- und Aufgabenbereiche der Kinder- Förderprogramme, Zuwendungen und andere Hilfen
und Jugendhilfe. zu überbrücken und auszufüllen versucht. So enthält
der Kinder- und Jugendplan des Bundes kommunale
Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, und landesspezifische Fördermaßnahmen für die
daß ihre speziellen Belange in den bundes-, landes- neuen Bundesländer. Er soll die fachlichen und fi-
und kommunalpolitischen Entscheidungen berück- nanziellen Schwierigkeiten dort überwinden helfen.
sichtigt werden. Sie sind keine Verwaltungsgröße,
sondern ein aktiver Teil unserer Gesellschaft. Sie Die 1991 um rund 48 Millionen DM aufgestockten
brauchen Freiräume, in denen sie Verantwortung Mittel im Kinder- und Jugendplan hat das Jugend-
übernehmen können, und reale Chancen auf die Mit- ministerium Jahr für Jahr fortgeschrieben. Danach
gestaltung ihrer Lebensumwelt. erhalten auch die Jugendverbände einen erhebli-
chen Anteil für zusätzliche Aufgaben in den neuen
Wir fordern die Bundesregierung mit allem Nach- Bundesländern.
druck dazu auf, ihre Stellungnahme zum Neunten
Jugendbericht zu überdenken und entsprechende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
politische Entscheidungen zu treffen. Die Zukunfts- ordneten der F.D.P.)
chancen einer Gesellschaft lassen sich am Umgang
Es ist ein Erfolg, daß ein großer Teil der bislang vom
mit ihrer Jugend ablesen.
Bund aufgebrachten Sondermittel in den Kinder- und
Danke. Jugendplan überführt und fortgeschrieben werden
konnte. Dies als Verringerung zu bezeichnen ist eine
(Beifall bei der PDS und der SPD) unzulässige Verkürzung der Wahrheit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert das Wort. Die SPD kennt die korrekten Zusammenhänge.
Vergleicht man die Fördermittel von 1985 mit dem
Volumen 1995, so stellt man fest, daß die Mittel für
Klaus Riegert (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bun- den Bundesjugendplan um 87 % von 111 Millionen
desregierung unternimmt erhebliche finanzielle An- DM auf 208 Millionen DM erhöht wurden. Dies ist
strengungen, um die neuen Länder und ihre Ge- mehr als der zwischenzeitliche Zuwachs der Förder-
meinden in die Lage zu versetzen, eine freie Wohl- sätze.
fahrtspflege und eine freie Jugendarbeit aufzu- Meine Damen und Herren, es stand von vornher-
bauen. ein fest, daß die Sondermittel mit zunehmender Lei-
stungsfähigkeit von kommunalen Jugendämtern und
(Thomas Krüger [SPD]: Das stimmt gerade
Landesjugendbehörden reduziert werden sollten.
nicht!)
Dies erfordern schon unsere föderale Verfassung und
Verbände, Initiativen und freie Träger sind Rückgrat die korrespondierende Finanzverfassung, die für die
der Jugendpolitik in einer freien Gesellschaft. Kommunen und die Landesparlamente nicht nur ei-
genständige Aufgaben, sondern auch die dafür erf or-
(Hanna Wolf [SPD]: Das stimmt!) derlichen Mittel vorsehen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1793
Klaus Riegert
Mit der von den Ministerpräsidenten der alten Es gibt zwar Ansätze zur Selbstorganisation, aber
und der neuen Bundesländer einheitlich begrüßten noch kommt dem Jugendamt die Rolle des Zugpfer-
Neuordnung des Bund Länder Finanzausgleichs ab
- - des zu.
1995 ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem die neuen
Länder nun die Finanzierung ihrer eigenen Aufga- Mit der Bildungsoffensive Ost haben wir ein Pro-
ben und Zuständigkeiten zu übernehmen haben. Es jekt zur umfassenden Vermittlung von Wissen und
geht nicht an, immer neue, zusätzliche Finanzie- Können für die Sportjugend in den neuen Bundes-
rungsanforderungen an den Bund nachzuschieben, ländern gestartet. Durch eine Fülle von Bildungsver-
gleichgültig ob mehr Geld für Jugendarbeit, Jugend- anstaltungen für ehren- und hauptamtliche Helfer in
sozialarbeit oder Kindergärten gefordert wird. den neuen Ländern hat diese Maßnahme wesentlich
zum Aufbau von Sportjugendverbänden beigetra-
Sie vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN offenbaren gen.
hier ein gestörtes Verhältnis zu unserer Verfassung.
Die vom Neunten Jugendbericht vorgelegte fachli-
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ che Bilanz ist ermutigend. Be trachtet man den heuti-
NEN - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND gen Stand des Aufbaus der Jugendhilfe in den neuen
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Immerhin ein Fort Bundesländern, so kann festgestellt werden, daß
schritt, vom Verfassungsfeind zum gestörten strukturell wichtige Rahmenbedingungen für eine
Verhältnis!) KJHG-konforme Jugendhilfe geschaffen wurden.
Nach wie vor müssen jedoch zentrale Prinzipien ei-
Unsere Hinweise auf die verfassungsgemäße Kom- ner präventiven, plural organisierten und an den In-
petenzverteilung, auf die Systemwidrigkeit und auf teressen der Betroffenen orientierten Jugendhilfe
die verfassungsrechtliche Problematik von Sonder- eingefordert werden. Hier sind besonders die Länder
programmen sind keine - wie Sie in Ihrem Antrag und die Kommunen in der Pflicht. Wir werden sie aus
formuliert haben - formalistischen Hinweise und dieser Pflicht nicht entlassen.
Verweise.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Auch die Sozialdemokraten haben Probleme mit
unserer föderalen Ordnung, da sie immer wieder an
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kollege Thomas
der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung Krüger hat das Wort.
vorbei Geld vom Bund fordern.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU DIE GRÜNEN]: Er ist heute ja ganz anstän-
und der F.D.P.) dig angezogen! - Heiterkeit)
Wir werden solche Vorschläge nicht aufgreifen -
Herr Fischer, hören Sie ruhig zu -; ganz abgesehen Thomas Krüger (SPD): Frau Präsidentin! Meine
davon sind offensichtlich genügend Finanzmittel vor- Damen und Herren! Ich beginne mit einer kurzen
handen. Der Magdeburger SPD-Finanzminister summarischen Aufzählung. 74 Abgeordnete folgen
Wolfgang Schaefer entdeckte beim Kassensturz dieser Debatte. Auf den Bänken der Regierung sitzt
1,4 Milliarden DM in seinem Haushalt, die 1994 nicht eine Ministerin. Aus dem Heer der Parlamentari-
ausgegeben wurden. Mit Blick auf die Transfers in schen Staatssekretäre sind immerhin zwei anwesend.
die neuen Bundesländer meinte er: Innerhalb von Dieses spiegelt wider, welchen geringen Stellenwert
fünf Jahren kann man so viele hundert Milliarden die Jugendpolitik in unserem Land und auch im Be- -
Mark nicht sinnvoll ausgeben. - Ich meine, man reich der Bundesregierung hat. Das ist sehr bedauer-
könnte sie sinnvoll ausgeben, zumindest einen Teil in lich.
der Jugendhilfe. Auch sonst sind genügend sinnvolle
Aufgaben vorhanden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und der PDS)

Die Probleme liegen woanders. Die Bereitschaft Ich hätte mir gewünscht, daß der Kanzler aller Deut-
junger Menschen, sich in Staat und Gesellschaft zu schen auch der Kanzler aller Jugendlichen ist und
engagieren, ist nach Auskunft des Neunten Jugend- hier auf seinem Sitz zu finden ist.
berichts nicht sehr verbreitet. Diesen Sachverhalt il-
lustriert folgendes Beispiel: Nachdem ein Haus für (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wo ist denn
die jugendlichen Punks der Stadt zur Verfügung Herr Scharping?)
stand, war keiner der Jugendlichen bereit, die Ver- Aber mich tröstet, daß er weiß, daß derjenige, der
antwortung zu übernehmen und den Mietvertrag zu die Jugend hat, auch die Zukunft hat. Der Kanzler
unterschreiben oder sich mit den erforderlichen hat aber nicht die Zukunft, und er will sie offenbar
rechtlichen Bestimmungen auseinanderzusetzen. auch nicht. Sonst wäre er hier.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
DIE GRÜNEN]: Ein Punk, der sich mit
rechtlichen Bestimmungen auseinander- Meine Damen und Herren, man kann zwar nicht
setzt, ist keiner! - Weitere Zurufe von der sagen, daß die Jugend der Verlierer der deutschen
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Einheit ist - denn Jugendliche nutzen die Chancen
1794 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Thomas Krüger
und die neuen Freiheiten -, aber die Jugend ist die verdrängt werden, ihnen weniger Platz eingeräumt
vergessene Generation der deutschen Einheit. Das wird, und endet schließlich dabei, daß Ausbildungs-
wird aus dem vorliegenden sehr realistischen Be ri cht und Studienplätze abgebaut werden, weil uns beim
der Sachverständigen deutlich. Sparen die Jugendlichen immer zuerst einfallen.

Herr Riegert, ich frage mich, aus welchem Grund Wir müssen nicht nur danach fragen, welche Pro-
Sie sich durch die Lektüre dieses Berichts ermutigt bleme uns die Jugend macht, sondern vielmehr da-
fühlen können. Wahrscheinlich beruht Ihr Eindruck nach, welche Probleme die Jugend selbst hat. Denn
weniger auf dem Jugendbericht selbst, den Sie offen- Skandale und Provokationen der Jugend haben sehr
bar nicht gelesen haben - dann hätten Sie nämlich viel mit uns und unserer Generation und unseren
den einen oder anderen Schrecken bekommen müs- Wertmaßstäben zu tun. Wir dürfen deshalb der jun-
sen -, sondern vielmehr auf der Stellungnahme der gen Generation nicht in den Rücken fallen, sondern
Bundesregierung, die den eigentlichen Sachverhalt wir müssen ihr den Rücken stärken. Ein breit ange-
systematisch verschleiert und kaschiert und nicht an legter Generationenvertrag ist erforderlich. Das
die Oberfläche läßt. fängt beim vieldiskutierten Familienlastenausgleich
an und reicht weiter in alle Politikfelder hinein. Ju-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne gendpolitik muß Querschnittspolitik sein und darf
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sich nicht selber in die Situation bringen, in der sich
und der PDS) die Jugendlichen bereits befinden, nämlich sich ihr
Recht erst einmal erkämpfen zu müssen.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
Zwischenfrage des Kollegen Riegert? Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN])
Thomas Krüger (SPD): Aber selbstverständlich. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme
Meine erste Zwischenfrage. zum Bericht der Sachverständigen gesagt, sie wolle
sich der Aktualität der Lage stellen. Man höre genau
hin: Sie wolle die Evaluation unabhängiger Sachver-
Klaus Riegert (CDU/CSU): Herr Kollege Krüger, da ständiger nutzen und sich herausfordern lassen. Tun
Sie mir gerade vorgeworfen haben, daß ich den Sie das, Frau Nolte, Sie haben unsere Unterstützung,
Neunten Jugendbericht nicht gelesen hätte, frage ich wenn Sie über Appelle und über die bloßen Ankün-
Sie, ob Sie den Antrag der SPD gelesen haben, weil digungen hinaus neue Politik machen! Wir brauchen
auch die SPD in ihrem Antrag sehr wohl positive An- eine neue Politik im Jugendbereich. Sie tragen die
sätze in der Jugendarbeit erkannt hat. Verantwortung. Sie haben Gestaltungsspielraum.
Aber wir wissen alle: Zuständig für die Jugendpoli-
Thomas Krüger (SPD): Herr Abgeordneter, daß tik sind die Länder und die Kommunen. Im Prozeß
wichtige Ansätze entstanden sind, erklärt sich ganz der deutschen Einheit hätten wir jedoch alle sagen
einfach daraus, daß man im Grunde von Null ange- können, daß die Wende es gebietet, daß der beson-
fangen hat bzw. den gesamten Jugendhilfebereich deren Situation der Jugendhilfe in den neuen Bun-
umstrukturiert hat. Das ist in der Tat in diesem Be- desländern eine besondere Anstrengung der Bun-
richt erkennbar. desregierung entspricht.
(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ An zwei Beispielen will ich Ihnen kurz skizzieren,-
CSU und der F.D.P.) wo die Bundesregierung dies getan hat, nämlich im
Krankenhausbereich durch Ihren Kollegen Seehofer
Aber es ist auch erkennbar - das ist das eigentlich und im Bereich der Seniorenheime durch Ihre Vor-
Bedauerliche -, daß seitens des Bundes, der Länder gängerin im Seniorenbereich, Frau Rönsch. Dort sind
und der Kommunen viel zu wenig getan worden ist, mittelfristige Investitionsprogramme über zehn Jahre
um den Charakter der Jugendpolitik als fünftes Rad aufgelegt worden. Im Jugendhilfebereich ist gar
am Wagen der Politik zu beenden und dem etwas nichts passiert. Die bauliche Substanz der Räume ist
Zukunftweisendes entgegenzusetzen. katastrophal. Im Grunde fehlen auch Räume. Wir
müssen Investitionen im Jugendbereich vornehmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Die Jugendpolitik umfaßt nicht nur konsumtive Aus-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) gaben, sondern auch investive Ausgaben. Das müs-
sen wir begreifen, um die Chancen der Jugend zum
Ich stelle fest, daß es so etwas wie eine neue Ju- Zuge zu bringen.
gendfeindlichkeit in unserer Gesellschaft gibt. Ju- (Beifall bei der SPD)
gendliche kommen als Störer, als Randalierer, als
Graffiti-Schmierer, als diejenigen in den Blick, die Frau Ministerin, Ihre Beamten sprechen die Finan-
laut und rücksichtslos sind und die falschen Parteien zierungsinstrumente an, die für die Kommunen im
wählen. Jugendliche werden vornehmlich zum Ob- Osten unserer Republik bereitgestellt wurden. Da
jekt der von uns Erwachsenen erlebten und eingebil- sind das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, die
deten Freiheitseinschränkungen. Das fängt bereits in kommunale Investitionspauschale und der Fonds
der Familie an, wenn das kleinste Zimmer zum Spiel- Deutsche Einheit. Aber Sie wissen alle, daß diese
zimmer der Kinder gemacht wird, geht über den öf- Mittel direkt an die Länder und Kommunen überge-
fentlichen Stadtraum, wenn Jugendliche und Kinder ben worden sind und, angekommen in den Ländern
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1795
Thomas Krüger
und Kommunen, sich überhaupt nicht im Bereich der aufbauen und nicht durch solche Instrumente kaputt-
Jugendhilfe ausgewirkt haben, weil natürlich die machen.
Vertreter, die Dezernenten, die Minister im Jugend-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bereich keine Chance gehabt haben, von diesem Ku-
DIE GRÜNEN)
chen etwas abzubekommen. Die Verkehrspolitiker
waren stärker, die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspoli- Ich möchte schließlich noch ein Wort zum Bereich
tiker waren stärker. Im Jugendhilfebereich ist somit der Jugendklubs sagen. Es wird immer beklagt, daß
faktisch sehr wenig passiert. Sie bzw. Ihre Vorgänge- in den neuen Ländern, in den großen Städten, in den
rin hätten versuchen müssen, einen Sockel oder eine Plattenbausiedlungen die Jugendklubs kaputtge-
Quote bei diesen Investitionspauschalen einzurich- gangen seien. Die Architektur in diesen Plattenbau-
ten. Dann wäre auch die Garantie dafür gegeben, siedlungen ist kinder- und jugendfeindlich. Das muß
daß im Jugendbereich etwas ankommt. Angekom- man ganz klar sagen. Es gibt in diesem Bereich keine
men ist jedenfalls herzlich wenig. geschützten Räume für Jugendliche.

Was ABM und Maßnahmen nach § 249h Arbeits- Die wenigen vorhandenen Anlaufstellen sind oft-
förderungsgesetz betrifft, weiß jeder: Das sind not- mals kaputtgemacht worden. Es waren nicht der
wendige Instrumente für die Übergangszeit gewe- wirtschaftliche und ideologische Zusammenbruch,
sen. Aber die Jugendpolitik braucht Kontinuität und wie die Bundesregierung bzw. die Beamten Ihres Mi-
Qualität. Das bieten diese arbeitsmarktpolitischen nisteriums, Frau Nolte, in die Stellungnahme hinein-
Instrumente viel zu wenig. schreiben, die daran Schuld tragen, sondern ursäch-
lich war in der Tat die Wende und die Situation, die
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ich vorhin schon angesprochen habe, nämlich das
GRÜNEN und der PDS) Recht der Stärkeren: In der Wendezeit hat sich sozu-
sagen das Recht des Stärkeren auf die Tagesordnung
Lassen Sie mich noch etwas zu den Sonderpro- gesetzt, und die Stärkeren haben sich natürlich die
grammen sagen. „Sommer der Begegnung"; „Auf- Jugendräume genommen. Sie haben sich die Räume
bau freier Träger"; zum AgAG-Programm ist schon angeeignet und für andere Zwecke verwandt - si-
etwas gesagt worden: Ich fand, „Sommer der Begeg- cherlich für wichtige Zwecke -, aber jetzt steht man
nung" und „Aufbau freier Träger" waren - das sage vor dem Ruin und hat oftmals keine Räume mehr.
ich aus eigener Erfahrung als früherer Berliner Ju- Das, denke ich, ist ein schwerwiegender Gesichts-
gendsenator - Programme, die mit heißer Nadel ge- punkt.
näht waren, waren Programme, die am Bedarf in den
Kommunen und Ländern oft völlig vorbeigingen. Sie sollten hier in diesem Bericht weniger kaschie-
ren, als die Probleme beim Namen nennen. Das Pro-
Da ist dann vielleicht der unionsnahe Jugendver- blem ist ein strukturelles. Jugendpolitik ist das fünfte
ein „Frischluft" auf die Jagd gegangen und hat in Rad am Wagen.
Thüringen und in Sachsen-Anhalt Jugendliche ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sammelt und sie mit Jugendlichen aus den westdeut-
schen Bundesländern in Kontakt gebracht. Das ist ja Da muß man etwas entgegensetzen. Ich nehme da
alles ganz in Ordnung. Aber es ist sehr viel Geld die- keine der Parteien, die in diesem Parlament sind, von
ses Programmes versandet, und das weiß ich durch der Verantwortung aus; denn auch in Bund, Ländern
die Besprechungen im Bereich der Jugendminister und Kommunen tragen alle diese Parteien mehr oder
und der Beamten, die in diesem Bereich immer wie- weniger Verantwortung.
der darüber geklagt haben, Ich komme zum Schluß: Die Jugendkulturarbeit,
meine Damen und Herren, halte ich für einen ganz
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wesentlichen Ansatzpunkt. Sie haben gesagt, daß
DIE GRÜNEN)
Sie neue Antworten, neue Impulse aufgreifen wollen.
daß die Mittelansätze viel zu kurzfristig bereitgestellt Jugendkulturarbeit sagt, daß man bei den Stärken
worden sind und im Grunde überhaupt nicht struktu- der Kinder und Jugendlichen ansetzen will und nicht
rell gewirkt haben. bei den Schwächen. Wenn man die Stärken fördert,
selbstbewußte Kinder und Jugendliche unterstützt,
Beim „Aufbau freier Träger" gab es den Fortbil- dann hat Jugendkulturarbeit in der Tat einen Investi-
dungsbereich. Sehr wichtig ist die Fortbildung von tionscharakter. Diesen sollten wir versuchen auszu-
Mitarbeitern im Bereich der Jugendhilfe - zweifels- bauen.
ohne -, aber es ist so, daß diese Fortbildungsmaßnah- Für die Jugendsozialarbeit heißt das, daß sie nicht
men die eigenen Ansätze von Fortbildungs- und Bil- aufgehoben werden sollte, sondern daß ihre Arbeits-
dungsträgern in den neuen Ländern verstellt haben, bereiche enger umrissen werden sollten, beispiels-
weil die Tagessätze viel zu hoch waren und deshalb weise im Bereich der Jugendberufshilfe für benach-
letztendlich die Arbeitsansätze, die vor Ort da waren, teiligte Jugendliche. Jugendkulturarbeit ist einer der
kaputtgemacht worden sind. wesentlichen Gesichtspunkte, die wir fördern kön-
nen.
Ich glaube, daß hier erst am Schluß des Program-
mes einigermaßen eine Koordination zwischen Bun- Sie haben dazu die Möglichkeit, Frau Nolte. Sie
desprogramm und Ländern stattgefunden hat. Des- können nämlich im Kinder- und Jugendplan des
halb ist dieser Teil verhältnismäßig vertan gewesen. Bundes für den Bereich der Kinder- und Jugendkul-
Man muß doch die Strukturen vor Ort fördern und turarbeit mehr Mittel als bisher zur Verfügung stel-
1796 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Thomas Krüger
len. Sie haben jedenfalls meine persönliche Unter- beruflichen Belastung, die wir auch haben - Sie wis-
stützung, wenn Sie sich da auch mit dem einen oder sen das -, ins Gespräch zu kommen.
anderen Platzhalter im Bereich der Jugendhilfe anle-
gen und wirklich umverteilen. Jugendpolitik muß (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Reden hilft
sich die Gestaltung auf die Fahnen schreiben und nicht!)
nicht die Bewahrung des Status quo. Dann wird es
- Doch, das hilft schon, um hereinzukommen.
nämlich immer schlimmer.
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Sie müssen was
Vielen Dank.
tun!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) Ich tue das zunehmend in Schulen. Wir führen
gute Gespräche, aber die Vervielfältigung durch die
Medien fehlt; denn ich kann nicht alle Schulen in
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt erhält das Brandenburg besuchen, das ist unmöglich. Randale
Wort der Abgeordnete Jürgen Türk. läßt sich eben in den Medien viel besser verkaufen.
Das ist ein Punkt. Es ist nicht der einzige, aber ein
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Punkt.
DIE GRÜNEN]: Die F.D.P. ist heute wirklich
mit jungen Leuten besetzt!) Daß wir noch eine Chance besitzen, zeigt, daß die
Annahme des demokratischen Systems von einer
überwältigenden Mehrheit der ostdeutschen Jugend
Jürgen Türk (F.D.P.): Das sowieso. Aber Sie sehen getragen wird. Über 84 % lehnen Gewalt als Kon-
heute auch nicht unbedingt gerade jung aus - heute fliktlösung ab, und Frieden, Familie und Freiheit ha-
früh jedenfalls. ben den höchsten Stellenwert.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Die ostdeutsche Jugend ist weit davon entfernt, in
DIE GRÜNEN]: Besser Sie sehen so aus wie politischen Extremismus abzudriften, wie das manch-
ich als so wie Sie! - Heiterkeit) mal behauptet wird. Aber es gibt ein besorgniserre-
- Manchmal sieht man ganz schön alt aus. Das geht gendes politisches Integrationsdefizit. Hier sind wir
auch mir so. alle gefordert - ich sagte das bereits -, nachzuden-
ken, woran das liegt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Neunte Jugendbericht macht Wir können Vertrauen zurückgewinnen, wenn wir
Schluß mit der leichtfertigen Bemerkung, daß die Ju- der Jugend einen noch viel höheren Stellenwert ein-
gendlichen durch ihre Unbefangenheit am leichte- räumen und nicht erst dann reagieren, wenn gewalt-
sten mit dem tiefgreifenden Wandel durch die deut- tätige Minderheiten spektakuläre und medienwirk-
sche Einheit fertig werden. same Ereignisse inszenieren.

Nein, der Jugendbericht fordert: Wer es ernst (Beifall bei der F.D.P.)
meint mit der deutschen Einheit, sollte nicht nur
Dankbarkeit verlangen, in Freiheit leben zu können, Da gebe ich Ihnen recht.
sondern erkennen, daß besonders der Jugend gezielt Aber der Bericht belegt auch trotz aller Kritik an
Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden müssen. den Gegebenheiten und an uns, trotz der tiefgreifen-
Der Bericht zeichnet dankenswerterweise ein diffe- den Umbrüche und der schwierigen Wirtschaftslage
renziertes Bild. Wir müssen uns schon bemühen, die einen unverrückbaren Optimismus. Die Jugend will
Vielfalt der Situationen genauer anzuschauen. Ich die Zukunft meistern, will ihre Chance haben. Dabei
möchte bestimmte Punkte herausgreifen, die mich sind vor allem die ostdeutschen Jugendlichen von ei-
beim Lesen des Berichts berührt haben. So war ich nem Problem betroffen, das ihre Altersgenossen in
natürlich neugierig, wie die Jugend die Politiker be- Westdeutschland so extrem nicht kennen, nämlich
wertet. von der Arbeitslosigkeit.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, unser (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist kein Pro-
aller Ruf ist nicht nur schlecht, sondern saumäßig. So blem?)
urteilen 85 %, daß es sich bei unserer Arbeit nur um
Geld und Betrug dreht. Das sollten wir ernst nehmen. - Natürlich ist das ein Problem. - In der Gruppe der
Wir sollten sehen, wo die Ursachen dafür liegen. Den jungen Erwachsenen waren im Jahre 1993 mehr als
Parteien geht es dementsprechend. Es ist kaum Ge- 20 % arbeitslos, in Westdeutschland dagegen nur
3 %. Deshalb sind die Anstrengungen der Bundesre-
nugtuung, wenn PDS und Reps besonders schlecht
gierung für immer mehr Beschäftigung richtig und
abschneiden. Die Ohrfeige sitzt insgesamt.
müssen fortgesetzt werden.
(Zuruf von der PDS: Na, na!)
Wir hatten erst vor kurzem die Debatte, daß das
- Doch, das zeigt der Bericht. nicht mehr so sein sollte. Das ist mit das Wichtigste.
Jede Mark, die jungen Menschen eine Perspektive
Noch zeigen sie ihren Frust durch Nichtwahl, da- gibt, ist gut ausgegeben.
bei muß es aber nicht bleiben. Wir müssen die
Chance ergreifen, mit den Jugendlichen trotz aller (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1797
Jürgen Türk
Wir müssen tatsächlich aufpassen, daß keine Inve- Es ist - das muß man schon feststellen - in den letz-
stitionsruinen entstehen. Ich meine das nicht nur aus ten Jahren viel getan worden, aber es ist noch mehr
bautechnischer Sicht. Wie sollen sich diese Jugendli- als bisher zu tun. Packen wir es also gemeinsam an,
chen sonst mit unserem Staat identifizieren, wenn wie man so schön sagt. Packen wir es mit den Ju-
ihre größte errungene Freiheit die Freiheit von Arbeit gendlichen gemeinsam an!
ist.
(Beifall bei der F.D.P. - Beifall des Abg. Jo-
Es beschämt mich, daß sich 36 % der ostdeutschen seph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE
Jugendlichen als Bürger zweiter Klasse fühlen. Diese GRÜNEN])
vom Bericht als kollektive Selbstdegradierung be- Der Neunte Jugendbericht ist natürlich nicht be-
zeichnete Gefühlslage verdeutlicht den Druck, der quem, aber eine gute Grundlage dafür.
auf ostdeutschen Jugendlichen lastet. Selbstver-
ständlich vergleichen sie sich mit den Jugendlichen Vielen Dank.
im Westen und deren Perspektiven und fordern glei- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
che Chancen. Ich meine, zu Recht.

Wenn der Bericht die jungen Familien als die Ver- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
lierer der Einheit ausweist, die sich nicht zu Wort ge- die Abgeordnete Monika Brudlewsky.
meldet haben, wundert es mich nicht, daß die Gebur-
tenrate in dieser Umbruchphase drastisch zurückge- Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
gangen ist und zurückgeht. Die jetzt gefundene Re- Meine Damen und Herren! Man soll nicht ständig zu-
gelung des Familienlastenausgleichs war darum be- rückschauen, aber man muß die Vergangenheit auf-
sonders aus ostdeutscher Sicht mehr als richtig. zeigen, um die jetzige Situation umfassend zu erklä-
ren. Der Jugendbericht gibt dazu auf einigen Seiten
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der eine gute Möglichkeit.
CDU/CSU)
Lebensläufe waren in der DDR vorgegeben. Kin-
Notwendig ist auch eine Jugendpolitik, die noch derkrippe, Kindergarten, Hort, Pioniergruppe, FDJ-
mehr auf die Bedürfnisse der Jugend eingeht. Wenn Nachmittage und Arbeitsgemeinschaften zwängten
man sich den Vergleich der Einkommen von Jugend- die Jugendlichen in ein festes Reglement, an das sich
lichen in den alten und neuen Bundesländern an- jeder gewöhnt hatte. Beim Berufswunsch gab es
sieht, erkennt man, daß man sich die privaten Frei- große Einschränkungen, aber letztlich bekam man
zeiteinrichtungen, die gewachsen sind, nur in be- eine Lehrstelle, egal ob man diesen Beruf wollte oder
grenztem Umfang leisten kann. Also brauchen wir nicht. Es gab schließlich das Recht - und die Pflicht -
weiterhin Überbrückungsinstrumente. auf Arbeit. Jetzt ist ein Mädchen in der Lage, aus ei-
ner Vielzahl von Berufen auswählen zu können.
Ich hoffe, man wirft mir nicht Verschwendung vor, (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Ja? - Weiterer
wenn ich mir die Forderung der Jugend zu eigen ma- Zuruf von der SPD: Wo denn?)
che, daß die Kommunen kommunale Jugendfreizeit-
stätten schaffen müssen. Weitere Investitionen in die Eine Lehrstelle ist bei der freien Berufswahl damit
Wirtschaft sind wichtig, sie sind aber nicht alles. allerdings nicht gewährleistet. Während es zu DDR-
Zeiten sehr schwierig war, überhaupt einen Studien-
Zum Schluß möchte ich kurz auf den Abschnitt platz zu bekommen,
Rechtsradikalität und Ausländerfeindlichkeit bei Ju-
gendlichen im Osten eingehen. Wie meine vorange- (Lachen bei der PDS)
gangenen Ausführungen schon deutlich machten, vor allem wenn der politische Standpunkt nicht mit
handelt es sich um ein Minderheitenproblem. Der dem Staat konform war - ich habe es selbst erlebt -,
Bericht belegt, daß die ostdeutsche Jugend nicht von
Rechtsextremismus infiziert ist. Aber ich möchte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nichts herunterspielen. Laut Bericht haben 18 % ein so hat ein junges Mädchen nach dem Abitur heutzu-
gewisses Verständnis für Gewalt gegen ausländische tage ein breitgefächertes Studienangebot, das durch
Mitbürger. Das muß nachdenklich machen. Diese die BAföG-Förderung auch bei finanziellen Schwie-
Problematik aber nur auf die Jugend abzuwälzen ist rigkeiten gewährleistet ist.
unfair, denn Jugend artikuliert ihre Meinung nur
drastischer. 40 Jahre DDR-Inselmentalität prägen. (Zuruf von der SPD: O ja!)
Gewürzt mit den derzeitigen Arbeitsplatzängsten
Außer in das sozialistische Ausland waren Reisen
und einem geringen Selbstwertgefühl, entstehen
für uns in der Jugend unmöglich. Ganz anders heute.
daraus dann natürlich Vorurteile. Das entschuldigt
Die Welt steht den jungen Menschen offen. Durch
keine Gewalttat, aber es erklärt zum Teil deren Ent-
stehung. Förderprogramme des Bundes und der EG sind auch
Auslandsaufenthalte während der Ausbildung mög-
lich.
Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen sind
das eine. Das andere sind Arbeitsplätze, Lehrstellen, Im Gegensatz zu heute, wo sich durch die gründli-
Studienplätze und Freizeitangebote, sind Entfal- chen Ausbildungen das Heiratsalter merklich nach
tungsmöglichkeiten, die wir den Jugendlichen schaf- hinten verschiebt, erfolgte die Familiengründung in
fen müssen. der DDR in sehr jungen Jahren. Der Vergleich im Ju-
1798 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Monika Brudlewsky
gendbericht zwischen Schulausbildung von Jungen der Haushalte zu. Sicherlich wäre noch manches zu
und Mädchen läßt deutlich werden, daß gerade auch ergänzen, z. B. daß der Urlaub im sozialistischen
zu DDR-Zeiten die Mädchen in traditionelle Frauen- Ausland für eine normale Familie mit zwei Kindern
berufe gedrängt wurden. So gab es die geschlechts- in der Regel zu teuer war und daß der FDGB-Ferien
spezifische Struktur einzelner Arbeitsbereiche, die platz nur alle zehn Jahre zu bekommen war, es sei
durchaus eine Mitschuld hat, daß nach der Wende denn, man hatte eine höhere Funktion in Staat oder
bei Auflösung solcher Arbeitsbereiche unverhältnis- Partei.
mäßig viele Frauen arbeitslos wurden. Frauenbran-
chen waren auch in der DDR Niedriglohnbranchen. (Zuruf von der SPD: Ich möchte wissen, was
Es ist nicht spezifisch für die Bundesrepublik, daß auf Sie für die Jugend tun wollen! - Lachen bei
höheren Leitungsebenen weniger Frauen zu finden der PDS)
sind. In der DDR war es nicht anders.
- Das können Sie von der PDS natürlich nicht wissen.
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!)
(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der
So ist es eine interessante Feststellung, daß Frauen PDS)
auch von der politischen Macht zu DDR-Zeiten weit-
gehend ausgeschlossen waren. So gab es z. B. nie- Richtig erkannt ist, daß die Familie einen hohen
mals ein weibliches Vollmitglied im Politbüro des ZK Stellenwert hatte, weil man hier - und nicht im Staat
der SED. DDR - Geborgenheit erfahren konnte und wenig-
stens die Familie eine kleine Nische darstellte, in der
(Lachen bei der PDS)
man meist frei heraus seine Meinung sagen konnte.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Brudlewsky, Wachsende Konsumwünsche in den letzten Jahren
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten vor der Wende ließen die Unzufriedenheit deutlich
Krüger. ansteigen. Das Herumlaufen und Anstehen beim
Einkaufen machte die Menschen, vor allem die be-
troffenen jungen Frauen, mürbe und raubte Zeit.
Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Ich möchte keine
Auch die Intershops, in denen nur Privilegierte mit
Frage zulassen; nein.
Westgeld richtig einkaufen konnten, oder die Exqui-
Anerkannt werden die sozialpolitischen Maßnah- sit-Läden, die auch nur für Besserverdienende ein
men, die wegen der sinkenden Kinderzahl Anfang Angebot lieferten
der 70er Jahre getroffen wurden und den Müttern
durchaus die Entscheidung für ein Kind erleichter- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ten, Die sozialpolitischen Maßnahmen der DDR wur- DIE GRÜNEN]: Besserverdienende!)
den genau wie z. B. die Rentenerhöhungen ein Jahr
vorher angekündigt und gefeiert. Es wurde aber ver- und wo man erst recht anstehen und Beziehungen
schwiegen, daß sich der SED-Staat damit völlig über- haben mußte, konnten diese Unzufriedenheit nicht
nahm, so daß die DDR unmerklich in den Bankrott mindern. Daher entstand nach der Wende eine ex-
schlitterte. Auch wenn die Wende nicht gekommen trem hohe Erwartungshaltung, auch bei jungen Men-
wäre, wäre die DDR spätestens in drei Jahren bank- schen. Die Bedürfnisse der jungen Menschen und
rott gewesen. vor allem auch der jungen Frauen sind in dieser Zeit
ungleich gestiegen. Hochwertige Kosmetika und mo-
(Beifall bei der CDU/CSU - Joseph Fischer dische Kleidung, die man zu DDR-Zeiten nicht be- -
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kommen konnte, sind teuer. Schnell haben sich
Gott sei Dank ist das alles hinter uns! - Zu junge Familien verschuldet.
ruf von der SPD: Wovon reden Sie eigent
lich?) Es war für mich erstaunlich zu sehen, wie hoch das
Gewaltpotential auch bereits zu DDR-Zeiten war. Es
Auch bei der Kindererziehung in der DDR lag die lag daran, daß nicht sein konnte, was nicht sein
Last mehrheitlich bei den Frauen. Eine mögliche durfte. Es wurde nicht bekannt. Daher wurde der
Freistellung der Männer zur Erziehung wurde ent- Mantel des Schweigens darüber gebreitet.
weder von den Männern nicht wahrgenommen, oder
es wurden solche Anträge von den Betrieben abge- Auch die Magersucht war in der DDR vorhanden,
lehnt. wurde aber totgeschwiegen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Lachen bei der PDS)
DIE GRÜNEN]: Die Welt steht uns jetzt of
en! Die Zukunft ist gefragt!) - Die Magersucht wurde vorhin in diesem Zusam--f
Für Frauen war es darüber hinaus sehr schwierig, menhang erwähnt.
eine Halbtagsstelle zu bekommen. Gerne hätten
viele Frauen in der DDR davon Gebrauch gemacht, Die Medienvertreter haben sich damals brav einen
um mehr Zeit für ihre Kinder oder für zu pflegende Maulkorb umhängen lassen und nur über das berich-
Eltern zu haben. tet, was die SED erlaubte.

Es ist interessant, wie Autoren des Jugendberichts So ist zu DDR-Zeiten jede 20. Frau von ihrem Part-
das Modell der typischen DDR-Familie skizzieren. Es ner geschlagen worden, und jedes fünfte Mädchen
trifft meiner Meinung nach aber nur für rund 70 % hatte bereits einen Vergewaltigungsversuch erlebt
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1799
Monika Brudlewsky
bzw. war Opfer einer Vergewaltigung geworden. Be- gendhilfebereich, nämlich größtenteils Frauen, die
ratung und Hilfe für diese Opfer waren in der DDR darunter leiden. Dies wirkt sich mittelbar auf die
unbekannt, eben weil die Verbrechen offiziell gar Mädchen und Jungen aus, für die die Arbeit gerade
nicht existierten. geleistet werden soll.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, an dieser Stelle muß
DIE GRÜNEN]: Jetzt erfahren wir es end ganz deutlich gesagt werden: Auch Frauen und
lich!) Mädchen sind Verliererinnen der Einheit. Vor allem
dieser Bereich, der Jugendhilfebereich, leidet darun-
So gab es keine Frauenhäuser, und die Opfer mußten
ter, daß sie hier nicht mehr tätig sind.
zu Hause ausharren, bis z. B. eine Scheidung er-
folgte. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der
Es gibt den Slogan: „Junge Frauen sind die Verlie- Abg. Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/
rer der deutschen Einheit". Es gab schon einmal ei- DIE GRÜNEN])
nen ähnlichen Slogan, der besagte, daß die Rentner
die „Verlierer der deutschen Einheit" seien. Man Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine Entgegnung
mußte ihn aber zurücknehmen, weil die Rentner durch Frau Brudlewsky.
selbst ihn mehrheitlich zurückwiesen. Sicher gibt es
bei den Frauen sehr viele unzufriedene, so daß dieser
Slogan aufrechterhalten und weiter verbreitet wird. Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Ich brauche dazu
Uns macht dieser Slogan sehr betroffen. Es gibt nicht viel zu sagen.
keine Verlierer. Wir alle haben die Freiheit gewon- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das ist auch bes
nen. ser so!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Das alles, was der Herr Krüger eben gesagt hat, wi-
Dr. Max Stadler [F.D.P.]) derlegt meine Ausführungen durchaus nicht.
Gerade junge Menschen haben alle Chancen, sie zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
nutzen. Das kostet nicht nur Geld, sondern auch ei- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
genes Zutun. Sprechen wir den jungen Menschen DIE GRÜNEN]: Jetzt ziehen wir in die weite
diesen Optimismus nicht ab! Welt, die uns offensteht!)
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zur dritten Jung-
ordneten der F.D.P.) fernrede heute morgen erteile ich der Kollegin Ur-
sula Mogg das Wort.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Abgeordnete Thomas Krü- Ursula Mogg (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da-
ger. men und Herren! „Eine Gesellschaft, die ihre Kinder
und Jugendlichen vernachlässigt, ist am Ende." Ich
glaube, vernichtender kann ein Urteil über die heu-
Thomas Krüger (SPD): Frau Präsidentin! Meine
tige Jugendpolitik nicht ausfallen. Professor Hans
Damen und Herren! Frau Abgeordnete, ich hätte mir
Uwe Otto, Vorsitzender der Sachverständigenkom-
gewünscht, daß Sie bei Ihrer Vergangenheitsbewälti-
mission, die den Neunten Jugendbericht erstellt hat,-
gung auch die Frei- und Spielräume, die Jugendli-
sprach diesen Satz bereits vor zwei Jahren bei einer
che zu DDR-Zeiten zweifelsohne hatten, beim Na-
Anhörung der SPD-Fraktion in diesem Hause.
men genannt hätten; dies ist nicht geschehen. Die
Jugendlichen wären, wie vorhin gesagt, gar nicht zu Die „Verslumung der Jugendhilfe in den neuen
den Akteuren im Wendeprozeß geworden, wenn sie Ländern", die er seinerzeit beschrieb, hat nichts an
nicht den Mut und die Hoffnung gewonnen hätten, Aktualität eingebüßt. Die Bundesregierung ist nicht
sich aus dieser Nische herauszuwagen. in der Lage, eine angemessene Antwort auf diese
Herausforderung zu formulieren.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Rosel
Ich möchte eine Bemerkung aufgreifen. Sie bele- Neuhäuser [PDS])
gen die These, die auch die Stellungnahme der Bun- Offensichtlich beschränkt sich für Sie der Auf-
desregierung enthält, daß die Frauen und Mädchen schwung Ost auf den Straßenbau und auf Industrie-
nicht die Verlierer der deutschen Einheit sind. Ich anlagen.
möchte Ihnen an Hand eines Beispieles kurz das Ge-
genteil erläutern: Im Bericht der Sachverständigen- Jugendliche und junge Erwachsene in den neuen
kommission wird nachgewiesen, daß über 90 % der Ländern finden keine Ausbildungsstelle,
Mitarbeiter im Jugendhilfebereich Frauen sind.
(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das stimmt nicht! Das
Diese Frauen, die zu DDR-Zeiten auf festen Stellen
ist nicht richtig!)
saßen, befinden sich jetzt oftmals auf ABM- oder Ar-
beitsförderungsgesetz-Stellen. Diese Stellen laufen auch wenn die Bundesregierung diesen Mißstand bis
aus. Gerade durch die Einsparmaßnahmen und heute beharrlich leugnet. Ihre Eltern sind selbst von
Rückführungen sind es z. B. Arbeitskräfte im Ju harten Problemen geplagt. Sie sind in vielen Fällen
1800 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Ursula Mogg
arbeits- und damit perspektivlos. Sie haben kaum Wie sonst könnte es angehen, daß Sie die Aufga-
Geld. Ihre Nerven sind angespannt, und sie können benstellung für die Jugendverbände, die in den
ihren Kindern oft nicht die Hilfe geben, die sie brau- Richtlinien für den Bundesjugendplan formuliert
chen. sind, zwar deutlich und auch berechtigt ausgeweitet
haben, die finanziellen Zuwendungen aber nicht? In
Die Entwicklung der Geburtenzahlen beleuchtet diesem Jahr wollen Sie die Mittel für den Kinder-
dieses Feld besorgniserregend. Von dem von Ihnen, und Jugendplan des Bundes sogar von 223 auf
Frau Nolte, zitierten Optimismus ist da wenig zu spü- 208 Millionen DM kürzen.
ren.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
In einer Situation, wie sie der Neunte Jugendbericht
Die Frage ist nicht nur, von was ich frei bin, son- für die neuen Bundesländer beschreibt, ist dies fahr-
dern vor allem, für was ich frei bin. Darauf, Frau lässig und ignorant.
Nolte, geben Sie keine Antwort. Ihre Hymne an die
Freiheit erinnert mich mit Blick auf den Jugendbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
richt eher an Janis Joplin. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
(Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit ist das
höchste Gut!) Wir benötigen einen forcierten Aufbau von Struk-
turen der Jugendhilfe im Osten. Wir benötigen einen
Freizeitangebote fehlen. Die alten Strukturen gibt
weitaus stärkeren Anteil der freien Träger an Maß-
es nicht mehr - der Kollege hat auf diesen Umstand
nahmen der Jugendarbeit und finanzielle Angebote
hingewiesen -, neue sind nicht oder so gut wie nicht
zu deren Umsetzung. Wir benötigen eine Jugendso-
vorhanden. Freizeit spielt sich auf der Straße ab. Die
strukturelle Gewalt und der harte Faustschlag auf zialarbeit, die frühzeitig Konfliktsituationen erkennt
und entsprechende Maßnahmen präventiv einleitet.
dem Kiez stehen im Widerspruch zu dem Wunsch
Eine solche Jugendsozialarbeit bedürfte allerdings
nach Geborgenheit und Nähe. Sie lösen Frustratio-
angesichts der realen Erfordernisse erheblicher fi-
nen aus und explodieren eruptionsartig, Ereignisse,
nanzieller Mittel, die die Länder und Kommunen al-
über die dann die Republik spricht und über die sich
leine nicht aufbringen können.
nur die wundern, die die Verhältnisse nicht kennen,
auf die die Bundesregierung mit Programmen rea- Das Wort „präventiv" führt auch die Bundesregie-
giert, die sehr bald wieder enden: Problem erledigt. rung im Zusammenhang mit ihren immer neuen Son-
Weitergehende Maßnahmen - die solide inhaltli- derprogrammen gerne ins Feld. Inzwischen dürfte
che und finanzielle Ausgestaltung - werden vor al- aber klargeworden sein, daß hektische Bewilligun-
lem an die Kommunen und Träger von Jugendarbeit gen und Transaktionen dorthin, wo es gerade einmal
delegiert, wissend, daß „ohne Moos nix los" ist: Ver- wieder brennt, nichts mit Prävention zu tun haben.
antwortung abgehakt. Was bleibt dann noch? Präventiv ist in der Tat die Schaffung einer jugendpo-
litischen Infrastruktur, das Angebot von Regelleistun-
Jugendpolitik ist keine originär bundespolitische gen ohne die ständig dahinterstehende Drohung, die
Aufgabe. Das wissen wir. Wo aber die Jugendpolitik Maßnahme aber im nächsten oder spätestens im
zu einer veritablen Frage des deutschen Einigungs- übernächsten Jahr wieder auslaufen zu lassen.
prozesses wird, da steht die Bundesregierung weit
mehr als nur zu 5 % in der Pflicht. Aus dieser Pflicht Präventiv ist die Förderung von Erfahrungen bei
stiehlt sich diese Bundesregierung seit dem Eini- der friedlichen und demokratischen Regelung von
gungsprozeß heraus. Konflikten, wie sie in der Jugendarbeit der freien
Träger schon immer eine Rolle gespielt hat. Präventiv
Die Kommunen sind, auch in Ostdeutschland, so ist die Unterstützung von Initiativen. Präventiv ist
gut wie pleite. So wenden sie sich vertrauensvoll - es schließlich auch die Förderung der politischen Bil-
ist schließlich so, daß das Problem vor Ort am mei- dung Jugendlicher.
sten drückt - an die freien Träger. Einrichtungen sol-
len von diesen erhalten und finanziert werden. Aber Die Demokratie darf den jungen Leuten aber nicht
auch diese wissen nicht, woher sie das Geld für diese nur salbungsvoll gepredigt werden. Sie muß für sie
Aufgabe nehmen sollen. An der untersten Sprosse auch erfahrbar werden, und ihr unmittelbarer Nut-
der Leiter wird dann den letzten Ungläubigen deut- zen muß erkennbar sein. Der arbeits- und ausbil-
lich, daß das System der Delegation von Verantwor- dungslosen jungen Frau und dem jungen Mann, die
tung, das sich durch die Stellungnahme der Bundes- zu Hause von einem frustrierten, weil ebenfalls ar-
regierung wie ein roter Faden verfolgen läßt, nicht beitslosen Vater geprügelt werden und die nicht wis-
funktionieren kann. sen, wohin sie gehen sollen, weil ihr Jugendzentrum
wegen Geldmangels von der Gemeinde gerade ge-
Meine Damen und Herren von der Regierungsko- schlossen wurde, brauchen wir auch mit dem Hohen-
alition, Sie werden nicht leugnen, daß Art und Um- lied der Demokratie nicht mehr zu kommen. Das
fang Ihrer Jugendpolitik seit mindestens drei oder steht wohl fest.
vier Jahren im wesentlichen davon abhängig ge-
macht werden, wie die finanzielle Situation im Hause (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Waigel aussieht. Kaum jemals haben die sachlichen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Erfordernisse selbst eine Rolle gespielt. und der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1801
Ursula Mogg
Jugendpolitik bedarf der Kreativität, geeigneter Kersten Wetzel (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau
Programme und Konzepte. Daran wird es nicht man- Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider
geln. Sie kommt bei der Umsetzung aber nicht ohne muß ich hier mit Bedauern feststellen, daß unser
Geld aus. Die Jugendpolitik einzuschränken, wenn 713 Seiten schmaler Neunter Jugendbericht nicht
das Geld weniger wird, das wird sich schon heute ganz vollständig ist. Ich habe Ihnen deshalb in einem
und erst recht mittelfristig als verheerend erweisen. Ordner einmal die geltenden Jugendförderrichtlinien
Was dort heute unter maßgeblicher Verantwortung für Deutschland und die gesamten Länder mitge-
der Bundesregierung verschlampt wird - ich er- bracht.
wähne nur die sukzessive Liquidierung von AFT , -

wird nie wiedergutzumachen sein. Gerade AFT war (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ein richtiger Ansatz. Bund, Ländern und Gemeinden
Ich muß Ihnen ganz ehrlich gestehen: Ich habe bei-
muß doch an einer effizienten Struktur freier Träger
des nicht vollständig lesen können. Ich habe auch
gelegen sein, schon aus finanziellen Gründen. Leider
meine Zweifel, ob alle freien Träger der Jugendarbeit
waren diese Programme nur befristet.
und die Jugendlichen das wirklich intensiv studie-
Die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement ren.
gerade in diesem Bereich und der Umfang, den diese
Ehrenamtlichkeit annimmt - das alles wäre doch gar (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was folgt dar-
nicht zu finanzieren, wenn es der Staat als Träger lei- aus?)
sten sollte. Aber nicht einmal dies, nicht einmal das
Ideenreichtum und Kreativität sollten wir nicht ein-
ehrenamtliche Engagement wird hinreichend geför-
fach nach Seitenzahlen messen. Mein Eindruck ist,
dert. Man mag es kaum glauben: Jede Mark zur För-
daß vielerorts Jugendarbeit oftmals mehr verwaltet
derung ehrenamtlicher Jugendarbeit hätte einen An-
als gestaltet wird. Bund und Länder sollten hier in
stoßeffekt, so daß sie sich zigfach amortisieren
Zusammenarbeit mit den Kommunen und den Trä-
würde.
gern der Jugendarbeit überflüssige Bürokratie ab-
Meinen Sie nicht, Sie sollten vielleicht besser ein bauen. Ich hoffe, daß dieser Ordner mit der Angabe
paar Ihrer Hochglanzbroschüren einstellen und an von Fördermitteltöpfen künftig nicht noch weiter
deren Stelle eine effizientere Förderung der Jugend- anwächst; denn selbst große freie Träger verlieren
arbeit ermöglichen? mittlerweile die Übersicht über die Fördermittel und
laufen zunehmend den Ministerialbeamten in Bund
(Beifall bei der SPD und der PDS) und Ländern die Türen ein, um zu fragen, wo es
Man muß Kindern und Jugendlichen Möglichkei- denn noch Gelder und welche Fördermöglichkeiten
ten anbieten, sich zu treffen und in eigener Verant- es noch gibt.
wortung zu organisieren. Dazu bedarf es eines Da-
ches über dem Kopf. Gerade die Raumfrage ist ja in (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard
den neuen Bundesländern nach wie vor äußerst pre- Hirsch)
kär - und nicht nur dort. Man muß nur ihre Initiative Kleinere Träger, die oftmals viel über ehrenamtli-
ermutigen, dann gibt es auch viel gute Jugendarbeit che Jugendarbeit leisten, haben es da natürlich noch
im Sinne von Selbstorganisation. wesentlich schwerer. Immer wieder bekomme ich ge-
Auf Betreuung reagieren Jugendliche nicht zu Un- rade von denen zu hören, daß sie manche Förder-
recht gereizt. Das wird ihrem Selbstwertgefühl und richtlinien eher als Verhinderungsrichtlinien betrach-
ihren tatsächlichen Fähigkeiten nicht gerecht. Aber ten, weil diese oft der aktuellen Entwicklung sehr
sie brauchen Unterstützung, und die bekommen sie weit hinterherhinken. -
zur Zeit nicht oder nicht ausreichend.
Jugendarbeit muß einfach mehr sein, als in ver-
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und schiedenen Broschüren nachzuschlagen, um heraus-
Kollegen, aus dieser Verantwortung, die eine ge- zufinden, welche finanziellen Fördermöglichkeiten
samtdeutsche ist, werden wir die Bundesregierung es gibt. Hier muß angesetzt und auch einmal ent-
nicht entlassen. Der Neunte Jugendbericht ist mit schlackt werden. Heilige Kühe in Bund und Ländern
Blick auf die neuen Bundesländer ein historisches - das wissen auch Sie - kann man nur gemeinsam
Dokument. Deshalb sollten wir auch die historische schlachten. Dazu möchte ich Sie alle, die Sie von den
Chance nicht tatenlos verstreichen lassen. Gute Kon- demokratischen Parteien hier sitzen, recht herzlich
zepte sind gefragt - im Interesse der Bewältigung ei- einladen.
ner Situation, die in der Tat eine Herausforderung ist.
(Thomas Krüger [SPD]: Dann mal los! -
Blühende Landschaften werden wir aber nur ha- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ein Schlachtfest!)
ben, wenn junge Menschen den Eindruck gewinnen,
daß sie diesem Staat etwas wert sind, daß es sich In der vergangenen Legislaturpe ri ode wurden
lohnt, in ihm und für ihn zu streiten. Besinnungsauf- durch den Bund speziell für die neuen Länder ver-
sätze und politische Lyrik helfen uns nicht weiter. schiedene Modellprojekte geschaffen, die auch von
den Jugendlichen gut angenommen worden sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Auch wir im Parlament haben einige initiiert und mit
ten der PDS) begleitet. Gemeinsam mit den Trägern der Jugendar-
beit sollten wir als Bundespolitiker nun den Ländern
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster und Kommunen helfen, diese Initiativen wirklich auf-
spricht jetzt der Abgeordnete Kersten Wetzel. zugreifen und weiterzuführen. Wir wissen natürlich
1802 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Kersten Wetzel
um die Argumente der Länder und Kommunen, die gendliche einander näherzubringen. Man kann sich
meist mit dem Ruf nach mehr Fördermitteln vom ja auch überlegen, über die Ländergrenzen hinweg
Bund enden. Aber Geld allein schafft noch keine effi- gemeinsame Projekte zu initiieren und die Jugendli-
zientere Jugendarbeit. chen zum gemeinsamen Leben und Arbeiten einzu-
laden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich denke an verkrustete Institutionen und traditi- Mit einem gehobenen Zeigefinger aus den alten
onsreiche Jugendprojekte, die große Summen ver- Bundesländern kann man aber weder die Situation
schlingen, während für die Unterstützung von ehren- der Jugendlichen in den neuen Ländern einschätzen
amtlicher Jugendarbeit vor Ort oft die Mittel fehlen. noch die richtigen Hilfen geben. Ein Aufeinanderzu-
Das sollte uns bedenklich stimmen. Ich bin auch der gehen und gemeinsames Lernen - übrigens auch für
Meinung, daß Flötenspielgruppen und Bastelstraßen uns Politiker - sind hier sehr gefragt.
nicht immer der richtige Weg sind, um der zuneh- Für die politische Bildung und die internationale
menden Gewaltbereitschaft von Jugendlichen entge- Jugendarbeit gilt dies ebenfalls. Auch hier eilt oft-
genzuwirken. Ich fordere deshalb vor allen Dingen mals die politische Entwicklung den Richtlinien vor-
die Träger auf, sich der verändernden Situation neu aus. Gerade wir in Deutschland haben nach der Ver-
zu stellen und Jugendarbeit nicht nur für Jugendli- einigung der beiden deutschen Teile eine entschei-
che, sondern auch mit Jugendlichen zu machen. dende Verantwortung für das künftige Haus Europa
(Beifall der CDU/CSU) übernommen. Auch Jugendliche aus Osteuropa ha-
ben ein Recht darauf, unsere Hilfestellung zu bekom-
Es gibt eine ganze Reihe von Projekten, bei denen men, so wie wir aus den neuen Bundesländern da-
das gut gelungen ist. Ich denke dabei an zahlreiche mals Hilfe und Unterstützung aus dem anderen Teil,
Streetworker-Projekte, die seit langem erfolgreich der demokratischen Welt, erhalten haben.
sind und auch von den Jugendlichen gut angenom-
men werden. Diese Projekte sollten wir aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU)
einfach unter Denkmalschutz stellen, sondern wir
sollten gezielt darauf hinwirken, daß sie innerhalb Abschließend möchte ich an die Bundesregierung
der Kommunen und der Länder verbreitet und die appellieren, in den Ministerien, die sich in der näch-
Erfahrungen genutzt werden. sten Zeit häufiger mit Osteuropa beschäftigen, ge-
meinsame Strategien für Jugendaustausch und Ju-
Gestatten Sie mir bitte noch ein paar Bemerkun- gendprojekte zu entwickeln. Vielleicht geht das ja
gen zum Jugendaustausch, zunächst zum deutsch- auch ohne mehrbändige Förderrichtlinien.
deutschen. Es wird immer sehr viel von den Mauern
in den Köpfen unserer jungen Leute gesprochen, Ich danke Ihnen recht herzlich.
analysiert und auch diskutiert. Mit Jugendprojekten
allein ist aber dieses sehr sensible Problem nicht zu (Beifall bei der CDU/CSU)
lösen. Der „Sommer der Begegnung", der damals
von uns in der letzten Volkskammer initiiert und
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
dann vom Bundestag weiter getragen worden ist,
Wort dem Kollegen Klaus Hagemann.
war zwar für die ersten Jahre sehr hilfreich, und vor
allem junge Leute aus den neuen Bundesländern
nutzten diese Chance zum Jugendaustausch. Leider Klaus Hagemann (SPD): Herr Präsident! Meine
gelang es aber nicht im selben Maße, Jugendliche sehr verehrten Damen und Herren!
aus den alten Bundesländern für einen Gegenbesuch -
in den neuen Bundesländern zu begeistern. Das ist (Zuruf von der CDU/CSU: Auch ein junger
bis heute ein Problem, das alle, die mit Jugendlichen Kollege!)
arbeiten, gemeinsam angehen müssen. Da schließe
ich wiederum die in diesem Hause vertretenen de- - Danke schön, Herr Kollege, für die Unterstützung.
mokratischen Parteien sehr großzügig mit ein.
Eigentlich müßten bei Ihnen, sehr geehrte Frau Mi-
Verschiedene Formen der Begegnung und ge- nisterin Nolte, und bei uns allen die Alarmglocken
meinsame Veranstaltungen gerade auch im schuli- läuten und die Alarmlampen aufleuchten, wenn wir
schen und berufsbildenden Bereich sollten noch stär- sehen, daß an Wahlen immerhin nur noch 30 bis 40 %
ker dazu genutzt werden. So könnten Schulen und der jungen Menschen teilnehmen und daß ein allge-
Berufsbildungseinrichtungen analog den damals meines Desinteresse an der Politik besteht, das un-
sehr populären Berlinfahrten im alten Bundesgebiet ter den jungen Menschen weit verbreitet ist. Daß die-
- und übrigens auch in der DDR - Klassenfahrten in ser meist passive Protest eine Reaktion auf gesell-
den jeweils anderen Teil Deutschlands wiederauf- schaftliche Entwicklungen und ungelöste Probleme
nehmen, um dort Partnerschaften und Kontakte her- ist, darin sind wir uns einig. Das zeigt sicherlich auch
zustellen. In diesem sehr ausbaufähigen Bereich ap- der Neunte Jugendbericht, den wir heute behandeln.
pelliere ich vor allen Dingen auch an die Phantasie
und die Verantwortung unserer Kultusminister in Die Aussagen in ihm beziehen sich in erster Linie
den Ländern. auf die neuen Länder. Aber es gibt viele Tendenzen,
Linien und Entwicklungen, die auf die ganze Repu-
Vor allem möchte ich aber die zahlreichen Jugend- blik hindeuten und die wir hier betrachten sollten.
verbände und Organisationen der Jugendarbeit an-
sprechen. Diese besitzen ein großes Potential, Ju (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1803
Klaus Hagemann
Wenn man bereit ist, mit jungen Menschen zu re- Recht hat die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft.
den - das sollten wir als Politikerinnen und Politiker
wesentlich öfter tun -, dann hört man Aussagen, die (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga
deutlich machen: An unseren Meinungen und Be- reta Wolf-Mayer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
dürfnissen besteht bei euch Politikern überhaupt EN])
kein Interesse, und um uns kümmert ihr euch erst, Gefordert sind langfristige, auf Prävention aufge-
wenn wir mit Gewalt und Brutalität auftreten und zu- baute politische Ansätze, bei denen junge Menschen
schlagen. Erst dann wird plötzlich sehr viel Geld zur politisches Handeln selbst erfahren können, so wie
Verfügung gestellt, dann wird auch in Aktionismus es auch im Jugendbericht deutlich gemacht worden
gemacht und einiges mit heißer Nadel gestrickt. ist. Dies ist nur über aktive, ehrenamtlich aufgebaute
Jugendverbände möglich, genauso aber auch bei
Diese Frustrationen und fehlende Anerkennung freien Initiativen, über politische und gesellschaftli-
führen sicherlich oft zu Haß - gerade in den neuen che Aktivitäten oder in einer demokratisch organi-
Ländern können wir das beobachten, aber auch in sierten Schule sowie durch mehr Mitbestimmung am
den alten - und zu Gewalt. Wenn dann noch die ein- Arbeitsplatz. Deshalb ist der Ansatz notwendig, das
fachen Rezepte aus der rechtsextremen Ecke, die an- AFT-Programm weiterzuführen und nicht abzu-
geblich so einfachen Lösungen, hinzukommen, dann bauen.
können wir das Entstehen extremistischer Gewalt
erklären. Ich meine, wir sollten aufpassen, Gewaltak- Meine Damen und Herren, vorhin hat ein Kollege
zeptanz nicht zu verharmlosen, wie wir es heute der F.D.P. gesagt, der Ruf der Politikerinnen und Poli-
auch gehört haben. tiker sei „saumäßig". Sicherlich ist hier etwas dran.
Wir aber sind - ich wiederhole mich - aufgefordert,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wieder mehr mit Kindern zu reden, mit Jugendlichen
ten der PDS) zu reden, ihre Anliegen aufzunehmen und sie ernst
zu nehmen. Wir dürfen nicht übereinander, über die
Wir haben vor kurzem im Ausschuß über den Me- Generationen, sondern wir müssen miteinander re-
dienbericht der Bundesregierung geredet. Auch hier den.
war immer wieder nur der Appell zu verzeichnen,
Gewalt müsse zurückgeschraubt werden. Hier muß (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
eben auch die Regierung insbesondere den privaten GRÜNEN sowie des Abg. Gerhard Zwerenz
Fernsehsendern deutlich machen, daß andere Wege [PDS])
gegangen werden müssen. Darüber hinaus möchte ich noch die politische Bil-
dung ansprechen, die einen höheren Stellenwert,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne insbesondere auch in den neuen Ländern, verdient.
ten der CDU/CSU und der PDS) Hier ist besonders darauf zu achten, daß die Träger-
strukturen bei den Jugendbildungsstätten wegbre-
Meine Damen und Herren, die Alarmzeichen, von chen, weil, bedingt durch eine beschränkte Anzahl
denen ich vorhin gesprochen habe, schreien sozusa- von ABM-Stellen und nur durch Projektförderung,
gen nach neuen Wegen und nach neuen politischen die Kontinuität der Konzepte weggefallen ist und
Ansätzen. Deshalb kann das von Ihnen politisch ge- deshalb viele Einrichtungen zur Zeit schließen müs-
äußerte „Weiter so", wie es auch einmal ein Wahlslo- sen. Ich hatte gerade gestern mit einer Vertreterin
gan von Ihnen deutlich gemacht hat, nicht länger der Jugendbildungsstättenorganisation ein Ge-
gelten. Das große Lob, das sich die Regierung in ih- spräch, die darauf noch einmal deutlich hingewiesen --N
rer Stellungnahme zum Jugendbericht selbst aus- hat.
spricht, kann unsererseits nicht akzeptiert werden.
Insgesamt ist aus Finanzsicht zu fordern, daß Kin-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne der- und Jugendpolitik nicht der haushaltspolitische
ten der PDS) Steinbruch sein darf.

Das wird natürlich auch in anderen Untersuchun- (Beifall bei der SPD und der PDS)
gen deutlich als nur im Neunten Jugendbericht. Ich Bei Haushaltsberatungen die wir zur Zeit für den
möchte eine nicht gerade sozialdemokratisch orien- Haushalt 1995 führen, hat man aber manchmal das
tierte Veröffentlichung zitieren, nämlich eine Bro- Gefühl, daß es so ist. Im Haushalt gilt es zu sparen.
schüre der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft. Der Kol- Das ist richtig. Aber es gilt auch, wie vorhin gesagt
lege Rupert Scholz ist dort im Aufsichtsrat. Die hat im wurde, daß wir die Mittel umschichten müssen zu-
Oktober 1994, also vor wenigen Monaten, folgendes gunsten der Jugend und der Kinder. Die Förderricht-
geschrieben: linien müssen so konzentriert werden, daß sie nicht,
wie vorhin von dem Kollegen Wetzel dargestellt, ei-
Die Angst der Jugendlichen, daß die Zukunft in nen ganzen Leitz-Ordner ausmachen, sondern sie
manchen lebensnotwendigen Bereichen gefähr- müssen so gestaltet werden, daß eine Konzentration
det ist, die Einschätzung, daß die Politik, aber der Mittel, beispielsweise im Bundesjugendplan,
auch die Wirtschaft den Einzelnen zu wenig Ge- entsteht.
staltungsmöglichkeiten bietet und falsche Lö-
sungswege beschritten werden, relativieren die Wenn Kommunen in Ost und West zur Zeit oft ge-
Rede von einer zufriedenen oder zufriedenge- zwungen sind, die Jugendförderung zu kürzen, Ju-
stellten Generation. gendeinrichtungen zu schließen, dann ist das natür-
1804 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Klaus Hagemann
lich falsch. Wir müssen aber auch deutlich sehen, daß Jugendverbänden und anderen Organisationen zu
es die Bundespolitik ist, die Gemeinden oft im Stich erarbeiten, die längerfristig angelegt sind, damit die
läßt, die die Gemeinden stark belastet. Es sind die Jugendpolitik nicht nur ein Reparaturbetrieb gesell-
ständig steigenden Soziallasten, die den Gemeinden schaftlicher Probleme bleibt.
jegliche finanzielle Luft zum Atmen und zum eigen-
ständigen politischen Gestalten nehmen. Wenn ich Herzlichen Dank.
an das Bundessozialhilfegesetz denke, dann müßte (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
es eigentlich nicht BSHG, sondern KSHG heißen; GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord-
denn es ist von der Finanzierung her ein kommunal neten der CDU/CSU und der F.D.P.)
finanziertes Programm. Es ist auch nicht vorgesehen,
hier eine Änderung vorzunehmen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Lassen Sie mich noch kurz, meine Damen und Her Hagemann, ebenso wie bei Frau Mogg war das Ihre
ren, die berufliche Bildung ansprechen. Auch hier erste Rede. Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses
haben die Jugendlichen in den neuen Ländern das dazu herzlich gratulieren.
Gefühl, nicht gebraucht zu werden oder, wie es
heißt, Menschen zweiter Klasse zu sein. Obwohl wir (Beifall)
die Lehrstellengarantie des Bundeskanzlers haben, Ich erteile nun dem Abgeordneten Helmut Jawu-
finden nicht alle ausbildungswilligen Jugendlichen rek das Wort.
einen Ausbildungsplatz im Rahmen des dualen Sy-
stems. 1993 standen 171 000 Bewerbern 87 500 be-
triebliche Ausbildungsstellen gegenüber. Das sind Helmut Jawurek (CDU/CSU): Herr Präsident!
83 500 Stellen, die gefehlt haben. Viele Jugendliche Meine sehr geehrten Damen und Herren! Befrachten
heben also keine Möglichkeit, über das duale System wirdehutgJn,sofidwreklchb-
ausgebildet zu werden. merkenswertes Engagement Hunderttausender Ju-
gendlicher in sozialen, karitativen, kirchlichen, sport-
Es ist zwar richtig, daß die Regierung im außerbe- lichen und politischen Vereinen und Organisationen
trieblichen Bereich ein Programm gestartet hat, aber und darüber hinaus. Diese jungen Menschen leisten
in diesem Ausbildungssystem fehlt eben der betrieb- einen wertvollen Beitrag für uns alle, für die Allge-
liche Teil. Hier richtet sich der Vorwurf an die Wirt- meinheit. Hierfür soll Ihnen an dieser Stelle einmal
schaft, vor allem an die Großunternehmen, daß nicht ganz, ganz herzlich und ausdrücklich gedankt wer-
genügend Ausbildungsplätze in Betrieben zur Verfü- den.
gung gestellt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
(Beifall bei der SPD) wie des Abg. Matthias Berninger [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Diese Betriebe haben sich aus der dualen Ausbil- Was müssen sich diese jungen Menschen aber den-
dung verabschiedet bzw. ihre Kapazitäten deutlich ken, wenn sie heute die Debatte verfolgen und hö-
eingeschränkt. Hier müssen immer wieder deutliche
ren, wie schlecht es angeblich um die Jugend in un-
Forderungen des Bundeskanzlers und von Ihnen,
serem Land bestellt ist.
Frau Ministerin, an die Wirtschaft gerichtet werden.
(Hanna Wolf [SPD]: Wie schlecht es um die
Aber Appelle alleine reichen nicht; wir müssen Regierung bestellt ist!) -
neue Systeme finden, die vom Bundestag her gesteu-
ert werden. Wenn wir das Konzept in der Bauwirt- Ein Blick in die Shell-Jugendstudie gibt Aufschluß
schaft sehen, dann wissen wir, daß es der richtige über die Situation der jungen Generation zu Beginn
Weg ist, daß die Betriebe, die bereit sind, Ausbildung der 80er Jahre. Die Situation damals war durch einen
zu gestalten, Zuschüsse bekommen von anderen, die ausgeprägten Zukunftspessimismus geprägt. Apo-
nicht ausbilden. kalyptische Untergangsvisionen beherrschten die
Szene: Kriegsangst - daraus resultierten die großen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Friedensdemonstrationen -, atomare Bedrohung,
ten der PDS) Aufrüstung - Symbol war der NATO-Doppelbe-
schluß -, Umweltkatastrophen und vieles mehr. Übri-
Hier müssen wir weiter arbeiten. Das gilt nicht nur gens: Was wären die GRÜNEN heute ohne das da-
für den Ostteil unseres Landes, sondern genauso für malige düstere Bild?
den Westen, die alten Bundesländer. Damit das duale
System auch zukünftig wirklich dual bleiben kann - Zehn Jahre später, zu Beginn der 90er Jahre,
auch das gilt für Ost und West -, müssen die Arbeit- bringt die neue Shell-Studie sehr interessante Ergeb-
geber von der Bundesregierung und vom Bundestag nisse. Die Regierung Kohl hat einen weitgehenden
stärker in die Pflicht genommen werden. Stimmungsumschwung, eine Wende bewirkt.
(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist ab- bei der SPD)
gelaufen. Deshalb darf ich schließen mit dem Hin-
weis: Wir haben in den nächsten Wochen Zeit, all die - Sie brauchen nur die Zahlen nachzuschauen. Die
Vorschläge und Anregungen im Ausschuß zu bera- Shell-Jugendstudie ist zwar etwas umfangreicher -
ten und neue Konzepte mit den Jugendlichen, mit es sind acht Bände - als der Jugendbericht, der mit
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1805

Helmut Jawurek
seinen 713 Seiten schon sehr umfangreich ist, aber Dabei ist nirgendwo staatlicher Dirigismus so fehl am
ich empfehle Ihnen, dort nachzulesen. Platz wie bei der Jugend- und Jugendverbandsar-
beit. Jugendarbeit braucht Freiräume.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Genau!)
Die Jugend nimmt Abschied vom Pessimismus und
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
wendet sich deutlich zum Optimismus hin.
Jawurek, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) legen Krüger?
71 % der jungen Menschen in Deutschland beurtei-
len ihre persönliche Zukunft sehr gut oder gut. Helmut Jawurek (CDU/CSU): Bitte.
(Thomas Krüger [SPD]: Auch die in Ost
deutschland?) Thomas Krüger (SPD): Herr Abgeordneter, ich
habe eine Nachfrage: Woraus leiten Sie das Bemer-
- Die Zahlen sind nicht gravierend unterschiedlich;
der Anteil ist dort etwas niedriger, aber nicht gravie- kenswerte her, daß die SPD subsidiären Strukturen
in der Jugendhilfe zugetan ist?
rend.
Leider ist dieser Optimismus häufig mit einem (Zuruf von der CDU/CSU: Aus Ihrem
Rückgang von persönlichem Engagement verbun- Grundsatzprogramm!)
den, nach dem Motto: Soziales Engagement ja, aber
Meines Erachtens war das immer schon so.
bitte ohne mich.
(Thomas Krüger [SPD]: Das ist nämlich der
Punkt! Jeder stirbt für sich allein!) Helmut Jawurek (CDU/CSU): Das mögen Sie viel-
leicht so darstellen. Die SPD hat immer gefordert,
- Ich erwähne das, Herr Kollege, und ich bedaure den Staat und von oben herab die Gesellschaft zu re-
dies auch. gulieren, nie von den unteren Einheiten her.
(Thomas Krüger [SPD]: Aber das hat nichts (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch
mit Optimismus zu tun!) bei der SPD - Abg. Thomas Krüger [SPD]
meldet sich zu einer weiteren Zwischen-
Betroffen macht mich aber, daß die SPD in ihrem
frage)
heutigen Entschließungsantrag Kinder und Jugendli-
che primär zu einem - ich zitiere - „kalkulierenden - Nein, ich möchte gern weitermachen.
Kostenfaktor" und an anderer Stelle - ich zitiere wie-
der - gar zu einem „Armutsfaktor" abstempelt. Wer Meine sehr verehrten Damen und Herren, in
wie die SPD Kinder- und Jugendpolitik und wer Poli- 40 Jahren DDR haben gerade junge Menschen staat-
tik für Familien - wie das übrigens auch bei der gest- liche Bevormundung genug genossen. Wir sollten
rigen Debatte zum Familienleistungsausgleich ge- uns im wiedervereinigten Deutschland daran wahr-
schehen ist - vorwiegend als Geld- und Bezuschus- lich kein Beispiel nehmen.
sungsproblem hinstellt, der zeugt von einem schrä-
gen Verständnis. Zurück zum vorliegenden Jugendbericht: Zu Recht
verweisen diese Untersuchungen - eine Reihe mei-
(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch ner Vorredner haben bereits darauf hingewiesen -
bei der SPD und der PDS) auf das Gefahrenpotential des Rechtsradikalismus -
Bemerkenswert ist immerhin, daß sich die SPD in hin. Ein Manko dieses Berichtes ist aber das Nicht-
ihrem Antrag - zumindest an einer Stelle - zu subsi- eingehen auf die Gefahr von linksradikalen Grup-
diären Strukturen bekennt. pen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU - Anke Fuchs
[Köln] [SPD]: Ach ja!)
Selbsthilfe geht vor Fremdhilfe. Vereine und Institu-
tionen müssen Vorrang vor staatlichem Engagement Linksradikalismus wurde nicht untersucht, ja in dem
haben. Bericht nicht einmal erwähnt. Dabei ist das Gefah-
renpotential von Linksextremisten kaum geringer.
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Was heißt das Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele kann und
denn? Wer sind Sie denn?) darf von Demokraten nicht akzeptiert werden.
- Ich zitierte. - Zu diesen Prinzipien haben sich CDU (Beifall bei der CDU/CSU - Thomas Krüger
und CSU schon immer bekannt. [SPD]: Das ist Sachverständigenschelte, was
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Edith Nie Sie da machen!)
huis [SPD]: Was soll denn das?)
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben das
Aber, verehrte Kollegin, wie ein roter Faden zieht Gewaltmonopol des Staates jahrelang in Frage ge-
sich durch den SPD-Antrag die Forderung nach mehr stellt.
Staat.
Lachen bei der SPD - Dr. Edith Niehuis
(Lachen der Abg. Dr. Edith Niehuis [SPD]) [SPD]: Aschermittwoch ist vorbei!)
1806 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Helmut Jawurek
Sie haben versucht, eine künstliche Differenzierung und geben würden, sondern den Parteien der Oppo-
zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen sition.
Personen herbeizuführen.
(Zuruf von der CDU/CSU: In Bayern haben
(Hanna Wolf [SPD]: Mein Gott, jetzt werden über 50 % der Jugendlichen CSU gewählt!)
Sie nicht unverschämt!)
Helmut Jawurek (CDU/CSU): Herr Kollege, in Bay-
Erstere haben Sie damit teilweise legitimiert. Wer sol-
ern haben uns über 50 % der jungen Menschen bei
che Geister ruft, darf sich nicht wundern, wenn sie
der letzten Wahl unterstützt.
dann entgleiten.
(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der
(Dr. Barbara Hend ri cks [SPD]: Also, wir sind SPD)
zwar für den Staat, aber gegen das Gewalt
monopol! Habe ich das richtig verstanden?) Daß junge Menschen manchmal etwas anders den-
ken, gestehe ich ihnen gerne zu.
- Da kann ich Ihnen aber ganz anderes aus meiner
Erfahrung mit der Auseinandersetzung in Wackers-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
dorf beispielsweise bei uns in der Oberpfalz erzäh-
es kommt noch eine Zwischenfrage.
len.

Die überwiegende Zahl der jungen Menschen Helmut Jawurek (CDU/CSU): Ja, bitte.
lehnt Gewalt entschieden ab. Der Jugendbericht der
Bundesregierung untermauert dies eindrucksvoll.
Gewalt stößt nur bei einem sehr geringen Teil der Ju- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Lieber Herr Kol-
gendlichen auf Verständnis. Dennoch darf das lege Jawurek, stimmen Sie mir zu, daß die Tatsache,
Thema Gewalt bei Jugendlichen nicht verharmlost daß die CDU bei der letzten hessischen Landtags-
werden. wahl bei den jungen Wählern die stärkste Partei war,
ebenfalls ein Zeichen der Hoffnung ist, die Sie eben
Große Verantwortung tragen hierbei auch die Me- beschrieben haben?
dien, besonders das Fernsehen.
Helmut Jawurek (CDU/CSU): Ganz eindeutig.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Privatfernsehen!
Wer will das denn immer?) (Beifall bei der CDU/CSU)
Blutrünstige Horrorfilme haben Hochkonjunktur. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen
Was das Kinderfernsehprogramm betrifft, so stimmt Sie mich noch eine kurze Anmerkung zur Situation
das nicht weniger bedenklich, in den neuen Bundesländern machen. Einige meiner
Vorredner sind schon ausführlicher darauf eingegan-
(Thomas Krüger [SPD]: Machen Sie eine an gen.
dere Medienpolitik in der Koalition!)
Wer heute nicht bereit ist, die Zeiten des SED-Un-
angefangen von kämpfenden Steinzeitdinos bis hin rechtsregimes vorbehaltlos aufzuarbeiten, wer die ei-
zu Laserschlachten der Science-fiction-Roboter. Die gene Kungelei mit den dortigen Machthabern unter
meisten Zeichentrickserien werden von Gewalt, den Teppich kehren will, der darf sich auch nicht
Zerstörung und Tod bestimmt. Wen wundert es da wundern, wenn Jugendliche in Deutschland, speziell
-
noch, wenn die Kids selber zu Helden aufsteigen aus den neuen Ländern, Probleme haben, Orientie-
wollen? rungen zu finden.

Hier ist die Politik gefordert; ich nehme da nieman- Zu einer gewissen Orientierungslosigkeit trägt
den aus. Wir alle, die wir hier sitzen, müssen die Me- meines Erachtens auch die Säkularisierung - wenn
dien wesentlich stärker in die Verantwortung neh- man es so nennen kann - der DDR-Gesellschaft bei.
men. Es sind sowohl der Bund wie auch alle Länder Der kämpferische Atheismus war seit dem
gefordert. 19. Jahrhundert Programmpunkt der linken deut-
schen Arbeiterbewegung, fortgeführt von der kom-
munistischen Partei mit ihrem SED-Staatsapparat.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Dieses Erbe bringt sicher die nachhaltigste Wirkung
gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abge- mit sich. Der Wiener Schriftsteller Horvath, ein Ver-
ordneten Berninger? folgter des NS-Regimes, zeigte schon 1937 in seinem
Buch mit dem Titel „Jugend ohne Gott", wohin dies
führen kann und letztlich auch geführt hat. Ein
Helmut Jawurek (CDU/CSU): Ja. Mensch ohne Wertvorstellungen und ohne Glauben
ist leicht verführbar für den, aber auch im National-
sozialismus oder Marxismus.
Ma tt hias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege, mich würde interessieren, wie Sie sich Daher, meine sehr verehrten Damen und Herren,
bei dem Bild, das Sie über die Jugendpolitik hier haben Jugend- und Jugendverbandsarbeit eine
zeichnen, erklären, daß die ganz überwiegende große Bedeutung für unsere Gesellschaft. Nutzen wir
Mehrheit der jungen Menschen nicht etwa der CDU/ den Optimismus der jungen Generation. Jugendpoli-
CSU und der F.D.P. das Vertrauen gegeben haben tik in Deutschland braucht keinen Vergleich mit an-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1807
Helmut Jawurek
deren Staaten zu scheuen. Die gesellschaftlichen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
Rahmenbedingungen sind ausgezeichnet. Nir- die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese-
gendwo haben junge Menschen bessere Zukunfts- hen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann
chancen. verfahren wir so.
Danke schön. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab-
geordnete Rudolf Dreßler.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Da-


Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege men und Herren! Der Streik in der bayerischen Me-
Jawurek, das war Ihre erste Rede hier. Auch Ihnen tall- und Elektroindustrie lieferte eine exemplarische
der Glückwunsch des Hauses. Begründung für den Gesetzentwurf der SPD-Bun-
destagsfraktion zur Wiederherstellung der Neutra-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
lität der Arbeitsverwaltung bei Arbeitskämpfen.
wie des Abg. Manfred Müller [Berlin]
Meine Fraktion fordert daher, daß noch vor dem
[PDS])
Ende der Tarifrunde 1995 wieder ein normales Ver-
Ich schließe damit die Aussprache. hältnis zwischen den Mitteln hergestellt wird, die ei-
nerseits den Gewerkschaften und die andererseits
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- den Arbeitgebern im Tarifstreit zur Verfügung ste-
lage auf der Drucksache 13/70 an die in der Tages- hen.
ordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Entschlie-
ßungsanträge der Fraktionen der SPD und des Der Streik ist die letzte Möglichkeit der Arbeitneh-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksa- merschaft, sich gegen Unternehmerdiktate zur Wehr
chen 13/709 und 13/726 sollen an dieselben Aus- zu setzen. Erst dieses Instrument schafft Waffen-
schüsse überwiesen werden wie der Jugendbericht. gleichheit. Die Aussperrung mag zwar als das logi-
Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist es so be- sche Gegenstück zum Streik gesehen werden, aber
schlossen. in Wirklichkeit stellt sie die Unternehmerüberlegen-
heit bei Auseinandersetzungen wieder her, erst recht
mit dem derzeit geltenden § 116 des Arbeitsförde-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 und die Zu- rungsgesetzes; denn zur Zeit sind die Gewerkschaf-
satzpunkte 7 und 8 auf: ten in der Wahl der Mittel nicht frei. Im Vergleich zu
den Arbeitskampfmöglichkeiten der Arbeitgeber
14. Erste Beratung des von dem Abgeordneten
sind sie gehandicapt.
Manfred Müller (Berlin) und der weiteren Ab-
geordneten der PDS eingebrachten Entwurfs Das Beispiel in Bayern belegte dies eindeutig. Die
eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsför- Gewerkschaft hat nach 34 ergebnislosen Verhand-
derungsgesetzes (§ 116) lungsrunden, nach Verstreichen der Friedenspflicht
und Urabstimmung den Streik ausgerufen. Die be-
- Drucksache 13/581 -
streikten Betriebe waren sorgfältig ausgewählt wor-
Überweisungsvorschlag: de, denn Auswirkungen auf andere Betriebe in an-
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) deren Tarifgebieten sollten gering bleiben. Von der
Ausschuß für Wirtschaft Gewerkschaft war der Tarifstreit ausdrücklich als
Ausschuß für Recht
räumlich wie ökonomisch begrenzte Auseinanderset-
-
ZP7 Erste Beratung des von den Abgeordneten An- zung angelegt.
nelie Buntenbach, Kerstin Müller (Köln), Elisa- Die Arbeitgeberseite hatte sich daraufhin einen
beth Altmann (Pommelsbrunn) und der Frak- Vorratsbeschluß auf Aussperrung besorgt.
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unglaublich!)
des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116)
Die trotz der sorgsamen Auswahl der Betriebe immer
- Drucksache
- 13/691 noch verbleibenden Verflechtungen und Abhängig-
Überweisungsvorschlag: keiten hätten den Arbeitgebern gleichwohl jeden
Vorwand geliefert, in Bayern eine Aussperrung in
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Rechtsausschuß Gang zu setzen, die weit über das umkämpfte Tarif-
Ausschuß für Wirtschaft gebiet hinausgereicht hätte.

ZP8 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Das Ziel dieses Aussperrungsbeschlusses war, in
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur einem anderen als dem bestreikten Tarifbezirk Be-
Wiederherstellung der Neutralität der Bun- schäftigten die Werkstore vor der Nase zuzuschla-
desanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen gen, sie gleichzeitig von Lohnersatzleistungen aus-
zuschließen, den Zorn von Ausgesperrten auf die Ge-
- Drucksache
- 13/715 werkschaft zu lenken, weil für sie keine Streikunter-
Überweisungsvorschlag: stützung gezahlt wird, sowie erneut zu dokumentie-
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
ren, daß der Staat im tariflichen Ernstfall auf der
Rechtsausschuß Seite derjenigen steht, die über die Arbeitsplätze be-
Ausschuß für Wirtschaft stimmen können.
1808 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Rudolf Dreßler
- Vor elf Jahren, im Streit um die Einführung der 35 Einer der Vorgänger von Norbert Blüm im Mini-
Stunden-Woche, standen den zeitweise 58 000 strei- steramt, Hans Katzer, sah die Sachlage immer völlig
kenden Metallarbeitnehmern rund 530 000 ausge- anders als sein Nachfolger Blüm. Katzer war in der
sperrte Arbeitnehmer gegenüber. Das ist ein Verhält- Großen Koalition von 1966 bis 1969 Bundesarbeitsmi-
nis von 9: 1, meine Damen und Herren. Zwei Drittel nister. Er ist überdies Vorgänger Blüms als Chef der
dieser Ausgesperrten waren Opfer der Fernwirkun- CDU-Sozialausschüsse gewesen. Nicht zuletzt auf
gen von Aussperrungen in den bestreikten Tarifge- Hans Katzers Betreiben hatte die Große Koalition
bieten. Vielen Arbeitnehmern wurde damals Lohn 1969 durchgesetzt, daß § 116 des AFG im Regelfall
entzogen, weil Arbeitgeber ungerechtfertigt behaup- Lohnersatzleistungen bei mittelbar vom Streik be-
teten, die Produktion werde vom Streik in Mitleiden- troffenen Arbeitnehmern nach sich zieht. Norbert
schaft gezogen. In Wirklichkeit wollten sie den sozia- Blüm hat das Gesetz von Hans Katzer auf den Kopf
len Druck auf Gewerkschaft und Arbeitnehmer rigo- gestellt. Die ab dem 15. Mai 1986 geltende Fassung
ros erhöhen. des § 116 AFG erzwingt, daß mittelbar vom Streik
Betroffene im Regelfall keine Lohnersatzleistungen
Der Tarifstreit in Bayern ist zwar mit einem ver- erhalten.
nünftigen Ergebnis beendet worden, wie wir wissen;
es kann aber keine Rede davon sein, daß die Tarif- Hans Katzer war zudem zutiefst davon überzeugt,
runde 1995 nun vorbei ist. Ob andere Arbeitgeber daß in unserem sozialen Rechtsstaat die Bundesan-
über einen Vorratsbeschluß zur Aussperrung hinaus stalt für Arbeit während des Tarifstreits weder von
nicht wirklich zur Tat schreiten werden, weiß heute Gewerkschaften noch von Arbeitgebern instrumen-
niemand. Daher bleibt es dabei: Der Gesetzentwurf talisiert werden dürfe. Die Sozialdemokraten teilen
der SPD-Bundestagsfraktion müßte so rasch es geht diese Überzeugung noch heute - deshalb unser Ge-
in Kraft treten. setzentwurf.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD)
und der PDS)
Die Nachfolger Katzers auf dem Stuhl des Bundes-
Der Gesetzentwurf präjudiziert das Bundesverfas- arbeitsministers, Walter Arendt, Herbert Ehrenberg
sungsgericht nicht. Das Gericht wird, wie wir wissen, und Heinz Westphal, blieben der Linie von Hans Kat-
in wenigen Tagen über eine Verfassungsbeschwerde zer treu. Die Folgen des Bruchs mit der Linie von Kat-
meiner Fraktion, von vier Landesregierungen sowie zer und anderen sind nicht zu übersehen. Die Ideale
der Industriegewerkschaft Metall zur Neutralität der der Solidarität und der Freiheit haben es mittlerweile
Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen verhan- sehr schwer, sich gegen das Denken in Kriegskatego-
deln. Es bleibt in seiner Entscheidung so frei, wie es rien innerhalb der Tarifpolitik durchzusetzen.
bisher war. Es ist nicht zu verstehen, warum sich Ar-
beitsminister Blüm 1986 dazu verleiten ließ, gegen Im einsetzenden und sich dramatisch zuspitzenden
die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften vorzuge- wirtschaftlichen Strukturwandel sind die Gewerk-
hen und die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit schaften nicht mehr frei, was die Wahl der Mittel an-
in Arbeitskämpfen zu beseitigen. Eine sachliche Be- geht. Die Bundesregierung hat das gewollt. Sie
gründung gab es weder damals, noch gibt es sie wollte 1986 eine strategische Entscheidung gegen
heute. die Gewerkschaften und gegen die Arbeitnehmer
herbeiführen. Das Groteske an der Geschichte ist
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nur: Mitten im Strukturwandel klärt sich auf, daß Ar-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN beitgeber und Arbeitnehmer mehr Gemeinsamkei--
und der PDS)
ten haben, als die Regierung es bisher offensichtlich
Es war damals auch kein Druck aus Richtung des geglaubt hat oder wahrhaben wollte. Das gilt für die
Koalitionspartners F.D.P. zu spüren. Kein Gericht Aufgabe der Sicherung und Verbesserung der Wett-
drängte Norbert Blüm zu einer raschen Handlung. bewerbsfähigkeit, das gilt für den Schutz der Natur
Allerdings hatte der damalige Präsident der Bundes- sowie für den Abbau der Arbeitslosigkeit. Denn der
anstalt für Arbeit, Heinrich Franke, 1984 per Erlaß Weg zu einer befriedigenden wirtschaftlichen Zu-
angeordnet, kalt Ausgesperrten das Kurzarbeiter- kunft führt ausschließlich über den Konsens, über
geld zu verweigern. Franke konnte dies damals mit Transparenz der Verhältnisse, über Mitentscheidung
Rückendeckung von Bundesarbeitsminister Blüm und über Mitverantwortung. Er führt gewiß nicht
tun. über einen fortwährenden, vom Gesetzgeber provo-
zierten Tarifkrieg zwischen den Tarifvertragspar-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Eine Schande!) teien.
Dieser sogenannte Franke Erlaß war der Testlauf für
-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
die spätere Beseitigung der Neutralität der Bundes-
anstalt in Arbeitskämpfen durch Gesetz. Ich habe ten der PDS)
nichts von dem zurückzunehmen, was ich damals im
Ich frage mich: Warum will die heutige Koalition
Deutschen Bundestag gesagt habe. Es war ein eis-
diesen Zusammenhang nicht verstehen? Warum will
kalt in Szene gesetzter, wohlgeplanter Coup gegen
sie nicht endlich daraus Konsequenzen ziehen?
die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Weil sie so ist,
GRÜNEN und der PDS) wie sie ist!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1809
Rudolf Dreßler
Ist es so schwierig, zu begreifen, daß in einer zivili- Erstens. Alle Arbeitnehmer außerhalb der betroffe-
sierten Gesellschaft der Kopf mehr zählen muß als nen Branche erhalten gegebenenfalls Leistungen der
der Ellenbogen? Wir alle wissen doch: Kluge Arbeit- Bundesanstalt für Arbeit, und zwar ohne jede Ein-
geber finden längst den Weg zu Betriebsräten, fin- schränkung.
den längst den Weg zu Gewerkschaften. Kluge Ar-
beitgeber wissen, daß in den Belegschaften eine un- Zweitens. Alle Arbeitnehmer der betroffenen Tarif-
geheure Bereitschaft und Fähigkeit zu innovativem branche innerhalb des umkämpften Tarifgebietes er-
Denken schlummert. Man muß sie nur wecken, man halten keine Leistungen, und zwar unabhängig da-
muß sie fördern und auch fordern, und man muß sich von, ob sie selbst streiken oder ausgesperrt sind.
vertrauen können. Drittens. Arbeitnehmer der betroffenen Tarifbran-
Der sogenannte Streikparagraph paßt dazu wie che außerhalb des umkämpften Tarifgebietes erhal-
eine Faust aufs Auge. Wer § 116 des Arbeitsförde- ten dann keine Leistungen der Bundesanstalt, wenn
rungsgesetzes in seiner heutigen Form für richtig der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbe-
hält, der, meine Damen und Herren, steckt ideolo- dingungen mitgeführt wird.
gisch im 18. Jahrhundert.
Genau das, meine Damen und Herren, ist der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Punkt, auf den es ankommt: Wir wollen und wir dür-
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred fen den Stellvertreterstreik nicht aus Beitragsmit-
Müller [Berlin] [PDS]) teln bezahlen. Das wäre ein Griff in die falsche
Tasche.
Deshalb, Herr Geißler, weil Sie sich ja gerade so
forsch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Nach Würde die Bundesanstalt jedes Arbeitskampfrisiko fi-
vorn!) nanzieren, dann würden die Tarifparteien nämlich
direkt über die Höhe der Beiträge oder die erforderli-
an die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft
chen Zuschüsse der Steuerzahler zur Arbeitslosen-
machen und sich mit Ihrer Partei anlegen, lade ich
versicherung mitentscheiden. Das darf nicht sein!
Sie ein, sich auch in diesem wichtigen gesellschaftli-
chen Bereich mit Ihrer Fraktion in den kommenden (Zuruf von der F.D.P.: Richtig!)
Beratungen anzulegen.
Es geht hier um die Substanz der Tarifautonomie:
Ich danke Ihnen. Die Zulassung von Arbeitskämpfen soll ein Verhand-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lungsgleichgewicht herstellen. Deshalb verbietet es
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sich, daß der Staat in einen Arbeitskampf eingreift,
und der PDS - Dr. Heiner Geißler [CDU/ indem er ihn durch Leistungen zugunsten einer ein-
CSU]: Im 18. Jahrhundert gab es noch zigen Kampfpartei beeinflußt. Daraus ergibt sich, daß
Zünfte! - Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Sie der Staat zur Nichteinmischung und Unparteilich-
haben einen gelb-grünen Anzug an, Herr keit verpflichtet ist. Die jetzige Regelung gewährlei-
Geißler!) stet das. Sie befindet sich auf dem Boden des Grund-
gesetzes, und da muß sie auch bleiben.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem (Beifall bei der CDU/CSU)
Kollegen Andreas Storm das Wort. -
Das Geld der Bundesanstalt für Arbeit ist in erster
(Adolf Ostertag [SPD]: Wo ist eigentlich der Linie für die Arbeitslosen da, nicht für die Arbeits-
Arbeitsminister bei diesem Thema, der ei platzbesitzer. Deswegen erhalten auch jene Arbeit-
gentliche Übeltäter?) nehmer Unterstützung, die infolge eines Arbeits-
kampfes keine Arbeit haben, aber weder selbst strei-
ken noch vom Arbeitskampf profitieren. Für diejeni-
Andreas Storm (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
gen allerdings, die vom Arbeitskampfergebnis profi-
Damen und Herren! Es ist nun wirklich nicht das er-
tieren, kann das Arbeitsamt ebensowenig Unterstüt-
ste Mal, daß sich das Hohe Haus mit der Neurege-
zung zahlen wie für die Streikenden selber. Deswe-
lung des § 116 AFG befaßt. Herr Dreßler, wenn Sie
gen geht der Streit im Kern nur um die Frage: Wann
sagen, daß wir ideologisch zurück in das 18. Jahr-
sind Arbeitnehmer streikbeteiligt?
hundert gegangen wären, so kann ich Ihnen nur zu-
rufen: Aschermittwoch ist vorbei. Kommen Sie zu- Die Antwort liegt auf der Hand: Streikbeteiligte
rück zu den Fakten! sind neben den Streikenden selbst diejenigen, für
(Beifall bei der CDU/CSU) die stellvertretend mitgestreikt wird, für die eine glei-
che Hauptforderung erhoben wird und für die das
Den drei vorliegenden Gesetzentwürfen liegt die Streikergebnis in deren Fachbereich übernommen
Behauptung zugrunde, die Kampfparität bei Arbeits- werden soll. Damit wird die grundgesetzlich gebo-
kämpfen werde durch die Regelung von 1986 zu La- tene Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit vor
sten der Gewerkschaften verändert. Diese Behaup- Umgehung geschützt. Und vor allen Dingen folgt
tung, meine Damen und Herren, ist falsch; denn die daraus, daß außerhalb des bestreikten Fachbereiches
derzeitige Rechtslage unterscheidet für Arbeitneh- immer gezahlt wird, und zwar unabhängig davon, ob
mer, die infolge eines Arbeitskampfes arbeitslos wer- gleiche oder unterschiedliche Forderungen gestellt
den oder Kurzarbeit leisten, drei Fälle: werden.
1810 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Andreas Storm
Was bedeutet das in der Praxis? Ich will das einmal dem Urteil vom 4. Oktober des letzten Jahres eindeu-
an drei Beispielen klarmachen: Wenn Stahlkocher tig festgestellt: Die prozeß- und materiellrechtlichen
streiken, erhalten die Automobilarbeiter selbstver- Regelungen des § 116 AFG sind verfassungsrechtlich
ständlich Leistungen der Bundesanstalt, denn sie ge- nicht zu beanstanden.
hören einem anderen Fachbereich an. Wenn Zulie-
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
ferbetriebe in der Metallverarbeitung streiken, erhal-
Abschluß noch eines unmißverständlich klarstellen:
ten beispielsweise Werftarbeiter ebenfalls Leistun-
Die bisherige Entwicklung hat deutlich gezeigt, daß
gen der Bundesanstalt für Arbeit, denn auch sie ge-
sich die Neuregelung des § 116 AFG aus dem Jahre
hören einem anderen Fachbereich an. Wenn bei-
1986 nicht negativ auf die Kampfkraft der Gewerk-
spielsweise Arbeitnehmer in. der Zuckerindustrie
schaften auswirkt. Niemand wird ernsthaft behaup-
streiken, dann wird in der Süßwarenindustrie eben-
ten können, daß die Arbeitskämpfe seit 1986 oder
falls Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld bei Bedarf
beispielsweise die Entwicklung der Tariflandschaft
gezahlt.
in den neuen Bundesländern einseitig zu Lasten der
Arbeitnehmer ausgegangen wären. Auch das Ergeb-
Lassen Sie mich jetzt zu einem anderen für die Ar-
nis des jüngsten Arbeitskampfes in der bayerischen
beitnehmer ganz wichtigen Punkt kommen. Die Ent-
Metallindustrie bestätigt das nachdrücklich, Herr
scheidung darüber, ob ein Leistungsanspruch ruht,
Dreßler, wie Sie selbst indirekt zugegeben haben.
wird nach der Regelung von 1986 von einem Neutra-
litätsausschuß gefällt. Dem gehören gleichberechtigt Ein bißchen mehr Gelassenheit wäre also an der
Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeber- Tagesordnung; denn für eine Änderung der bewähr-
seite an, und zwar unter dem Vorsitz des Präsidenten ten Neuregelung des § 116 AFG besteht überhaupt
der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. kein Anlaß. Die Wetterfahne darf nicht zum Kompaß
der deutschen Politik werden.
Der Sachverhalt wird unter Beteiligung der Betrof-
fenen ermittelt. Damit wird zugunsten der Arbeitneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mer sichergestellt, daß möglichen Manipulationen
auf Arbeitgeberseite ein Riegel vorgeschoben wird. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Denn es gilt die Nachweispflicht der Arbeitgeber, Storm, auch Ihnen gebührt zu Ihrer ersten Rede in
daß ein Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskampfes diesem Haus unser Glückwunsch.
ist. So hat seit der Neuregelung im Jahre 1986 kein
Betrieb mehr die Möglichkeit, einen Arbeitsausfall (Beifall)
nur vorzutäuschen und unter dem Vorwand eines an-
Ich erteile nun der Kollegin Annelie Buntenbach
geblichen Materialmangels Arbeitnehmer „kalt"
das Wort,
auszusperren. Denn zum Nachweis des Arbeitsaus-
falls muß der Arbeitgeber eine Stellungnahme der
Betriebsvertretung beifügen. Darüber hinaus kann Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gegen eine Entscheidung des Neutralitätsausschus- NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-
ses von beiden Seiten, also auch der Arbeitnehmer- ren! Selten hat eine Bundesregierung in der Vergan-
seite, der Rechtsweg beschritten werden. genheit ihr formuliertes Ziel mit einer Gesetzesinitia-
tive so deutlich verfehlt. Angeblich sollte die Neufas-
Schließlich wurde die Stellung der Arbeitnehmer sung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz eine gesetz-
noch durch eine weitere Maßnahme verbessert, näm- liche Verankerung der Neutralität der Bundesanstalt
lich dadurch, daß in Zweifelsfällen eine Vorleistungs- für Arbeit bringen. Erreicht hat sie das Gegenteil:
pflicht des Arbeitsamtes besteht. Es zahlt zunächst eine strukturelle Schwächung der Gewerkschaften
Lohn in Höhe des Kurzarbeitergeldes. Diese Leistung und damit eine weitere Störung des empfindlichen
hat der Arbeitgeber zu erstatten, der seiner Lohnlei- Gleichgewichts zwischen den Tarifparteien. Genau
stungspflicht nicht korrekt nachgekommen ist. dieses Gleichgewicht der Kampfmittel ist eine unab-
dingbare Voraussetzung der Funktionsfähigkeit von
Meine Damen und Herren, all das zeigt: Der Streik Tarifautonomie.
wird nicht auf dem Rücken der betroffenen Arbeit-
nehmer ausgetragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Manfred Müller [Berlin]
(Manfred Müller [Berlin] [PDS]: Der hat [PDS])
keine Ahnung!) Mir fällt es allerdings schwer, von einem Gleichge-
wicht zwischen den Tarifparteien in der Bundesrepu-
Zur aktuellen Lage: Nach der Verabschiedung des blik zu sprechen; denn schließlich ist im Unterschied
Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundes- zu den meisten europäischen Ländern die Aussper-
anstalt für Arbeit im Jahre 1986 hat es zum ersten rung hier nicht verboten.
Mal im Jahre 1993 - also sieben Jahre nach der Ver-
abschiedung des Gesetzes - bei einem Streik in den Unsere Position zu diesem Mittel der Arbeitgeber-
neuen Bundesländern einen Anlaß gegeben, den willkür kennen Sie. Wir haben das Aussperrungsver-
Neutralitätsausschuß der Bundesanstalt für Arbeit bot schon vielfach, auch hier im Bundestag, gefor-
anzurufen. Gegen die von ihm getroffene Entschei- dert. Aber daß die heiße Aussperrung noch immer
dung zuungunsten der Arbeitnehmerseite hat be- nicht verboten ist, ist nun wirklich kein Grund, noch
kanntlich die IG Metall Klage vor dem Bundessozial- einen draufzusetzen und durch § 116 AFG darüber
gericht erhoben. Das Bundessozialgericht hat mit hinaus die kalte Aussperrung zu legalisieren und
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1811
Annelle Buntenbach
dann auch noch so zu tun, wie soeben Sie, Herr Da hilft ein Blick in die Verfassung. Das Streikrecht
Storm, und auch Herr Blüm in seinen Reden, als ist ein im Rahmen der Koalitionsfreiheit im Grundge-
werde damit die Parität im Arbeitskampf wiederher- setz verbrieftes Recht. Es zu schützen ist daher eine
gestellt. Meine Damen und Herren, Sie haben sich in selbstverständliche Aufgabe unseres Handelns. Mit
der Richtung ausgesprochen gründlich geirrt. Kalte den heute vorliegenden Gesetzentwürfen wird ver-
Aussperrung ist, wenn man sie in Alltagsdeutsch sucht, einen wichtigen Schritt zur Wiederherstellung
übersetzt, im Klartext eiskalte Erpressung der Arbeit- des Gleichgewichts zwischen den Tarifparteien zu
nehmerinnen- und Arbeitnehmerseite. tun. Dazu sind zwei Dinge erforderlich: erstens in der
Substanz den Zustand von 1986 wiederherzustellen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und dabei zweitens eine Reihe von unklaren Formu-
bei der SPD und der PDS) lierungen deutlicher zu fassen.
Mit ihr können die Arbeitgeber beliebig manipulie- Die Kritik, die im Vorfeld der Neufassung 1986 so-
ren, und zwar heute noch, z. B. durch heiße Aussper- wohl von Arbeitgeber- als auch von Gewerkschafts-
rung oder durch zu knappe Lagerhaltung, oder sie seite eben wegen dieser unkaren Formulierungen
behaupten einfach, Lieferanten seien ausgefallen. geäußert worden ist, ist von den Regierungsfraktio-
nen und speziell von Herrn Blüm immer wieder dafür
Dazu ein Beispiel aus dem Jahre 1984: Damals ins Feld geführt worden, daß die Änderung des § 116
teilte BMW seinem Getriebezulieferer in Ludwigs- AFG wirklich nötig gewesen sei. Nach dem vorhin
burg mit, daß er nicht mehr zu liefern brauche. Des- vom Kollegen Dreßler schon erwähnten Franke-Er-
sen Geschäftsführung schrieb ihrem Betriebsrat, daß laß von 1984 mußte es damit allerdings auch schnell
BMW nichts mehr abnehme. BMW wiederum infor- gehen, weil mit Frankes Sperrung der Zahlung von
mierte seinen Betriebsrat, der Lieferant sei ausgefal- Lohnersatzleistungen an kalt Ausgesperrte versucht
len. Folge: kalte Aussperrung bei BMW und bei dem wurde, für die Ungerechtigkeit der Änderung des
Zulieferer. Diese Manipulation, Herr Storm, wäre AFG den Weg freizumachen. Der Franke-Erlaß
auch durch eine Stellungnahme des Betriebsrates konnte zu dem damaligen Zeitpunkt heute oder mor-
nicht aufgefallen. Der wußte nämlich, zumindest so- gen für illegal erklärt werden. Leider ist das erst 1991
lange der Streik lief, davon nichts. geschehen.

Für die Gewerkschaften bedeutet diese Praxis eine Nun behauptet Herr Blüm, mit der Neufassung sei
enorme Schwächung ihrer Position. - im Interesse beider Tarifparteien - die Neutralität
der Bundesanstalt wiederhergestellt worden. Aber
(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Das sind dann soll er doch bitte erklären - oder Sie, Herr
aber exotische Beispiele!) Storm -, warum es - das ist zumindest mir bekannt -
zahllose Proteste aus den Reihen der Gewerkschaf-
- Sehr exotisch. - Hätte die IG Metall in dem soeben ten gegen diese Neufassung des AFG gibt, aber kei-
erwähnten Tarifkonflikt an die kalt Ausgesperrten nen einzigen Protest aus den Reihen der Arbeit-
Streikgeld bezahlt, dann hätte sie zusätzlich geber. Das ist dann doch verwunderlich!
859 Millionen DM ausgeben müssen. Wer will da
ernsthaft noch von - ohnehin fragwürdiger - Waffen- (Rudolf Dreßler [SPD]: Das ist wahr! - Wei
gleichheit reden? terer Zuruf von der SPD)
- Ich halte es nicht für ein Wunder; denn schließlich
(Rudolf Dreßler [SPD]: Das war gewollt!)
war es eine Entscheidung, die absolut einseitig und
- Ja, das wollten die. ausschließlich zugunsten der Arbeitgeber ergangen -
ist.
Die Dreistigkeit der Arbeitgeber hat - das zeigt der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gerade beigelegte Metall-Konflikt - enorm zugenom-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
men. Ohne die katastrophale Fassung des § 116 des
der PDS)
Arbeitsförderungsgesetzes ist kaum vorstellbar, daß
ein Arbeitgeberverband mit Aussperrungen schon Wohlverstanden: Auch wir wissen, daß wir mit die-
droht, bevor er ein Tarifangebot überhaupt vorlegt. sem Schritt, den wir heute vorschlagen, noch nicht
So kann doch nur auftreten, wer sich in seiner Rolle am Ziel einer Parität zwischen den Tarifparteien sind.
als Herr im Hause völlig sicher fühlt. Wir sind heute so bescheiden, weil wir es Ihnen, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, tionen, gerne leichtmachen möchten, aus der Sack-
bei der SPD und der PDS) gasse wieder herauszufinden, in die Sie uns alle mit
Ihrer Fassung des § 116 AFG geführt haben.
Daß dieses Kalkül in diesem Jahr nicht aufgegangen
ist, hat eine Menge damit zu tun, daß die Konflikte in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
den Reihen der Arbeitgeber offenkundig beträchtlich bei der SPD und der PDS)
waren. Aber das Instrumentarium des § 116 des Ar-
beitsförderungsgesetzes ist schon vom Ansatz her
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
falsch. Wir fordern: Die Neutralität der Bundesan-
Wort dem Abgeordneten Uwe Lühr.
stalt für Arbeit muß wiederhergestellt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Uwe Lühr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr ver-
bei der SPD und der PDS) ehrten Damen und Herren! Die um die Änderung
1812 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Uwe Lühr
des § 116 Arbeitsförderunsgesetz im Jahr 1986 ge- einer Bildunterschrift einer Gewerkschaftspublika-
führte Debatte ist mir persönlich nicht aus eigenem tion heißt es - ich zitiere -:
Erleben präsent, da ich zu dieser Zeit in einem politi-
schen System lebte, dem diese Probleme vermeint- Das Urteil des Bundessozialgerichts zum Anti-
lich völlig fremd waren. Streikparagraphen macht deutlich: Seine Urhe-
ber wollen die Gewerkschaften lähmen.
(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: So ist es!)
Das stellt im übrigen eine Gerichtsschelte dar, gegen
die man als politisch Handelnder das Gericht nun
„Streik" war per definitionem des sogenannten Ar- wirklich in Schutz nehmen muß.
beiter- und Bauernstaates undenkbar. Die vorgebli-
che Identität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer be- (Beifall bei der F.D.P.)
durfte natürlich keiner Instrumente für den Arbeits-
kampf. Daß die staatsbildende Funktion der Arbei- Bei § 116 AFG handelt es sich mitnichten um einen
terklasse eine Fiktion war, die es ermöglichte, daß „Anti-Streikparagraphen", wie die Metaller ihre Mit-
über vier Jahrzehnte mit dem in Art. 24 der DDR- glieder glauben machen wollen, sondern um eine
Verfassung garantierten Recht auf einen Arbeitsplatz Konkretisierung der Waffengleichheit. Daß diese
und mit anderen Garantien sogenannter sozialisti- Feststellung auch vom Bundesverfassungsgericht ge-
scher Errungenschaften die wirtschaftliche Substanz troffen werden könnte, ist die eigentliche Veranlas-
in Ostdeutschland aufgezehrt wurde, das ist kein Ge- sung für die Gesetzentwürfe von SPD, BÜNDNIS 90/
heimnis mehr. DIE GRÜNEN und PDS, die wir heute auf der Tages-
ordnung haben. Sollte dieses Haus dem - inhaltlich
Die jetzt einheitlich in Deutschland geltende Ta- fast Bleichlautenden - Begehren auf Revision der
rifautonomie ist streitig angelegt. Sie hat sich be- AFG-Novelle von 1986 zustimmen, liefe nämlich das
währt. Waffengleichheit ist die Basis der Friedens- Verfahren in Karlsruhe ins Leere.
fähigkeit der Tarifpartner. An der Akzeptanz und
der Funktionsfähigkeit des autonomen Tarifver- Natürlich könnte es nicht unser Interesse sein, ei-
tragssystems gibt es ein identisches Interesse aller nen Verfassungsverstoß auf Dauer hinzunehmen.
Beteiligten und natürlich auch der Politik, deren Aber unser Interesse ist es, das Gleichgewicht zwi-
unmittelbarem Einfluß die Tarifpartner richtiger- schen den Tarifpartnern zu erhalten. Wenn es heute
weise entzogen sind. den Gewerkschaften gelingt, mit wenigen, die
Streikkasse schonenden Schwerpunktmaßnahmen
Daß nicht durch die Bundesanstalt für Arbeit zu- die Wirkung auf nur mittelbar betroffene Wirtschafts-
gunsten einer Seite die Gewichte während der Tarif- bereiche stärker ausfallen zu lassen als auf die unmit-
auseinandersetzung verschoben werden können, telbar beteiligten im Tarifbezirk, dann war die Novel-
war Anliegen der Änderung des § 116 AFG im Jahr lierung 1986 notwendig. Sie ist heute nicht durch
1986. Seit dieser Novellierung gibt es einen Neutrali- veränderte Produktionsweisen überholt, so daß sie
tätsausschuß, dem je drei Vertreter der Arbeitneh- auch zukünftig notwendig ist, um den Arbeitsfrieden
mer- und Arbeitgeberseite angehören sowie der Prä- am Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern.
sident der Bundesanstalt für Arbeit als Ausschußvor-
Die F.D.P.-Fraktion lehnt die Änderung des § 116
sitzender. Dieser Ausschuß, der angerufen werden
AFG ab.
kann, wenn eine Partei der Ansicht ist, die Bundes-
anstalt für Arbeit verletze ihre Neutralitätspflicht, Danke.
entscheidet, ob ein Stellvertreterarbeitskampf vor- -
liegt oder nicht, nicht mehr der Präsident der Bun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
desanstalt für Arbeit allein. Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das war
eine Überraschung!)
Dieser Ausschuß ist seit seinem Bestehen erst zwei-
mal bemüht worden, anläßlich des Arbeitskampfes in
der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 1993, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
als infolge der fristlosen Kündigung der Metalltarif- dem Abgeordneten Manfred Müller das Wort.
verträge unbeteiligte Arbeitnehmer in Mecklenburg
Vorpommern wegen des Streiks in Sachsen nicht
weiterarbeiten konnten - nicht aus Solidarität, son- Manfred Müller (Berlin) (PDS): Herr Präsident!
dern weil die Zulieferung stagnierte. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! 1986 habe
ich zusammen mit Hunderttausenden von Gewerk-
Die letzte Entscheidung ist auf Antrag der IG Me- schafterinnen und Gewerkschaftern aus Protest ge-
tall gerichtlich überprüft worden. Einige Vorredner gen die damals geplante Änderung des Streikpara-
haben es schon zu Recht bemerkt: Das Bundessozial- graphen, § 116 AFG, an Demonstrationsstreiks teil-
gericht hat in seiner Entscheidung am 4. Oktober genommen. Wir sind damals beschuldigt worden, es
letzten Jahres die Klage der IG Metall im wesentli- seien die ersten politischen Streiks in der Bundesre-
chen abgewiesen. Die IG Metall hält die Entschei- publik Deutschland gewesen. Die Proteste der Ge-
dung des Gerichts für verfassungswidrig und hofft, werkschafterinnen und Gewerkschafter haben nicht
daß das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Ur- dazu geführt, daß sich eine parlamentarische Mehr-
teil des Bundessozialgerichts aufhebt, sondern § 116 heit gegen diese geplante Änderung des § 116 AFG
AFG insgesamt für verfassungswidrig erklärt. In gefunden hat.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1813
Manfred Müller (Berlin)
Ich kann Ihnen als Verhandlungsführer in Tarifver- kampf hineingezogen, werden auf kaltem Wege aus-
handlungen über mehr als zehn Jahre sagen, daß die gesperrt und haben weder einen Anspruch auf ge-
Änderung des § 116 AFG sehr wohl entscheidenden werkschaftliche Streikunterstützung, weil sie eben
Einfluß auf das Verhalten der Unternehmerver- keine Streikbeteiligten sind, noch auf der Grundlage
bände in den Tarifverhandlungen hatte. des § 116 AFG einen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Die Bundesanstalt für Arbeit ist durch diesen Para-
Sie saßen plötzlich auf dem hohen Roß, und ihre an graphen in eine Parteigängerin der Unternehmerver-
sich bestehende Macht, ihre Interessen durchzuset- bände verwandelt worden. Dies ist angesichts der
zen, wurde zusätzlich verstärkt. Tatsache, daß § 116 AFG ursprünglich die Neutrali-
tätspflicht der Bundesanstalt sichern sollte, geradezu
Es ist geradezu zynisch, wenn den Gewerkschaf- ein Hohn; denn in der vorliegenden Fassung ver-
ten in den letzten Jahren vorgeworfen wird, sie hät- kehrt er sich in sein Gegenteil und verletzt diese
ten es nicht geschafft, wenigstens den Reallohnaus- Neutralität so nachhaltig, daß die IG Metall gezwun-
gleich zu realisieren, ohne zu berücksichtigen, daß gen war, nach Karlsruhe zu gehen.
die bis dahin vorhandene Parität bei Arbeitskämpfen
durch § 116 AFG seit 1986 entscheidend verändert Die Tarifautonomie und damit die Koalitionsfrei-
worden ist. heit sind durch die damalige Änderung in ihrem
Kern getroffen. Wir wollen das rückgängig machen
Am Mittwoch dieser Woche wollte Gesamtmetall und haben uns auf das politisch Machbare be-
aussperren. Ab Mittwoch drohte der durch die IG schränkt, indem wir die alte Fassung zum Gegen-
Metall begrenzte Konflikt zu einem Flächenbrand zu stand unserer Forderung gemacht haben.
werden. Nach diesem Mittwoch wären wir Zeugen
eines sozialen Konflikts geworden, der allen teuer zu (Beifall bei der PDS)
stehen gekommen wäre.
Meine Redezeit ist leider wieder zu Ende. Es wäre
(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Wenn die noch viel zu diesem Thema zu sagen, aber in fünf Mi-
Katze ein Pferd wäre, könnte man die nuten schafft man das nicht.
Bäume hochrennen!)
Für die Gewerkschaften und mich wird bereits mit Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
der Aussperrung die Kampfparität der Tarifver- (Beifall bei der PDS - Wolf-Michael Caten-
tragsparteien zugunsten der Unternehmerverbände husen [SPD]: Die PDS ist ja Gott sei Dank
verletzt. so klein!)
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Nicht ohne Grund ist die Aussperrung in anderen eu- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
ropäischen Ländern verboten; das ist hier schon ge- Abgeordneten Wolfgang Vogt das Wort.
sagt worden. Sie ist nicht verboten, weil die Aussper-
rung das Gegengewicht der Unternehmer zum Streik
ist, sondern weil erst der Streik das Gegengewicht Wolfgang Vogt (Düren) (CDU/CSU): Herr Präsi-
zur Macht der Unternehmer bildet. dent! Meine Damen und Herren! Diese zehnte Wo-
che in 1995 wird nicht wegen der Anträge, die heute
(Beifall bei der PDS) von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
Die Demokratischen Sozialisten haben deshalb der PDS gestellt werden, sondern wegen verschiede-
auch das Verbot der Aussperrung in ihrem Pro- ner anderer Ereignisse in Erinnerung bleiben. Zwei
gramm. Allerdings habe ich heute in der Zeitung ge- sind bedeutsam für das Thema, das wir hier bespre-
lesen, daß der Berliner Verfassungsschutz diese For- chen, nämlich: Der Arbeitskampf in der Metallindu-
derung, die eine gewerkschaftliche ist, bereits zum strie wurde durch einen Kompromiß beendet; und
Anlaß genommen hat, die PDS zu überwachen, weil die D Mark genießt weltweit Vertrauen. Beide Ereig-
-

diese Forderung für nicht mit der Verfassung verein- nisse haben etwas miteinander zu tun.
bar erklärt wird. Wir sehen also, welche Willkür in
solchen aufzulösenden Organisationen noch immer (Beifall des Abg. Hans-Joachim Fuchtel
herrscht. [CDU/CSU])

(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Die D-Mark ist ein Stabilitätsanker. Das Vertrauen
in sie ist stark, ja, so stark, daß es fast zu einer Last
Diese Parität der Tarifvertragsparteien ist aber geworden ist. Die Härte unserer Währung ist Aus-
gänzlich gestört, ja, sie ist durch die 1986 geschaf- druck des Vertrauens in die politische und in die so-
fene Fassung des § 116 AFG in ihrem Kern getroffen. ziale Stabilität dieses Landes und in die wirtschaftli-
Dem fragwürdigen Mittel der Aussperrung hat die che Kraft dieses Landes. Zu dieser Stabilität und zu
konservative Bundestagsmehrheit 1986 die Möglich- dieser wirtschaftlichen Kraft trägt die Tarifautono-
keit der kalten Aussperrung hinzugefügt, die Mög- mie ganz wesentlich bei. Sie hat sich in diesen Tagen
lichkeit nämlich, die Beschäftigten ganzer Branchen erneut bewährt. Die produktive Kraft des sozialen
gewissermaßen in Geiselhaft zu nehmen. Beschäf- Friedens ist gerade in diesen Tagen mit Händen zu
tigte ganz anderer Tarifbezirke, Beschäftigte, die nur greifen gewesen.
punktuell von dem möglichen Ergebnis des Arbeits-
kampfes profitieren können, werden in den Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU)
1814 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Wolfgang Vogt (Düren)


Ich will die Tarifabschlüsse dieser Tage nicht be- Wir konzentrieren uns darauf, daß überall wieder
werten, so reizvoll das wäre. Wie immer liegen Licht schwarze Zahlen geschrieben werden. Nur schwarze
und Schatten dicht beieinander. Ich will nur auf zwei Zahlen sind gute Zahlen. Sie fördern den sozialen
Tatsachen hinweisen: Frieden.

Erstens. Die IG Metall war kampffähig. Zweitens. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die IG Metall ist mit dem Tarifabschluß ganz offen-
sichtlich zufrieden.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun-
Mit Ihren Anträgen zur Neufassung des § 116 des mehr dem Abgeordneten Adolf Ostertag das Wort.
Arbeitsförderungsgesetzes wollten Sie, SPD, BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN und PDS Schulter an Schulter,
in einen aktuellen Arbeitskampf hineinstoßen. Die Adolf Ostertag (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
Tarifvertragsparteien haben Ihnen das Geschäft ver- verehrten Damen und Herren! Mit unserer Initiative
dorben. wollen wir - das ist klar - die 1986 eingebrachte und
(Beifall bei der CDU/CSU - Gerd Andres durchgepeitschte Änderung und Novellierung des
[SPD]: So ein Quatsch!) § 116 AFG rückgängig machen. Es ist natürlich ganz
klar, daß die aktuelle tarifliche Auseinandersetzung
Heute kann festgehalten werden: Der § 116 AFG für uns auch ein Motiv war. Aber, Herr Kollege Vogt,
hat die Kampfkraft der Gewerkschaften und ihre es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, daß wir schon
Verhandlungsmacht nicht behindert; er hat die Höhe damals zusammen mit den Gewerkschaften Verfas-
des Tarifabschlusses nicht beeinträchtigt. Die Neu- sungsklage eingereicht haben. Wir standen damals
tralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeits- auf der Seite der Gewerkschaften, und in dieser
kämpfen hat sich bewährt. Sie hat die Tarifautono- Frage stehen wir auch heute auf der Seite der Ge-
mie gestärkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. werkschaften. Ich glaube, das sollten Sie hier nicht
unterschlagen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der SPD - Wolfgang Vogt
Im übrigen sollten Sie doch genausogut wie ich ei- [Düren] [CDU/CSU]: Wir stehen auf der
nes wissen: Ob es zu einem für Arbeitnehmer und Seite der Arbeitnehmer!)
Arbeitslose guten Tarifabschluß kommt, hängt nicht
von § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ab. Bei lee- Eines ist doch klar, meine Damen und Herren, trotz
ren Auftragsbüchern, schlechten Erlösen, roten Zah- der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie
len und hohen Preissteigerungsraten ist für die Ar- sind die Gewerkschaften in der Wahl ihrer Mittel
beitnehmer nichts drin. Wenn es nichts zu verteilen seit 1986 nicht mehr frei.
gibt, degeneriert das Gerede über Kampfqualität und
Kampfkraft der Gewerkschaften zu ideologischen (Wolfgang Vogt [Düren] [CDU/CSU]: Sie
Sandkastenspielen. Der Kampf um Null ist Vergeu- waren auch vorher nicht frei!)
dung von Kraft.
Dieses Damoklesschwert der kalten Aussperrung
Volle Auftragsbücher dagegen, gute Erlöse, schwebt über allen ihren Entscheidungen, von der
schwarze Zahlen und niedrige Preissteigerungsraten Aufstellung der Tarifforderungen bis zur Auswahl
- da ist Dampf drin. der bestreikten Betriebe. Ich glaube, dazwischen
(Zuruf von der SPD: Na also!) liegt noch ein weites Spektrum von gewerkschaftli-
chen Aktivitäten in der Tarifbewegung.
Die deutsche Wirtschaft steht wieder unter Dampf.
Daran, daß es so ist, hatten die Tarifabschlüsse des Hinter der damaligen Änderung des Arbeitsförde-
Jahres 1994 ganz wesentlich Anteil. Es geht wirt- rungsgesetzes stand die Absicht, die Beschäftigten
schaftlich aufwärts. Deshalb fällt die Tarifrunde 1995 zu entsolidarisieren, durch die kalte Aussperrung die
weitaus besser aus als die Tarifrunde 1994. Jetzt steht Streikkassen der Gewerkschaften zu plündern und
bei der Preissteigerungsrate eine Zwei vor dem ihre Kampfkraft zu schwächen.
Komma, beim Tarifabschluß eine Drei, und drei ist ja
besser als zwei. Das ist eine gute Nachricht für die (Zuruf von der SPD: So ist es!)
Arbeitnehmer. Deshalb sollten Sie sich eigentlich
Das ist aber nur ein Stück einer langfristig ange-
darüber freuen, statt hier und heute darüber zu la-
legten Gesamtstrategie Ihrer Politik. Es ist offensicht-
mentieren.
lich, zu wessen Lasten die Bundesregierung ihre Poli-
(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Die freuen tik der Deregulierung seit 1982 betrieben hat. Immer
sich aber nicht!) mehr Beschäftigte werden in ungesicherte, unterta-
riflich bezahlte Arbeitsverhältnisse gepreßt. Gleich-
Auch Tarifpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeitig will man uns weismachen, daß dadurch Ar-
meine Damen und Herren, ist Gratwanderung. Die beitsplätze erhalten oder neu geschaffen werden.
Tarifabschlüsse dieser Tage sollten insgesamt den Die Massenarbeitslosigkeit nimmt nicht ab, sondern
Aufschwung stärken, damit in der nächsten Tarif- sie verfestigt sich.
runde wieder etwas für Arbeitnehmer und Arbeits-
lose drin ist. Sie vergeuden Ihre Kraft, aber das ist Ihr Gleichzeitig nehmen Sie die konjunkturelle und
Bier. strukturelle Krise als Vorwand, um Arbeitnehmer-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1815

Adolf Ostertag
rechte und letzten Endes auch die Tarifautonomie Beiträge gezahlt, denen eigentumsähnliche Ansprü-
einzuschränken. che gegenüberstehen. Es muß schon ganz gewich-
tige Gründe geben, diese Leistungen zu verweigern.
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das Dazu kann aber nicht die vom Arbeitgeber verur-
können Sie nicht einmal bei einem Kreis sachte Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit gehören,
verband des DGB erzählen!) egal, wie diese motiviert sind.
- Doch, doch, Herr Fuchtel, genauso ist es. Man muß
den Zusammenhang Ihrer unsozialen Politik herstel- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
len und darf nicht immer nur auf Einzelaspekte abhe- GRÜNEN und der PDS)
ben.
Letztlich geht es also um den Stellenwert des
(Beifall bei der SPD) Streikrechts in dieser Gesellschaft und damit der
Tarifautonomie in einer modernen, dialog- und auch
Meine Damen und Herren von der Koalition, die
konfliktfähigen Gesellschaft. Streik und Tarifautono-
sozialstaatlichen und tariflichen Regelungen sind
mie gehören zusammen. Zu Recht hat das Bundesar-
doch nicht Ursache der ökonomischen Krise, sondern
beitsgericht festgestellt: „Tarifverhandlungen ohne
sie garantieren das Funktionieren unseres Wirt-
das Recht zum Streik sind nichts anderes als kollekti-
schaftssystems. Soziale und wirtschaftliche Stabilität
ves Betteln."
ist ohne Gewerkschaften im Land nicht möglich. Ich
glaube, in dieser Position stimmen die demokrati-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schen Parteien überein. Nur haben Sie mit der Ände-
rung des § 116 AFG im Jahre 1986 ein Grundprinzip
Streik ist übrigens kein nationales Übel. Hierzu-
unserer sozialen Demokratie mißachtet. Sie haben in
lande gehen die Gewerkschaften mit diesem Instru-
die Tarifautonomie eingegriffen und offen Partei er-
ment verantwortungsbewußt um. Deutschland ist in
griffen. Das ist das Entscheidende.
Europa das streikärmste, aber das aussperrungs-
Was beim Franke-Erlaß noch durch das Sozialge- reichste Land. Sie sollten die Statistiken einmal nach-
richt rückgängig gemacht werden konnte, hat die lesen.
Kohl-Regierung dann gesetzlich zuungunsten der
Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften im AFG 1986 hat diese Regierung mit der Änderung des
festgelegt. Im Klartext heißt es doch: Wer irgendwo § 116 letzten Endes eine „Lex IG Metall" durchge-
streikt, muß mit aller Härte prinzipiell für alle, auch peitscht; denn ihr paßte die ganze Richtung nicht.
für mittelbare Konsequenzen einstehen. Schon die Forderung nach der 35-Stunden-Woche,
die damals anstand und um die 1984 gestreikt
Wer wie Sie nach dieser Änderung bei Streik und wurde, hat der Kanzler als „absurd, dumm und tö-
Aussperrung noch von Waffengleichheit redet, über- richt" gegeißelt. Herausgekommen ist nach dieser
sieht, daß sich in Tarifauseinandersetzungen die Ge- Auseinandersetzung, nach dem Streik das beste
wichte erheblich verschoben haben. Der ökonomisch Stück Sozial- und Beschäftigungspolitik der letzten
Starke erhält noch einen Knüppel, um auf die sozial zehn Jahre. Denn mit dem Einstieg in die 35-Stun-
Schwachen einzuschlagen. Dieser Knüppel wird zum den-Woche sind Hunderttausende von Arbeitsplät-
Vorschlaghammer, wenn die Unternehmer extrem zen geschaffen und gesichert worden.
aussperren. So standen in der Tarifrunde 1984 z. B.
einem Streikenden neun Ausgesperrte gegenüber. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Dieses Ungleichgewicht hätte damals, wenn der ten der PDS) -
§ 116 schon in der geänderten Fassung bestanden
hätte, das Aus für jede Gewerkschaft bedeutet. Mit Gerade dagegen richtete sich die Änderung des
dem Machtmittel der Aussperrung können die Unter- § 116 zwei Jahre später. Sie sollte die Streikfähigkeit
nehmer Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen der IG Metall brechen. Gemeinsam mit mehreren
und Arbeitnehmern bewußt zu Geiseln eines Arbeits- SPD-geführten Ländern und der IG Metall sind wir
kampfes machen, der irgendwo anders in der glei- deswegen vor das Bundesverfassungsgericht gezo-
chen Branche stattfindet und an dem sie eigentlich gen.
nicht beteiligt sind.
Wir Sozialdemokraten wollen volle Neutralität der Wir sind überzeugt, daß der § 116 AFG aus folgen-
Bundesanstalt für Arbeit. Deswegen geht unser Ge- den sieben Gründen verfassungswidrig ist:
setzentwurf in einem Punkt sogar noch über die frü-
here Rechtslage und auch über das, was die anderen Erstens, weil er den kalt ausgesperrten Arbeitneh-
Parteien, insbesondere die PDS, vorlegen, hinaus. mern mit dem Anspruch auf Kurzarbeitergeld eine
Wir wollen, daß die ausschließlich von der Aussper- Versicherungsleistung der Arbeitslosenversicherung
rung, nicht aber vom Streik mittelbar Betroffenen auf entzieht, die sie gerade vor vorübergehenden Be-
jeden Fall Kurzarbeiter- bzw. Arbeitslosengeld er- schäftigungsrisiken schützen soll. Nicht zuletzt des-
halten. halb waren die Arbeitnehmer damals über dieses Ge-
setz so empört; es hat ihr Gerechtigkeitsgefühl zu-
Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit und darüber tiefst verletzt.
hinaus die Bekräftigung des Prinzips, daß die Ver-
weigerung von Lohnersatzleistungen auch im Ar- Zweitens, weil er eine regionale Begrenzung von
beitskampf die Ausnahme bleiben muß. Schließlich Arbeitskämpfen kaum mehr zuläßt und dadurch die
haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer regionale Tarifstruktur in Frage stellt.
1816 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Adolf Ostertag
Drittens, weil der § 116 die gewerkschaftliche Wil- und er wird dies auch in Zukunft tun. Daß diese
lensbildung in Tarifverhandlungen von der Aufstel- Grundhaltung richtig ist, das hat sich besonders in
lung der Forderung bis zur Wahl des Streikgebietes den letzten Wochen während der Auseinanderset-
und der Kampfstrategie beeinträchtigt und dadurch zungen innerhalb der Metallbranche gezeigt.
ihre Autonomie untergräbt.
Der erfolgreiche Tarifabschluß im Metallbereich
Viertens, weil er den Arbeitgebern die Möglichkeit hat aber auch bewiesen: Freie und unabhängige Ta-
gibt, kalte Aussperrungen gezielt als Kampfmittel rifpartner sind der beste Garant für ausgewogene
einzusetzen. und tragfähige Arbeitsbedingungen.
Fünftens, weil die Gewerkschaften auch bei unter- (Beifall bei der CDU/CSU)
schiedlichen Forderungen in den Tarifgebieten keine
Gewißheit haben, daß der § 116 im Falle eines Ar- Sie können die Vereinbarungen darüber besser tref-
beitskampfes nicht angewendet würde; denn die fen, als die Politik es je könnte. Dieser Bereitschaft
Bundesanstalt entscheidet erst nach Beginn des Ar- beider Tarifpartner, auch in schwierigen wirtschaftli-
beitskampfes darüber, ob die Voraussetzungen für chen Phasen Verantwortung für unsere Wirtschaft
die Anwendung des § 116 vorliegen. Darüber hinaus und unsere Gesellschaft zu übernehmen, zollen wir
schaffen die Arbeitgeber ihrerseits Voraussetzungen hohen Respekt.
für die Anwendung des Gesetzes durch die Aufstel-
lung eigener Forderungen. Das, was z. B. in Bayern Untrennbar verbunden mit unserer Grundhaltung
passiert ist, haben Sie von der Koalition überhaupt der Nichteinmischung der Bundesregierung ist die
nicht begriffen: 34 Verhandlungen und Streik, und Wahrung der Neutralität der Bundesanstalt für Ar-
dann gab es noch immer kein Angebot der Arbeitge- beit bei Arbeitskämpfen, die wir 1986 im § 116 AFG
ber - ich glaube, das ist der schlagendste Beweis da- klargestellt haben. Das Gesetz zur Sicherung der
für, wie diese neue Strategie von den Arbeitgebern Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit hat sich bis
wirklich genutzt wird. heute bewährt, weil seitdem bei Arbeitskämpfen
Rechtssicherheit herrscht, weil seitdem garantiert ist,
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE daß die Tarifautonomie unangetastet bleibt und da-
GRÜNEN und der PDS) mit auch der soziale Friede und unser Wohlstand er-
halten bleiben, und weil sich seitdem die Durchset-
Sechstens, weil der § 116 einen Arbeitskampf für
zungsfähigkeit und Kampfbereitschaft der Gewerk-
die Gewerkschaften zu einem existenziellen Risiko
schaften entgegen vielen Unkenrufen eindrucksvoll
macht und das Streikrecht aushöhlt.
entwickelt hat.
Siebtens, weil er die Tarifautonomie in Frage stellt,
indem er den Arbeitskampf als notwendigen Kon- (Zuruf von der SPD: Aber nicht wegen
fliktlösungsmechanismus einerseits beeinträchtigt Ihnen!)
und andererseits unkalkulierbar macht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, keiner
Meine Damen und Herren, beinahe zehn Jahre wird den Arbeitnehmern unseres Landes einreden
läßt sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem können, in Deutschland sei die Tarifautonomie ge-
Spruch Zeit. Das ist sehr ärgerlich, aber nicht verän- fährdet. Keiner wird den Bürgern im E rnst weisma-
derbar. Wir meinen, gerade auch deswegen ist un- chen wollen, daß die Arbeitsbedingungen, die die
sere Initiative notwendig und unverzichtbar, das Ar- Tarifpartner seit 1986 Jahr für Jahr vereinbart haben,-
beitsförderungsgesetz durch diesen Vorstoß entspre- unausgewogen, ungerecht und unsachlich ausgefal-
chend zu ändern. Es darf nicht bei der Verschiebung len seien. Und niemand will im Ernst behaupten, die
der einseitigen Machtstrukturen zugunsten der Ar- Streikfähigkeit der Gewerkschaften sei im Kern ge-
beitgeberverbände bleiben. troffen worden. Die Wirklichkeit hat Ihre These von
der sinkenden Kampfbereitschaft und Durchset-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zungsfähigkeit der Gewerkschaften eindrucksvoll
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN widerlegt.
und der PDS)
Da die Vorredner aus der Koalition diese Dinge be-
reits vorgetragen haben, will ich es mir ersparen,
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun jetzt noch einmal auf jede Einzelheit unserer politi-
dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Kraus schen Haltung zu diesem Thema einzugehen, und
das Wort. meine Rede deshalb mit folgenden Feststellungen
abkürzen.

Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Die Debatte, die wir jetzt geführt haben, hat über
nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! weite Teile einen unwirklichen Charakter gehabt. Es
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit sei- wird auch verständlich, wenn man sich überlegt, daß
nem Bestehen hat sich der Staat Bundesrepublik diese Debatte, als sie konzipiert wurde, ja vor einem
Deutschland immer aus Arbeitskämpfen herausge- fürchterlichen Tarifkampfszenario stattfinden sollte.
halten, Die Katastrophe fand nicht statt, aber die Debatte
muß durchgeführt werden. Jetzt haben die Redner
(Zuruf von der SPD: Wie 1986!) der Opposition natürlich die Schwierigkeit zu argu-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1817
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
mentieren. Deshalb lief das Ganze unter dem Motto ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
ab: Wenn es so geworden wäre, wie wir dachten, daß Grießhaber und der Fraktion BÜNDNIS 90/
es würde, wenn § 116 AFG wirkt, dann wäre dieses DIE GRÜNEN
und jenes eingetreten.
Mehr Zeit und Geld für Kinder
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
Wirklichkeit hat sich eben erwiesen, daß jedermann - Drucksache 13/711 -
mit der jetzigen Situation leben kann. Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (feder-
(Zuruf von der PDS: Das ist aber nicht Ihr führend)
Verdienst!) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
Für meine Begriffe besonders eindrucksvoll hat das
der Herr Dreßler in seiner Rede bewiesen. Man muß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
ihm dankbar sein. Er hat die Zweckmäßigkeit unse- die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vor-
rer Politik geradezu hervorragend bestätigt: gesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Erstens hat er den Gewerkschaften und Arbeitge-
bern bestätigt, daß deren Gemeinsamkeit in bezug Ich stelle hierzu fest, daß sich der Bundesrat zu
auf die Lösung von Problemen eher gewachsen ist, dem von ihm selbst eingebrachten Gesetzentwurf
woran § 116 AFG nichts geändert hat. durch völlige Abwesenheit auszeichnet. Ich bin der
Meinung, daß wir demnächst daraus geschäftsord-
Zweitens hat er die Gewerkschaften bestätigt. Es nungsmäßige Folgerungen ziehen sollten.
ist gut so, daß sich diese im Sinne einer Minimierung
des volkswirtschaftlichen Schadens, vor allem bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dem Metallstreik in Baye rn , verantwortungsvoll ver- ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/
halten haben. Es ist gut so, es ist nicht verboten, sich DIE GRÜNEN und der PDS)
verantwortungsvoll und vernünftig zu verhalten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge-
Drittens hat er ausdrücklich gesagt - es ist übri- ordnete Rita Grießhaber.
gens nicht seine Beurteilung, sondern die Beurtei-
lung der Betroffenen-, daß trotz des § 116 - vielleicht Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gerade deswegen - das Ergebnis geradezu ausge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
zeichnet ist im Sinne der Metallgewerkschaft. Das Herren! Der Einstieg in die Freistellung für Erzie-
wird immer wieder gesagt. Weil das mit den Argu- hungsarbeit mit der Einführung des Erziehungsgel-
menten des Herrn Dreßler so ist, möchte ich mich Ih- des war grundsätzlich richtig, und Ihre Regierung
nen empfehlen und hoffe, daß dieser Antrag abge- hat einen richtigen Schritt gemacht.
lehnt wird.
Aber es wird Sie natürlich nicht überraschen, daß
Ich bedanke mich. die Vorstellungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) über die dringend notwendige gesellschaftliche An-
erkennung von Erziehungsarbeit wesentlich weiter-
gehen. Wir wollen schon lange den starren Erzie-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die hungsurlaub durch die Einführung eines flexiblen
Aussprache. Zeitkontos ersetzen. Das heißt konkret: Erziehende -
Mütter und Väter - sollen die Möglichkeit haben,
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetz- sich in den ersten zwölf Lebensjahren ihres Kindes
entwürfe auf den Drucksachen 13/581, 13/691 und insgesamt drei Jahre für Erziehungsarbeit freistellen
13/715 an die in der Tagesordnung aufgeführten zu lassen. Daß das - nebenbei bemerkt - kein Urlaub
Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf der ist, wissen wohl alle hier.
Gruppe PDS soll auch dem Rechtsausschuß überwie-
sen werden. - Ich sehe keine anderen Vorschläge. Diese Freistellung soll nach unseren Vorstellungen
Dann sind die Überweisungen so beschlossen. nicht starr sein. Wie sich die Eltern das aufteilen, ist
ihre Sache: ob daraus eine sechsjährige Halbtagsar-
beit, je zur Hälfte für Vater und Mutter wird, eine al-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 und Zusatzpunkt 9 leinerziehende Mutter zwölf Jahre dreivierteltags ar-
auf: beitet mit anteiligem Erziehungsgeld. Die Möglich-
keiten sollten so variabel sein, wie die unterschiedli-
13. Erste Beratung des vom Bundesrat einge- chen Bedürfnisse es erfordern.
brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Än-
derung des Bundeserziehungsgeldgesetzes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Drucksache 13/204 - Wir wollen mit einer solchen Regelung dazu beitra-
Überweisungsvorschlag: gen, daß die Freistellung keine Frauenangelegenheit
bleibt und Männer in die Verantwortung einsteigen.
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (feder-
führend) Der Vorschlag von Frau Nolte, beim dritten Jahr des
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Erziehungsurlaubs eine Flexibilisierung einzuführen,
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ist ein Schritt in die richtige Richtung. Natürlich wol-
1818 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Rita Grießhaber
len viele Mütter bei der Einschulung mehr Zeit für und danach Frau Professor Rita Süssmuth, haben mit
ihr Kind, aber sie wissen doch auch, daß sie dies dieser Politik hervorragende Voraussetzungen ge-
brauchen, weil wir nicht einmal funktionierende schaffen, damit Eltern, Mütter und Väter, Erwerbstä-
Halbtagsschulen haben. tigkeit und Kindererziehung miteinander verbinden
können.
Die Finanzierung des Erziehungsurlaubs muß die
gesamten drei Jahre umfassen und vom Bund gelei- (Beifall bei der CDU/CSU)
stet werden. Wir halten die Anhebung der Einkom-
mensgrenzen für dringend erforderlich und arbeiten Beim Erziehungsgeld haben wir die Anspruchs-
für die anstehenden Haushaltsberatungen an ent- dauer von der Vollendung des zehnten Lebensmo-
sprechenden Deckungsvorschlägen. Deshalb nenne nats bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres
ich hier keine Beträge. ausgedehnt. Der Erziehungsurlaub wurde von der
Vollendung des zehnten Lebensmonats bis zur Voll-
In der aktuellen Situation geht es aber auch endung des dritten Lebensjahres ausgedehnt, zudem
darum, den Frauen, die sich freistellen lassen, die eine Arbeitsplatzgarantie geschaffen. Eine Vielzahl
Rückkehr zu einem Arbeitsplatz nicht zu verbauen. von Verbesserungen - für Mehrlinge, kurze Gebur-
Denn der Erziehungsurlaub darf nicht der unfreiwil- tenfolgen, adoptierte Kinder, bei Teilzeitarbeit, um
lige Einstieg in den Ausstieg aus dem Erwerbsleben nur einige zu nennen - wurden geschaffen. Die Ein-
werden. führung des Anspruchs für nicht sorgeberechtigte
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Väter bei Zustimmung der Mutter kommt zu diesen
Verbesserungen hinzu.
Er darf kein Instrument sein, mit dem Frauen wieder
einmal zurück zu Küche und Kindern gebracht wer- Im Katalog familienpolitischer Leistungen sind Er-
den. Wir wollen Hilfen für das Leben mit Kindern ziehungsgeld und Erziehungsurlaub nicht mehr weg-
und keine Sackgassen für Mütter. zudenken. Von Anfang an haben ca. 97 % das Erzie-
hungsgeld und den Erziehugsurlaub in Anspruch ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nommen. Ganz besonders wichtig ist mir, hier zu sa-
gen, daß auch nach Einführung des Erziehungsgel-
Meine Damen und Herren, immer noch haben
Frauen und Männer so gut wie keine Möglichkeit, zu des und des Erziehungsurlaubs in den neuen Län-
wählen, wie sie Beruf und Leben mit Kindern verein- dern ein gleichhoher Prozentsatz, 97 %, der Väter
baren. Die Frauen verzichten auf ein Weiterkommen und Mütter diese Leistungen in Anspruch genom-
im Beruf und dürfen dafür nicht doppelt bestraft wer- men haben. Das zeigt die hohe Akzeptanz dieser Lei-
den. Das bedeutet auch eine andere Anerkennung stungen.
bei den Renten. Wir wollen, daß statt der geltenden Leider mußten wir wegen der besonderen finanz-
75 % Rentenanwartschaft 100 % des jährlichen politischen Situation 1993 Einsparungen vornehmen.
Durchschnittswertes aller Versicherten in der gesetz- Damals haben wir uns als CDU/CSU und F.D.P. ge-
lichen Rentenversicherung anerkannt werden. gen die Kürzung der 600 DM Erziehungsgeld ausge-
Wenn wir die Anerkennung von Erziehungsarbeit sprochen. Die notwendigen Einsparungen sind durch
wirklich wollen, muß Schluß sein mit der Aufrech- strukturelle Änderungen des Bundeserziehungsgeld-
nung von Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit. gesetzes erreicht worden. So wird z. B. bei der Be-
rechnung des Erziehungsgeldes seitdem das aktu-
(Beifall der Abg. Margareta Wolf-Mayer elle Einkommen zugrundegelegt. Die Länder wollen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nun statt des aktuellen Einkommens wieder das Ein--
kommen aus dem vorletzten Kalenderjahr vor der
Wenn Kinder wirklich unsere Zukunft sein sollen,
Geburt für die Minderung des Erziehungsgeldes zur
müssen wir auch die entsprechende Politik machen.
Basis nehmen, ein Einkommen, das in der Regel we-
Und das heißt für mich - ohne Wenn und Aber -: Zeit
sentlich unter dem tatsächlichen Verdienst liegt.
und Geld für Kinder!
Vielen Dank. Lassen Sie mich das an einem Beispiel illustrieren.
Wenn jemand zwei Jahre vor der Geburt des Kindes
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in der Ausbildung war, nun aber gut verdient, hätte
der SPD und der PDS) er trotzdem sowohl im ersten als auch im zweiten Le-
bensjahr des Kindes Anspruch auf das volle Erzie-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem hungsgeld. Hier würde eine Ungerechtigkeit entste-
Abgeordneten Walter Link (Diepholz) das Wort. hen, die sich ohne eine Umstellung der Berech-
nungsbasis weiter vergrößern würde.
(Rolf Köhne [PDS]: Da sind wir aber mal ge
spannt!) Aus diesem Grund soll künftig nicht mehr das Ein-
kommen aus weiter zurückliegenden Jahren vor dem
Leistungsjahr maßgebend sein. Um dies sicherzustel-
Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Herr Präsi- len, wird für das Erziehungsgeld im zweiten Lebens-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Erzie- jahr des Kindes ein neuer Antrag notwendig. Ich
hungsgeld und Erziehungsurlaub sind großartige meine, daß wir mit den Änderungen mehr Gerechtig-
Leistungen für die Familien. 1986 hat die Koalition keit geschaffen haben.
aus CDU/CSU und F.D.P. im Deutschen Bundestag
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub beschlossen. (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Sehr rich
Die damaligen Familienminister, Dr. Heiner Geißler tig!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1819
Walter Link (Diepholz)
Die Überprüfung im zweiten Jahr, ob der Erzie- Außerdem werden wir in diesem zweiten Paket die
hungsurlaub eingehalten wird und ob Teilzeitarbeit Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld anheben
geleistet wird oder nicht, soll auf Vorschlag der Län- und eine weitere Verbesserung des Kindergeldes
der durch eine Benachrichtigungspflicht der Kran- vornehmen. Bei beidem - beim Kindergeld und beim
kenkassen ersetzt werden. Diese Variante war be- Erziehungsgeld - werden wir uns für eine mögliche
reits 1993, vor der Änderung des Bundeserziehungs- Dynamisierung einsetzen. Des weiteren wollen wir
geldgesetzes, im Rahmen des Föderalen Konsolidie- Voraussetzungen dafür schaffen, daß Familien mit
rungsprogramms geprüft worden und mußte verwor- Kindern besser bezahlbaren Wohnraum erhalten und
fen werden, da die Krankenkassen in den meisten daß bei den Anerkennungszeiten im Rentenrecht,
Fällen nicht in der Lage waren, die erforderlichen wie die Kollegin der GRÜNEN das eben vorgeschla-
Daten zeitnah zur Verfügung zu stellen. Wir prüfen gen hat, in Zukunft weitere Verbesserungen eintre-
jedoch zur Zeit, ob dennoch auf die Überprüfung im ten. Dazu gehört auch, mehr Teilzeitarbeit zu ermög-
zweiten Jahr des Erziehungsgeldes verzichtet wer- lichen. Das alles zusammengenommen ist ein Fami-
den kann oder die Erziehungsgeldstellen die Infor- lienpaket, das ist Familienpolitik aus einem Guß.
mation auf andere Weise erhalten können.
Ich will zum Schluß noch einmal sehr deutlich sa-
Wir haben noch andere konkrete Vorschläge mit gen: Mit den sechs Milliarden Verbesserungen ab
den Ländern diskutiert und beabsichtigen, noch in dem 1. Januar 1996 geben wir jetzt in Deutschland
diesem Jahr Regelungen zur Verwaltungsvereinfa- für die Familien mit Kindern - Steuerfreibetrag plus
chung auf den Weg zu bringen. Das zeigt, daß der Kindergeld plus die sechs Milliarden, die wir in der
Antrag des Bundesrates überflüssig ist. Koalition gerade beschlossen haben - im Jahr 43 bis
44 Milliarden DM aus.
Da die vom Bundesrat vorgeschlagene Umstellung
auf das alte Verfahren einerseits Kosten verursacht Zur Zeit geben wir 8,3 Milliarden DM für das Erzie-
und andererseits die Einsparung annähernd bewahrt hungsgeld aus. Jetzt addieren Sie bitte 43 bis
werden soll, sieht der Gesetzentwurf des Bundesra- 44 Milliarden plus 8 Milliarden, dann wird deutlich,
tes vor, die Einkommensgrenzen, die für den An- daß diese Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P.
spruch auf Erziehungsgeld ab dem siebten Lebens- über 50 Milliarden DM jährlich für die Familien mit
monat gelten, auch für den Anspruch im ersten Le- Kindern ausgibt.
benshalbjahr des Kindes einzuführen. Dem können
wir - jedenfalls zur Zeit - nicht zustimmen. Wir sprechen von weiteren Verbesserungen in ei-
nem zweiten Paket für 1997/98. Wenn das keine gute
Bisher haben wir der Verlängerung des Erzie- Familienpolitik ist, dann weiß ich nicht, wo gute Fa-
hungsgeldbezuges gegenüber der Erhöhung der milienpolitik gemacht wird. Vergleichen Sie es mit
Einkommensgrenzen Priorität eingeräumt. Neben den europäischen und allen anderen Ländern: Nir-
den Veränderungen bei der Durchführung sind wir gends finden Sie eine so gute Familienpolitik.
nunmehr der Auffassung, daß die Einkommensgren-
zen, die ab dem siebten Lebensmonat gelten und seit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
1986 unverändert sind, an die wirtschaftliche Ent- Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dempwolf,
wicklung angepaßt werden müssen. Denn der Anteil besprechen Sie doch noch einmal im Familienmini-
der Eltern, der volles Erziehungsgeld erhält, ist seit sterium mit der Ministerin Frau Nolte, daß wir als Ko-
1986 - das geben wir zu - kontinuierlich zurückge- alition von CDU/CSU und F.D.P. in den Jahren 1997/
gangen. Damals erhielten auch nach dem siebten Le- 98 nach den Beschlüssen für 1996 eine hervorra-
bensmonat des Kindes etwa 85 % der Eltern das Er- gende Familienpolitik noch in dieser Legislaturperi-
ziehungsgeld in voller Höhe von 600 DM. Inzwischen ode verwirklichen können, eine Politik, die sich nicht
gilt dies nur noch für etwa die Hälfte der Eltern. nur sehen lassen kann, sondern die auch den Fami-
Damit Eltern das Erziehungsgeld als echte Aner- lien in Deutschland hilft!
kennung ihrer Erziehungsleistung empfinden kön-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nen, müssen die Einkommensgrenzen nach meiner
Ansicht und nach der Ansicht der Fraktion der CDU/
CSU angehoben werden, so daß wieder der größte Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
Teil der Eltern volles Erziehungsgeld beziehen kann. die Abgeordnete Hildegard Wester.
Das werden wir in einem zweiten Paket in 1997 oder
1998 tun.
Hildegard Wester (SPD): Herr Präsident! Meine
(Beifall bei der CDU/CSU) Damen und Herren! Herr Link, ich muß leider etwas
Wasser in Ihren Wein schütten.
Ich meine, daß das Erziehungsgeld auf diesem Wege
wieder die Bedeutung und Wirkung erlangen sollte, (Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Das
die es für Familien 1986 hatte. machen Sie seit Jahren, Frau Wester!)
Nachdem wir in dieser Woche in der Koalition den Ich habe gestern an dieser Stelle versucht zu erklä-
Durchbruch für das Kindergeld erzielt haben und da- ren, daß die rund 40 Milliarden DM, die für den Fa-
mit auch nach Ansicht der SPD einen Schritt in die milienlastenausgleich ausgegeben werden, keine
richtige Richtung getan haben, werden wir in einem Förderung der Familien darstellen, sondern daß es
zweiten Paket 1997/98 - wie eben angedeutet - die sich lediglich um die steuerliche Gleichbehandlung
Verbesserung der familienpolitischen Leistung beim von und um Gerechtigkeit für Familien handelt.
Kindergeld vornehmen. Denn es ist ein Verfassungsgebot, daß das Existenz-
1820 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Hildegard Wester
minimum der Kinder freigestellt bleibt, und um gen bedeutet und für die ausführenden Ämter einen
nichts anderes handelt es sich bei unserem Kinder- erheblichen Mehraufwand mit sich bringt. Dieser
geld und beim Freibetrag. Es ist noch nicht einmal Mehraufwand ist vor allem auch dadurch gegeben,
die Summe der Freistellung des Existenzminimums, daß die Erstellung von Einkommensprognosen eher
wie gestern auch Ihr Kollege Fell zugegeben hat. eine finanzamtstypische Tätigkeit ist. Diese sind aber
nicht mit der Durchführung des Bundeserziehungs-
(Beifall bei der SPD - Walter Link [Diep geldgesetzes beauftragt.
holz] [CDU/CSU]: Stellen Sie sich vor, das
Bundesverfassungsgericht hätte das in Ihrer Die Berechnung des Erziehungsgeldes gilt nach
Regierungszeit schon einmal überprüft, was der Novelle vom 1. Juli 1993 nur für ein Jahr. Für das
da los gewesen wäre!) zweite Lebensjahr des Kindes muß ein weiterer An-
trag gestellt werden.
- Wir sprechen von heutigen Zeiten. Ich bin mir si-
cher, wenn es überprüft worden wäre, hätten wir Damit ist das Maß der Veränderungen noch nicht
nicht so lange gebraucht wie Sie, in die Tat umzuset- voll: Ferner müssen Berechtigte im 16. Lebensmonat
zen, daß endlich Verbesserungen eintreten. des Kindes nachweisen, daß sie weiterhin keiner so-
zialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen,
(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Sie ha daß also der Erziehungsurlaub nach wie vor in An-
ben 1982 arbeitslosen Jugendlichen das spruch genommen wird.
Kindergeld gestrichen!)
Ein weiteres Einsparpotential wurde bei den aus-
- Leider wird die Zeit für unser Zwischengeplänkel ländischen Familien gesehen. Denn heute erhalten
von meiner Redezeit abgezogen. Deswegen möchte nur noch Personen mit Aufenthaltserlaubnis oder
ich gerne zum vorliegenden Gesetzentwurf reden. -berechtigung die Leistungen nach dem Bundeser-
Wir können die Diskussion dann später im Ausschuß ziehungsgeldgesetz. Hier ist wieder einmal festzu-
fortsetzen. stellen, meine Damen und Herren: An den Schwäch-
Für die Kinder, die seit dem 1. Juli 1993 geboren sten wird auch bei diesem Gesetz gespart, weil man
wurden, gelten die Bestimmungen, die im Föderalen hier mit der gerinsten Gegenwehr rechnet.
Konsolidierungsprogramm und seinen Umsetzungs- Anstatt nicht nur im Rahmen des Internationalen
gesetzen durchgesetzt wurden. Diese neuen Bestim- Jahres der Familie, sondern vor allem auch im Hin-
mungen sollten allein für das Jahr 1993 146 Millionen blick auf die laufenden Beratungen zum § 218 mit
DM Haushaltsmittel einsparen. Sparen ist sicherlich Leistungen für Kinder und Familien besonders sorg-
nicht nur eine sinnvolle, sondern im Augenblick fältig und behutsam umzugehen und da, wo es nur
auch eine gebotene Maßnahme. Aber müßte man eben geht, Leistungen sinnvoll zu erhöhen, strafen
sich als politisch Verantwortliche nicht fragen, wem die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktio-
man solche Leistungskürzungen zumutet? Diejeni- nen ihre eigenen Absichtserklärungen Lügen.
gen, die von diesen Kürzungen betroffen sind, sind
nämlich die Familien. Es sind genau die Familien, (Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Über
meine Damen und Herren, die im vergangenen Jahr 40 Milliarden DM!)
im Mittelpunkt von zahlreichen Sonntagsreden und
So ist es. Es wäre angebracht gewesen, das Erzie-
lauwarmen Absichtserklärungen gestanden haben.
hungsgeld zu erhöhen oder wenigstens die Bems-
Zur Erinnerung: 1994 war das Internationale Jahr sungsgrundlage. Berücksichtigt man nämlich den
der Familie. Bis heute gibt es aber aus den Reihen Kaufkraftverlust durch die Steigerung der Lebens--
der Bundesregierung oder der Regierungsfraktionen haltungskosten seit 1986, müßte das Erziehungsgeld
keine parlamentarischen Initiativen, um die vielen um 100 bis 150 DM höher sein.
Versprechungen des vergangenen Jahres zu erfül- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: So ist es!)
len. Das von gestern war keine parlamentarische In-
itiative. Um es zu wiederholen: Seit 1986 ist die Einkom-
mensgrenze von 29 400 DM für eine Familie mit ei-
Statt dessen haben die Familien kräftig sparen ge- nem Kind - das sind 2 450 DM monatlich - nicht er-
holfen. 1993 überstieg der eingesparte Betrag beim höht worden. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten
Erziehungsgeld die angesetzte Größe um rund und der Einkommen ist in diesem Zeitraum natürlich
40 Millionen DM. Familien sind also ein Spartopf der nicht stehengeblieben. Schon im Jahre 1992 hätte
Nation. Es ist höchste Zeit, darüber nachzudenken, sich bei einer Anpassung der Einkommensgrenze an
wie das Gesetz wieder auf solide Füße gestellt wer- die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter für die
den kann. Dazu ist es sicher zuerst nötig, daß wir uns eben genannte Familie ein mögliches Einkommen
noch einmal angucken, was denn im Jahre 1993 ei- von 34 075 DM ergeben. Das sind 4 675 DM pro Jahr
gentlich geändert worden ist. oder 390 DM pro Monat mehr als im Jahre 1986.
Anstelle der Einkünfte aus dem vorvergangenen Es ist also allerhöchste Zeit zu handeln. Ich be-
Jahr vor der Geburt des Kindes wird das Einkommen grüße natürlich sehr, Herr Kollege Link, daß Sie
des Geburtsjahres berücksichtigt. Dadurch ist es heute angekündigt haben, daß da etwas kommt.
nicht mehr möglich, das Einkommen mit dem Ein-
kommen- oder Lohnsteuerbescheid nachzuweisen. Folgerichtig hat sich der Anteil derjenigen, die
Vielmehr muß jetzt eine Einkommensprognose er- nach dem sechsten Lebensmonat ihres Kindes kein
stellt werden, die für die Antragsteller das Herbei- Erziehungsgeld mehr erhalten, von 10,5 % im Jahre
schaffen vielfältiger Bescheinigungen und Unterla- 1987 auf 12,5 % im Jahre 1992 erhöht. Der Anteil de-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1821
Hildegard Wester
rer, die ein gemindertes Erziehungsgeld erhalten, hat Die letzte Hürde, die man zu überwinden hat,
sich von 8,6 % im Jahre 1987 auf 16,5 % im Jahre wenn man Erziehungsgeld beziehen will, ist die, daß
1992 erhöht. Dies ist kein Zeichen für die allgemein man im 16. Lebensmonat des Kindes eine Bescheini-
gute materielle Situation junger Familien, wie es oft gung vorlegen muß, daß der Beurlaubungsstatus fort-
zu interpretieren versucht wird, sondern hier liegt besteht. Auch hier gibt es - wie an vielen anderen
ganz klar auf der Hand, daß es einen Zusammen- Stellen im Sozialrecht - den erhobenen Zeigefinger,
hang zwischen den gestiegenen Lebenshaltungsko- der vor dem Mißbrauch einer Sozialleistung warnt.
sten und dem Stillstand in der Leistung bzw. der Be- Es soll ja nichts anderes als die Frage geprüft wer-
messungsgrundlage gibt. den, ob jemand tatsächlich so dreist ist, Erziehungs-
geld zu beziehen, während er gleichzeitig versiche-
Jetzt wird das Einkommen auf der Grundlage des
rungspflichtig arbeitet.
Geburtsjahres des Kindes ermittelt. Dies wird zusam-
men mit der Einkommensentwicklung dazu führen, Ca. 50 % der Leistungsempfängerinnen und -emp-
daß der Anteil derjenigen, die kein oder ein gemin- fänger sind von dieser Situation betroffen. Es ist
dertes Erziehungsgeld erhalten, im Jahre 1994 von schon jetzt sicher, daß die ausführenden Ämter sehr
29 auf 33 % steigt. Ein Drittel aller Sorgeberechtigten viel Kraft und Arbeit investieren müssen, um die
erhalten also auf Grund der Überschreitung der Ein- Überprüfung der neu beizubringenden Bescheini-
kommensgrenze keine oder nur noch eine gemin- gungen vorzunehmen und anzumahnen, wenn Be-
derte Leistung nach dem Bundeserziehungsgeldge- scheinigungen nicht rechtzeitig da sind. Weiter wird
setz. Diese Tatsache allein reicht aus, um sich zu fra- es zu Auszahlungsstopps kommen, nämlich für den
gen, welche Zielrichtung dieses Gesetz eigentlich Fall, daß die Bescheinigungen nicht vorliegen. Dann
verfolgt, ob wir diejenigen erreichen, die wir errei- wird es Widerspruchs- und Wiedereinsetzungsver-
chen wollen, nämlich die Familien mit Kindern. fahren geben. Das sind alles Maßnahmen, die dazu
Ich möchte noch auf einen zweiten wesentlichen beigetragen haben, daß die Belastungen der Länder
Aspekt aufmerksam machen. Das Herbeibringen von ins Unerträgliche gestiegen sind. Zwei- bis dreifa-
Belegen für eine Einkommensprognose belastet die cher Mehraufwand an Personalkosten ist von den
Familien stark und ist in vielen Fällen nicht einmal Ländern reklamiert worden.
lückenlos möglich. In letzterer Situation kann das Er- Ich frage mich, warum es, wenn der Bund ein Ge-
ziehungsgeld auch nur unter dem Vorbehalt der setz zum Einsparen macht, wie in diesem Fall wieder
Rückzahlung ausgezahlt werden. Da sich der gleiche einmal zu Lasten der Länder geht. Wir haben die
Vorgang zu Beginn des zweiten Lebensjahres des Länder schon bei der Frage des Rechtsanspruchs auf
Kindes wiederholt, sind die Antragsteller nicht nur einen Kindergartenplatz im Regen stehen lassen.
zum zweitenmal mit dem Verwaltungsaufwand kon-
frontiert, sondern haben praktisch über die gesamte (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Wir sind nicht
Laufzeit des Erziehungsgeldes eine große Unsicher- zuständig!)
heit auszuhalten, ob und in welcher Höhe sie über-
haupt Erziehungsgeld erhalten werden. Lassen Sie es uns in diesem Falle nicht tun, vor allen
Dingen dann nicht, wenn die Sparmaßnahmen, die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir ergriffen haben, für die Leistungsempfänger alles
Geradezu skandalös ist es aber, daß sich durch die andere als sinnvoll sind!
neue Berechnungsweise ergeben kann, daß Paare, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
die beide ihre Arbeitszeit reduzieren, um Kinderbe- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
treuung und Berufstätigkeit gemeinsam zu organisie- GRÜNEN)
ren, gekürzte oder keine Leistungen erhalten, ob-
wohl ihr Einkommen gesunken ist, nämlich dann,
wenn das Kind in der zweiten Jahreshälfte geboren Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
und erst dann die Arbeit reduziert wird oder wenn Abgeordneten Heinz Lanfermann das Wort.
die Reduzierung der Arbeitszeit des Partners nicht
als Härtefall, sondern als „selbstverschuldet" bewer-
tet wird. Heinz Lanfermann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Kollegen haben mich ge-
Ich frage mich, was man mit diesem Gesetz und rade schon darauf aufmerksam gemacht, daß die mir
den Betroffenen noch alles anstellen und trotzdem zustehende Redezeit von fünf Minuten auf keinen
behaupten kann, es handele sich um ein Gesetz mit Fall ausreichen kann, auch nur einen Teil der Dinge
der Zielvorgabe der finanziellen Anerkennung der zurechtzurücken, die Frau Wester uns soeben darge-
Erziehungsleistung, der Hilfestellung bei der Verein- boten hat.
barkeit von Beruf und Familie und der partnerschaft-
lichen Gestaltung der beiden vorgenannten Aspekte. (Beifall der Abg. Maria Eichhorn [CDU/
CSU])
Es wird allerhöchste Zeit, daß eine Korrektur der
Richtlinien zur Durchführung des Gesetzes vorge- Ich will mich deswegen auf einen Punkt beschrän-
nommen wird, wie Frau Rönsch es für Anfang dieses ken, weil das mittlerweile schon fast zur Legende
Jahres versprochen hatte. Es ist sehr wohl bekannt, wird: auf ihre Behauptung, der Bund habe die Län-
daß dort eine riesenhafte Lücke klafft. Sie ist immer der im Regen stehen lassen, was den Rechtsanspruch
noch nicht geschlossen. auf einen Kindergartenplatz angeht.
(Beifall bei der SPD) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
1822 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Heinz Lanfermann
Frau Kollegin, so oft Sie es sagen, so oft werden wir wir freuen uns, daß wir den Koalitionspartner über-
es richtigstellen: zeugen konnten -, nämlich hin auf das, was man un-
ter den Begriff „negative Einkommensteuer" faßt.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das versteht man schon weniger; der Beg ri ff „Bür-
Dies ist Angelegenheit der Länder. Es hat einen Fi- gergeld" ist natürlich viel besser. Das heißt, daß wir
nanzausgleich gegeben, bei dem genau dieser Punkt entbürokratisieren, in der Verwaltung Kosten einspa-
berücksichtigt worden ist. Wenn die Länder mittler- ren und dafür dort mehr leisten können, wo es wirk-
weile über vier Jahre an dieser Geschichte arbeiten, lich notwendig ist: bei den Familien, bei den Kin-
teilweise viel, teilweise aber auch wenig - die SPD- dern. Ich denke, dieser erste Einstieg hat schon ein
geführten Länder befinden sich leider ganz überwie- bißchen Geschichte in der Familienpolitik geschrie-
gend bei denen, die weniger getan haben -, dann ist ben. Deswegen sind wir auf einem guten Wege. Ich
das deren Schuld. Wir lassen nicht zu, daß Sie vor will und kann jetzt nicht alles wiederholen, was der
den Bürgern falsche Nachrichten verbreiten. Kollege Link hier schon richtigerweise ausgeführt
hat.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Wenn das Stichwort Entbürokratisierung fällt,
Meine Damen und Herren, diese Debatte findet in dann muß ich Ihnen sagen: Der Vorschlag des Bun-
einer Woche statt, an die sich viele erinnern werden, desrates hat neben anderem vor allem auch den
wenn wir über Familien und Kinder sprechen. Denn Nachteil, daß Sie jetzt, nachdem wir gerade ein sinn-
in dieser Woche ist ein Durchbruch in der Frage des volles und gerechtes System gefunden haben, in dem
Familienleistungsausgleichs - wie es jetzt besser das aktuelle Einkommen zugrunde gelegt wird, wie-
heißt - gelungen: der die Verwaltung umstellen und damit eine neue
(Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.] Belastung für die Verwaltung aufbauen wollen. Das
und des Abg. Walter Link [Diepholz] [CDU/ kann nicht der Sinn der Sache sein.
CSU])
Die praktischen Schwierigkeiten, die Sie geschil-
Wir haben in der Koalition nicht nur einen sehr schö- dert haben, will ich hier gar nicht unbedingt vernei-
nen, sondern vor allen Dingen auch einen sehr wir- nen oder schönreden, aber ich denke, da gibt es bes-
kungsvollen Kompromiß gefunden, um den Familien sere Lösungsmöglichkeiten, als ein schlechteres Sy-
mit Kindern wirklich zu helfen. Jetzt muß ich eine stem einzuführen. Wir sollten uns abgewöhnen, im-
weitere Falschmeldung korrigieren. Frau Wester, Sie mer die Gesetze zu verändern, während es in Wirk-
haben vorhin gesagt, es sei nichts hinzugekommen. lichkeit doch meistens Probleme der Verwaltung und
der Verwaltungsdurchführung sind. Und zur Verwal-
(Hildegard Wester [SPD]: Ich habe doch tungsdurchführung sei wiederum der Hinweis er-
nicht gesagt, daß nichts hinzukommt!) laubt, daß hier meistens eher die Länder als der Bund
6 Milliarden DM sind so wenig nicht, gerade in einer betroffen sind.
Zeit, in der wir überall einsparen müssen. Der Ge-
(Beifall bei der F.D.P.)
samttopf, der aus Steuerentlastung und Kindergeld
besteht und zu dem jetzt noch zusätzliche Leistun- Meine Damen und Herren, es ist auch richtig, wei-
gen kommen, ist um 6 Milliarden DM gestiegen. Die
terhin das Erziehungsgeld grundsätzlich bedarfsab-
bessere und intelligentere Verrechnung, die wir vor- hängig zu gewähren. Das ist eine Konzentration der
genommen haben, bringt eine weitere Entlastung Mittel auf diejenigen, die es wirklich brauchen. Das
der Haushalte, weil wir einen Entbürokratisierungs- -
ist das, was wir wollen, und das würde durch den Ge-
effekt eingebaut haben. Das wissen Sie genau. Es setzentwurf des Bundesrates - zumindest in Teilen -
gab auch Stellungnahmen aus den Reihen der Oppo- wieder zunichte gemacht, und deswegen findet er
sition, die zeigen, daß man durchaus erkannt hat, auch nicht unsere Zustimmung.
daß dies ein guter Wurf der Koalition war.
(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Weil Meine Damen und Herren, ich kann mich anson-
wir mit unseren Forderungen vorausgegan sten noch einmal dem anschließen, was der Kollege
gen sind! Deswegen!) Link gesagt hat. Wenn wir nach vorne schauen - ich
habe vorhin das Bürgergeld schon erwähnt, und viel-
Wir hoffen jetzt, daß Ihre Parteikolleginnen und leicht darf ich jetzt noch einen letzten Satz sagen,
-kollegen, die in den Ländern Verantwortung tragen, Herr Präsident -: Der zweite Schritt hin zum Bürger-
bei den anstehenden Verhandlungen über die Um- geld könnte dann die kombinierte Leistungsberech-
setzung mitziehen werden, damit dieses gute Pro- nung von Kindergeld, Erziehungsgeld und Ausbil-
gramm und das zusätzliche Geld für die Familien dungsförderung sein.
möglichst schon ab Januar 1996 zur Verfügung ge-
stellt werden kann. Die Länder sind aufgefordert, So können wir dieses Entbürokratisierungs-Pro-
mitzuhelfen, weil die Verrechnung über die Finanz- gramm in Zukunft sinnvoll weiterführen. Da blicke
ämter ein gelungener Schritt ist. Es ist der erste ich sehr optimistisch in die Zukunft, was die gute Fa-
Schritt hin auf das, was die F.D.P. gefordert hat - milienpolitik dieser Bundesregierung und der sie tra-
genden Fraktionen angeht.
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Ach so! -
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wer Vielen Dank.
hat denn gefordert, das beim Finanzamt zu
machen?) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1823

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das denn Überschaubarkeit und Sicherheit sind Ergeb-
Wort der Abgeordneten Heidemarie Lüth. nisse dieses Antrags. Die wahren Probleme löst die-
ser Gesetzentwurf nicht; denn auch hier heißt der
Grundtenor Einsparung.
Heidemarie Lüth (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Lanfermann, so schön, wie Sie In einem Punkt ist es in der Tat eine Schlechterstel-
Ihre Rede begonnen und wie Sie sie auch beendet lung ; denn für die ersten sechs Lebensmonate des
haben, können meine paar Worte allerdings nicht Kindes würde das Erziehungsgeld einkommensun-
sein; denn auch in dieser Debatte geht es eigentlich abhängig gezahlt. Die Mütter und Väter - die An-
um die Beseitigung einer Altlast der Bundesregie- tragsteller - wird es sicher nicht brüskieren, würde
rung, nämlich um die Veränderung eines in der ver- der Begriff Einkommen überschaubarer definiert.
gangenen Legislaturperiode beschlossenen Geset-
Wirkliche Wahlfreiheit, die ökonomisch abgefedert
zes.
wird, wird so allerdings nicht erreicht. Denn Erzie-
Vor fast genau zwei Jahren, am 5. März 1993, er- hungsgeld wird weder an Einkommensgrenzen noch
klärte die damalige Familienministerin Frau Rönsch: an die Höhe der Lohnentwicklung gekoppelt. Le-
benshaltungskosten in ihrer dynamischen Entwick-
Korrekturen beim Erziehungsgeld bringen mehr lung spielen dabei natürlich auch keine Rolle.
Gerechtigkeit - eine Kürzung findet nicht statt.
In der „Frankfurter Rundschau" vom 8. März ist
Hervorgehoben wurden in dieser Erklärung für 1993 das Durchschnittseinkommen der Arbeiter und An-
Einsparungen von 146 Millionen DM - die Kollegin gestellten in Industrie und Baugewerbe Ost mit 3 220
Wester hat es schon erwähnt -, und für 1994 wurden DM und West mit 4 773 DM angegeben. Wehe die-
575 Millionen DM sowie Einsparungen für 1995 und sen Durchschnittsverdienern, wenn sie ein Kind be-
1996 von 600 Millionen DM beim Erziehungsgeld be- kommen, denn sie brauchen einen Antrag auf Erzie-
nannt. hungsgeld überhaupt nicht zu stellen.
Am 1. Juni 1994 erklärte Frau Rönsch zur Einbrin- Drei Jahre Erziehungsurlaub, drei Jahre Erzie-
gung der Großen Anfrage der SPD zu diesem Thema: hungsgeld - das ist unsere Forderung, angebunden
an eine entsprechende Grundsicherung. Als minimal
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sind aus betrachten wir natürlich die Forderung auf eine ent-
dem Leben junger Mütter und Väter nicht mehr sprechende Angleichung an die Lebenshaltungsko-
wegzudenken. Sie sind eine grundlegende Er- sten und Lohnentwicklung.
rungenschaft für Familien und gehören fest zum
Leistungskatalog einer humanen Politik.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
Das Licht der Familienpolitik in dieser „humanen Ihre Redezeit ist zu Ende.
Politik" brennt meines Erachtens im Kronleuchter
der anderen Ministerien, allerdings auf einer sehr
Heidemarie Lüth (PDS): Ich hoffe, daß die Koalition
flackernden Sparflamme. Ich bin sehr gespannt, wie
diesmal auch Wort hält und es nicht nur bei dem
die Rahmenbedingungen der Regierung, von denen
schönen Wort beläßt, das Herr Link verkündet hat.
Frau Nolte am 8. März sprach und die Herr Link vor-
hin angekündigt hat, für diesen Teil der Familienför- (Beifall bei der PDS)
derung dann wirklich aussehen werden; denn die
jetzige Vergabepraxis des Erziehungsgeldes erin- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die-
nert mehr an einen Gnadenakt, denn an eine hu- Aussprache.
mane Politik.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
(Beifall bei der PDS) auf den Drucksachen 13/204 und 13/711 an die in
Die dreimalige Antragstellung, die entsprechen- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
den Bearbeitungszeiten und die Unsicherheit, ob Er- schlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
ziehungsgeld gezahlt wird, und nicht zuletzt die Dann ist das so beschlossen.
Höhe führen dazu, daß Mütter auf die Errungen-
schaft Erziehungsgeld zum Teil verzichten und, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
wenn es sich bietet, eine Arbeit aufnehmen. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alleinerziehende Mütter, die nicht in einer Partner- Ce rn Özdemir, Christa Nickels, Amke Dietert
schaft leben, werden in der Zeit des Erziehungsur- Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
laubes häufig gleich zu Sozialhilfeempfängerinnen. tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beschränkung der Abschiebungshaft von
Antragstellung, Bearbeitung und Kontrolle haben
Ausländerinnen und Ausländern
sich zu einer Inflation der Bürokratie entwickelt, die
in den Ländern jährlich bis zu ca. 170 Millionen DM - Drucksache 13/107 -
kostet. Wenigstens hier hat der schlanke Staat Ar-
beitsplätze geschaffen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei
In diesem Sinne ist der Entwurf des Bundesrats, ist die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN acht Minu-
die Rückkehr zum alten Verfahren ein Fortschritt, ten Redezeit erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen
den sicher auch die betroffenen Mütter so sehen; Widerspruch. Dann machen wir das so.
1824 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch


Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- Flüchtlinge unter den genannten Bedingungen, und
ordnete Christa Nickels. dazu noch aus Gründen, die sie nicht zu verantwor-
ten haben, einzusperren, ist eine krasse Verletzung
der Menschenrechte. Diesen Zustand möchte meine
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fraktion nicht mehr hinnehmen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Verschärfungen im Ausländer- und Asylrecht haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dazu geführt, daß der Umfang der Abschiebehaft in
Seit dem Inkrafttreten des sogenannten Asylkom-
den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Laut
promisses stellen die Ausländerbehörden massiv An-
amnesty international sitzen derzeit etwa 3 000 Men-
schen in Abschiebehaft. 1 020 waren es im Jahre träge nach § 57 des Ausländergesetzes. In diesem
Paragraphen werden die Voraussetzungen und der
1994 allein in Nordrhein-Westfalen.
Umfang von Abschiebungen geregelt. In der Vorstel-
In vielen Fällen sitzen Menschen in Abschiebehaft, lungswelt nicht nur der Ausländerbehörden wollen
obwohl ihre Abschiebung in absehbarer Zeit über- alle Asylsuchenden wegen der drohenden Abschie-
haupt nicht durchführbar ist, und zwar aus Gründen, bung angeblich untertauchen. Wegen dieser pau-
die sie nicht selber zu vertreten haben, z. B. wenn die schal behaupteten, aber im Einzelfall sehr oft über-
Heimatländer keine Papiere ausstellen. Nach ihrer haupt nicht nachgewiesenen Fluchtgefahr stellen
Festnahme werden diese Leute oft ohne entspre- viele Richter auf Antrag der Behörden Haftbefehle
chende inhaltliche Prüfung in Abschiebehaft genom- aus, ohne die betroffenen Menschen selber über-
men. Flüchtlinge sind ja bekanntlich lediglich zum haupt angehört zu haben. Das derzeitige Asylverfah-
Zweck der „Sicherung" der bevorstehenden Ab- ren ist völlig unzureichend. Das ist nicht - das sage
schiebung und nicht etwa zur Verbüßung einer Straf- ich an Ihre Seite von der CDU/CSU und der F.D.P.
tat inhaftiert. Sie sind keine Kriminellen. hier im Hause - eine Erfindung von irgendwelchen
ideologisch verblendeten GRÜNEN, sondern das be-
Tatsächlich werden sie aber genauso behandelt legt ganz klar auch der Erfahrungsbericht der Caritas
wie Kriminelle und manchmal sogar noch schlechter, von 1994. Auch auf der Bischofskonferenz in dieser
weil durch die vielfältigen Nationalitäten der Men- Woche hat man dazu kritische Töne gehört.
schen in solchen Hafthäusern überhaupt keine ver-
nünftige Übersetzung und keine Kommunikation ge- Dieses völlig unzureichende Asylverfahren be-
währleistet sind. Zur Angst dieser Leute vor der Ab- wirkt bei den Flüchtlingen Hoffnungslosigkeit, Angst
schiebung in die Heimat kommen noch die Isolation, und Verzweiflung dergestalt, daß, weil sie in unseren
die Vereinsamung und die Unmöglichkeit, sich zu Rechtsstaat kein Vertrauen mehr haben, immer mehr
äußern, hinzu. im Vorfeld tatsächlich in die Illegalität abgleiten. Im
Klartext: Ein Teil der Probleme, gegen die mit der in-
Das Eingesperrtsein in Zellen während einer Haft- humanen Abschiebehaftpraxis angeblich vorgegan-
dauer von mittlerweile bis zu 18 Monaten und die gen wird, ist die Auswirkung der Politik der Bundes-
Angst vor den Folgen einer Abschiebung in die ehe- regierung. Wir produzieren diese Probleme also
maligen Verfolgerländer haben bereits zu zahlrei- selbst. Eine Verbesserung ist bisher leider nicht in
chen Selbstmorden geführt. Ich finde es unheimlich Sicht, denn bislang bestehende Abschiebestopps für
wichtig, daß auch hier im Bundestag, wo in der Regel die meisten Teilstaaten des ehemaligen Jugosla-
nur über Paragraphen und Gesetzeswortlaut disku- wiens, für die Türkei, Togo, Zaire und einige weitere
tiert wird, die Menschen wieder in den Blick genom- Länder sind schon abgelaufen oder laufen dem-
men werden. nächst ab. Mit diesen Problemen sind wir im Augen-
blick massivst konfrontiert.
Mir ist es wichtig, einige dieser Menschen, die sich
aus dieser Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosig- Die Folgen des Asylkompromisses sind bekannt.
keit umgebracht haben, mit Namen zu nennen. Ich Wir dürfen diese Folgen nicht feige verdrängen. Viel-
möchte an Pfarrer Kwaku aus Ghana erinnern, der mehr wird es Zeit, daß wir uns damit auseinanderset-
am 4. Januar 1993 in der Abschiebehaft in München zen und auch die einzelnen Menschen in den Blick
Selbstmord begangen hat. Herr Massivi Daniel Lopes nehmen. Meiner Meinung nach geht es nicht, daß
aus Angola tötete sich selber am 25. Oktober 1993 in wir uns als Mitglieder dieses Parlaments, als Gesetz-
der Abschiebehaft in Trier. Herr Emanuel Thomas geber, nur mit dem Wortlaut von Paragraphen und
Tout aus Sudan brachte sich am 25. Dezember 1993 mit Papier befassen. Wir müssen uns auch mit den
in der Abschiebehaft in Herne um. Herr Emanuel Ehi Auswirkungen bei den lebendigen, real existieren-
aus Nigeria beging am 25. Dezember 1993 in der Ab- den Menschen befassen und diese Auswirkungen in
schiebehaft in Regensburg Selbstmord. Herr Son-Ha- den Blick nehmen.
Hoang aus Vietnam starb am 27. Januar 1994 in
München an den Folgen einer Selbstverbrennung Mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten
aus Angst vor der Abschiebung. Ihnen allen bekannt ist es unseres Erachtens nicht zu vereinbaren, daß
ist sicherlich der Fall von Herrn Kola Bankole aus Ni- Flüchtlinge über viele Monate hin unter unmenschli-
geria, der an den Folgen einer Beruhigungsspritze chen Haftbedingungen im Gefängnis eingesperrt
und der Knebelung während der Abschiebung auf und ohne Kommunikationsmöglichkeiten „gehalten"
dem Frankfurter Flughafen starb. werden. Ich benutze dieses Wort, weil es oft einfach
so ist. Ich bin in vielen Gefängnissen gewesen und
Die Tatsache, daß die Flucht von Menschen nach habe auch mit den Bediensteten gesprochen. Sie
Deutschland immer häufiger so endet, wirft ein sind selber unglaublich unglücklich und haben da-
scharfes Licht auf die Auswirkung des Asylrechts. mit auch Probleme. Normalerweise sind sie gewohnt,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1825
Christa Nickels
Straftäter, die etwas auf dem Kerbholz haben, zu be- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Herr Präsident!
treuen. Aber hier sind sie mit Flüchtlingen, die Angst Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben Sie mir
haben und deren Schicksal sie als Beamte teilweise zunächst einige persönlich gefärbte Bemerkungen.
kennen, konfrontiert. Sie fühlen sich unheimlich Ich bin der Ansicht, daß der Vollzug der Abschiebe-
mies, wenn sie diesen Job tun müssen und dabei al- haft sicherlich zu den unangenehmsten und
lein gelassen werden. Denken Sie bitte auch an die schmerzhaftesten Aufgaben gehört, die die deutsche
Beamten, wenn Sie immer Ideologie auffahren! Innenpolitik zu erfüllen hat. Er ist die Folge des Asyl-
kompromisses, der von der ganz großen Mehrheit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dieses Hauses und des Bundesrates beschlossen wor-
den ist.
Wir sind also der Auffassung, daß eine Reform des
§ 57 des Ausländergesetzes unumgänglich ist. Eine
(Rolf Köhne [PDS]: Ja, genau, so was
Neuregelung der Abschiebehaft muß die Bedeutung kommt von so was!)
des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlich-
keit und die Freiheit der Person in den Vordergrund Ich will zugeben, daß der Asylkompromiß bei mir
stellen. Die Freiheit der Person, die in unserem keine Begeisterung ausgelöst hat und daß mir, falls
Rechtsstaat zu Recht als höchstes Gut gepriesen ich im Bundestag gewesen wäre, die Zustimmung si-
wird, darf nur aus besonders wichtigen Gründen ein- cherlich schwergefallen wäre.
geschränkt werden, und sie müssen nachgewiesen
werden. Ich betone: Dieses Grundrecht gilt für alle, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die in unserem Land leben, auch für Ausländer, auch
für Asylbewerber und auch für solche, die man ab- Ich weiß auch, daß es vielen Kolleginnen und Kolle-
schieben will. gen in meiner Fraktion so geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist neu!)

Die Abschiebehaft darf nicht mehr, wie bisher Ich habe viel Verständnis dafür, daß Menschen aus
möglich, auf 18 Monate ausgedehnt werden können. Armut, Hunger oder wegen der Zerstörung ihrer Um-
Wir halten das aus menschenrechtlichen und verfas- welt oft den einzigen Weg darin sehen, in unser oder
sungsrechtlichen Gründen für nicht tragbar. Wir for- ein anderes westeuropäisches Land zu kommen. Ich
dern daher in unserem Antrag, daß die Haftdauer würde mich in einer solchen Situation sicherlich ge-
deutlich eingeschränkt wird und drei Monate nicht nauso verhalten.
mehr übersteigen darf. Wir sagen darüber hinaus,
daß Flüchtlinge aus humanitären Gründen nicht ab- Andererseits - darauf, meine ich, muß man hier
geschoben und daß auch Minderjährige und Kranke ebenfalls hinweisen - erforderte aber der rasante An-
nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden dür- stieg der Asylbewerberzahlen in den Jahren vor dem
fen. Asylkompromiß entsprechende Regelungen. Wir
konnten und wir können auch heute nicht all diesen
In unserem Antrag haben wir ganz bewußt keine Menschen eine Heimstatt bieten. Die Belastungsfä-
Maximalposition formuliert, sondern Bedingungen higkeit vor allem der Kommunen und die damit ver-
genannt, die eigentlich in einem demokratischen bundene öffentliche Akzeptanz, die wesentliche Vor-
Rechtsstaat selbstverständlich sein müßten. aussetzung einer Politik in der Demokratie sein muß,
wenn sie erfolgreich sein will,
Ich möchte darauf hinweisen, daß ich in meiner Ar-
beit im Petitionsausschuß im Augenblick mit sehr (Rolf Köhne [PDS]: Die Akzeptanz haben
vielen Einzelfällen zu tun habe. Es ist mir darum wir doch erst einmal hergestellt!)
nicht möglich, daß ich mich hinter Paragraphen ver-
schanze. Jeden Tag sehe ich, was die Leute vorbrin- waren auch unter größten Anstrengungen nicht
gen und was für Schicksale sie hinter sich haben. Ich mehr zu erhöhen bzw. zu erreichen.
appelliere an Sie alle: Setzen Sie sich bitte mit diesen
einzelnen Menschen auseinander! Gehen Sie in die (Zuruf von der SPD: Sie überschätzen den
Abschiebegefängnisse! Reden Sie auch mit den Be- Einfluß von Politik!)
diensteten! Reden Sie mit den Leuten in Deutsch-
land, die nicht nur auf Kommerz aus sind und mehr Ich sage das deshalb am Anfang, weil die Vorbe-
haben wollen, sondern sich auch um solche Leute reitung und die Sicherung der Abschiebung abge-
kümmern, im Rahmen von Flüchtlingsgruppen, die lehnter Asylbewerber und derjenigen, die aus ande-
ebenfalls zunehmend an unserem Rechtsstaat ver- ren Gründen in unser Land gekommen sind und hier
zweifeln! Lassen Sie uns gemeinsam eine Lösung fin- kein Bleiberecht erhalten konnten, die notwendige
den, die dieser Problematik angemessen ist! Folge entsprechender ausländer- und asylrechtlicher
Verfahren sind. Ein Asylverfahren macht keinen
Danke schön. Sinn, wenn im Falle der Ablehnung nicht in der Re-
gel die Abschiebung folgt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der PDS) Die Abschiebehaft wird in den Ländern überwie-
gend durch die Justizvollzugsanstalten als Amtshilfe
für die Ausländer- und Polizeibehörden vollzogen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Nach meiner Überzeugung sind die Justizvollzugs-
Wort dem Abgeordneten Eckart von Klaeden. anstalten eigentlich nicht der richtige Ort, um Ab-
1826 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Eckart von Klaeden


schiebungen zu sichern. Es gibt aber in den Ländern Schwangerschaft die Abschiebung ausgesetzt wird.
keine Alternative dazu. Ich bin in dieser Frage einer Allerdings will ich in diesem Zusammenhang auch
Meinung mit der niedersächsischen Justizministerin darauf hinweisen, daß etwa jeder dritte Ausbrecher
Heidi Alm-Merk. z. B. aus der Jugendanstalt Hameln in Niedersachsen
ein Abschiebungsgefangener ist.
Zum Verfahren will ich zunächst zwei grundsätzli-
che Bemerkungen machen. Das bringt mich zu Nr. 4 des Antrags vom BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN. Die Tatsache, daß im Gegen-
Erstens ist der in der Öffentlichkeit verbreitete Ein-
satz zur Strafhaft die Abschiebehaft keinen Sank-
druck falsch, als würden alle Asylbewerber, die ei-
tionscharakter hat, muß auch in der Gestaltung der
nen ablehnenden Bescheid bekommen haben, in Ab
Abschiebehaft deutlich werden. Man muß der sozia-
schiebungshaft genommen werden; in Wirklichkeit
len und psychischen Situation, soweit es geht, Rech-
sind es ungefähr 20 %, nämlich diejenigen, die Tat-
nung tragen.
bestandsvoraussetzungen des § 57 Ausländergesetz
erfüllen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird (Beifall des Abg. Erwin Marschewski [CDU/
von unabhängigen Richterinnen und Richtern ent- CSU] - Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]:
schieden. Liegen sie aber vor, muß es auf jeden Fall Sehr wahr!)
zur Abschiebungshaft kommen. Deshalb laufen auch
die Ausführungen in Nr. 5 des Antrags von BÜND- Ich will dabei aber auch darauf hinweisen, daß wir
NIS 90/DIE GRÜNEN ins Leere, weil dazu eine Än- - ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident - leider
derung des Tatbestandes des § 57 notwendig wäre einen unübersehbaren Wandel in der Zusammenset-
und nicht eine Ausführungsvorschrift nach § 104 zung der Abschiebungsgefangenen während der
Ausländergesetz. letzten Jahre feststellen müssen. Nicht wenige osteu-
ropäische Abschiebungsgefangene haben in ihren
Zweitens will ich darauf hinweisen, daß nach stän- Heimatländern schon reichlich Hafterfahrung gehabt
diger Rechtsprechung die Verhängung von Abschie- oder saßen bei uns bereits in Untersuchungs- oder
bungshaft nur dann zulässig ist, wenn mit einer ge- Strafhaft.
wissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß die
Abschiebung der Betroffenen ohne ihre Inhaftierung Insbesondere bei jungen Menschen führt die Ab-
wesentlich erschwert oder vereitelt würde. schiebehaft zu dem Verhalten, alles auf eine Karte zu
setzen - Frau Nickels hat darauf hingewiesen - und
Vor diesem Hintergrund will ich nun auf die einzel- ungeachtet der eigenen Unversehrtheit von Leib und
nen Anträge eingehen. Leben der des Betreuungspersonals alles zu riskie-
Die Abschiebung nach § 57 Abs. 2 Satz 3 Auslän- ren, um dem vorgezeichneten Schicksal noch eine
dergesetz ist bereits heute unzulässig, wenn fest- andere Wendung zu geben. Hier findet meiner An-
steht, daß die Abschiebung von dem Ausländer oder sicht nach die berechtigte Forderung nach Informa-
der Ausländerin aus nicht von ihnen zu vertretenden tion und einer der besonderen Situation gerecht wer-
Gründen innerhalb der nächsten drei Monate nicht denden Inhaftierung ihre natürliche Grenze.
vollzogen werden kann. Dazu gehören auch die Es erschreckt mich darüber hinaus, immer wieder
rechtlichen, humanitären oder politischen Gründe, zu hören, daß diese Abschiebungshäftlinge im Ge-
die in Nr. 1 des Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gensatz zu den meisten Strafgefangenen oftmals
NEN erwähnt sind. Eine Beschränkung der Dauer schwerwiegende Verletzungen in Kauf nehmen. Da-
der Abschiebungshaft auf drei Monate, wie in Nr. 2 mit korrespondiert eine oftmals wesentlich höhere
gefordert, würde diesem Instrument seine Wirksam- -
Fluchtbereitschaft. Entsprechende Sicherheitsmaß-
keit nehmen und de facto zu seiner Abschaffung füh- nahmen schulden wir deshalb nicht zuletzt auch un-
ren. Die Dauer der Abschiebungshaft hängt in der serem Personal in den Justizvollzugsanstalten.
Praxis regelmäßig davon ab, in welchem Zeitraum
Heimreisedokumente für den Ausreisepflichtigen be- Insgesamt meine ich daher, daß die bisherigen
schafft werden können. Bestimmte afrikanische Staa- Vorschriften zur Abschiebehaft eine angemessene
ten lassen sich dabei sehr viel Zeit. Die Vernichtung Lösung darstellen, wenn sie durch eine entsprechend
der eigenen Ausweispapiere darf aber nicht de facto angemessene und rechtsstaatliche Vollziehung der
zu einem unbefristeten Bleiberecht in der Bundesre- Länder gewährleistet werden. Es bleibt aber nach
publik Deutschland führen. wie vor eine sehr schmerzhafte Aufgabe.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß die durch- Vielen Dank.
schnittliche Abschiebehaft je nach Bundesland und
Jahr zwischen weniger als einem Monat und sechs (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Wochen schwankt. Die Ausschöpfung des gesetzli-
chen Höchstrahmens von 18 Monaten ist in der Pra- DIE GRÜNEN)
xis ein seltener Ausnahmefall und darüber hinaus
auch nur dann zulässig, wenn der Auszuweisende Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
seine Abschiebung durch sein Verhalten verhindert. Abgeordneten Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das
Wort.
Die in Nr. 3 unterstellte Inhaftnahme von nicht
haftfähigen Kranken und Verletzten ist nicht belegt.
Schwangerschaft und Minderjährigkeit schließen Dr. Cornelie Sonntag Wolgast (SPD): Herr Präsi-
-

als solche eine Haft zwar nicht aus - das ist richtig -; dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man merkt es
es gibt jedoch keine Haft, wenn auf Grund der schon am Ton dieser Debatte: Zu den schwierigsten
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1827
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
und heikelsten Themen, mit denen wir seit Inkraft- zu lange und zu häufig inhaftiert wird. Das heißt,
treten der Asylrechtsänderung immer wieder zu tun nicht die Abschiebehaft als solche steht zur Disposi-
haben, gehört tatsächlich die Abschiebehaft, ge- tion; zu fragen ist hier, ob sie zu rabiat vollzogen
nauer gesagt: ihre Dauer, ihr Ablauf und die Art und wird.
Weise, wie mit den „Schüblingen" - so heißt es im
Behördenalltag - umgegangen wird. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sagen Sie
das Herrn Schnoor in Nordrhein-Westfalen!)
Es gibt Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Men- Ein Asylbewerber - um auch das klarzustellen -
schenrechtsorganisationen, die scharfe Kritik üben. muß es akzeptieren, daß er, wenn sein Antrag rechts-
Berichte über Selbstmorde, Selbstverstümmelungen kräftig abgelehnt worden ist, daraufhin zur Ausreise
und andere Verzweiflungstaten müssen die Öffent- verpflichtet wird, unter der Voraussetzung, daß es
lichkeit alarmieren. keine Abschiebungshindernisse oder humanitäre
Auch Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundes- Gesichtspunkte gibt, die dagegen sprechen. Auch
die Europäische Menschenrechtskonvention läßt zu,
verfassungsgerichtes, hat das Thema kürzlich im Zu-
einem Menschen die Freiheit zu entziehen, wenn
sammenhang mit ihrer Auffassung von mutmaßli-
eine gesetzliche Verpflichtung durchgesetzt werden
chen Schwächen des Asylkompromisses angespro-
soll. Dazu gehört z. B., daß die Betroffenen bei der
chen. Ich finde, dazu hat Frau Limbach das Recht.
Beschaffung ihrer Ausreisepapiere mitwirken sollen.
Wir als Parlamentarier tun gut daran, solche Kritik
nicht auf die leichte Schulter zu nehmen; Nur, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ent-
scheidend ist, daß wir alle, die Bevölkerung insge-
(Beifall bei der SPD) samt, die zuständigen Ministerien, die Polizisten und
die Justizbeamten, uns immer wieder klarmachen:
denn man kann, man muß das alles ernst nehmen
Ein abgelehnter Asylbewerber ist kein Straftäter.
und darauf eingehen, ohne gleich, wie es leider nur
Deswegen muß strikt darauf geachtet werden, ob der
allzuoft vorkommt, von der Regierungsbank den Vor-
Entzug der Freiheit wirklich als letztes Mittel zur
wurf zu hören, man wolle die Asylrechtsreform kip-
Durchsetzung eines Verwaltungsaktes nötig ist und
pen oder unterlaufen.
ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel
Im Gegenteil, meine Damen und Herren: Auch gut gewahrt ist.
eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten sind wir als Par- Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen vom
lamentarier verpflichtet, ein so umfangreiches, ein so BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, greift die bedrückende
einschneidendes und schwieriges Gesetzespaket Lage der Menschen in Abschiebehaft auf, und das ist
aufmerksam und immer wieder selbstkritisch auf die sicherlich wichtig. Aber, mehrere Vorschläge, die Sie
Wirksamkeit und auch auf die Rechtsstaatlichkeit machen, entsprechen im Grunde der geltenden
seiner Einzelteile hin zu überprüfen. Rechtslage.
Deshalb haben wir, die Innenpolitiker der SPD, (Zuruf von der F.D.P.: So ist es!)
vor, in den nächsten Tagen intensive Gespräche mit
Vertretern von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Sie werden aber nicht oder höchst unzureichend
Flüchtlingshilfegruppen zu führen und dabei beson- praktiziert. Damit haben wir uns auseinanderzuset-
deres Gewicht auf das Problem zu legen, das uns zen.
hier heute mittag beschäftigt. Übrigens müssen wir Das will ich jetzt einmal an Beispielen erläutern.
uns auch mit der scharfen Kritik der Deutschen Bi- Nach Ihrem Antrag sollen diejenigen Menschen, die-
schofskonferenz, die wir soeben hören und lesen, aus humanitären oder tatsächlichen Gründen ohne-
auseinandersetzen, hin nicht abgeschoben werden können, nicht in Haft
genommen werden. Nimmt man jetzt den Text des
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die müs § 57 des Ausländergesetzes genau, so darf das tat-
sen Sie auch sonst beachten!) sächlich nicht geschehen. Es geht aber meistens um
anstatt mit wohlfeilen Stellungnahmen alles im Ga- fragliche Fälle. Ist die Lage eindeutig, z. B. für
lopp abzuwiegeln, Herr Marschewski. Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, darf die zu-
ständige Ausländerbehörde keine Sicherungshaft
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beantragen,
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nun wollen Sie außerdem die Abschiebehaft auf
höchstens drei Monate beschränken. In der Regel -
Ich will Ihnen einmal eines sagen: Ich bin dem Kolle-
ich betone: in der Regel - wird nach Auskunft des
gen, der aus Ihren Reihen eben vor mir gesprochen
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
hat, Herrn von Klaeden, für seine besonnenen Worte
Flüchtlinge dieser Zeitraum nicht überschritten.
ausgesprochen dankbar. Ich wäre froh, wenn ich die-
sen Ton öfter aus Ihren Reihen, aus den Reihen der (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Union, hören würde, wenn es um dieses Thema geht. NEN]: Ach!)

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Doch ist es auch richtig, Herr Schlauch, daß Men-
schen vor allem aus Algerien, Pakistan und Indien oft
Die Bischöfe und mit ihnen andere sagen - ich länger als ein Jahr hinter Gittern sitzen. Ich leugne
rufe es Ihnen noch einmal in Erinnerung, falls Sie es das ja gar nicht. Oft liegt dann das Problem bei der
noch nicht gelesen haben sollten -, daß zu schnell, Paßbeschaffung. Speziell bei Algerien ist das schwie-
1828 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast


rig. Das ist außerordentlich belastend. Trotzdem kön- sung wirklich in einer Gesetzesänderung zu suchen
nen die Ausländerbehörden aus den Gründen, die ist.
ich eben nannte, nicht völlig auf eine mögliche Ver-
längerung verzichten. Ihrer Forderung nach einer Uns scheint, daß die Anwendung des geltenden
Rechts nicht immer dem entspricht, was jedenfalls
pauschalen Grenze von drei Monaten können wir
wir von der F.D.P. uns als Gesetzgeber vorgestellt ha-
deswegen so nicht folgen.
ben. Abschiebungshaft ist notwendig, muß aber ul-
Wir fordern aber, was z. B. in Schleswig-Holstein tima ratio bleiben. Anzustreben ist daher vor allem
schon so gehandhabt wird, automatisch nach drei eine restriktive Auslegung des § 57 des Ausländer-
Monaten gewissenhaft nachprüfen zu lassen, ob die gesetzes schon bei der Antragstellung durch die Aus-
Haft noch aufrechterhalten werden kann. Sie ist un- länderbehörden. Dazu braucht man keine Gesetzes-
verzüglich dann aufzuheben, wenn die Abschiebung änderung, sondern das kann auf dem Verwaltungs-
ohnehin nicht möglich ist. weg erreicht werden.
Die Praxis der Abschiebehaft ist in den einzelnen (Beifall bei der F.D.P.)
Bundesländern in der Tat bedrückend und unwür-
dig. Die Haftanstalten sind vielerorts überfüllt, die Ähnliches gilt für andere Punkte des Antrags von
Behörden und ihre Beamten sind überfordert. In eini- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In dem Antrag werden
gen Bundesländern liegt die Zuständigkeit beim Ju- gewisse Parallelen zwischen der Untersuchungshaft
stiz-, in anderen beim Innenministerium. Vor allen und der Abschiebehaft gezogen. Diese Parallelen lie-
Dingen sind die Abschiebehäftlinge von Straftätern gen durchaus nahe. Beide Institute dienen in ähnli-
oft nicht getrennt. Das ist schlecht, und das sollte sich cher Weise übergeordneten Zwecken: Die Untersu-
so rasch wie möglich ändern. chungshaft bezweckt die Sicherung der Durchfüh-
rung eines Strafverfahrens; die Abschiebehaft soll
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) das berechtigte staatliche Interesse daran sichern,
Die zuständigen Landesbehörden können und die Ausreise z. B. von nicht anerkannten Asylbewer-
müssen sich bemühen, den Menschen in Abschiebe- bern notfalls mit Zwang und möglichst rasch durch-
haft trotz ihrer ohnehin traurigen Situation wenig- zusetzen.
stens das Gefühl zu vermitteln, daß sie keine Strafe Eine bestimmte Parallele zwischen beiden Haftar-
verbüßen. So schwierig das auch sein mag, mit Ein- ten darf es aber nicht geben: Aus der Abschiebehaft
fühlungsvermögen und Ideen kann das in den Län- darf nicht de facto eine Art verkappter Strafhaft wer-
dern gelingen, z. B. durch getrennte Unterbringung den, meine Damen und Herren.
von Abschiebehäftlingen und Strafgefangenen, z. B.
durch großzügigere Umschlußregelungen, z. B. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
durch soziale Hilfen, Gesundheitsfürsorge, Rücksicht ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
auf kulturelle und religiöse Bedürfnisse der Flücht- GRÜNEN)
linge, vor allem aber dadurch - und darin haben Sie
mit Ihrem Antrag recht -, daß Kontakte zu Familien- Jeder Strafrechtspraktiker weiß, daß Untersu-
angehörigen, zu Freunden und zu humanitären Or- chungshaft oftmals zu einer auch in einer bestimm-
ganisationen ermöglicht, vermittelt und erleichtert ten Verteidigungsstrategie durchaus geduldeten vor-
werden. weggenommenen vollzogenen Strafhaft wird. Wenn
dies auch nicht dem Gesetzeszweck entspricht, so ist
Das bedeutet gleichzeitig liberale Besuchsregelun- es durchaus akzeptabel, wenn ein Verteidiger etwa
gen, berufliche und schulische Förderungsangebote. auf Haftbeschwerde verzichtet, um dann später-
So etwas hat z. B. das Land Niedersachsen in seinen leichter eine Bewährungsstrafe für seinen Mandan-
Richtlinien festgeschrieben. So etwas nimmt den ten zu erwirken.
Menschen natürlich nicht den Druck in der Abschie-
behaft, aber es kann wenigstens Spannungen und
Angst abbauen. Es hilft, lindert, erleichtert. Vor allem Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
aber: Es kann dem Selbstwertgefühl und der Würde Dr. Stadler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
der Betroffenen dienen; und manchmal ist das, wört- geordneten Irmer?
lich gesprochen, lebenswichtig.
Danke schön. Dr. Max Stadler (F.D.P.): Ja, bitte sehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne


ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ulrich Irmer (F.D.P.): Vielen herzlichen Dank, Herr
und der F.D.P.) Kollege. Ich wollte Sie nur fragen, ob Ihnen die Kari-
katur bekannt ist, die ich neulich gesehen habe.
Zwei Abschiebegefangene sitzen einander in der
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Zelle gegenüber. Der eine fragt den anderen: „Weißt
Wort dem Abgeordneten Dr. Max Stadler. du eigentlich, weshalb wir hier sitzen?" Da sagt der
andere: „Ja, das weiß ich. Wir sitzen hier im Gefäng-
Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr nis, weil man uns nicht glaubt, daß wir zu Hause, in
geehrten Damen und Herren! Die Begründung des unserer Heimat, ins Gefängnis müßten." Ich wollte
Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschreibt Sie nur fragen, ob Ihnen diese Karikatur bekannt ist,
ein drängendes Problem weitgehend zutreffend. Wir weil sie meines Erachtens sehr erhellend Auskunft
haben aber erhebliche Zweifel daran, daß die Lö gibt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1829

Dr. Max Stadler (F.D.P.): Diese Karikatur ist sicher- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie
lich den meisten Anwesenden bekannt, Herr Kollege eine Zwischenfrage der Abgeordneten Nickels?
Irmer. Sie verweist auf die tiefere Problematik, die
hinter dem Problem steht. Dr. Max Stadler (F.D.P.): Ich bin nahezu am Ende
Ich möchte gerne fortfahren, darzulegen, daß eine meiner Redezeit, so daß ich eine Zwischenfrage jetzt
ganz klare Linie gezogen wird zwischen Abschiebe- leider nicht mehr zulassen kann.
haft und der tatsächlichen Auswirkung als einer Art (Otto Schily [SPD]: Der Präsident läßt sie
verkappter Strafhaft dafür, daß ein im Ergebnis un- zu!)
begründeter Asylantrag gestellt worden ist.
- Gut. Damit bitte sehr, Frau Nickels.
Deswegen und auch aus anderen Gründen, die
heute schon dargestellt worden sind, brauchen wir Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Sekunde,
eine klare Trennung im Vollzug zwischen Abschiebe-
Herr Abgeordneter. - Nicht ich lasse die Zwischen-
haft und Untersuchungshaft oder Strafhaft. Das ist ei- frage zu, sondern es liegt beim Redner, ob er die Zwi-
ner der kritischen Punkte, die derzeit in der Praxis
schenfrage zuläßt. - In der Tat haben Sie recht, Herr
nicht erfüllt sind. Kollege Stadler, inzwischen ist Ihre Redezeit abge-
Schon dieser Befund ist bedrückend genug. Noch laufen.
bedrückender sind selbstverständlich die Selbst- (Heiterkeit)
morde in der Abschiebungshaft. Sie zwingen uns
vollends zu der Erkenntnis, daß ein bloßes „Weiter
so!" nicht die richtige Antwort sein kann. Dr. Max Stadler (F.D.P.): Ich schließe mit dem Satz:
Wir verlangen von der Bundesregierung im Aus-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne schuß eine umfassende Darstellung der tatsächlichen
ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Situation und eine Analyse der bisher ergangenen
GRÜNEN) Rechtsprechung und werden daraus die Folgerungen
ziehen, was im Verwaltungsvollzug geändert werden
Ich möchte „Die Zeit" vom 23. Februar 1995 zitie- muß. Gesetzesänderungen wird es unserer Meinung
ren, wo von Martin Klingst zu Recht gesagt wird: nach voraussichtlich nicht bedürfen.

Wer Asyl verlangt, muß wohl oder übel hinneh- Vielen Dank.
men, daß es auch Ablehnungsgründe gibt und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
daß abgelehnte Asylbewerber das Land verlas-
sen müssen: notfalls zwangsweise abgeschoben
werden und einsitzen, wenn sie untertauchen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
wollen. Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort.

Man darf auch nicht verkennen, daß manche Asyl-


Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen
bewerber durch Vernichtung der Ausweispapiere die
und Ilerren! Eines der dunkelsten Kapitel in diesem
Verfahren unnötig und besonders lange hinauszö-
vereinigten Deutschland sind meiner Meinung nach
gern. Vor allem aber fehlt es an der Kooperationsbe-
die Menschenrechtsverletzungen im gesamten Be-
reitschaft diverser Herkunftsländer. Das ist ein Pro-
reich der Abschiebepolitik und vor allem in den Ab-
blem, auf das wir von der Bundesrepublik Deutsch-
schiebeknästen. -
land her wenig Einfluß haben, so daß oft wirklich ein
schier unlösbares Dilemma zwischen der Achtung (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
der Persönlichkeitsrechte einerseits und der Durch-
setzung der notwendigen Abschiebungen anderer- Seit der Grundgesetzänderung sind die Zahlen der
seits entsteht. Abschiebung um über 300 % gestiegen. „Ausländer
raus" war und ist die Parole der Rechtsextremisten,
Was kann also getan werden? Der Antrag vom und Innenminister Kanther hält sein Wort, deren Poli-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht in vielen Punkten tik zur alltäglichen Praxis werden zu lassen.
zu weit; insbesondere die strikte Dreimonatsgrenze
In diesen Tagen beginnen die Massenabschiebun-
ist absolut unrealistisch. Anderes, was darin verlangt
gen von Bürgerkriegsflüchtlingen, und in der näch-
wird, kann durch veränderten Verwaltungsvollzug
sten Woche fällt der Abschiebestopp für Kurdinnen
erreicht werden. Notwendig erscheint uns eine mög-
und Kurden. 3 000 bis 5 000 Menschen ausländischer
lichst sorgfältige Prüfung der Haftgründe des § 57
Herkunft befinden sich gegenwärtig in deutschen
schon bei der Antragstellung, insbesondere für den
Gefängnissen in Abschiebehaft, die nichts anderes
kritischen Fall des § 57 Abs. 2 Nr. 5, was ich aus Zeit-
als Strafhaft ist: meist unter unmenschlichsten Bedin-
gründen nicht mehr näher ausführen kann. Wir ver-
gungen in Großraumzellen 23 Stunden unter Ver-
langen von der Praxis hierfür die Anlegung eines äu-
schluß, eine Stunde Hofgang, Besuch wie bei Straf-
ßerst strengen Maßstabes.
gefangenen, keine Telefonate usw., und wer Geld
(Beifall bei der F.D.P.) besitzt, muß für diese Abschiebehaft sogar selbst be-
zahlen. Weil die Frage der Kosten für Dolmetscher
Schließlich muß der Vollzug der Abschiebungshaft und Dolmetscherinnen zwischen den Behörden hin-
menschenwürdig gestaltet werden; das habe ich und hergeschoben wird, bleibt oft die nötige Rechts-
schon gesagt. beratung für die Betroffenen aus.
1830 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Ulla Jelpke
Auch ich habe eine Rundreise durch die Strafvoll- druck, daß Abschiebungshaft nach den Vorschriften
zugsanstalten von Sachsen-Anhalt gemacht und mir des Ausländergesetzes oftmals leichtfertig, unnötig
von vielen Anstaltsleitern auch die Abteilung der Abzu- und gar ohne Beachtung der besonderen Situation
schiebenden zeigen lassen. Ich habe in Sachsen-Anhalt des jeweiligen Einzelfalles verhängt werden könnte.
keinen einzigen Abzuschiebenden angetroffen, der
wegen einer Straftat dort einsaß. Das trifft auch auf (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Empörung der Anstaltsleiter und Bediensteten. NEN]: Das ist aber leider in der Realität so!)

Nach den Protestaufständen im vergangenen Som- - Könnte, habe ich gesagt, Frau Kollegin Nickels. -
mer - wir alle haben das gesehen und gehört - hat Die daran geknüpften Forderungen nach einer Ä n-
Sachsen-Anhalt folgende Taktik gefahren: derung des § 57 des Ausländergesetzes können vor
diesem Hintergrund deshalb nicht unsere Unterstüt-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, regiert ihr zung finden.
denn mit in Sachsen-Anhalt? Ihr könnt das
doch ändern!) Die Abschiebungshaft ist generell ein unverzicht-
bares Mittel der Verwaltungsvollstreckung, wenn es
Die Abzuschiebenden werden jetzt jeden Monat in nämlich um die tatsächliche Durchführung der Ab-
einer anderen Haftanstalt untergebracht - sozusagen schiebung von Ausländern aus der Bundesrepublik
rotierend -, damit sie erstens keine Kontakte zu Deutschland geht. Gewiß - das ist zuzugeben -, jede
Rechtsanwälten und zweitens keine Kontakte zum be- Form der Inhaftierung ist für die Betroffenen selbst
freundeten Umfeld halten können. Ich meine, das ein belastender Vorgang. Es handelt sich ja stets um
wird ganz gezielt gemacht. Gezielt ist vor allen Din- einen Eingriff in die grundrechtlich garantierte Frei-
gen auch, daß man ihnen nicht helfen will, daß man heit des einzelnen.
sie mit ihren Problemen einfach alleine läßt. Das halte
ich im wahrsten Sinne des Wortes für einen Skandal. Aber dieser Eingriff, meine Damen und Herren, ist
notwendig, wie wir alle wissen. Abschiebungshaft ist
(Beifall bei Abgeordneten der PDS und des deshalb nichts Anstößiges noch gar etwas ethisch
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verwerfliches. Kein Ausländer wird im übrigen von
der Abschiebung und der damit eventuell verbunde-
Zum Schluß noch ein Satz zum Antrag der GRÜ-
nen Abschiebungshaft unvorbereitet getroffen. Viel-
NEN: Sie wissen, ihr wißt, 20 Menschen haben in Ab-
mehr setzt die Abschiebung voraus, daß der Auslän-
schiebehaft ihr Leben beendet, und inzwischen wird
der vollziehbar ausreisepflichtig ist und daß sie ihm
von Übergriffen gesprochen. Die Bischofskonferenz
vorher auch angedroht ist. Grundsätzlich kann daher
ist hier schon erwähnt worden. Der Antrag der GRÜ-
jeder Ausländer die Abschiebung und damit auch
NEN macht mir Probleme, weil er die Abschiebehaft
eine etwaige Abschiebungshaft vermeiden, indem er
nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern auf drei
seiner Ausreisepflicht freiwillig nachkommt.
Monate beschränken will. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Realpolitik darf bei Menschenrechten nicht Meine Damen und Herren, Ihnen ist aus der Dis-
teilbar sein, meine ich. Deswegen werden wir für kei- kussion um die Abschiebestatistik - so nehme ich
nen einzigen Tag dieser organisierten Unmenschlich- an - bekannt, daß sich weit über 30 der betroffe-
keit stimmen. nen Ausländer nach negativem Ausgang des Asyl-
verfahrens der Ausreisepflicht durch Untertauchen
(Beifall bei der PDS - Abg. Christa Nickels
entziehen. Viele abgelehnte Asylbewerber oder ille-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich
gal eingereiste Ausländer haben offenbar kein Inter-
zu einer Zwischenfrage)
esse daran, in ihre Heimatstaaten zurückzukehren,-
wo sie für sich keine Perspektiven und kein Weiter-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin kommen sehen. Deshalb versuchen viele von ihnen,
Nickels, es tut mir schrecklich leid. Ich würde Ihnen die Abschiebung zu verhindern, indem sie z. B. ihre
ja gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage ver- Reisedokumente vernichten, ihre Identität nicht of-
schaffen. Nur müßten Sie sich dann entschließen, fenbaren oder sich weigern, bei der Beschaffung von
sich etwas früher zu melden; denn sonst ist es keine Reisedokumenten mitzuwirken.
Zwischenfrage, sondern eine Nachfrage.
Es käme einer Kapitulation des Rechtsstaates vor
(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ derartigen Praktiken gleich, würde er in diesen Fäl-
NEN]: Aber vorher hatte ich ja keinen len, die häufig zu längerer Abschiebehaft führen, ge-
Grund, mich zu melden! Ich wollte ja dazu nerell von einer solchen I laft absehen. In letzter Kon-
fragen! - Gegenruf von der CDU/CSU: sequenz würde dies zu einer sprunghaften Zunahme
Kurzintervention!) illegaler Zuwanderung führen, weil die Ausländer
davon ausgehen könnten, daß die Nichtbefolgung
Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatsse- der bestehenden Ausreisepflicht für sie ohne Folgen
kretär Eduard Lintner das Wort. bliebe und sie sich weiter, wenn auch illegal, im Bun-
desgebiet aufhalten könnten.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Leider
minister des Innern: Sehr geehrter Herr Präsident!
wahr!)
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Be-
schlußantrag gibt eine sehr verzerrte Darstellung der
rechtlichen und tatsächlichen Situation im Bereich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse-
der Abschiebungshaft. Er erweckt nämlich den Ein- kretär Lintner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995 1831

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- haben, demnächst kritisch zu prüfen, ob wir nicht die
minister des Innern: Bitte schön. Situation in den Abschiebeeinrichtungen verbessern
könnten, ob dort nicht auch Probleme im Bereich des
Gesetzesvollzugs vorhanden sind, die wir einfach
Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Staatssekretär Lint-
kritisch aufarbeiten, ohne daß wir uns deswegen hier
ner, Sie haben gesagt, daß es einer Kapitulation des
vorführen müßten,
Rechtsstaates gleichkommen würde, wenn er hier
nachgeben würde. Haben Sie als Mensch eine (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich
menschliche Erklärung dafür, daß Menschen, die ab- tig!)
geschoben werden sollen, ihre Reisedokumente ver-
brennen, alles versuchen, um zu erreichen, daß sie ohne daß wir hier deswegen große ideologische De-
nicht abgeschoben werden können, weil sie viel- batten führen müßten? Die Situation der Abzuschie-
leicht Gründe haben, anzunehmen, daß das Land, benden, deren Menschenwürde nicht teilbar ist und
von dem sie aufgenommen würden, nicht etwa keine deren Menschenwürde nicht verletzt werden darf,
Sozialhilfe hat und materiell schlechter gestellt ist, muß uns doch eine Mahnung sein. Mich bedrückt es
sondern daß sie dort mit Folter, Gefängnis und Le- sehr, was dort passiert. Diese Bedrückung sollten wir
bensbedrohung betroffen sind? einfach gemeinsam aufgreifen und versuchen, die Si-
tuation zu verbessern. Meinen Sie nicht auch, daß
(Beifall bei der PDS - Erwin Marschewski hier die Bundesregierung mitwirken könnte?
[CDU/CSU]: Ausgemachter Unsinn! In
Bautzen war das so, nicht bei uns! - Christa (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nein, Herr Marschewski: da hat er recht! - Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Quatsch! minister des Innern: Herr Kollege Wiefelspütz, ich
Das muß der gerade sagen!) darf Sie darauf verweisen, daß ich mich mit der recht-
lichen Situation beschäftigt habe. Auch aus Ihrem
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Beitrag, für den ich viel Sympathie empfinde, geht
minister des Innern: Herr Kollege, das letzte, was Sie hervor, daß es nicht um eine Änderung der Rechts-
hier gesagt haben, stimmt einfach nicht. Ich würde lage geht, sondern um den Gesetzesvollzug. In der
Ihnen empfehlen, einmal die grundsätzlichen Rege- Tat kann ich mich mangels genauer Kenntnis für das,
lungen bei uns nachzulesen. Sie wissen, daß, wenn was die Bundesländer zu verantworten haben, nicht
derartige Dinge drohen, im Einzelfall ein Abschiebe hinstellen, um in cumulo die Zustände bei dieser Ab
hindernis besteht und eine Abschiebehaft gar nicht chiebungshaft verteidigen oder vertreten zu wollen.
verhängt werden kann. Deshalb sehe ich durchaus ein, daß hier ein Bera-
tungs- und Aufklärungsbedarf besteht. Mir ging es
Im übrigen muß ich Ihnen dazusagen: Die Bundes- aber darum, unter Beachtung unserer Zuständigkeit
regierung hat oft Verständnis dafür geäußert, daß als Bundesregierung darzutun, daß eine Änderung
auch wirtschaftliche Gründe sehr wohl ein durchaus des § 57, wie sie in dieser Resolution angestrebt wird,
verständlicher Beweggrund sind, hier bleiben zu dagegen nicht hilft auch unter sonstigen Aspekten
dürfen. Nur sind wir uns auch in der Konsequenz unserer Auffassung nach nicht erforderlich ist.
darüber im klaren, daß die Bundesrepublik Deutsch-
land nicht in der Lage ist, all jenen Herberge zu bie- Meine Damen und Herren, dabei möchte ich es be-
ten, die sich wirtschaftlich bei uns zugegebenerma- lassen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
ßen besser fühlen als in ihrem Heimatstaat. Das kann -s-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
kein Grund für ein Bleiberecht in der Bundesrepu-
blik Deutschland sein.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Damit schließe
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Über-
wahr!) weisung der Vorlage auf Drucksache 13/107 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. -
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das
noch eine Zwischenfrage von Herrn Wiefelspütz? so beschlossen.
Ich möchte den Schluß dieser Debatte nutzen, um
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- vorzuschlagen, daß wir uns vielleicht in den Aus-
minister des Innern: Bitte schön. schüssen einmal darüber verständigen sollten, wie
wir Vertreter der Länder an unseren Beratungen zu
Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Staatssekretär, ich diesem Punkt beteiligen können.
glaube auch, daß wir letzten Endes nicht ohne Ab- (Zustimmung der Abg. Christa Nickels
schiebung und auch nicht ohne Abschiebehaftein- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
richtungen auskommen. Gleichwohl hatten wir in
den letzten 12 bis 18 Monaten über 20 Todesfälle in Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
den Abschiebeeinrichtungen. Für diese Einrichtun- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
gen sind die Bundesländer verantwortlich, auch so- tages auf Mittwoch, den 15. März 1995, 13 Uhr ein.
zialdemokratisch geführte Bundesländer. Auch in de- Die Sitzung ist geschlossen.
ren Einrichtungen hat es so etwas gegeben. Meinen
Sie nicht, daß wir im Innenausschuß Veranlassung (Schluß der Sitzung: 13.44 Uhr)
1832* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. März 1995

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1
entschuldigt bis
Abgeordnete(r)
einschließlich
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Steindor, Marina BÜNDNIS 10. 3. 95
entschuldigt bis 90/DIE
Abgeordnete(r)
einschließlich GRÜNEN
Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 10. 3. 95
Beck (Bremen), BÜNDNIS 10. 3. 95
Marieluise 90/DIE Vergin, Siegfried SPD 10. 3. 95
GRÜNEN Vosen, Josef SPD 10. 3. 95
Blunck, Lilo SPD 10. 3. 95** Welt, Jochen SPD 10. 3. 95
Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 10. 3. 95** Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 10. 3. 95
Dr. Däubler-Gmelin, SPD 10. 3. 95 Wohlleben, Verena SPD 10. 3. 95
Herta Zierer, Benno CDU/CSU 10. 3. 95
Eichstädt-Bohlig, BÜNDNIS 10.3. 95
Franziska 90/DIE * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
GRÜNEN ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
Eymer, Anke CDU/CSU 10. 3. 95
Genscher, F.D.P. 10. 3. 95
Hans-Dietrich
Dr. Glotz, Peter SPD 10. 3. 95
Hanewinckel, Christel SPD 10. 3. 95 Anlage 2
Hauser CDU/CSU 10.3. 95
Amtliche Mitteilungen
(Rednitzhembach)
Hansgeorg Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses hat mitgeteilt, daß
der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von ei-
Heistermann, Dieter SPD 10. 3. 95 ner Berichterstattung zu nachstehenden Vorlagen absieht:
Heym, Stefan PDS 10. 3. 95 Drucksache 13/28
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 10. 3. 95 Drucksache 13/112

Dr. Jacob, Willibald PDS 10. 3. 95 Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, daß sie die Anträge „Solidarität
Kanther, Manfred CDU/CSU 10. 3. 95 mit Salman Rushdie und Appell gegen die Einschränkung von Mei-
nungsfreiheiten", Drucksache 13/548, und „Beteiligung einer Delega-
Knoche, Monika BÜNDNIS 10. 3. 95 tion des Deutschen Bundestages an der VN-Konferenz in Berlin vom
90/DIE 23. März bis 7. April 1995", Drucksache 13/315, zurückzieht.
GRÜNEN Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß
Kunick, Konrad SPD 10. 3. 95 der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen zur Kenntnis genom-
men bzw. von einer Beratung abgesehen hat:
Labsch, Werner SPD 10. 3. 95
Innenausschuß
Leidinger, Robert SPD 10. 3. 95
Drucksache 13/218 Nr. 1
Leutheusser- F.D.P. 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 3
Schnarrenberger, Drucksache 13/218 Nr. 4
Sabine Drucksache 12/7654 Nr. 3.1

Limbach, Editha CDU/CSU 10. 3. 95 Finanzausschuß

Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 13


Drucksache 13/218 Nr. 15
Schäfer (Mainz), Helmut F.D.P. 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 18
Dr. Scheer, I Iermann SPD 10. 3. 95* Haushallsausschuß
Schmidt (Aachen), SPD 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 21
Ursula Drucksache 13/343 Nr. 2.27
Schumann, Ilse SPD 10. 3. 95 Ausschuß für Wirtschaft
Schwanitz, Rolf SPD 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 22 bis Nr. 56
Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 10. 3. 95 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Christan Drucksache 13/218 Nr. 99
Dr. Skarpelis-Sperk, SPD 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 101
Sigrid Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Sorge, Wieland SPD 10. 3. 95 Drucksache 13/218 Nr. 107

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